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German Pages [337] Year 2018
Martin-Heidegger-Gesellschaft Schriftenreihe · Band 11
Harald Seubert Klaus Neugebauer (Hg.)
Auslegungen Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813805
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VERLAG KARL ALBER
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Martin-Heidegger-Gesellschaft Schriftenreihe Herausgegeben von Harald Seubert und Klaus Neugebauer Wissenschaftlicher Beirat: Damir Barbarić (Zagreb) Thomas Buchheim (München) Michael Großheim (Rostock) John Sallis (Boston) Band 11
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Harald Seubert Klaus Neugebauer (Hg.)
Auslegungen Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Harald Seubert Klaus Neugebauer (eds.) Interpretations From Parmenides to the Black Notebooks The convention of the Martin Heidegger Society in Vienna 2016 documented here was led by the idea of different possibilities of interpretation of Heidegger’s works: from a novel perspective on his examination of Parmenides, philosophical questions of language regarding translations into foreign languages, coloured markings in the manuscript of the literature archive in Marbach, a localisation of passages referring to Jews in the text of the ›Black Notebooks‹, to his dealings with news media, the state of the young discipline ›Daseinsanalysis‹ as a development of the Zollikon Seminars, and questions about the meaning of the last God.
The Editors: Harald Seubert, born in 1967, has been Professor of Philosophy and Religious Studies at Basel STH since 2012 and has also been teaching at the Bavarian School for Public Policy in Munich since 2010. Numerous publications of books and articles. Chairman of the Martin Heidegger Society since 2016. Klaus Neugebauer, born in 1951, has been lecturing at the Universities of Dresden, Cologne and Stuttgart since 2009 after working in industry for 30 years. Books about the concept of truth of Heidegger and Husserl, about Pablo Picasso, about the mediality of the media. Second Chairman of the Martin Heidegger Society since 2015.
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Harald Seubert Klaus Neugebauer (Hg.) Auslegungen Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften Die hier dokumentierte Wiener Tagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft 2016 stand unter dem Vorzeichen verschiedenster Interpretationsmöglichkeiten von Heideggers Werk: von einer neuartigen Sicht auf seine Auseinandersetzung mit Parmenides, philosophisch sprachlichen Fragen der Übersetzung in eine Fremdsprache, den farbigen Anstreichungen in den Manuskripten des Marbacher Literaturarchivs, einer Ortsbestimmung der judenbezogenen Textstellen in den »Schwarzen Heften«, seinem Umgang mit Zeitungsmedien, dem Stand der jungen Wissenschaft »Daseinsanalyse« als Entwicklung aus den Zollikoner Seminaren bis hin zu Fragen nach der Bedeutung des letzten Gottes.
Die Herausgeber: Harald Seubert, geboren 1967, ist seit 2012 Professor für Philosophie und Religionswissenschaften an der STH Basel und lehrt seit 2010 auch an der Hochschule für Politik in München. Zahlreiche Buchund Aufsatzveröffentlichungen. Seit 2016 ist er Vorsitzender der Martin-Heidegger Gesellschaft. Klaus Neugebauer, geboren 1951, ist nach 30 Jahren Tätigkeit in der Industrie seit 2009 Lehrbeauftragter an den Universitäten Dresden, Köln und Stuttgart. Bücher über den Wahrheitsbegriff bei Heidegger und Husserl, über Pablo Picasso, über die Medialität der Medien. Seit 2015 ist er 2. Vorsitzender der Martin-Heidegger-Gesellschaft.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Manuskript-Schuber im Nachlass von Martin Heidegger © DLA Marbach Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48940-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81380-5 ISSN 1612-7722
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Inhalt
Harald Seubert / Klaus Neugebauer: Vorwort
. . . . . . . . . .
9
Damir Barbarić: Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
10
Francesco Cattaneo: Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
Alfred Dunshirn: Parmenides – Beispiele philologischer Zugänge .
35
István M. Fehér: Heideggers theologische Herkunft – Fragen der Interpretation (mit einem Anhang über Geschichte und Geschichtslosigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Hans-Christian Günther: Heidegger und Parmenides . . . . . . .
91
Dietmar Koch: Kunst-Werke im technisch-funktionalen Zeitalter. Versuch einer Ortsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Rosa Maria Marafioti: Die Seinsfrage und die Schwarzen Hefte. Zu einer Ortsbestimmung der judenbezogenen Textstellen . . .
117
Reinhard Mehring: »Das Jüdische« in der Metaphysik. Heideggers schwarze Stellen im Rahmen der Gesamtausgabe . .
137
Klaus Neugebauer: Heidegger liest Zeitung. Medialität als Metontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
Alina Noveanu: »zu begreifen, was uns ergreift …« Philosophie und Literaturwissenschaft, Heidegger und Staiger
. 181
Hanspeter Padrutt: »Rätsel Bewusstsein« und Ortsverlegung vom Bewusstsein ins Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192
Günther Pöltner: Zur Auslegung von Texten mittelalterlicher Philosophen und Theologen durch Heidegger . . . . . . . . .
210
7 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Inhalt
Hansjörg Reck: Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von Martin Heidegger und Medard Boss . . . . . . . . . . . . . . . . . .
226
Ingeborg Schüßler: Blick – Allmacht – Wink. Zur Gottesfrage bei M. Heidegger . . . . . . . . . . . . . . .
243
Rainer Thurnher: Heideggers seinsgeschichtliches Denken in manichäisch-adventistischer Zuspitzung . . . . . . . . . . . .
272
Ulrich von Bülow: Das »Hand-Werk« des Denkens – Zum Nachlass von Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . .
304
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .
332
8 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Vorwort
»Die Tagung unternimmt den Versuch, unterschiedliche bis gegensätzliche Heidegger-Interpretationen zu Wort kommen zu lassen. Der erste Teil gilt der von Heidegger wiederholt erwähnten theologischen Herkunft seines Denkens bis hin zur sogenannten Kehre. In dieser Zeit bahnt sich das verhängnisvolle Engagement des Philosophen für den Nationalsozialismus an, das vor allem in den ›Schwarzen Heften‹ seinen Niederschlag findet. Diese haben, seit sie vor ein paar Jahren veröffentlicht wurden, eine heftige Kontroverse ausgelöst. Zahlreiche Kritiker sprechen von eindeutig antisemitischen Äußerungen Heideggers, seine Verteidiger weisen dies entschieden zurück. Einer möglichst sachlichen Klärung der damit zusammenhängenden Fragen gehen mehrere Referentinnen und Referenten nach. Ob die ›Schwarzen Hefte‹ auch das Spätwerk beeinflussen, soll anhand von Vorträgen aus dem Bereich der daseinsanalytischen Psychotherapie, zu Heideggers Interpretation der frühen Griechen am Beispiel des Parmenides und im Hinblick auf seine Stellung zur Wissenschaft – konkret am Beispiel der Literaturwissenschaft – befragt werden. Das Schlussreferat enthält Anmerkungen zu Heideggers Nachlass.« So die begleitenden Worte von Helmuth Vetter, der die Wiener Tagung (6.–8. Mai 2016) organisiert hatte, sich bei der Gestaltung dieses Bandes aber aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen musste. Harald Seubert, Basel März 2017
Klaus Neugebauer, Gerlingen
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Damir Barbarić
Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
Die Frage nach der Einheit von Heideggers Denkweg wird immer von neuem gestellt, nicht zuletzt, weil von der Antwort darauf sowohl der Ansatz zu dessen Interpretation wie auch ihre Ergebnisse größtenteils abhängig sind. Wird diese Einheit bestritten, teilt sich das Ganze seiner Philosophie in zwei scharf voneinander getrennte Phasen, die in keinem nachweisbaren Verhältnis zueinander stehen. Dieser Annahme nach ist die Philosophie des frühen Heidegger trotz ihrer nicht zu übersehenden theologischen Inspiration einer streng methodisch verfahrenden Phänomenologie zuzurechnen, während die verwickelten, vielfältig gebrochenen und den Eindruck zusammenhangloser Zerstreutheit machenden Gedankengänge des Spätwerks in Wahrheit nichts anderes sind als das verwirrende Geflecht gezwungener, quasipoetischer Irrwege, die letztlich als ein, wenn auch gelegentlich großartiges Scheitern anzusehen und daher philosophisch nicht ernst zu nehmen sind. Es ist unschwer nachzuweisen, dass der größte Teil gegenwärtiger Heideggerforschung in der konkreten Interpretationsarbeit mehr oder weniger ausdrücklich dieser Ansicht von zwei wesentlich verschiedenen Phasen der Heidegger’schen Philosophie verpflichtet ist. Besteht man hingegen auf der Einheit von Heideggers Denkweg, der durch eine oder mehrere ihn kennzeichnenden Wenden nicht verlassen und preisgegeben, sondern im Gegenteil wieder aufgenommen und durch immer tiefer reichende Wandlungen folgerichtig wiederholt und d. h. weiter entfaltet wurde, wird man vor die Aufgabe gestellt, die entscheidenden Verbindungsfäden, die alle einzelnen Schritte, Phasen und Etappen auf diesem einen und demselben Weg zusammenhalten, am gesamten Werk Heideggers, einschließlich der anscheinend wenig bedeutsamen Gelegenheitsäußerungen und Randbemerkungen, nachzuweisen und zur Darstellung zu bringen. Dieser auf die Einheit von Heideggers Denkweg bestehende Interpretationsansatz ist m. E. der einzig richtige und der Sache an10 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
gemessene. Er ist allerdings anspruchsvoller als der ersterwähnte und wird deshalb auch seltener zum Ausgangspunkt der Interpretation genommen. Er ist aber der einzige, der dem uralten Gesetz der philologisch und philosophisch korrekten Auslegung entspricht, die sich immer auf das ganze Werk eines Denkers einlässt, um erst von diesem Ganzen her sowohl die einzelnen Gedanken als auch die entscheidenden Gedankenschritte auszulegen. Nicht zuletzt bekennt sich auch Heidegger zu diesem Verfahren, wenn er mit Nachdruck auf der Einheit des eigenen Denkwegs besteht und dessen weit verzweigte Pfade als solche bestimmt, die alle seiner einzigen Frage nach dem Sein – und d. h. nach seinem Sinn, seiner Wahrheit, Ortschaft … – angehören und ihr allein im Dienst stehen. Der von dieser Frage in Atem gehaltene Denkweg ist gewiss keine gerade Strecke, die vom Ausgangspunkt direkt zum Ziel führt. Das Seltsame an diesem Denkweg besteht vielmehr darin, dass er nicht als ein schon vorhandener vorliegt. Ihm eignet etwas höchst Eigenartiges, dass er nämlich durch das Gehen erst als solcher entsteht. In der Vorlesung »Was heißt Denken?« hat sich Heidegger dazu geäußert: »Der Denk-Weg zieht sich weder von irgendwoher irgendwohin wie eine festgefahrene Fahrstraße, noch ist er überhaupt irgendwo an sich vorhanden. Erst und nur durch das Gehen […] ist die Be-wëgung. […] Die Bewegung, Schritt vor Schritt, ist hier das Wesentliche. Das Denken baut erst im fragenden Gang seinen Weg. Aber dieser Wegbau ist seltsam. Das Gebaute bleibt nicht zurück und liegen, sondern es wird in den folgenden Schritt eingebaut und diesem vorgebaut.« 1 Dieser Ansicht scheint jedoch eine nicht zu umgehende Tatsache im Weg zu stehen. Heidegger spricht nämlich selbst, und zwar ganz eindeutig und mit großem Nachdruck, von der »Kehre«, in die sein Denken bald nach der Veröffentlichung des unbeendeten Hauptwerks Sein und Zeit geraten ist. Dadurch sollten alle Grundbegriffe seines früheren Denkens einen wesentlich neuen und anderen, in manchem Fall sogar entgegengesetzten Sinn bekommen haben. Wäre es dann nicht viel angemessener, von seinem Denken vor und nach dieser »Kehre« zu reden? Inzwischen ist in der Öffentlichkeit in der Tat üblich geworden, bei der Nennung des Namens Heidegger sofort von »Sein« und von »Kehre« zu reden. Wenn man dazu noch anführt, in der Kehre werde das Schwergewicht seiner Philosophie Martin Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, hrsg. von Paola-Ludowika Coriando, Frankfurt am Main 2002, S. 174.
1
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Damir Barbarić
vom menschlichen Dasein auf das Sein selbst versetzt, scheint die Sache hinreichend erklärt, ja damit auch schon erledigt zu sein. Man begnügt sich mit der Annahme, Heidegger habe mit der Kehre als der Zuwendung zum Sein als solchem und zur ihm eigentümlichen Geschichte, die in den nicht berechenbaren freien Ausbrüchen der je einmaligen epochalen Schickungen bestehe, nicht nur die Metaphysik, sondern überhaupt das rationale, logisch verfahrende und argumentativ nachvollziehbare Denken verabschiedet. Die vielverzweigte Heideggerforschung, die schon längst unter der wachsenden Flut der Jahr für Jahr sich mehr anhäufenden Veröffentlichungen über den kaum durchschaubaren und oft verwirrenden Nachlass des Denkers stöhnt und sich dadurch überfordert fühlt, kann sich nun, derart der schweren Aufgabe einer einheitlichen und zugleich eingehenden Interpretation des Gesamtwerks enthoben und dadurch erleichtert und wieder selbstbewusst geworden, den mannigfaltigen historisch, kulturphilosophisch oder politisch interessanteren und der Realität angeblich näher stehenden Einzelaspekten seiner Philosophie widmen. Betrachten wir aber die Sache des Näheren. In der Tat spricht Heidegger von der Kehre. Auch die erwähnte Erklärung ihres Sinnes ist schon bei ihm selbst zu finden. Im späten Seminar in Le Thor spricht er davon, dass nach Sein und Zeit »mehr die Offenheit des Seins selbst als die Offenheit des Daseins angesichts der Offenheit des Seins« betont wurde, und erklärt diese in seinem weiteren Denken immer entschiedener vollbrachte Zuwendung des Denkens zum Sein als Sein zu der wahren Bedeutung der Kehre. 2 Nach seinem Bericht im sogenannten Humanismusbrief sollte die Kehre schon im geplanten dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit zur Darstellung kommen, worauf jedoch verzichtet werden musste, »weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte«. 3 In diesem Zusammenhang fällt auch der wichtige Hinweis, die Kehre sei keineswegs als die Änderung des Standpunktes von Sein und Zeit zu verstehen. Ganz im Gegenteil, das im unvollendeten Hauptwerk versuchte Denken gelange erst in der Kehre in die Ortschaft jener Dimension, aus der das dort Dargelegte erfahren wurde. 4
Martin Heidegger, Seminare, GA 15, hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt am Main 1986, S. 345. 3 Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976, S. 328. 4 Ebd. 2
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Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
Dem ist zu entnehmen, dass keine der Grundbestimmungen aus Sein und Zeit in der Kehre verlassen wurde. 5 Es wäre viel angemessener zu sagen, sie wurden alle darin wieder aufgenommen, wiederholt und zugleich verwandelt. Um die Einheit von Heideggers Denkweg entsprechend zu fassen, tut es daher vor allem not, die Art und Weise dieser wiederaufnehmenden Verwandlung genauer zu untersuchen. Dabei wird sich die Kehre vermutlich nicht bloß als Scheidepunkt der Trennung zeigen, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte, sondern als die alles vermittelnde Mitte, von der her das klärende Licht sowohl zurück auf Sein und Zeit wie auch vorwärts auf den späteren Denkweg fällt. 6 Dieser zentralen Stelle gemäß wird die Kehre von Heidegger nicht nur als Wendepunkt seines eigenen Denkens erfahren und verstanden, sondern grundsätzlicher und gleichsam ›objektiver‹ als »Kehre innerhalb der Geschichte des Seyns« 7 Vgl. Hans-Georg Gadamer, »Die Griechen«, in: Gadamer, Hegel Husserl Heidegger (Gesammelte Werke, Bd. 3), Tübingen 1987, S. 287: »Insofern war die berühmte ›Kehre‹ alles andere als ein Bruch in Heideggers Denken. Sie war weit eher die Abstoßung einer unangemessenen Selbstinterpretation, der er sich unter dem starken Einfluß Husserls verschrieben hatte.« – Ob diese an sich richtige Erklärung der Kehre bei Gadamer durch die etwas übertriebene Verharmlosung ihrer Schärfe und Brisanz an Glaubwürdigkeit verliert, bleibe hier dahingestellt. Wenn er etwa in einem anderen Zusammenhang (»Der eine Weg Martin Heideggers«, in: Gadamer, Hegel Husserl Heidegger, a. a. O., S. 423) von der »Kehre vor der Kehre« spricht, des Weiteren sie sogar zurück in das Jahr 1924 logiert, und einseitig darauf besteht, die Kehre sei für Heidegger »ein Weitergehen gewesen«, läuft er Gefahr, zugunsten der nachzuweisenden Einheit von Heideggers Weg das Eigentümliche an der Kehre, ihre verwandelnde Kraft, aus dem Blick zu verlieren. – Dem wesentlich zweideutigen Grundcharakter der Kehre scheint Walter Schulz, »Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers«, Philosophische Rundschau, i. Jahrgang, 1954/54, S. 65–93 und 211–232 (zitiert nach dem Nachdruck in: Otto Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, dritte, ergänzte Auflage (11969), S. 95–139), schon näher gekommen zu sein, wenn er (S. 116 f.) das Wesen der Kehre in der innerlich doppelsinnigen und sich selbst übersteigenden bzw. überwindenden Erfahrung findet: einerseits der eigener Ohnmacht des Daseins im Angesicht des Nichts und andererseits seines Ausgesetztseins von Sein selbst, »die beide nicht mehr Seiendes sind, sondern das, woraus sich Dasein im geschichtlichen Wandel seiner selbst verstehen kann«. Dasselbe gilt für Löwiths Interpretation der Kehre (Karl Löwith, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (Sämtliche Schriften, Bd. 8), Stuttgart 1984, insb. S. 142 ff.), wo trotz der grundsätzlichen kritischen Vorbehalte des Verfassers der betreffende Sachverhalt zuverlässig und erhellend dargestellt wird. 6 Vgl. Laurence Paul Hemming, »Speaking out of Turn. Martin Heidegger and die Kehre«, International Journal of Philosophical Studies, Vol. 6, Issue 3, S. 393–423. 7 Martin Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 201. 5
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Damir Barbarić
und sogar als die innerste Natur des Seins als solchen. Von den Beiträgen zur Philosophie an werden sowohl das Sein als auch das Ereignis regelmäßig als in sich »kehrig« bestimmt. 8 Am Ende seines Schaffens scheint Heidegger sogar dazu bereit gewesen zu sein, auf die Rede von der »Kehre« ganz zu verzichten, da ihm die Berufung auf sie nun als »irrig« erscheint, insofern sie den Abbruch der Veröffentlichung von Sein und Zeit bloß von außen verständlich zu machen sucht, anstatt »die zureichende Bestimmung des Daseins hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zum Ereignis« umgehend zu geben. 9 Aus dem Gesagten leuchtet ein, dass nur das hinreichende Verständnis dessen, was in Heideggers Denken als die »Kehre« begegnet, zur Einsicht in die Einheit seines brüchigen und stets sich wandelnden Denkwegs führen kann, »das, statt Vorstellungen und Begriffe zu liefern, sich als Wandlung des Bezugs zum Sein erfährt und erprobt« 10. Dabei ist die Kehre, worauf Heidegger im bekannten Brief an Richardson hinweist, nicht bloß als ein im philosophischen Denken sich ereignender Vorgang zu fassen: »Die Kehre ist in erster Linie nicht ein Vorgang im fragenden Denken; sie gehört […] in den Sachverhalt selbst.« 11 Die Kehre, wie sie im Denken Heideggers vollzogen wird, ist dem Gesagten nach als das mehrfach verwickelte Gefüge vieler vereinzelter, aber zugleich auch zusammenhängender Verlagerungen des Schwergewichts in der Erörterung der philosophischen Grundbestimmungen zu verstehen. Auf eine auffällige Zweideutigkeit der Kehre ist in der Forschung längst aufmerksam gemacht worden. Vor fünfzig Jahren wies Orlando Pugliese darauf hin, dass Heidegger mit der Kehre einerseits »die ontologische Kehrbarkeit der Faktizität« meint, das Faktum nämlich, »dass das Dasein weltstiftend Sein erschließt und [gleichzeitig] selber, als Da-sein, eben mit dieser Erschließung zu seinem Zum Thema des »in sich kehrigen Ereignisses« und der Kehre als »Wendungsmitte« und »Wendungspunkt« vgl. Otto Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg/ München 1992, S. 42 ff., sowie Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, Frankfurt am Main 1994, S. 68. Vgl. auch Damir Barbarić, Zum anderen Anfang. Studien zum Spätdenken Heideggers, Freiburg/München 2016, insb. S. 16 ff. 9 Martin Heidegger, »Kehre« »Sagen der Kehre« (Ms. 1973–1975), in: HeideggerJahrbuch 2007, S. 9 ff. 10 Martin Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 202. 11 Martin Heidegger, »Brief an Richardson«, in: W. Richardson, Heidegger. Through Phenomenology to Thought, The Hague 1963, XIX. 8
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Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
eigenen Wesen kommt«, und dass die Kehre andererseits »jene epochale, geschichtsbedingte Wendung des Seinsverständnisses selbst nennt, das sich […] vom Gestell abwendet, um sich aus dem anderen Anfang, aus der Wahrheit des Wesens als solchen zu entwerfen«. 12 Erst wenn die Kehre so weit und umfassend genommen wird, kann man hellhörig werden für den sie betreffenden Spruch Heideggers, nach dem sich in ihr das Ganze umkehrt 13, und zwar, wie es in der Randbemerkung dazu heißt, »im Was und Wie des Denkwürdigen und des Denkens« 14. Und obwohl Heidegger im Rückblick auf sein früheres Werk den »Sprung in die (im Ereignis wesende) Kehre« dem Übergang von 5. zum 6. Abschnitt der Abhandlung Vom Wesen der Wahrheit zuweist, gilt es darauf zu bestehen, dass die Einsicht in das Wesen der Kehre nur durch die sorgfältige Verfolgung der sich allmählich durchsetzenden Bedeutungswandlung aller Grundbestimmungen von Sein und Zeit zu erreichen ist. In dieser Hinsicht ist der Ansicht von Helmuth Vetter zuzustimmen, zum Verständnis der Kehre sei »der Rückgang auf das Dasein und dessen temporale Analytik unverzichtbar« 15. Die entscheidende Hilfe dazu ist glücklicherweise von Heidegger selbst geleistet, und zwar in seinen späteren, das eigene bisherige Denken klärenden und zugleich korrigierenden Auslegungen von Sein und Zeit, allem voran in jenen, die im sogenannten Humanismusbrief und in der nachträglichen Einleitung zum Vortrag Was ist Metaphysik? sowie in Beiträge zur Philosophie und Seminaren in Le Thor enthalten sind. Um die allmählich und schrittweise sich vollziehende Kehre in ihren feinsten Nuancen und Facetten nachzuvollziehen, lohnt es sich, darüber hinaus besonders Heideggers Randbemerkungen zu den drei ersterwähnten Abhandlungen in Betracht zu ziehen, die dazu von einem beinahe unschätzbaren Wert sind. Im Folgenden sollen die wichtigsten Momente dieser fortschreitenden Sinn- und Bedeutungswandlung der Grundbestimmungen von Sein und Zeit in aller Kürze zusammengefasst werden. 16 Für die weit verbreitete anthropologische und existentialistische Orlando Pugliese, Vermittlung und Kehre. Grundzüge des Geschichtsdenkens bei Martin Heidegger, Freiburg/München 21986 (11965), S. 69. 13 Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 328. 14 Ebd., Randbemerkung a. 15 Helmuth Vetter, Grundriss Heidegger, Hamburg 2014, S. 298. 16 Für die Jahre unmittelbar nach Sein und Zeit hat das Rainer Thurnher wegweisend 12
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Damir Barbarić
Missdeutung von Sein und Zeit und insbesondere dessen leitenden Begriffs »Dasein« trägt gewiss die Art der Darstellung zumindest teilweise die Schuld, und zwar nicht nur hinsichtlich der sprachlichen Formulierung, die, wie Heidegger gesteht, immer noch der Metaphysik verpflichtet geblieben ist. Es ist viel wichtiger, dass Heideggers Denken, trotz dem radikal neuen Ansatz, sich in Sein und Zeit immer noch in mancher Hinsicht auf den festgelegten Wegen der durch die Phänomenologie einigermaßen modifizierten und von der christlichen Theologie radikalisierten neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität bewegt und sich von der sie bestimmenden Idee der Transzendenz leiten lässt. Das leuchtet vor allem ein bei der näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen Sein und Dasein. Die Sorge als die ganzheitliche ontologische Struktur des Daseins, die aus Existenzialität, Faktizität und Verfallensein besteht, wird in der Regel derart erklärt, dass es dem Dasein darin um sich selbst bzw. um das eigene Sein geht. Eben damit blieb Heidegger, entgegen der eigenen Absicht, zum Sein selbst durchzubrechen, im Wesentlichen dem neuzeitlichen Ansatz bei der absoluten Subjektivität verpflichtet. Durch den tragenden Ansatz von Sein und Zeit, dem zufolge das Dasein »umwillen seiner selbst« 17 ist, gelingt es ihm zwar, ein Seiendes, den Menschen, von der bloß ontischen zur ontologischen Ebene emporsteigen zu lassen, aber nicht auch die Sphäre des Seins als solchen zu erreichen. Das ist der entscheidende Punkt, auf den Heidegger in seinen Randbemerkungen zu Sein und Zeit immer wieder hinweist und den er weiter zu verdeutlichen und zu vertiefen sucht. Wenn es etwa vom Dasein heißt: »Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist« 18, setzt Heidegger dazu die vielsagende Randbemerkung: »Sein aber hier nicht nur als Sein des Menschen (Existenz)« und weist im Anschluss darauf hin, dass »In-derWelt-sein […] in sich den Bezug der Existenz zum Sein im Ganzen: Seinsverständnis« einschließt. 19 Auch sonst bestehen die Randbemerkungen in diesem Zusammenhang stets und mit Nachdruck darauf, dass es dem Dasein nicht zunächst um sein eigenes Sein, als Sein des geleistet: Wandlungen der Seinsfrage. Zur Krisis im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit«, Tübingen 1997. 17 Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1977, S. 482. 18 Ebd., S. 16. 19 Ebd., Randbemerkung a.
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Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
Menschen (Existenz), geht, sondern eigentlich um das »Sein überhaupt« 20 bzw. das »Sein[] selbst – schlechthin« 21. Der Mangel an Klarheit in Hinsicht auf die Unterscheidung zwischen dem Sein des Daseins und dem Sein im Ganzen, und d. h. dem Sein überhaupt und schlechthin, wenn es um den Bezugspunkt des »Umwillen« des Daseins geht, kommt zum Vorschein auch im weiteren Durchdenken der anderen, in Sein und Zeit ausgearbeiteten Grundbestimmungen des Daseins. So eignet – trotz Heideggers ausdrücklicher Bemühung darum, das Dasein als das eigentliche Selbst von dem bloßen Ich, zu dem der neuzeitliche und moderne Mensch sich geschichtlich festgelegt hat, möglichst scharf zu unterscheiden – den tragenden Bestimmungen des Daseins immer noch manches, was die transzendentale Subjektivität kennzeichnet. Seine Transzendenz, als ekstatischer Entwurf eigenster, künftiger Möglichkeiten, gründet in der das Ganze der vorhandenen und zuhandenen Seienden übertreffenden Freiheit und wird vom es auszeichnenden, überschwänglichen Willen getragen. Um die daraus entspringende, auf die Transzendentalphilosophie zurückführende Wesensbestimmung des Daseins zu umgehen und sie vom eigenen philosophischen Anliegen entfernt zu halten, sucht Heidegger nach Sein und Zeit jeden anthropologischen Anklang sowie jede unmittelbare Gleichsetzung des Daseins, als einer Weise zu sein, mit dem Menschen, als einem Seienden unter anderen, abzuweisen und bestimmt deshalb das Dasein ganz neutral als den Wesens- bzw. Seinsbereich, den der sterbliche Mensch sich zu eigen machen und bewohnen kann. In diesem Sinne wird das Dasein die »Ortschaft der Wahrheit des Seins« 22 genannt. Selbst die für Sein und Zeit entscheidende Bezeichnung »Dasein« wird nachträglich vom Standpunkt der Kehre durch die angeblich vorausblickende Absicht erklärt, zugleich und in einem Wort »sowohl den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen als auch das Wesensverhältnis des Menschen zur Offenheit (›Da‹) des Seins als solchen« zu treffen. 23 Wie sehr das Verhältnis zwischen Mensch und Dasein trotz allen solchen Bemühungen für Heidegger nicht nur in Sein und Zeit, sonEbd., S. 56, Randbemerkung c. Ebd., S. 73, Randbemerkung b. 22 Martin Heidegger, »Einleitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 373. Vgl. die Randbemerkung dazu (ebd. b): »Unzureichend gesagt: die sterblich bewohnte Ortschaft, die sterbliche Gegend der Ortschaft.« 23 Ebd., S. 372. 20 21
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Damir Barbarić
dern zum Teil auch im Spätwerk letztlich fragwürdig und ungeklärt geblieben ist, ist einer Äußerung in den Beiträgen zur Philosophie zu entnehmen, wonach das unter dem Namen »Da-sein« sich verbergende »Frag-würdige« nichts anderes sei als der ungefragte und unbewältigte Sachverhalt, dass bei der Gründung der Wahrheit des Seyns »irgendwie der Mensch und doch wieder nicht der Mensch« im Spiel ist. 24 Dem entsprechend wird der das Dasein bestimmende Entwurf nicht mehr als der vorlaufende Bezug zu eigenen, künftigen Möglichkeiten bestimmt, sondern als »der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins« 25, oder wie es in der Randbemerkung dazu heißt: »ekstatisches Innestehen in der Lichtung«. 26 Auch die Existenz des Daseins wird dementsprechend neu bestimmt, und zwar als »das Sein desjenigen Seienden, das offen steht für die Offenheit des Seins, in der es steht, indem es sie aussteht« 27. Der neue Name für die »Existenz« lautet jetzt »Inständigkeit«, durch welchen Namen beide das Dasein wesentlich kennzeichnende Grundbestimmungen, die Sorge und das Sein zum Tode, als von der Kehre her verwandelt und zusammengebracht bezeichnet werden. Durch diesen Namen gilt es nämlich, »das Innestehen in der Offenheit des Seins, das Austragen des Innestehens (Sorge) und das Ausdauern im Äußersten (Sein zum Tode) zusammen und als das volle Wesen der Existenz« zum Ausdruck zu bringen. 28 Im Rückblick auf die Ausführungen in Sein und Zeit wurde Heidegger sich immer mehr der Gefahr bewusst, dass der Satz, das Sein könne nur im Entwurf des Daseins verstanden werden, so aufgenommen werden könnte, als ob das Sein »nur ›subjektiv‹« 29 oder als »von Gnaden des Entwurfs« 30 gemeint sei. Um das zu verhindern, ließ er den das Dasein auszeichnenden Entwurf immer mehr zurückzutreten, um für die abgründige Geworfenheit des Daseins den gebührenMartin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, S. 313. 25 Martin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 327. 26 Ebd., Randbemerkung a. 27 Martin Heidegger, »Einleitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 374. 28 Ebd. 29 Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, S. 244, Randbemerkung a. 30 Ebd., S. 196, Randbemerkung c. 24
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Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
den Platz einzuräumen. Als geworfenes west das Dasein im Wurf des Seins, wie der ›Humanismusbrief‹ es formuliert. 31 Aus demselben Grund wird das Verstehen in der später verfassten Einleitung zu Was ist Metaphysik? als »der ekstatische, d. h. im Bereich des Offenen innestehende geworfene Entwurf« bestimmt, wobei Entwurf einer späteren Randbemerkung nach keinen anderen Sinn habe als »dem Wurf [des Seins zu] entsprechen« 32. Gerade am Verhältnis zwischen dem das Dasein auszeichnenden freien Entwurf und dessen faktischer Geworfenheit zeigt sich der eigentliche Sinn der Kehre am besten. Als der wahre Werfer des Entwurfs figuriert nach Sein und Zeit immer weniger der als Dasein angesprochene Mensch. Es wurde Heidegger immer deutlicher, inwiefern die Geworfenheit in der »ersten Vordeutung« in Sein und Zeit noch »missdeutbar« geblieben ist und wie sehr es naheliegend war, sie dort nur »im Sinne eines zufälligen Vorkommens des Menschen unter dem anderen Seienden« 33 zu fassen. Es kommt hingegen alles darauf an, einzusehen, dass gerade das Sein, das in der Kehre als der Wurf erfahren wird, dasjenige ist, was das Wesen des Menschen sich entworfen hat, so dass der Mensch erst »dergestalt geworfen« in der Offenheit des Seins stehen kann. 34 In diesem Gedanken des geworfenen Entwurfs sammelt sich die ganze Rätselhaftigkeit der Kehre, und daher lohnt es, etwas länger dabei zu verweilen. An einer Stelle der Beiträge zur Philosophie, wo dieser Gedanke eine ganz wesentliche Rolle spielt, wird im ersten Schritt das Seinsverständnis auf den Entwurf des Daseins zurückgeführt, im zweiten dann die Entwerfung als eine immer »geworfene« erklärt und schließlich beides, das Dasein sowie seine geworfene Entwerfung, als »zugehörig der Ereignung des Seyns selbst« bestimmt. 35 Es geht also hauptsächlich darum, den Entwurf nicht als »absolutes Schaffen« zu verstehen. Die Sache verhält sich gerade umgekehrt, denn im Sprung des entwerfenden Sich-werfens meldet sich – und zwar immer »abgründlich« – die volle »Geworfenheit des SichMartin Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 327 ff. 32 Martin Heidegger, »Einleitung zu ›Was ist Metaphysik?‹«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 377, Randbemerkung d. 33 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, S. 318. 34 Martin Heidegger, »Brief über den Humanismus«, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 350. 35 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, S. 252. 31
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Damir Barbarić
werfens und des Werfers«. 36 Im Verstehen als geworfenem Entwurf kommt die Kehre darin zum Vorschein, dass der Werfer des Entwurfs sich selbst als unhintergehbar geworfen erfährt, und zwar geworfen erst im Wurf und durch ihn. 37 Daher ist die Kehre nicht in erster Linie die Sache eines, wie auch immer bestimmten Erkennens, noch weniger des vergegenständlichenden Vorstellens. Sie hat gar nichts mit dem Sehen irgendwelcher Art, weder äußerem noch innerem, zu tun. Sie ist nur im Vollzug des abgründig sprunghaften Wagnisses zu erfahren: »In die Kehre können wir nur einkehren, anders ›sehen‹ wir sie nicht.« 38 Demgemäß wandelt sich auch der Charakter des Denkens desjenigen, der die Kehre durchgemacht hat. Wie Gadamer zu Recht bemerkt, wird das Denken aus der Kehre immer weniger ›subjektiv‹ und ›persönlich‹, am Ende sogar »in einem tiefen und endgültigen Sinn selbstlos«, und zwar »nicht nur in der Weise, daß es im Denken auf nichts abgesehen ist, auf keinen individuellen oder gesellschaftlichen Gewinn, sondern so, daß auch das eigene Selbst dessen, der denkt, in seiner persönlichem oder geschichtlichen Bedingtheit wie ausgelöscht ist«. 39 Die Erfahrung der unhintergehbaren Geworfenheit eines jeden Sich-werfens ist als die alles vermittelnde Mitte der gesamten Heidegger’schen Philosophie anzusehen, als jenes an entscheidenden Stellen seines Werks spärlich angedeutete »Verhältnis aller Verhältnisse«. In dieser kehrigen Mitte allein kann die Wesensverwandlung des überschwänglich entwerfenden Menschen geschehen, indem er sich zum Sterblichen und d. h. zum Er-eigneten und damit dem Ereignis Zugehörenden wandelt: »Jener Entwurf des Seyns […] nimmt den Werfer selbst mit in die eröffnete Lichtung, in der sich der Werfer als ein er-eigneter erkennt. Dieser mitreißende und versetzende Entwurf vollzieht in sich eine Wesenswandlung des Werfers, sofern dieser ›Mensch‹ heißt.« 40 Nur die lebendigste Erfahrung dieser Wandlung des EntwerfenEbd., S. 303 f. Ebd., S. 259. 38 Martin Heidegger, »Das abendländische Gespräch«, in: Heidegger, Zu Hölderlin/ Griechenlandreisen, GA 75, hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt am Main 2000, S. 60. 39 Hans-Georg Gadamer, »Der Denker Martin Heidegger«, in: Gadamer, Hegel Husserl Heidegger (Gesammelte Werke, Bd. 3), S. 226. 40 Martin Heidegger, Besinnung, GA 66, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1997, S. 326. 36 37
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Eine Kehre und viele Brüche auf einem Denkweg
den zum Geworfenen, und d. h. Ereigneten, kann vor das Geheimnis der Kehre bringen, die als Eingangstor nicht nur zu Heideggers Spätwerk, sondern – gleichsam rückläufig – auch zum anfänglichen Ansatz seiner Philosophie, damit aber schließlich zum Ganzen seines vielfältig brüchigen, aber deshalb nicht minder einheitlichen Denkwegs gelten darf. Die Einsicht in diese Einheitlichkeit des Weges könnte uns dazu bereit machen, diesen Weg selbst mitzugehen, ihn gleichsam zu wiederholen. Denn von den höchsten Aufgaben der heutigen Philosophie her gesehen behält die zum 75. Geburtstag Heideggers geäußerte Feststellung Gadamer auch heute ihre Überzeugungskraft: »Aber so oder anders: Heidegger ist da. Man kommt an ihm nicht vorbei und ist auch nicht – leider – über ihn in der Richtung seiner Frage hinausgekommen. So ist er auf eine bestürzende Weise im Wege. Ein erratischer Block, den die Flut eines auf technische Perfektion gerichteten Denkens umspült und nicht von der Stelle bringt.« 41 Es könnte sein, dass der mahnende Satz aus dem Vorwort zum Sammelband Vorträge und Aufsätze in einer behutsam zurückhaltenden Weise dasselbe sagen möchte: »Denkwege, für die Vergangenes zwar vergangen, Gewesenes jedoch im Kommen bleibt, warten, bis irgendwann Denkende sie gehen.« 42
Hans-Georg Gadamer, »Martin Heidegger 75 Jahre«, in: Gadamer, Hegel Husserl Heidegger (Gesammelte Werke, Bd. 3), S. 196. 42 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, S. 1. 41
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Francesco Cattaneo
Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache
Als Leitwort, als Polarstern für die folgende Überlegung gelte ein berühmtes Wort Heideggers: Sage mir, was du vom Übersetzen hältst, und ich sage dir, wer du bist. 1
Wir leben in der sogenannten Zeit der Globalisierung, also in einer Zeit, in der der Mensch lernen muss, nicht nur sich als Weltbürger zu verstehen, sondern vor allem sich als Weltbürger zu verhalten. Dieses Verhalten impliziert an erster Stelle die Fähigkeit, mit zu anderen Kultur- und Sprachwelten gehörigen Leuten in Verbindung zu treten. Deswegen wird heutzutage die Erfahrung des Hin und Her zwischen Sprachen immer wichtiger. Ihre Bedeutung ist vielfältig. Hier möchte ich bei einem Aspekt dieser Vielfältigkeit verweilen. Ich beziehe mich darauf, dass wir im Hin und Her zwischen Sprachen die Möglichkeit haben, dem Phänomen der Sprache direkter zu begegnen. Aber im welchem Sinn geschieht diese »direktere« Begegnung? Und wie sollen wir sie verstehen? In der Alltäglichkeit kann die Sprache im Sinn eines Zeuges erklärt werden. 2 Aufgrund ihres instrumentalen Charakters ist ihre Anwesenheit fast unbemerkbar. In der Tat besteht ein Hauptzug des Zeuges darin, dass es in dem Wozu der Dienlichkeit verschwindet. Wenn das Zeug zu viel auffällt, bedeutet das, dass es uns nicht anGA 53, S. 76. Das Problem des Wesens der Sprache ist schon im Abschnitt 34 (»Da-sein und Rede. Die Sprache«) von Sein und Zeit thematisiert, wo Heidegger schreibt: »Am Ende muß sich die philosophische Forschung einmal entschließen zu fragen, welche Seinsart der Sprache überhaupt zukommt. Ist sie ein innerweltlich zuhandenes Zeug, oder hat sie die Seinsart des Daseins oder keines von beiden?« (S. 221). Über Heideggers Behandlung des Problems der Sprache in Sein und Zeit, vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Subjekt und Dasein. Grundbegriffe von »Sein und Zeit«. Frankfurt a. M. 2004 (3., erweiterte Auflage), S. 92 ff.
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Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache
gemessen dient, dass es sich anschickt, ein Problem und deshalb, irgendwann, das Objekt einer ausdrücklichen Thematisierung zu werden. Sooft ein Zeug zu funktionieren aufhört, ist diese ausdrückliche Thematisierung nötig, um den gestörten Betrieb wieder in Ordnung zu bringen. In Bezug auf die Sprache haben wir für diese Noteingriffe z. B. Wörterbücher und Grammatiken zur Verfügung. Wenn das für die eigene Muttersprache gilt, was passiert dann in dem Hin und Her zwischen Sprachen? In dieser Bewegung vermehren sich die Hindernisse und Schwierigkeiten, weil die erlernten Sprachen normalerweise nicht auf die Natürlichkeit der Muttersprache zählen können. In der Tat, in der erlernten Sprache nimmt die Dimension der Anstrengung – beziehungsweise die Dimension der Anstrengung zum richtigen oder mindestens annehmbaren Gebrauch der Sprache – die Oberhand über die Ungezwungenheit. Daraus entsteht das Bedürfnis nach einer quantitativen Steigerung der Mittel zur Unterstützung, die beim Übergang von einem Sprachsystem zum anderen behilflich sind, aber gleichzeitig die Mühe dieses Überganges wahrnehmen lassen (im Unterschied zur Natürlichkeit der Muttersprache, die meistens nicht alle diese Stützen braucht). Deshalb muss, in Bezug auf die Muttersprache, das Hin und Her zwischen Sprachen ausgehend von dem Gesichtspunkt einer »inkrementalen« Logik verstanden werden: Weniger Natürlichkeit bedeutet mehr Mühe, mehr Kunstgriff und daher mehr Technik. Der technische Übergang zwischen unterschiedlichen Idiomen besteht aus der Ermittlung von Entsprechungen zwischen ihren Worten. Nachdem man die Entsprechung festgelegt hat, erhält man die Einigung über die Sache. Wenn das Wort, in seinem instrumentalen Charakter, wie ein Gefäß ist, in das eine mitzuteilende Bedeutung hineingelegt wird, muss man beim Übersetzen einen Behälter finden, der imstande ist, denselben Inhalt zu übermitteln. Dieser Inhalt ist als eine Art Bedeutungs-Invariante postuliert. In diesem Horizont tauchen genaue Verbindungen zwischen einer Auffassung des Wortes als Behälter, einer Auffassung der Sprache als Verkehrsmittel, das eine Brücke zwischen Sender und Empfänger schlägt, und endlich einer Auffassung der Übersetzung als technisch-mechanischer Übertragung einer Sprache in eine andere aufgrund von Äquivalenzkodizes auf. Das ist völlig vernünftig, rechtmäßig, sogar richtig in seinem Bezugssystem. Aber empfiehlt uns die Übersetzung wirklich nichts anderes? Das Hin und Her zwischen Sprachen lässt uns etwas erah23 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Francesco Cattaneo
nen, das sich vom oben erwähnten Bild stark unterscheidet. Ich beziehe mich auf die Erfahrung, dass Worte unterschiedlicher Idiome, auch wenn sie sich äußerlich – das heißt vom Wörterbuch her – zu entsprechen scheinen, nie dasselbe sagen. Jedes Wort gestaltet seine »Wirklichkeit« in einer besonderen Weise; sie beschränkt sich nicht darauf, die allen Sprachen gemeinsame »Wirklichkeit« im gewöhnlichen Sinn widerzuspiegeln, indem sie sich ihr anpasst. Anders gesagt kann – es handelt sich um eine Möglichkeit – das Hin und Her zwischen Sprachen uns eine Inkongruenz, eine Diskrepanz wahrnehmen lassen, aufgrund derer eine fundamentalere Dimension aufzuleuchten beginnt, die Dimension, in der das Wort – weit davon entfernt, nur eine Hülle zu sein, in die etwas Präexistierendes hineingelegt wird, also nur als eine sinnliche Verkleidung von einem immateriellen, schon verfügbaren und bestimmten Inhalt (die BedeutungsInvariante als Spiegel der »Realität«) zu gelten – den Auftrag annimmt, eine Welt zu erschließen, zu gliedern, sichtbar und so zugänglich zu machen. Außer der Sprache gibt es keine Begegnung mit einer vermutlichen vorlinguistischen Wirklichkeit. Es ist, als ob das Wort, in seiner »Nennkraft«, das Anwesen selbst des Dinges mit sich brächte, nach einer so tiefen Zusammengehörigkeit, dass es unmöglich wird, eine Vorzeitigkeit oder einen Vorrang von einer Ebene gegenüber der anderen zu bestimmen. 3 Wenn man dieses Bewusstsein erreicht, wird die intersprachliche Übersetzung einer radikalen Umwandlung untergezogen. Anhand eines Vorschlags von Heidegger könnten wir eine solche Umwandlung durch eine Akzentverschiebung ausdrücken: von der Über-setzung, wo der gleiche Inhalt durch Sprachen getragen und also am Ende in einen neuen Behälter gesetzt wird, sodass die Über-setzung als Übertragung oder noch besser als »Durchtragung« begriffen werden muss, zu der Über-setzung, wo der Sprung betont wird, den das Hin und Her zwischen Sprachen mit sich bringt und der allein es ermöglicht, ein eigentlicheres Setzen zu erreichen. 4 Deshalb schreibt Heidegger, dass die Sprache »das Haus des Seins« ist (GA 9, S. 313, 358–359). 4 GA 8, S. 236 ff.; GA 54, S. 17–18. Über das Problem der Übersetzung bei Heidegger, vgl. Gino Zaccaria, L’inizio greco del pensiero. Heidegger e l’essenza futura della filosofia, Milano 1999, 4. Kapitel »Sull’istorialità dispensale delle lingue esperidi (traduzione e tradizione)«, S. 251 ff.; François Vezin, La traduction comme travail phénoménologique, in »Heidegger Studies« 3/4, 1987–1988, S. 109–122; François Fédier, Entendre Heidegger et autres exercices d’écoute, Paris 2008; François Fédier, Regarder 3
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Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache
Die so getriebene intersprachliche Übersetzung muss jenseits der Entgegensetzung zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen verstanden werden, die sich auf die mehr oder weniger ausgeprägte Zugänglichkeit des Zeuges stützt. Indem die Über-setzung, durch den oben genannten Sprung, das Zutagekommen der echten Entbergungsdimension des Wortes fördert, kann sie die Empfindsamkeit gegen die eigene Sprache steigern oder schärfen. Anders gesagt bietet die Über-setzung eine Art phänomenologischer epoché in dem Sinn, dass sie die zirkuläre Dynamik einer Rückwirkung mit sich bringt, eine Auswirkung auf die Muttersprache, sodass diese nicht mehr in der gewöhnlichen Zweidimensionalität dessen, was als ganz natürlich erscheint, sondern dreidimensional wahrgenommen wird. »Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen«, sagte Goethe. 5 In der Tat ermöglicht uns die zwischensprachliche Übersetzung das Eigene durch das Fremde wiederzugewinnen 6 – und daher das, was für uns das Eigenste ist, die Muttersprache, als Fremde zu sehen, oder besser, von dem Fremden her zu sehen, das sie bewohnt und das ihr innerstes Herz darstellt. Das Wesen der Sprache hat mit dieser Nähe der Ferne zu tun. Dadurch kann man im eigenen Idiom die Bedeutung der Wendung »zur Sprache bringen« 7 erfahren. Eine der stärksten Begegnungen mit dem »Zur-Sprache-Bringen« geschieht genau dann, wenn uns die Worte fehlen, wenn wir das absolute Bedürfnis haben, etwas zu sagen, aber die Weise nicht finden können. 8 Wir bewegen uns am Rand der Stille, am Rand eines Abgrundes, der droht, im Sog das mitzureißen, was für uns dringend auszudrücken ist, und damit uns selbst. Wenn das Wort, in der Mitte jener Erfahrung der Stille, der Unmöglichkeit, der Versagung, hervoir, Paris 1995; François Fédier, Traduction, in: Dictionnaire Martin Heidegger. Vocabulaire polyphonique de sa pensée, herausgegeben von Philippe Arjakovsky, François Fédier und Hadrien France-Lanord, Paris 2013, S. 1321–1325; Hans-Dieter Gondek, Das Übersetzen denken: Übersetzen und Übersetzen, in »Heidegger Studies« 12, 1996, S. 39–55. 5 Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurt a. M. 1993, Band 13: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, herausgegeben von Harald Fricke. S. 12. 6 Vgl. dazu Friedrich Hölderlin, Brief an Casimir Ulrich Boehlendorff vom 4. Dezember 1801, in Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, herausgegeben von Dietrich E. Sattler, München 2004, Bd. 9, S. 183–185. 7 GA 9, S. 361–362. 8 GA 12, S. 151.
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Francesco Cattaneo
vorbricht und glänzt, empfindet man ein Gefühl von Befreiung und Erleichterung: Plötzlich, was verschlossen war, erschließt sich, öffnet sich, löst sich. Hier kostet man das »Zur-Sprache-Bringen« in seiner ganzen Macht aus, wörtlich als ein Übergang vom Nicht-Sein zum Sein. Es handelt sich um eine paradoxe Erfahrung, weil das Wort seine Notwendigkeit von der Stille her ableitet und daher sein Wesen erfüllt. Das Wort ist grundsätzlich von Stille durchwirkt. Schon immer weiß das, z. B., die Dichtung, zu deren Rhythmus und zu deren Musikalität sowohl die Klänge als auch die Pausen unentbehrlich sind. Das dichterische Sagen setzt nicht nur diese Stille voraus, sondern es inkorporiert sie, als ein Zittern und als eine ursprüngliche Bestürzung, die in den Worten schwingt, auf sie auswirkt und sie so immer echter und tiefer klingend werden lässt. Die Stille setzt sich nicht als eine defektive, stumme Dimension durch, sondern als die Vorbereitung und das Reifen des angemessensten Sagens. Die Stille und das Schweigen stellen jenen Entzug dar, mit dem jedes Sagen ursprünglich verbunden ist und der dem Wort seine Wendigkeit, seine eigenste Bewegtheit schenkt. Indem das »Zur-Sprache-Bringen« auf das innerste Wesen des Wortes zeigt, stellt es den Grundzug der Übersetzung dar, nicht nur der intersprachlichen Übersetzung, sondern auch der intrasprachlichen Übersetzung. Zumeist vernachlässigen wir die Erfahrung der intrasprachlichen Übersetzung: Wir sind taub für sie. Aber wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten, können wir uns dessen bewusst werden, dass wir ständig berufen sind, das Verhältnis mit unserer Muttersprache zu übernehmen, und dass die Übernahme dieses Verhältnisses eine Art Übersetzung ist. Die Muttersprache soll nicht flach als eine erworbene Fähigkeit erfasst werden, die wir nur anwenden, sondern als ein Spielraum, in dem man sich immer ex novo durch eine unablässige Ausübung des Wortes bewegt. Man hört nie auf, sprechen zu lernen, weil die Sprache von ihrem Abgrund her unerschöpflich ist. Ihr gehört wesentlich ein entfremdender Zug, den die alltägliche Benutzung abstumpft, abschwächt und verdeckt, aber niemals beseitigt. »Die Sprache selbst ist die Sprache«, schreibt Heidegger in Unterwegs zur Sprache, wo die Tautologie betont, dass die Sprache die Sprechenden darum anspricht, aus sich selbst bestimmt zu werden. 9 GA 12, S. 10: »Die Sprache erörtern heißt, nicht so sehr sie, sondern uns an den Ort ihres Wesens bringen: Versammlung in das Ereignis. Der Sprache selbst und nur ihr
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Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache
In Bezug auf das Verhältnis zwischen intersprachlicher und intrasprachlicher Übersetzung erweist sich eine Textstelle Heideggers als erhellend. Es handelt sich um die »Bemerkung zum Übersetzen«, die der im Sommersemester 1942 gehaltenen Vorlesung Hölderlins Hymne »Der Ister« angehört. Heidegger schreibt: Wer entscheidet […] und wie entscheidet man über die Richtigkeit einer »Übersetzung«? Unsere Kenntnis der Wortbedeutungen einer fremden Sprache »beschaffen« wir uns aus dem »Wörterbuch«. Aber wir vergessen zu leicht, dass die Angaben eines Wörterbuches ja durchgängig auf einer voraufgehenden Auslegung der sprachlichen Zusammenhänge beruhen müssen, aus denen die einzelnen Worte und Wortwendungen entnommen sind. Ein Wörterbuch wird in den meisten Fällen eine richtige Auskunft geben über die Wortbedeutung; es verbürgt aber durch diese Richtigkeit noch nicht die Einsicht in die Wahrheit dessen, was das Wort bedeutet und bedeuten kann, sofern wir dem im Wort genannten Wesensbereich nachfragen. Ein »Wörterbuch« kann Hinweise geben für das Wortverständnis, aber es ist niemals eine schlechthin und im voraus verbindliche Instanz. Die Berufung auf das Wörterbuch bleibt immer nur die Berufung auf eine in ihrer Art und ihren Grenzen meist gar nicht fassbare Auslegung einer Sprache. Sobald wir freilich die Sprache nur als Verkehrsmittel betrachten, ist das auf die Technik des Verkehrs und des Austausches zugeschnittene Wörterbuch »ohne weiteres« »in der Ordnung« und verbindlich. Auf den geschichtlichen Geist einer Sprache im Ganzen hin gesehen, fehlt dagegen jedem Wörterbuch die unmittelbare Maßstäblichkeit und Verbindlichkeit. In Wahrheit gilt dies freilich von jeder Übersetzung, weil sie notwendig den Überschritt vom Sprachgeist der einen Sprache in den einer anderen vollziehen muss. Es gibt überhaupt keine Übersetzung in dem Sinne, dass das Wort der einen Sprache mit dem Wort der anderen zur Deckung gebracht werden könnte oder auch nur dürfte. Diese Unmöglichkeit soll jedoch wiederum nicht dazu verleiten, die Übersetzung im Sinne eines bloßen Versagens abzuwerten. Im Gegenteil: Die Übersetzung kann sogar Zusammenhänge ans Licht bringen, die in der übersetzten Sprache zwar liegen, aber nicht herausgelegt sind. Hieraus erkennen wir, dass jedes Übersetzen ein Auslegen sein muss. Zugleich gilt aber auch das Umgekehrte: Jede Auslegung und alles, was in ihrem Dienst steht, ist ein Übersetzen. Dann bewegt sich das Übersetzen nicht allein zwischen zwei verschiedenen Sprachen, sondern es gibt innerhalb derselben Sprache ein Übersetzen. Die Auslegung der Hymnen Hölderlins ist ein Übersetzen innerhalb unserer möchten wir nach-denken. Die Sprache selbst ist: die Sprache und nichts außerdem. Die Sprache selbst ist die Sprache. […] Die Sprache spricht. […] Der Sprache nachdenken verlangt somit, dass wir auf das Sprechen der Sprache eingehen, um bei der Sprache, d. h. in ihrem Sprechen, nicht in unserem, den Aufenthalt zu nehmen«.
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Francesco Cattaneo
deutschen Sprache. Das gleiche gilt von der Auslegung, die z. B. Kants »Kritik der reinen Vernunft« oder Hegels »Phänomenologie des Geistes« zum Thema hat. In der Erkenntnis, dass es sich hier notwendig um ein Übersetzen handelt, liegt die Anerkennung, dass solche »Werke« ihrem Wesen nach übersetzungsbedürftig sind. Diese Bedürftigkeit ist aber kein Mangel, sondern ihr innerer Vorzug. […] Das Auslegen als Übersetzen ist zwar ein Verständlichmachen – freilich nicht in dem Sinne, wie der gemeine Verstand dies meint. 10
Wenn sich das Übersetzen »nicht allein zwischen zwei verschiedenen Sprachen« bewegt, sondern es »innerhalb derselben Sprache ein Übersetzen« gibt, dann könnten wir behaupten, indem wir Heidegger paraphrasieren, dass die Muttersprache selbst immer übersetzungsbedürftig ist. Am Ende des Abschnittes betont Heidegger erneut den Hauptaspekt seiner Überlegung, der darin bestehe, sich daran zu erinnern, »dass die Schwierigkeit einer Übersetzung niemals eine bloß technische ist, sondern dass sie das Verhältnis des Menschen zum Wesen des Wortes und zur Würde der Sprache angeht«. 11 Da die als sich immer am Rand des Scheiterns – im Überschritt vom geschichtlichen Geist einer Sprache zu dem einer anderen – verstandene Übersetzung uns erlaubt, das Eigene durch das Fremde wiederzugewinnen, kann sie implizite Zusammenhänge ans Licht bringen: Deswegen stellt sie eine Auslegung dar. 12 Aber jede Auslegung ist auch eine Übersetzung. Das erweist sich auf der intrasprachlichen Ebene als überzeugend. Wenn wir einen Autor lesen und deuten, der unsere Muttersprache wirklich erklingen lässt, finden wir uns mit einer Übersetzung beschäftigt, worin wir unserer Muttersprache wieder aufs Neue begegnen und sie erfahren. Nach der nicht zufälligen Bemerkung Heideggers gilt das sowohl für die Dichtung als auch für das Denken, sowohl für die Dimension des Rhythmus als auch für die Dimension der Logik (legein), das heißt des Sammelns. In der Tat ist der Gemeinplatz der Unübersetzbarkeit der Dichtung irreführend. Dieser Gemeinplatz ist das Ergebnis, mit den Worten Heideggers, »eine[r] in ihrer Art und ihren Grenzen meist gar nicht fassbare[n] Auslegung einer Sprache«. Versuchen wir kurz diese Voraussetzungen zu entfalten, um die Position Heideggers besser
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GA 53, S. 74–76. Ebd., S. 76. Vgl. darüber GA 8, S. 178.
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Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache
zu verstehen. Die Unübersetzbarkeit der Dichtung hängt vom Folgenden ab. Erstens betrachtet man die gewöhnliche, funktionale Sprache als Norm und die Dichtung als Abweichung von ihr. Zweitens wird die Übersetzung, wie gesagt, als technisch-mechanische Übertragung einer Sprache in eine andere aufgrund von Äquivalenzkodizes verstanden. Drittens erweist sich, da die so verstandene Übersetzung nur auf die regelmäßige Sprachbenutzung anwendbar ist, die unregelmäßige, dichte und oft exzentrische Sprachverwendung der Dichtung als unübersetzbar. Das Ideal dieser Übersetzungsauffassung ist die volle Äquivalenz ohne Rückstände. Deswegen sagt Heidegger im Spiegel-Gespräch: »Geschäftsbriefe lassen sich in alle Sprachen übersetzen. Die Wissenschaften, das heißt auch für uns heute bereits die Naturwissenschaften mit der mathematischen Physik als Grundwissenschaft, sind in alle Weltsprachen übersetzbar, recht gesagt: Es wird nicht übersetzt, sondern dieselbe mathematische Sprache gesprochen.« 13 Es ist interessant, zu bemerken, dass in der Zeit der Globalisierung die Beseitigung des Übersetzens nicht nur für die mathematische Sprache, sondern auch für die »natürliche« Sprache gilt: Man übersetzt nicht, weil man dieselbe Sprache benutzt, Englisch, die als Kommunikationssprache gilt. Das ist eine der Weisen, in der die Globalisierung eine Nivellierung hervorbringt. Heidegger fügt im Spiegel-Gespräch hinzu: »[S]o wenig wie man Gedichte übersetzen kann, kann man ein Denken übersetzen. Man kann es allenfalls umschreiben. Sobald man sich ans wörtliche Übersetzen macht, wird alles verwandelt.« 14 Das klingt widersprüchlich in Bezug auf die oben erwähnte Stelle aus der Vorlesung Hölderlins Hymne »Der Ister«. Aber Heidegger spricht hier von der Übersetzung im geläufigen Sinn, das heißt »in dem Sinne, daß das Wort der einen Sprache mit dem Wort der anderen zur Deckung gebracht werden könnte oder auch nur dürfte«. Vor diesem Horizont erweist sich die Übersetzung als akzeptabel, solange sie in verschiedenen Sprachen scheinbar sich deckende Worte findet. Die Übersetzung, die beim Übersetzen etwas verwandelt, wird als inakzeptabel verurteilt, weil solche Verwandlung als ein Scheitern wahrgenommen wird. Die vermeintliche totale Übereinstimmung macht es möglich und sogar wünschenswert, alles in eine Kommunikationssprache oder in logische, formale, künstliche Sprachen zu übersetzen, sodass die 13 14
GA 16, S. 680. Ebd.
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Übersetzung überflüssig und die gegenseitige »Verständigung« 15 verbessert wird. Der Begriff der Übersetzung als totaler Übereinstimmung bringt grundsätzlich die Überflüssigkeit der Übersetzung selbst mit sich. In Heideggers Auffassung der Übersetzung dagegen ist, was intersprachlich und intrasprachlich übersetzt werden muss, der Geist der Sprachen. Daher erweist sich genau jene Übersetzung als unmöglich, die vermutet, »das Wort der einen Sprache mit dem Wort der anderen zur Deckung« zu bringen. Die Übersetzung ist ausgehend von einem Sprung verstanden und dieser Sprung geschieht nicht nur zwischen den Geistern verschiedener Sprachen, sondern auch in dem Geist der Muttersprache selbst. Und das betrifft nicht nur die Dichtung, sondern auch das Denken, weil sie beide die Haupterfahrungen der Sprache sind. Damit finden wir uns vor einem Paradox. Die Übersetzung im geläufigen Sinn, die versucht, das Gesagte wörtlich zu übersetzen, behält äußerlich den Sinn, aber in der Tat, da sie nichts vom Geist der Sprachen weiß, verwandelt sie innerlich alles. Dagegen kann die Übersetzung im heideggerschen Sinn, die den innersten Geist der Sprache zu bergen versucht, zu dem führen, was äußerlich eine gewaltsame Verdrehung des Gesagten scheint. Die Übersetzung ist nicht »wörtlich« – sie ersetzt nicht die Wörter mit ihren Äquivalenten –, sondern »wortgetreu«, das heißt treu zum Wesen des Wortes, zu seiner »Nennkraft«. 16 Diese Auffassung der Übersetzung ist einem möglichen Einwand ausgesetzt: Wenn das Globale das darstellt, was allgemein gültig ist, so ist Heideggers Auffassung verschiedener unübersetzbarer Sprachgeister (wo Übersetzung als totale Übereinstimmung verstanden ist) durch einen gefährlichen Provinzialismus gekennzeichnet. Aber die Grundeinstellung Heideggers entzieht sich der Entgegensetzung »global/lokal«. Heideggers Denken führt nicht zur Absonderung, sondern zu einer Aussprache, 17 die eine andere Art Übersetzung und ein anderes Verständnis des Allgemeinen und des Einzigen notwendig macht. 18 Diese Verständigung deckt sich mit der »uneigentlichen Verständigung« zwischen Völkern, von der Heidegger in Wege zur Aussprache spricht und die »es nur zu einer zeitweiligen Verabredung bringt« und »eine gelegentliche Übereinkunft durch den Ausgleich der gerade geltenden Ansprüche und Leistungen« ist (GA 13, S. 16). 16 GA 5, S. 322. 17 Vgl. GA 13, S. 15 ff. 18 Dieses andere Verständnis leitet sich von dem Ereignis als Kehre zwischen Sein und 15
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Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache
Zuvor habe ich gesagt, dass die Aufgabe, die Sprache immer aufs Neue zu erfahren und zu übersetzen, in der Unerschöpflichkeit der Sprache tief verwurzelt ist. Aber die Muttersprache hilft uns, einen anderen Zug der Sprache zu erkennen: Denn im Unterschied dazu, was mit den fremden Sprachen (den sogenannten »zweiten Sprachen« – »zweite«, weil sie nach der Muttersprache erlernt werden) passiert, haben wir bei der Muttersprache das instinktive Gefühl nicht nur von einer Unerschöpflichkeit, sondern auch von einer Nichtverfügbarkeit. Dieses instinktive Gefühl einer Unverfügbarkeit wird als Natürlichkeit verfälscht, aber es hat mit etwas ganz Anderem zu tun, beziehungsweise mit der Tatsache, dass die Muttersprache jene Sprache ist, die uns mit einer merkwürdigen Erfahrung konfrontiert: Sie spricht mit uns, schon bevor wir anfangen, sie durch technische Kompetenzen anzuwenden. Darin besteht ihre Mütterlichkeit. Die Muttersprache lernen wir nicht in der Schule mit Wörterbüchern und Grammatiken. In sie sind wir von Anfang an getaucht: Gewissermaßen sind wir früher Hörende als Sprechende. Niccolò Tommaseo hat das sehr treffend erläutert: »Non l’uomo è più grande del linguaggio, ma […] le intelligenze volano nel linguaggio e vi respirano, come l’uccello nell’aria« (auf Deutsch: »Nicht der Mensch ist größer als die Sprache, sondern […] Geister fliegen und atmen in der Sprache, wie der Vogel in der Luft«). 19 Das Verhältnis mit der Sprache geschieht weder durch einen Akt des Willens, als ob wir es wären, die über die Sprache entscheiden, noch von einem außersprachlichen Raum ausgehend, als ob wir uns jemals ohne eine Beziehung zu ihr befänden. Der Anspruch der Sprache wendet sich zuvor an uns, sodass unser Sprechen als ein Entsprechen, unser Wort als eine Antwort geschieht. Deswegen ist die Sprache keine Eigenschaft oder Ausrüstung des Menschen, sondern eine Be-gabung, das heißt eine Gabe des Seins, die dem Menschen, in seinem Wesen als Da-sein, geschickt ist und die er aufnehmen muss und irgendwie immer aufnimmt. Das Verhältnis mit der Unverfügbarkeit der Muttersprache stellt eine Da-sein her (vgl. GA 65, §§ 133 und 255). Im Ereignisdenken werden die metaphysische Allgemeinheit (Allgemein-gültigkeit) als Gleich-gültigkeit und die metaphysische Einzigkeit als Subjektivität verlassen. Vgl. darüber François Fédier, Totalitarismo e nichilismo. Tre seminari e una conferenza, herausgegeben von Maurizio Borghi, Como/Pavia 2003, S. 173–206. 19 Niccolò Tommaseo, Il dicibile e l’indicibile, in: La mirabile sapienza della lingua. Ragionamenti sull’origine e i destini dell’Italiano, herausgegeben von M. Borghi, Milano 2005, S. 40.
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Francesco Cattaneo
Ausübung der Freiheit dar, einer in dem Maße radikalen Freiheit, dass sie uns in der Sprache und als Sprache überall überschreitet: Wir übernehmen sie, aber wir besitzen sie nicht. Unter anderem hilft das, den Grundunterschied zwischen »natürlichen« und »formalen« – oder besser zwischen »überlieferten« und »technischen« 20 – Sprachen zu erklären: Formale Sprachen können nicht mütterlich sein. Das Übersetzen zwischen Sprachen und das Übersetzen in der Muttersprache ermöglichen, die gewöhnliche Verwendung der Sprache zu vertiefen, sodass man zu der ursprünglichen Erfahrung des Sagens, des Ereignisses des Wortes zurückkommen kann, eine Erfahrung, die in ihrer Einfachheit die verborgenste ist und so der längsten Vorbereitung bedarf. Intersprachliche und intrasprachliche Übersetzung ziehen ein drittes Element hinzu, das heißt die Übersetzung, die das Wesen der Sprache selbst betrifft. Nachdem Heidegger 1955 in Cérisy-la-Salle seinen berühmten Vortrag Was ist das – die Philosophie? gehalten hatte, sagte er in einer Besprechung am Rand der Hauptveranstaltung: Insofern […] die Sprache jedem Denken vordenkt, wird die Überlieferung der Philosophie notwendigerweise Übersetzung. Wenn es sich darum handelt, meine Schriften zu übersetzen, möchte ich dabei ein Urteil abgeben, das ein Prinzip äußert: Man soll ein primäres, möglichst genuines Verständnis der Sache geben: ob es mit Gebrauchswörtern oder in einer gelehrten Sprache geschieht, ist sekundär, und es ist vielmehr wesentlich, dass das Gedachte in eine andere Sprache produktiv übersetzt wird, z. B. das Wort »gewesen« als Unterschied zum »Vergangenen«. Es ist gleichgültig, welches französische Wort – sogleich oder in 10 Jahren – für die Übersetzung gewählt wird, sondern es kommt darauf an, das Wort der Sprache anzumessen, damit man den Unterschied gleich versteht, und dass dieser Unterschied möglichst als Samenkorn aufgeht und eine Pflanze daraus aufwächst. 21
Heidegger spricht von der Übersetzung seiner Schriften und erklärt, dass man »ein primäres, möglichst genuines Verständnis der Sache geben« soll. Was ist diese »Sache«? Als Beispiel erwähnt er den Unterschied zwischen dem Gewesenen und dem Vergangenen. Wir Vgl. darüber Martin Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache, St. Gallen 1989. 21 Zitiert in Ivo de Gennaro und Gino Zaccaria, Dasein: Da-sein. Tradurre la parola del pensiero. Un contributo alla ricezione italiana di Heidegger, Milano 2007, S. 17. Über diese Stelle Heideggers vgl. auch Parvis Emad, Translation and Interpretation. Learning from »Beiträge«, Bukarest 2012, S. 60 ff. 20
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Übersetzung und hermeneutische Erfahrung der Sprache
müssen dabei verweilen, um die Tragweite von Heideggers Überlegung zu verstehen. Die Worte, die er als Beispiel benutzt, verweisen auf die Zeit und also auf das Sein. Es geht darum, einen Unterschied zwischen zwei Dimensionen hervortreten zu lassen. Übersetzen bedeutet jetzt, den Unterschied durchzuführen. Dieser Unterschied betrifft die Erfahrung der Sprache. Die Übersetzung als Durchführung des Unterschiedes bringt den Übergang von der Verwendung der Sprache als Verkehrsmittel zum Wesen der Sprache als Entbergung mit sich und das heißt auch den Übergang von der Übersetzung als Übereinstimmung zu der Übersetzung als Sprung. Aber da die Sprache »jedem Denken vordenkt«, betrifft die Übersetzung gleichzeitig die Überlieferung der Philosophie, also die Metaphysik. Das Wesen der Sprache ist eins mit dem Wesen des Seins. Der durch die auslegende Übersetzung durchzuführende Unterschied hat nicht nur mit der Sprache zu tun: Er stellt auch den Übergang von der Richtigkeit, der adaequatio, zur Unverborgenheit des Seins oder, anders gesagt, den Übergang vom ersten Anfang zum anderen Anfang (zum Ereignis) dar. In diesem Übergang »übersetzt« das Sein das Denken ins Ereignis, sodass das Da-sein, im Denken als Entsprechung zum Sein, eigentlich übersetzend wird. Indem die Sprache die Dimension der Wesung des Seins als Ereignisses, also der Lichtung des Sichverbergens ist, geschieht sie als ein Wink, der in das Schweigen tief eingewurzelt ist. Mit diesen Zusammenhängen setzt sich der 37. Abschnitt der Beiträge auseinander, dessen Titel »Das Seyn und seine Erschweigung (die Sigetik)« lautet. Da ist zu lesen: Die Grundfrage: wie west das Seyn? Die Erschweigung ist die besonnene Gesetzlichkeit des Erschweigens (σιγᾶν). Die Erschweigung ist die »Logik« der Philosophie, sofern diese aus dem anderen Anfang die Grundfrage fragt. Sie sucht die Wahrheit der Wesung des Seyns, und diese Wahrheit ist die winkend-anklingende Verborgenheit (das Geheimnis) des Ereignisses (die zögernde Versagung). Wir können das Seyn selbst, gerade wenn es im Sprung ersprungen wird, nie unmittelbar sagen. Denn jede Sage kommt aus dem Seyn her und spricht aus seiner Wahrheit. Alles Wort und somit alle Logik steht unter der Macht des Seyns. Das Wesen der »Logik« […] ist daher die Sigetik. In ihr erst wird auch das Wesen der Sprache begriffen. 22
22
GA 65, S. 78–79.
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Francesco Cattaneo
Die Sigetik als Wesen der »Logik«, also der Sprache, ist die Pflanze, die aus dem Samenkorn der unterscheidenden Übersetzung aufwachsen kann.
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Parmenides – Beispiele philologischer Zugänge 1
Es sollen im Folgenden einige philologische Zugänge zu Parmenides umrissen werden, die einerseits eine Rahmung von Heideggers beinahe sein ganzes Leben begleitenden Bemühungen um ein Verständnis der Fragmente des Eleaten darstellen können und andererseits zeigen sollen, wie kontrovers und vor allem wie wenig oder wie sehr offen gegenüber der Philosophie die Fragmente gedeutet werden. Zuvor sei angemerkt, dass man mit Band 35 der Gesamtausgabe von Martin Heideggers Schriften, einer Vorlesung über Anaximander und Parmenides aus dem Sommersemester 1932, ein wertvolles Zeugnis zur Beurteilung seiner Beschäftigung mit dem Griechischen im Allgemeinen hat. 2 Solange man vorwiegend die von ihm selbst veröffentlichten Schriften kannte, wurde ihm wiederholt Unkenntnis des Griechischen oder bewusste Verdrehung einzelner Wörter vorgeworfen. 3 An den nunmehr veröffentlichten Vorlesungsaufzeichnungen kann man ablesen, dass er durchaus selbständig intrikate sprachliche Probleme löste und eigenständig übersetzte. Das muss natürlich nicht heißen, dass man mit seinen Übersetzungen einverstanden ist. Aber man wird ihm nicht länger nachsagen können, dass er schlecht Griechisch konnte. Die philologischen Zugänge, die im Folgenden kurz referiert werden, sind diejenigen von Hermann Diels und Alexander MoureMein Dank für die Einladung, bei der Jahrestagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft ein Referat zu diesem Thema zu halten, gilt Professor Helmuth Vetter, dem wir eine Neuübersetzung und einen Kommentar der Fragmente des Parmenides verdanken (Parmenides, Sein und Welt. Die Fragmente neu übersetzt und kommentiert von Helmuth Vetter, Freiburg 2016). 2 Martin Heidegger, Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1932, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt am Main 2012 (Gesamtausgabe Bd. 35). 3 Vgl. z. B. Werner Beierwaltes, Heideggers Rückgang zu den Griechen, München 1995. 1
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latos als Rahmung von Heideggers eigenen Bemühungen um ein Verständnis des Parmenides und Néstor-Luis Cordero und Panagiotis Thanassas als Beispiele gegenwärtiger, diametral entgegengesetzter Einschätzungen des Eleaten. Diels ist nicht nur für Heidegger, sondern für weite Teile des 20. Jahrhunderts die prägende Grundlage für eine Beschäftigung mit den Fragmenten des Parmenides. Markant zeigt sich das etwa daran, dass von Diels vorgeschlagene Konjekturen beinahe lückenlos von den verschiedensten Interpreten und Übersetzern übernommen wurden. Das von ihm in den Text eingefügte Wort εἴργω in Fragment 6, 3 ist vielleicht das beste Exempel dafür, wie Konjekturen zu Interpretationsproblemen führen können, die aufgrund der Überlieferung nicht gegeben sind (dazu weiter unten). Mourelatos, der seine nachmalig berühmte Dissertation als Buch veröffentlichte, als der schon einundachtzigjährige Heidegger betonte, ein Echo des Parmenides sein zu wollen, 4 gibt einen Beleg ab für die angloamerikanische Bemühung um ein Verständnis des Seins, das alles andere als spekulativ genannt werden kann, wenngleich Mourelatos seine Deutung in Abhebung von derjenigen Kahns als spekulativ bezeichnet. Sie ist entstanden im Umfeld sprachanalytischer Bemühungen, im konkreten Fall von Mourelatos unter der Betreuung von Wilfrid Sellars. Das kürzlich wiederaufgelegte Buch The Route of Parmenides 5 zeigt jedoch die Offenheit für von Heidegger inspirierte Deutungen, auf die Mourelatos immer wieder zu sprechen kommt. Darüber hinaus begegnet man in ihm einem Gelehrten, der die angloamerikanische Parmenides-Auslegung selbst kritisch hinterfragt hat. In einem Aufsatz aus den 70er-Jahren gibt er zu bedenken, dass die Standardinterpretation weite Teile der Fragmente unbedacht lässt. 6 Für die Gegenwart sollen Cordero und Thanassas als Vertreter dienen. Der ungemein um die Textrekonstruktion verdiente Cordero sieht Parmenides sehr nüchtern. Es gehe ihm einfach ums Einbläuen »Wie seit Jahrzehnten versuche ich, ein Echo des alten Parmenides zu bleiben.« (Brief von Martin Heidegger an Wolfgang Schadewaldt vom 7. 8. 1973, in: Nachlass Wolfgang Schadewaldt, Bayerische Staatsbibliothek, Signatur: Ana 398.B.IV.(D) Heidegger, Martin). 5 Alexander P. D. Mourelatos, The Route of Parmenides. Revised and expanded edition. With a new introduction, three supplemental essays, and an essay by Gregory Vlastos, Las Vegas / Zurich / Athens 2008. 6 Alexander P. D. Mourelatos, Some alternatives in interpreting Parmenides, The Monist 62 (1979), 3–14 (wieder abgedruckt in: Mourelatos 2008, 350–363). 4
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Parmenides – Beispiele philologischer Zugänge
des »ist«. Man könne nicht behaupten, dass das irgendetwas mit Spekulation zu tun habe im hegelschen Sinn. 7 Viel offener den Bezügen der modernen Philosophie gegenüber ist Thanassas. – Eine solche Kontroverse kann auch zeigen, wie gut es ist, auf – zumindest auf weiten Strecken – behutsame, aber den philosophischen Gehalt heben wollende Einlassungen wie diejenigen Heideggers zurückgreifen zu können.
1.
Diels – der philologische Grundleger für das 20. Jahrhundert
Der für philologische wie philosophische Zugänge zu Parmenides wichtigste Name für das 20. Jahrhundert ist vermutlich Hermann Diels. Seine grundlegende, in zahlreichen Auflagen erschienene Sammlung Die Fragmente der Vorsokratiker hat als wichtigen Vorläufer die Parmenides-Einzelausgabe, die der beinahe fünfzigjährige Diels (der um einige Monate älter als Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff war) unter dem Titel Parmenides Lehrgedicht. Mit einem Anhang über griechische Thüren und Schlösser im Jahr 1897 veröffentlicht. 8 Diese Arbeit wiederum kann man als Weiterführung einerseits seiner Doxographoi sehen, andererseits als eine Frucht seiner Edition der Commentaria in Aristotelem Graeca, deren Edition er vorstand und von denen er den Simplikios edierte, der wesentliche Fragmente des Parmenides überliefert. Ihm ging es – so äußert er sich auch im Vorwort dieser Einzelausgabe – um eine nüchterne Edition des Überlieferten. 9 Damit handelt er den überschwänglichen Ausgaben des Parmenides, die in seiner Jugend im Schwange waren, entgegen, die den Eleaten mit den Dichtergrößen seiner Zeit auch im Stilistischen gleichsetzten und massiv in den Text eingriffen. Und doch wurde Diels der wohl maßgebliche Setzer von Konjekturen, die später oftmals unhinterfragt für den richtigen Text betrachtet wurden und die Grundlage für zum Teil sehr kontroverse Diskussionen abgaben. Dass Diels bis zu seinem Tod im Jahr 1922 (dem Erscheinungs-
Vgl. z. B. Néstor-Luis Cordero, By Being, It is. The Thesis of Parmenides, Las Vegas 2004, 74. 8 Hermann Diels, Parmenides Lehrgedicht. Griechisch und deutsch. Mit einem Anhang über griechische Thüren und Schlösser, Berlin 1897. 9 Diels 1897, 3 f. 7
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jahr der 4. Auflage der Fragmente der Vorsokratiker) bei einzelnen Stellen wie dem dritten Vers des ersten Fragments wiederholte Veränderungen des Textes vornahm, zeigt ein Vergleich der verschiedenen Auflagen. 10 Markantestes Beispiel für eine folgenschwere Konjektur ist vielleicht das schon angesprochene εἴργω in Frg. 6, 3, das einen Textverbesserungsvorschlag von Diels darstellt: χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ’ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν· τά γ’ ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα. πρώτης γάρ σ’ ἀφ’ ὁδοῦ ταύτης διζήσιος hεἴργωi, αὐτὰρ ἔπειτ’ ἀπὸ τῆς, ἣν δὴ βροτοὶ εἰδότες οὐδέν πλάττονται, δίκρανοι … »Das Sagen und Denken muss ein Seiendes sein. Denn das Sein existirt, das Nichts existirt nicht; das heiss ich Dich wohl zu beherzigen. Es ist dies nämlich der erste Weg der Forschung, vor dem ich Dich warne. Sodann aber auch vor jenem, auf dem da einherschwanken nichts wissende Sterbliche, Doppelköpfe …« (Übs. Diels 1897)
Diese Textgestaltung, bei der auf einen ersten Weg, von dem die Göttin abhält, ein zweiter (»sodann«) folgt, vor dem sie warnt, legt nahe, dass man nun – im Unterschied zu Frg. 2 – von insgesamt drei Wegen ausgeht. Dies tut beispielsweise auch Heidegger in seiner Vorlesung aus dem Sommersemester 1932: »Nun ist aber das Weg-halten nicht zu Ende. Im Gegenteil – die Göttin sprach ausdrücklich αὐτὰρ ἔπειτα! Demnach ein zweiter nicht zu gehender Weg. Somit den gangbaren und zu gehenden eingerechnet – drei Wege. Welcher ist der dritte bzw. zweite ungangbare? Wir sehen sogleich, dieser dritte Weg wird ausführlich geschildert, so eindringlich, wie bisher keiner der beiden vorgenannten.« 11 Dass freilich nicht notwendig die Einführung eines dritten Weges anzunehmen ist und dass man nicht verhandeln muss, wie diese scheinbaren drei Wege sich zu den zwei Wegen des Seins und Nichtseins aus Frg. 2 verhalten, betont eindringlich Cordero, einer der gegenwärtig besten Kenner der Parmenides-Literatur. Er schlägt anstelle von Diels’ εἴργω die mediale Futurform ἄρξει vor, 12 »du wirst beginnen« und gestaltet den Vers folgendermaßen: πρώτης γάρ τ’ ἀφ’ ὁδοῦ ταύτης διζήσιος hἄρξειi, also mit einem apokopierten τε anstelle des σε. 10 11 12
S. u. bei Anm. 17. Heidegger GA 35, 121 f. Cordero 2004, 124.
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Parmenides – Beispiele philologischer Zugänge
Diels hat in dem knappen, aber sehr gehaltvollen Kommentar seiner Parmenides-Einzelausgabe auch vieles für die philosophische Auslegung grundgelegt, 13 das später vergessen wurde und zum Teil auch durch Änderungen des Textes und der Übersetzung der Fragmente in den verschiedenen Auflagen der Fragmente der Vorsokratiker undeutlich gemacht wurde. Als Beispiel dafür diene seine Gestaltung und Auslegung des dritten Verses des ersten Fragments. Diels traut dem Beginn des Parmenideischen Gedichts eine Abstraktheit zu, die nach ihm und bis vor kurzem kaum ein Ausleger oder Übersetzer dem Eleaten zubilligte. Folgenden Text druckt Diels in seiner Einzelausgabe ab: Ἵπποι ταί με φέρουσιν, ὅσον τ’ ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι, πέμπον, ἐπεί μ’ ἐς ὁδὸν βῆσαν πολύφημον ἄγουσαι δαίμονος, ἣ κατὰ πάντα τη φέρει εἰδότα φῶτα· »Das Rossegespann, das mich trägt, zog mich fürder, soweit ich nur wollte, nachdem es mich auf den vielgerühmten Weg der Göttin geleitet, der allein den wissenden Mann überallhin führt.« (Übs. Diels 1897)
In seinem Kommentar sagt er unter anderem Folgendes dazu: »Es gibt nur einen Weg, der zum Ziele führt, der Weg der Wahrheit, alle andern sind Irrwege. Das ist der bis zur Monotonie wiederholte Grundgedanke des Gedichtes. Wir dürfen erwarten, dass dies gleich im Anfang mit aller Entschiedenheit betont wird. Anstoss darf bei dieser Auffassung nicht das etwas kahle κατὰ πάντα erregen (= πάντῃ, πάντοσε). […] In griechischer Poesie ist diese Nüchternheit selten, aber dem Parmenides darf sie auf keinen Fall durch schönfärberische Conjecturen genommen werden.« 14 Diels hebt also hervor, dass Parmenides eine gewisse Kahlheit zuzutrauen ist. Allerdings wurde aufgrund einer – wie man später gesehen hat – zu Unrecht als solchen bezeichneten Lesart in einer Sextus-Handschrift der Text von Vers drei in das heute in vielen Editionen zu lesende κατὰ πάντ’ ἄστη, etwa: »durch alle Städte« geändert. Hermann Mutschmann gab in seiner Sextus Empiricus-Ausgabe im Jahr 1914 15 an, dass dies der überlieferte Text sei, erst Allan H. Coxon stellte diesen Irrtum im
In der Einleitung schreibt der bescheidene Diels: »Sollte dabei (sc. bei der Erklärung der Fragmente) auch hie und da die Philosophie des Dichterdenkers zur Sprache kommen, so geschieht es κατὰ συμβεβηκός.« (Diels 1897, 4). 14 Diels 1897, 48. 15 Hermann Mutschmann, Sexti Empirici opera, 2. Bd., Leipzig 1914. 13
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Jahr 1968 richtig. 16 Aber die vermeintliche Lesart drang in die dritte Auflage der Fragmente der Vorsokratiker ein, der Text wird bis heute in dieser Form abgedruckt. Zuvor hatte Diels – bei unterschiedlicher Textgestaltung – an der Allgemeinheit der Aussage festgehalten. 17 Blickt man in Heideggers Vorlesung aus dem Sommersemester 1932, so kann man erkennen, dass er Diels’ Text der Einzelausgabe abdruckt. Er übersetzt demgemäß: »Denn sie brachten mich – fahrend – auf den vielkündenden Weg der Göttin, der durch das All [das Seiende im Ganzen] hinträgt jeden wissenden […] Mann.« 18 Erst relativ spät wurde dem Vers wieder der Ausdruck einer Allgemeinheit zugeschrieben, hier ist erneut Cordero mit einer Konjektur zu nennen, 19 die sich allerdings in den neueren Textausgaben von Gemelli Marciano 20 oder Mansfeld/Primavesi 21 nicht durchsetzte. Heidegger folgt Diels übrigens auch darin, das Relativpronomen im Vers drei auf die ὁδός, den Weg zu beziehen. Diels prägte mit seinem Verdikt, das Relativpronomen könne sich nicht auf die Daimon beziehen, die unmittelbar vor dem Relativsatz steht, die Übersetzungs- und Auslegungstradition im 20. Jahrhundert; dagegen war im 19. Jahrhundert die (naheliegende) Auffassung weiter verbreitet, das bezügliche Fürwort
Alan H. Coxon, The manuscript tradition of Simplicius’ Commentary on Aristotle’s Physics I–IV, Classical Quarterly 18 (1968), 75. S. auch ders., The Fragments of Parmenides. A critical text with introduction and translation, the ancient Testimonia and a commentary. Revised and expanded edition edited with new translations by Richard McKirahan and a new preface by Malcolm Schofield, Las Vegas / Zurich / Athens 2009, 279. 17 Hermann Diels druckt ab der dritten Auflage seiner Fragmentsammlung der Vorsokratiker diesen Text (Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker 1, gr./dt., Berlin 1912), davor schreibt er ἣ κατὰ πάντ’ αhὐiτὴ φέρει (Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, gr./dt., Berlin 1903) und ἣ κατὰ πάντα hταiτὴ φέρει (Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, gr./dt., Berlin 1906). 18 Heidegger GA 35, 108. 19 Néstor-Luis Cordero, Le vers 1, 3 de Parménide (La Déesse conduit à l’égard de tout), Revue Philosophique 107 (1982), 159–179; vgl. auch Cordero 2004, 185. 20 Gemelli Marciano schreibt: ἣ κατὰ πάντ’ ἀδαῆ φέρει εἰδότα φῶτα »der den Mann, der ›weiß‹, durch alles Dunkle hin bringt« (Die Vorsokratiker. Band II: Parmenides, Zenon, Empedokles. Griechisch-lateinisch-deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2009, 10 f.). 21 Mansfeld/Primavesi nehmen Heynes Konjektur auf und schreiben: ἣ κατὰ πάντ’ ἄhνiτηhνi φέρει εἰδότα φῶτα »der den wissenden Mann an jedem Punkt vorwärts führt« (Die Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Jaap Mansfeld und Oliver Primavesi, Stuttgart 2011, 318 f.). 16
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Parmenides – Beispiele philologischer Zugänge
meine die Göttin, 22 woran auch im 20. Jahrhundert so bedeutende Gelehrte wie Maurice Bowra festhielten. 23
2.
Mourelatos – Kahn, die großen Sein-Philologen der 60er- und 70er-Jahre
Ein weiteres Beispiel eines philologischen Zugangs, der enorm wirkmächtig wurde, ist derjenige in den USA der 60er- und 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Die maßgeblichen Namen in diesem Zusammenhang sind Alexander Mourelatos und Charles Kahn. Beide Autoren haben sich ursprünglich aus dezidiert philosophischer Blickrichtung den Vorsokratikern zugewandt, in beiden Fällen wuchsen jedoch ihre eigentlich nur als Vorstudien geplanten philologischen Betrachtungen zu eigenen Büchern an. Mourelatos schrieb in den frühen 60erJahren bei Wilfrid Sellars in Yale an einer Dissertation, die schließlich in seinem bedeutenden Werk The Route of Parmenides, veröffentlicht im Jahr 1970, resultierte. Kahn seinerseits unternahm am Weg zu einer Parmenidesstudie den Versuch, »a kind of grammatical prolegomenon to Greek ontology« zu schreiben, 24 der ihm zu dem über 500 Seiten dicken Buch The Verb ›Be‹ in Ancient Greek (erschienen im Jahr 1973) auswuchs – über den Entwicklungsprozess geben beide Autoren in den Neuauflagen ihrer nachmaligen Standardwerke Auskunft. 25 In äußerste Kürze zusammengefasst lässt sich über diese beiden Bücher sagen, dass sie fundamental die in der Philologie ebenso wie in weiten Teilen der philosophischen Literatur anzutreffende Unterscheidung der Verwendung des Verbums Sein als Kopula und als verbum substantivum in Frage gestellt haben. Bekannt sind die gegen diese Dichotomie gestellten Auffassungen der Funktion des Verbums Sein unter den Bezeichnungen »speculative predication« (Mourelatos) und »veridical use« (Kahn) geworden. 26 Mourelatos verwehrt sich hinsichtlich seiner Formulierung von der speculative predication »Vor allem aber ist es unmöglich, wie es die meisten thun, ἣ auf die δαίμων zu beziehen.« (Diels 1897, 48). 23 Cecil Maurice Bowra, The proem of Parmenides, Classical Philology 32 (1937), 109: »Here the antecedent of ἣ seems more likely to be δαίμονος than ὁδόν«. 24 Charles H. Kahn, The verb ›be‹ in Ancient Greek. With a new introductory essay, Indianapolis / Cambridge 2003, VII. 25 Mourelatos 2008, XI–XXI; Kahn 2003, VII–IX. 26 Eine Formulierung, die Kahn schon vor der Veröffentlichung seines Buches ver22
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explizit gegen eine Auffassung im Sinne hegelscher Spekulation. 27 Für ihn gehe es um eine kopulative Verwendung von »ist«, bei der auf Prädikatsseite das Subjekt sich vollständig aufkläre. 28 Es werde in der speculative predication ausgesagt, was etwas »wahrlich«, letztlich, in seiner Essenz sei. 29 Kahn betont in ähnlicher Weise den Vorrang der prädikativen Verwendung von Sein im Griechischen. Auch bei Sätzen, in denen griechisches »sein« mit »existieren« übersetzt werden könne, könne man ein Prädikat ergänzen. Dies sei auch bei Platon und Aristoteles, letztlich auch bei Plotin zu beobachten. 30 Mir ist nicht bekannt, ob Martin Heidegger auf diese im angloamerikanischen Raum stark rezipierten Arbeiten zum griechischen εἶναι Stellung bezogen hat. Ein wichtiger Beitrag der deutschen klassischen Philologie zum Thema der Bedeutung des Seins in der frühen Philosophie der Griechen erschien in Heideggers Todesjahr 1976, nämlich Uvo Hölschers Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie. 31 Umgekehrt kann man auch nicht behaupten, dass Kahn und Mourelatos in ihren Überlegungen von Heideggers Betrachtungen zum Sein bei den Griechen ausgingen. Sie sind beide von ihrem akademischen Umfeld her von dem geprägt, was man sprachanalytische Philosophie zu nennen gewohnt ist. Im speziellen Fall ihrer Beschäftigung mit Parmenides speiste sich die tiefgreifende Befassung mit den Funktionen des Wortes »sein« auch aus einer Kritik an Philologen wie Guido Calogero oder auch Kirk/Raven, die Parmenides eine Konfusion von existentiellem und prädikativem Gebrauch von wendete, so in seinem Aufsatz: The Greek verb to be and the concept of being, Foundations of Language 2 (1966), 245–65. 27 »But the associations of the term with German idealism are not to be exploited, …« (Mourelatos 2008, 58). 28 »To put it roughly: on the side of the predicate, the subject fully explains itself, and in terms of itself. Predication so understood is at once analysis, explication, and explanation. And it promises to be all these finally and completely.« (Mourelatos 2008, 57). 29 Vgl. Mourelatos 2008, 58. 30 Eine gute Übersicht über verschiedene Argumentationsstränge und verschiedene Klassifizierungen von »sein« bietet die Einleitung in der Neuausgabe von Kahns The Verb ›Be‹ in Ancient Greek, v. a. IX–XXII. 31 Uvo Hölscher, Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie, Heidelberg 1976. Für eine durchgängige Interpretation der Fragmente des Parmenides anhand der Auffassung von εἶναι als »etwas Bestimmtes sein« vgl. Arbogast Schmitt, Parmenides und der Ursprung der Philosophie, in: Emil Angehrn (Hg.), Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin / New York 2007, 109–139.
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Parmenides – Beispiele philologischer Zugänge
εἶναι vorwarfen oder zumindest zuschrieben. 32 Zum anderen wurden sie maßgeblich beeinflusst durch so herausragende Philologen wie G. E. L. Owen, der – so Kahns Referat in seinem Einleitungsessay der Neuausgabe seines Buches zum Verb Sein – die Ansicht vertrat: »for Plato and Aristotle, to be is always to be something or other«. 33 – Sein bedeutet immer, etwas Bestimmtes zu sein, worauf eindringlich Hölscher in der genannten Abhandlung hinweist. Sosehr die Werke von Mourelatos und Kahn sich also auf innerphilologische Diskussionen beziehen, sind sie dennoch offen für eine Auseinandersetzung mit Heidegger, sowohl mit seinen eigenen Beschäftigungen mit Parmenides – soweit sie damals bekannt waren – als auch mit den durch ihn inspirierten Parmenidesauslegungen wie derjenigen von Jean Beaufret. Mourelatos kommt in seinem Einleitungskapitel über die epische Form auf Heidegger zu sprechen. Er erwähnt ihn im Zusammenhang mit Friedrich Nietzsche, seit dessen Zeit es eine Modeerscheinung geworden sei, die Vorsokratiker nicht als Vorläufer späterer philosophischer Positionen, sondern als Stimmen einer eigenen Weltsicht zu betrachten, die nahe dem Genie und der Welt der Dichter wie Homer anzusiedeln sei. In einer Anmerkung schreibt Mourelatos: »Heidegger is now the most influential advocate of this interpretation of the pre-Socratics generally and of Parmenides in particular«. 34 Beaufrets Parmenides-Ausgabe nennt er »a brilliant application of the Heideggerian approach.« 35 Mourelatos zeigt sich nicht nur offen für die Beachtung des Dichterischen am Werk des Parmenides, er kritisiert direkt die Einschränkung der anglo-amerikanischen Parmenidesgelehrsamkeit auf einige Fragen, die einen Großteil der überlieferten Fragmente unberücksichtigt lasse. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1979 mit dem Titel Some alternatives in interpreting Parmenides 36 skizziert er die anglo-amerikanische Standard-Interpretation in fünf Punkten; aufgrund des Ausschlusses gewisser Aussageformen resultiere bei Parmenides ein Monismus. 37 Vgl. Mourelatos’ Kritik an Calogero in Mourelatos 2008, 51–54 und Kahns Zitat aus Kirk/Raven in Kahn 2003, IX. 33 Kahn 2003, IX. Er bezieht sich auf G. E. L. Owens Aufsatz Aristotle on the snares of ontology, in: Renford Bambrough (Hg.), New essays on Plato and Aristotle, London 1965, 69–95. 34 Mourelatos 2008, 36, Anm. 76. 35 Ebd. 36 S. o. Anm. 6. 37 Mourelatos 2008, 352. 32
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Dieser Übersicht stellt Mourelatos in fünf Absätzen die Mängel der Standard-Interpretation gegenüber. Darin kritisiert er unter anderem, dass jene Interpretation keine Bezüge zu vorparmenideischer Philosophie herstelle, eine zu geringe Menge des vorhandenen Textmaterials in Betracht ziehe und auch den Unterschied der beiden Teile des Gedichts des Parmenides nicht beachte. 38 Kahn zeigt in seinem Buch aus dem Jahr 1973 ein ähnliches Bewusstsein wie Mourelatos für den Einfluss Heideggers auf das (allgemeine) Sprachverständnis der Gegenwart. So nennt er ihn etwa anlässlich seiner Überlegungen zum Ausdruck »existieren« und seinem unterschiedlich häufigen Gebrauch in verschiedenen modernen Sprachen. Heidegger ist für ihn einer der Eckpunkte, welche die Bandbreite dieses Begriffs vom Existenzquantor bis zum Grundwort im Existenzialismus markieren. 39 Allerdings macht er an einem späteren Punkt seiner Abhandlung anlässlich der Überlegung, dass »etwas zu sein« auch »irgendwo zu sein« impliziere, darauf aufmerksam, dass seine Folgerungen einen heideggerianischen Beigeschmack zu haben scheinen könnten, er sie jedoch eher im Sinne Wittgensteins verstanden wissen will. 40
3.
Cordero und Thanassas – Beispiele unspekulativer und spekulativer Parmenidesinterpretationen
Als Beispiel gegenwärtiger Zugänge zu Parmenides seien noch kurz der bereits wiederholt erwähnte Cordero und Panagiotis Thanassas betrachtet. Cordero kam uns ›unter‹ anlässlich Diels’ Konjektur für Fragment 8, 3, die zu der Annahme von drei Wegen führt. Cordero schlägt einen anderen Text vor und bestreitet vehement, dass von Parmenides mehr als zwei Wege angesprochen würden. Für ihn liegt eine strenge Dichotomie vor zwischen dem sich aus sich selbst als existierend präsentierenden éstin, »es ist« und der (versuchten) Negation dieser ersten Setzung. Innerhalb der großen Diskussion um die Frage, was – wenn es überhaupt eines gibt – das Subjekt der ForMourelatos 2008, 354 f. Kahn 2003, 231; vgl. auch XXV und 416. 40 »In view of the apparently Heideggerian flavor of some of my conclusions, I ought to point out that my use of the expression to be present in the world is intended to suggest something much more like Wittgenstein’s notion of the world as ›the totality of facts‹ […].« (Kahn 2003, 314, Anm. 76). 38 39
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Parmenides – Beispiele philologischer Zugänge
mulierungen der Wege ist (vgl. Frg. 2 D-K), bezieht Cordero eindeutig Stellung: »The subject must be analytically extracted from the meaning of éstin as Parmenides’ fundamental thesis.« 41 Hierin kann man ihn übrigens in einer gewissen Parallele zu Heidegger sehen, der in seiner Vorlesung im Sommersemester 1932 folgendes zum ἔστιν sagt: »Wie denkt ihr über das ›ist‹? ἔστιν; ein Satz – ohne Subjekt; besser das Prädikat ist selbst Subjekt.« 42 Jedoch würde Cordero diesen Vergleich vermutlich nicht gerne gezogen sehen, kritisiert er ja Heidegger wiederholt explizit dafür, dass er etwas dort sähe, wo es nicht zu sehen sei, und umgekehrt etwas verkenne, wo es erkennbar sei. 43 Allgemein lässt sich sagen, dass Cordero in ziemlich nüchterner Weise Parmenides vielen anderen Philosophen von Hegel bis Wittgenstein gegenüberstellt, 44 die die Radikalität seiner Unterscheidung nicht mitgetragen und der Negativität eine positive Funktion zugesprochen hätten. Nach einem knappen Referat von Hegels Ansicht zum Nichts oder Nichtsein und dessen Bedeutung in seiner Philosophie deklariert Cordero: »Everything is different in Parmenides, whose absolutization of the fact of being (which is the only thing that can be grasped whose reality cannot be questioned) is expressed both by a statement and by a double negation.« 45 Zum anderen betont er, dass jegliche idealistische Deutung des Verhältnisses von Sein und Denken ausgeschlossen sei, weil das Sein den Vorrang habe. 46 Darin trifft er sich übrigens ein weiteres Mal in gewisser Weise mit Heideggers Ausführungen in der genannten Vorlesung. 47 Eine weitere Ansicht, die Cordero mit besonderer Vehemenz vertritt, ist diejenige, dass man nichts über eine mögliche Theorie Cordero 2004, 53. Heidegger GA 35, 118. 43 Cordero 2004, 30, Anm. 106: »This absence [von Frg. 1, 10] accords with Heidegger’s habit of not seeing things where they are and seeking them where they are not.«; vgl. auch S. 60, Anm. 230. 44 Cordero 2004, 74. 45 Cordero 2004, 74. 46 »There is identity between thinking and being, but any idealist interpretation is excluded, since it is being that has priority«. (Cordero 2004, 86) 47 Vgl. z. B. Heidegger GA 35, 120: »Die idealistische Auslegung alles Seienden ist durch das Denken gesetzt; Denken als Urteilen, das Seiende ist nicht ›an sich‹, sondern nur von Gnaden des Denkens; demgegenüber die Berufung darauf, daß die Dinge ›sind‹, auch wenn wir sie nicht denken. Diese Feststellung ist im Recht und gleichwohl ist der Satz des Parmenides damit nicht widerlegt. Denn er sagt gar nicht, daß das Seiende Denken sei, sondern daß das Sein mit Vernehmen zusammengehöre.« 41 42
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des Parmenides über die phänomenale Welt sagen könne. 48 Dieses Verdikt hängt mit seiner Auffassung des Ausdruckes δόξα im Zusammenhang mit Parmenides zusammen. Für Cordero ist es ein grober anachronistischer Fehler, im Zusammenhang mit dessen Fragmenten die dort angesprochenen δόξαι der Sterblichen als »Erscheinungen« zu fassen – es handle sich dabei stets um Meinungen, Ansichten, Überzeugungen. 49 Und diese Meinungen seien, da sie sich beständig auf dem zweiten, abgelehnten Weg bewegten, immer falsch. Es könne für Parmenides im Unterschied zu Platon keine ἀληθὴς δόξα, keine »wahre Meinung« geben. 50 Die Fassung des Wortes δόξα als »Annahme« ist durchaus berechtigt, bedenkt man die Verbalwurzel δεχ-, von der sich dieses Wort ableitet und die so etwas wie »annehmen« bedeutet. Darauf macht im Kontext der Parmenides-Philologie ausführlich Mourelatos aufmerksam, der die Korrespondenz der Wortgruppe rund um jenes δεχ- mit dem Wortfeld πειθ- eingehend untersucht. 51 Die δόξα als »Annahme« zu fassen hindert einen jedoch nicht, zu sagen, Parmenides habe den Ansichten der Sterblichen auch einen positiven Gehalt zugesprochen, bzw. lässt sich zeigen, dass Parmenides seine Göttin sehr wohl Konkurrenzfähiges im Bereich der Annahmen über die phänomenale Welt vorbringen lassen wollte. Instruiert durch ihre Ausführungen soll der Jüngling ja hinkünftig nicht mehr durch die Meinungen der Sterblichen in Schwierigkeiten kommen. Die Diskussion um den Wahrheitswert der δόξαι und insgesamt über die Bedeutung des sogenannten Doxa-Teils kann man zentriert sehen um das »… nothing can be said of any possible Parmenidean theory about the phenomenal world.« (Cordero 2004, 81). 49 »Despite Parmenides’ insistence on always relating the notion of dóxa to the sphere of speech, that is, of knowledge, a large number of interpreters of the Eleatean’s thought tend to give the term an ontological value, as a synonym of ›appearance.‹ This error is most common among Anglo-Saxon scholars, who are apt to describe the second way (and hence the second part of the Poem) as the ›way of seeming.‹ Here we have a grave sin of anachronism. As I said in the previous chapter, Parmenides is not Plato. The term dóxa appears three times in the Poem, and twice it is accompanied by the subjective genitive ›of mortals‹ (1.30, 8.51). Mortals (subject) have ›opinions,‹ that is, viewpoints, assessments, conjectures.« (Cordero 2004, 152 f.) 50 »Although Parmenides never uses the term ›false‹ (pseudés) (at least, it is not found in any of the quotations of the Poem that have come down to us to this day), for him, opinion is always false, untrue. A dóxa alēthés would be inconceivable.« (Cordero 2004, 154) 51 Mourelatos 2008, 136–163. 48
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Verständnis der Scharnierstelle zwischen den legendären zwei Teilen von Parmenides’ Peri physeos, nämlich 8, 53 f.: Μορφὰς γὰρ κατέθεντο δύο γνώμας ὀνομάζειν, τῶν μίαν οὐ χρεών ἐστιν· ἐν ᾧ πεπλανημένοι εἰσίν. »Denn sie haben vermeint zwei Formen benennen zu müssen; nur eine derselben, das sei unerlaubt (dabei sind sie freilich in die Irre gegangen).« (Übs. Diels 1897)
Geht es hier um das Anpreisen eines radikalen Monismus? – Das ist die Deutungsrichtung Corderos: Es gibt nur einen Weg, den des Seienden, alles andere liegt am abgelehnten, unmöglichen Weg und ist falsch. Oder wird das Ansetzen zweier Grundprinzipien nicht verdammt, jedoch kritisiert, dass das eine, diese verbindende nicht für nötig erachtet wird? – Für diese Deutungsrichtung kann man Thanassas nennen, der in seinem jüngeren Parmenidesbuch 52 in der Auslegung von 8, 53 f. dem kürzlich verstorbenen Wiener Klassischen Philologen Hans Schwabl gefolgt ist. 53 Demnach bringe Vers 54 keine direkte Aussage der Göttin zum Ausdruck in dem Sinn, dass eine der Formen nicht angenommen werden dürfe. Vielmehr werde indirekt die Meinung der Sterblichen charakterisiert, die es nicht für nötig hielten, eine einzige, die beiden anderen Formen verbindende anzusetzen. 54 Thanassas kann in seiner positiven Fassung des DoxaTeils als Gegenpart zu Cordero betrachtet werden. Ebenso kann man bei ihm eine subtilere Auseinandersetzung mit neuzeitlicher Philosophie, unter anderem auch Heideggers Beschäftigung mit Parmenides sehen. 55 Vor allem findet man bei ihm eine kluge Erwägung dessen, was Idealismus im Zusammenhang mit Parmenides heißen kann. Thanassas fasst das νοεῖν, von dem bei Parmenides die Rede ist, als Denken, das durch die von der Wahrnehmung vermittelte Phänomenalität hin auf das sie vereinende Sein blicken kann. Gegen die vor allem von Philologen geäußerte Kritik, dass ein derartiges Verständnis des νοεῖν zu einem Idealismus führe, bringt Thanassas vor, dass Panagiotis Thanassas, Parmenides, cosmos, and being. A philosophical interpretation, Milwaukee, Wisc. 2007. 53 Thanassas 2007, 66 mit Anm. 10. 54 Vgl. Hans Schwabl, Sein und Doxa bei Parmenides, Wiener Studien 66 (1953), 50– 75 (hier 54). 55 Vgl. Z. B. Thanassas 2007, 38. Thanassas kritisiert auch Corderos Kritik an Heidegger und macht darauf aufmerksam, wie sehr »Heideggerian« Corderos eigene Auffassung sei (Thanassas 2007, 34 f. mit Anm. 19). 52
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diese Kritik auf einem naiven Begriff von Idealismus beruhe. 56 Hinsichtlich des Verhältnisses von Doxa zur Aletheia betont er, dass man die Doxa in verschiedenen Hinsichten verstehen muss. Für ihn steht fest, dass Parmenides keine Zwei-Welten-Theorie vertritt, 57 sondern darum bemüht ist, die vielfältige Welt der Erscheinungen hin auf das sie Begründende zu durchschauen. Zwei der vier Perspektiven auf die Doxa, die Thanassas aufzeigt, könnten an der angesprochenen Passage aus Fragment 8 abgelesen werden: Zunächst müsse man die täuschenden menschlichen Vermutungen verstehen und ihren Irrtum aufweisen – hierauf bezögen sich die Verse 53 bis 59 des achten Fragments, so weit reicht das von der Göttin angesprochene Irregehen der Menschen. Als zweite Perspektive ist die positive Doxa darzustellen, die auf einer Mischung beider Formen statt deren Trennung beruhe und somit der Täuschung der Sterblichen entgegenwirke. Die dritte Perspektive gilt der Beschreibung der täuschenden Meinungen durch ihre Rückführung auf die Unterschiede im Sinnesapparat. Die vierte und letzte der von Thanassas beschriebenen Hinsichten auf die Doxa besteht in der ontologischen Bewertung der täuschenden Meinungen im Aletheia-Teil und dem Aufweis, dass sie den Dritten (Un-)weg bilden. 58
Philologische Novität Eine ähnliche Verknüpfung von subtilen philologischen Beobachtungen und philosophischen Überlegungen wie bei Thanassas findet man in einem wenig beachteten Buch eines italienischen Gelehrten, das hier als letzter philologischer Zugang ganz knapp skizziert sein mag. Es stellt aber vermutlich tatsächlich eine Novität dar, die eine neue Wertschätzung der schriftstellerischen Qualität des Parmenides begründen kann, der oftmals für seine schlechten Hexameter geschol»The criticism, raised most frequently by philologists, that such a translation (sc. noein by ›to think‹) opens the road to ›idealism,‹ largely rests on a naïve notion of ›idealism.‹« (Thanassas 2007, 37, Anm. 23) 57 »Parmenides, accordingly, is not peddling a ›two-world-theory,‹ but presents the one world in the light of two different ways of knowing it. The ›noetic‹ kind of knowledge discovers Being everywhere, whereas the ›doxastic‹ corrects the errors in the world-view of mortals and provides a definite presentation of the appearing world.« (Thanassas 2007, 83) 58 Die Auflistung der vier Perspektiven findet sich in Thanassas 2007, 80. 56
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ten wurde. 59 Gemeint ist das Buch des in Frankreich lehrenden Riccardo Di Giuseppe mit dem Titel Le Voyage de Parménide. 60 Er wendet im philologischen Teil – dem ein philosophischer folgt, in dem er auch würdigend Heideggers Parmenides-Deutungen zur Kenntnis nimmt – eine Strukturierung der hexametrischen Dichtung an, die der bereits erwähnte Hans Schwabl erfolgreich bei Hesiod aufgezeigt hatte. 61 Es handelt sich um die Gliederung in Fünfer- und Zehnergruppen, die ermöglicht, diverse Entsprechungen aufzuzeigen. Dass dies im Bereich der griechischen Dichtung, aber nicht nur dieser, ein gangbarer Weg ist, zeigt sich vor allem bei Pindar, dessen Verständnis stark gefördert wird durch die Kenntnis der Responsionen. Paradigmatisch für diese Betrachtung der Epinikien Pindars sei die Arbeit von Thomas Poiss genannt, die auch einen Brückenschlag zu Hölderlin darstellt. 62 Di Giuseppe unternimmt zunächst eine Grobgliederung der langen Fragmente 1 und 8 in Zwanzigergruppen, die jeweils eine Abfolge von Zeit- und Raumschilderungen darstellten. 63 Des Weiteren unterteilt er diese Abschnitte in Fünferversgruppen und kann darauf aufbauend interessante Bezüge von einzelnen Pentaden herausarbeiten. Beispielsweise kann er Verbindungen zwischen den Achsen und Naben des Wagens, auf dem der Kouros fährt, zu den Achsen und Pfannen des Tores, zu dem ihn seine Fahrt führt, aufweisen. 64 Der springende Punkt seiner Pentadengliederung, auf die er im fünften Kapitel zurückkommt, ist, dass in der fünften Pentade des ersten Fragments scheinbar ein Vers fehlt, nämlich an der Scharnierstelle Frg. 1, 21/22 – hier ist die Schwelle des Übertritts in das Reich der Göttin beschrie»Dass seine Verse oft holprig, seine Prosodie ungewöhnlich, der dichterische Ausdruck nicht selten ungeschickt und streckenweit lediglich Prosa der dürrsten Art ist, dass die paar poetischen Metaphern durch Wiederholung zu Tode gehetzt werden, dass die Personification conventionell und unlebendig ist, wer will das leugnen?« Diels, der diese rhetorische Frage stellt (Diels 1897, 7), konzediert Parmenides immerhin, dass er »farbiger und plastischer gestalten« könnte, die »Farblosigkeit« seiner Dichtung aber mit seinem philosophischen Bemühen zusammenhänge (ebd. 8). 60 Riccardo Di Giuseppe, Le Voyage de Parménide, Paris 2011. 61 Hans Schwabl, Hesiods Theogonie. Eine unitarische Analyse, Wien 1966 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, 250. Band, 5. Abhandlung). 62 Thomas Poiss, Momente der Einheit. Interpretationen zu Pindars Epinikion und Hölderlins Andenken, Wien 1993 (Wiener Studien, Beiheft; 18). 63 Di Giuseppe 2011, 112 f. 64 Di Giuseppe 2011, 195 f. 59
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ben, die in der Versgliederung zum Verschwinden gebracht wird. Di Giuseppe sieht hier einen Ausdruck einer Auseinandersetzung mit den Formalismen des Epos und den Übergang zur philosophischen Redeweise im Griechentum. In dieser markanten Übergangsstelle v. 21/22 ist laut Di Giuseppe das Zentrum der Sphaira-artigen Schilderungen des Seienden zu sehen. Die äußerste Schale der Kugel bilde der Bereich der Doxa. An dieser entscheidenden Stelle sei auch anhand des Wechsels der Sprecher – es berichtet nicht mehr der Jüngling von seiner Fahrt, sondern er wird von der Göttin angesprochen und belehrt – zu beobachten, wie intensiv Parmenides in die Schule der Dichtung gegangen ist. Ein inhaltlicher Anklang an das Epos sei schon das erste Wort des Proömiums, die ἵπποι, die später als πολύφραστοι bezeichnet werden, womit wiederum eine Anspielung auf die unsterblichen Stuten des Hades, von denen im Demeterhymnus zu hören ist, vorliege. Parmenides breche aber hier bewusst mit der Tradition der Rhapsoden und lasse als neue Art der Verkündung die Sprache der Weisheit zu Wort kommen. 65 Der Übertritt von epischer zu philosophischer Redeweise komme nicht zuletzt im Verschwinden der Schwelle, das sich auch durch das Fehlen eines Verses kundtue, zum Ausdruck. Die Göttin, hinter der man Persephone sehen darf, die selbst eine dem Mythos nach zwischen Ober- und Unterwelt changierende Göttin ist, weist den einen Weg des Seins. Dieser ist kein Hin und Her mehr zwischen dem Bereich der Sonne und dem gefürchteten Gebiet der Nachtseite, er ist ein kontinuierlicher Erkenntnisweg, der die Zusammengehörigkeit dieser beiden Gegensätze anhand der gewiesenen Zeichen erfassen lasse. Und darauf weise eben, so die philologische Analyse Di Giuseppes, auch die dichterische Gestaltung von Parmenides’ Proömium in geschickter Form hin.
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Heideggers theologische Herkunft – Fragen der Interpretation (mit einem Anhang über Geschichte und Geschichtslosigkeit) I. In seinem mit Professor Tezuka 1953/54 geführten Gespräch hat Martin Heidegger auf die Bemerkung seines Gesprächspartners, »offenbar« sei Heidegger »durch Herkunft und Studiengang in der Theologie ganz anders beheimatet als diejenigen, die von außen her sich einiges anlesen, was in diesen Bereich gehört«, durchaus bejahend reagiert und mit nachdrücklicher Zustimmung geltend gemacht: »Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt.« 1 Diese Bemerkung taucht dem Sinne nach bereits in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre auf – wodurch die spätere Behauptung erhärtet wird und zugleich an Aussagekraft gewinnt –, nämlich im 1937/38 geschriebenen und erst Ende der neunziger Jahre zugänglich gewordenen »Rückblick auf den Weg«. Hier heißt es: »Und wer wollte verkennen, daß auf diesem ganzen bisherigen Weg verschwiegen die Auseinandersetzung mit dem Christentum mitging – eine Auseinandersetzung, die kein aufgegriffenes ›Problem‹ war, sondern Wahrung der eigensten Herkunft – des Elternhauses, der Heimat und der Jugend – und schmerzliche Ablösung davon in einem.« 2 Aber noch viel früher, in einem am 19. August 1921 an Karl Löwith gerichteten Brief hatte Heidegger bereits die einigermaßen verblüffende Bemerkung gemacht, er sei »kein Philosoph« – er arbeite bloß aus seiner »faktischen Herkunft«, zu der gehöre, dass er »christlicher Theologe« sei. 3 Die theologische Herkunft seines (philosophischen) M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (Gesamtausgabe [fortan abgekürzt als GA], 12), S. 91. 2 M. Heidegger: Besinnung (GA 66), S. 415. (Erste Herv. I. M. F.) 3 »Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith«, hrsg. v. H. Tietjen. In: Zur phi1
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Denkens ist damit klar ausgesagt; sie dürfte einen wichtigen Grund für Heideggers spätere Einflussnahme und Wirkung auf die Theologie darstellen und sollte sich zugleich als bestimmend und wegweisend für die Entwicklung seines philosophischen Denkens erweisen. Denn dass Herkunft nicht etwas Vergangenes, hinter sich Gelassenes ist, etwas, das nicht mehr besteht, sondern sie vielmehr als Anfang alles Spätere und Nachkommende beherrscht und bestimmt, ist eine gut etablierte These Heideggers, die jedem Kenner seines Werks bekannt ist. Besonders aufschlussreich ist dabei die von Heidegger 1934/35 getroffene Unterscheidung zwischen Beginn und Anfang. »Beginn ist jenes«, sagt hier Heidegger, »womit etwas anhebt, Anfang das, woraus etwas entspringt. […] Der Beginn wird alsbald zurückgelassen, er verschwindet im Fortgang des Geschehens. Der Anfang, der Ursprung, kommt dagegen im Geschehen allererst zum Vorschein und ist voll da erst an seinem Ende«. 4Auch die Formulierung der Rektoratsrede ist unmissverständlich: »Der Anfang ist noch. Er liegt nicht hinter uns als das längst Gewesene, sondern er steht vor uns. Der Anfang ist als das Größte im voraus über alles Kommende und so auch über uns schon hinweggegangen. Der Anfang ist in unsere Zukunft eingefallen, er steht dort als die ferne Verfügung über uns, seine Größe wieder einzuholen«. 5
Vor diesem Hintergrund ist die zitierte Textstelle aus dem Gespräch hinreichend eindeutig, da hier Herkunft ebenso auch mit Zukunft in Zusammenhang gebracht wird. »Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt«, heißt es dort und darauf lautet es im gleich nachfolgenden Satz: »Herkunft aber bleibt stets Zu-kunft.« 6 Und etwas früher nahm Heidegger Bezug auf ein Wort des Dichters Hölderlin, das in der vierten Strophe der Rheinhymne anhebt: »… Denn / Wie du anfiengst, wirst du bleiben«. 7 Die theologische Herkunft ist also wirkend nicht nur im Ansatz des losophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, hrsg. v. D. Papenfuss und O. Pöggeler, Frankfurt/Main 1990, S. 28 f.: »[…] aber dann ist zu sagen, daß ich kein Philosoph bin. Ich bilde mir nicht ein, auch nur etwas Vergleichbares zu machen […] Ich arbeite konkret faktisch aus meinem ›ich bin‹ – aus meiner geistigen überhaupt faktischen Herkunft […] Zu dieser meiner Faktizität gehört – was ich kurz nenne –, daß ich ›christlicher Theologe‹ bin.« 4 M. Heidegger: Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹ (GA 39), S. 3. 5 M. Heidegger: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (GA 16), S. 110. 6 M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 91. 7 M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 88.
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Denkwegs, sondern auf diesem ganzen Weg selbst. Die Art und Weise, wie sie das Philosophische bestimmt und mit ihm zur Verschmelzung kommt, ist jeweils unterschiedlich und soll in einigen ihren Hauptzügen in meinem Beitrag zur Diskussion gestellt werden.
II. In demselben Gespräch, in dem das bereits zitierte Zugeständnis aus den fünfziger Jahren begegnet, findet sich ein weiterer Hinweis, der sich mit Blick auf das hier behandelte Thema ebenso von Bedeutung erweisen dürfte. Im Kontext der zitierten Behauptung sagt Heidegger nämlich, »der Titel ›Hermeneutik‹« sei ihm ebenfalls aus seinem »Theologiestudium geläufig« gewesen; ihn habe er dann bei Dilthey wieder gefunden, dem dieser Titel »aus der selben Quelle her vertraut« gewesen sei, nämlich »aus seinem Theologiestudium, insbesondere aus seiner Beschäftigung mit Schleiermacher«. 8 Die ganze hermeneutische Problematik – somit auch die hermeneutische oder hermeneutisch angelegte Verwandlung der transzendentalen Phänomenologie Husserls – hat also ebenfalls theologische Herkunft. Heideggers theologische Herkunft erweist sich somit vor diesem Hintergrund als überaus relevant nicht nur für sein Philosoph-Werden im allgemeinen, sondern insbesondere auch für diejenige ihm eigene, hermeneutische Art und Weise philosophischer Sehweise und Einstellung, die er später innerhalb der Philosophie, als Philosoph, im Einzelnen entwickeln sollte. Aus der Perspektive der konfessionell unterschiedlich ausgeprägten theologischen Wirkungen ließe sich sagen, der vorübergehende Endpunkt seines frühen Denkweges, Sein und Zeit, vereinige in sich die katholische und die protestantische Tradition, sofern die erstere die für diese Tradition, insbesondere für die Neuscholastik charakteristische ontologische Orientierung darstellt, welche Heidegger durch Carl Braigs Buch Vom Sein: Abriß der Ontologie bzw. Franz Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles
M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 92. Wie in seinem Kollegienbuch verzeichnet ist, war Heidegger Teilnehmer an der Lehrveranstaltung Gottfried Hobergs über »Hermeneutik mit Geschichte der Exegese« (SS 1910); siehe HeideggerJahrbuch, vol. 1: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, hrsg. v. Alfred Denker, Hans-Helmuth Gander, Holger Zaborowski, Freiburg/München 2004, S. 14.
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von Anfang an vertraut war, während die letztere, äußerst kritisch gegenüber der Scholastik, den Schwerpunkt von einer ontologischen Perspektive göttlicher Ordnung und Harmonie auf das individuelle Erleben des Glaubens bzw. des je einzelnen Gläubigen umlegt, sich dabei vorwiegend an Luthers Kritik des Aristoteles orientiert und grundlegende Motive von Paulus, Augustinus, Pascal, Schleiermacher, Kierkegaard und Dilthey aufnimmt. Das philosophische Programm des Hauptwerkes, die Ausarbeitung der Seinsfrage im Rahmen einer Fundamentalontologie als existenzialer Analytik des menschlichen Daseins, kann vor diesem Hintergrund wohl nicht zu Unrecht als Versuch angesehen werden, beide christlichen Traditionen miteinander zu vereinigen oder zu verknüpfen. Grob gesagt vertritt dabei das Anliegen, eine Fundamentalontologie auszuarbeiten, die katholische Tradition, es kommt aus katholischer Herkunft. Während die existenziale Analytik – eine Fortführung und Konkretisierung der früheren »Hermeneutik der Faktizität« (wobei diese sich wohlgemerkt bereits 1923 keineswegs nur als eine Art Anthropologie, sondern ausdrücklich als »Ontologie« verstanden hatte) – an die von Luther und Kierkegaard geprägte protestantische Tradition anknüpft, der es im Wesentlichen um das Subjekt, sein religiöses Erleben und seinen existenziellen Glaubensvollzug gegangen war. Dass dieser zentralen Bestrebung Heideggers, die Wirkungen beider christlichen Traditionen in seine Gedankenwelt in gemäßer Weise aufzunehmen, ihnen gleichermaßen und gleichzeitig gerecht zu werden, und d. h. hier, die Frage nach dem Sein und die nach dem Menschen miteinander zu verknüpfen, unerhörte Spannungen innewohnen, muss zugegeben, kann aber hier nicht weiter erörtert werden; dass das Verhältnis von Sein und Menschenwesen eine Frage »von einer abgründigen Schwierigkeit« 9 darstellt, davon dürfte im übrigen Heidegger selbst einiges gewusst haben. 10 M. Heidegger: Was heißt Denken? 4. Aufl., Tübingen 1984, S. 74 (= GA 8, S. 85). Obwohl infolge des Scheiterns des Systementwurfs von Sein und Zeit die Idee einer Fundamentalontologie als existenzialer Analytik bald preisgegeben wird, wird dagegen die Einsicht, dass Mensch und Sein innerlich zusammengehören, auch beim späten Heidegger aufrechterhalten. Gegenüber den gängigen Missverständnissen hat Heidegger z. B. im Fernseh-Interview mit Nachdruck geltend gemacht: »der Grundgedanke meines Denkens ist gerade der, daß das Sein […] den Menschen braucht und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, sofern er in der Offenbarkeit des Seins steht. […] Man kann nicht nach dem Sein fragen, ohne nach dem Wesen des Menschen zu fragen.« (R. Wisser: »Das Fernseh-Interview«, in Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hrsg. v. G. Neske und E. Kettering, Pfullingen 1988, S. 21–28, hier
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Heideggers theologische Herkunft – Fragen der Interpretation
Die theologische Herkunft »des Titels ›Hermeneutik‹« soll aber präzisiert werden. Heute wissen wir, dass der junge Heidegger im Sommersemester (fortan: SS) 1910 Hörer von Gottfried Hobergs Vorlesung über »Hermeneutik mit Geschichte der Exegese« war. 11 Die theologische Herkunft seines Interesses an der Hermeneutik sollte jedoch nicht bloß pauschal etwa als Interesse für die Exegese oder, wie bei Dilthey oder Schleiermacher, als Interesse für die Auslegungskunst im Allgemeinen verstanden werden; sondern es ist die Art und Weise zu beachten, wie Heidegger in seinem Rückblick Hermeneutik und Theologie miteinander verknüpft, genauer, wie er die Hermeneutik in einem bestimmten engeren, man könnte sagen »sprachphilosophischen« (sprachorientierten oder sprachbezogenen) Sinne hervorhebt. »Damals wurde ich«, fügt er gleich anschließend hinzu, »besonders von der Frage des Verhältnisses zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und dem theologisch-spekulativen Denken umgetrieben. Es war […] dasselbe Verhältnis […] zwischen Sprache S. 23; siehe jetzt auch in M. Heidegger: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges [GA 16], S. 702–710, hier S. 704). Eine besonders aufschlussreiche Stelle lautet wie folgt: »Wir sagen vom ›Sein selbst‹ immer zuwenig, wenn wir, ›das Sein‹ sagend, das An-wesen zum Menschenwesen auslassen und dadurch verkennen, dass dieses Wesen selbst ›das Sein‹ mitausmacht. Wir sagen auch vom Menschen immer zuwenig, wenn wir, das ›Sein‹ (nicht das Menschsein) sagend, den Menschen für sich setzen und das so Gesetzte dann erst noch in eine Beziehung zum ›Sein‹ bringen. Wir sagen aber auch zuviel, wenn wir das Sein als das Allumfassende meinen und dabei den Menschen nur als ein besonderes Seiendes unter anderen (Pflanze, Tier) vorstellen und beides in die Beziehung setzen; denn schon im Menschenwesen liegt die Beziehung zu dem, was durch den Bezug, das Beziehen […], als ›Sein‹ bestimmt und so seinem vermeintlichen ›an und für sich‹ entnommen ist« (Zur Seinsfrage, in: Wegmarken [GA 9], S. 407). Und schon als Erläuterung zu Sein und Zeit hieß es 1928: »Die Grundfrage der Philosophie, die Frage nach dem Sein, ist in sich selbst die rechtverstandene Frage nach dem Menschen; es ist […] eine Frage nach dem Menschen, die latent in der Geschichte der Philosophie lebt und in ihr sich weiter bewegen wird […] Doch es kommt darauf an, die Frage nach dem Menschen in der Absicht auf das Problem des Seins zu stellen« (Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [GA 26], S. 20 f.). Eine nähere Auseinandersetzung dieser Frage mit detaillierterer Diskussion der zitierten Stellen wurde anderswo versucht; siehe I. M. Fehér: »Die Unabgeschlossenheit von ›Sein und Zeit‹ – erläutert am Ansatz der existenzialen Analytik in ›Sein und Zeit‹ und in den ›Prolegomena‹, sowie an der Entstehung des hermeneutischen Gedankenkreises in den frühen Freiburger Vorlesungen«. Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie XVI, 1989, S. 15–31; ders.: »Identität und Wandlung der Seinsfrage. Eine hermeneutische Annäherung«, in: Mesotes. Supplementband Martin Heidegger, Wien 1991, S. 105–119. 11 Siehe Anm. 8 oben.
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und Sein.« 12 Dadurch wird aber auch sein Theologieverständnis bestimmter und enger gefasst, worauf noch zurückzukommen sein wird. Es genüge an diesem Punkt festzustellen: Theologie und Hermeneutik traten in gegenseitiger Bestimmtheit in Heideggers Gesichtskreis so zusammen, dass ihm die Hermeneutik durch die Theologie und innerhalb ihrer zugänglich wurde, während die Theologie ihrerseits ihm den Weg zur Philosophie eröffnete. Der Weg zur Hermeneutik führte also durch die Theologie, letztere wurde mit ausschlaggebend für den Zugang zur Philosophie. Der Hinweis auf das Verhältnis zwischen Sprache und Sein ist charakteristisch, diese Bezeichnung könnte wohl wie kaum eine andere die zentrale Bemühung des ganzen Heidegger’schen Denkwegs formulieren. Die Zusammengehörigkeit von Sprache und Sein stellt in der Tat eine der ältesten Anregungen des Denkens Heideggers dar. Zurückblickend charakterisierte er ja bei mehreren Gelegenheiten seinen jugendlichen Wegbeginn als die Verflechtung zweier Fragen: der Seinsfrage in der Gestalt des Kategorienproblems und der Frage nach der Sprache in der Gestalt der Bedeutungslehre 13 – und in der Tat erschien dieser Zusammenhang bereits im Titel der Habilitationsschrift ausdrücklich. 14 Im zitierten Gespräch mit dem Japaner äußerte sich dieser dahingehend, man habe Anfang der zwanziger Jahre immer wieder gehört, dass Heideggers »Fragen um das Problem der Sprache und des Seins kreisten«, worauf Heidegger durchaus zustimmend, mit Hinweis auf seine Habilitationsschrift, reagierte 15 und im Laufe des Gesprächs später noch zwei Mal auf diesen Punkt zurückkam. Zum einen wird bestätigt, dass »die Besinnung auf Sprache und Sein [s]einen Denkweg von früh an bestimmt« hat 16. Zweitens ist wohl von noch größerer Bedeutung, dass, wie bereits angedeutet, Heideggers Bericht zufolge hinter seiner jugendlichen Aufnahme des Titels Hermeneutik dasselbe Verhältnis zwischen Sprache und M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 91. Vgl. ebd., S. 116: »Die Sprache […] bestimmt den hermeneutischen Bezug.« Zum »Verhältnis […] zwischen Sprache und Sein« als dem Grundproblem Heideggers, das seinen »Denkweg von früh an bestimmt« hat, siehe GA 12, S. 88 ff. sowie (als »Wegbeginn« für sein Denken) M. Heidegger: Frühe Schriften (GA 1), S. 55. 13 Vgl. M. Heidegger: Frühe Schriften (GA 1), S. 55; M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 87; vgl. auch ebd., S. 91. 14 M. Heidegger: »Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus«, in: M. Heidegger: Frühe Schriften (GA 1), S. 189–411. 15 M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 87. 16 M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 88. 12
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Heideggers theologische Herkunft – Fragen der Interpretation
Sein steckte. »Der Titel ›Hermeneutik‹ war mir aus meinem Theologiestudium her geläufig«, heißt es. »Damals wurde ich«, fügt er gleich anschließend hinzu, »besonders von der Frage des Verhältnisses zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und dem theologischspekulativen Denken umgetrieben. Es war, wenn Sie wollen, dasselbe Verhältnis, nämlich zwischen Sprache und Sein.« 17 Dass dieses Verhältnis ihm anfangs dunkel und »undurchsichtig« war, wird jedesmal betont. Auch im 1997 zugänglich gewordenen »Rückblick auf den Weg«, der aus den Jahren 1936/38 stammt und so zeitlich vor dem bisher Zitierten zu datieren ist, wird mit Bezug auf seine Habilitationsschrift zusammenfassend hervorgehoben, es gehe hier im Grunde genommen um nichts anderes als den »Versuch eines geschichtlichen Zugangs zur Ontologie; in eins damit die Frage nach der Sprache« 18. Heideggers ureigene und eigenste bzw. einzige philosophische Denkbemühung, die Thematisierung der Seinsfrage in der und durch die Besinnung auf das Verhältnis zwischen Sprache und Sein hat also selber theologische Herkunft, nämlich als »Frage des Verhältnisses zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und dem theologisch-spekulativen Denken«. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht dürfte eine von Hans-Georg Gadamer erzählte Geschichte sein, die charakteristisches Licht wirft nicht nur auf das besagte Verhältnis, sondern auch auf Heideggers Verständnis von Aufgabe und Wesen der Theologie. Kurz nach seinem Ruf nach Marburg soll Heidegger laut der Erinnerung Gadamers in einer im Anschluss an einen theologischen Vortrag folgenden Diskussion das Wort ergriffen und gesagt haben, »es sei die wahre Aufgabe der Theologie, zu der sie wieder finden müsse, das Wort zu suchen, das imstande sei, zum Glauben zu rufen und im Glauben zu bewahren«. 19 Das klang nach Gadamer »wie eine Aufgabenstellung für die Theologie«. 20 »Und es waren theologische Fragen«, meint Gadamer, »die von Anfang an in ihm drängten«. – »[…] das Wort zu suchen, das imstande sei, zum Glauben zu rufen M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (GA 12), S. 91. Vgl. ebd., S. 116: »Die Sprache […] bestimmt den hermeneutischen Bezug.« 18 M. Heidegger: »Ein Rückblick auf den Weg«, in: M. Heidegger: Besinnung (GA 66), S. 409–428, 412 (kursiv im Original). 19 H.-G. Gadamer: »Die Marburger Theologie«, ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 197. Siehe auch ebd., S. 315 und ders: Philosophische Lehrjahre, Frankfurt/Main 1977, S. 37. 20 H.-G. Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 197. Zum folgenden ebd., S. 199. 17
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und im Glauben zu bewahren« einerseits und das Sein in angemessener Weise zu Wort kommen zu lassen andererseits – diese Bemühungen sind wohl einander doch nicht sehr entfernt, wobei die engste Zusammengehörigkeit beider, Sein und Sprache nicht zuletzt negativ, von Heideggers Erläuterung des Scheiterns bzw. des Abbruchs des Werks Sein und Zeit klargestellt wird. Heidegger spricht nämlich in seinem nach dem Zweiten Weltkrieg verfassten Humanismusbrief über ein, wie er sagt, »Subjektivität verlassende[s] Denken«. Der zureichende Nach- und Mit-Vollzug dieses anderen, die Subjektivität verlassenden Denkens ist allerdings dadurch »erschwert«, so fährt er fort, »dass bei der Veröffentlichung von ›Sein und Zeit‹ der dritte Abschnitt des ersten Teiles, ›Zeit und Sein‹ zurückgehalten« wurde (vgl. »Sein und Zeit«, S. 39). Hier kehrt sich das Ganze um. Der fragliche Abschnitt wurde zurückgehalten, so lautet der Schluss der berühmten Erklärung, »weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und so mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam.« 21 Philosophie und Theologie haben also dieses Gemeinsame, dass sie gleichermaßen versagen oder scheitern, dasjenige zu sagen, was zu sagen wäre, oder anders ausgedrückt, sie erweisen sich als unfähig, das Zu-sagende angemessen zu sagen. Denn die Kehre sagen heißt nicht zuletzt die im Seyn waltende Kehre, die Kehre des Seins, oder wie Heidegger sagt, das Ereignis, die Kehre im Ereignis zu sagen. Aus dem Scheitern dieses Versuchs ergibt sich jedoch die enge Zusammengehörigkeit von Sein und Sprache. Dem entspricht etwas Ähnliches vonseiten der Theologie. Wie es im Vortrag über die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik lautet: »Wer die Theologie […] aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen.« 22 Dem entspricht in den Beiträgen zur Philosophie die Sigetik; sie ist als Erschweigung »die ›Logik‹ der Philosophie«. 23 Die Götter Vgl. M. Heidegger: Wegmarken (GA 9), S. 328. Zu einer detaillierteren Interpretation des letzten Satzes des Zitats siehe István M. Fehér: »›Das zureichende Sagen dieser Kehre‹. Heideggers Rückblick auf Sein und Zeit in seinem Humanismusbrief« (Heidegger und der Humanismus, Heidegger-Jahrbuch, Bd. 10, hrsg. v. Alfred Denker und Holger Zaborowski, 2017, S. 79–101). 22 M. Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, in ders.: Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S. 35–73, hier S. 51 (= GA 11, S. 63; Herv. I. M. F.). 23 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), S. 78. 21
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erschweigend sagen wäre wohl Heideggers Variante der Theologie. Dass das Finden des Wortes, das für die eigenste Aufgabe der Theologie nötig wäre (nämlich die ursprünglich religiöse Erfahrung in Worte zu fassen), das Verfügen des Menschen weit überschreitet, dürfte die neue Erfahrung für das Denken gewesen sein, welches, wie es im Humanismusbrief hieß, »mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam«. 24 Wenn wir über die theologische Herkunft einer Reihe philosophischer Probleme im Denken Heideggers sprechen, so dürfte es von Anfang an klar sein, dass Heidegger eben auch das überlieferte Selbstverständnis der Theologie nicht unberührt lässt, es vielmehr von Grund auf überprüft und einer Destruktion unterzieht. »[…] es sei die wahre Aufgabe der Theologie, zu der sie wieder finden müsse, das Wort zu suchen, das imstande sei, zum Glauben zu rufen und im Glauben zu bewahren«. »[…] zu der sie wieder finden müsse«: in dieser Formulierung wird der Theologie stillschweigend vorgeworfen, sich von ihrem »Gegenstand«, dem Glauben entfremdet oder getrennt zu haben und einseitig im Theoretischen oder in theoretischen Aussagesätzen zu verweilen. Aber selbst im bereits zitierten Brief an Karl Löwith finden wir eine unausdrückliche, kompakte Neubestimmung von Wesen und Aufgabe der Theologie. Heidegger hat ja in dem am 19. August 1921 an Karl Löwith gerichteten Brief geschrieben, er sei »kein Philosoph« und bilde sich »nicht ein, auch nur etwas Vergleichbares zu machen«; er arbeite aus seiner »faktischen Herkunft«, zu der gehört, dass er »christlicher Theologe« sei 25 – »d. h. (wie man diese Stelle interpretieren könnte) Damit wird die im Jahr der Veröffentlichung des Hauptwerks gemachte Behauptung: »Die Sprache gehört zur freien Verfügung des Daseins« (M. Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie [GA 24], S. 296) stillschweigend revidiert. 25 Siehe Anm. 3 oben. Vgl. noch den berühmten Satz des späten Heidegger: »Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens« (Vorträge und Aufsätze, 4. Aufl., Pfullingen 1978, S. 40 = GA 7, S. 36); dabei sollte auch dieses nicht übersehen werden, dass Fragen für Heideggers hermeneutisch neudefinierten Philosophiebegriff und sein hermeneutisches Philosophieren schlechthin zentral ist: die Fragen und das Fragen werden in Abgrenzung gegen die dem Neukantianismus eigene Problemgeschichte und deren »Probleme« ausgespielt und als die der Philosophie einzig gemäße Haltung in den Vordergrund gestellt (siehe hierzu István M. Fehér: »Die Hermeneutik der Faktizität als Destruktion der Philosophiegeschichte als Problemgeschichte: Zu Heideggers und Gadamers Kritik des Problembegriffes«, Heidegger Studien, Bd. XIII, 1997, S. 47–68). Der Satz – »Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens« – stellt also eine charakteristische Verschmelzung von Philosophie und Theologie dar. 24
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ein Forscher des logos der Theo-logie nach den Normen einer ›radikalen Wissenschaftlichkeit‹«. 26 Die eigentümliche Akzentsetzung – »loge« wird ja von Heidegger kursiviert – macht darauf aufmerksam, dass Theologie als Fachausdruck aus zwei Teilen besteht, »theos« und »logos« und ursprünglich die Rede vom Gott meint, eine Rede, die doch nicht theoretisch neutral, vom Abstand her lauten soll, sondern eben dazu berufen ist, »zum Glauben zu rufen und im Glauben zu bewahren«. Gadamer meinte, wie zitiert wurde, es waren theologische Fragen, »die von Anfang an in ihm drängten«. 27 Die hier geäußerte Meinung wird durch die Wahl des Titels bestätigt, den Gadamer seiner Einleitung zu Heideggers sog. Natorp-Bericht gegeben hatte: »Heideggers ›theologische‹ Jugendschrift«. Dieser Titel, samt seiner erläuternden Bemerkung, er sei – genauso wie seinerzeit Hermann Nohls Titel für Hegels theologische Jugendschriften – »ebenso unzutreffend wie treffend«, 28 könnte jedenfalls über dieses bestimmte Manuskript hinaus nicht zu Unrecht ein gutes Stück des ganzen Werks des jungen Heidegger charakterisieren. Das Philosophieverständnis, das Heidegger gleich nach dem Krieg ausarbeitet – die Selbstverständigung der Philosophie über sich selbst, ihre hermeneutische Neubestimmung – ist nämlich mit theologischen Motiven durchdrungen, während parallel damit eine eingehende kritische Überprüfung, eine umfassende Auseinandersetzung mit der Theologie, deren Aufgabe, Funktion und Verhältnis zum Glauben in die Wege geleitet wird. Die von Heidegger vollzogene Selbstinterpretation bzw. Selbstidentifizierung als Philosoph hängt mit einem Philosophieverständnis aufs engste zusammen, das nicht nur theologische Motive in sich aufgenommen hat, sondern sogar infolge einer Radikalisierung theologischer oder religiöser Motive entstanden zu sein scheint. Die Kehrseite dieses Prozesses des Umdenkens ist es, dass Heidegger das überlieferte Selbstverständnis der Theologie, insbesondere deren Verhältnis zur Philosophie und zum Glauben, ebenfalls radikal in Frage stellt. Dass und in welchem Theodore Kisiel: »War der frühe Heidegger tatsächlich ein ›christlicher Theologe‹ ?«, in: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, Bd. 2, S. 59–75, hier S. 60. 27 Siehe Anm. 20 oben. 28 H.-G. Gadamer, »Heideggers ›theologische‹ Jugendschrift«, in M. Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (1922), hrsg. v. G. Neumann, Stuttgart 2002, S. 76. [Fortan zitiert als PIA-R.] 26
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Maße Heidegger Philosophie und Theologie in die gegenseitige Nähe zueinander setzt und als durcheinander bedingt ansieht, zeigt charakteristischerweise sein in der religionsphänomenologischen Vorlesung angemeldeter Anspruch, beide seinem hermeneutisch zentralen Vorgehen der Destruktion zu unterwerfen; es sollen Maßstäbe beigestellt werden »für die Destruktion der christlichen Theologie und der abendländischen Philosophie«. 29 Deswegen genügt es nicht, bloß die Präsenz theologischer Motive in Heideggers Denken festzulegen, wobei der Titel »Theologie« in seiner überlieferten oder gängigen Bedeutung nach wie vor als selbstverständlich gälte, sondern es soll auch der in einer solchen Behauptung mitspielende Begriff der Theologie näher ins Auge gefasst werden. Gemäß dem zitierten Anspruch soll ja nicht nur die Philosophie, sondern eben auch die Theologie neugefasst, der hermeneutischen Destruktion unterzogen werden. In Heideggers eingangs zitiertem Brief an Karl Löwith hieß es, er arbeite aus seiner »faktischen Herkunft«, zu der gehört, dass er »christlicher Theologe« sei. Es ist nun eben Gadamers zitierte Erinnerung, die uns imstande setzen kann, die etwas merkwürdig anmutende Kursivierung zu verstehen. Diese soll nämlich darauf aufmerksam machen, dass es hier im Wesentlichen um die Suche des geeigneten logos der Theologie geht, die christliche Botschaft ins Worte zu fassen und in angemessener Sprache und Begrifflichkeit zu vermitteln. 30 Gadamers Bericht über Heideggers Verständnis der »wahren Aufgabe der Theologie« – nämlich, »das Wort zu suchen, das imstande sei, zum Glauben zu rufen und im Glauben zu bewahren« – wird dadurch erhärtet und gewinnt von da aus an Plausibilität und Glaubwürdigkeit. Zum Schluss möchte ich diesen Hinweis aufgreifen und einige Überlegungen über Heideggers Verständnis des Verhältnisses zwischen Religion, Glaube und Theologie sowie ihrer Beziehungen zur Philosophie und Hermeneutik anstellen.
M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 135. Von »Destruktion der christlichen Philosophie und Theologie« ist auch in der Vorlesung des SS 1920 die Rede, siehe M. Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (GA 59), S. 12; vgl. noch ebd. S. 91. 30 Siehe Annemarie Gethmann-Siefert: Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers, S. 36: »Religion fordert eine ihrem Logos angemessene Behandlungsweise, eine Theologie, deren Grundbegriffe solche des geschichtlichen Verstehens sind«. 29
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III. Vor dem Hintergrund seiner Distanzierung von der Neuscholastik 31 und infolge der gleichzeitigen Aufnahme entscheidender Motive der Lebensphilosophie und des Historismus mit seiner damit einhergehenden Kampfansage an das Theoretische 32 kommt Heidegger zu der Meinung, Theologie sei keineswegs als eine objektive theoretische Wissenschaft zu verstehen, die dazu berufen wäre, eine begriffliche Fassung der christlichen Religion durch gelegentliche Anleihe
Als eine Fortsetzung dieser Distanzierung und ihre Überführung ins Spätdenken kann man Heideggers spätere Kritik der Ontotheologie samt ihrem »metaphysischen Begriff von Gott« ansehen (M. Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, in: Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S. 35–73, hier S. 57; jetzt in GA 11, S. 51–79, S. 67). Diese Thematik wurde ausführlicher behandelt in István M. Fehér: »Heideggers Kritik der Ontotheologie«, in: Gottes- und Religionsbegriff in der neuzeitlichen Philosophie, hrsg. v. Albert Franz und Wilhelm G. Jacobs, Paderborn 2000, S. 200–223 und ders.: »Der göttliche Gott. Hermeneutik, Theologie und Philosophie im Denken Heideggers«, in: Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, hrsg. v. D. Barbarić, Würzburg 2007, S. 163–190. 32 Siehe M. Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie (GA 56/57), S. 59. Vgl. auch ebd., S. 87, 89, 97. Siehe ebenfalls M. Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (GA 59), S. 142 (»Beherrschtheit [des heutigen Lebens] durch das Theoretische«). – Dadurch, dass Heidegger seine destruktive Auseinandersetzung mit der abendländischen Metaphysik schwerpunktmäßig um das Theoretische zentriert, nimmt er einen anderen Ansatz auf, wie er in der zeitgenössischen Philosophie hauptsächlich von Emil Lask vertreten worden war. Das, was Lask als das intellektualistische Vorurteil angesprochen hat, bevorzugt in seinem Zugang zum Nicht-Sinnlichen das »Denken«; »Glaube« wird dabei vor allem und einseitig mit Blick auf die Unterscheidung Glaube – Wissen, also bloß negativ verstanden. Die vorherige Theoretisierung der atheoretischen Einstellung wirkt sich schwerwiegend aus auch mit Bezug auf andere Wesensunterscheidungen wie »theoretisch – praktisch«, »logisch – intuitiv«, »theoretisch – ästhetisch«, »wissenschaftlich – religiös« (siehe Emil Lask, Gesammelte Schriften, 3 Bde., hrsg. v. E. Herrigel, Tübingen 1923, Bd. 2, S. 204 f., 208; Bd. 3, S. 235). Heidegger hat nicht versäumt, schon sehr früh anzuerkennen, wie viel er Lask verdankt, und meinte, Lask »war eine der stärksten philosophischen Persönlichkeiten der Gegenwart« (GA 56/57, S. 180), »der einzige, der diese Dinge [die in Husserls Logische Untersuchungen behandelt wurden] verstanden und ihre volle Tragweite gesehen hat« (GA 58, S. 16), und hat dementsprechend auch noch im Hauptwerk betont, Lask sei »der Einzige, der außerhalb der phänomenologischen Forschung [Husserls Logische Untersuchungen] positiv aufnahm« (M. Heidegger: Sein und Zeit, 15. Aufl. [fortan: SZ], Tübingen 1979, S. 218, Anm.). Detaillierter hierzu in István M. Fehér: »Lask, Lukács, Heidegger: The Problem of Irrationality and the Theory of Categories«, in Martin Heidegger. Critical Assessments, hrsg. v. Christopher Macann, London 1992, vol. 2, S. 373–405. 31
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bei der Philosophie zu leisten. Theologie stelle nicht eine wissenschaftlich neutrale und als solche übergeschichtliche Theorie über das Christentum dar; was in der Überlieferung als Theologie entwickelt worden und uns unter diesem Titel überkommen ist, sei nichts anderes als eine Mischung religiöser Dogmen heterogenster Herkunft, die, statt lebendige Religiosität zu vermitteln, eher dazu geeignet ist, die Gläubigen zu erdrücken. Die Einstellung, aus der sie entspringt, ist eine theoretische, viel eher als eine lebendig religiöse. Theoretische Einstellung ihrerseits geht auf die Griechen zurück; Urchristentum sei so verschmolzen und hierdurch verunstaltet worden durch die Begrifflichkeit der griechischen Philosophie, 33 und das ist die Art und Weise, wie das, was wir heute als Theologie kennen, entstanden ist. Heidegger scheint dabei die »These von der verhängnisvollen Hellenisierung der christlichen Theologie«, 34 wie sie vor allem durch Adolf von Harnack und Franz Overbeck vertreten worden war, 35 aufSiehe M. Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (GA 59), S. 91. 34 H.-G. Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 313. 35 Siehe Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., 4. Aufl., 1909/ 10 (Reprographischer. Nachdruck, Darmstadt 1983), Bd. 1, S. 20: »Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums.« Heidegger weist auf Harnack hin (GA 60, S. 72), und erklärt, das »scheinbar äußerliche« Problem des Ausdrucks, der Explikation sei im Grunde genommen allerwichtig: »Es ist kein technisches Problem, von der religiösen Erfahrung getrennt, sondern die Explikation geht immer mit der religiösen Erfahrung mit und treibt sie«. Das steht in völligem Einklang mit Gadamers Bericht, Theologie habe für Heidegger die entscheidende Aufgabe, das Wort zu suchen, d. h. die angemessene Sprache und Begrifflichkeit, die dem Glauben gerecht sein kann. Heideggers eigene, darauf folgende Bestimmung des Dogmas zeigt Harnacks offensichtlichen Einfluss: »Das Dogma als abgelöster Lehrgehalt in objektiv-erkenntnismäßiger Abhebung kann niemals leitend für die christliche Religiosität gewesen sein, sondern umgekehrt, die Genesis des Dogmas ist nur verständlich aus dem Vollzug der christlichen Lebenserfahrung« (GA 60, S. 112). Siehe auch W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Bernhard Groethuysen, 9. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1990, S. 258 (»So war die Entwicklung dieses Gehaltes im Dogma zugleich seine Veräußerlichung«), S. 274 (»[…] hat sich die Entwicklung der Formeln, welche die religiöse Erfahrung in einer Verknüpfung von Vorstellungen abgrenzen und gegen andere Formeln innerhalb derselben Religion wie gegen andere Religionen rechtfertigen sollten, nicht folgerecht aus der im Christentum gegebenen Selbstgewißheit innerer Erfahrung vollzogen«). Die These bezüglich der unglücklichen Begegnung von christlicher Religion und griechischer Philosophie war der vorhergehenden Generation der liberalen Theologie, z. B. Ritschl, gar nicht unbekannt; siehe hierzu Wolfhart Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen 33
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genommen zu haben. Wessen es bedarf, scheint er anzudeuten, wäre eine Theologie befreit von den begrifflichen Schemen der griechischen Philosophie. 36 Vor diesem Hintergrund kann Heidegger in der religionsphänomenologischen Vorlesung den programmatischen Anspruch erheben: »Scharf zu trennen: das Problem der Theologie und das der Religiosität«. 37 Es komme darauf an, analog etwa zu Diltheys Verbindung von Erleben und Ausdruck, einen eigentlichen logos zu finden, eine Redeweise und Begrifflichkeit, die imstande ist, ihrem »Gegenstand«, d. h. dem Vollzug des Glaubens in genuin erlebter Religiosität und Erfahrung, zu entsprechen. Als Anschluss an diese Perspektive und ihre Weiterentwicklung lässt sich dann der knappe, aber überaus wichtige Hinweis im Hauptwerk deuten: Die Theologie »beginnt langsam die Einsicht Luthers wieder zu verstehen, dass ihre dogmatische Systematik auf einem ›Fundament‹ ruht, das nicht einem primär glaubenden Fragen entwachsen ist und dessen Begrifflichkeit für die theologische Problematik nicht nur nicht zureicht, sondern sie verdeckt und verzerrt.« 38 In dem im Jahre der Veröffentlichung von Sein und Zeit gehaltenen Vortrag Phänomenologie und Theologie interpretiert Heidegger die Theologie ähnlicherweise als »Wissenschaft des Glaubens« (Wissenschaft sowohl »von dem im Glauben Enthüllten« als »vom glaubenden Verhalten selbst, der Gläubigkeit«, mit dem Ziel, »die Gläubigkeit selbst an ihrem Teil auszubilden« 39), wobei Glaube als »eine Existenzweise des Menschen« gefasst wird, 40 welche dergestalt Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, S. 123. Was Overbeck angeht, findet sich ein bedeutsamer Hinweis auf ihn im Vorwort zu Heideggers Vortrag »Phänomenologie und Theologie«. Über Heideggers Verhältnis zu Overbeck und zur Gräzisierung des Christentums siehe meine in Anm. 31 zitierten Aufsätze. 36 M. Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (GA 59), S. 91. 37 M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 310. Es folgt eine vielsagende Ergänzung: »Die Theologie hat bis jetzt keine originäre theoretische Grundhaltung der Ursprünglichkeit des Gegenstandes entsprechend gefunden.« 38 SZ, S. 10; vgl. auch M. Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20), S. 6. 39 Damit bewährt sich nochmals Gadamers Bericht, die Theologie habe laut Heidegger dazu zu verhelfen, »im Glauben zu bewahren«. 40 M. Heidegger: Wegmarken (GA 9), S. 55, 52. Zum folgenden ebd., S. 59, 55, 54, 56, 60. Eine eingehende Rekonstruktion siehe in Joseph J. Kockelmans: »Heidegger on Theology«, in: Thinking About Being: Aspects of Heidegger’s Thought, hrsg. v. R. W. Shahan and J. N. Mohanty, Norman, Oklahoma 1984, S. 85–108.
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den ganzen Bereich bzw. Horizont umfasst, innerhalb dessen allein die spezifischen »Gegenstände« des Glaubens, z. B. Gott, erscheinen können. Glaube geht auf diese Weise Gott vorauf, und es wäre somit ein schwerwiegendes Missverständnis zu meinen, Theologie sei »Wissenschaft von Gott« im Sinne einer »spekulative[n] Gotteserkenntnis«, 41 wonach Gott möglicher »Gegenstand ihrer Untersuchung« wäre, »so etwa wie Tiere Thema der Zoologie sind«. Theologie entspringt »aus dem Glauben« und wird von diesem selbst »motiviert und [ge]rechtfertigt«. Glaube geht in diesem Sinne der Theologie vorauf und begründet sie; die Theologie könne »nur im Glauben selbst das zureichende Motiv für sich selbst haben«. Als »begriffliche Auslegung« des Glaubens trägt sie auf der anderen Seite im Wesentlichen zu dessen Ausbau und Geschichte bei; nur als dieses »Ingredienz des Glaubens […] hat die Theologie ihren Sinn und Recht« – das umfassende Phänomen bleibt jedenfalls der Glaube. Theologie ist »begriffliche Selbstinterpretation der gläubigen Existenz« und blickt immer schon auf sie zurück, sie kann also niemals allein von sich aus Gläubigkeit erwirken. Die Aufgabe der Theologie ist es, eine angemessene »Begrifflichkeit« zu finden, die »nur aus ihr selbst erwachsen« könne, sie bedürfe »aber erst recht nicht der Anleihe bei anderen Wissenschaften«. – Diese Thematisierung des Verhältnisses zwischen Glauben und Theologie bestätigt durchaus Gadamers zitierte Erinnerung. Das Hermeneutische besteht darin, dass Theologie einerseits ständig des Glaubens als ihres Fundaments oder ihrer Voraussetzung bedarf, auf ihn angewiesen bleibt, während ihr Ausbau andererseits ihren »Gegenstand« eben nicht unangetastet lässt, sondern zu seinem »Wachsen« oder sonstigem jeweiligen »Werden« wesentlich beiträgt – ein Verhältnis, das durchaus demjenigen entspricht oder ihm sogar gleichkommt, das zwischen Hermeneutik und Faktizität innerhalb der Hermeneutik der Faktizität besteht. Das Verhältnis zwischen Glaube und Theologie innerhalb des beide umfassenden Phänomens der Religion lässt sich ungezwungen parallelisieren mit dem zwischen Erlebnis und Ausdruck bei Dilthey 42 oder mit Heideggers Charakterisierung der Beziehung von Verstehen Siehe bereits in M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 97: »Es ist ein Abfall vom eigentlichen Verstehen, wenn Gott primär als Gegenstand der Spekulation gefaßt wird.« 42 Siehe z. B. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VII, hrsg. v. Bernhard Groethuysen, 7. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1979, S. 132, 206. Dilthey verwendet hier sogar den 41
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und Auslegung im § 32 von Sein und Zeit. Letztere lässt sich wie folgt zusammenfassen: nur das, was verstanden wird, kann auch ausgelegt werden; Verstehen (bzw. Verstandenhaben) bildet das Fundament und den Ausgangspunkt jeglicher Interpretation. Darauf beruht die sog. Vor-Struktur der Auslegung, die das durch die Vorhabe in Besitz genommene Verstandene aus-ein-ander-legt. In diesem Sinne ist Glaube Fundament der Theologie, welche eine begriffliche Gliederung (Artikulation) desselben darstellt und in ihm gründet. Theologische Erkenntnis muss aus dem Glauben entstehen und zu ihm zurückkehren. Die Art und Weise, wie sich Theologie zum Glauben verhält, zeigt offensichtliche Parallelen zu dem, wie Philosophie auf Faktizität bezogen ist. Sowohl Philosophie als auch Theologie bieten eine begriffliche Ausarbeitung von etwas im Vorhinein erlebensmäßig Vollzogenem, etwas, das eine Art »Gewordensein« darstellt. Dabei ist es ihnen zugleich zugemutet, sich auf das zurückzubeziehen – es gleichzeitig verstärkend oder umwandelnd –, aus dem sie entspringen: Glaube oder faktisches Leben. Angesichts dieser engen Korrelation verwundert es nicht, dass in Heideggers Texten Parallelen begegnen zwischen den Charakterisierungen bzw. Begriffsbestimmungen von Theologie und Philosophie. Die bekannte Definition der Philosophie in Sein und Zeit lautet: »Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die […] das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt«; während »Phänomenologie und Theologie« letztere, die Theologie, folgendermaßen kennzeichnet: »Alle theologische Erkenntnis ist […] auf den Glauben selbst gegründet, sie entspringt aus ihm und springt in ihn zurück«. 43 Die beiden Formulierungen »[…] woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt« und »[…] entspringt aus ihm und springt in ihn zurück« zeigen offensichtliche Parallelen sowohl der Begrifflichkeit als auch der Sache und deren Struktur nach. Beide, Philosophie und Theologie, sind Seinsweisen des Daseins und bewegen sich in einem hermeneutischen Kreis. Sie sind ein begleitender Nachvollzug – oder eine nachvollziehende Begleitung – dessen, aus dem sie als ihrem Ursprung entspringen – faktisches Leben oder charakteristischen Begriff Erlebnisausdruck. Dass er zu dieser Struktur auch Verstehen hinzufügt, ist für uns hier irrelevant. 43 SZ S. 38; M. Heidegger: Wegmarken (GA 9), S. 61.
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Heideggers theologische Herkunft – Fragen der Interpretation
Wiedergeburt durch Glaube. Ihre Leistung liegt darin, dasjenige auslegungsmäßig aufzuleuchten, ihm gleichzeitig zur Aneignung und Neuaneignung zu verhelfen, aus dem sie erwachsen. Der Beitrag von beidem ist gleichermaßen eine eigentümliche »Erschwerung«. 44 Das Band, das die Selbstinterpretation der Philosophie und die der Theologie miteinander bindet, ist dabei ein durchaus hermeneutisches: Das immer schon Verstandenhaben eines Gewordenseins als Ansatz und Ausgangspunkt für eine darauf folgende und darauf aufzubauende Interpretation 45 und eine diese begleitende Neuaneignung – für ein durch Auslegung zu vollziehendes Sich-Aneignen und ein (erst) dadurch zu gewinnendes eigentliches Selbstsein.
IV. Es dürfte schließlich nicht uninteressant sein anzumerken, dass uns in der jugendlichen religionsphänomenologischen Vorlesung eine wichtige Antizipation der das Begriffspaar »entspringt – zurückspringt« beanspruchenden Philosophiedefinition begegnet: »Bisher waren die Philosophen bemüht, gerade die faktische Lebenserfahrung als selbstverständliche Nebensächlichkeit abzutun, obwohl doch aus ihr gerade das Philosophieren entspringt, und in einer […] Umkehr wieder in sie zurückspringt«. 46 Das ist eine wichtige Vorwegnahme der bekannten Philosophiebestimmung von Sein und Zeit und all dessen, was auf ihrem Grunde detailliert entwickelt worden ist, und zugleich soll sie als weiterer Befund die These erhärten, Heideggers VerVgl. hierzu M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 121 (»Die Umwendung zur christlichen Lebenserfahrung betrifft den Vollzug. Zur Hebung des Bezugssinnes der faktischen Lebenserfahrung muß man beachten, dass sie ›erschwert‹ wird«); Wegmarken (GA 9), S. 56 (»Theologie kann den Glauben nur erschweren«), Kant und das Problem der Metaphysik (GA 3), S. 291; Einführung in die Metaphysik, 4. Aufl., Tübingen 1976, S. 8 = GA 40, S. 13 (»die Philosophie macht ihrem Wesen nach die Dinge nie leichter, sondern nur schwerer. […] Erschwerung des geschichtlichen Daseins […] ist […] der echte Leistungssinn der Philosophie«), PIA-R, S. 10 = GA 62, S. 349 (»die genuin angemessene Zugangsweise« zum Leben ist ein »Schwermachen«). 45 Siehe M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 336: »Die Analyse, d. h. die Hermeneutik, arbeitet im historischen Ich.« »[…] in allem ist die spezifische Sinnbestimmtheit herauszuhören.« 46 M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 15 (Herv. I. M. F.). Vgl. ebd., S. 8, 124. 44
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ständnis der Philosophie sei durchdrungen durch theologische Motive (wobei Theologie selbst neu interpretiert wird). Die Selbstinterpretation der Philosophie, wie Heidegger sie entwickelt, ihre Selbstverständigung über sich selbst, wird im Hinblick auf und am Leitfaden einer religiös-theologischen Einstellung vollzogen und nimmt dabei hermeneutische Züge an. Die Selbstinterpretation einer in seinem Sinne recht verstandenen Theologie wird von Heidegger auf die Philosophie übertragen und mit Hilfe der formalen Anzeige 47 methodisch ausgearbeitet. 48 In dem in der Metaphysik als Ontotheologie mitspielenden Begriff der Theologie ist dagegen ein distanzierter oder gar distanzierender Ton kaum zu überhören. Diese Theologie ist metaphysisch, sie ist eine Ausprägung der Metaphysik, die Gott als Seiendes, wenngleich das höchste Seiende, anspricht, und zwar auf der Ebene der theoria, des theoretischen Verhaltens. 49 Heideggers Bemühen, zu Zur formalen Anzeige siehe zusammenfassend István M. Fehér: »Der göttliche Gott. Hermeneutik, Theologie und Philosophie im Denken Heideggers«, (wie Anm. 310) S. 180, Anm. 83. 48 Offenbarung ist, wie Heidegger sagt, »als Mitteilung keine Übermittlung von Kenntnissen über wirkliche bzw. gewesene oder erst eintretende Vorkommnisse, sondern diese Mitteilung macht zum ›Teil-nehmer‹ an dem Geschehen, welches die Offenbarung = das in ihr Offenbare selbst ist« (GA 9, S. 52 f.). In diesem ›Teil-nehmen‹ wird das Dasein »vor Gott gestellt, und die von dieser Offenbarung betroffene Existenz wird sich selbst offenbar in ihrer Gottvergessenheit« (ebd., S. 53). Nun, es geht der Übergang vom uneigentlichen zum eigentlichen Existieren im Grunde genommen gemäß der hier skizzierten Struktur vor sich: das Dasein, das den Übergang vollzieht, bzw. vollzogen hat, erhält streng genommen allererst sein Selbst, damit auch so etwas wie Selbst-bewusstsein, und zwar so, als eines, das immer schon in der Uneigentlichkeit – d. h. theologisch: in der Gottvergessenheit – (gewesen) ist. (Diese Interpretation stützt sich besonders auf folgende Überlegungen des Hauptwerks: »Der Anruf ist vorrufender Rückruf, vor: in die Möglichkeit, selbst das geworfene Seiende, das es ist, existierend zu übernehmen, zurück: in die Geworfenheit, um sie als den nichtigen Grund zu verstehen, den es in die Existenz aufzunehmen hat. Der vorrufende Rückruf des Gewissens gibt dem Dasein zu verstehen, daß es […] aus der Verlorenheit in das Man sich zu ihm selbst zurückholen soll [so etwas wie »Verlorenheit in das Man« wird also erst jetzt bewusst, und erst jetzt schließt sich damit die Alternative uneigentlich – eigentlich auf; I. M. F.], das heißt schuldig ist.« Das Dasein »braucht sich nicht erst durch Verfehlungen oder Unterlassungen eine ›Schuld‹ aufzuladen, es soll nur das ›schuldig‹ – als welches es ist – eigentlich sein.« »So wird das Gewissenhabenwollen zur Übernahme der wesenhaften Gewissenlosigkeit, innerhalb der allein die existenzielle Möglichkeit besteht, ›gut‹ zu sein« [SZ, S. 287 f.]). 49 Vgl. H. Franz: »Das Denken Heideggers und die Theologie«. In: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, hrsg. v. O. Pöggeler, Köln/Berlin 1969, S. 191 ff. Vgl. noch z. B. Karl Löwith: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, ders: 47
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einem ursprünglicheren Verständnis der Theologie zurückzufinden, wird besonders klar, wo er im Aufsatz über die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik die Behauptung Hegels, der Anfang der Wissenschaft solle eigentlich mit Gott gemacht werden, wie folgt erläutert: »Wenn sie mit Gott den Anfang machen muß, ist sie die Wissenschaft von Gott: Theologie. Dieser Name spricht hier in seiner späteren Bedeutung. Darnach ist die Theo-logie die Aussage des vorstellenden Denkens über Gott.« 50 Theologie heißt jedoch anfänglich und im ursprünglichen Sinne etwas anderes: »Zunächst meint theologos, theologia das mythisch-dichtende Sagen von den Göttern ohne Beziehung auf eine Glaubenslehre und eine kirchliche Doktrin.« Bei der Ontotheologie, wie Heidegger den Begriff zunächst neutral erläutert, handelt es sich um einen »ursprünglich zur Philosophie gehörigen Begriff der Theologie«, 51 die auch nicht gleichzusetzen sei mit »irgendeiner dogmatisch-kirchlichen« Theologie oder »Glaubenstheologie«. 52 »Wenn […] hier von ›theologisch‹, ›Theologie‹ gesprochen wird, dann ist daran zu erinnern«, lautet Heideggers Erläuterung, »dass Wort und Begriff ›Theologie‹ nicht zuerst erwachsen ist im Rahmen und zu Diensten eines kirchlichen Glaubenssystems, sondern innerhalb der Philosophie. Das Wort theologia ist uns verhältnismäßig spät bezeugt, zum ersten Mal bei Platon: mythologia; im Neuen Testament kommt dieses Wort gar nicht vor.« 53 Sämtliche Schriften, Stuttgart 1984, Bd. 8, S. 124–234, hier S. 128: »Die Philosophie beginne schon mit Platon und Aristoteles einer technischen Interpretation des Denkens zu verfallen, um alles aus einer obersten Ursache, grundsätzlich, zu erklären, und die traditionelle Theologie sei keine Theologie des Glaubens, sondern ein Derivat des onto-theologischen Denkens«. 50 M. Heidegger: »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«, S. 50 = GA 11, S. 62 (Herv. I. M. F.). Zum folgenden ebd. 51 M. Heidegger: Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hrsg. v. H. Feick, Tübingen 1971, S. 62 (= GA 42, S. 87). 52 Ebd., S. 61. 53 Ebd. Der Artikel »Theologie« im Historischen Wörterbuch der Philosophie bestätigt durchaus Heideggers Ausführungen. Ursprünglich bedeutet sie »das Singen und Sagen von Göttergeschichten. Theologie ist der zuerst mündliche, dann auch in bestimmten Formen schriftlich fixierte Vortrag von Göttergeschichten«. Das »ursprüngliche Verständnis von Theologie als Mythologie« taucht bei Platon auf. »Auch für Aristoteles ist Theologie Mythendichtung«. »Fazit: Der Begriffsgeschichte von ›Theologie‹ ist von ihrem Ursprung her der Konflikt zwischen Poetisch-Religiösem und Begrifflich-Philosophischem, von Mythologie und Metaphysik eingestiftet.« (O. Bayer u. A. Peters, »Theologie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter und K. Gründer, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1080 f.)
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In dem soeben angedeuteten Sinne (Theologie als »das mythisch-dichtende Sagen von den Göttern ohne Beziehung auf eine Glaubenslehre und eine kirchliche Doktrin«) kann man wohl sagen, dass Heideggers Denkbemühungen zeit seines Lebens nicht lediglich philosophisch, sondern – in seinem Sinne der Theologie – auch und gerade theologisch waren. Darin darf man die Pointe des eingangs zitierten Satzes Heideggers erblicken: »Herkunft aber bleibt stets Zu-kunft.« Oder wie der Dichter gesagt hat: »Wie du anfiengst, wirst du bleiben.« 54
Anhang: Über Geschichte und Geschichtslosigkeit Heideggers in den vor kurzem veröffentlichten Schwarzen Heften begegnende judenbezogene bzw. judenkritische Bemerkungen, die viel Aufsehen erregt und leidenschaftliche Kommentare ausgelöst haben, lassen sich größtenteils auf gängige Stereotypen der Zeit zurückführen oder sind ohne weiteres solche. Eine der wenigen Ausnahmen, die eine eingehendere Diskussion nicht nur ermöglichen, sondern auch verdienen, bildet der Vorwurf der Geschichtslosigkeit. 55 Dieser Vorwurf hat es kaum mit einem pauschalen, bösartigen Antisemitismus zu tun, er hat vielmehr einen ganz bestimmten theologisch-religiösen Hintergrund – genauer einen christlich geprägten und von da aus nahegelegten Antijudaismus, wobei dieser seinerseits auch nicht infolge böser Absichten, viel eher infolge des Trennungsprozesses des Christentums vom Judentum entstanden ist –, dessen Diskussion in das Thema des vorliegenden Aufsatzes über »Heideggers theologische Herkunft« sehr wohl hineinpassen dürfte. Geschichtlichkeit konnte in den bisherigen Erörterungen nur beschränkt zu Wort kommen. Der in der oben kurz behandelten Schrift Phänomenologie und Theologie vertretenen Perspektive Heideggers zufolge stellt die Theologie nicht eine übergeschichtliche Wissenschaft (etwa des christlichen Glaubens oder des Christentums als Geschehens) dar, sondern sie gehört als begriffliche Fassung des Glaubens mit in das Christentum und dessen Geschichte. »[…] die Siehe Anm. 7 oben Siehe M. Heidegger: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39) (GA 95), S. 96 f. An die Kritik der Geschichtslosigkeit schließt sich dann die Kritik an der »Prophetie« an; siehe Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942–1948) (GA 97), S. 159.
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Theologie selbst gehört mit zum Christentum«, heißt es. »Offenbar kann […] die Theologie nicht Wissenschaft vom Christentum sein als einem weltgeschichtlichen Vorkommnis, sondern sie ist eine Wissenschaft, die selbst zu dieser Geschichte des Christentums gehört, von ihr getragen wird und sie selbst wieder bestimmt. Also Theologie eine Wissenschaft, die selbst in die Geschichte des Christentums gehört, etwa so, wie jede historische Disziplin selbst eine geschichtliche Erscheinung ist […]«. 56 Den Leitfaden der Diskussion können wir aufnehmen bei den obigen Bemerkungen über Heideggers in den Nachkriegsjahren erfolgte Aufnahme entscheidender Motive der Lebensphilosophie und des Historismus mit seiner damit einhergehenden Kampfansage an das Theoretische. 57 Erwähnenswert ist dabei zunächst die Tatsache, dass Heidegger innerhalb der phänomenologischen Schule lange Zeit als derjenige galt, dem von Husserl die Aufgabe zugewiesen worden war, die regionale Ontologie des Geschichtlichen auszuarbeiten. 58 »Phänomenologie und Theologie«, Wegmarken (GA 9), S. 51. Dass Heidegger diese Auffassung im Text weiter differenziert, ist für uns an diesem Punkt nicht von Relevanz. 57 Siehe Anm. 32 und deren Kontext oben. 58 Siehe z. B. das »Protokoll zu einem Seminar über ›Zeit und Sein‹« in M. Heidegger: Zur Sache des Denkens (GA 14), S. 54: »In diesem Zusammenhang wurde neben vielem anderen auch erwähnt, dass Husserl im Rahmen seiner Konzeption der Regionalontologien ›Sein und Zeit‹ als die regionale Ontologie des Geschichtlichen auffaßte.« Wenn andere Nachrichten diesen Auftrag im Religiösen erblicken zu können meinen, so entsteht kein Widerspruch, weil eben im Sinne des im Folgenden Erörterten »das Geschichtliche« und »das Religiöse« miteinander gegenseitig und innigst verschmelzen (siehe unten Anm. 68). Das zitierte Protokoll verweist in diesem Zusammenhang auf »die Tatsache, dass Husserl jeder lebendige Bezug zur Geschichte fehlte« (ebd., S. 54), was impliziert, dass die Wendung der Heidegger’schen Phänomenologie zur Geschichte von Anfang an husserlkritische Züge gehabt habe. Diese Meinung über Husserls Grundmangel, seine Vernachlässigung der Geschichte wird von einer gängigen, von Heidegger selbst verbreiteten Anekdote bestätigt. Laut dieser habe Heidegger 1921 Husserl, der zu Vorträgen nach London fuhr, auf den Bahnsteig begleitet, wo Husserl ihm vor der Abfahrt des Zuges auseinandersetzte, »was er in London vortragen wolle. Am Ende hat dann Heidegger gesagt: ›Ja, Herr Geheimrat, aber wo bleibt die Geschichte?‹ – ›Ach, die habe ich vergessen‹«, soll die Antwort gelautet haben. Laut Gadamer ist es »eine rührende Geschichte, die Heidegger immer wieder zu erzählen pflegte«; eine Geschichte, über deren Glaubwürdigkeit jedoch sich Gadamer im Zweifel befindet. Wichtig sei allerdings, dass diese Geschichte – gleich, ob wahr oder unwahr – »der eigenen Selbstprofilierung« Heideggers dienen sollte, also für Heideggers Selbstinterpretation den Unterschied des eigenen Denkens von dem Husserls gebildet hat (H.-G. Gadamer: »Erinnerungen an Heideggers Anfänge«, Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, hrsg. v. Frithjof 56
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Als Heidegger 1970 seinen 1927 gehaltenen Vortrag Phänomenologie und Theologie veröffentlichte, brachte er im Vorwort seine Hoffnung zum Ausdruck, die Schrift könne dazu »veranlassen, das vielfach Frag-Würdige der Christlichkeit des Christentums und seiner Theologie […] zu bedenken«. Zugleich erinnerte er an die vor Rodi, 4, 1986/87, S. 13–26, hier S. 19; Hervorh. I. M. F.) Auf dieser Position beharrte Heidegger auch noch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, indem er behauptete: »[…] mir scheint, das Ganze, was Husserl in seinem Leben erarbeitet hat, gibt in keiner Weise eine Grundlage, das Problem der Geschichte auch nur zu stellen.« (M. Heidegger: »Über das Zeitverständnis in der Phänomenologie und im Denken der Seinsfrage«, Zur Sache des Denkens [GA 14], S. 145–149, hier S. 149). – Ob Husserl über Heideggers Kritik seiner Position in Kenntnis gesetzt wurde oder nicht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; völlig unbewusst dürfte er wohl kaum gewesen sein: »Heidegger’s opposition to Husserl’s pure ego«, schreibt Thomas Sheehan hierzu, »was not, as is often claimed, something which he hid from his master and only shared with students in the classroom. In that regard, a letter from one Herr Walter of Freiburg to Prof. Pfänder on June 20, 1919 […] is revelatory. At one of the Saturday morning discussions which Husserl was accustomed to have at his house on Lorettostrasse, Walter reports, a ›campaign … against the pure ego‹ was recently launched by the young Dr. Ebbinghaus and followed up by Heidegger […] [According to Heidegger] the primordial Ur-ego would be the ›historical ego‹ qualified; the pure ego would arise from the ›historical ego‹ by the repression of all historicity […] From this report it would seem that Heidegger’s attack on the pure Ego of Husserl, which he published in Being and Time in 1927 and spoke forth in his course in 1920, was one which he made known to Husserl from the beginning« (Thomas Sheehan: »Heidegger’s ›Introduction to the Phenomenology of Religion,‹ 1920–21«, The Personalist 60, July 1979, S. 312–324, hier S. 316 f., Wiederabdruck in: A Companion to Martin Heidegger’s »Being and Time«, hrsg. v. Joseph J. Kockelmans, Washington D.C. [Current Continental Research, 550] 1986, S. 40–62, hier S. 48; hier steht allerdings statt »Herr Walter« »Frau Walter«; unter Berücksichtigung des hier unten zitierten Hinweises von Karl Schuhmann dürfte wohl »Frau Walter« – oder vielmehr »Frau Walther« – die richtige Benennung sein). Siehe eine Bestätigung des Berichts in Karl Schuhmann: Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, Den Haag 1977, S. 235: »21. Juni 1919: Im Rahmen der Samstagsdiskussionen kritisieren Julius Ebbinghaus, Martin Heidegger und Gerda Walther H.s Konzeption des reinen Ich«. – Siehe jetzt Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie (GA 56/57), S. 206: »Das Ich ist selbst Situations-Ich; das Ich ist histor›isch‹. Genaueres über das Erlöschen des Situationszusammenhangs: Der Situationscharakter verschwindet. Es explodiert die Einheit der Situation. Die Erlebnisse, die keine Einheit des Sinnes, keine Sacheinheit besitzen, verlieren die Einheit, die ihnen die Situation gab. – Damit wird zugleich das Situations-Ich, das ›historische‹ Ich, verdrängt. Es tritt die ›Entgeschichtlichung des Ich‹ ein.« (letzte Hervorh. I. M. F.) Siehe noch ebd. S. 89: Infolge der »unberechtigten Vorherrschaft des Theoretischen« ist »Das Umwelt-erleben […] ent-lebt bis auf den Rest: ein Reales als solches erkennen. Das historische Ich ist ent-geschichtlicht bis auf einen Rest von spezifischer Ich-heit als Korrelat der Dingheit«. (Hervorh. I. M. F.) In seinen Freiburger Vorlesungen spricht Heidegger in diesem Zusammenhang sehr früh (be-
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hundert Jahren veröffentlichte Schrift Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie von Franz Overbeck, der, wie Heidegger sagt, »die weltverneinende Enderwartung als den Grundzug des Urchristlichen« festgestellt habe. 59 Damit ist klar die zentrale Rolle des eschatologischen Problems innerhalb des christlichen Glaubens und seiner Theologie angesprochen. Wie oben gesagt wurde, erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg Heideggers Kampfansage an das Theoretische 60 und seine hieraus motivierte lebensphilosophische Umgestaltung der Phänomenologie Husserls. Heideggers grundlegende Kritik galt ebenfalls dem Intellektualismus, zunächst in der Theologie, dann aber auch in der Philosophie. Er habe, worauf Gadamer hingewiesen hat, »Harnacks These von der verhängnisvollen Hellenisierung der christlichen Theologie« 61 wieder aufgenommen. In der Tat begegnen uns in der religionsphänomenologischen Vorlesung Heideggers die vielsagenden Bemerkungen: »Zentrum des christlichen Lebens: das eschatologische Problem. Schon zu Ende des ersten Jahrhunderts wurde das Eschatologische im Christentum verdeckt. Man verkennt in späterer Zeit alle ursprünglich christlichen Begriffe. Auch in der heutigen Philosophie sind noch hinter der griechischen Einstellung die christlichen Begriffsbildungen verborgen.« 62 Und der Einfluss Harnacks und der lebensphilosophischen Tradition lässt sich auch in Bezug auf das über das Dogma Gesagte klar wiedererkennen: »Das Dogma als abgelöster Lehrgehalt in objektiv-erkenntnismäßiger Abhebung kann niemals leitend für die christliche Religiosität gewesen sein, sondern umgekehrt, die Genesis des Dogmas ist nur verständlich aus dem Vollzug der christlichen Lebenserfahrung.« 63 Schließlich heißt es gleichsam als Leitwort oder Maxime in der Nachfolge der zeitgenössischen theologischen Diskussion: »Scharf zu trennen: das Problem der Theologie und das der Religiosität.« 64 Heideggers Stellungnahme zwischen Religion und Theologie bevorzugt offenbar die erstere. Religion besagt ebenso beim jungen reits im Jahre 1923) über die »Geschichtslosigkeit der Phänomenologie«; siehe Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (GA 63), S. 75. 59 »Phänomenologie und Theologie«, Wegmarken (GA 9), S. 46. 60 Siehe Anm. 32. oben. 61 H.-G. Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 313. (zitiert in Anm. 34 oben). 62 M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 104. 63 Ebd., S. 112. 64 Ebd., S. 310.
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Hegel 65 wie dann auch bei Dilthey und Heidegger nicht so sehr Theologie, d. h. Theorie, Doktrin oder Lehre, sondern vielmehr Leben, Erleben bzw. Erlebnis. Ähnliches gilt von Schleiermacher, dessen Deutung der Religion – nicht als Metaphysik und Moral, sondern vielmehr als Anschauung des Universums und Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit – sich ebenso sehr in diese Tendenz einfügt, und auf den der junge Heidegger ausdrücklich zurückgegriffen hat. 66 Religionsnähe verweist dann auf Geschichtsnähe, wobei Geschichte vor allem als geschichtliches Leben, Geschichtlichkeit, und nicht als Historie oder Geschichtswissenschaft verstanden wird. Dieser Punkt geht besonders klar aus der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches hervor, deren Titel in dieser Hinsicht schon selber vielsagend ist: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Nietzsche geht es in den wesentlichen Punkten darum, ob und in welchem Maße Geschichtswissenschaft, d. h. Historie, geschichtsfördernd, geschichtsstiftend und -gestaltend ist; Historie soll der Geschichte dienen und nicht umgekehrt. »Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen«, heißt es, 67 es geht also in
Siehe etwa folgende Überlegungen: »Wenn ich von Religion spreche, so abstrahiere ich schlechterdings von aller wissenschaftlichen oder vielmehr metaphysischen Erkenntnis Gottes, unseres und der ganzen Welt Verhältnisses zu ihm usw. Eine solche Erkenntnis, bei der sich bloß der räsonierende Verstand beschäftigt, ist Theologie, nicht mehr Religion«; der Unterschied besteht darin, dass »Theologie Sache des Verstands […], Religion aber Sache des Herzens« sei (G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Theorie Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt/Main 1970, Band 1: Frühe Schriften, S. 16 f.). 66 Vgl. hierzu F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, neu hrsg. v. R. Otto, 4. durchges. Aufl., Göttingen 1920, z. B. S. 26 ff., S. 31, S. 47, S. 73, S. 76, S. 79, S. 112. Vgl. O. Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger, Freiburg/München 1992, S. 21 f.: »Anfang August 1917 hielt der Privatdozent und Landsturmmann Heidegger im privaten Kreis einen Vortrag über Schleiermachers Reden über die Religion […]. Die zweite dieser Reden schiebt die philosophische Theologie, die Krone und Wurzel der Philosophie von Aristoteles bis Hegel, beiseite.« Wichtig ist in diesem Zusammenhang ein Brief Heideggers an Elisabeth Blochmann vom 7. XI. 1918, wo es heißt: »vom religiösen Urerlebnis führt ein Weg zur Theologie, er muß aber nicht von der Theologie zum religiösen Bewußtsein u. seiner Lebendigkeit leiten.« (M. Heidegger – E. Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, hrsg. v. J. W. Storck, Marbach/Neckar 1989, S. 10.) 67 Friedrich Nietzsche:»Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, ders.: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin 1988, Bd. 1, S. 243–334, hier S. 245. 65
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Heideggers theologische Herkunft – Fragen der Interpretation
erster Linie nicht um die Bereicherung der Kenntnisse und/oder um historische Bildung. Unter Heideggers Lehrern bzw. Zeitgenossen ist in diesem Zusammenhang vor allem Dilthey zu nennen, der, Schleiermacher folgend (dessen Werk seine lebenslangen Denkbemühungen galten), Geschichte und Christentum sich gegenseitig bestimmen ließ: Ohne Religion keine Geschichte, und ohne Geschichte keine Religion. 68 Die Geschichte ist im Wesentlichen Heilsgeschichte, sie kann erst vom Christentum her, das selbst geschichtseröffnend, geschichtsstiftend ist, erklärt werden, da ja das Wesen des Christentums selbst in seinem Geschichtlichsein, in seinem Ereignischarakter liegt. Angesichts des hier entworfenen dreifachen Zusammenhangs Religion – Leben – Geschichte ist Heideggers Stellung von Anfang an klar. Er folgt Dilthey und Schleiermacher, wenn er Religion mit Leben einerseits und Leben mit geschichtlichem Leben bzw. Geschichte andererseits gleichsetzt. »Wir meinen das Historische, wie es uns im Leben begegnet; nicht in der Geschichtswissenschaft«, heißt es in der religionsphänomenologischen Vorlesung programmatisch. 69 Da Leben mit Geschichte zusammenfällt, gilt ohne Beschränkungen: »Die Geschichte trifft uns, und wir sind sie selbst.« 70 In diesem Sinne soll über Dilthey und die wissenschaftstheoretischen Debatten in Bezug auf die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung hinausgegangen werden: »Wissenschaftstheorie der Vgl. W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. B. Groethuysen. 9. unveränd. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1990, S. 139 f., S. 253 f.; (charakteristisch ist der folgende Tagebuch-Eintrag Diltheys: »mein Beruf ist, das Innerste des religiösen Lebens in der Historie zu erfassen« [Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870, hrsg. v. Clara Misch, Leipzig/Berlin 1933, S. 140]); F. D. E. Schleiermacher: Über die Religion, S. 63: »Geschichte im eigentlichen Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr […] und alle wahre Geschichte hat überall zuerst einen religiösen Zweck gehabt und ist von religiösen Ideen aus gegangen.« Zusammenfassend hierzu: T. Kisiel: The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 86 ff., S. 92: »History is always religious, and religion historical.« Unter den Philosophen des Deutschen Idealismus ist in dieser Hinsicht vor allem Schelling zu nennen, siehe z. B. F. W. J. Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hrsg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992, Teilband I, S. 17: »Gerade das Geschichtliche ist das Wesen des Christentumes […]. Man spreche überhaupt nicht immer von der Lehre Jesu – diese Lehre ist Christus selbst.« 69 M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 32. 70 Ebd., S. 173. 68
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Geschichte ist ein ganz sekundäres Problem innerhalb des Problems des Historischen selbst.« 71 »Geschichte im eigentlichsten Sinne ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr«, heißt es des Weiteren, und das stimmt wortwörtlich – wenngleich es im Text Heideggers keine Anführungszeichen oder sonstige Zeichen oder Angaben gibt – mit einem Satz Schleiermachers überein. 72 Innerhalb des Aufgabenkreises der Geschichte bzw. der Selbstauslegung der Faktizität in ihrer Geschichtlichkeit kommen erst der Philosophie und der Hermeneutik ihre spezifische Rolle zu. Das Historische wird dabei zum Mittelpunkt und Hauptthema seiner Religionsphänomenologie, ja sogar seines die hermeneutische Wende durchgegangenen, hermeneutisch umgestalteten und radikalisierten Philosophiebegriffs (einer Philosophie, die nicht zuletzt um eine hermeneutische Religionsphänomenologie bemüht ist) erhoben. Dieser doppelte Charakter geht ganz klar aus dem Folgenden hervor: »Das Historische ist das Phänomen, das uns den Zugang zum Selbstverständnis der Philosophie eröffnen soll«. 73 »[…] die ganze Aufgabe einer Phänomenologie der Religion« ist »durchherrscht von dem Problem des Historischen«. 74 Auf eine breitere Darstellung der hier entstehenden Zusammenhänge zwischen den zeitgenössischen Tendenzen und der Stellung Heideggers muss hier aus Raumgründen verzichtet werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Heidegger hat sein allerwichtigstes Konzept des Historischen in seinen frühen Vorlesungen in und aus einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Historismus entwickelt, bei dem das Geschichtsinteresse bzw. die Auszeichnung der Geschichte, die Orientierung an ihr zwar durchaus positiv bewertet wird, der Haupteinwand jedoch dahingehend bezeichnet werden kann, der Historismus strebe aus der im Voraus eingenommenen Position des Wissens vom Abstand, des distanzierten Zuschauers, nach »objektiver« Ebd., S. 47. Ebd., S. 322. Siehe: F. D. E. Schleiermacher: Über die Religion, S. 63 (zitiert in Anm. 68 oben). Siehe auch: M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 323: »Eines der bedeutsamsten, fundierenden Sinnelemente im religiösen Erlebnis ist das Geschichtliche.« 73 M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 34. 74 M. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), S. 34. Vgl. ebd., S. 35: »Wir behaupten aber die Wichtigkeit des Historischen für den Sinn des Philosophierens überhaupt, vor allen Geltungsfragen«, des weiteren ebd., S. 90: »Rückgang ins Ursprünglich-Historische ist Philosophie«, ferner ebd. S. 323, 336. 71 72
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Erkenntnis der Geschichte (ein unmögliches Ziel) anstatt eigentlichen Geschichtlichseins endlicher Existenz – und die Erstere dient nicht nur nicht dem Letzteren, sondern vielmehr unterdrückt und verunstaltet sie es. 75 Das ursprüngliche bzw. eigentliche Verhältnis zur Geschichte ist sonach nicht Geschichtserkennen, sondern Geschichtsschaffen. Dies wird auch noch in den Schwarzen Heften bestätigt: das »Wesen der Geschichte selbst [gründet sich] im Schaffen«, 76 heißt es. Das Geschichtlichsein kommt dem Geschichtserkennen vorauf. Das Christentum ist geschichtsstiftend, indem die Erlösertat Christi den Anfang eines neuen Äons mit sich bringt; einen Anfang, der im Vergleich mit dem ersten, alten Anfang ein absolut neuer, ein anderer ist – er ist eben der andere Anfang, dem die Christen mit Zustimmung und unbedingter Hingabe entgegenkommen sollen. Das Thema des anderen Anfangs ist eines der Hauptthemen – wenn nicht das Hauptthema schlechthin – der zweiten Denkperiode Heideggers, und obwohl er eigentümlich de-christianisiert bzw. detheologisiert vorgetragen wird, ist dessen geschichtlich-eschatologischer Charakter seiner Struktur nach unverändert bzw. völlig aufbewahrt. Das Aufkommen des absolut Neuen ist kairologisch (ebenso wie die Wiederkunft des Herrn bei Paulus 77); es lässt sich nicht beDer Terminus »das Historische« wird im Hauptwerk durch »das Geschichtliche« oder »Geschichtlichkeit« ausgewechselt. Es sei in dieser Hinsicht auch auf die späteren Unterscheidungen zwischen »geschichtlicher und historischer Wahrheit« (Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« [GA 39], S. 144 ff.) bzw. zwischen »historischer Betrachtung« und »geschichtlicher Besinnung« (Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« [GA 45,] S. 34 ff., 49 ff., 88 ff.) verwiesen. Vgl. ferner auch ebd. S. 11 ff., 40, 201; Beiträge zur Philosophie (GA 65), S. 32 f., 151 f., 153 (»Die Historie […] ist ein ständiges Ausweichen vor der Geschichte«), 359, 421 f., 493 f. Vgl. noch SZ, S. 375: Der »Ort des Problems der Geschichte […] darf nicht in der Historie als der Wissenschaft von der Geschichte gesucht werden«. 76 M. Heidegger: Überlegungen II–VI (Schwarze Hefte 1931–1958) (GA 94), S. 442. 77 Siehe zusammenfassend hierzu Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, zweite, um ein Nachwort erweiterte Auflage, Pfullingen 1983, S. 36 f. »Paulus sagt von der Wiederkunft, der ›Zukunft‹ des Herrn: ›Von den Zeiten aber und Stunden, liebe Brüder, ist nicht not euch zu schreiben; denn ihr selbst wisset gewiß, dass der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.‹ Paulus, darauf weist Heidegger hin, macht keine Zeitangaben für die Wiederkunft; er lehnt sogar eine Zeitangabe ausdrücklich ab. […] Paulus spricht nur von ihrer ›Plötzlichkeit‹. Er gibt nicht ›chronologische‹, sondern ›kairologische‹ Charaktere. Der Kairos stellt auf des Messers Schneide, in die Entscheidung. Die kairologischen Charaktere berechnen und meistern nicht die Zeit. Versucht der Mensch, das unverfügbare, plötzlich einbrechende 75
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herrschen oder mit Rechnen durch Zeitangaben prognostizieren. Der Zeitstruktur nach ist es durch Plötzlichkeit und Unberechenbarkeit ausgezeichnet. Es fordert vom Menschen Wachsein und unbedingte Bejahung; was neu ist bzw. neu sein soll, kann unmöglich an Maßstäben des Alten gemessen werden, denn es würde gleich aufhören, neu zu sein. Kritik des kommenden Neuen ist deshalb von vornherein grundsätzlich, d. h. im Prinzip ausgeschlossen oder neutralisiert: sollte es so etwas wie eine »Katastrophe der Kehre« geben – diese Entwicklung wird für möglich erachtet –, stünde der Mensch »bereit« hierfür. 78 Das Sich-öffnen vor ihm ist die einzig angemessene (eben einzig und ausgezeichnet »geschichtliche«) Haltung im Angesicht des Neuen. Sich-Öffnen vor dem Anderen, dem Unbekannten, dem Unbererechenbaren schlechthin kennzeichnet die von Heidegger (von den paulinischen Briefen her) nahegelegte und erforderte Haltung – diese allein ist in seinem Sinne in gemäßer Weise »geschichtlich«, d. h. Geschichte bejahend, geschichtsschaffend, in dem die Zuwendung oder das Vorlaufen zum Zukünftigen nicht mit Absicht seiner Beherrschung oder Bewältigung erfolgt. Geschichtlichsein heißt demnach so viel wie bejahende Zuwendung zur Zukunft unter ihrem gleichzeitigen Mit-Vollzug und dies weniger trotz, als vielmehr kraft ihrer Unbekanntheit. Zuwendung und Mit-Vollzug impliziert nicht die Absicht, die Zukunft zu beherrschen. Mit-Vollziehen ist keineswegs gleichbedeutend mit Meistern, Bewältigen oder Beherrschen. Wird die Absicht geltend gemacht, die Zukunft zu beherrschen, so verschwindet sogleich das primäre GeEreignis, auf das sein Leben gesetzt ist, festzulegen durch chronologische Berechnungen oder durch gehaltsmäßige Charakterisierungen, dann stellt er das, was sein Leben bestimmen soll, als das immer Unverfügbare, als das Gesicherte, Verfügbare hin. So aber täuscht er sich über die Tatsächlichkeit des Lebens: ›Denn‹, so schreibt Paulus, ›wenn sie werden sagen: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, – so wird sie das Verderben schnell überfallen, gleichwie der Schmerz ein schwangeres Weib, und werden nicht entfliehen‹. Heideggers Denken ist und bleibt von der Vermutung getragen, dass jenes Denken dem Verderben nicht entflieht, das sich den Bezug zur unverfügbaren Zukunft dadurch verstellt, dass es die Zeit berechnet […]«. Zur detaillierten Interpretation von Heideggers Auslegung der Paulus-Briefe in seiner religionsphänomenologischen Vorlesung siehe Friedrich-Wilhelm von Herrmann: »Faktische Lebenserfahrung und christliche Religiosität. Heideggers phänomenologische Auslegung Paulinischer Briefe«, in Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, hrsg. v. Norbert Fischer und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hamburg 2007, S. 91–127. 78 M. Heidegger: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942–1948) (GA 97), S. 379.
78 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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schichtlichsein als hingebende Selbstaufgabe vor der unbekannten Zukunft. Genau das wäre nun der Fall beim Judentum, indem das, was aus christlicher Sicht (und lediglich aus dieser) als die Nicht-Anerkennung der Erlösertat Christi angesehen und dem Judentum (von christlicher Seite) vorgeworfen wird, 79 eine wesentliche Dimension der Zukunft, somit diese und letztendlich die Geschichte selbst, verschließt. Das Neue, das Andere kann sich unter diesen Umständen nicht einstellen – was mit diesem Anspruch auftritt, ist bloßer Schein, Täuschung, mit Heideggers Wort: »Machenschaft«; die Geschichte wird, ihres »geschichtlichen« Charakters beraubt, zu so etwas wie »ewige[r] Wiederkehr des Gleichen« – kurzum: statt des anderen Anfangs erfolgt eine Fortsetzung des Alten. Dass Geschichtlichsein bzw. geschichtliches Schaffen Handeln, nicht Erkennen oder Wissen der Zukunft voraussetzt oder impliziert 80 – dass es vielmehr umgekehrt liegt, indem es ein eigentümliFür die heutige, als offiziell zählende Position siehe etwa den Katechismus der Katholischen Kirche, 1997, § 840: »Blickt man auf die Zukunft, so streben das Gottesvolk des Alten Bundes und das neue Volk Gottes ähnlichen Zielen zu: Die Ankunft (oder die Wiederkunft) des Messias. Auf der einen Seite wird die Wiederkunft des gestorbenen und auferstandenen Messias erwartet, der als Herr und Sohn Gottes anerkannt ist; auf der anderen Seite erwartet man für das Ende der Zeiten das Kommen des Messias, dessen Züge verborgen bleiben – eine Erwartung, die freilich durch das Drama der Unkenntnis oder des Verkennens Jesu Christi begleitet wird« (Hervorh. I. M. F.). Auf diesen gegen die Juden gemachten Vorwurf »der Unkenntnis oder des Verkennens Jesu Christi« zu verzichten ist überaus schwierig, es scheint eine Überforderung darzustellen, denn der Verzicht auf ihn würde wohl besagen, das Christliche aufzugeben. Das heißt aber: Ohne ein Minimum von Antijudaismus kommt wohl, wie es scheinen möchte, das Christentum, sofern es auf sich selbst beharrt, nicht aus. Es bleibt somit fraglich, ob irgendeine Selbstbehauptung des Christlichen ohne diesen antijudaistischen Zug überhaupt denkbar ist. Dass dieser Vorwurf eben den Juden und nicht den Gläubigen anderer, z. B. orientalischer Religionen gemacht wird, ist dabei auch nicht von ungefähr; denn Kontext und Sinn des Christusereignisses wird eben vom Alten Testament her nahegelegt und umrissen. Es bleibt also fraglich, ob und in welchem Maße die Abgrenzung gegen die jüdische Religion zum Wesen des Selbstverständnisses der Christentums, zu dessen (mit einem modernen Ausdruck gesagt) »Positionierung« gehört. Wie dem auch sei: aus christlicher Sicht ginge es angesichts dieser Sachlage darum, nicht beim Alten Testament »stehenzubleiben«, sondern es »weiterzuentwickeln« und dementsprechend an die Stelle des »alten Bundes« einen »neuen Bund« treten zu lassen. Von einem »Stehenbleiben« bei den Gläubigen anderer Religionen kann dagegen kaum sinnvoll die Rede sein. 80 Die Wurzeln dieser Auffassung gehen wohl auf Kant zurück und sind in seiner These zusammengefasst: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV, BXXX). 79
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ches Nicht-Kennen, Nicht-Wissen fordert –, geht ganz klar sogar aus jener neukantianischen Perspektive hervor, der Heidegger von Anfang an äußerst kritisch gegenüberstand und der er eine einseitige, wissenschaftstheoretische Orientierung vorgeworfen hatte. Es heißt exemplarisch bei Rickert: »Könnten wir die Zukunft wirklich in ihrer Individualität vorausberechnen, und wüssten wir also genau, was kommen muss, so verlöre sofort alles Wollen und Handeln seinen Sinn. […]. Es ist eine gnädige Hand, die für uns Menschen die Zukunft in einen undurchdringlichen Schleier gehüllt hat. Wäre auch das Künftige in seiner Individualität Objekt unseres Wissens, so würde es niemals Objekt unseres Wollens sein. In einer vollkommen rationalen Welt kann Niemand wirken«. 81 Mit der Tendenz, die Zukunft zu berechnen und dadurch zu beherrschen, hängt im Wesentlichen Heideggers Kritik der »Prophetie« zusammen. Wenn Heidegger an einer Stelle der Schwarzen Hefte sagt, »›Prophetie‹ ist die Technik der Abwehr des Geschicklichen der Geschichte. Sie ist ein Instrument des Willens zur Macht«, 82 so müsste die Aufmerksamkeit nicht einseitig auf Heideggers darauffolgende Behauptung (»Daß die großen Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, deren Geheimes noch nicht gedacht worden«) gelenkt werden, sondern es gilt auch zu beachten, dass diese Bemerkung einen ganz genauen Sinn hat, sofern »Prophetie« in der heutigen Wissenschaftstheorie mit dem Terminus »Vorhersage«, »prediction«, »Prognose« eine überaus wichtige Rolle spielt und zum unabdingbaren Bestandteil des Wissenschaftlichen der Wissenschaft zählt (deren WissenHeinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 2. Aufl., Tübingen 1913, S. 464 (= 1. Aufl. Freiburg i. B. und Leipzig 1896, S. 527). Bei Heidegger heißt es dann in dieser Hinsicht z. B. in den Beiträgen: »Der Übergang zum anderen Anfang ist entschieden, und gleichwohl wissen wir nicht, wohin wir gehen, wann die Wahrheit des Seyns zum Wahren wird und von wo aus die Geschichte als Geschichte des Seyns ihre steilste und kürzeste Bahn nimmt« (Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 177). Siehe noch ebd., S. 28: »Wenn noch der andere Anfang sich vorbereitet, dann ist dies als eine große Wandlung verborgen, und umso verborgener je größer das Geschehnis. Der Irrtum besteht freilich, als müßte ein wesentlicher Umschlag, der von Grund aus Alles ergreift, auch sogleich und überhaupt von Allen gewußt und begriffen werden und sich in der Öffentlichkeit abspielen. Nur Wenige stehen immer in der Helle dieses Blitzes.« Wichtig sei der »Mut zum Abgrund«. Siehe noch GA 16, S. 298: »Geschichte und erst recht entscheidende Geschichte läßt sich nie erklären. Sie bleibt Geheimnis« (siehe auch ebd., S. 303). 82 Siehe M. Heidegger: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942–1948) (GA 97), S. 159. 81
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schaftlichkeit freilich für Heidegger mit ihrem innigst ungeschichtlichen Charakter einhergeht; es handelt sich, um mich an diesem Punkt eines treffenden Terminus Max Schelers zu bedienen, um ein »Herrschaftswissen« 83). Dass »Vorhersage«, »prediction« nur da angemessen und überhaupt möglich ist, wo allgemeine und ewige, d. h. ewig unwandelbare, (Natur-) Gesetze die künftigen Zustände eindeutig kausal bestimmen, daher so etwas wie menschliche Freiheit – aber auch göttliche Intervention – ausschließen, und das Entstehen von etwas völlig Neuem (z. B. eines wirklich neuen, anderen Anfangs) verhindern, ist offenkundig. Es handelt sich dabei um eine Konsequenz, deren sich bereits der junge Schelling völlig bewusst gewesen ist; infolge der Einsicht dieser Konsequenz lautete seine These: »Es ist keine Philosophie der Geschichte möglich« 84 (da ja letztere als durch menschliche Freiheit charakterisiert verstanden wird, Philosophie aber mit Wissen gleichbedeutend ist). Es dürfte nicht ohne Nutzen sein, auf diesen Punkt kurz einzugehen. Ausschlaggebend für Schellings hier verwendeten Geschichtsbegriff ist dies: »Begebenheiten, die man periodisch regel-
Siehe Max Scheler: »Philosophische Weltanschauung«, in ders.: Philosophische Weltanschauung, Bern und München 1968, S. 1–15 hier S. 7 ff. (= Scheler: Gesammelte Werke, Bd. 9: Späte Schriften, hrsg. v. Manfred Frings, Bern/München 1975, S. 75–84, hier S. 77): »Eines dreifachen Wissens ist der Mensch fähig: des Herrschafts- oder Leistungswissens, des Wesens- oder Bildungswissens, des metaphysischen oder Erlösungswissens. […] Die erste Wissensart, das Leistungs- und Herrschaftswissen, dient unserer möglichen technischen Macht über Natur, Gesellschaft und Geschichte. Es ist das Wissen der positiven Fachwissenschaften, die unsere gesamte abendländische Zivilisation tragen. Höchstes Ziel dieses Wissens ist, überall wo und soweit es möglich ist, die Gesetze aufzufinden des raumzeitlichen Kontaktes der in bestimmte Klassen geordneten uns umringenden Erscheinungen – die Gesetze ihres zufälligen Jetzt-Hier-Soseins.« Siehe noch etwa ders.: »Die Formen des Wissens und die Bildung«,Philosophische Weltanschauung, S. 16–48, hier S. 42 = Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 115: »Von diesen drei Wissensidealen hat nun die neueste Geschichte des Abendlandes und seiner sich selbständig entwickelnden Kulturannexe (Amerika usw.) in immer einseitiger sich gestaltender Weise fast nur auf mögliche praktische Veränderung der Welt ausgerichtete Leistungswissen in der Form der arbeitsteiligen positiven Fachwissenschaften systematisch gepflegt«. 84 F. W. J. Schelling: »Ist eine Philosophie der Geschichte möglich?«, in F. W. J. Schelling: Historisch-kritische Ausgabe, Reihe I. Werke, Bd. 4 (im Folgenden HKA, I, 4), hrsg. v. Wilhelm G. Jacobs und Walter Schiehe unter Mitwirkung von Hartmut Buchner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 183–190, hier S. 183 = F. W. J. Schellings sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl F. August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–61, Bd. 1, (im Folgenden SSW 1), S. 466–473, hier S. 466. 83
81 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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mäßig wiederkehren sieht, gehören nicht in die Geschichte«. 85 Geschichte ist also im Gegensatz zur Natur das Entstehen von Neuem, Einmaligem, und zwar als Frucht von Freiheit. Daraus leitet sich die folgende These ab: »was a priori zu berechnen ist, was nach nothwendigen Gesetzen geschieht, ist nicht Objekt der Geschichte; und umgekehrt, was Objekt der Geschichte ist, muß nicht a priori zu berechnen seyn.« 86 Der Versuch, die Zukunft zu berechnen, wäre also gleichbedeutend mit der Bestrebung, die Geschichte ihres eigensten Charakters der Unberechenbarkeit zu berauben, sie sozusagen zu entgeschichtlichen – dieser Terminus taucht tatsächlich beim jungen Heidegger auf 87 –, der Tendenz, bloße Geschichtslosigkeit zu verbreiten. Dabei wäre die Zukunft nichts anderes als bloße Verlängerung oder Wiederholung einer bereits bekannten Vergangenheit – verlängerte oder wiederholte (sich periodisch wiederholende) Vergangenheit. Sofern Zukunft es mit dem Entstehen von Neuem, Unbekanntem zu tun hat, so gäbe es sie kraft der Bestrebung, sie zu beherrschen, zu berechnen, auch nicht mehr, sie käme einfach a priori zum Verschwinden. Im Zuge seiner Ausführungen kommt so Schelling »zu der Einsicht: daß Geschichte im einzigen, wahrsten Sinn nur da stattfindet, wo es absolut, d. h. für jeden Grad der Erkenntniß, unmöglich ist, die Richtungen einer freien Thätigkeit a priori zu bestimmen«. 88 Daraus folgt: »Wenn also der Mensch Geschichte (a posteriori) hat, so hat er sie nur deßwegen, weil er keine (a priori) hat; kurz, weil er seine Geschichte nicht mit-, sondern selbst erst hervorbringt.« 89 Der Satz im vorletzten Zitat und mehr noch die Behauptung: »Je mehr sonach die Grenzen unsers Wissens sich erweitern, desto enger werden die Grenzen der Geschichte«, 90 gehen ganz klar auf Kant zurück 91 und sie antizipieren zugleich die soeben zitierte neukantianische Position von Rickert. Die allerletzte Konsequenz der Überlegungen Schellings lautet: F. W. J. Schelling: »Ist eine Philosophie der Geschichte möglich?«, HKA, I, 4, S. 184 = SSW, 1, S. 467. 86 Ebd., S. 185 = SSW, 1, S. 467. 87 Siehe die Heideggerzitate am Ende der Anm. 58 oben. 88 F. W. J. Schelling: »Ist eine Philosophie der Geschichte möglich?«, HKA, I, 4, S. 187 = SSW, 1, S. 470. 89 Ebd., S. 189 = SSW, 1, S. 471 f. 90 Ebd., S. 189 = SSW, 1, S. 472. 91 Siehe Anm. 80 oben. 85
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»Wenn also der Mensch nur insofern Geschichte haben kann, als sie nicht a priori bestimmt ist, so folgt auch daraus, daß eine Geschichte a priori widersprechend in sich selbst ist; und, wenn Philosophie der Geschichte so viel ist, als Wissenschaft der Geschichte a priori – daß eine Philosophie der Geschichte unmöglich ist. Was zu beweisen war«. 92 Wenn wir die Schelling’schen Überlegungen auf Heidegger zurückbeziehen, so wird ersichtlich: Seinsgeschichte ist nur insofern Geschichte, als man sie nicht kennt. Der andere Anfang ist nur sofern ein anderer, als er sich nicht beherrschen oder berechnen lässt. Wenn Geschichte jeweils nur als Entstehen bzw. Eintritt des Neuen, des Anderen, des Nie-dagewesenen ist, was sie ist, so kommt jede Bestrebung, sie im Voraus zu berechnen, dem Versuch gleich, sie zum Stillstand zu bringen, zur bloßen Wiederholung des Gleichen, des Vergangenen und Bekannten, zu einem Kreislauf zu machen. 93 Angst vor der unbekannten Zukunft, Sich-verschließen angesichts ihrer, erwirkt oder veranlasst die Tendenz, sie durch Rechnen beherrschen zu wollen; gelingt dieser Versuch, so tritt aus christlicher Perspektive der Zustand der Zukunfts- und deshalb der Geschichtslosigkeit ein. Erst die einmalige, absolut Neues erbringende Erlösungstat Christi ist für sie Zukunft- und somit Geschichte-öffnend; sie ist geschichtlich im einzig ausgezeichneten Sinne von Geschichtsschaffen oder GeF. W. J. Schelling: »Ist eine Philosophie der Geschichte möglich?«, HKA, I, 4, S. 190 = SSW, 1, S. 473. 93 Siehe hierzu W. Windelband: »Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede 1894)«, in ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie, Tübingen 1911, Bd. 2, 136–160, hier S. 156: »Es ist mir immer peinlich gewesen, dass ein so geschmackvolles und feinfühliges Volk wie das griechische die durch seine ganze Philosophie hindurchgehende Lehre sich hat gefallen lassen, wonach in der periodischen Wiederkehr aller Dinge auch die Persönlichkeit mit allem ihrem Tun und Leiden wiederkehren soll. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so schon, wer weiss wie oft dagewesen sein und, wer weiss wie oft sich noch wiederholen soll – wie entsetzlich der Gedanke, dass ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehasst, gedacht und gewollt haben soll und dass, wenn das grosse Weltjahr abgelaufen ist und die Zeit wiederkommt, ich dieselbe Rolle auf demselben Theater noch wieder und wieder soll abspielen müssen! Und was so vom individuellen Menschenleben gilt, das gilt erst recht von der Gesammtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Princip, welches die christliche Philosophie in der Patristik siegreich gegen den Hellenismus behauptet hat. Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vornherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsachen.« (Hervorh. I. M. F.) 92
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schichtsstiftung, sie macht wortwörtlich Epoche, ist epochal, epochemachend. Diese Tat nicht anzuerkennen, heißt die Geschichte, die von dieser Erlösungstat ausgeht, ihren Ausgangspunkt von da aus nimmt, zu ignorieren (nicht kennen oder verkennen), wobei allerdings der Vorwurf der Ignorierung seinerseits ebenfalls etwas ignoriert, nämlich die Tatsache, dass im Begriff der messianischen Zeit eine Zukunftsbezogenheit sehr wohl präsent ist, nur in anderer Weise als bei der Erlösungstat Christi. Zusammenfassend lässt sich sagen: Heideggers Widerstand gegen die neukantianisch-husserlsche Perspektive eines ungeschichtlichen transzendentalen Ego – Heidegger hob mehrmals im negativen Sinne besonders die von Husserl zwischen den Logischen Untersuchungen und den Ideen vollzogene transzendentale Wende hervor 94 – und gegen die erkenntnistheoretisch eingestellte akademische Philosophie der Zeit überhaupt – bei gleichzeitiger Orientierung an und Akzentuierung der geschichtlichen Dimension des Denkens – ist maßgeblich von seiner theologischen Herkunft motiviert. Auch Heideggers Bruch mit der Neuscholastik (dem »System des Katholizismus« 95) erfolgte bereits dank der Entdeckung der wesentlich geschichtlichen Dimension der Theologie. Vgl. M. Heidegger: Zur Sache des Denkens (GA 14), S. 55: »Husserl selbst […] konnte es in der damaligen philosophischen Atmosphäre nicht durchhalten; er geriet unter den Einfluß Natorps und vollzog die Wendung zur transzendentalen Phänomenologie, die ihren ersten Höhepunkt in den ›Ideen‹ erreichte«. Heidegger bezeichnet diesen Vorgang völlig negativ, als »Einbruch der Philosophie (in der Gestalt des Neukantianismus) in die Phänomenologie« (ebd.). Diese Kritik finden wir der Sache nach auch anderswo, so z. B. in der Davoser Disputation mit Ernst Cassirer – »Selbst Husserl ist zwischen 1900 und 1910 in gewissem Sinne in die Arme des Neukantianismus gefallen«, heißt es (M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [GA 3], S. 275) – und ist präsent auch noch in den Schwarzen Heften, wo Heidegger über Husserls »Einschwenken in die neukantische Transzendentalphilosophie« spricht; siehe M. Heidegger: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939–1941), (GA 96), S. 47. 95 Vgl. M. Heideggers Brief an den Theologen Engelbert Krebs am 9. Januar 1919: »Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht […]« (Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Heidegger-Jahrbuch I, hrsg. v. Alfred Denker, Hans-Helmuth Gander, Holger Zaborowski, 2004, S. 67, Hervorh. I. M. F.). Nicht unwesentlich ist die Ergänzung am Ende des Satzes: »nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne)«. Dies zeigt, dass Heidegger seine damaligen Denkbemühungen als dienlich einer christlich religiösen Erneuerung verstanden wissen wollte. Von da aus lässt sich Heideggers ursprüngliche Absicht nicht zuletzt darin erblicken, eine Erneuerung der dem christ94
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Geschichtslos sind in der vom Christusereignis bestimmten Optik die Völker oder die Einzelnen, die sich der von Jesus eröffneten Zukunft verschließen, an ihr nicht teilnehmen wollen. Geschichtslos (und zugleich seinslos, d. h. »seinsgeschichtslos«, weil weder »Sein« noch »Geschichte« enthaltend) ist für Heidegger die Metaphysik als ein Denken, das zwar Anspruch darauf erhebt, das Sein zu denken, jedoch das Sein wiederum in ein Seiendes verlegt; 96 sie ist derart mangelhaft, dass sie nicht einmal ihren eigenen Mangel erfahren kann. 97 Metaphysik ist aber nicht nur ein Denken, sie ist darüber hinaus zuvor und immer schon ein Verhalten des westlichen Menschen, eine Ausprägung des abendländischen Seins, die auf eine immer stärkere und absolute Vergegenständlichung des Seienden, Verfügbarmachen, Rechnen, Kalkulieren aus ist, die die ganze Erde erobert. Metaphysik ist als Geschichte ein Geschick, ein Schicken des Seins selbst, welches sich im Übergang vom ersten zum anderen Anfang befindet. lichen Glauben zugrundeliegenden und ihn in begrifflicher Fassung vermittelnden aristotelisch-scholastischen Theologie in die Wege zu leiten. 96 »Das Sein selbst bleibt in der Metaphysik ungedacht, weil sie das Seiende als solches denkt«. »Die Metaphysik anerkennt zwar: Seiendes ist nicht ohne Sein. Aber kaum gesagt, verlegt sie das Sein wiederum in ein Seiendes, sei dieses das höchste Seiende im Sinne der obersten Ursache, sei es das ausgezeichnete Seiende im Sinne des Subjektes der Subjektivität […], sei es […] die Bestimmung des höchsten Seienden als des Absoluten im Sinne der unbedingten Subjektivität« (M. Heidegger: Nietzsche, Pfullingen 1961, Bd. 2, S. 350, 347). Siehe noch zusammenfassend M. Heidegger: Vier Seminare, Frankfurt/Main 1977, S. 44 f. = Seminare (GA 15), S. 306 f.: »Die Metaphysik geht vom Seienden aus, erhebt sich bis zum Sein, um zum Seienden als solchem zurückzukehren und es im Licht des Seins aufzuhellen«. Heideggers Frage, die nach dem Sein, sei aber »eine ganz andere. Sie befragt das Sein nicht, sofern es das Seiende als Seiendes bestimmt: sie befragt das Sein als Sein«. Das Denken stellt »das Sein im Horizont der Metaphysik immer als ein Seiendes vor […]«. Zur metaphysischen Wesensbestimmung des Menschen als vernünftiges Lebewesen siehe FriedrichWilhelm von Herrmann: »Die Gottesfrage im seinsgeschichtlichen Denken«, in: Auf der Spur des Heiligen. Heideggers Beitrag zur Gottesfrage, hrsg. v. G. Pöltner, Wien/ Köln 1991, S. 23–39, hier S. 24: »[Die metaphysische] Wesensbestimmung des Menschen schließt die Frage nach dem Seienden in seinem Sein ein, und umgekehrt. Mit beiden zusammengehörigen Fragen bleibt sie von den ursprünglichen Fragen nach dem Wesen des Seins und des Menschen in seiner wesenhaften Zugehörigkeit zum Sein als solchem ausgeschlossen.« 97 Vgl. »Einleitung zu: ›Was ist Metaphysik?‹«, in M. Heidegger: Wegmarken (GA 9), S. 379: »Als Metaphysik ist sie von der Erfahrung des Seins durch ihr eigenes Wesen ausgeschlossen«; Brief über den »Humanismus«, in Wegmarken (GA 9), S. 322: »Die Metaphysik stellt zwar das Seiende in seinem Sein vor und denkt so sich das Sein des Seienden. Aber sie denkt nicht das Sein als solches, denkt nicht den Unterschied beider.«
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Die vorlaufend-entschlossene Zuwendung und das Sich-zurVerfügung-stellen dem anderen Anfang als der schlechthin unbekannten Zukunft kann als radikales Geschichtsdenken bezeichnet werden, das die Alternative Relativismus – Absolutismus zu überwinden bestrebt ist (d. h. Geschichte steht nicht gegenüber so etwas wie Natur, sondern die Zweiteilung Natur – Geschichte bildet selber eine Epoche der Seinsgeschichte); es ist in dieser Radikalität im 20. Jahrhundert in einer einzigen Denkströmung aufzufinden – im Marxismus. Im Hauptwerk des sog. westlichen Marxismus, György Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein, das 1923 ein paar Jahre vor Heideggers Sein und Zeit erschien, finden sich überraschende Parallelen zu den Heidegger’schen Perspektiven, auf die zum Schluss etwas einzugehen nicht ohne Interesse sein dürfte. Da ist zunächst bei Lukács eine ebenso heftige Kritik am »Prinzip der auf Kalkulation, auf Kalkulierbarkeit eingestellten Rationalisierung« 98 wie bei Heidegger am rechnenden Denken. Diese Einstellung ist ebenso all-umfassend wie bei Heidegger die metaphysische: »daß das Prinzip der rationellen Mechanisierung und Kalkulierbarkeit sämtliche Erscheinungsformen des Lebens« erfasst, 99 gehört nach Lukács zu seinem Wesen. Was bei Heidegger das metaphysische Denken ist, ist bei Lukács das »bürgerliche« Denken; beide sind unfähig, die radikale Geschichtlichkeit des Seins zu denken, ihr gerecht zu werden. Es ist der Orientierung an der radikalen Geschichtlichkeit sowohl bei Lukács als auch bei Heidegger eigen, dass sie gegen Disziplinen tiefes Misstrauen hegt, aus denen sie das Ewig-machen bestimmter Seinszustände herauszulesen meinen – vor allem gegen die Psychologie und die Soziologie. In Geschichte und Klassenbewußtsein ist schon mit ziemlicher Eindeutigkeit dieser Gedanke vorhanden. 100 Heidegger kritisiert seinerseits nicht weniger scharf die
Vgl. G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin 1923, S. 99. (Die Erstausgabe wird zitiert, deren Paginierung auch in der Werkausgabe [Lukács: Werke, Band 2, Neuwied und Berlin, 1968] und in der Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand [SL 11, Neuwied und Berlin 1970] beibehalten ist.) 99 G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 103. 100 Siehe z. B. G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 59 (»Die Gegenstände der Geschichte erscheinen als Objekte unveränderlicher, ewiger Naturgesetze«), S. 170. 98
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Soziologie und die Psychologie 101. Laut den Erinnerungen Max Müllers lehnte Heidegger die »Soziologie und Psychologie als großstädtisch-dekadente Denkweisen« ab. »Er sagte: ›[…] Die Soziologie macht aus der Geschichte ein ahistorisches System, und die Psychologie begreift überhaupt nicht, daß Geschichte nur verstehbar ist von den Ansprüchen, die sie an uns stellt […].‹« 102 Sowohl Heidegger als auch Lukács wollten ihre eigene Gegenwart als Übergang ansehen; als Übergang zu einer radikal anderen Zukunft, und d. h. zugleich zu etwas radikal Neuem. Ihre Kritik betrifft so den Historismus, weil dieser in seiner Suche nach »objektiver«, übergeschichtlicher Wahrheit stillschweigend die Perspektive der eigenen Gegenwart zum Maßstab des Vergangenen macht und sie dabei als unüberwindlich bzw. ewig erscheinen lässt. Innerhalb der Perspektive des der bürgerliche Epoche eigenen »rationalistischen« Denkens muss dieses kraft seiner Tendenz »auf formelle Kalkulierbarkeit«, so lautet Lukács’ grundsätzlicher Einwand, die »Inhalte« der Gesetze »als unveränderlich definieren«; »es gehört zum Wesen eines jeden solchen Gesetzes, daß […] per definitionem nichts Neues geschehen kann.« (Die Bestimmung des Geschichtlichen als Aufkommen des Neuen könnte ungezwungen auch Heideggers Bestimmung gewesen sein.) Besteht aber das Wesentliche der Geschichte »im geschichtlichen Werden, im ununterbrochenen Entstehen des qualitativ Neuen«, so muss das bürgerliche bzw. rationalistische Denken das Neue a priori und d. h. im Voraus von seinem Denkhorizont ausschließen: »die […] Faktizität des Daseins und Soseins der bürgerlichen Gesellschaft erhält den Charakter eines ewigen Naturgesetzes oder eines zeitlos geltenden Kulturwertes. Dies ist aber zugleich die Selbstaufhebung der Geschichte«, 103 so lautet Lukács’ Formulierung. Zur Kritik der Soziologie in den Schwarzen Heften siehe jetzt GA 94, S. 364, 383, 439; besonders aber GA 95, S. 161. 102 M. Müller: »Martin Heidegger – Ein Philosoph und die Politik. Ein Gespräch«, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hrsg. v. G. Neske und E. Kettering, Pfullingen 1988, S. 193 f. Siehe hierzu Beiträge zur Philosophie (GA 65), S. 493: Das der Historie eigene »Fest-stellen dient einem Behalten, das nicht so sehr das Vergangene nicht entgleiten lassen will, als vielmehr das Gegenwärtige als das Vorhandene verewigen will. Verewigung ist immer als Strebnis die Folge der Herrschaft der Historie […] Ver-ewigung ist das Nicht-von-sich-(als einem Vorhandenen)-Loskommen einer geschichtsfernen Gegenwart«. Man darf wohl sagen: Heidegger ging es umgekehrt sehr wohl um das von-sich-Loskommen von seiner (als geschichtsfern empfundenen) Gegenwart. 103 G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 173. Diese Behauptungen sind 101
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Die Geschichtlichkeit der Geschichte hängt also auch für Lukács davon ab, ob das Entstehen des Neuen (des Unberechenbaren, Unkalkulierbaren) a priori zugelassen wird oder nicht. In dieser Hinsicht bestehen zwischen den Denkperspektiven von Lukács und Heidegger bei aller Verschiedenheit ihrer Endpositionen nicht unerhebliche Gemeinsamkeiten. »Die Historie«, heißt es in Heideggers Beiträgen, »[…] ist ein ständiges Ausweichen vor der Geschichte«; »[…] durch die von der Historie bestimmte Geschichtsauffassung [wird] die Geschichte in das Geschichtslose abgedrängt […]«. 104 Lukács seinerseits spricht in diesem Zusammenhang über »die vollkommene Unfähigkeit aller bürgerlichen Denker und Historiker, weltgeschichtliche Ereignisse der Gegenwart als Weltgeschichte zu begreifen«, 105 d. h. die Gegenwart als Übergang, als Geschichte aufzufassen; und für Heidegger stellte die Gegenwart ebenso einen Wendepunkt, einen Übergang, nämlich den vom ersten zum anderen Anfang, dar. 106 Für beide ist somit auch und gerade die Gegenwart – nicht nur die Vergangenheit – Teil der Geschichte, nämlich Geschichte eben im Sinne des Übergangs zu Neuem, zu absolut Anderem. 107 im Zuge einer Simmel-Kritik gemacht, aber sie sind charakteristisch für das Ganze des bürgerlichen Denkens. 104 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (GA 65), S. 153, 493. 105 G. Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 173. 106 Ebd. Die hier skizzenhaft dargestellten Parallelen zwischen Lukács und Heidegger wurden anderswo ausführlicher zu behandeln versucht; siehe István M. Fehér: »Heidegger und Lukács. Eine Hundertjahresbilanz«, in: Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk. Ein deutsch-ungarisches Symposium, hrsg. v. I. M. Fehér, Berlin 1991, S. 43–70; ders.: »Heidegger und Lukács. Überlegungen zu L. Goldmanns Untersuchungen aus der Sicht der heutigen Forschung«. In: Mesotes. Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog I, 1991, n.1, S. 25–38. 107 Für Lukács ist »die Gegenwart als Problem der Geschichte« zu fassen, »das Problem der Gegenwart als geschichtliches Problem« anzusehen (Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 174, 173), und er zitiert in diesem Zusammenhang Marx, dessen Vorwurf gegen das »bürgerliche« Denken bzw. die »bürgerliche Ökonomie« lautet: »Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr« (ebd., S. 173; auch der vorherige Satz von Marx verdient zitiert zu werden: »Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben«), d. h. sie sei nicht imstande, die Gegenwart als Geschichte aufzufassen. In Bezug auf Heidegger sind vor allem die folgenden Sätze aus Walter Bröckers Nachschrift von Heideggers Kasseler Vorträgen 1925 charakteristisch: »Erst wenn Geschichte so gesehen wird, daß die eigene Wirklichkeit in diesen Zusammenhang mit hineingesehen wird, kann man sagen, daß das Leben um die Geschichte, in der es steht, weiß […]. Die eigene Epoche wird erfahren als Situation, in der die Gegenwart selbst steht, und das nicht nur gegenüber der Vergangenheit, sondern zugleich als Situation, in der sich die Zukunft entscheiden wird
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Heideggers theologische Herkunft – Fragen der Interpretation
Das Zeitalter, das für Lukács durch die Verdinglichung charakterisiert ist, ist für Heidegger durch die Seinsvergessenheit gekennzeichnet. 108 Wo man nach dem Sein zu fragen glaubte, richtete sich die Fragestellung in Wahrheit nach dem Seienden. 109 Der Beseitigung der Verdinglichung bei Lukács entspricht daher die Beseitigung der Seinsvergessenheit bei Heidegger, d. h. das Stellen der Seinsfrage sowie die Ausarbeitung der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem. Heidegger und Lukács ist aber vor allem dies gemeinsam, dass sowohl das »bürgerliche« Denken bei Lukács (genannt auch »rationalistische«, »kalkulatorische« Denken) als auch das »metaphysische« bzw. »rechnende« Denken bei Heidegger unfähig sind, eine radikal neue, andere Zukunft zu denken, eine solche, die nicht bloß eine Verlängerung und Wiederholung des Vergangenen wäre. Das Sicherschließen vor einem anderen, völlig neuen Zeitalter, das denkerische Vorlaufen dazu, ist im wesentlichen religiös-theologischen Charakters, auch bei dem sich als Atheisten wissenden Lukács; bei Heidegger ist es eine unabdingbare Bedingung der Geschichtlichkeit: erst das Denken, das den anderen Anfang der Seinsgeschichte wagt und seinem Eintritt zu verhelfen sucht, ist geschichtlich. Wenn Heidegger sagt, »›Prophetie‹ ist die vorwärtsgerichtete Historie«, 110 so ist damit gemeint, dass die Vergangenheit nun eine Umkehrung erfährt und statt rückwärts »vorwärts gerichtet« ist, ansonsten aber – was das Entscheidende betrifft – alles beim Alten bleibt und die Zukunft nichts anderes ist als Reiteration einer wohl bekannten negativen Vergangenheit. Die auf diese Weise zusammengefasste, »zukunftslos« zu nennende Einstellung ist eine metaphysische; sie ist bei Heideggers Verbzw. entschieden hat« (siehe jetzt M. Heidegger: Vorträge, Teil 1: 1915 bis 1932 (GA 80.1), S. 103–157, hier S. 112. Wenn Heidegger in seiner jugendlichen, religionsphänomenologischen Vorlesung Spengler deshalb kritisiert, weil er bestrebt ist, »die Geschichtswissenschaft von der historischen Bedingtheit der Gegenwart unabhängig zu machen« (GA 60, S. 43), so will Heidegger umgekehrt die Geschichtswissenschaft von der historischen Bedingtheit der Gegenwart sehr wohl abhängig machen, d. h. er will das Gewicht der Gegenwart für das Geschehen der Geschichte erhöhen, die Gegenwart als Teil der geschehenden Geschichte fassen. 108 Heideggers »Konstruktion der bisherigen Geschichte des Abendlandes ist, wie die des Hegelianers Marx, die Konstruktion einer ›Vorgeschichte‹ vor einer kommenden Weltwende«, so formulierte Karl Löwith (Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, Sämtliche Schriften, Bd. 8, S. 166). 109 Vgl. Heidegger: Nietzsche, Bd. 2, S. 347 ff. Siehe Anm. 96 oben. 110 Vgl. Heidegger: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942–1948) (GA 97), S. 159.
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István M. Fehér
wendung des Begriffs Geschichtlichkeit grundsätzlich und für ewig »geschichtslos«, solange nämlich Geschichte nicht bloß als Gegenstand des Erkennens, sondern zuvor noch und vor allen Dingen als Element des existenzialen Seins des Menschen verstanden wird – und an dieses Element gebunden, Teil-nehmer an dem Geschehen zu sein, kann auch im prägnanten Sinne »religiös«-sein heißen. Als Fazit lässt sich sagen: Die theologische Herkunft Heideggers ist also wirkend nicht nur im Ansatz des Denkwegs, sondern auf diesem ganzen Weg selbst, insbesondere auch in der jeweiligen Bestimmung des allerwichtigen Begriffs von Geschichte und Geschichtlichkeit.
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Hans-Christian Günther
Heidegger und Parmenides 1
1.
Parmenides’ Bedeutung für Heidegger und die Seinsfrage, die Bedeutung des Anfangs und das Ziel meiner Erörterung
Parmenides hat für Heideggers Denken eine besondere Bedeutung. In Parmenides wird zum ersten Mal im griechischen Denken die Frage nach dem Sein explizit unter dem Wort ›Sein‹ gestellt, und dies geschieht, wie wir sehen werden, zugleich unter expliziter Nennung dessen, was sich in der ontologischen Differenz, als die sich im Seienden verbergende Natur des Seins verfestigend manifestiert. Parmenides spricht dezidiert im Infinitiv und im Partizip (ἐὸν ἔμμεναι, fr. 6). Vor Parmenides verbirgt sich die Seinsfrage in der Frage nach der Verwiesenheit von Werden und Vergehen (Anaximander) oder der Physis (dem Wachsen, dem Wuchs; bei Heraklit). Mit dem Aufbruch der Seinsfrage ins Wort des Seins bei Parmenides stehen wir insofern zugleich an einem Wendepunkt und einem Anfang in der Geschichte des Seins. Das Anfangen ist im eben jenem Gerichtetsein auf einen Anfang die Grundverfasstheit des griechischen Denkens, wie Aristoteles es am Anfang der Metaphysik (928a) ausdrücklich gesagt hat: das Zugehen auf einen Anfang ist das Ausgehen auf einen Fang, der niemals eingefangen werden kann; das An-fangen bleibt in einer steten Vorläufigkeit des Fangens, das dieses Fangen stets neu auf einen sich stets entziehenden Fang verweist; der Anfang wird so vom Fanger an-gerührt, dass er den Fanger gerade im Entzug stets neu auf sich verweist, in sich einbehält: der Anfang ist kein Nichts, kein Neues, der Mann, der sich bei Parmenides auf den Weg macht, ist ein Leicht überarbeiteter Text meines Vortrags bei der Heideggertagung in Wien im Mai 2016. Ich versuche hier – im Gegensatz zu meinen älteren Arbeiten: Günther 1998 und Günther 2001 – eine Neudeutung des Parmenides im Horizont von Heideggers Seynsdenken. Gelehrte Verweise sind somit überflüssig.
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Hans-Christian Günther
bereits Wissender (er nennt ihn εἰδότα φῶτα), er ist das, wo der Fanger anzufangen, Halt zu gewinnen sucht, das ihm jedoch in diesem Versuch stets vorausliegt als das, auf das er sich stets neu als das Ziel seines Fangens ausrichtet, da er es stets nur an-, aber niemals einfängt: ἀρχή, der verfügende Ausgang, ausgängliche Verfügung. »Ein (mit mir stets) zusammenseiendes ist mir das, von wo ich an-fange, denn dahin werde ich wieder hingelangen«, sagt die Göttin des Parmenides (fr. 3). Was ich hier versuchen will, ist diesem Anfang nachzugehen, den Text des Parmenides nach der Sache des Denkens und des Seins zu befragen, wie Heidegger ihn in den Horizont der Frage gerückt hat, indem er den Anfang des Parmenides aufgefangen und zu einem Anfang seines Denkens gemacht hat. Was ich somit hier bieten möchte, ist eine Auslegung des Parmenides im Horizont von Heideggers Denken, nicht eine Nacherzählung der verschiedenen heideggerschen Interpretationsansätze.
2.
Das Sein, der Logos und der Mythos und das dichtende Denken des Parmenides
Parmenides’ Denken ist der Anfang der Seinsfrage, insofern Parmenides das ins Wort hebt, was seit eh und je das Denken vor ihm anging. Die Weise, in der das Sein das Denken angeht, ist griechisch der λόγος. Der Logos im ursprünglichen Sinne, wie er von Heraklit gedacht ist, ist der An-Spruch des Seins. Dieser Logos, der auch nachweislich das erste Wort von Heraklits Werk ist, wird bereits ein ἀεὶ ἐόν λόγος genannt: ein jeweils immer neu ›seiender‹, an dem sich der Mensch immer wieder neu versucht (πειρώμενοι), weil er ihn immer wieder neu be-an-sprucht, so dass der Mensch ihn nie einholt, nie ganz mit ihm zusammenkommt (ἀξύνετοι), sondern vor ihm stets versagt und somit stets neu auf seine Übereinstimmung, auf die Geschicklichkeit (σοφόν) seines fügsames Einstimmens (ὁμωλογεῖν) in den Logos verwiesen bleibt (fr. 50). Was sich hier bei Heraklit andeutet, wird bei Parmenides in eklatanter Weise explizit. Die Bedeutung gerade des Parmenides für die Geschichte der Seinsfrage zeigt sich auch darin, dass Platon die zentralen Probleme seines Seinsbegriffs in einem Dialog behandelt, der Parmenides zum Gesprächspartner des Sokrates macht. Platon ist der Begründer stricto sensu des Seinsdenkens der Metaphysik, das Hei92 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Heidegger und Parmenides
degger zu dekonstruieren sucht. Platon – wie in der neuzeitlichen Philosophie Hegel – sind die dialektischen Bezugspunkte Heideggers in seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik, die das einzuholende und zu hinterfragende Geschick des europäischen Denkens als die geschichtliche Bestimmung der bergenden Entbergung des Seins sein sollte. Der λόγος, in dem sich der Anspruch des Seins ausspricht, war zugleich der Anfang der Prosa: im Denken der Milesier von der Physis. Aber der Anfang des griechischen Denkens bleibt doch ein dichtendes Denken mit Hesiods Denken des Anfangs, und Parmenides ist ein Denker, der sich in diese dichtende Form des Denkens immer noch einreiht, und so nennt sich das, was in seinem Werk gesagt wird, ein Mythos (zuerst wird vom Wort ἔπος, fr. 1, 23, später, fr. 7 und 8, vom μῦθος gesprochen). Der Mythos, die Sage, ist eine Geschichte, ein Erzählen von etwas: der Dichter erfährt etwas (πυθέσθαι, fr. 2). Der Logos ist das Aussprechen dessen, wovon die Rede ist, er ist Ausspruch ebenso wie Anspruch des Seins. Parmenides lässt die Göttin dem Dichter eine Geschichte zusprechen. Diese Geschichte erzählt etwas über das Sein, sie fordert auf, zum λέγειν, d. h., sie erheischt den Logos, das Aussprechen des Anspruchs des Seins (fr. 6: χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τε …), sie sagt das Sein nicht. Sie erzählt vom Sein und seinem Korrelat im νοεῖν und λέγειν. Das dichtende Erzählen der Göttin spricht dem Dichter etwas zu. Um diesen Zuspruch zu erfahren, macht sich der Dichter auf einen Weg. Dieser Weg ist einer, den der Dichter nicht aus eigener Kraft vollbringt: er wird auf ihm getragen (φέρουσιν, φερόμην, fr. 1) – von Kräften geleitet (ἡγεμονεῦον, fr. 1), die ihn außerhalb der Bahnen der gewöhnlichen Menschen tragen (fr. 1,27: ἡ γὰρ ἀπ᾽ ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου ἐστίν). Die Weise, auf diesen Weg zu gelangen, wo sich dem Menschen im Dichten die Geschichte des Seins zuspricht und sein Denken und Sprechen erheischt, ist das Sich-forttragenlassen.
3.
Der Weg des Denkens in Parmenides’ Gedicht
Dieser Weg, auf dem er fortgetragen wird, ist der Archetyp des Weges des Denkens ins Licht, das eine Grundfigur griechisch-abendländischen Denkens wird. Aber der Weg des Parmenides ist nicht einfach ein Weg ins Licht, schon gar keiner in eine Transzendenz, in ein Jen93 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Hans-Christian Günther
seits. Er ist ein Weg aus dem Dunkel, aber nicht einfach ins Licht: im Lichten des Dunkels führt er an die Stelle der Begegnung der Bahnen des Lichts und des Dunkels (fr, 1,11), an die Schwelle eines Tores (fr. 1,13), das hinter das Begegnen von Licht und Dunkel führt. Die Fahrt geht über die Schwelle, wo Licht und Dunkel sich füglich begegnen, hinweg, an der Schwelle steht Δίκη, der Schied, die Verwalterin des Füglichen, sie hält die Schlüssel, die das Fügliche von Licht und Dunkel im ihrem Wechselspiel halten. Dieses fügliche Wechselspiel, dessen Schlüssel die viel strafende Dike in Händen hält, ist das, was Anaximander in seinem Spruch das schickliche δίκην διδόναι (›Strafe zahlen‹) der dem Werden und Vergehen unterworfenen Erscheinungen nennt. Die Fahrt des Dichters, wo er die Geschichte vom Sein vernimmt, führt in einen Raum hinter dieses Wechselspiel, oder genauer gesagt, ihm erschließt sich ein wohlgefügter, füglicher Zwischenraum, durch den hindurch er eine unverrückbar gefügte steinerne Schwelle überquert. Die Fahrt, die der Dichter angetreten hat, ist eine weit hinausfahrende – soweit sein Streben reicht, heißt es zu Beginn (ὅσον τ᾽ ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι, fr. 1,1); sie trägt ihn mit der äußersten Gewalt des Beförderns, das ihm jede Kontrolle über sein Gefährt entzieht (das malen die Verse 6 ff., wo der Text zugleich an die Fahrt des Phaeton erinnert, die ihn in den Untergang führte). Er begibt sich auf einen Weg zu den Grenzen seines Strebens, der weit hinausführt und ihn dem Raum seines gewöhnlichen menschlichen Wohnens entzieht. Es ist der Weg des weit hinausfahrenden Menschenwesens, wie es Heidegger in seiner Interpretation des ersten Stasimon der Antigone (vv. 332 ff.) interpretiert hat. Dieser Weg ist ein Weg des Gewaltsamen seines Wesens (des δεινόν), das den Menschen an den Abgrund des μὴ καλόν, des ungefügen Nichtseins führt (Ant. 370). Das Gewaltsame seines Wesens reißt den Menschen aus der Geborgenheit des Wohnens, dem Umkreis des Herdes seines Seins, an den Abgrund des Nichts. Dort im Draußen seines Unheimischseins in der Fülle der Möglichkeiten seines gewalttätig schaffenden Wesens ist es schwierig für ihn, sich neu in die enge Fuge der Schicklichkeit seines wesenhaften Heimischseins in der Geborgenheit seiner eigentlichen Stätte im Umkreis des Seins zu fügen. Dies sagt der ursprüngliche Text der Antigone, den man früher nicht verstand und den Heidegger nicht las – zugunsten eines damals üblichen Texteingriffs (v. 368: νόμους παρείρων χθονός: die Gesetze (in die Fülle seiner Lebensmöglichkeiten) einfügen, wie man etwas in eine dünne Röhre schiebt; 94 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Heidegger und Parmenides
früher verbesserte man zu γεραίρων = die Gesetze ehrend, hochhaltend).
4.
Das dichtende Denken des Parmenides
Der Weg des Denkens an seine Grenzen, den Parmenides am Anfang seines Gedichtes beschreibt, ist der Weg des Dichters; der Dichter ist es auch, der dichtend die Offenbarung der Göttin wiedergibt, die ihm abseits von der Bahn der gewöhnlichen Menschen widerfährt. Dass der Dichter einer ist, dessen Dichten des Zuspruchs einer göttlichen Macht, der Muse, bedarf, die ihm das, was er zu sagen weiß, als die Zu-kunft des Seins, als das Seiende, das Sein-werdende und zuvor Gewesene zuspricht, ist Gemeingut griechischen Dichtungsverständnisses. Der Dichter ist aber zugleich der ποιητής, der Hersteller, der Handwerker; das dichterische Denken ist nicht das nachrechnende, nachdenkende Denken, es ist das schöpferische Vorausdenken (es umfasst auch das Sein-werdende, τὰ ἐσσόμενα). Im dichterischen Denken ist zum einen etwas von jenem kreativen Drauflosdenken, das Heidegger einmal im Vorwort zu seinem Heraklitseminar gefordert hat, es ist aber auch etwas in ihm von jenem gewaltsamen, die Welt verändernden Denken des Machers, dem δεινόν, wie Heidegger es im ersten Stasimon der Antigone des Sophokles interpretiert hat. Als solches steht es in der Gefahr des Hinausfahrens und zu nichts Kommens. Das Spezifische des dichterischen Denkens ist jedoch sein Hören auf den Zuspruch des Göttlichen: der Dichter denkt voraus nicht aus sich selbst heraus, sondern aus dem ihm das Vorausliegende gewährenden Zuspruch, aus derjenigen Kraft, die den Menschen begrenzt, aber auch entgrenzt, sofern er sich ihrem Zuspruch fügt. Der Dichter verkörpert das fügsame, der Zukunft des Voraus gehorsame Denken (das Durchqueren des Tores geschieht mit sanften Worten μαλακοῖσι λόγοισιν und umsichtig ἐπιφραδέως, fr. 1 15 f.). Dies gibt seinem Denken Richtung und Mitte; diese Richtung erhält es von seinem sich im Umkreis der Mitte Aufhalten. Das wird deutlich aus dem Zuspruch der Göttin, den der Dichter erhält, dem es gelingt, durch die fügende Öffnung in das Gelichtetsein der sich entbergenden Ἀλήθεια, der Unverborgenheit zu gelangen (das Tor öffnet sich, indem sich die Pfosten in ihren festgefügten Pfannen drehen, fr. 1, 18/19). Er erfährt vom unerschütterlichen Herzen der Unverborgen95 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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heit (fr. 1,29): dem vorausdenkenden Denken ist sein Ziel bereits im An-fangen vorgegeben. Der Anfang verfügt ihn in seinem An-fangen und fängt ihn in seinem ans Ziel gelangen wieder ein. Der Aufenthalt nahe dem Herzen der Offenheit des Gelichtetseins lenkt das Vorausdenken des Dichters in eine Bahn, die ihn in die Mitte führt. Damit ist sein Denken der Gefahr des Nichtigen, des Verbergenden nicht entzogen, das Nichtende ragt stets in die Fülle der Mitte hinein: er begegnet ihm an der Schwelle der Dike, des Schieds, dort wo sich die Bahnen von Tag und Nacht begegnen und scheiden. Die Schwelle birgt die Gefahr des Anstoßens, des Strauchelns: Antigone stößt mit dem Fuß an den Sockel der Dike und stürzt (Ant. 853 f.). Der Schied scheidet, aber einzig er lässt auch sehen, denn nur das Unterschiedene ist sichtbar: die Dike, der Schied ist auch das Zeigende und Weisende. An der Schiedsstelle der Dike, wo sich Lichtes und Dunkles lichten und verdunkeln, entscheidet sich das Geschick des hinausfahrenden Denkens: es kann auf ihrer Schwelle strauchelnd ins Nichts führen oder zur Mitte der Offenheit der Lichtung gelangen.
5.
Der Ort der Ankunft, die Fuge und das Fügliche, Zuspruch, göttlicher Mythos und menschlicher Logos
Der fügsamen Geschicklichkeit des Denkens des Dichters gelingt es, am Abgrund des nichtenden Dunkels vorbei über die Schwelle des zeigenden Schieds in die Fuge zwischen Helle und Dunkel hineinzufahren und den fügenden Zuspruch zu erfahren, der ihm die Geschichte von dem Licht und Dunkel und die Dinge in Licht und Dunkel zusammenfügenden Fug erzählt. Das letzte Zeichen der Fügsamkeit des dichtenden Denkens ist das Empfangen der ausgestreckten Hand der Göttin: der Handschlag wird bei Homer, und das heißt in der Sprache des Epos, regelmäßig als das Einwachsen der Hand (ἐμφῦναι χειρί) in die des anderen benannt. Mit dem Empfangen des Handschlags der Göttin gelangt der Dichter an jenen Punkt, wo er zum ὁμωλογεῖν mit dem Mythos, wohlgemerkt nicht dem Logos der Göttin gelangen kann. Was nun folgt, ist der Mythos, die Sage, die Geschichte der Göttin als der Logos des Dichters. Er ›sagt‹ das, was die Göttin von ihm in einem χρή (χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τε …) als das Fügliche erheischt. Die Göttin bleibt namenlos; diese Namenlosigkeit ist ihr wesenhaft. Sie ist es ja, die allererst das zu Sagende erzählend ins Wort hebt, 96 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Heidegger und Parmenides
und erzählend bedeutet, wie bereits gesagt, nicht aussagend, sondern nur redend über, redend um die Mitte des zu Sagenden herum: die Geschichte ist gegenüber dem Logos nur ein Andeuten. Die Göttin des Parmenides ist namenlos, sie ist wie der Gott, der andeutet, weder offenlegt noch verbirgt bei Heraklit, der Gott des Rätsels, dessen Name nicht genannt, sondern der als der ›Herr des Orakels von Delphi (des Rätsels)‹ umschrieben wird (Heraklit fr. B 93). Die Göttin ist in ihrem Sprechen eine im Sprechen zugleich verschweigend Winkende, ihr Mythos ist der Wink des Seins, ihr verschweigendes Erzählen der Anspruch des Seins, es in den Logos des gesammelten Vorliegenlassens zu heben. Die Göttin winkt den Dichter in die Unverborgenheit, die Lichtung des Seins, aber sie spricht weder die Wahrheit, das Gelichtetsein des Seins aus noch das Sein. Sie lässt den Dichter in der Lichtung des Seins etwas vom ›Herzen‹, der Mitte der Lichtung, dem die Lichtung Lichtenden erfahren. Der Dichter kann sich nur in der Lichtung aufhalten, indem er den Blick seines Denkens stets füglich auf das die Lichtung Offenhaltende richtet, denn die Lichtung im Sinne des Licht Gewährenden ist stets die Lichtung des Ungelichteten, des erst im Licht Scheinenden, das in sich jedoch keine lichtende Kraft besitzt. Das im Licht Scheinende, jedoch nicht selbst wesenhaft Lichtende, sondern im Gegenteil seine göttliche Abkünftigkeit Verleugnende, bloß auf das dem Menschen Erscheinen Abgerichte ist das stets dem lichtenden Zentrum der Lichtung Entgegenstehende. Dieses in der Lichtung bloß Erscheinende ist aber der Lichtung wesenhaft eigen, es ist als das wesenhaft Scheinende ebenso füglich zu erfahren; füglich bedeutet: als das, was es wesenhaft ist. Die Lichtung bedarf, um offengehalten zu werden, des füglichen Legein und Noein des Menschen; die Göttin winkt den Menschen in die Lichtung und erheischt von ihm das Sehen auf das Lichtende und das zu Lichtende und das Offenhalten der Lichtung im füglichen Aussprechen des Lichtenden und Gelichteten. Der erzählende Wink der Göttin wird im Aussprechen des Zugesprochenen durch den Dichter zum dem sich im Wink offenbarenden, dem Anspruch des Seins entsprechenden Logos. Das Dichterische dieses Logos verweist zurück auf seinen Ursprung im göttlichen Zuspruch, aber erst dieses Aussprechen durch den Menschen im Logos lässt das Lichtende und das Gelichtete gemeinsam vorliegen, das λέγειν ist das Nebeneinanderlegen des Gelichteten im Licht der Lichtung als das in diesem Licht zugleich Getrennte und Verbundene. Das gelichtete Nebeneinander als das, was als das je und je andere das andere berührt, was als das Getrennte nur 97 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Hans-Christian Günther
mit ihm zugleich im Berühren des je anderen es selbst sein kann, ist das Fügliche der Fuge, der Fuge, in der sich der die Lichtung offenhaltende Mensch befindet. Diese Fuge ist außerhalb des durch die Fuge Gefügten, insofern sie nichts dieses Gefügten ist. Sie ist jedoch gerade das, was das Gefügte erst das Gefügte sein lässt, das Gefügte als das zugleich Getrennte und Vereinte, das nur im Getrenntsein vereint und nur im Vereint-sein getrennt sein kann. Auf seiner Fahrt in die Lichtung der Aletheia gelangt der Dichter in die Fuge des Gefügtseins, des Gefüges der Dinge. Er ist der dazu aufgerufene, die Vielzahl der Dinge in diese Fuge zu fügen, die nichts von diesem Gefüge ist. Als in diese Fuge Gerufener und sich wesenhaft in dieser Fuge Aufhaltender und der sie allererst die Fügsame sein lassende ist der Mensch zugleich immer schon wesenhaft auch außerhalb der Welt des Gefüges. In der Fuge freilich begegnen sich die Dinge und der Mensch als der das Gefügtsein der Dinge (wohlgemerkt nicht die Dinge) wahrnehmende und ins Licht hebende und somit erst das Gefügte sein lassende. Die Dinge begegnen sich erst dort, sind erst dort zusammengefügt, wo ihnen der Mensch begegnet. Die Dinge stehen im Licht, um dort dem Menschen begegnen zu können, ihm als Gelichtete vorliegen zu können, doch sie liegen ihm erst vor, wenn er sie im λέγειν als Wohlgefügte vorliegen lässt. Somit begegnen sich hier in der Lichtung hinter der Scheidung von Helle und Dunkel die Dinge, das denkende Wahrnehmen und der sich im denkenden Wahrnehmen (νοεῖν) konstituierende Anspruch des Seins (Logos) der Dinge im Ausspruch dieses Anspruchs gesammelt vorgelegt zu werden (λέγειν). In der Mitte der gelichteten Fuge west das Sein. Im Vernehmen des Zuspruchs des Seins als der Mitte des in der Fuge Gefügten verwahrt der Mensch das Fügliche der Fuge und entspricht im gesammelten Vorliegen-lassen des Seienden dem Anspruch des Seins. Die Fuge gründet die Selbigkeit des Unterschiedenen, als das Unterscheidende, das allem Unterschiedenen gemein ist und es als solches erst Unterschiedenes sein lässt. Als Unterschied waltet dieses Selbe bereits als Dike, als Schied an der Schwelle der Fuge. Im füglichen Lichten der Fuge waltet dieser Schied im Zusammen des Seins als des Gelichtetseins der Dinge für den im Licht stehenden Menschen und dessen Fähigkeit, diesem Gelichtetsein zu entsprechen, im Sehen (νοεῖν) der Selbigkeit im Unterschiedenen und dem Unterschiedenen des Selbigen. In der gelichteten Fuge waltet der Schied (Δίκη) als dasselbe (ταὐτόν) von sehendem Denken und gelichtetem Sein (τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστί τε καὶ εἶναι fr. 5). 98 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Heidegger und Parmenides
6.
Doxa und Sein, die beiden Wege des Denkens, das verschweigende Aussprechen des Seins als das Ungenannte im Genannten
Ich denke, das bisher Gesagte hat klargemacht, warum der Dichter im Mythos der Göttin von beidem, dem Seienden und dem bloß im Licht des Seins Scheinenden, erfährt. Das im Licht des Seins Scheinende ist dem Sein wesenhaft eingefügt, durchzieht das Sein als Gefüge als sein überall aufscheinender Abglanz. Er durchdringt das Sein überall so, dass er das Sein allererst als Gefüge des Vielen erscheinen lässt. Dieses Gefüge überstrahlt scheinbar das Sein so, dass das Scheinende zunächst das Seiende selbst zu sein scheint. In diesem seinem Abgetrenntsein vom Sein als der Quelle seines Scheinens wird er nicht in seiner Wesenhaftigkeit erfahren, es birgt geradezu die Gefahr, die Quelle des Gelichtetseins des Seienden völlig zu überstrahlen und somit gar zu verdunkeln und gänzlich zu verbergen. Um die Kunde vom Sein erfahren zu können, muss somit das Scheinende in seinem Wesen als Scheinenden, d. h. als das auf das Licht des Seins Angewiesene erfahren werden. Damit ist die Gliederung des Mythos der Göttin in zwei komplementäre Teile vorgegeben: einen ersten vom Herzen der Aletheia, dem Zentrum der Offenheit der Lichtung, und einen zweiten von der Doxa, dem im Licht des Seins Erscheinenden, das in sein Wesen als das Abkünftige gestellt erfahren werden muss. Der erste Teil der Rede geht, so wurde angekündigt, über das ›unerschütterliche Herz der Aletheia‹, ihm wohnt ›πίστις, ἀληθής‹, was ich einmal ›das das Zutrauen der Offenheit Gewährende‹ übersetzen will: dasjenige, was der δόξα abgesprochen wird (fr. 1,30). Die δόξα besitzt es nicht, da ihr das Zentrum fehlt, das ihrer Bahn einen Halt gewährt. Die Bahn, der die Füglichkeit des Gerichtetseins auf das Schickliche eigen ist, ist die Bahn um ein Zentrum, ihr Herz ist deshalb wohlgerundet. Das Sinnbild dieser nicht ins Nichtige hinaus sich verlierenden Bahn ist die Kreisbahn, die in ihrem Kreisen immer dieselbe bleibt, die immer dorthin zurückkehrt, von wo sie ausging, und so den Anfang im Ausgang wahrt. War im Prooimion des Gedichts von einer Fahrt die Rede, so ist nun im Mythos der Göttin ausdrücklich von Denkwegen die Rede, von ›ὁδοί διζήσιος‹ (fr. 4), Wege des fragenden Suchens. Die δίζησις, das ›fragende Suchen‹ impliziert ein Unschlüssig-sein, über die Richtung, die der Weg einschlagen soll. So wird der Weg, den der 99 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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Mythos der Göttin erheischt, antithetisch zu einem unschicklichen Gegenweg vorgestellt. Der Weg, der Kunde gibt vom Herzen der Ἀλήθεια, ist ein Weg, der ein Zentrum umkreist, nicht ein Weg, der auf ein Ziel geradewegs zugeht, bei einem Ziel ankommt, an dem er stehen bleibt, er ist ein Weg, der stets auf dem Weg bleibt. Dieser Weg erheischt ein λέγειν, d. h. ein Aussprechen dessen, was ihm andeutend zugewunken wird. Dieses Aussprechen ist das Aussprechen des Seins. Das Sein wird ausgesprochen, indem es dem Eon, dem als Seiendes Benannten zugesprochen wird (ἐὸν ἔμμεναι). Das Sein selbst kann nicht nennend ausgesprochen werden, niemals spricht Parmenides von τὸ εἶναι, ›das Sein‹. Das Sein wird niemals konzeptualisiert. Es kann nur im Seienden benannt werden, dieses Seiende wird benannt, indem ihm zugesprochen wird zu sein. Das fügliche λέγειν spricht also stets einem jeden sein Sein zu, sein Sein nicht als etwas Benennbares, sondern es spricht so vom Sein, dass es ein jedes sein lässt, es somit als Seiendes vorliegen lässt. Der Weg des füglichen Sprechens ist derjenige Weg, der ein jedes im Sein hält, niemals etwas vom Sein abschneidet und so das Seiende als etwas Ganzes bewahrt. Als dieses Ganze, das in seinem das Seiende Sein nur dieses eine Ganze ist, ist es selbst einer Kugel gleich, ist es dasjenige, was sich im Bereich der seienden Dinge in der Kugelgestalt ausdrückt, der Gestalt, die unter keinem anderen Aspekt betrachtet werden kann als dem der Ganzheit, die keine Perspektive zulässt, unter der sie anders, d. h. nicht als dieselbe Kugel erscheinen könnte. Deshalb kann die Kugel als Inbegriff der ursprünglichsten Verfasstheit der Dinge, der Verfasstheit, in der sie alle eins sind, gelten. Der Weg, der somit gefordert wird, ist das fügliche im Sein Halten der Dinge, das an den Dingen nichts anderes als ihr Sein sucht. Jegliches dem Seienden sein Sein Absprechen sowie jegliches das Sein einem Nicht-Seienden Zusprechen wird abgewehrt. Das zweite ist überhaupt unmöglich, denn das λέγειν bedeutet als Seiendes Vorliegen-lassen. Im Vorgelegt-werden im λέγειν konstituiert sich etwas als ἐόν, das μὴ ἐόν, das nicht Seiende kann nicht genannt werden, es ist im Nennen bereits ἐόν; dem ἐόν das Sein abzusprechen, ist ein unschickliches Sprechen. Es widerspricht dem Wesen des Sprechens und führt weg von der Bahn um die Mitte der Ἀλήθεια hinaus ins Nichtige. Dies ist die Bedeutung der doppelten Antithese, in welcher die beiden hypothetischen Wege des Denkens des Seins formuliert werden:
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Heidegger und Parmenides
1) 2)
dass ist und dass nicht ist, nicht zu sein (fr. 4,3) dass nicht ist und dass es schicklich ist, nicht zu sein (fr. 4,5)
Dieses Sprechen, das Sprechen vom Sein sagt alles als eines aus, als das eine unteilbare, ganze, unvergängliche zeitlose Seiende (ἐόν). Dieses Ἐόν erst lässt ein jedes sein, was es ist, erst in dieser ursprünglichen unteilbaren Einheit kann ein jedes sein, was es ist. Das Sein eines jeden ist Dasselbe, in dem ein jedes es selbst ist, dieses Selbe lässt ein jedes das andere als dasselbe sein. Das Seiendsein ist dasselbe, wo sich alles Verschiedene trifft, die Fuge, wo alles nebeneinander vorliegend es selbst ist im Berühren von allem anderen als dem anderen. In seinem es selbst, d. h. das andere von allem anderen Sein, ist alles dasselbe. Anders und selbig ist es dort, wo es das andere berührt, d. h. zugleich mit ihm zusammen und doch auch getrennt ist. Dieses Zwischen als das Verbindende, als das gerade im Anderssein dasselbe seinlassen ist die Fuge. Die Fuge, in der sich der Mensch in der Lichtung des Seins aufhält. Im Sehen des gelichteten Seienden ist er derjenige, der wesenhaft dieses Zwischen als gelichtete Fuge gründet, sein Geschick ist es, im λέγειν, dem lichtenden Vorliegen-lassen die Fuge offenzuhalten. Dieses λέγειν ist das dem Seienden das Sein Zusprechen. Es ist wichtig zu bemerken, dass somit das Sein, etwas Zu-, aber nie etwas Ausgesprochenes ist. Das Sein gründet das Seiende, es gibt ihm sein Seiendsein, dabei entzieht es sich selbst jedoch dem nennenden Zugriff. Das Sein bleibt das ewig Ungenannte, das in jedem Sprechen als Zugesprochenes mitgesagt, jedoch niemals nennend gesagt wird. Hier kommt die Grundverfasstheit des griechischen Seinsverständnisses bereits mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Wenn Aristoteles in der Metaphysik sagt, das Sein werde πολλαχῶς ›auf vielfache Weise gesagt‹, aber nicht homonym, sondern analog, so heißt dies: darin dass einem Ding, einem τόδε τί aristotelisch das Sein zugesprochen wird, ist ihm nicht immer dasselbe, es wird ihm je Verschiedenes zugesprochen. Freilich ist das, was ihm zugesprochen wird, dann nichts wesenhaft Verschiedenes, nur zufällig in der Lautung gleiches, es ist etwas, das zu jedem anderen Gebrauch des Wortes »sein« in einem Verhältnis steht. Dieses Verhältnis bezieht sich in je verschiedener Weise auf etwas, das in keiner der Aussagen ›sein‹ sein Zentrum hat, von dem es abgeleitet werden könnte, es hat sein rätselhaftes, unbenennbares, unfassbares Zentrum außerhalb des jeweils 101 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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im »sein« über Dinge Gesagten. Es ist selbst ein Unfassbares, Unbenennbares. Diese Stelle der unfassbaren, unnennbaren Mitte nimmt im Neuplatonismus das ἕν ein. Das Sein konstituiert sich dort immer als Seiendes; doch es tut dies, da es die sein lassende Mitte des ἕν umkreist. Diese Sein lassende Mitte ergreift das Denken nie, sagt kein Sagen je aus. Dennoch wird jedes Denken, jedes Sagen von dieser Mitte bestimmt, sie ist in jedem Denken und Sagen als Ermöglichendes stets mitgesagt und mitgedacht. Plotin drückt es an einer Stelle genau so aus, wie ich es hier für das Sein des Parmenides gesagt habe; er sagt: wir sprechen stets über das Eine, aber wir sprechen das Eine nie aus (Plotin V 1,9,11).
7.
Parmenides und wir heute
Ich mache einen Sprung. Parmenides ist ein Anfang des europäischen Seinsdenkens. Heute stehen wir, wie es scheint, nach Heideggers Neuanfang, in der Phase einer Appendix. Parmenides war ein Morgen, heute stehen wir am Abend, am späten Abend des europäischen Denkens. Parmenides geht einen Weg, der als Wagnis geschildert wird, der in der Gefahr des Scheiterns, des Abgrunds steht. Aber dennoch ist es getragen von der Gelassenheit der Nähe zum Göttlichen, das sein Gelingen verbürgt. Die Nähe zur Offenheit des Seins, der Mensch als der Hüter der Mitte der Lichtung, ist wie selbstverständlich zuallererst die Aufgabe menschlichen Denkens. Dem gegenüber ist die Kunde von der rein menschlichen Sicht der Welt in ihrer erscheinenden Vielheit nur eine Appendix, deren Notwendigkeit erst eigens begründet werden muss. Heute stehen wir an einem Punkt, wo das Denken, das, ohne schnell und im linearen Zugriff zu konkreten Ergebnissen zu kommen, über die Vielzahl der den Menschen bedrängenden Phänomene, ergebnislos um eine Mitte kreist, um den Menschen in einer Welt, in der sich ihm eine verlässliche, sich ihm zusprechende Wohnstatt bietet, zu halten, nicht mehr fragt. Das europäische Denken hat sich weit von seinem Ursprung entfernt, in tragische Abwege verrannt, Abwege, die Ausdruck des sich entziehenden Wesens des Seins sind. Der grauenhafteste Abweg war und ist derjenige des institutionalisierten Christentums. Niemand hat es deutlicher gesehen als Heidegger in den ›Schwarzen Heften‹ ; nie 102 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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ist es offenkundiger als heute, dass das Christentum die Tragik Europas war und ist. Das Wagnis, an den Abgrund heranzutreten, in ihn zu schauen, ist heute unendlich viel größer: es könnte einem so erscheinen, als sei das gesamte europäische Denken die Geschichte eines von Grund auf verkorksten Denkens. Ein Denken, das die Welt (nicht nur uns) nicht zuletzt in den Abgrund zweier Weltkriege gerissen hat, das, ohne dass es jemand zu bemerken scheint, uns gerade heute in einen noch grauenhafteren dritten reißt, der längst begonnen hat und sich im täglichen Massenmord, an dem wir alle mitwirken, verwirklicht. Demjenigen, der in diesen Abgrund sieht, fällt es schwer, noch an das Rettende im Wachsen der Gefahr zu glauben. Und wer wagt es heute überhaupt, in diesen Abgrund zu schauen? Denken ist heute verboten, wer es wagt, wird selbst posthum verfemt, wie Heidegger, der es gewagt hat sich nicht zum billigen Hofapologeten der repräsentativen Demokratie zu erniedrigen. Wer es heute tut, outet sich im heutigen Pseudophilosophiebetrieb, der bestimmt ist von der spießigen Herabwürdigung der Philosophie zur geistlosen akademischen Magd eines verkommenen gesellschaftlichen Establishments. Er hat in diesem Betrieb keinen Platz. Das Denken des Seins in Heideggers Sinne ist heute hochexplosiv, es taugt nicht zur Verwertungsphilosophie weder des traditionell akademischen Denkens noch des journalistischen Bullshits des heutigen Pseudodenkens. Wer sich den heutigen Zustand moralisch, geistig und physisch anschaut, der kann kaum umhin, dieses Europa aufzugeben. Aber vielleicht hat gerade da Parmenides’ Offenbarung des göttlichen Zuspruchs ihren Platz. Der europäische Mensch und sein Gott sind gründlich gescheitert, und gerade deswegen kann sich Europa aus sich selbst heraus nicht retten. Nur ein Gott kann uns retten, hat Heidegger noch gegen Ende seines Lebens in seinem berühmten Spiegelinterview gesagt. Gott ist uns heute, wo der europäische christliche Gott zum Popanz verkommen ist, ferner denn je. Aber vielleicht kann gerade so, im Aushalten jener äußersten Ferne, als der Weise, in der das Göttliche heute allein anwesend ist, jenes Rettende uns doch noch begegnen. Nur aus dem Fernsten her kommt die Erneuerung, hat Stefan George gesagt, der Dichter der den Abgrund des europäischen Denkens und seines Scheiterns in der Gewalt des 1. Weltkriegs und seiner Ahnung des kommenden zweiten wie kein anderer erfahren und verarbeitet hat, der gesagt hat: Reiß mich an deinen Rand Abgrund, doch wirre mich nicht. 103 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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Er hat in kalter Zeit das Feuer der Nähe zur Wohnlichkeit des Seins, das heilige Feuer bewahrt und in dunkelster Zeit weiterzugeben versucht. Er hat das stete Umkreisen der Flamme immer wieder dichterisch gestaltet: etwa im Stern des Bundes in den Versen ›Wer je die Flamme umschritt …‹ und manch anderem Gedicht. Ich stelle hier eines seiner letzten ans Ende meines Vortrags. Es ist eines jener kleinen ›Lieder‹ vom Ende des ›Neuen Reiches‹, geschrieben im Angesicht tiefster Einsicht in die Ausweglosigkeit der Katastrophe, die der Nationalsozialismus über Deutschland bringen würde, und zugleich Ausdruck einer letzten Einfachheit und Gelassenheit des Dichters. Es ist dies die Gelassenheit und gelassene Zuversicht des Einfachen, des Verzichts im Angesicht der Zerstörung des Denkens der Mitte: es stellt sich diesem zerstörerischen Potential des Denkens und es stellt sich auch dem gelassenen Verzicht auf die Überwindung der Ferne der Entzüglichkeit des zu Denkenden: er dichtet die Verwindung des Einfachen. Wenn es eine Haltung gibt, die uns bereit macht, vielleicht doch im Äußersten der Gefahr den Zuspruch des rettenden Gottes aus der Ferne zu vernehmen, so ist es diese: Wir sind in trauer wenn uns minder günstig Du dich zu andren mehr beglückten drehst Wenn unser geist nach anbetungen brünstig An abenden in deinem abglanz west. Wir wären töricht wollten wir dich hassen Wenn oft dein strahl verderbendrohend sticht Wir wären kinder wollten wir dich fassen – Da du für alle leuchtest süsses Licht!
Literatur: Günther, H.-C. (1998), Das Prooemium des Gedichts des Parmeindes (Berlin) Günther, H.-C. (2001), Grundfragen des griechischen Denkens (Würzburg)
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Dietmar Koch
Kunst-Werke im technisch-funktionalen Zeitalter Versuch einer Ortsbestimmung
Würde sich ein Denkender in Auseinandersetzung mit dem Heideggerschen Werk die Frage stellen, ›ob es im Zeitalter des Ge-stells Kunst geben könne‹, sowie den Titel unseres Beitrages zur Kenntnis nehmen: »Kunst-Werke im technisch-funktionalen Zeitalter«, wäre wahrscheinlich die erste Vermutung, dass es sich um das Selbe handelt. Frage und Titel sind in ihrer Offenheit und Mehrbezüglichkeit unzweideutig der Thematik der Seinsgeschichte in Martins Heideggers Verständnis zugehörig. 1 Die hier auftauchenden Worte »Kunst« und »Kunst-Werke« scheinen in diesem Zusammenhang gleichbedeutend zu sein, analog dem »Zeitalter des Ge-stells« und dem »technisch-funktionalen Zeitalter«. Wir werden jedoch sehen, dass sich dies aufgrund von Heideggers Entwurf von Seinsgeschichte gänzlich anders verhält. Unser Beitrag gilt im Lichte dieses seinsgeschichtlichen Verständnisses dem auf den ersten Blick befremdlich-gegenstrebigen Spannungsverhältnis von »Kunst« und »Kunst-Werk«. Klären wir dazu jedoch zuallererst einige der vielbezüglichen Voraussetzungen des Heidegger’schen Entwurfs von »Seinsgeschichte« – soweit dies überhaupt ein Beitrag dieser Art erlaubt. Heideggers Begriff von Seinsgeschichte fußt auf einer bestimmten Differenzierung bzw. Ausdifferenzierung des berühmten Satzes des Parmenides »τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι« – Denn das Selbe ist sowohl Gewahren (Vernehmen/Denken) wie auch Sein. 2 Aufgrund dieser untrennbaren wechselseitigen ZusammenBesonders instruktiv zur Auseinandersetzung mit dem Heidegger’schen Verständnis von Seinsgeschichte: Damir Barbarić: Zum anderen Anfang. Studien zum Spätdenken Heideggers. Freiburg i. Br. 2016, sowie ders.: Aneignung der Welt. Heidegger – Gadamer – Fink. Frankfurt a. Main 2007; des Weiteren: Cathrin Nielsen: Die entzogene Mitte. Gegenwart bei Heidegger. Würzburg 2003 sowie Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk. Hamburg 2014. 2 Parmenides, Diels-Kranz, Fr. B 3. Die Übersetzungen der Parmenides-Zitate verantwortet der Autor. Der griechische Text entstammt der Ausgabe: Die Vorsokratiker. 1
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gehörigkeit von Denken, noein, und Sein, einai, heißt es im Fragment B 8, Verszeile 34 bis 37: Parmenides (Diels, Fr. B 8, v. 34 – 41) [34] ταὐτὸν δ’ ἐστὶν νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα. [35] οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧι πεφαντισμένον ἐστιν, [36] εὑρήσεις τὸ νοεῖν· οὐδὲν γὰρ [ἢ] ἔστιν ἢ ἔσται [37] ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος […] »Und das Selbe ist das Gewahren (Vernehmen/Denken) und das, um dessentwegen das Gewahrte (Vernommene, Gedachte) ist. [35] Denn nicht ohne das Sein, in dem es ausgesprochen ist, findest du das Gewahren (Vernehmen/Denken). Denn es ist nichts und es wird nichts sein außer des Seins […]«
Heidegger nimmt die geschichtliche Differenzierung und Ausdifferenzierung dieses abgründigen Grundverhältnisses in vielen Schriften vor, ausführlich im dritten der fünf »Freiburger Vorträge« 3. Dieser Vortrag wurde dann in der Einzelveröffentlichung unter dem Namen von »Der Satz der Identität« berühmt. Sein geschieht, ereignet sich durch das noein, durch das Denken hindurch aufgrund des gelichteten Seins. Sein geschieht als es selbst, indem es gedacht, gesagt wird. Gedacht wird es – wie das zweite zitierte Fragment sagt – um des Seins, um der zu denkenden Sache wegen. Seinsgeschichte ist Denkgeschichte, Denkgeschichte ereignet sich der Seinsgeschichte wegen. Sein ist dabei immer schon – für Heidegger – aus der Differenz von Sein und Seiendem gedacht. Seiendes steht im Sein, Sein selbst trägt sich im Seienden aus. Dass sich dies als solches ereignen kann, dazu bedarf es des Denkens. Zum Seinsgeschehen qua Denkgeschehen gibt es für Heidegger wie für Parmenides kein Außerhalb. Wäre ein Außerhalb des Seinsgeschehens, dann müsste dieses Außerhalb auch irgendwie »sein« und dann stünde es zwingenderweise nicht außerhalb von »Sein«. Alles, was irgendwie ist, auch das Trügerische und das Verstellende als Seinsmögliches – etwa die doxai (Meinungen) der brotoi, der Sterblichen, Griechisch/Deutsch. Herausgegeben von Jaap Mansfeld u. Oliver Primavesi. Stuttgart 2011, S. 322 u. 328. 3 Martin Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge. Gesamtausgabe Band 79. Frankfurt am Main 1994, S. 115–129. Zitate aus den Bänden der Gesamtausgabe werden in diesem Beitrag mit der Abkürzung »GA« mit Bandnummer und Seitenangabe versehen, Zitate aus den Einzelausgaben mit »EA« und Seitenangabe.
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Kunst-Werke im technisch-funktionalen Zeitalter
wie Parmenides es ausführt, gehören in dieses eine einzige Verhältnis von Denken und Sein. Wir als Denkende sind Moment dieses unentrinnbaren Grund-Verhältnisses, diesem unaufhebbar zugehörig – solange wir sind, das heißt, Vernehmen, Gewahren, Denken sich ereignet. Nicht es gehört zu uns, sondern wir gehören in dieses Geschehen, ob wir wollen oder nicht. Mit »Sein und Zeit« gesprochen: wir finden uns in diesem Verhältnis vor, wir sind als seinsverstehende und je schon seinauslegende Wesen in dieses Verhältnis »geworfene«. Seinsgeschichte ist hier nie etwas Vergangenes, sondern etwas im Gewesenen, Gegenwärtigen und Kommenden zugleich Aufgespanntes. Diesem Aufgespannten gehören wir zu. In dem erwähnten dritten Freiburger Vortrag »Der Satz der Identität« sowie in den anderen vier Vorträgen wird Heidegger dieses Grundverhältnis von Denken und Sein als ein durch die Sprache gehaltenes Verhältnis bestimmen. »Das Wesen der Sprache ist das Haltende im Verhältnis, das Sein und Denken in ihrem Zusammengehören zueinander hält« (GA 79, 167). In der Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis erfahren wir – so Heidegger –, dass »wir selber in dieses Verhältnis gehören, indem wir darin gebraucht, es bewohnen und an ihm bauen. Das Verhältnis von Denken, Sein und Sprache liegt uns also nicht gegenüber. Wir sind selber in es einbehalten. Wir können es weder überholen, noch auch nur einholen, weil wir selber die in dieses Verhältnis eingeholten sind« (ebd.); oder mit einem Satz aus »Unterwegs zur Sprache« im Kontext des Verhältnisses von »Zuspruch und Entsprechung«, hier als »Sage und Nachsagen« gefasst: »Das Sprachwesen vermögen wir nicht zu umblicken, weil wir, die wir nur sagen können, indem wir die Sage nachsagen, selbst in die Sage gehören« (EA, 265) 4. Das erwähnte Bauen an diesem Verhältnis bedeutet, das Sein im Sagen von ihm zu ihm je und je zu gründen. Diese Gründungen des Seins sind seine geschichtlichen Prägungen, wie Heidegger in dem Beitrag »Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik« ausführt: »Unendlich unmöglicher bleibt es, ›das Sein‹ als das Allgemeine zum jeweiligen Seienden vorzustellen. Es gibt Sein nur je und je in dieser und jener geschicklichen Prägung: Physis, Logos, Hen, Idea, Energeia, Substanzialität, Objektivität, Subjektivität, Wille, Wille zur Macht, Wille zum Willen. Aber das Geschickliche gibt es nicht aufgereiht wie Äpfel, Birnen, Pfirsiche, aufgereiht auf dem Ladentisch des historischen Vorstellens. Doch hörten wir nicht vom Sein 4
Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1975.
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in der geschichtlichen Ordnung und Folge des dialektischen Prozesses, den Hegel denkt? Gewiß. Aber das Sein gibt sich auch hier nur in dem Lichte, das sich Hegels Denken gelichtet hat. Das will sagen: Wie es, das Sein sich gibt, bestimmt sich je selbst aus der Weise, wie es sich lichtet. Diese Weise ist jedoch eine geschickliche, eine je epochale Prägung, die für uns als solche nur west, wenn wir sie in das ihr eigene Gewesen freilassen« (EA, 58 f.) 5. Zu unserer Geworfenheit in das Seinsgeschehen gehört also je schon die Zugehörigkeit zu epochalen Prägungen des Seins, zu gegründeten Auslegungsweisen, in denen wir und mit denen wir zuerst aufwachsen. Epochale Prägungen des Seins nennt Heidegger auch Weltbildungen 6. Das Sein als »das Seiende als solches im Ganzen« prägt sich in Weltbildungen aus. Weltbildungen sind Weltgründungen. In unserem seinsverstehenden In-der-Welt-sein sind wir zu Beginn als Geworfene und uns Vorfindende je schon Seinsgründungen als Weltgründungen ausgesetzt. Wir verstehen uns selbst sowie die Anderen und Anderes immer schon aus einem gegründeten Gesamtzusammenhang heraus, aus einer Welt. Dieses Weltverhältnis entscheidet stets mit über unser geschichtliches In-der-Welt-sein, ohne je ein Verhängnis zu sein. Weltbildungen als Gründungen des Seins sind Gründungen unseres Sagens gemäß der Weise, wie sich uns »das Seiende als solches im Ganzen« in den jeweiligen geschichtlichen Situationen und Konstellationen über-zeugend zeigt, überzeugend gelichtet hat. Die Gründungen waren in unserer bisherigen Erörterung dem sagenden Denken vorbehalten, jedoch wird – wie wir gleich sehen werden – das »Dichterische« als Gesang in seiner Nachbarschaft zum Denken von Beginn der dreißiger Jahre an – veranlasst durch Heideggers Hölderlin-Auseinandersetzung – ausdrücklich miteinbezogen. So kann es in einer kleinen Schrift aus der Mitte der vierziger Jahre »Das Wesen der Philosophie« heißen: »Weil das Denken und das Singen im Element des Wortes wesen, ist das Denken und ist das Singen ein Sagen. Doch das Sagen empfängt den Wink und den Klang der Stille. Es ist das Gegen-wort zum Wort des Seyns. Das Sagen ist Antwort und keineswegs Ausdruck durch Sprache. Denn im Sagen wird erst Sprache. […] Die Sage ereignet sich als Gedanke Martin Heidegger: Identität und Differenz. Pfullingen 1982. Siehe hierzu die Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30 »Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit«, GA 29/30, S. 397 ff.
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und als Gesang. […] Indem die Sage des Denkens und Singens fügsam fügend das Wort nachsagt dem Winken und dem Klingen der Stille, sagt sie das Wort der Sprache vor und erfüllt deren Ahnden. Also nachsagend-vorsagend ›diktiert‹ das Denken und das Singen im Gedanken und im Gesang das Wort in die Sprache. Denken und Singen sind das antwortende Diktat der Stille. Dictare heißt in unserer Sprache: Dichten. Sage bedeutet hier: Nachsagendes Vorsagen des Wortes in die Sprache. Das verborgene Wesen des Denkens und Singens ist die Dichtung. In ihr beruhen Gedanke und Gesang. In ihr beruht vordem das Verhältnis beider« (GA 73.1, 675 f. – »Das Wesen der Philosophie«). Mit anderen Worten: Denken ist in einem weiten Sinne ein Dichten. Das »Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde« Hölderlins wird also in der Heidegger’schen Auslegung das Denken und das Singen, den philosophischen Gedanken und den Gesang des Wesenhaften umfassen. Dieses nachbarschaftliche Verständnis von Denken und Dichten im engeren Sinne des Singens erlaubt nun Heidegger folgende Ausführung in seiner Vorlesung zu Hölderlins Gedicht »Andenken« aus dem Jahre 1941/42: »›Der Ister‹ (IV, 220), beginnt also: Jezt komme, Feuer! Begierig sind wir Zu schauen den Tag, …
Aber mit dem Feuer und der Sonne ist es wie mit dem Wind, dem Nordost, die wir aus einer uns gewohnten Geläufigkeit her ›zunächst‹ für Naturdinge nehmen. So blickend sind wir versucht zu sagen, Sonne und Wind geben sich als ›Naturerscheinungen‹ und bedeuten dann ›auch noch‹ etwas anderes; sie sind uns ›Symbole‹. Wenn wir so reden und meinen, halten wir für ausgemacht, daß wir ›die‹ Sonne und ›den‹ Wind ›an sich‹ kennen. Wir meinen, daß auch frühere Volks- und Menschentümer ›zunächst‹ ›die Sonne‹ und ›den Mond‹ und ›den Wind‹ kennen lernten und daß sie dann außerdem noch diese angeblichen ›Naturerscheinungen‹ als ›Bilder‹ für irgendwelche Hinterwelten benutzten. Als ob nicht umgekehrt erst ›die‹ Sonne und ›der‹ Wind je schon aus einer ›Welt‹ zur Erscheinung kommen und nur sind, was sie sind, sofern sie aus dieser ›Welt‹ gedichtet werden, wobei noch offen bleiben mag, wer hier dichtet. […] Die ›astronomische‹ 109 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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Sonne und der ›meteorologische‹ Wind, die wir Heutigen fortschrittlicher und besser zu kennen wähnen, sind nicht weniger, nur unbeholfener und undichterischer, gedichtet als das ›Feuer‹ im Gedicht. Das Dichten der Astronomie und Meteorologie, das ›Dichten‹ der neuzeitlichen Naturerklärung ist von der Art des Rechnens und Planens. Planen ist auch ein Dichten, nämlich das Gegenwesen und Abwesen der Dichtung. Auch wenn das jetzige und das nächste Menschentum bis ins Äußerste technisiert und gerüstet ist auf einen Zustand des Erdballs, für den überhaupt die Unterscheidung von ›Krieg und Frieden‹ zu den abgelegten Sachen gehört, auch dann noch lebt der Mensch ›dichterisch‹ auf dieser Erde … aber im Gegenwesen der Dichtung und deshalb unbedürftig und darum auch unzugänglich für deren Wesen« (GA 52, 39 f.). Der für uns entscheidend neue Aspekt, der hier auftaucht – und den wir im Folgenden einzig aufnehmen –, ist das Verhältnis von Wesen und Unwesen der Welt-Gründungen. Vereinfacht ausgedrückt: die verschiedenen Weisen, »das Seiende als solches im Ganzen« zu gründen, sind nicht alle in gleicher Weise »gut«. Heidegger schließt sich hier mit Hegels »Phänomenologie des Geistes« und Marx’ Theorie der Entfremdung dem Umstand an, dass es auch »negative« Gründungen des »Seienden als solchen im Ganzen« geben kann – mögen sich diese auch später erst als solche eigens herausstellen. Diese »negativen« Gründungen sind jedoch Weisen des Seins selbst, dem Sein selbst zugehörig. Sein vermag sich somit selbst entfremdet zu sein. Auf dieses komplexe Theorem, seine Voraussetzungen und Einschlüsse der – nennen wir es – »Selbstentfremdung« des Seins aufgrund von Verstellungen und Weisen des Entzuges, des Sich-selbstGefahr-Seins des Seins – das Heidegger in dem Bremer-Vortrag »Die Gefahr« ausführlich erörtert – können wir hier leider nicht eingehen. Dies, dass das Sein selbst in seinem Wesen und Unwesen sich in seinen Gründungen selbst frei gegeben ist, das heißt sich eigens finden und auch verlieren kann bzw. sich erst »spät« als Ganzes eigens erfasst, wird also eine unerörterte Voraussetzung unserer Ausführungen bleiben müssen. Blicken wir auf die ausgearbeitete Grundfigur der Heidegger’schen Seinsgeschichte in ihrer Entfaltungsbreite, dann ist das Spannungsfeld gehalten vom sogenannten Ersten Anfang in der abendländischen Gründungsgeschichte des Seins – bestimmt durch aletheia 110 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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und physis (Anaximander, Parmenides, Heraklit) –, der zunehmenden Entzugsgeschichte der aletheia und physis in der von Heidegger sogenannten Metaphysik von Platon bis Nietzsche und dem sogenannten Anderen Anfang als gewandelter und erweiterter Aufnahme des Ersten Anfangs unter Einbeziehung der Entzugsgeschichte des Ersten Anfangs namens Metaphysik. Diese Entzugsgeschichte hat im von Heidegger sogenannten »stellenden Entbergen« seinen Höhepunkt. Die gesammelten Weisen des Stellens tragen den Namen »Ge-stell«, den Namen unseres technisch-funktionalen Zeitalters. Diese dem Sein selbst zugehörige Entbergungsweise ist bestimmt von den Begegnungs- oder Entbergungsweisen des Planens, des Sicherns, des Steuerns und Beschleunigens im Kontext der durchgängigen Berechen- und Beherrschbarkeit von allem und jedem Seienden. Hierher gehört auch, dass alles auf seine Funktionalität und Ersetzbarkeit hin bestimmt wird. Alles wird zum ersetzbaren Bestand. Dem stellenden Entbergen eignen Gleichschaltungs- und Einebnungstendenzen. Ihm ist in Gestalt des »Gevierts« das schonende Entbergen entgegengesetzt. Auch diese Auseinandersetzung müssen wir hier notwendigerweise auf sich beruhen lassen, auch wenn wir gezwungen sind, von ihr Gebrauch zu machen. Dem stellenden Entbergen eignet jedoch nicht – und dies ist hier entscheidend – das Selbstverständnis, stellendes Entbergen zu sein. Hören wir zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes eine Passage aus Heideggers Vortrag »Die Frage nach der Technik«: »Waltet jedoch das Geschick in der Weise des Ge-stells, dann ist es die höchste Gefahr. Sie bezeugt sich uns nach zwei Hinsichten. Sobald das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern ausschließlich als Bestand den Menschen angeht und der Mensch innerhalb des Gegenstandlosen nur noch der Besteller des Bestandes ist, – geht der Mensch am äußersten Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden soll. Indessen spreizt sich gerade der so bedrohte Mensch in die Gestalt des Herrn der Erde auf. Dadurch macht sich der Anschein breit, alles, was begegne, bestehe nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei. Dieser Anschein zeitigt einen letzten trügerischen Schein. Nach ihm sieht es so aus, als begegne der Mensch überall nur noch sich selbst. Heisenberg hat mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß sich dem heutigen Menschen das Wirkliche so darstellen muß (a. a. S. 60 ff.). Indessen begegnet der Mensch heute in Wahrheit nirgend mehr sich selber, d. h. seinem Wesen. Der Mensch steht so entschieden im Gefolge der Herausfor111 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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derung des Gestells, daß er dieses nicht als einen Anspruch vernimmt, daß er sich selber als den Angesprochenen übersieht (Herv. v. m.) und damit auch jede Weise überhört (Herv. v. m.), inwiefern er aus seinem Wesen her im Bereich eines Zuspruchs ek-sistiert und darum niemals nur sich selber begegnen kann« (EA, 30 f.) 7. Halten wir fest: es besteht die scheinbar paradoxe Lage, dass es in den Gründungen des Seins so aussehen kann, als ob Sein nicht wäre, als ob Sein ein bloßes in unsere Sprache gebrauchtes nützliches WortInstrument sei und es eigentlich nur Seiendes gibt, das unserer zunehmenden Beherrschbarkeit unterliegt. Seins-Entzug und Seinsverlassenheit des Seienden vom Sein sind nunmehr das Bestimmende. In Wahrheit herrschen jedoch eine Verstellung und ein Entzug von Sein – es ist keineswegs nichts mit dem Sein, wie der Anschein es geltend macht. In diesem Kontext ist das eigentliche Theorem unserer Ausführungen verortet. Wir beziehen und beschränken uns im Folgenden auf Passagen aus dem Manuskript »Besinnung« (1938), genauer auf den Abschnitt 11. im 2. Kapitel des Manuskripts »Die Kunst im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit« und auf Passagen aus den »Schwarzen Heften« aus dem gleichen Zeitraum, der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, genauer auf die Seiten 64 bis 68 und 88 bis 92 in den »Überlegungen VIII« im Band 95 der Gesamtausgabe. Die Passagen aus dem Manuskript »Besinnung« verweisen explizit auf die ergänzenden Stellen in diesem »Schwarzen Heft«. Die hier aufzuklärende und zu erörternde These findet sich im ersten Satz des genannten 11. Abschnittes namens »Die Kunst im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit«. Das Zeitalter der Vollendung der Neuzeit ist dasjenige Weltalter, das später »Ge-stell« genannt wird, es ist das »technisch-funktionale«. Begrifflich nennt Heidegger dieses Zeitalter in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre das »Zeitalter der Machenschaft« bzw. »das machenschaftliche Zeitalter«. Der Satz, der uns unmittelbar zum Beginn unseres Beitrags – dem Spannungsverhältnis von Frage und Titel – zurückführt, lautet: »Die Kunst vollendet in diesem Zeitalter ihr bisheriges metaphysisches Wesen. Das Zeichen dafür ist das Verschwinden des Kunstwerkes, wenngleich nicht der Kunst« (GA 66, 30). Nähern wir uns langsam der Grundfigur, die hinter dieser These 7
Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1991.
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steckt. Die sogenannte Metaphysik als die Entzugsgeschichte des Ersten Anfangs ist bestimmt von der Prägung des Seins als Seiendheit gegenüber dem Seienden, ist geprägt vom Unsinnlichen als platonischer idea (Seiendheit) gegenüber dem Sinnlichen, dem einzelnen Seienden als eikon. Auch die dieser seinsgeschichtlichen Phase zugehörige Weise des Dichtens ist von dieser Ausprägung der Differenz von Sein und Seiendem bestimmt. Sein kommt hier explizit als unsinnliche Seiendheit des sinnlichen Seienden zur Sprache. Von daher gibt es für Heidegger hier noch so etwas wie metaphysisch-ästhetisch geprägte Kunst-Werke. Im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit als der Endgeschichte der Metaphysik jedoch verschwindet der WerkCharakter der Kunst. Warum? Im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit entzieht sich das Sein in der Prägung der Seiendheit: »So entsteht ein geschichtlicher Zustand, in dem das Seyn nicht einmal mehr wie die Verflüchtigung des blassesten Schattens eines leeren Traumes sich ausnimmt; Seyn – ein verklingender letzter Nachhall eines bloßes Wortschwalles – und die Frage darnach? nicht einmal ein Irrtum – nur eine Gleichgültigkeit« (GA 66, 40). Seyn verschwindet anscheinend in der reinen Machenschaft des Seienden, analog zu der Passage aus »Die Frage nach der Technik«, in der es so aussieht, als ob es nur den Menschen und seine Beherrschung des Seienden geben würde. Der Anschein macht sich breit, als ob sich keine Entbergungsweisen des Seienden als solchen im Ganzen ereignen würden. In diesem äußersten Seinsentzug – in dem es so aussieht, als ob nur das Seiende und die das Seiende produzierenden und konsumierenden Menschen herrschen – »wirkt« Sein anscheinend überhaupt nicht. Diese anscheinende »Wirkungslosigkeit« bringt nichts vom Sein als Sein eigens hervor – nicht einmal etwas durch die Seiendheit »Gewirktes«. Hören wir hierzu eine Passage aus den »Überlegungen VIII« der »Schwarzen Hefte«: »Wenn einer bloß wirkt und sogar viel wirkt, aber dabei immer nur das ›ist‹, was alle schon ›sind‹, dann fehlt ihm alles zur Einzigkeit, d. h. zu einer ursprünglichen Zugehörigkeit zum Seyn. Und wenn ›die Kunst‹ zum Ausdrucksmittel und zur Bestätigung und Vor-stellung dieses Wirkens geworden ist, hat sie ihre letzte Nutzbarkeit erreicht und die Vernutzung ihres Wesens ist am Ziel. – Was aber meint das Andere der Kunst? Das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Wahrheit aber bedeutet hier die Wahrheit des Seyns und nötig wird, daß das Sein selbst, was seines Wesens ist, uns ent-setze aus dem Vorrang des Seienden (und somit der Metaphysik). Das 113 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Dietmar Koch
›Werk‹ aber ist Wirkung ›des‹ Seyns (im Sinne des seynsgeschichtlichen Genitivs), nicht Darstellung des Seienden. Die ›Wirkung‹ des ›Seyns‹ aber kann nicht Ergebnis und Folge einer Ursache sein, sondern Er-wirkung des ›Zwischen‹ – Versetzung in den Zeit-SpielRaum der Entscheidung zwischen den Göttern und den Menschen – Anfang der Geschichte« (GA 95, 137). Das Wirken des Seins als Sein vermag Kunst-Werke als Entsprechungen des Wirkens des Seins zum Vorschein kommen lassen. Auch in der Entzugsgeschichte namens Metaphysik gibt es in der Gestalt des Seins als Seiendheit noch ästhetisch-metaphysische Werke – mithin Bezugs-Verhältnisse zum Ersten Anfang. In der vollendeten Entzugsgeschichte des Seins jedoch verschwindet Sein anscheinend zugunsten des reinen Vorrangs des Seienden und seine Beherrschung durch den Menschen. Dann vermag es auch keine Kunst-Werke – und wir können ergänzen auch keine Gedanken-Werke – mehr zu geben, weil das Sein selbst anscheinend in die völlige Wirkungslosigkeit versunken ist. Sein bringt als solches kein Gewirktes – kein Ge-webe seiner selbst als es selbst –, kein Werk mehr hervor. Somit gibt es in der Vollendung der Neuzeit als dem Höhepunkt der Metaphysik konsequenterweise nur noch Kunst, aber keine Kunst-Werke. Dies ist die genau gedachte Grundfigur des Verschwindens der Werke aufgrund der Herrschaft des Seins-Entzuges und der Seinsverlassenheit des Seienden. In der Kunst – so heißt es in »Besinnung« – »bleibt Schönheit auch jetzt noch – gemäß dem in der Vollendung sich vollends erfüllenden metaphysischen Charakter der Kunst – die Grundbestimmung. Schön ist, was dem Machtwesen des Raubtiers Mensch gefällt und gefallen muß, hinter der Grundbestimmung verbirgt sich aber schon ihr übergängliches Wesen, sofern im Verschwinden des Werkes zugunsten der reinen Machenschaft eine Verfestigung der völligen Seinsverlassenheit des Seienden sich vollzieht. […] Die Kunst wird wieder – aber nicht im bloßen Rückfall, sondern in der Vollendung – zur techne in der Gestalt freilich der neuzeitlichen Technik und Historie. Sie ist eine Einrichtung der unbedingten Zustellung der Machbarkeit des Seienden in der Gestalt ihrer Eingepaßtheit in die Machenschaft, d. h. in ihre Gefälligkeit« (GA 66, 30). Der sich entziehende Werk-Charakter der Kunst aufgrund des Nichtangesprochenseins vom Sein als Sein führt in der Vollendung der Metaphysik zur Wirkungslosigkeit des Seins als anscheinend bloßes benutzbares Wort-Werkzeug und somit zur Aufhebung des 114 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Kunst-Werke im technisch-funktionalen Zeitalter
Kunst-Werkes als etwas Seins-Gewirktes bzw. -Erwirktes. Werfen wir hierzu zusammen mit dem Manuskript »Besinnung« einen Blick nach vorne. »Die seynsgeschichtliche Frage nach dem ›Werk‹ hat jedoch einen ganz anderen Sinn, sobald dieses in seinem Wesen zusammengesehen wird mit dem Seyn selbst und der Gründung seiner Wahrheit. Das Werk selbst erfüllt jetzt die Wesensaufgabe, jene Entscheidung zum Seyn mit zu entfalten. Das Werk ist weder sinn-bildlicher Gegenstand [Metaphysik] noch Anlage der Einrichtung des Seienden [Vollendung der Metaphysik], sondern Lichtung des Seyns als solchen, welche Lichtung die Entscheidung zu einem anderen Wesen des Menschen enthält. Die Kunst hat jetzt Da-seinscharakter: sie rückt aus allen Bemühungen um ›Kultur‹ heraus, gehört weder vollzugs- noch aneignungsmäßig dem Menschen, sie ist eine Entscheidungsstätte der seltenen Einzigen; das ›Werk‹ ist die Sammlung der reinsten Einsamkeit auf den Abgrund des Seyns; das Schaffen wird weder vom ›Ruhm‹ noch von der Nichtbeachtung berührt; es bleibt dem Wesen nach der ›Öffentlichkeit‹ sowohl wie dem ›privaten‹ Spiel entzogen und gehört einzig der Inständigkeit im Untergang, der allein wesensgerechte Geschichte werden kann, die eine (Herv. v. m.) Lichtung des Seyns zurückläßt« (GA 66, 37).
Wehren wir zum Schluss ein Missverständnis ab, das sich in einer seinsgeschichtlichen Erörterung leicht einstellen kann. Das Missverständnis könnte darin gründen, dass geschichtlich erst das eine ist und dann das andere kommt. In Bezug auf die Folge von epochalen Herrschaftsverhältnissen als Auslegungsweisen des »Seienden als solchen im Ganzen« mag dies stimmen. Gemeinschaften und Völker sind notwendigerweise von epochalen Gründungen ihres unaufhebbaren Seinsverstehens maßgeblich bestimmt. Diese Seinsgründungen sind genauer gesagt Welt-Gründungen. Alle Handelnden und Gestaltenden leben von einem gegründeten Weltverstehen, in dessen Namen sie sich selbst und anderes begegnen lassen. Dieses Weltverstehen unterliegt geschichtlich jedoch stets dem Wandlungsmöglichen des Seins selbst. Doch die herrschende Auslegungsweise unserer Zeit – das »technisch-funktionale Zeitalter« – schließt gegründete, jedoch nichtherrschende Welt-Entwürfe im Zeitgenössischen keineswegs aus. Heideggers Denken fand im Durchdenken der herrschenden Weltweise des technisch-funktionalen Zeitalters zu einer gänzlich gewandelten Weise, Welt in Gestalt des »Gevierts« entwerfen zu können. Analog dazu mag es im technisch-funktionalen Zeitalter des Ge-stells werk115 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Dietmar Koch
lose Kunst und durch das Seyn selbst als es selbst er-wirkte und gewirkte Kunst-Werke geben. Letzteren könnte die Zukunft gehören, auch wenn es gleichsam »klein« und »herrschaftslos« anfängt. Auch der heute herrschende Welt-Entwurf hat »unscheinbar« angefangen. Im Brief Heideggers an Hartmut Buchner, dem »Brief an einen jungen Studenten« als dem Nachwort zum Vortrag »Das Ding«, heißt es: »Im Geschick des Seins gibt es nie ein bloßes Nacheinander: jetzt Gestell, dann Welt und Ding, sondern jeweils Vorbeigang und Gleichzeitigkeit des Frühen und Späten« (GA 7, 186). Die Seinsgeschichte bleibt notwendigerweise immer eine offene Geschichte – gegründet im Unerschöpflichen des Seins selbst in seinem Wesen wie seinem Unwesen.
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Rosa Maria Marafioti
Die Seinsfrage und die Schwarzen Hefte Zu einer Ortsbestimmung der judenbezogenen Textstellen
Quellpunkte, nachts, auf den Fernstrecken, göttergewärtig Paul Celan, Quellpunkte
Vorbemerkung Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Zweck, sine ira et studio den Sinn derjenigen Textstellen aus den Schwarzen Heften zu erläutern, die auf die Juden, die Judenschaft und das (Welt)judentum Bezug nehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, den Zusammenhang der Stellen, die die Juden betreffen, zu verdeutlichen und die Schwarzen Hefte allgemein in Heideggers Denken zu verorten. Denn die zur Diskussion stehenden Textstellen lassen sich nur auf der Basis der Hervorhebung der eigenartigen Grundzüge der Schwarzen Hefte und ihres Bezuges zum Leben und Gesamtwerk Heideggers entschlüsseln. Die These, dass die Schwarzen Hefte keinen antisemitischen Charakter besitzen, da Heidegger nirgendwo die Juden als solche kritisiert, sondern die Judenschaft nur als Beispiel des Neuzeitgeistes hervorhebt und er das Judentum samt dem Christentum für den ausschlaggebenden Anlass für die metaphysischen Bestimmungen des Menschen und des Seienden im Ganzen gehalten hat, soll in vier Schritten eingeführt und entwickelt werden: Zuerst ist ein Kriterium zu wählen, um den denkerischen Gehalt der verschiedenartigen Aufzeichnungen aus den Schwarzen Heften einstufen zu können. Daraufhin muss ans Licht gebracht werden, dass die judenkritischen Textstellen den Stereotyp des Juden als modernen Menschen schlechthin aufnehmen. Anschließend wird zu zeigen sein, dass Hei117 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Rosa Maria Marafioti
degger wegen seiner Auffassung der Seynsgeschichte besonders empfindlich für dieses Klischee war, bevor schließlich zu betonen ist, dass Heidegger den Antisemitismus und seine vermeintlich theoretische Begründung verworfen und das schöpferische Denken vieler Juden sehr gewürdigt hat.
§ 1. Die Schwarzen Hefte als »Werkstatt« des seynsgeschichtlichen Denkens Die Niederschrift der Schwarzen Hefte – die nach ihrem Einband so bezeichnet sind – beginnt um 1930 und endet Anfang der 1970er Jahre. 1 Infolgedessen begleiten die Schwarzen Hefte den heideggerschen Denkweg seit seiner »Kehre« vom fundamentalontologischen in den seyns- oder ereignisgeschichtlichen Ansatz der Seinsfrage. Sie tragen zum Aufbruch und zur Entfaltung des seynsgeschichtlichen Denkens bei, d. h. desjenigen Denkens, das das Sein »geschichtlich« bzw. als Er-eignis des Seins selbst (Seyn) und des Daseins begreift. Gerade die Hefte aus den 1930er Jahren spiegeln die allmähliche Einblicknahme Heideggers in die Seynsgeschichte wider, deren erster Anfang dadurch gekennzeichnet ist, dass sich das Sein als solches dem Denken zugunsten der Erfahrung des Seins als der Seiendheit des Seienden verweigert. Im Denken der Seiendheit – d. h. in der Metaphysik, die »das Sein als Sein des Seienden von diesem her und auf dieses zu denkt« 2 und der die Wahrheit des Seins als Ereignis entzogen ist – klingt jedoch das Seyn als das Sichverweigernde an. Das seynsgeschichtliche Denken, diese Verweigerung erfahrend und somit die Seynsvergessenheit durchbrechend, bereitet einen Anderen Anfang vor, demgemäß das Seiende nicht mehr vom Seyn verlassen wird, da es vielmehr die Seynswahrheit birgt. Die Übergangsfrage – die den Übergang von der metaphysischen Leitfrage nach dem Sein des Seienden zur Grundfrage nach dem Seyn und mithin den »Sprung« vom ersten zum zweiten Anfang der Seynsgeschichte ermöglicht – ist deshalb die Frage nach der Wahrheit des Seins. Die drei Frageweisen werden
Vgl. P. Trawny, Nachwort des Herausgebers, in M. Heidegger, Gesamtausgabe, Klostermann, Frankfurt am Main (= GA), Bd. 94, S. 531. 2 GA 95, S. 426. 1
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Die Seinsfrage und die Schwarzen Hefte
von der »Bewegung des Fragens der einzigen Frage« 3 – d. h. der Seinsfrage – vereinheitlicht, die nach Heidegger das Einzige in seinem »Versuchten« ist, das bleiben darf. Unter dieses »Versuchte« fallen auch die Schwarzen Hefte, wie aus dem Anhang Ein Rückblick auf den Weg zu Besinnung (1937– 1938) zu entnehmen ist. Dort listet Heidegger die »Überlegungen und Winke Heft II-IV-V« – die einzigen seiner Wachstuchhefte, die damals schon verfasst waren – unter dem auf, »was vorliegt« 4. Aufschluss über ihre Stellung zu seinem anderen »Versuchten« wird vom Satz gegeben: »Was in diesen Notizbüchern […] festgehalten ist, gibt z. T. auch immer die Grundstimmungen des Fragens und die Weisungen in die äußersten Gesichtskreise der denkerischen Versuche.« 5 Demnach sind die Schwarzen Hefte »Notizbücher«, die einfach auf diejenigen »Gesichtskreise« verweisen – die Unterscheidung von Seiendem und Seyn, das Da-sein, die Wahrheit, der Zeit-Raum, die Modalitäten, die Stimmung, die Sprache, das Vorgehen und das Wesen der Frage –, in denen sich die Frage nach der Wahrheit des Seins aufhält. Heidegger nennt das, was in diesen Bereichen der Besinnung auszuarbeiten ist, »Vorarbeiten« zu einem »Werk«, das das Gefüge des seynsgeschichtlichen Denkens darstellen muss. Dieses Gefüge erhält seine erste Gestaltung in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938) und wird von den ihnen folgenden Abhandlungen – Die Überwindung der Metaphysik (1938–1939), Besinnung (1938–1939), Die Geschichte des Seyns (1938–1940), Über den Anfang (1941), Das Ereignis (1941–1942), Die Stege des Anfangs (1944) – in immer neuen Anläufen entfaltet. Die »seynsgeschichtlichen Abhandlungen« von 1936–1944 sind daher die »Pfeiler« des seynsgeschichtlichen Denkens. Seine »Bausteine« sind die Vorträge und Aufsätze, die sich auf einzelne Fragen konzentrieren 6, und die Vorlesungen und Übungen machen seine »Fassade« aus, die das Zuspiel des ersten zum zweiten Anfang der Seynsgeschichte vorbereiten. Die Schwarzen Hefte sind die »Werkstatt« 7 des ganzen Gebäudes, wo GeGA 66, S. 428. Ebd., S. 419–420. 5 Ebd., S. 426. 6 Vgl. GA 65, S. 59–60, wo Heidegger schreibt, es gebe zwei Wege der Darstellung der Fuge des anfänglichen Denkens: Die Eröffnung des ganzen Fugenbereichs und die Heraushebung einzelner Fragen (z. B. die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks). 7 Vgl. GA 97, S. 71, 76, 118, 170, 284, wo Heidegger von einer »Werkstatt des Den3 4
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dankenzüge zum ersten Mal auftauchen, die später in anderen größeren Schriften herausgearbeitet werden, oder wo früher Gedachtes eine verwandelnde Ergänzung erfährt. 8 Neben den Aufzeichnungen, die einen denkerischen Gehalt besitzen, befinden sich aber in den Schwarzen Heften auch Gedankensplitter, die zwar in der seynsgeschichtlichen Sprache verfasst sind, doch lediglich den persönlichen Ansichten eines Privatmenschen Ausdruck verleihen. 9 Unter diesen kleineren Gedankenzügen sind die Überlegungen zu verzeichnen, in denen Heidegger zum jeweiligen Zeitgeschehen Stellung nimmt, und einige den Nationalsozialismus und das Judentum betreffende Notizen, von denen in den seynsgeschichtlichen Abhandlungen keine Spur zu finden ist. Das Gedankengut dieser Abhandlungen muss für die Zuordnung der jeweiligen Notiz zum seynsgeschichtlichen Gedankengefüge oder zu den bloßen Privatmeinungen – zwei Bereiche, die einander oft überschneiden – zum Maßstab genommen werden. Denn die Schwarzen Hefte sind kein selbständiges Werk, sondern lassen sich nur aus dem in ihnen als »Werkstatt« verarbeiteten Material und aus dem sich daraus ergebenden Erzeugnis verstehen, das je nach seiner mehr oder weniger philosophischen Natur beiseitegelassen oder in den größeren Arbeiten wieder aufgegriffen wird. Die Notizbücher sind deshalb den seynsgeschichtlichen Abhandlungen neben- und nachgeordnet und müssen besonders ausgehend von denjenigen Abschnitten dieser bedeutsameren Schriften ausgelegt werden, die auf sie verweisen. 10 In diesen Abschnitten geht es hauptkens« spricht, in der das »Handwerk des Denkens« ausgeübt wird. Einerseits übernimmt Heidegger die Metapher der »Werkstatt« von der Phänomenologie (vgl. Finks Anmerkungen zu Husserls Phänomenologischer Werkstatt, in Gesamtausgabe, Alber, Freiburg-München, Bd. 3, 2006), andererseits lässt er sich vom Beruf seines Vaters (Küfer und Messner) und seines Großvaters (Schuster) inspirieren, an dem er sich in GA 97, S. 50 erinnert. 8 Vgl. den Unterschied zwischen Mensch, Tier und Stein, der in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (WS 1929/1930) (GA 29/30, S. 273–294) eingeführt wurde und in den Schwarzen Heften ausgehend von der Wahrheitsauffassung als Urstreit von Verbergung und Unverborgenheit überarbeitet wird (vgl. GA 94, S. 83–85, nn. 201–202, 204; GA 95, S. 282, n. 15). 9 Vgl. dazu F.-W. von Herrmann, Necessarie chiarificazioni sui Quaderni neri, in F.-W. von Herrmann-F. Alfieri, Martin Heidegger. La verità sui Quaderni neri, Morcelliana, Brescia 2016, S. 24. 10 Die bedeutendsten Verweise auf die Schwarzen Hefte befinden sich in: GA 65, S. 1, 57, 225, 255, 294, 393, 398, 456, 473, 491; GA 66, S. 30, 148, 183–184, 224, 339, 358, 400; GA 67, S. 15, 42; GA 70, S. 34, 100; GA 71, S. 50, 320; GA 73.1, S. 77, 95, 168,
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Die Seinsfrage und die Schwarzen Hefte
sächlich um die Auseinandersetzung mit Sein und Zeit (1927) im Hinblick auf den Wandel von der transzendental-horizontalen Warheitsauffassung zum Verständnis der Seinswahrheit als Ereignis und um die phänomenologische Beschreibung des Zeitalters der Vollendung der Metaphysik. Die Überlegungen und Winke (1931–1941) machen nämlich dieses Zeitalter – »das gegenwärtige abendländische Zeitalter« als »de[n] Beginn des entscheidenden Abschnitts der Neuzeit« 11 – zum Thema.
§ 2. Die Machenschaft und das ihr entsprechende rechnende Denken 2.1. Die phänomenologische Beschreibung der »neuesten Neuzeit« Heideggers Auffassung nach ist die Gegenwart folgendermaßen gekennzeichnet: »Alles ›wird gemacht‹ und ›lässt sich machen‹«. 12 Die Möglichkeit dafür ist der Entwurf der Seiendheit des Seienden im Horizont des Machens, d. h. des Herstellens. Ein solcher Entwurf entspricht der Wesungsweise des Seyns in seinem Unwesen als »Machenschaft«. Während die Machenschaft auf der ontischen Ebene eine hinterhältige Handlungsweise bezeichnet, besagt sie seynsgeschichtlich diejenige Auslegung des Seienden als etwas, das »zugänglich im Meinen und Rechnen [ist]; […] vorbringbar in der Her-stellung und Durchführung« 13. Insofern etwas nur unter der Voraussetzung als »seiend« gilt, dass es auf das vor-stellende Subjekt bezogen ist, das seinerseits in der Vollendung der Neuzeit zum »Erlebnismenschen« wird 14, gilt das Erlebnis als die vorzügliche Vorstellungsart. Diese Vorherrschaft des »Lebens« verbirgt den Vorrang der Machenschaft, 277, 289, 390, 417, 422, 508, 516, 536–537, 546, 609, 612, 821; GA 73.2, S. 935, 974, 986, 1010, 1100, 1123, 1128, 1222, 1257, 1283, 1330, 1369, 1429–1431, 1482. 11 GA 94, S. 485, n. 107. Vgl. GA 96, S. 68, n. 52; GA 66, S. 25–29. 12 GA 65, S. 108. 13 Ebd., S. 109. Zu der Machenschaft vgl. S. 107–109, 126–132; GA 69, S. 46–47, auf die Heidegger in GA 96, S. 111, n. 73 verweist; GA 66, S. 16–24, 173, auf die er in GA 96, S. 111, n. 73 und in GA 67, S. 15 aufmerksam macht. 14 Vgl. GA 95, S. 151–157, n. 33; GA 96, S. 34, n. 13; GA 66, S. 148, wo Heidegger auf GA 95, S. 48 ff., n. 50 verweist. Zur Verkoppelung Machenschaft-Erlebnis vgl. GA 65, S. 109, 127–134. Zum »Leben« bzw. zu der »Tierheit« als Bestandteil der metaphysischen Bestimmung des Menschenwesens als »animal rationale«, dessen moderne Auslegung zu einer Verdinglichung des Menschen führte, vgl. T. Platte, Die
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die die Technik zur »Herstellung des Seienden selbst […] in die berechenbare Machbarkeit« 15 gebraucht. Die Technik ist somit »die Grundform« der »neuzeitlichen Wahrheit« 16, in der das Seiende und mithin der Mensch »des Seyns enteignet« 17 ist, statt ihm »ereignet« zu sein. Sofern sich »die Nähe ›des‹ Seins« selbst als »Heimat« im seynsgeschichtlichen – nicht nationalistischen – Sinne nennen lässt, kann der Zustand des neuzeitlichen Menschen als »Heimatlosigkeit« bezeichnet werden. 18 Die Heimatlosigkeit, die heutzutage zu einem Weltschicksal geworden ist, beruht in derjenigen Seynsverlassenheit des Seienden, die dem Menschen den Boden entzieht, in den er Wurzeln schlagen kann. Die Bodenlosigkeit des neuzeitlichen Menschen verbreitet sich wegen der Erdzerstörung und der Weltverwüstung, die von einem maßlosen Umgang mit dem Technisch-Möglichen bestimmt werden und eine zunehmende Entwurzelung zur Folge haben. 19 Die Verblassung der nationalen Eigentümlichkeiten läuft parallel zu »der Einrichtung einer Rassenzüchtung« 20 ab, die endlich in den Schlag eines »Typus« münden soll, in welchem »der Einzelne und die Vielen [nicht] verschwinden«, sondern »vereinfacht und aufgehoben« 21 werden. Im »Typischen« – das Heidegger im Anschluss Konstellation des Übergangs. Technik und Würde bei Heidegger, Duncker & Humblot, Berlin 2004, S. 77–90. 15 GA 66, S. 173. 16 GA 96, S. 238. Zur Technik als die »äußerste Möglichkeit« (GA 14, S. 70) der Metaphysik vgl. G. Figal, Einleitung, in Id. (Hrsg.), Heidegger Lesebuch, Klostermann, Frankfurt am Main 2007, S. 35; Zur »Genealogie« der modernen Technik vgl. S. Riis, Zur Neubestimmung der Technik. Eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, Francke, Tübingen 2011, S. 197–239. 17 GA 65, S. 120. Vgl. S. 231. Zu dem Unterschied zwischen »Ereignis« und »Enteignis« vgl. F.-W. von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, Klostermann, Frankfurt a. M. 1994, S. 34. 18 Vgl. M. Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in GA 9, S. 337–339. 19 Vgl. GA 94, S. 364, n. 87; GA 16, S. 521–522, 526 und 670, wo die Entwurzelung der Technik zugeschrieben wird. Die Entwurzelung lässt sich als eine Radikalisierung des »Un-zuhause[s]« des Daseins verstehen, das Heidegger in Sein und Zeit »existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen« (GA 2, S. 253) erfasste. Zum Unterschied zwischen »Zerstörung« und »Verwüstung« vgl. GA 66, S. 20–21; GA 67, S. 146; GA 96, S. 3 a. 20 GA 6.2, S. 278. Einige der vielen Stellen in den Schwarzen Heften, die den Rassenbegriff und die »Blut und Boden«-Ideologie kritisieren, sind: GA 94, S. 189, 466, nn. 195, 79; GA 95, S. 32, 40, 298–299, nn. 35, 43, 35; GA 96, S. 55, n. 35; GA 97, S. 40. 21 GA 90, S. 194. Vgl. GA 6.2, S. 278–279; GA 96, S. 52–53, n. 35: »Die Macht der
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Die Seinsfrage und die Schwarzen Hefte
an Nietzsches Begriff des »Übermenschen« und dessen Auslegung Jüngers schildert 22, indem er eine seynsgeschichtliche Kritik an dem nazionalsozialistischen Rassengedanken und seiner Machtpolitik betreibt – erreicht der nach der Weltherrschaft strebende Wille zur Macht sein Ziel. Denn der Typus verkörpert den beherrschbaren Automatismus allen Handels und die unbedingte Berechenbarkeit des Seienden im Ganzen durch die vollständige Steuerung seiner selbst. In ihm gipfelt deswegen die der machenschaftlichen Technik zugrunde liegende Seynsverlassenheit, deren erstes unscheinbares Zeichen die Berechnung als einzige Zugangsweise zum Seienden ist, die sich wesenhaft im Horizont des »Riesigen« hält. Das Riesenhafte, als Erhebung der Quantität zum »Grundcharakter […] des Seyns selbst« 23, wird durch ein rechnendes Denken in Kraft gesetzt, das in der modernen Naturwissenschaft zum Vorschein kommt und im Dienst der Machenschaft steht. Eine solche Denkweise setzt sich in der neuesten Neuzeit bzw. in derjenigen Gegenwart vollauf durch, deren Analyse den begrifflichen Rahmen für die fraglicheren Stellen der Schwarzen Hefte ausmacht, die die Juden betreffen.
2.2. Das Jüdische als Beispiel des neuzeitlichen Menschentums In den Wachstuchheften Heideggers befinden sich einige Überlegungen, die von 1938 bis 1941 niedergeschrieben wurden und keine Ähnlichkeiten mit den anderen gleichzeitig verfassten Schriften und sogar mit irgendeiner vorherigen oder nachfolgenden Notizbuchaufzeichnung – abgesehen von einer einzigen Ausnahme – vorweisen. Es geht um vierzehn Notizen 24, in denen Heidegger zwecks der Veranschaulichung seiner Auffassung des Neuzeitgeistes den Stereotyp Machenschaft – […] die Vermenschung des Menschen in das Tier, die Vernutzung der Erde, die Verrechnung der Welt – […] Unterschiede der Völker, Staaten, Kulturen sind nur noch in der Fassade.« 22 Zur heideggerschen Auslegung des Übermenschen als »technisiertes Tier« (GA 65, S. 98) vgl. S. Spina, Esistenza e vita. Uomo e animale nel pensiero di Martin Heidegger, Mimesis, Milano-Udine 2015, S. 155–162. 23 GA 65, S. 135. Zur Berechnung als erste »Verhüllung« der Seinsvergessenheit vgl. S. 119–121, 494–495; zum Riesenhaften vgl. S. 120–121, 135–138, 441–443; GA 95, S. 349–350, n. 69. 24 Vgl. GA 95, S. 97, 161, 258, 326, 395–396, nn. 4–5, 39, 92, 48, 42; GA 96, S. 46, 56, 133, nn. 24, 38, 101, S. 218, 242–243, 262; GA 97, S. 159 (spätere Aufzeichnung).
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des Juden als Vorbild des modernen Menschen aufnimmt 25, ohne den Ursprung dieses Vorurteiles – die Diaspora und die Ausübung von »Rechner-Berufen«, in die die Juden freilich gedrängt wurden – zu hinterfragen. Dass Heidegger nicht das jüdische Volk als solches kritisieren will, wird in der Überlegung deutlich, in der er schreibt: »Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche ›Aufgabe‹ übernehmen kann.« 26 Mit diesen letzten Worten will Heidegger das Judentum nicht mit der Technik identifizieren, die der Anfangsgrund der Entwurzelung ist. Vielmehr scheinen die Juden in anderen Überlegungen die ersten Opfer der Machenschaft zu sein. Heidegger zeichnet nämlich auf: »Die Juden ›leben‹ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rassenprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen.« 27 Somit unterstellt Heidegger den Juden nicht, dass sie nach einem »Monopol« des Rassenprinzips streben, damit das dadurch verstärkte jüdische Volk sich gegen die anderen behaupten kann. Er meint dagegen, dass die Juden von dem Strom der Machenschaft mitgerissen werden. Denn seine Überlegung geht weiter: »Die Einrichtung der rassischen Aufzucht entstammt nicht dem ›Leben‹ selbst, sondern der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker Vgl. F.-W. von Herrmann, Necessarie chiarificazioni sui Quaderni neri, a. a. O., S. 17, 34–35. Zu einer Deutung dieser Textstellen als »ein Stück Kulturkritik« vgl. S. Vietta, »Etwas rast um den Erdball …«. Martin Heidegger: Ambivalente Existenz und Globalisierungskritik, Wilhelm Fink, Paderborn 2015, S. 169–175. 26 GA 96, S. 243. Der Kontext dieser Notiz ist anders als derjenige des Verweises auf die »semitischen Nomaden« im Seminar Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat (WS 1933/1934) (in A. Denker u. H. Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und der Nationalsozialismus I. Dokumente, »Heidegger-Jahrbuch« 4, FreiburgMünchen 2009, S. 82), zu dem vgl. H. Zaborowski, »Eine Frage von Irre und Schuld?« Martin Heidegger und der Nationalsozialismus, Fischer, Frankfurt a. M. 2010, S. 426– 427, 622–624. 27 GA 96, S. 56, n. 38. Zu einer Auslegung dieses Absatzes – der wahrscheinlich nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze verfasst wurde – als Einwand zum Rassismus vgl. K. Payer, Offener Brief an Peter Trawny, 21/06/2014, auf www.seinundzeit.at/philosophie/brief.html (15. 7. 2017). 25
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durch die Einspannung derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden. Mit der Entrassung« – was so viel heißt wie mit dem Verlust der Zugehörigkeit zu einer bestimmten überlieferten Kulturwelt – »geht eine Selbstentfremdung der Völker in eins« 28, die nivelliert, berechnet und auf dem ganzen Planeten – gleichgültig, wo – überleben. Die entwurzelnde Berechnung der Völker spitzt sich bei dem Judentum zu, weshalb Heidegger schreibt: »Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird.« 29 Heidegger will den Juden jedoch keine Schuld zuweisen, denn er präzisiert: »Die Ansatzstelle […] für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich […] eine Unterkunft im ›Geist‹ der Juden ›verschaffte‹«, sei aber von der »Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung« 30 geboten worden. Die Überwindung dieser Metaphysik und somit der Übergang zu einem anderen geschichtlichen Anfang wird von diesem rechnenden Denken selbst verhindert, sofern es sich anmaßt, mit der Geschichte zu rechnen, um sie lenken zu können. Es gelingt ihm, die Weltgeschehnisse unter einem mechanischen Historismus zu subsumieren, der das Geschichtslose maskiert und allem sein Ziel und seinen Sinn entzieht. Deshalb schreibt Heidegger: »Und vielleicht ›siegt‹ in diesem ›Kampf‹, in dem um die Ziellosigkeit schlechthin gekämpft wird und der daher nur das Zerrbild des ›Kampfes‹ sein kann, die GA 96, S. 56, n. 38. Zu einer anderen Interpretation dieser Textstelle, die das Zeichen des »rassischen Antisemitismus« als zweiten Typus eines »seynsgeschichtlichen Antisemitismus« Heideggers sei, vgl. P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Klostermann, Frankfurt am Main 20153, S. 39–45. 29 GA 95, S. 97, n. 5. 30 GA 96, S. 46, n. 24. In derselben Überlegung »greift« Heidegger Husserl und die neukantische Transzendentalphilosophie »an«, obwohl er bemerkt, sein »Angriff« wende sich im Grunde nur gegen das metaphysische Versäumnis der Seinsfrage. Der Neukantianismus wurde besonders nach Hermann Cohens Buch Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (Fock, Leipzig 1919) als »jüdische Philosophie« geschätzt, wo Cohen den jüdischen Monotheismus als Ursprungsquelle des abendländischen Rationalismus bezeichnet. Zu der These, dass Heidegger nicht durch einen philosophischen Gedankenschluss zur Zuordnung der Begabung für das Rechnen an die Juden komme, sondern indirekt, und zwar über die Metaphysik des Daseins, vgl. A. Xolocotzi, Die geschichtslose Berechenbarkeit. Heidegger und die subjektive Interpretation des Judentums, in P. Trawny u. A. J. Mitchell (Hrsg.), Heidegger, die Juden, noch einmal, Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 145–165. 28
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größere Bodenlosigkeit, die an nichts gebunden, alles sich dienstbar macht (das Judentum).« 31 Heidegger vertieft die nietzscheanische Auffassung des Nihilismus als der Ziellosigkeit, die von der Entwertung der obersten Werte abhängig ist, und bestimmt den »eigentlichen Nihilismus« als den seynsgeschichtlichen Zustand, wo »es mit dem Sein selbst nichts ist« 32. Die »Verwirklichung der obersten Werte durch die Pflege der höchsten Güter des Menschen« 33 – unter der sich der Nihilismus versteckt – fasst Heidegger im Vortrag Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik (1938) als die Kultur. Er hält sie für die vierte Erscheinungsform der Neuzeit neben Wissenschaft, Maschinentechnik, Ästhetik und – fünftens – der Entgötterung. Gleichzeitig bringt er in den Schwarzen Heften die Kulturpolitik mit dem Judentum in Verbindung und schreibt: »Die ›Kultur‹ als Machtmittel sich anzueignen und damit sich behaupten und eine Überlegenheit vorgeben, ist im Grunde ein jüdisches Gebahren.« 34 Heidegger beruft sich auf das Judentum besonders bezüglich drei Kulturgestalten: die Anthropologie, die Soziologie – die »mit Vorliebe von Juden und Katholiken betrieben« 35 wird – und die Psychoanalyse, die sich auf den Erlebnisstrom so konzentriert, als ob das Eigene des Menschen sein Erleben wäre. Heidegger sieht es als eine Folge der Machenschaft an und schreibt: »Man sollte sich nicht allzulaut über die Psychoanalyse des Juden ›Freud‹ empören, wenn man und solange man überhaupt nicht anders über Alles und Jedes ›denken‹ kann als so, daß Alles als ›Ausdruck‹ ›des Lebens‹ einmal und auf ›Instinkte‹ und ›Instinktschwund‹ ›zurückführt‹. Diese ›Denk‹-weise, die überhaupt im voraus kein ›Sein‹ zuläßt, ist der reine Nihilismus.« 36
GA 95, S. 96–97, n. 4. GA 6.2, S. 319. Zu einem Vergleich zwischen der Nihilismusauffassung Heideggers und Nietzsches vgl. F. Cattaneo, La potenza del negativo, Pendragon, Bologna 2010, S. 123–180, und R. Morani, Essere, fondamento, abisso. Heidegger e la questione del nulla, Mimesis, Milano-Udine 2010, S. 167–177. 33 M. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in GA 5, S. 75–76. 34 GA 95, S. 326, n. 48. Auf diese instrumentelle Kulturauffassung spielt Heidegger an auf S. 395–396, n. 43, wo notiert ist: »Das Pharisäertum von Karl Barth und Genossen übertrifft noch das Altjüdische.« 35 Ebd., S. 161, n. 39. 36 GA 96, S. 218. Zu Heideggers Kritik an der Psychoanalyse vgl. H. Vetter, Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, Meiner, Hamburg 2014, S. 403. 31 32
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§ 3. Die Seinsfrage als hermeneutisches Sachfeld der judenkritischen Textstellen 3.1. Die seynsgeschichtliche Verortung des Weltjudentums und des Kommunismus Unter einem ursprünglichen »politischen« Gesichtspunkt bestimmt Heidegger den vollendeten Nihilismus als »Kommunismus« 37. Mit diesem Wort deutet er keine bestimmte Partei oder Weltanschauung an, sondern charakterisiert »jene Fügung des Seienden als solchen im Ganzen […], die das geschichtliche Zeitalter zu dem der Vollendung und damit des Endes aller Metaphysik prägt« 38, die das Sein als dasjenige Abstrakteste und Generellste definiert, was jegliches Seiende mit allen anderen gemeinsam hat. Der Kommunismus, in diesem seynsgeschichtlichen Sinn verstanden, entfaltet sich explizit im russischen Marxismus und macht »die metaphysische Verfassung der Völker im letzten Abschnitt der Vollendung der Neuzeit« 39 aus. Doch muss er »bereits im Beginn der Neuzeit sein Wesen, wenngleich noch verdeckt, in die Macht setzen« 40. Heidegger ist der Meinung, dass die Machtergreifung des Kommunismus »in der neuzeitlichen Geschichte des englischen Staates« 41 geschieht. Trotzdem sieht er den englischen Liberalismus als wesenhaft dasselbe wie den Bolschewismus »(im Sinne der despotisch-proletarischen Sowjetmacht)« an, der seinerseits »metaphysisch dasselbe« wie »der autoritäre ›Sozialismus‹ (in den Abwandlungen des Faschismus und Nationalsozialismus)« 42 sei. Hierbei bezeichnet Heidegger die verschiedenen politischen Strömungen als Gestalten des Vgl. GA 69, S. 39, 191–196, 202–210; GA 96, S. 149–157, n. 128, S. 173–174; GA 97, S. 126–127. 38 GA 69, S. 191. 39 Ebd., S. 154. 40 Ibidem. 41 Ibidem. 42 GA 96, S. 109, n. 73. Die wesentlichen Ähnlichkeiten zwischen den Totalitarismusformen wurden zuerst von Hannah Arendt (in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Piper, München 1991) hervorgehoben. Im Gegenteil dazu hat der »Historikerstreit« die Unvergleichbarkeit des Nationalsozialismus Mitte der 1980er Jahren betont (vgl. J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, in R. Augstein (Hrsg.), Historikerstreit, Piper, München-Zürich 1987, S. 62–76). Zu Heideggers These »der Konvergenz der großen politischen Systeme« vgl. S. Vietta, Heideggers seinsgeschichtliche Konvergenztheorie, in W. Homolka u. A. Heidegger (Hrsg.), Heidegger und der 37
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seynsgeschichtlichen Kommunismus, dessen Durchsetzung wie diejenige der Technik 43 von der metaphysischen europäisch-westlichen Überlieferung vorbereitet wurde. Darum glaubt er, dass der von dem Westen in den 1920er und 1930er Jahren geführte Krieg gegen die »Bolschewisierung« Europas im Grunde ein Kampf der Machenschaft gegen sich selbst ist. 44 Auf den Zweiten Weltkrieg Bezug nehmend, schreibt also Heidegger in den Schwarzen Heften: »In der anrückenden abendländischen Revolution werden die ersten neuzeitlichen Revolutionen (die englische, amerikanische, französische und ihre Nachspiele) erst auf ihr Wesen zurückgebracht; der ›Westen‹ wird zuletzt und am entschiedensten von ihr ergriffen.« 45 Die Ursprungsquelle des Westens ist die jüdisch-christliche Welt. Demgemäß betont Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie, dass die Machtsteigerung des Bolschewismus durch den technischen Aufbruch und die Vernunftherrschaft ermöglicht wurde, »die Folge des Christentums ist und jüdischen Ursprungs« 46. Damit lässt Heidegger einen Zusammenhang des seynsgeschichtlichen Kommunismus bzw. aller neuzeitlichen Ideologien mit dem Judentum durchblicken, der am Ende der oben zitierten Überlegung anklingt, wo der Imperialismus in der Seynsgeschichte verortet wird: »Wir [werden] erst künftig begreifen […], daß England die neuzeitliche Welt einzurichten begann, die Neuzeit aber ihrem Wesen nach auf die Entfesselung der Machenschaft des gesamten Erdkreises gerichtet ist. Auch der Gedanke einer Verständigung mit England im Sinne einer Verteilung der ›Gerechtsamen‹ der Imperialismen trifft nicht ins WeAntisemitismus: Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger, Herder, Freiburg i. Br. 2016, S. 410–420. 43 Vgl. GA 96, S. 110, 276. Heidegger unterscheidet das Russentum vom Bolschewismus und hält das Gespräch zwischen Slawentum und Deutschtum für unentbehrlich für den Übergang zum »anderen Anfang« (vgl. GA 95, S. 402–403, n. 47; GA 96, S. 47–48, 124–128, 134, nn. 25–26, 86, 90, 95, 103, S. 276; GA 69, S. 119–120). 44 Vgl. GA 96, S. 110, n. 73. Heidegger eignet sich die nietzscheanische Idee eines von den verschiedenen Formen des Willens zur Macht geführten Kampfes um die Weltherrschaft an, die im Fragment 11 [273] (in F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli u. M. Montinari, De Gruyter, München-Berlin, Bd. 9: Nachgelassene Fragmente 1880–1882, 1999, S. 546) einen Ausdruck findet. 45 GA 96, S. 133, n. 101. 46 GA 65, S. 54. Heidegger verweist auf Nietzsches Gedanken vom Sklavenaufstand und mithin implizit auf die nietzscheanische Kritik am Sozialismus und an der Demokratie.
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sen des geschichtlichen Vorgangs, den England jetzt innerhalb des Amerikanismus und des Bolschewismus und d. h. zugleich auch des Weltjudentums zu Ende spielt.« 47 Der Denkzusammenhang, aus dem her diejenigen heideggerschen Überlegungen zu deuten sind, in welchen der Ausdruck »Weltjudentum« auftaucht, sind weder die Protokolle der Weisen von Zion – die den antisemitischen Topos der internationalen Vernetzung der jüdischen Kaufmanns- und Bankeliten zu einer Weltverbindung der Juden zwecks der Oberherrschaft über alle »Nichtjuden« thematisieren – noch der »jüdische Bolschewismus« 48. Denn der Sinn der Notizbuchaufzeichnungen muss auf der Basis des heideggerschen Denkens selbst erhellt werden, obzwar es unumgänglich ist, die »hermeneutische Situation« der Begrifflichkeit Heideggers im Blick zu behalten. Besonders nach der Oktoberrevolution hatte sich die Angst vor einer »jüdisch-bolschewistische[n] Weltverschwörung« in Deutschland verbreitet. Bei den Deutschen, die auf der Suche nach ihrer nationalen Identität durch die Zueignung einer ideellen vortechnologischen Vergangenheit waren, wuchs damals eine kritische antisemitisch geprägte Tendenz gegen das Moderne, die dem Juden alle widersprüchlichen Charaktere des Neuzeitsgeistes zumaß: die vom Großbürgertum ausgeübte Finanzmacht, die Liberaldemokratie, den den Universalismus einschließenden Intellektualismus, die revolutionäre Tendenz und die Entwurzelung. Heidegger ist zwar zu den Modernitätskritikern zu zählen und seine Einstellung den Juden gegenüber ist gewissermaßen ambivalent. 49 Er teilt aber mit den Gegnern des Modernen keinerlei AntiGA 96, S. 243. Heidegger bringt Judentum und Bolschewismus auch auf S. 242 (»die ›Hinterhältigkeit‹ der bolschewistischen Politik« des »Jude[n] Litwinow«) in Verbindung. Um das »Weltjudentum« dreht es sich auch auf S. 262, wo Heidegger schreibt, dass es, »aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, […] überall unfaßbar« ist. Diese »Unfaßbarkeit« lässt sich als ein Verweis auf die Rolle der Juden in der Weltwirtschaft oder im kulturellen Bereich verstehen (vgl. dazu F. Dastur, Y a-t-il une »essence« de l’antisémitisme?, in P. Trawny u. A. J. Mitchell (Hrsg.), Heidegger, die Juden, noch einmal, a. a. O., S. 91). 48 Vgl. S. Vietta, »Etwas rast um den Erdball …«, a. a. O., S. 22–23, 169–175. Anderer Meinung ist D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei. I »Quaderni neri«, Bollati Boringhieri, Torino 2014, S. 186–203. Zum Wesenszusammenhang zwischen den Protokollen und dem Bolschewismus vgl. A. Rosenberg, Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik, Deutscher Volksverlag, München 1923. 49 Vgl. die Spuren eines konfessionellen Antijudaismus, eines völkischen und eines geistigen bzw. akademischen Antisemitismus, die nur als Reflex des damaligen Zeit47
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semitismus. Gegen alle mögliche Missverständnisse merkt er in den Schwarzen Heften an: »›Prophetie‹ ist die Technik der Abwehr des Geschichtlichen der Geschichte. Sie ist ein Instrument des Willens zur Macht. Daß die großen Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, deren Geheimes noch nicht gedacht worden. (Anmerkung für Esel: mit »Antisemitismus« hat die Bemerkung nichts zu tun. Dieser ist so töricht und so verwerflich, wie das blutige und vor allem unblutige Vorgehen des Christentums gegen ›die Heiden‹ […]).« 50 Daran anschließend, erklärt Heidegger: »›Prophetie‹ ist die vorwärtsgerichtete Historie und darum die technische Vollendung des Wesens der Historie.« 51 Daraus folgt, dass Heidegger die Prophetie als eine Vollzugsform des der Neuzeit eigenen rechnenden Denkens auffasst, das er am Beispiel der Juden als der Elite der Modernisierung veranschaulicht. Dass Heidegger die Juden nicht als solche ablehnt, wird auch durch die Verwerfung jeglichen »Kreuzzuges« in der zitierten Anmerkung bewiesen, die aus Heideggers Abwertung jeder Gegenbewegung motiviert ist, insofern sie immer auf ihren »Feind« angewiesen bleibt.
geistes zu verstehen sind, in den folgenden heideggerschen Schriften: die Briefe an Elfride Petri vom 11. 10. 1916, 12. 08. und 08. 09. 1920, 15. 10. 1932, 19. 03. 1933 (M. Heidegger, E. Petri, »Mein liebes Seelchen!«: Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride (1915–1970), hrsg. von G. Heidegger, Dt. Verl.-Anstalt, München 2005, S. 51, 112, 116, 184–185); den Brief an Victor Schwoerer vom 02. 12. 1929 (kommentiert von Ulrich Sieg in Die Verjudung des deutschen Geistes, »Die Zeit«, 22. 12. 1989, auf http://www.zeit.de/1989/52/die-verjudung-des-deutschen-geistes (15. 7. 2017)); die »Selbstverteidigung« vom Winter 1932–1933 (in H. Arendt, M. Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, Klostermann, Frankfurt am Main 20134, S. 68– 69); das Gutachten über Eduard Baumgarten vom 16. 12. 1933 und die Schriften gegen Richard Hönigswald und Hermann Staudinger vom 25. 06. 1933 und 10. 02. 1934 (in GA 16, S. 132, 248–249, 774–775); die Briefe an Kurt Bauch vom 07. 02. 1935 und 15. 06. 1936 (in M. Heidegger, K. Bauch, Briefwechsel 1932–1975, hrsg. von A. Heidegger, Alber, Freiburg-München 2010, S. 18, 32); Karl Jaspers Zeugnis in K. Jaspers, Philosophische Autobiographie, Piper, München 1977, S. 101. 50 GA 97, S. 159. Der Ausdruck »Anmerkung für Esel« wird von Heidegger aus den Aphorismen Nietzsches übernommen. Der Vergleich zwischen dem Antisemitismus und der Feindseligkeit der Christen gegen die Heiden wird wohl eine Kritik am Dogmatismus sein, die auf ähnliche Weise auch in GA 95, S. 325, n. 46 a vorhanden ist. 51 GA 97, S. 159. Diese Hinzufügung ist notwendig, um die vorhergehende Anmerkung über die Prophetie nicht ausgehend von der Auslegung der Termini »προφητεύειν« und »συναγωγή« aufzufassen, die Heidegger in GA 52, S. 127, 177 ausführt.
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3.2. Die Rolle der jüdisch-christlichen Menschen- und Gottesvorstellung in der Metaphysikgeschichte Der hermeneutische Rahmen der judenkritischen Textstellen aus den Schwarzen Heften ist also weder der Antisemitismus noch die »Judenfrage«, die Heidegger nirgendwo gestellt hat 52, sondern die Seinsfrage und die von ihr geforderte Auseinandersetzung mit der Metaphysikgeschichte. Der Anlass, der Heidegger zur Erhebung des Judentums zum Symbol des neuzeitlichen Menschentums bewogen hat, wird wohl die Rolle gewesen sein, die das jüdisch-christliche Denken in der Metaphysik gespielt hat 53. Heidegger zufolge bestärkte die jüdisch-christliche Seinsauffassung die Bestimmung des Menschen als animal rationale und des Seienden als solchem im Ganzen als etwas Hervorgebrachtes und mithin Machbares, die seit Platon formuliert wurde. In den Schwarzen Heften behauptet er, das heutige Verhältnis des Menschen zum Sein sei in der »christliche[n,] hellenistische[n] – jüdische[n] und sokratisch-platonische[n] Anthropologie« 54 entschieden worden. In den Beiträgen zur Philosophie und in Besinnung betrachtet er näher die Idee eines Schöpfergottes und schreibt, die mittelalterliche Metaphysik habe die von ihr implizierten Folgen gezogen: einerseits die Auffassung des Gottes als causa sui, anderseits die Deutung des Heidegger kannte nur oberflächlich die Geschichte und die Kultur der Juden. Hans Jonas berichtet, Heidegger hätte im Jahre 1929 sogar nichts über den Zionismus gewusst (vgl. H. Jonas, Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, S. 120). 53 Heidegger schätzt die religiöse Erfahrung des Urchristentums als diejenige, die die Zeitlichkeit des faktischen Lebens ans Licht brachte, aber er ist der Überzeugung, dass sie bereits seit Augustinus durch die Hellenisierung des Christentums verformt wurde. Zu Heideggers Auslegung des religiösen Lebens vgl. M. Fischer, Religiöse Erfahrung in der Phänomenologie des frühen Heidegger, Geleitwort von Karl Kardinal Lehmann, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013; zur Tragweite der Auseinandersetzung Heideggers mit dem Christentum für seine Einstellung den Juden gegenüber vgl. F. Brencio, »Heidegger, una patata bollente«, in F. Brencio (Hrsg.), La pietà del pensiero. Heidegger e i Quaderni neri, Aguaplano, Passignano 2015, S. 140–165, und Ead., Appendice. La »fuga« dell’essere, ebd., S. 373–381. 54 GA 95, S. 322, n. 44. Vgl. S. 339, n. 59. Schon im Natorp-Bericht (1922) entwarf Heidegger eine »Destruktion« der »griechisch-christliche[n] Lebensauslegung« (GA 62, S. 369), und in Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927) deutete er die cartesianische Subjektauffassung anhand der antiken und mittelalterlichen Metaphysik, die von einem aus dem herstellenden Verhalten entwachsenen Seinsverständnis geleitet seien (vgl. GA 24, S. 147). 52
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nichtgöttlichen Seienden als ens creatum. Bei einer solchen Gottesvorstellung sei eine »Vergötterung des Ursacheseins als solchen« 55 geschehen, die den Übergang zum Hervorkommen der Machenschaft ermöglicht habe, welche bei den Griechen noch nicht aufgebrochen sei. Indem die neuzeitliche Metaphysik den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang mathematisch gestalte 56 und das Seiende im Ganzen auf Gott als einziges, allesumfassendes Prinzip zurückführe, komme die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik 57 samt ihren »totalitären« Zügen in der Neuzeit deutlich hervor. Ausgehend von diesem Begriffshintergrund merkt Heidegger in den Schwarzen Heften an: »Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jüdisch-christlichen Monotheismus« 58, dessen Gott der einzige ist, »der sich anmaßte, sich zum auserwählten Gott zu machen und keine anderen Götter mehr neben sich zu dulden« 59. Die jüdische Welt, in der Christus geboren ist, zeigt Heidegger sich als der Nullpunkt, von dem eine Überlieferung Anfang nimmt, die zur Entfesselung der Machenschaft in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts führt, die Erscheinungsformen des reinen Nihilismus sind. Gegen Mitte der 1940er Jahre kommt Heidegger zu der Überzeugung, dass die »metaphysische Grundeinstellung«, die es vermag, diese abendländische Weltstunde zu begreifen, nicht nur diejenige von Nietzsche, sondern auch die von Marx ist, dessen Denken die absolute Metaphysik Hegels umkehrte und dadurch die äußerste Möglichkeit der Philosophie erreichte. 60 GA 66, S. 240. Vgl. GA 65, S. 126–127. Vgl. GA 41, S. 109–112. 57 Vgl. GA 66, S. 373–374; GA 11, S. 51–79. 58 GA 97, S. 438. Zur Übereinstimmung des »totalen politischen« Glaubens und des »christlichen« Glaubens vgl. GA 65, S. 41, wo Heidegger wahrscheinlich auf das Konkordat von Hitler und Pius XI. anspielt (vgl. dazu GA 95, S. 325–326, n. 47). Trotzdem unterscheidet Heidegger zwischen »Christlichkeit« (die persönliche religiöse Erfahrung) und »Christentum« (die geschichtlich-kulturell-politische Erscheinung der Christlichkeit), zu dem auch die Theologie und die kirchliche Machtpolitik gehören (vgl. GA 16, S. 416; GA 9, S. 14; GA 86, S. 248). Zu Heideggers Wertschätzung des eigentlichen Glaubens und »des Göttlichen im Griechentum, im Prophetisch-Jüdischen, in der Predigt Jesu«, vgl. GA 7, S. 185. 59 GA 97, S. 369. Vgl. S. 357, 409. Der Gedanke, dass sich der jüdisch-christliche Gott die Einzigkeit anmaßt, wird von Heidegger aus Nietzsches Also sprach Zarathustra übernommen (vgl. F. Nietzsche, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 4: Also sprach Zarathustra, 1980, S. 230). 60 Vgl. GA 9, S. 336, 339–340; GA 14, S. 71. Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Marx vgl. D. N. Basta, Zu Heideggers Marx-Interpretation, in R. Wisser (Hrsg.), 55 56
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Diese Überlegungen klingen in der Anmerkung der Schwarzen Heften an, wo Heidegger notiert: »Der Anti-christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti- ist – also wie ›der Christ‹. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. Das Zerstörerische in der Umkehrung der Vollendung der Metaphysik – d. h. der Metaphysik Hegels durch Marx. Der Geist und die Kultur wird zum Überbau des ›Lebens‹ – d. h. der Wirtschaft, d. h. der Organisation – d. h. des Biologischen – d. h. des ›Volkes‹.« 61
§ 4. Der Holocaust als »Selbstvernichtung« Europas und das Gespräch mit den Juden In der unmittelbar folgenden Anmerkung umreißt Heidegger eine seynsgeschichtliche Auslegung der Shoah, die er als Selbstvernichtung der Technikzivilisation und mithin der in ihr zugespitzten metaphysischen Überlieferung betrachtet. Diese Überlieferung im Allgemeinen und ihre nihilistische Vollendung in der Endphase der Neuzeit im Besonderen nennt er das »Jüdische«. Er schreibt dieses Wort in Anführungszeichen und meint es »im metaphysischen Sinne«. Dementgegen verwendet er den Terminus »Jüdisches« ohne Anführungszeichen, um die wirklichen Juden anzusprechen, die in der von der Machenschaft verwalteten »Tötungsmaschinerie« »liquidiert« 62 wurden. Er merkt an: »Wenn erst das wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht« 63. Martin Heidegger – Unterwegs im Denken. Symposion im 10. Todesjahr, FreiburgMünchen 1987, 215–238. 61 GA 97, S. 20. 62 Vgl. GA 79, S. 56, wo Heidegger sich im Jahre 1949, im Rahmen einer Darstellung des Wesens der Technik, auf die Vernichtungslager beruft. Dass er sich öffentlich nur an dieser Stelle über die Shoah geäußert hat, bezeugt, dass die Anspielung auf den Holocaust in den Schwarzen Heften aus der Mitte der 1940er Jahren (GA 97, S. 18) eine Klärung der vernichtenden Macht der Technik bezweckt. Heidegger spielt auf die Konzentrationslager und auf die Judenverfolgung an in GA 97, S. 59, 84–85, 99–100, 127, 246, 463. Das Wort »Tötungsmaschinerie« gebraucht er – obzwar hinsichtlich der Taten der Alliierten gegen die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg – ebd., S. 148, 151, 156. 63 GA 97, S. 20.
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Aus Parallelstellen, die von einer »Vernichtung« der ganzen Erde handeln und von Mitte der 1930er Jahre bis in die Mitte der 1940er Jahre verfasst wurden, geht deutlich hervor, dass der Holocaust nach Heidegger keine Selbstvernichtung des jüdischen Volkes und Geistes als solchen ist, sondern »die höchste Stufe der Technik«, die darin besteht, dass »sie als Verzehr nichts mehr zu verzehren hat – als sich selbst« 64, und zwar als die von ihr gestaltete neuzeitliche Weltzivilisation: »Europa« 65. Laut Heidegger ist »die Vorform Europas« »das Christentum, d. h. die paulinisch-gnostisch-römisch-hellenistische Organisation des evangelischen Lebens Jesu« 66, die sich mit dem Abendland nicht deckt, sofern letzteres im Griechentum seine Wurzeln hat. Gegen Ende des zweiten »totalen« Krieges glaubt Heidegger, dass die Selbstvernichtung Europas ein notwendiger Schritt zum Untergang des Abend-Landes auf dem Weg zu einer anderen Morgen-Röte sei, in die es gleichzeitig denkerisch vorlaufen müsse. Demnach schließt er die das »Jüdische« betreffende Anmerkungsreihe mit der Notiz: »Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums geblieben« 67 ist. Ein solches »erschweigendes« Andenken, das auf den Wesensursprung aller Tragödien des 20. Jahrhunderts zurückgehen will, ist das, was Heidegger für das einzige mögliche Wort zur Shoah gehalten hat. Es besinnt sich auf dasjenige rechnende Denken, das durch das »Jüdische« in den Schwarzen Heften veranschaulicht, aber in den Ebd., S. 18. Vgl. S. 367, 384, 386, 413, 426; GA 94, S. 282, n. 247; GA 71, S. 101– 102. In GA 96, S. 238, ist die Rede von »einer höchsten Vollendung der Technik«. Sein »letzter Akt wird sein, daß sich die Erde selbst in die Luft sprengt«. Diese Sprengung wird als »Reinigung des Seins« angesehen. Das Wort »Reinigung« deutet gewiss nicht auf den Holocaust hin, da die zitierte Überlegung um 1940 verfasst wurde und Heidegger dasselbe Wort gegen die nationalsozialistischen Rassenmaßnahmen in einer Notiz von 1939 verwandt hat (vgl. GA 95, 402, n. 47). 65 Vgl. GA 97, S. 144. Abweichend vom synonymen Gebrauch der Wörter »Europa« und »Abendland« in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, weist Heidegger dem Begriff »Europa« nicht denselben Sinn wie dem Terminus »Abendland« zu. Zum Unterschied zwischen »Europa« und »Abendland« vgl. GA 97, S. 112, 143–144, 375, 390; GA 71, S. 95–100; GA 96, S. 274, wo Heidegger, an Oswald Spengler denkend, Europa als »die Verwirklichung des Untergangs des Abendlandes« bestimmt. 66 GA 97, S. 144. 67 Ebd., S. 20. 64
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Die Seinsfrage und die Schwarzen Hefte
größeren Arbeiten nicht als das Eigene der Juden begriffen wird. Von der nationalsozialistischen Judenauffassung Abstand nehmend, schreibt Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie tatsächlich: »Der reine Blödsinn zu sagen, das experimentelle Forschen sei nordischgermanisch und das rationale dagegen fremdartig! Wir müssen uns dann schon entschließen, Newton und Leibniz zu den ›Juden‹ zu zählen. Gerade der Entwurf der Natur im mathematischen Sinne ist die Voraussetzung für die Notwendigkeit und Möglichkeit des ›Experimentes‹ als des messenden.« 68 Indem Heidegger die ursprüngliche Zusammengehörigkeit des experimentellen Forschens und seiner rationalen Grundlegung durch den mathematischen Naturentwurf betont, erklärt er die Zusprechung des rationalen Denkens an die Juden als »reine[n] Blödsinn« 69. Denn das Rationale ist dem Denkvermögen keines besonderen Volkes eigen, sondern kennzeichnet das Neuzeitliche schlechthin. Auch das schöpferische Denken ist nicht auf die Urteilskraft gewisser Menschengruppen oder Philosophen festzulegen. In seinen Notizbüchern merkt Heidegger an: »Die Werkstatt des Denkens kennt keine Lehrlinge und Gesellen; ihr Meister ist der geborene Lehrling.« 70 Der Meister, der Heidegger die Augen »eingesetzt« 71 hat, war ein Jude: Husserl, dessen Phänomenologie er auch in den Schwarzen Heften hoch schätzt, obwohl er sie sich nicht als eine eigene Lehre aneignete. 72 Hans Jonas, Karl Löwith, Herbert Marcuse, Elisabeth Blochmann, Hannah Arendt und viele andere der bedeutendsten Denker jüdischer Herkunft des 20. Jahrhunderts waren seine Studenten. 73 Mit ihnen hat Heidegger ein Gespräch geführt, das GA 65, S. 163. Ibidem. Zur von Heidegger angesprochenen naturwissenschaftlichen Frage vgl. E. Giannetto, Physical Theories and Theoretical Physics, in A. Rossi (Hrsg.), Atti del XIII Congresso Nazionale di Storia della Fisica, Conte, Lecce 1995, S. 163–177. 70 GA 97, S. 510. Andere Stellen, an denen Heidegger die Wechselbeziehung von Schülern und Lehrern unterstreicht, befinden sich auf S. 230, 308, 362, 463, 471. 71 Vgl. GA 63, S. 5. 72 Vgl. GA 97, S. 462–463. Dabei betont Heidegger, dass er nie – auch nicht während seiner Rektoratszeit – etwas gegen Husserl und andere Juden unternommen hat. Obwohl diese Anmerkung »nicht zur Verteidigung, sondern als Feststellung« gedacht ist, gibt sie das wieder, was Heidegger in öffentlichen Dokumenten behauptet (vgl. besonders GA 16, S. 382–383, 661–664). Es kann sein, dass Heidegger sich durch sie auf Husserl sachgemäßer als in GA 96, S. 46, n. 24 berufen möchte. 73 Einige von ihnen verneinen überzeugt, dass Heidegger Antisemit war (vgl. H. Jonas, Erinnerungen, a. a. O., S. 122; K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und 68 69
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Rosa Maria Marafioti
wohl für ihn selbst eines der fruchtbarsten gewesen sein wird, wenn er bezüglich seiner Schüler an Elfride Petri offenherzig schreibt: »Freilich: die Besten sind – Juden« 74.
nach 1933, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1986, S. 40; Jaspers’ Gutachten für den Bereinigungsausschuss vom 22. 12. 1945, in M. Heidegger, K. Jaspers, Briefwechsel (1920–1963), hrsg. von W. Biemel, Piper, München-Zürich 1992, S. 271; das von Herbert Marcuse im Jahre 1977 gegebene Interview Viva la muerte! Colloquio con Herbert Marcuse, »L’Espresso«, 24. 04. 1988, auf http://www.namir.it/ marcuse.htm (15. 7. 2017)). 74 Heideggers Brief an seine Frau vom 9. 02. 1928, in M. Heidegger, E. Petri, »Mein liebes Seelchen!«: Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride (1915–1970), a. a. O., S. 156.
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Reinhard Mehring
»Das Jüdische« in der Metaphysik Heideggers schwarze Stellen im Rahmen der Gesamtausgabe 1
I.
Von der Mitwelt zur Nachwelt: Goethe, Wagner, Nietzsche
In der bürgerlichen Bewegung der Goethezeit lief die ästhetische Erziehung des Publikums und Konstruktion der politischen Nation in den Bemühungen um die Schaffung eines »Nationaltheaters« und einer »Schaubühne als moralische Anstalt« einige Zeit einher. Goethe und Schiller wussten schon um die Notwendigkeit einer solchen »Erziehung« und spotteten – etwa in den Zahmen Xenien – deshalb auch gemeinsam auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb. »Wann und wo entsteht ein klassischer Nationalautor?« 2 Diese Frage hat Goethe schon 1795 für die Horen in seinem Aufsatz Literarischer Sansculottismus wörtlich gestellt und gegen jakobinische Kritiker mit einem verhaltenen Verweis auf die Gegenwart positiv beantwortet. Goethe wusste sich in einer »Art von unsichtbaren Schule« des »Nationalgeistes«, sah sich an der Schwelle zur »Weltliteratur« und ärgerte sich über »junge Männer von Geist und Talent«, »die auf ein Theater warten, welches da kommen soll«. 3 Das Weimarer Bündnis formte sich polemisch im Bewusstsein der eigenen Überlegenheit. Goethe Mein Vortrag auf der Wiener Jahrestagung hieß: »Kehre des Antisemitismus. ›Das Jüdische‹ in der Metaphysik«. Der ausgearbeitete Text trifft nun im Herbst 2017 bereits – durch die Publikation von Briefen zwischen Martin und Fritz Heidegger sowie weitere Veröffentlichungen – auf einen veränderten Diskussionskontext. Auch um den Text deutlicher von früheren Ausführungen zu unterscheiden, sind die Teile I– III hinzugefügt. Dazu vgl. Verf., Heideggers Überlieferungsgeschick. Eine dionysische Selbstinszenierung, Würzburg 1992; Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2016. 2 Johann Wolfgang v. Goethe, Literarischer Sansculottismus, in: Hamburger Ausgabe, hrsg. Erich Trunz, München 1981, Bd. XII, 239–244, hier: 240. 3 Goethe am 1. Februar 1808 an Heinrich v. Kleist, in: Goethe und die Romantik. Briefe und Erläuterungen, hrsg. Carl Schüddekopf / Oskar Walzel, Weimar 1899, Bd. II, 74. 1
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Reinhard Mehring
kümmerte sich deshalb auch nach Schillers frühem Tod, so durch die Herausgabe des sechsbändigen Briefwechsels (1828/29), um das Andenken und die Ruhmesbildung des Freundes. Um der »Hebung« des Theaters willen übernahm er lange Jahre die Intendanz des Weimarer Theaters. Zwar schuf er parallel zu seiner autobiographischen Selbsthistorisierung schon einen intensiven Betrieb der Archivierung, Edition und Interpretation seiner Werke; er begründete ein neues Niveau der Selbstedition und wusste sich – 1825 durch Metternich 4 – für seine »Ausgabe letzter Hand« autorrechtliche Privilegien zu verschaffen, die für die Geschichte des Autorenrechts wichtig wurden; 5 eine ausgeprägte Nachlassmetaphysik, wie Heidegger sie vertrat, findet sich aber bei Goethe eigentlich nicht, hatte er doch als Dichter seit seinen Jugendwerken – dem Götz von Berlichingen und den Leiden des jungen Werther – stets literarischen Erfolg und zählte er der Mitwelt schon zur »Weltliteratur«. Er wurde vom Publikum sogleich »als ein literarisches Meteor angestaunt«, 6 obgleich er selbst eine »ungeheure Kluft« 7 zwischen Autor und Publikum empfand. Der Ausgabe letzter Hand gingen andere Selbsteditionen Goethes voraus. Im September 1786 war er nach Italien entflohen, um sich als Künstler neu zu entdecken; für seinen Aufenthalt nahm er
Dazu Heinz Fröbe, Die Privilegierung der Ausgabe »letzter Hand« Goethes sämtliche Werke. Ein rechtsgeschichtlicher Beitrag zur Goetheforschung und zur Entwicklung des literarischen Urheberrechts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 2 (1960), 187–229. 5 Zur »Seilschaft zwischen dem Dichter Goethe und seinen philosophischen Interpreten« pointiert Friedrich Kittler, Philosophie der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin 2013, 160 ff.; die Literatur zur Wirkungsgeschichte Goethes ist uferlos. Mit Blick auf Heidegger interessiert zunächst die eindrucksvolle Dokumentation von Waltraud Hagen (Hg.), Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werk. Teil 2: Die Ausgabe letzter Hand, Berlin (Ost) 1982; zahlreiche weitere Studien zur Editionsgeschichte, zum Goethe-Archiv, der Goethe-Gesellschaft und zum Goethekult und Umgang mit dem »Klassiker« wären zu nennen. Goethes einziger Sohn August v. Goethe starb bekanntlich schon vor dem Vater. Die Nachlasspolitik lag deshalb zunächst in den Händen von Riemer, Eckermann sowie älteren Freunden, wie dem Kanzler Müller. Erst später wurde die Enkelgeneration zu Akteuren. Dazu interessant Dagmar v. Gersdorff, Goethes Enkel. Walter, Wolfgang und Alma, Frankfurt 2008; vgl. jetzt Paul Kahl, Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Eine Kulturgeschichte, Göttingen 2015 m. w. N. 6 Johann Wolfgang v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Hamburger Ausgabe Bd. IX, 596. 7 Johann Wolfgang v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Hamburger Ausgabe Bd. IX, 593. 4
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»Das Jüdische« in der Metaphysik
sich die Vollendung diverser Jugenddichtungen sowie der »von Göschen zu besorgenden Ausgabe« vor. 8 Goethe vollendete Iphigenie und Egmont sowie weitere Stücke und wollte auch zwei schwere »Steine« noch »den Berg hinauf« 9 bringen: Tasso und Faust. Am Ende seiner Reise legte er seine »drei letzten Bände« fest und fand den »Faden« 10 zum Faust wieder. »Es ist ein wunderliches Ding, so ein Summa Summarum seines Lebens zu ziehen. Wie wenig Spur bleibt doch von einer Existenz zurück!« 11 Durch die Redaktion seiner Schriften erfuhr Goethe in Italien an sich, »dass ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin«. 12 Diese frühe Selbsterfahrung der Selbstedition prägte noch seine spätere autobiographische Auffassung seiner Ausgabe letzter Hand. Goethe adressierte sich früh schon sehr bewusst primär an seine Mitwelt und nicht an eine ferne Nachwelt, auch wenn er mancherlei Diskrepanzen zwischen der Publikumsresonanz und seiner Selbstauffassung empfand und von einer »Verachtung des Publikums« 13 sprach, die er in Dichtung und Wahrheit auf die Jugendzeit und ungerechte Urteile über den Siebenjährigen Krieg zurückführte. Während Heidegger insbesondere vom Nietzsche- und Hölderlin-Nachlass geprägt war, wurde der älteren Generation Goethes Gesamtwerk zur prägenden gymnasialen Erfahrung und zum editorischen Ereignis. Ernst Cassirer, 1874 geboren und also 15 Jahre älter als Heidegger, erinnerte 1940 im schwedischen Exil in seinen späten Goethe-Vorlesungen: »Der gesamte Nachlass Goethes war bis zum Jahre 1885 völlig unbekannt. Er wurde von den Enkeln Goethes, Wolfgang und Walther von Goethe, eifersüchtig gehütet – und Niemandem wurde der Einblick in ihn gestattet. Das wurde erst anders, als Walther von Goethe am 18. April 1885 starb. In seinem Testament hatte er die Grossherzogin Sophie von Sachsen-Weimar zur Erbin des Nachlasses eingesetzt. Und nun endlich konnte man an die
Johann Wolfgang v. Goethe, Italienische Reise, in: Hamburger Ausgabe Bd. XI, 21. Johann Wolfgang v. Goethe, Italienische Reise, in: Hamburger Ausgabe Bd. XI, 432. 10 Johann Wolfgang v. Goethe, Italienische Reise, in: Hamburger Ausgabe Bd. XI, 525. 11 Johann Wolfgang v. Goethe, Italienische Reise, in: Hamburger Ausgabe Bd. XI, 516. 12 Johann Wolfgang v. Goethe, Italienische Reise, in: Hamburger Ausgabe Bd. XI, 518. 13 Johann Wolfgang v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Hamburger Ausgabe Bd. IX, 48. 8 9
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grosse kritische Gesamtausgabe von Goethes Werken herangehen.« »Ich selbst habe das Erscheinen dieser Ausgabe, die sich über Jahrzehnte erstreckte, noch erlebt – und ich habe sie Band für Band erhalten«. 14
Cassirer begriff diese Nachlasspolitik als eine Voraussetzung für die Wilhelminische Goethe-Philologie, und er blieb auch als Philosoph Goetheaner. Der Goethe-Kult setzte früher bereits, bald nach 1848, nach dem Scheitern des Frankfurter Anlaufes zur Nationalstaatsgründung, als kompensatives gesamtdeutsches Projekt ein. So sollte das Goethehaus früh schon zur Nationalstiftung und zum Nationalmuseum werden. Nationalstaat und Nationalautor entstanden parallel und gleichursprünglich. Nach 1848 schloss Richard Wagner dagegen aus seinen Erfahrungen und seiner subjektiven Empfindung mangelnder Resonanz beim Publikum auf die Notwendigkeit einer umfassenden ästhetischen und politischen Revolution und begann im allergrößten Stil mit der Organisation der Wirkungsbedingungen des eigenen Werkes. Auch an den damaligen Überlegungen zur Errichtung einer »Goethestiftung« entdeckte er die Aufgabe, dass »dem Dichter die Organe der Verwirklichung [seiner Werke] erst zu verschaffen seien«. 15 Schon Goethe habe an der Möglichkeit adäquater Aufführungen seiner Werke gezweifelt: »Wohl überlegt, und alles zusammengehalten, kann daher die ›Goethestiftung‹ zunächst nur ein einziges bezwecken wollen: die Herstellung eines Theaters im edelsten Sinne des dichterischen Geistes der Nation, d. h. ein Theater, welches dem eigentlichsten Gedanken des deutschen Geistes als entsprechendes Organ zu seiner Verwirklichung im dramatischen Kunstwerk diene.« 16
Wagner knüpfte nach 1848 also an den Theaterdiskurs der Weimarer Klassik an; er adressierte sich aber von der Mitwelt auf die Nachwelt um, unterschied zwischen »Oper und Drama« und schuf sich sein eigenes Theater für sein »Kunstwerk der Zukunft« und seine »Zukunftsmusik«. Er lehnte das »absolute Kunstwerk« als Abstraktion vom bestimmten Publikum ab und verstand die »ästhetische Wissenschaft« als Reflexion auf die »Bedingungen« der Möglichkeit einer Ernst Cassirer, Goethe-Vorlesungen, hrsg. John Michael Krois, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte Bd. XI, Hamburg 2003, 7 f. 15 Dazu Richard Wagner, Über die ›Goethestiftung‹. Brief an Franz Liszt, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen in zehn Bänden, hrsg. Wolfgang Golther, Berlin o. J., Bd. V, 5–19, hier: 8. 16 Wagner, Über die ›Goethestiftung‹, 16. 14
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»Das Jüdische« in der Metaphysik
angemessenen Wirkung seiner Kunst. 17 Parallel zur Errichtung des Bayreuther Festspielhauses gab er deshalb auch Gesammelte Schriften und Dichtungen in chronologischer Reihe und zehn Bänden selbst heraus. Im »Vorwort zur Gesamtherausgabe« schrieb er 1871: »Ob es den außerordentlichen Bemühungen glücken wird, meinen künstlerischen Werken durch stete Zusicherung korrekter Aufführungen zu einem wahren Leben in der Nation zu verhelfen, muss ich dem Schicksal anheim stellen; doch glaube ich diese Bemühungen zu unterstützen, wenn ich andererseits dafür sorge, dass wenigstens meine schriftstellerischen Arbeiten des Vorteiles aller Literaturprodukte, klar und übersichtlich dem Publikum vorzuliegen, teilhaftig seien.« 18
In den Bemühungen um die Aufführung seiner Werke wurde Wagner die »Grundverderblichkeit unseres Opernwesens« und völlige Unmöglichkeit deutlich, auf absehbare Zeit eine angemessene Aufführung insbesondere des Nibelungenrings zu realisieren. Er verzichtete deshalb auch jahrelang auf Aufführungen seiner Werke und fasste den »ausschweifenden« und »verzweifelten Gedanken« der Errichtung eines eigenen Theaters und »Bühnenfestspiels«: »Von der Erkenntnis der Grundverderblichkeit unseres Opernwesens für mein Vorhaben, wenn ich dieses in die Pflege jenes gegeben hätte, war ich ausgegangen, und der Widerwille vor der unmittelbaren Berührung mit ihm hatte mich schließlich hauptsächlich dazu bestimmt, mit meinem Gedicht als Literaturprodukt hervorzutreten, gleichsam wie um zu erfahren, ob meine Arbeit, von dieser Seite betrachtet, genügende Aufmerksamkeit erregen könnte, um in den Gebildeten der Nation die Neigung zu einem näheren Eingehen auf meinen damit verbundenen weiterreichenden Aufführungsplan zu erwecken.« 19
Wagner setzte auf die Organisation seiner »Freunde« und auf einen »deutschen Fürsten«, der die Wirkungsbedingungen des »Bühnenfestspiels« schaffen sollte. Wohl kein anderer deutscher Künstler dachte derart intensiv über einen langen Zeitraum hinweg über die
Dazu Richard Wagner, Eine Mitteilung an meine Freunde, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen Bd. IV, hier: 234 ff. 18 Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen Bd. I, Vorwort. 19 Richard Wagner, Epilogischer Bericht über die Umstände und Schicksale, welche die Ausführung des Bühnenfestspiels ›Der Ring des Nibelungen‹ bis zur Veröffentlichung der Dichtung desselben begleiteten, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen Bd. VI, 257–272, hier: 265. 17
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Reinhard Mehring
Wirkungsbedingungen seiner Kunst nach und schuf sich derart erfolgreich für Epochen und Kontinente sein Theater und Publikum. Sein anfängliches Scheitern am zeitgenössischen Opernbetrieb führte Wagner dabei – gegen offenbare Tatsachen – nicht zuletzt auf den Einfluss des »Judentums in der Musik« zurück. Er kritisierte es antisemitisch als Avantgarde falscher Modernität und wurde zum einflussreichsten Begründer des modernen, säkularen Antisemitismus. Ohne Wagner kein Hitler! Nietzsche erlebte die Bayreuther Verwirklichung von Wagners Ehrgeiz aus nächster Nähe und entwickelte sein philosophisches Werk und seinen Geltungsanspruch dann im Kampf mit Wagner und in der Opposition gegen das Bayreuther Festspielwesen. Wagners revolutionäre Organisation der Wirkungsbedingungen seiner »Zukunftsmusik« war ihm bestens bekannt und er war in der Konkurrenz mit Wagner ebenfalls von der epochalen Bedeutung seines Werkes für die Nachwelt überzeugt. Der Streit war recht einseitig: Wagner schickte 1873 noch die ersten neun Bände seiner Werke. 20 Schon in den 70er Jahren wurde sich Nietzsche dagegen, auch im Vergleich mit Wagner, der Wirkungslosigkeit seiner Schriften in der Mitwelt bewusst. Nach der vernichtenden Kritik von Wilamowitz-Moellendorff an der Tragödienschrift verlor er damals den Kontakt zur Philologenzunft; der Bruch mit Wagner, die ständigen Krankheitsleiden und die Niederlegung der Basler Professur entfremdeten ihn dann weiter seiner Gegenwart. Bald musste Nietzsche seine Schriften auf eigene Kosten verlegen, und er empfand eine Diskrepanz zwischen dem Stand seiner Überlegungen und seiner weiteren weltgeschichtlichen Aufgabe. Seinen »Sohn Zarathustra« betrachtete er – im Brief vom 7. April 1884 an Overbeck – nur als »Vorhalle« für die »Ausarbeitung meiner ›Philosophie‹«. 21 Wagners romantische Umwertung der Rangordnung von Wort und Ton versuchte er mit den Mitteln seiner »dionysischen« Philosophie seinerseits umzukehren. Im Ecce homo meinte er: »Ich selber bin noch nicht an der Zeit, einige werden posthum geboren.« 22 Nietzsche zog aus seiner Erfahrung relativer zeitgenössischer Resonanzlosigkeit, in der Schule Wagners, also komplexe
Dazu vgl. Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Werk – Leben – Zeit, Stuttgart 2013, 307. 21 Nietzsche am 7. April 1884 an Overbeck, in: Werke, hrsg. Karl Schlechta, München 1966, Bd. III, 1218. 22 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Werke Bd. II, 1099. 20
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»Das Jüdische« in der Metaphysik
publikationsstrategische Konsequenzen, die näher zu rekonstruieren wären. Heidegger kannte Nietzsches epochales Selbstbewusstsein sehr genau, scheint sich mit den Nachlassstrategien von Goethe oder Wagner aber niemals intensiver befasst zu haben. Die epochale Umadressierung aus der Mitwelt an die Nachwelt nahm er deshalb auch ziemlich unreflektiert von der Erfahrung der Hölderlin- und NietzscheRezeption des 20. Jahrhunderts her wahr. Längere Ausführungen zu Goethe oder Wagner finden sich im Gesamtwerk nicht. Man wundert sich, dass sich die Heidegger-Forschung darüber, im Kanon Heideggers befangen, selten verwunderte. Immerhin geht Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen eingangs auf Wagners Konzeption des »Gesamtkunstwerks« ein: Er nennt dessen Kunstwerk eine »Feier der Volksgemeinschaft« (GA 6.1, 84), schwenkt dann aber, wahrscheinlich ohne nähere Kenntnis von Wagners Schriften, schnell in Nietzsches Polemik ein und meint: »Das Werk ist nur noch Erlebniserreger.« (GA 6.1, 85) Heidegger zitiert zwar aus Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft, folgt dann aber Nietzsches Kritik und formuliert auch im Jargon von Hegels Romantikkritik (GA 6.1, 86) äußerst abschätzig; er versteht Wagner nicht vom Werkbegriff, sondern vom Effekt des dionysischen »Gefühlszustandes« her, zitiert Kurt Hildebrands Schrift Wagner und Nietzsche und meint zutreffend: »Wagner brauchte Wagnerianer und Wagnerianerinnen.« (GA 6.1, 88) Heidegger folgt hier offenbar Nietzsches Kritik und scheint keine selbständige Wahrnehmung von Wagners Reflexion auf die Wirkungsbedingungen seiner Kunst zu haben. Wenn er sich von der Mitwelt auf die Nachwelt verlegt und sein Werk intentional an die »künftigen Menschen« adressiert, folgt er Nietzsches Selbstverständnis, das von der Erfahrung Wagners geprägt war und sich gegen den Bayreuther Betrieb richtete. Die editorischen Erschließungen der Nachlässe von Nietzsche und Hölderlin waren für Heidegger prägende Ereignisse seiner akademischen Jugend. In seinen Nietzsche- und Hölderlinforschungen reflektierte er auf den Umgang mit nachgelassenen Texten und suchte das »eigentliche« Vermächtnis im Nachlass der Denker auf. Im Initiationsgang der Heidegger-Gesamtausgabe ist zwischen exoterischen und esoterischen Abteilungen zu unterscheiden: Heidegger projektierte die seinssemantische Kehre ins postmetaphysisch-»andere Denken« und zielte mit der Organisation der Gesamtausgabe vor allem auf die Publikation der dritten und vierten Abteilung. Anlässlich des Erscheinens der Holzwege schrieb er 143 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Reinhard Mehring
dazu an seinen Bruder Fritz, der intensiv mit der Abschrift der »Manuskripte« beschäftigt war: »Man wird meinen, jetzt hat Heidegger sein Schweigen gebrochen, er spricht das Entscheidende aus. Aber diese Mitteilung ist gerade das Verschweigen. Wir verraten das Schweigen nämlich, solange wir schweigen.« 23
II.
Der Rahmen der vierten Abteilung
Es bedarf keiner Ausführungen, dass Heideggers Werk – von Gadamer bis Kittler 24 – in seiner Rezeption vielfältig anregend wirkte. Durch zahlreiche Themen, Fragen und Thesen gehört es in den Kanon und zu den »Klassikern« der Philosophie. Es dürfte jedoch auch unstrittig sein, dass Heidegger sich gerade im Zentrum seines Selbstverständnisses, der »Seinsfrage«, schon von der Mitwelt, den Zeitgenossen und engsten und ältesten Schülern, nicht angemessen rezipiert und verstanden glaubte. Dabei forderte er eine extensive und intensive Rezeption seiner Schriften ein. Ein selektiver Umgang mit dem Werk ist zwar möglich und legitim. Heidegger forderte aber eine holistische Rezeption. Der Heidegger-Forschung ist es heute auch jenseits von Heideggers Selbstverständnis akademisch aufgegeben, sämtliche Quellen, zumal die von Heidegger selbst zur Veröffentlichung bestimmten, philologisch und editorisch kompetent zu erschließen, in den historischen Kontext einzuordnen und im Zusammenhang des Gesamtwerks kritisch zu diskutieren. Das gebieten insbesondere neue und anstößige Quellen und Befunde. In zwei Monographien und weiteren Veröffentlichungen habe ich über einen Zeitraum von 25 Jahren die Entstehung der Gesamtausgabe beobachtet und als Publikationspolitik in ihrem eigenen Anspruch analysiert. Dabei unterscheide ich, spitze Formulierungen Nietzsches aufnehmend, zwischen »kleiner« und »großer« Politik: zwischen der Universitätspolitik des Hochschullehrers und Rektors und der »großen Politik« der Metaphysikkritik und Umstellung der Martin Heidegger am 21. September 1949 an den Bruder Fritz, in: Walter Homolka / Arnulf Heidegger (Hrsg.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg 2016, 141. 24 Zu Kittlers Heidegger-Rezeption jetzt Verf., Mathematikvergessenheit. Friedrich Kittlers Revision von Heideggers Seinsgeschichte, in: Neue Rundschau 127 (2016), 102–121. 23
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»Das Jüdische« in der Metaphysik
Sprache der Philosophie auf ein »anderes Denken«, das Heidegger mit dem Projekt der Gesamtausgabe im großen Stil mit hohem Anspruch seit dem Scheitern seines Rektorats betrieb. Die Forschung muss sich dem Anspruch der Gesamtausgabe stellen und den Entstehungsprozess im Detail historisieren. Sie muss auch das Gefüge der Gesamtausgabe in den einzelnen Abteilungen, unterschiedlichen Textsorten und literarischen Genres genau analysieren und über die Gesamtaussage hinaus die jeweiligen Aufgaben der Abteilungen betrachten. Dabei ist heute unabweisbar, dass die Werkgestalt der Gesamtausgabe von Heidegger selbst in den 70er Jahren nicht mehr vollkommen überschaut wurde. Der auf Goethes Vorbild referierende Titel einer Ausgabe letzter Hand ist zwar nicht unpassend; Goethe plante seine Ausgabe aber über einen längeren Zeitraum detaillierter durch und gab darüber vor der Öffentlichkeit nähere Auskunft. 25 Heidegger legte die einzelnen Bände der Gesamtausgabe, anders als Goethe, dagegen nicht mehr selbst exakt fest und gestaltete sie auch nicht autorschaftlich im Detail durch. Nur wenige Bände konnte er noch selbst imprimieren. Goethes Ausgabe letzter Hand war auch nicht in gleicher Weise als Nachlassausgabe angelegt, obgleich Goethe selbst noch Supplementbände vorsah und nicht nur Faust II, sondern auch seine Schriften zur Farbenlehre und zur Naturwissenschaft zur posthumen Publikation bestimmte, so dass auch bei ihm, wenigstens ansatzhaft, von einer posthumen Adressierung eines philosophischen Vermächtnisses zu sprechen ist. Im hermeneutischen »Vorgriff der Vollkommenheit« (Gadamer) lässt sich der Aufbau der Gesamtausgabe heute rekonstruktiv betrachten. Die editorische Realisation des Anspruchs der Gesamtausgabe ist dabei über Heideggers letzte und spärliche Verfügungen hinaus auch das Werk der Herausgeber: insbesondere von Hermann Heidegger und Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Die Anteile sind hier nicht zu ermessen. Als Lebenswerk lassen sie sich schwerlich hoch genug bewerten, welche Einwände auch immer in zahlreichen Einzelfragen nötig sind und heute in der Kontroverse tatsächlich gemacht werden. Es ist hier nicht zu gewichten, ob der gewaltige Anteil Friedrich-Wilhelm von Herrmanns, um nur diesen zu nennen, dabei eher in der Analogie mit Platon, Friedrich Wilhelm Riemer oder auch Elisabeth Förster-Nietzsche zu sehen ist. Ohne v. Herrmann gäbe es Dazu vgl. Johann Wolfgang v. Goethe, Anzeige von Goethes sämtlichen Werken, in: Jubiläums-Ausgabe Bd. 38, 41–48.
25
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die Gesamtausgabe in der vorliegenden autorintentionalen Fassung nicht und die »Seinsfrage« wäre nicht im extensiven Sinne Heideggers editorisch gestellt. In der Kontroverse sind bislang nur wenige handschriftliche Verfügungen über das integrale Gefüge der Gesamtausgabe und die eigenen Aufgaben der vierten Abteilung bekannt geworden. Meine Analyse berücksichtigte 2016 26 vor allem die vertraglichen Bestimmungen der Entscheidung zur Gesamtausgabe sowie einige Nachworte und Erklärungen. Peter Trawny wies mich inzwischen auf weithin unbekannte Ausführungen hin, die unter dem Titel »Eine gefährliche Irrnis« 27 als Jahresgabe 2008 der Heidegger-Gesellschaft publiziert wurden. Heidegger betont hier erneut den integralen Zusammenhang und die zentrale Bedeutung der vierten Abteilung im Gesamtwerk. Während der Verlagsvertrag 1973/74 noch von »Aufzeichnungen und Zusätzen« sprach, redet er nun von »Aufzeichnungen und Hinweisen« und bekräftigt die integrale Bedeutung der Abteilung für das volle Verständnis der Gesamtausgabe. Er spricht von einem »fragenderen Fragen[] der Seinsfrage«, einer Erfahrung des »gesparten« und »unvermuteten Vorenthalts« und einem »Vermächtnis an Sterbliche«, von der »Gewährnis einer Einkehr« in ein »Ent-sagen« und einem »Ereignis inmitten der Gewalten der technologischen Welt und der ›reißenden Zeit‹«. Heideggers dunkle Formulierungen lassen sich vielleicht als Andeutungen oder Hinweise auf den politischen Entstehungskontext verstehen. Die Rede von einer »Einkehr« in die »reißende Zeit« Verf., Heideggers ›große Politik‹, 251 ff.; dazu ders., Editionsfragen der HeideggerKontroverse, in: Information Philosophie 44 (2016), Heft 1, 84–90; Postmortaler Suizid. Zur Selbstdemontage des Autors der Gesamtausgabe, in: Walter Homolka / Arnulf Heidegger (Hrsg.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg 2016, 289–299; Harald Seubert (Heidegger heute. Antwort auf vier Fragen von Manuel Herder, in: Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, 342–352, hier: 348) erklärte meine Analyse beiläufig ohne Beleg für »haltlos«. Deshalb zur Klarstellung: Ich erkläre die autorintentionale Gesamtausgabe für ausreichend und halte eine historisch-kritische Gesamtausgabe, wie sie Trawny fordert, in der Prioritätsliste der deutschen Universität für nachrangig. Ich argumentiere normativ und schließe eine solche Ausgabe faktisch nicht aus. Völlig haltlos wird Seuberts Bemerkung, wenn er seinerseits »als mittelfristiges Projekt eine kommentierte Studienausgabe« (348) wünscht, ohne zu spezifizieren, welche Texte da hineingehörten und nach welchen Kriterien sie kommentiert werden sollten. 27 Martin Heidegger, ›Eine gefährliche Irrnis‹, Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 2008, 11–15. 26
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scheint jedenfalls eine politische Kontextualisierung des »anderen Denkens« und eine politische Lesart des »Seinsdenkens« nahezulegen. Wie sonst sollte man sie verstehen? Die geläufige Rede von einer »Werkstatt«, einem mehr oder weniger improvisierten Gedankenlaboratorium, kann dagegen als Sinn- und Funktionsbestimmung der vierten Abteilung nicht genügen; sie mag zwar manche rohe und heterogene Züge der Aufzeichnungen treffen, nicht aber den eigenen starken Geltungsanspruch, den Heidegger mit der vierten Abteilung verband. Die vierte Abteilung ist kein loser Zettelkasten, den Heidegger ohne Werkanspruch als mehr oder weniger lässliche und kontingente Vorstufen bündiger Notate beigab. Solche losen Blätter sammelte er außerhalb der Gesamtausgabe in Ordnern und bestimmte sie nicht zur Veröffentlichung. Heidegger betrachtete die vierte Abteilung nicht als Vorstufe, sondern vielmehr als Schlusswerk. Auch in seinen Aufzeichnungen »Eine gefährliche Irrnis« betonte er den Initiationsgang sukzessiver Edition und Lektüre. So schreibt er: »Nötig bleibt vielmehr der wiederholte Durchgang der Abteilungen I–III mit ihren unvermeidlichen Irr-, Ab- und Umwegen, damit sich der Seinsblick für Abteilung IV auch nur um ein Geringes öffnet […]«. Für die Publikation der Schwarzen Hefte könnte das besagen, dass der Durchgang durch die ersten drei Abteilungen dem Leser die Voraussetzungen vermittelt, Heideggers politische Gegenwartswahrnehmung nachzuvollziehen und gleichsam zu verstehen und zu verzeihen. Die ganze Gesamtausgabe lässt sich dann als rechtfertigende Apologie von Heideggers politischem Selbstverständnis und Scheitern im Rektorat betrachten. Ich meine zwar nicht, dass diese späten Aufzeichnungen zur vierten Abteilung eine hinreichende Erklärung der Aufgaben der vierten Abteilung geben. Zweifellos aber unterstreichen sie das Gewicht der Abteilung und die Zugehörigkeit der Schwarzen Hefte. Ein Blick auf die vorliegenden Bände zeigt, dass die Dokumentation der Seminare neben den Schwarzen Heften ein quantitatives Herzstück der vierten Abteilung bildet. Bisher wurden vor allem Seminarbände und Schwarze Hefte publiziert. Ich spreche deshalb von politischer Pädagogik und einem pädagogisch-politischen Anwendungsdiskurs des »Seinsdenkens«. 28 In schwacher Lesart dient die vierte Abteilung, im Licht der Selbstinterpretation, der »Kehre« und »seinsgeschichtDazu schon Verf., Die politische Abteilung der Gesamtausgabe. Zum Geltungsanspruch der »Schwarzen Hefte«, in: Marion Heinz / Sidonie Kellerer (Hg.), Martin
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lichen« Gesamtinterpretation des Werkes. Von den Seminarbänden her wäre dabei mehr von der pädagogischen »Zucht und Züchtung« des Heideggerianers qua semantischer Revolution des »anderen Denkens«, von den Schwarzen Heften her mehr von der Artikulation der politischen Kontextbedingungen des Werkes zu sprechen. Wie v. Herrmann verstehe ich die Gesamtausgabe autorintentional als strikten Initiationsgang und betrachte den Durchgang durch die Seminarbände also als notwendige Voraussetzung für die adäquate Lektüre der Schwarzen Hefte. Dann konstruiert die vierte Abteilung gewissermaßen den idealen Heideggerianer, der in der totalen Rezeption und Teilnahme an allen exoterischen und esoterischen akademischen Veranstaltungen die notwendige Initiation in das Verständnis von Heideggers Wahrnehmung der Zeitgeschichte als Seinsgeschichte und Ereignis erhielt. Ich lasse dahingestellt, ob die Gesamtausgabe nur auf eine solche Selbstapologie zielt oder als Anwendungsdiskurs auch eine multiplikatorische Paraphrase und Transposition des »seinsgeschichtlichen« Diskurses in künftige Zeiten fordert. Wünschte Heidegger seminaristisch gebildete Hörer und Schüler, die das 21. Jahrhundert analog aus der Zeitgeschichte in die Seinsgeschichte übersetzen? Eine Analyse der Gesamtausgabe gehört heute zweifellos zu den vordringlichsten Aufgaben der Heidegger-Forschung. Ich beanspruche nicht, die Quellen zur Gesamtausgabe voll erschlossen und die Sinnanalyse detailliert geleistet zu haben. Mit dem Titel »Eine gefährliche Irrnis« scheint Heidegger aber das politische Zwielicht der vierten Abteilung anzudeuten und zuzugeben.
III. Holistische Exegese und Antisemitismus Was haben die bisherigen Ausführungen nun mit der Antisemitismusfrage zu tun? Theodor W. Adorno 29 polemisierte und spottete einst über eine musikästhetische Rezeptionspraxis, die nur die Rosinen anheimelnder »schönen Stellen« herauspickt und zu strukturellem Hören nicht mehr fähig ist. Analog stelle ich mich gegen eine Reduktion der Schwarzen Hefte auf wenige »schwarze Stellen« und Heideggers ›Schwarze Hefte‹. Eine philosophisch-politische Debatte, Berlin 2016, 291–309. 29 Theodor W. Adorno, Schöne Stellen, in: Gesammelte Schriften Bd. 18: Musikalische Schriften V, Frankfurt 1997, 695–718.
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plädiere für eine »holistische« Heidegger-Interpretation vom autorintentionalen Gesamtrahmen der Gesamtausgabe her. In der »neuen Heidegger-Debatte« (Marion Heinz) 30 sehe ich meine Aufgabe und Rolle im hermeneutischen Verweis auf den Rahmen und Geltungsanspruch der Gesamtausgabe. Damit bestreite ich nicht die Bedeutung der Antisemitismusfrage für die Heidegger-Forschung. Als Carl Schmitt-Experte habe ich mich mit dem rechtsintellektuellen Antisemitismus der Hitler-Heidegger-Generation – beide wurden ja 1889 geboren – vielmehr intensiv befasst und dabei verstärkt auch den Blick von den Tätern auf die Opfer verschoben und Zeugnisse jüdischer Holocaust-Opfer ediert. 31 In der »neuen Heidegger-Debatte« wundert man sich bisweilen über die intensive Diskussion der wenigen antisemitischen Äußerungen der Schwarzen Heften. Vergleichbare Äußerungen waren von Heidegger ja schon vor 1933 insbesondere aus den Briefen an Elfride bekannt; Nachkriegsäußerungen nach 1945, so Heideggers empörender Brief an Herbert Marcuse, sind ebenfalls schon lange bekannt. Die jüngst veröffentlichten Briefe zwischen Martin und Fritz Heidegger scheinen weitere Hefte-Debatten heute nun fast zu erübrigen: Sie belegen erstmals unumstößlich, mit kaum zu überbietender Deutlichkeit, eine massive Option für Hitler und den Nationalsozialismus spätestens seit Ende 1931. Man muss heute deshalb nicht mehr über das Faktum von Heideggers Nationalsozialismus und Antisemitismus streiten: Heute stellt sich vielmehr die Aufgabe einer entwicklungsgeschichtlichen Differenzierung und Klärung im Kontext. Die Publikation der Familienkorrespondenz mit Elfride und Fritz Heidegger hat Heidegger dabei offenbar nicht selbst verfügt; Hermann Heidegger kündigte aber bereits vor über 15 Jahren, im Band XVI der Gesamtausgabe (GA 16, 839), die Publikation des Briefwechsels mit Fritz Heidegger an. In der vierten Abteilung der Gesamtausgabe sind zwei Briefbände prospekAbriss der Debatte jetzt bei Marion Heinz, Einleitung: Die neue Heidegger-Debatte, in: Marion Heinz / Sidonie Kellerer (Hg.), Martin Heideggers ›Schwarze Hefte‹. Eine philosophisch-politische Debatte, Berlin 2016, 9–39. 31 Dazu Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014; Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg 2017; vgl. auch: Hg. Ethik nach Theresienstadt. Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz (1873–1956), Würzburg 2015; Hg., zusammen mit Rolf Rieß: Ludwig Feuchtwanger, Der Gang der Juden durch die Weltgeschichte. Typoskript von 1938, Berlin 2014; Hg., zusammen mit Rolf Riess: Ludwig Feuchtwanger, Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums. Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte, Berlin 2011. 30
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tiert: Sie sind aber noch nicht erschienen und es ist fraglich, ob Heidegger hier Familienbriefe von politischer Bedeutung aufgenommen wissen wollte. Hat er über die Gesamtausgabe hinaus die Publikation von Briefwechseln überhaupt gewünscht und verfügt? Wollte er den Kanon der publizierten Texte nicht auf die Gesamtausgabe beschränken? Einige der bisher erschienenen Briefwechsel gehören m. E. zu den interessantesten Texten Heideggers. So macht uns der Briefwechsel mit Imma v. Bodmershof beispielsweise mit Heideggers Hölderlin- und von Hellingrath-Kult näher bekannt. Für die Klärung des Geltungsanspruchs und der Reichweite von Heideggers »semantischer Revolution« aber reicht eine holistische Rezeption der Gesamtausgabe eigentlich aus. Heidegger wünschte und forderte vor allem die extensive und intensive Rezeption dieses Initiationsgangs. Ich trenne deshalb die brieflichen Äußerungen ab und unterstelle den schwarzen Stellen im Rahmen der Gesamtausgabe eine eigene Autorintention. Dabei betrachte ich die Gesamtausgabe insgesamt als Literatur und lese sie nicht als wahrhaftiges Bekenntnis. Was Heidegger wirklich über Judentum, jüdische Intellektuelle und deren Rolle in der deutschen Universität und Zeitgeschichte dachte, hat er vielleicht nirgends authentisch bezeugt. Grundsätzlich war er zu ernsthaften zeitgeschichtlichen Betrachtungen kaum fähig: Er übersetzte die Zeitgeschichte sogleich in seine Seinsgeschichte und abstrahierte dabei von den Namen und Daten sehr weitgehend. Seine »Seinsgeschichte« ist deshalb auch nur sehr begrenzt in die Zeitgeschichte rückübersetzbar. Der wilde Polemiker ist auf konsistente Thesen kaum festzulegen. Wenn ich Heideggers antisemitische Hefte-Stellen etwa mit Äußerungen Carl Schmitts vergleiche, erscheinen sie mir vergleichsweise abstrakt und uninteressant. Mit einem Blick auf die öffentliche Debatte frage ich mich: Weshalb wurden die Schwarzen Hefte ausgerechnet in ihren Juden-Stellen skandalisiert? Haben andere Anti-Positionen – Antichristentum und antirömischer Affekt, Antiliberalismus, Anti-Amerikanismus und manches mehr – in unserer heutigen Gesellschaft keine solchen Skandalisierungspotentiale mehr? Auch wenn Heidegger aber kein glühender Antisemit war, anders als viele NS-Täter, ist doch ein durchschnittlicher Antisemitismus – Meyer spricht von »Plattitüden« eines »durchschnittlichen Volksgenossen« 32 – nicht zu verharmlosen. Das Gewicht des Themas Thomas Meyer, Heidegger aus der Sicht eines Ideenhistorikers, in: Homolka / Heidegger, Heidegger und der Antisemitismus, 300–309, hier: 305 f.
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hat Donatella Di Cesare 33 unlängst gut herausgestellt, indem sie Heideggers schwarze Stellen im Kontext der antisemitischen Überlieferung zum Sprechen brachte. Sie zeigte vor allem, dass Heideggers Biologismuskritik nur das naturalistische Selbstmissverständnis der nationalsozialistischen Biopolitik betraf und keinen Bruch mit dem NS-Antisemitismus bedeutete. Die folgenden Ausführungen lesen die historisch-biographische Eisbergthese als Diskretionsformel, betrachten die Schwarzen Hefte innerhalb der Gesamtausgabe als politisch-pädagogischen Anwendungsdiskurs und betonen Heideggers Umdeutung des antisemitischen Stereotyps zum allgemeinen Merkmal »metaphysischer« »Verwüstung«.
IV. Die biographisch-psychologische Eisbergthese Das Verhältnis zum Judentum lässt sich biographisch-psychologisch erörtern. Hier stellen sich zunächst biographische Fragen zur Sozialisation und Prägung Heideggers und zum durchschnittlichen Antisemitismus seines Herkunftsmilieus. Antisemitische Stereotype waren in seinem katholisch-kleinstädtischen und klerikalen Herkunftsmilieu geradezu gängig. Hugo Ott 34 verwies auf Abraham a Sancta Clara. Stereotype Assoziationen sind kollektive Prägungen, die schon die Alltagssprache konnotativ mitschleppt und die nicht leicht gänzlich unterdrückt werden können. Warum sollte Heidegger davon frei gewesen sein? Inzwischen sind einige Familienkorrespondenzen im Auszug veröffentlicht. Bruder Fritz scheint bei ähnlichen Sozialisationsbedingungen politisch moderater gedacht zu haben, wobei eine frühe Orientierung am »Format Mussolini« 35 auffällt, während Heidegger von Hitler als »Staatsmann« ausgeht. Aus mancherlei Gründen mag Fritz gemäßigter gedacht haben. Bei Heidegger scheint der Führerglaube zentral gewesen zu sein. Wenn der Antisemitismus ausgeprägter als beim Bruder war – was bisher nicht hinreichend belegt ist –, so dürften die Begegnungen mit »jüdischen«
Donatella Di Cesare, Heidegger, die Juden, die Shoah, Frankfurt 2016; dazu meine Rezension in: Philosophischer Literaturanzeiger 69 (2016), 137–146. 34 Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt 1988. 35 Fritz Heidegger am 3. April 1933 an Martin Heidegger, in: Heidegger und der Antisemitismus, 33, vgl. 24. 33
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Kollegen und Lehrern und der Kampf um eine »deutsche« Universität und Philosophie zu dieser Radikalisierung beigetragen haben. Als Philosoph lehrte Heidegger in einem »konfessionellen« Fach, in dem starke Bekenntnisse zu bestimmten Positionen und Begriffen erwartet wurden. Er verband das nationalistische Credo seiner Philosophie deshalb mit einem besetzungspolitischen Antisemitismus, dem Juden, jedenfalls als Ordinarien, im Fach Philosophie unerwünscht waren. 36 Die Debatte um Heideggers »Privatnationalsozialismus« hat schon zu mancherlei individualisierenden Prägungen geführt: Den Formeln von »seinsgeschichtlichem« oder »metaphysischem« Antisemitismus ließe sich die Rede von einem besetzungs- oder »berufungspolitischen« Antisemitismus hinzufügen, der den Einfluss jüdischer Intellektueller in einem universitären Weltanschauungsfach wie der Philosophie zurückdrängen wollte und auch in den Ministerien vor und nach 1900 stark verbreitet war. Ein solcher universitätspolitischer Antisemitismus unterschied vor 1933 noch einigermaßen deutlich zwischen Fächern, Statusgruppen und auch Gesinnungen. Es wurde auch zwischen konvertierten und bekennenden Juden unterschieden. Als Kernfrage galt die Ernennung zum Ordinarius mit vollen akademischen Rechten: Juden konnten in der Weimarer Republik oft ohne besondere Diskriminierungen Privatdozenten werden, wurden aber weitaus seltener zu Ordinarien ernannt: in der Philosophie vorbehaltlicher als etwa in der Medizin. Ein protestantischer Jude (wie Husserl) wurde leichter ernannt als ein nichtkonvertierter Jude (wie Cassirer). Einen solchen berufungspolitischen Antisemitismus hat Heidegger sicher ziemlich massiv vertreten. Er wünschte keine jüdischen Philosophieordinarien an deutschen Universitäten. Biographisch-psychologisch lässt sich näher nach seine Beziehungen zu jüdischen Kollegen und Schülern fragen. Typische Beispiele sind Husserl, Löwith, Arendt. Keines dieser Beispiele ergibt einen glatten Freispruch erster Klasse, obgleich mancher Interpret – Wichtig ist hier seine Wahrnehmung und sein Umgang mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933, das bereits in Kraft war, als Heidegger das Rektorat übernahm. Der Brief vom 13. April 1933 an Fritz deutet keine Vorbehalte an. Heideggers – faktisch im Detail noch keineswegs hinreichend geklärte – Anwendung einiger Ausnahmeregelungen, auf die Vietta (Heideggers seinsgeschichtliche Konvergenztheorie, in: Heidegger und der Antisemitismus, 405– 427, hier: 406 f.) zutreffend verweist, widerspricht der Minimalbestimmung nicht, dass Heidegger wenigstens einen berufungspolitischen Antisemitismus vertrat.
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so auch Hermann Heidegger – das meint. Die Beziehung zu Husserl war strategisch und ambivalent. Heidegger sah in Löwith wahrscheinlich – der angekündigte Briefwechsel wird näheren Aufschluss geben – mehr den Kriegsteilnehmer und in Arendt das »Mädchen aus der Fremde«; er kommunizierte mit ihnen nicht als Juden. Der befreundete »Ausnahme-Jude« ist im Antisemitismusdiskurs ohnehin ein schwaches Exkulpationsargument. Der Husserl-Schüler Ludwig Ferdinand Clauss beispielsweise, den Heidegger ziemlich gut gekannt haben muss, erhielt für die Errettung einer jüdischen Freundin einen – inzwischen wieder aberkannten – Gedenkstein in Yad Vashem, obwohl er ein zentraler Autor antisemitischer Rassepsychologie war. Heidegger äußerte sich m. W. niemals eingehend zum Judentum und zur nationalsozialistischen Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik. So sind auch keine bedauernden Worte zum Synagogenbrand in Freiburg, unweit der Universität, oder der Deportation der Freiburger Juden bekannt. Die meisten Deportationen aus Freiburg erfolgten ins französische Lager Gurs, in dem bei Kriegsbeginn, vor der Eroberung durch die Nazis, auch Hannah Arendt und Eugen Fink einige Zeit als feindliche Ausländer interniert waren. Ob Arendt Heidegger auf solche Bezüge ansprach? In der Debatte wird häufig eine Eisbergthese vertreten, so von Richard Wolin 37 und explizit auch von Donatella Di Cesare, 38 wonach Heideggers wenige antisemitische Äußerungen gleichsam nur Symptome eines Abgrundes sind. Was tiefenpsychologisch als symptomatische Verschiebung und Verdrängung des Antisemitismus gedeutet werden kann, lässt sich dabei alternativ auch als Deckdiskurs in Diskretionsformeln betrachten, der bestimmte Themen für bestimmte Adressaten nur in einer Anspielungskultur äußert. Ein typisches Beispiel ist der Konnex von Antisemitismus und Antiamerikanismus. Hinter zahlreichen antiamerikanischen Äußerungen lassen sich antisemitische Anspielungen und Motive vermuten. Remigranten werden dann als »Amerikaner« bezeichnet und alliierte Politik wird als jüdische »Rache« gedeutet. Viele Notate in Band 97 lassen sich so lesen.
Richard Wolin, Heideggers ›Schwarze Hefte‹, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), 379–410. 38 Di Cesare, Heidegger, die Juden, die Shoah, 319. 37
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V.
Die Schwarzen Hefte gehören als politisch-pädagogischer Anwendungsdiskurs zum Werk
Im weiten Wortfeld des antisemitischen Stigmas vertrat Heidegger keine eindeutige und klare Position. Er spricht nicht deutlich vom Judentum als »Volk«, »Nation«, »Staat« oder »Rasse«. Dabei war sein politischer Leitbegriff bekanntlich das »Volk«, während Ernst Jünger mehr von der »Nation« und von einem »neuen Nationalismus« sprach und Carl Schmitt vom »Staat«. Heideggers Volksbegriff war im Rektorat eindeutig politisch konnotiert. Von einer unpolitischen Volkstumskunde grenzte er sich ab und lud das »Volk«, etwa mit seinem Schlageter-Kult, auch nationalistisch-militaristisch auf. Obgleich er also meist das politische Volk als »Nation« meinte, sprach er aus politischen Gründen, als Teil des »völkischen« Diskurses, mehr vom »Volk«. Das Judentum bezeichnete er aber nicht deutlich als eigenes »Volk« oder »Nation«. Im postassimilatorischen und zionistischen Diskurs verstanden sich viele deutsche Juden als eigene »Nation«. Jaspers gegenüber äußerte sich Hannah Arendt 1933 zum »deutschen Wesen«: »Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung. Für all das kann und muss ich einstehen. Aber ich bin zur Distanz verpflichtet«. 39 Am 6. Januar 1933, wenige Wochen vor Hitlers Kanzlerschaft, ergänzte sie: »Nur kann ich das geschichtlich politische Schicksal nicht einfach hinzufügen.« 40 Nach 1945 schrieb sie Jaspers, sie werde sich »historisch wie politisch von der Judenfrage her« 41 orientieren: »Ich möchte so sagen: Politisch werde ich immer nur im Namen der Juden sprechen, sofern ich durch die Umstände gezwungen bin, meine Nationalität anzugeben.« 42 In der Unterscheidung zwischen Kultur- und Staatsnation argumentiert die assimilierte deutsche Jüdin mit amerikanischem Pass damals also überraschend: Meine Kulturnation ist Deutschland, aber meine politische Loyalität gilt vor allem dem verfolgten Judentum! Diese Antwort kennzeichnet Arendt am 1. Januar 1933 an Jaspers, in: Hannah Arendt / Karl Jaspers. Briefwechsel 1926–1969, München 1985, 52. 40 Arendt am 6. Januar 1933 an Jaspers, in: Hannah Arendt / Karl Jaspers. Briefwechsel, 55. 41 Arendt am 29. Januar 1946 an Jaspers, in: Hannah Arendt / Karl Jaspers. Briefwechsel, 67. 42 Arendt am 17. Dezember 1946 an Jaspers, in: Hannah Arendt / Karl Jaspers. Briefwechsel, 106. 39
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sich als politische Verlegenheit oder Notwendigkeit: Arendt fasst ihr Judentum vor allem als politisches Schicksal auf. Im postassimilatorischen jüdischen Diskurs vor 1933 wurde das Judentum dagegen oft auch als kulturelle Prägung und »Kulturnation« verstanden: bei Ludwig Feuchtwanger wie Leo Strauss. Heidegger sprach nicht von »deutschen Juden« oder jüdischen Deutschen als Gegenbegriff zum internationalen »Weltjudentum«. Er meinte vor allem das assimilierte deutsche Judentum, vornehmlich die jüdischen Intellektuellen an der Universität, und verstand Judentum primär nicht als Glaubensund Kultusgemeinschaft oder Konfession, aber auch nicht deutlich als Herkunftsgemeinschaft eines eigenkulturellen Volkes oder als politische Schicksalsgemeinschaft einer Nation. Er sprach auch nicht vom jüdischen Staat, wie er als zionistisches Projekt und Siedlungsbewegung damals wirklich wurde. Ganz anders als der Jurist Schmitt bezog sich Heidegger auch nicht ausdrücklich, mit Namen und Daten, auf die Eskalationsstufen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Eine Geschichte des Holocaust oder der öffentlichen Wahrnehmung der nationalsozialistischen Diskriminierungen lässt sich nach Heideggers Texten nicht schreiben. Ein Außerirdischer, der nur Heidegger-Texte als Quelle fände, könnte sich kein Bild machen. Heidegger suchte nicht die Rolle des Zeitzeugen und Chronisten und nahm in seinen Texten nicht die Perspektive des politischen Denkers und Juristen ein, der die nationalsozialistische Politik in ihren Akteuren und Kräften, Motiven, Zielen und Strategien verstehen wollte. Das gilt für alle seine Aufzeichnungen: Sie abstrahieren von den ereignisgeschichtlichen Namen und Daten. Carl Schmitt würde sagen: Heidegger neutralisierte und entpolitisierte das Zeitgeschehen. Das betrifft nicht nur das schmerzliche Thema der Judenverfolgung, sondern die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Politik insgesamt. Heidegger vernebelte und verschwieg nicht nur die antisemitischen Maßnahmen, sondern beschrieb und analysierte die nationalsozialistische Politik auch nicht tiefenscharf. Das »Gesicht des Dritten Reiches« blieb in seinen Aufzeichnungen blass. Es fehlte damit aber auch eine starke Apologie der nationalsozialistischen Politik und ein eigenes Projekt antisemitischer Sinnstiftung, wie es sich etwa bei Schmitt vor und nach 1945 findet. Mit alledem ist gesagt: Heidegger äußerte sich in seinen Notaten nicht als politischer Denker, Jurist oder Historiker der Judenverfolgung. Er wählte auch nicht die Form eines Tagebuches, das die jewei155 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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ligen Anlässe der Notate identifizierbar machte. Manche briefliche Äußerungen sind chronistisch konkreter als vergleichbare Parallelstellen der Schwarzen Hefte. Die Ökonomie und Rhetorik der Hefte ist eine andere; sie ist durch Heideggers philosophische oder »seinsgeschichtliche« Perspektive mitbestimmt. Das besagt aber auch: Eine strikte Trennung zwischen dem »reinen« seinsgeschichtlichen Denken und politisch-praktischen oder persönlichen Eintragungen ist nicht möglich. Diese – etwa von v. Herrmann vertretene – Trennungsthese scheitert vollends daran, dass Heidegger seine Schwarzen Hefte selbst mit hohem Anspruch zur Publikation in der Gesamtausgabe bestimmt hat. Wenn Heidegger die Notate in der vierten Abteilung publiziert wissen wollte, handelt es sich nicht um rein private und marginale Aufzeichnungen. Sie gehören dann zum Werk und erheben einen besonderen Geltungsanspruch. Dieser Anspruch gilt, auch wenn Heidegger sich zum Zeitpunkt der Publikationsentscheidung nicht im vollen Umfang über seine buchstäblichen Aufzeichnungen und deren Publikumswirkung im Klaren war. Davon gehe ich aus: Ich glaube nicht, dass Heidegger seine Aufzeichnungen in den 70er Jahren noch wortwörtlich oder im politischen Tenor voll präsent hatte, und ich meine auch, dass ihm ein nüchterner Abgleich seiner Aussagen etwa mit dem damaligen Stand der historischen Forschung niemals möglich war. Heidegger hat den Sprengstoff seiner Notate und die Risiken seiner Publikationsentscheidung unterschätzt, obgleich er seine Überlegungen durchaus als inkorrekte Enthüllungen wider den Zeitgeist und das öffentliche »Gerede« empfand. Er wusste um die Anstößigkeit seiner Äußerungen, nicht aber um deren sachliche Substanzlosigkeit. Wenn er die Gesamtausgabe in der vorliegender Form gewollt hat, konnte er sich jedoch über den Geltungsanspruch der Notate im Rahmen der vierten Abteilung nicht täuschen: Der Geltungsanspruch wird vom Gesamtrahmen her bestimmt. Hier ist klar: Die dritte Abteilung bringt die seinsgeschichtliche Revolution des »anderen Denkens«. Die vierte Abteilung folgt als politisch-pädagogischer Anwendungsdiskurs. Die Schwarzen Hefte lassen sich deshalb nicht als beiläufige und lässliche Aufzeichnungen marginalisieren. Dann hätte Heidegger sie nicht in die Gesamtausgabe aufnehmen dürfen.
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VI. Zur Trennung von Metaphysik- und Monotheismuskritik Lassen wir das Faktum beiseite, dass Heidegger auch in den Schwarzen Heften nur relativ spät und selten vom Judentum sprach: soweit Datierungen überhaupt möglich sind vor allem wohl in der Zeit der Kriegswende 1941/42. Nehmen wir an, dass die Hefte für ihn im Rahmen der Gesamtausgabe der gegebene Ort waren. An die Publikation antisemitischer brieflicher Äußerungen dachte er wohl nicht. Warum sprach Heidegger erst in den Schwarzen Heften autorschaftlich – für die Nachwelt – vom Judentum? Aus theologischer, religionsphilosophischer oder geistesgeschichtlicher Sicht waren extensive Thematisierungen des Judentums für einen Metaphysikkritiker doch eigentlich unabweisbar. Das galt gerade für einen Autor, der einige Semester Theologie studiert hatte, mit evangelischen Theologen wie Bultmann im intensiven Gespräch stand und von Hegel und Nietzsche stark beeinflusst war. Deutlicher noch gesagt: Im Rahmen der Nietzsche-Nachfolge, Nietzsche-Studien und Auseinandersetzungen mit dem Weimarer Nietzsche-Archiv und der Nietzsche-Edition war es – jenseits von Wagner – geradezu erstaunlich, dass Heidegger im Nationalsozialismus vom Judentum lange und weitgehend schwieg. Es braucht hier nicht erinnert zu werden, was Nietzsche in der Genealogie der Moral, im Antichristen und weiteren Schriften über Judentum und den »Sklaven-Aufstand« in der Moral alles schrieb. Nietzsche knüpfte nicht nur einen starken Konnex von Platonismus, Idealismus und Metaphysik, dem Heidegger folgte, sondern auch einen starken Konnex von Metaphysik- und Monotheismuskritik. Christentum betrachtete er als »Platonismus für’s Volk«. Heidegger folgte diesen beiden Destruktionsprojekten. Insbesondere Band 97 der Gesamtausgabe zeigt, dass auch er Metaphysik- und Monotheismuskritik miteinander verknüpfte und einen »anderen Anfang« jenseits des »jüdisch-christlichen« Monotheismus wie der philosophischen Metaphysik suchte. Deshalb ist es höchst erstaunlich, dass er der radikalen Kritik des Platonismus, Christentums und Katholizismus zwar folgte, aber das initiale Judentum nicht eingehend thematisierte. Es finden sich bei Heidegger keine Ausführungen zur jüdischen Erfindung des Monotheismus, die Nietzsches Polemik vergleichbar wären. Betrachtet man das antisemitische Gesamtmilieu der nationalsozialistischen Universitäten, auch der nationalsozialistischen Nietzsche-Instrumentalisierung, so fällt auf, dass Heidegger sich antisemitischer Äußerungen weitgehend enthielt und selbst im 157 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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Rahmen seiner Nietzsche-Rezeption das Thema mied. Ich gehe hier von einer bewussten Entscheidung aus, einem weitgehenden Verzicht auf die Thematisierung des Judentums nach 1933: also von einer Diskretionsentscheidung und Tabuisierung des Themas im Rahmen öffentlicher Auseinandersetzungen. Heidegger enthielt sich aus moralisch-politischen Motiven aggressiver antisemitischer Polemik, obgleich er professionell im Rahmen der Seinsgeschichte eigentlich auch über Judentum sprechen musste. Er reagierte mit einer rhetorischen Trennungsmaxime und verlegte religionspolitische und -polemische Auslassungen auf die diskreten Aufzeichnungen der Hefte. Die starke Trennungsthese (v. Herrmanns) möchte ich deshalb für die Gesamtausgabe in schwacher Lesart als eine Trennungsregel reformulieren: Heidegger unterschied rhetorisch bewusst zwischen der seinssemantischen Revolution der dritten Abteilung und dem politisch-pädagogischen Anwendungsdiskurs der vierten Abteilung. Während Nietzsche Religionsgeschichte und Philosophiegeschichte eng miteinander verband und als konfessionellen Diskurs geradezu identifizierte, trennte Heidegger – spätestens seit seinem Marburger Vortrag über Phänomenologie und Theologie 43 – zwischen beiden Diskursen erneut und bestand auf der Eigenlogik der philosophischen »Seinsgeschichte«. Andererseits folgte er Nietzsche im Konnex von Monotheismus und Metaphysik. Seine rhetorisch-pragmatische Lösung bestand in der Trennung der Texte und Diskurse: Heidegger erzählte seine »Seinsgeschichte« in der dritten Abteilung im Rahmen und Kanon der etablierten philosophischen Diskurse und thematisierte die genealogischen Kontexte dieser Seinsgeschichte dagegen nur im Explikations- und Anwendungsdiskurs der vierten Abteilung. Hier äußerte er sein monotheismuskritisches Motiv deutlicher und erwähnte am Rande auch das Judentum als Anfang der »mosaischen Unterscheidung«. Für unser Thema heißt das: Heidegger musste sich in der Nietzsche-Nachfolge eigentlich über Judentum äußern. Verwunderlich ist im Kontext der damaligen Nietzsche-Rezeptionen und der gängigen Instrumentalisierungen von Nietzsches einschlägigen Äußerungen deshalb mehr seine äußerst skrupulöse Thematisierung dieser Fragen. Heideggers Trennung von Philosophie- und Religionsgeschichte Der erste Teil der Vorträge wurde jetzt erst innerhalb der dritten Abteilung in GA 80.1 veröffentlicht. Zur Zugehörigkeit dieses Bandes zur dritten Abteilung vgl. Rez. Verf., in: Philosophischer Literaturanzeiger 69 (2016), 233–238.
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führte zu einer Abstraktion von den religionsgeschichtlichen und genealogischen Hintergründen der »Seinsgeschichte«. Heidegger machte die starke Einbettung der Philosophiegeschichte in die allgemeine Kultur- und Geistesgeschichte wieder rückgängig, die seit Hegel, Dilthey und Nietzsche zum Standard der Philosophiegeschichtsschreibung gehörte. Systematisch verknüpfte er aber ebenfalls Philosophie- und Religionsgeschichte miteinander. Diesen verdrängten Kontext der »Seinsgeschichte« thematisierte er in den Schwarzen Heften. Auch hier ist sein relatives Schweigen aber eigentlich auffälliger und interessanter als die wenigen Äußerungen, die der nationalsozialistischen Propaganda ziemlich gedankenlosen Tribut zollten. Ich meine also, dass Heidegger die »Judenfrage« im Nationalsozialismus öffentlich bewusst umgangen hat und auf starke antisemitische Äußerungen verzichtete. Seine schwarzen Stellen sind dem Schredder seines Jargons eher unterlaufen. Sein autorschaftliches Bewusstsein von der Trennung seiner literarischen Foren und Formen verwies die wenigen Äußerungen aber passend in die vierte Abteilung.
VII. Heideggers »metaphysische« Identifikation von Judentum und Nationalsozialismus Es bedarf keiner Ausführungen, dass Heidegger oft aggressiv und polemisch formulierte und einen ganzen Assoziationsraum von Stereotypen aufgriff und bediente. Das gilt auch für seine Äußerungen zum Judentum. Worte wie »Bodenlosigkeit«, »Weltlosigkeit«, »Zerstörungssucht«, »jüdisches Gebaren«, »Rasseprinzip« und »Weltjudentum« sind nicht neutral. Heidegger polemisierte aber gleichsam im Rundumschlag nach vielen Seiten: auch gegen den Nationalsozialismus. Dabei verschränkte er seine antisemitischen Auslassungen auch mit seiner Polemik gegen den Nationalsozialismus. Ein Beispiel ist hier die Rede vom »Rasseprinzip« und von »Rasse«. Heidegger schiebt die Semantik ineinander und schlägt eine Brücke vom jüdischen Geburtsrecht zu den Nürnberger Rassegesetzen. Hier wäre genauer zu identifizieren: Das »Rasseprinzip« abstrahiert vom Kriterium der religiösen Konfession. Im Judentum gilt das matrilineare Mutterprinzip: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. In patriarchalischen und polygamen Zeiten hatte dieses Identitätskriterium den Vorteil der Eindeutigkeit. Mutterschaft ist vor den Zeiten 159 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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der »Leihmütter« in aller Regel unstrittig, während Vaterschaft erst seit einigen Jahren durch DNA-Analysen eindeutig feststellbar ist. Mater semper certa est, pater semper incertus. Näher betrachtet ist das jüdische Geburtsrecht weitaus komplexer. Strikte Matrilinearität kennt die Thora noch nicht. Konversion zum Judentum ist seit der Antike möglich (Giur) und das liberale Reformjudentum akzeptiert auch die patrilineare Abstammung. Auch die nationalsozialistischen Ariernachweise griffen auf die Personenstandsregister der jüdischen Gemeinden zurück: also auf Konfessionszugehörigkeit. In Deutschland gilt bekanntlich – allerdings nur in erster Annäherung 44 – das Jus sanguinis, das »Blutrecht«, und nicht das Jus soli. Das Grundgesetz kennt laut Art. 116 GG neben der deutschen Staatsangehörigkeit auch heute noch die »deutsche Volkszugehörigkeit« für »Abkömmlinge« von Personen »in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937«. Nach dem Mauerfall kehrten bekanntlich viele »Volkszugehörige« in großzügiger Interpretation und teils mit zweifelhaften Papieren heim in die Bundesrepublik. Strittige Zugehörigkeitsfragen belasten heute weltweit auch die jüdischen Gemeinden. Heidegger äußert sich nicht differenziert zum »Rasseprinzip«. Sein Theorem von der jüdischen Erfindung des »Rasseprinzips« war im antisemitischen Diskurs aber verbreitet, der gerne auf Benjamin Disraeli (1804–1881) verwies, einen britischen Premierminister jüdischer Abstammung, bei dem sich kolonialer Imperialismus mit rassistischen Überzeugungen von der Überlegenheit der »weißen Rasse« 45 verbanden. Auch jüdische Historiker der Rasseidee, so auch Hannah Arendt, 46 schrieben Disraeli eine historische Pionierrolle zu. Grundsätzlich war eine strikt »biologistische« Festschreibung von »Rasse« auch im antisemitischen Rassediskurs nicht möglich. Selbst der NS-Vordenker und Biologe H. St. Chamberlain betrachtete »Rasse« nicht als sicheres Herkunftsmerkmal, sondern als utopisches Züchtungsprojekt. 47 Auch für die moderne Genetik ist die NormieZu den vielfältigen Verschlingungen von Abstammungs- und Territorialprinzip und der massiven Nationalisierung, Ethnisierung und Biologisierung der Staatsbürgerschaft im 20. Jahrhundert vgl. Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016. 45 Dazu Edgar Feuchtwanger, Disraeli. Eine politische Biographie, Berlin 2012. 46 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955, 155. 47 Dazu eingehend jetzt Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart 2015. 44
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rung der Species im fließenden Genpool eine elastische Aufgabe. Mit Heidegger ließe sich sagen: »Auch die Medizin ist eine ›speculative‹ Wissenschaft.« (GA 16, 150) Heidegger greift die nationalsozialistische Rassesemantik also nicht einfach auf und spricht etwa im Sinne der Nürnberger Gesetze vom Judentum, sondern er schlägt eine sachlich sehr undifferenzierte Brücke vom Judentum zum Nationalsozialismus, wie sie sich im antisemitischen Diskurs auch findet. Solche Identifizierungen kennzeichnen auch andere Äußerungen Heideggers über Judentum. Nur eine zentrale Stelle will ich hier – erneut 48 – näher betrachten. Es ist die vielleicht strittigste schwarze Stelle in der öffentlichen Kontroverse. Sie lautet: »Der Anti-christ muss wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti- ist – also wie der ›Christ‹. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. […] Wenn erst das wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, dass das ›Jüdische‹ überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so dass auch die Bekämpfung ›des Jüdischen‹ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt.« (GA 97, 20)
Heidegger schlägt hier erneut eine Brücke zwischen Judentum und Nationalsozialismus. Namentlich meint er die biologistische Auffassung des Volkes. Buchstäblich schließt er sich dabei an den christlichen Antijudaismus an. Der Antichrist-Diskurs im Nationalsozialismus ist hier nicht zu rekonstruieren. 49 Für die Chefetagen der Nazis war das Antichrist-Motiv eigentlich mehr propagandistisch als ideologisch interessant. Hitler oder Himmler waren erklärte Antichristen, die nur strategische Rücksicht auf die Kirchen nahmen. Heidegger verlegt sich ebenfalls aus dem christlichen Diskurs heraus direkt auf den Antijudaismus: Das »Prinzip der Zerstörung« sei nicht vom Christentum, sondern vom Judentum her zu verstehen. Heidegger sagt ungebräuchlich: »Judenschaft« und scheint hier seine »Machenschaft« zu assoziieren. Irritierend ist auch seine Eingrenzung der Metaphysik auf den »Zeitraum des christlichen Abendlandes«. Monotheismus- und Metaphysikkritik werden hier miteinander verknüpft. Die Rede vom »christlichen Abendland«, von der Weimarer Ebenso Verf., Heideggers ›große Politik‹, 206 ff. Zur Geschichte etwa Mariano Delgado / Volker Leppin (Hrsg.), Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge, Stuttgart 2011.
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»konservativen Revolution« propagiert, ist eine katholische Formel und meint dann die Allianz von Philosophie und Theologie seit der spätantiken patristischen Formierung des Dogmas. Entscheidend ist aber die systematische Verschiebung des Antisemitismus auf die Metaphysikkritik. Heidegger benennt das historische Judentum zwar als »Prinzip der Zerstörung«, abstrahiert »das Jüdische«, den Impuls der Zerstörung, dann aber vom Judentum und überträgt ihn als allgemeines Merkmal der Metaphysik oder metaphysischen »Machenschaft« auch auf den Nationalsozialismus. Heidegger abstrahiert ein adjektivisches Attribut und nominalisiert es als allgemeines Merkmal: »das Jüdische«. »Das Jüdische« ist kein exklusives Merkmal des Judentums, sondern ein generelles Kennzeichen der metaphysischen »Verwüstung« der Erde. Namentlich charakterisiert es die nationalsozialistische Destruktivität, die sich auch und gerade in der biologistischen Auffassung des »Volkes« und der resultierenden Rassepolitik zeigte. Heideggers polemisches Notat richtet sich damit – in den 40er Jahren – nicht nur gegen das Judentum, sondern auch und gerade gegen den Nationalsozialismus. Heidegger löst dabei die antisemitische Figur des Antichristen von personalen Identifikationen mit Juden ab, wie sie Schmitts geradezu paranoische Identifikation von jüdischen Urhebern und »jüdischem Geist« kennzeichnete, und gelangt zu anderen uferlosen Identifikationen. Eine generelle Gleichsetzung der metaphysischen »Verwüstung« mit »dem Jüdischen« ist dann möglich. Der allgemeine Rahmen der Gleichsetzung ist klar: Es ist die große Narration der »Seinsgeschichte«, die Zuschreibung aller abendländischen »Verwüstungen« an Monotheismus und Metaphysik. Anfang und Ende werden hier mit Judentum und Nationalsozialismus kurzgeschlossen: von Moses zu Hitler. Strikt trennt Heidegger immer wieder zwischen metaphysischer »Verwüstung« und realhistorischer, politischer »Zerstörung«. Die metaphysische »Verwüstung« betrachtet er dabei als vorgängig: Sie stiftet das »Wesen« der »Zerstörung«. Ohne Verwüstung keine Zerstörung! Zusammenfassend ist also zu sagen: In den Schwarzen Heften ergänzt Heidegger seine Metaphysikkritik um eine Monotheismuskritik. Wie bei Nietzsche wird damit das Judentum als historischer Anfang des Monotheismus thematisch. Heidegger betont die historische Priorität des Judentums, ohne eine differenzierte Ursprungsgeschichte von Monotheismus und Metaphysik ernstlich zu beabsichtigen. Historisch fällt er schon hinter Nietzsche zurück. Eine 162 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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differenzierte Geschichte des reinen oder »anderen Anfangs« jenseits von Monotheismus und Christentum hat er nie geschrieben. Ich glaube auch nicht, dass er ernsthaft darüber nachgedacht hat, was ein Rückgang hinter die »mosaische Unterscheidung« (Jan Assmann) für das »Abendland« bedeutete. Im Rahmen meiner Themenstellung ist hier nur festzuhalten, dass auch die zitierte inkriminierte Stelle, so ärgerlich sie in ihrer verdichteten Polemik auch ist, sich nicht zuletzt gegen den Nationalsozialismus richtet. Heidegger greift den zeitgenössischen Antisemitismusdiskurs auf, um ihn in seine Metaphysikkritik zu wenden. Was er primär kritisiert, ist die Metaphysik. In zweiter Linie kritisiert er den Nationalsozialismus, wobei seine Betonungen der nationalsozialistischen Destruktivität nicht sonderlich konkret sind und die aktuellen Hintergründe als Kontextwissen pragmatisch voraussetzen. Diese Feststellung bezieht sich nur auf das erörterte Beispiel und will eine Entwicklungsgeschichte von Heideggers Antisemitismus nicht ersetzen, bei der sich etwa folgende Schritte abzeichnen: Vor 1933 äußerte sich Heidegger innerhalb der Familie relativ unbefangen antisemitisch. 1933 wurde seine Haltung auch mit der Verpflichtung des Rektors zur Durchsetzung der antisemitischen Diskriminierungspolitik aber ambivalent: Heidegger setzte die Diskriminierungen als Rektor, mit individuellen Unterscheidungen, zwar teils zurückhaltend und teils forciert durch, hielt sich aber in seinen verbalen Äußerungen öffentlich zurück. Mit dem Kriegsgeschehen radikalisierte er sich. Dabei folgte er aber weitgehend unkritisch der nationalsozialistischen Propaganda. Die Reedukationspolitik nach 1945 und Remigration jüdischer Philosophen nach Deutschland betrachtete er dann erneut antisemitisch.
VIII. Retourkutschenlogik Wenn Heidegger den nationalsozialistischen Antisemitismus gelegentlich polemisch umdeutete und gegen die Nationalsozialisten wendete, ist das keine abgeklärte akademische Auseinandersetzung und Distanznahme. Solche polemische Retourkutschen und »Kehren« finden sich mit verschiedenen Begründungskonzepten damals häufiger. Schmitt meinte: Der Feind ist die »eigne Frage als Gestalt«: Im Kampf des Anerkennens sind Freundschaft und Feindschaft enharmonisch verschwistert und fallen zusammen. Neben solchen iden163 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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titätstheoretischen Gründen für die Retourkutschenrhetorik finden sich etwa auch psychodynamische Konzepte der »Spaltung« und »Projektion«. Solche Umkehrlogiken verlocken zu biographischen Spekulationen: Wagner, Hitler oder Heydrich werden dann jüdischen Vätern zugesprochen oder Hitler gilt als Bewunderer seines jüdischen Mitschülers Wittgenstein. Bei Otto Weininger liest man im Kapitel »Das Judentum«: »Es handelt sich nicht um eine Rasse und nicht um ein Volk, noch weniger freilich um ein gesetzlich anerkanntes Bekenntnis. Man darf das Judentum nur für eine Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution halten, welche für den Menschen eine Möglichkeit bildet, und im historischen Judentum bloß die grandioseste Verwirklichung gefunden hat. Dass dem so ist, wird durch nichts anderes bewiesen, als durch den Antisemiten. […] Im aggressiven Antisemiten wird man […] immer selbst gewisse jüdische Eigenschaften wahrnehmen«. 50
Weininger unterscheidet den »Antisemitismus des Juden« vom »Antisemitismus des Ariers« und meint: »Aber auch Richard Wagner – der tiefste Antisemit – ist von einem Beisatz von Judentum, selbst in seiner Kunst, nicht freizusprechen.« 51 Solche biographisch-genealogische Spekulationen beerben das mythische Potential des Antichrist-Diskurses. Heideggers Formulierungen sind solchen zeitgenössischen Topoi mehr oder weniger bewusst vielfach verpflichtet. So zitiert seine Rede von der »Selbstvernichtung« des Judentums Richard Wagners initialen Aufsatz Das Judenthum in der Musik, dort den Schlussabsatz der ersten Fassung von 1850. Wagner nennt Jesus hier als Beispiel der »Erlösung« aus der »Sonderstellung als Jude« zur postkonfessionellen Humanität des »wahrhaften Menschen« und appelliert an seine jüdische Leserschaft: »Nehmt rücksichtslos an diesem durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke teil, so sind wir einig und ununterschieden! Aber bedenkt, dass nur eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluch sein kann: die Erlösung Ahasvers, – der Untergang!« 52 Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, 26. Aufl. Wien 1925, 402 f. 51 Weininger, Geschlecht und Charakter, 404. 52 Richard Wagner, Das Judentum in der Musik (1850), in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. IV, 66–85; dazu vorzüglich Jens Malte Fischer, Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt 2000, dort das Zitat 173; vgl. Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Werk-Leben-Zeit, Stuttgart 2013, 160 ff. Die Fassung 50
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Diese mythisch verdunkelten Worte dürften neben Treitschkes Faustformel von 1879 – »Die Juden sind unser Unglück!« – zu den bekanntesten Schlagworten des modernen Antisemitismus gehören. Die Heidegger-Debatte hat das bisher wohl übersehen. Wagner vertritt 1850 noch ein vormärzlich-transkonfessionelles Humanitätskonzept; er geht über einen Aufruf zur Konversion und die Forderung nach Assimilation hinaus und spricht buchstäblich von einer künftigen – oder mit Nietzsche zu sprechen: übermenschlichen – Humanität als gemeinschaftlicher Aufgabe von Juden und Christen. Den pseudonymen Aufsatz von 1850 veröffentlichte Wagner dann 1869 stark erweitert und antisemitisch verschärft im eigenen Namen. Vor allem diese Fassung machte ihn zu einem zentralen Autor des modernen Antisemitismus. 53 Auch Nietzsches forsche Kritik des »europäischen Nihilismus«, mit ihrer starken Gleichsetzung von Judentum und Christentum, Monotheismus, Platonismus und Idealismus, hatte in der nachfolgenden Generation der »aktiven Nihilisten« verheerende Folgen. Die Faustformeln und Fronten gerieten dabei wild durcheinander. Jacob Klein beispielsweise schreibt im Juni 1934 an Leo Strauss: »Der Nationalsozialismus hat überhaupt nur ein Fundament: eben den Antisemitismus. Alles andere ist überhaupt nicht nationalsozialistisch. […] Der Kampf ist darum entscheidend, weil er sich auf den vom Judentum bestimmten Kampfplatz begibt: der Nationalsozialismus ist ›pervertiertes Judentum‹, nichts anderes: Judentum ohne Gott, d. h. eine wahre contradictio in adjecto.« 54
Und Leo Strauss antwortet: »Dass der Nationalsozialismus pervertiertes Judentum ist, würde ich zugeben. Aber nur in demselben Sinn, in dem ich es für die ganze moderne Welt zugebe – der Nationalsozialismus ist nur das letzte Wort der ›Säkularisierung‹«. 55
von 1850 endet mit dem zitierten Satz. Wagner radikalisierte seine Ausführungen durch Ergänzungen von 1869, die er in seinen Gesammelten Schriften (Bd. VIII, 238–260) allerdings getrennt publizierte und die geradezu einen Positions- und Bedeutungswandel von der vormärzlichen Humanitätsutopie zur rassistischen Auslegung brachten. 53 Diesen Unterschied betont die Edition von Jens Malte Fischer. 54 Klein am 19./20. Juni 1934 an Strauss, in: Leo Strauss, Gesammelte Schriften, Stuttgart 2001, Bd. III, 512 f. 55 Strauss am 23. Juni 1934 an Klein, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. III, 516 f.
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Das hätte Heidegger vielleicht unterschrieben. Carl Schmitt meinte nach 1945 wiederholt: »Christentum ist Judentum fürs Volk.« 56 Bei Nietzsche heißt es: »Im Christentum, als der Kunst, heilig zu lügen, kommt das ganze Judentum, eine mehrhundertjährige jüdische allerernsthafteste Vorübung und Technik zur letzten Meisterschaft. Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal«. 57 Auch das hätte Heidegger vielleicht in seiner metaphysischen Perspektive bestätigt. Das Abstraktionsniveau solcher Sätze ist allzu luftig. Wichtig ist hier aber vor allem, den Wildwuchs solcher steiler Thesen von nüchternen historischen Analysen zu unterscheiden. Das hat schon Heidegger oft nicht getan und auch die jüngste Kontroverse folgt hier in manchen Äußerungen dem Jargon. Natürlich gehört Heidegger in die Geschichte des deutschen und philosophischen oder auch »metaphysischen« Antisemitismus. Weit ausführlicher und klarer als gegen das Judentum polemisierte er aber gegen Christentum und Katholizismus. Ich sprach von einer »Kehre« des nationalsozialistischen Antisemitismus bei Heidegger: Der negative Zeitgeistsurfer und Polemiker griff nationalsozialistische Phrasen auf, um sie »seinsgeschichtlich« zu transformieren. Heideggers Generalaussage betonte dabei den Primat der philosophischen »Verwüstung« vor der gegenwärtigen »Zerstörung«. Wenn ich einige schwarze Stellen als Subversionen – oder meinetwegen: Dekonstruktionen – des NS-Antisemitismus deute, ist damit keine Marginalisierung und Exkulpation beabsichtigt. Ich betone Heideggers inkongruente Behandlung der Probleme und meine, dass Heidegger als nomothetischer Autor oder »Stifter« des Antisemitismus, wie als politischer Denker überhaupt, nicht sonderlich interessant ist. Seine »große Politik« lag vielmehr im Projekt der semantischen Revolution der Gesamtausgabe. Im Rahmen dieses Gesamtprojekts und dieses Politikbegriffs sind seine schwarzen Stellen zu diskutieren.
Carl Schmitt, Glossarium, Berlin 2015, 353, vgl. 253, 269. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: Werke, hrsg. Schlechta, München 1966, II, 1206.
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Heidegger liest Zeitung Medialität als Metontologie
Niemand kennt das Wesen der Medien so genau, ihren Ursprung, warum sie unser Leben im Fernsehen, durch Computer, im Internet so deutlich dominieren – dass wir uns ihnen geradezu in disziplinarischen Maßnahmen entziehen müssen. Ihre tagtägliche Verführung erleben wir mehr und mehr als Bedrohung, wenn wir überhaupt noch mitbekommen, was mit uns geschieht, mit unseren Daten, die kometenschweifmäßig in den Strömungen des Internet verschwinden, mit uns und unserem Persönlichsten. Aber wir wissen, was Rezensenten sind, Journalisten oder Zeitungsschreiber, die Presse, haben eine Ahnung davon, dass diese am Ursprünglichen des Medialen kaum noch teilnehmen, und wenn doch, dann als absichtsvolle Betreiber einer Vereinnahmung. Heidegger hat selten bis gar nicht die Frage nach den Medien gestellt, und es gibt im bisher gedruckten Werk wenige Äußerungen über Öffentlichkeit, über Journalisten oder über Rezensenten. In den Schwarzen Heften findet man dazu (mit Ausnahme der Medien) allerdings zahlreiche Stellen, von denen ich einige untersuchen will. Auch wenn wir meinen, die mediale Welt seit den dreißiger Jahren, der Zeit seiner Aufzeichnung von Überlegungen II–VI, habe sich ganz und gar verändert, schon durch die Entwicklung der medialen Maschinenwelt, aber auch durch eine Akzentverschiebung von Politik und Öffentlichkeit hin zu Medien und ihrer Öffentlichkeit, wie uns die Soziologen nachweisen, 1 so meldet sich bei der Lektüre dieser Schwarzen Hefte immer wieder der Argwohn, nicht nur an einer Beschreibung damaliger technischer Verbreitungsmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Radio, eine Stelle über das Fernsehen 2) teilzunehmen, sondern darin aktuellste Medienumtriebe wiederzuerkennen. Die Vorläufer moderner Kommunikationswissenschaft kann 1 2
Etwa Andreas Ziemann: Soziologie der Medien. Heidegger: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942–1948), GA 97, 371.
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man in der Eröffnung eines Instituts der Zeitungswissenschaft an der Universität Freiburg 1925 erblicken. Heidegger nimmt diese als eine nach rückwärts gerichtete, in einer »das Vergangene ›bearbeitenden‹ Propaganda« 3 wahr, in der sich das, was er Historie nennt, vollende. Wenn die Gründung der Zeitungswissenschaft schon den Endpunkt der Historie darstellt, so hat sich ihre Medialität bis heute in weltumspannenden Systemen ausdifferenziert und vollendet sich gerade ein weiteres Mal, ja schließt sich ab durch einen kolossalen Schwund, nämlich im Rückgang bedruckten und konsumierbaren Papiers. Die allenthalben von den Verlegern beklagte Reduzierung der Anzeigenschaltungen pocht an die Türen der Existenz von Verlagsund Druckindustrie. Nicht einmal im Laufe eines Jahrzehnts ist dieser träge Dampfer zu einer Kurskorrektur in der Lage gewesen. Aber das System schließt sich indessen von selbst und findet ab morgen im Internet statt. Wenn die Auflagen gedruckter Medien sinken, dann schwindet auch das Vertrauen der Leser auf die tägliche Presseschau. Sie hat nicht zu bedeuten, dass jemand hört oder liest. Wie lange noch sitzen in den Verlagshäusern Redakteure? Meldungen können auch von Automaten verfasst werden. Die Verwaltung von Historie in der Zeitungswissenschaft, heute ein Ableger der Medienarchäologie, ist Öffentlichkeitsarbeit für und in unseren modernen Medienkulturen. Jürgen Habermas’ hochgelobtes Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962 ist auch heute noch lesenswert. Es spricht zu uns von der Refeudalisierung dessen, was öffentlich sein soll oder darf. 4 Wir als Zeitungsleser und Medienkonsumenten befinden uns also am Gängelband von Interessenverbänden in Politik und Industrie, der heutigen Feudalstruktur. Heideggers Medienschelte in den Bänden der Schwarzen Hefte bläst, wenn nicht in dasselbe, so doch in ein ähnliches Horn, ist allerdings nicht sozialwissenschaftlich, sondern geschieht in seiner philosophischen Unterscheidung zwischen Historie in zeitungswissenschaftlicher Vollendung und ihrer seinsgeschichtlichen Bedeutung. Im Brief über den ›Humanismus‹ von 1946 spricht er von der »Diktatur der Öffentlichkeit« 5 und empfiehlt uns statt der Neugründung alter humanistischer Ethiken, und zwar jenseits der subjektivisDers.: Überlegungen II-VI, (Schwarze Hefte 1931–1938), GA 94, 484. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 292. 5 Heidegger: Brief über den ›Humanismus‹, in: Wegmarken, GA 9, 317, Einzelausgabe 148. 3 4
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Heidegger liest Zeitung. Medialität als Metontologie
tischen Trennung von Öffentlichem und Privatem, eine Zeitlang lieber »im Namenlosen zu existieren«. (319 (150)) 6 Besonders in den Schwarzen Heften, die zwischen 1942 und 1948 entstanden sind, wiederholt er dieses Wort oder, je nach zeitlicher Einordnung durch den Leser, bereitet es vor: »Wie aber, wenn die Diktatur der Öffentlichkeit durch die Herrschaft der ›Zeitung‹ das Lesen unmöglich macht unter dem Schein, ›Leser‹ zu bilden?« 7 Dies steht in scharfem Gegensatz zu seinem dort entwickelten Gedanken über Lehren und Lernen, wonach das Lehren nichts anderes ist als das Lesen (wieder) lernen zu lassen. Von hier aus, aus der Blickbahn des Zudenkenden, fällt ein neues Licht auf die Veröffentlichung beziehungsweise Nichtveröffentlichung der eigenen Schriften. Um einem Diktat auszuweichen, dürfen sie vielleicht gar nicht veröffentlicht werden. »Was aber heißt Ver-öffentlichen? Was anders als: der Diktatur und dem von ihr vielleicht sogar ungewollten Mißwollen preisgeben.« (200) Es geht nicht so sehr um missgünstige Rezensionen, sondern dieses »Misswollen« (ebd.) besteht in dem Abweg, durch Publizität Ansehen und Einfluss zu erreichen. Es ist also ein Misswollen dem ursprünglichen Denken gegenüber. Dieses darf sich »schicklicherweise nicht veröffentlichen«. (ebd.) Diese bis 1973 anhaltende Unlustigkeit zur Publikation kommt aus der Gewissheit, das Zudenkende werde in der allgemeinen Aufmerksamkeit vollends verunmöglicht. Wäre die Gesamtausgabe nicht erschienen und das Papier in den Regalen und den Schubern der Freiburger Arbeitszimmer verblieben oder im Marbacher Literaturarchiv, dann hätte es seinen innigsten Charakter zwar rein erhalten. Aber wir als Leser wären nie oder nicht so leicht bei einer zu denkenden Frage nach dem Sein angekommen, wenngleich auch dieser ›direkte‹ Weg zu fast 100 Bänden sich noch als äußerst mühsam gestalten kann. Dieser Zwiespalt zwischen eigenem reinen Anspruch und den Erwartungen eines nicht nur misswollenden Publikums muss den späten Heidegger, bis er sich zur Veröffentlichung entschloss, umgetrieben haben. Unter solchen Vorbehalten stand wohl schon seine Von Herrmanns Kommentar zu Sein und Zeit fordert uns auf, die Seinscharaktere der Abständigkeit, Durchschnittlichkeit und Einebnung des Man als neutralisierte Seinsweisen der Öffentlichkeit zu lesen und sie von ihrem vorphilosophisch bekannten Begriff zu unterscheiden, wovon wir hier absehen müssen; vgl. F.-W. von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, Bd. 2, 340. 7 Ders.: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942–1948), GA 97, 138. 6
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Zustimmung zur Drucklegung des Humanismusbriefs 1947. Sie ist für ihn ein »Schweigen« (233), das ein Verstummen vermeidet. (ebd.) Dieses eigentliche Schweigen unterscheidet Heidegger vom »Beschweigen« (273) der öffentlichen Presse. Diese »beschattet« alles und verfolgt es »mit ihrem Schatten«. (ebd.) Nicht so sehr die Printmedien wie Zeitungen und Zeitschriften machen die öffentliche Diktatur aus, sondern gerade diese anderen beschweigenden »Mittel und Wege des Zermalmens« (ebd.) sind es. So wird alles Wesentliche umschattet, bis der Denkende daran zerbrechen muss (510) und so die Verdüsterung der Welt mit der Verfinsterung des Denkens zusammengeht. (ebd.) Dazu nennt er das »›Ideal‹ einer ›anständigen Presse‹« in einer unanständigen Öffentlichkeit 8, die schon ausdrückt, dass es in ihr gar keine Wahrheit der Presse geben kann. Formal ähnlich Adornos geflügeltes Wort, wonach es kein richtiges Leben im falschen geben kann. 9 Dieser meinte damit einen moralischen Anspruch auf ein rechtes Leben, das in einem verblendeten, fremdbestimmten Kontext nicht glaubhaft wäre. Jener dagegen wollte das falsche Ideal einer anständigen Presse nicht als Ausdruck einer »moralisch verstanden[en] Entrüstung« (ebd.) gedeutet wissen, sondern räumte die Möglichkeit ein, dass aus dem Wissen über Presse und Öffentlichkeit »einmal eine Geschichte entspringen« (ebd.) könne. Ich erkenne darin die Chance einer Metontologie der Medien, die jedoch nichts ist »für gepreßte Augen und Ohren«. (ebd.) Nun ein Blick auf Heideggers Verständnis des Rezensionswesens. Man kann seine Vorstellungen als weltfremd bezeichnen und sich wundern, dass er derzeit, 1929, wie überhaupt und ernsthaft eine Auseinandersetzung mit seiner Schrift Vom Wesen des Grundes erwartete. 10 Auf ganzer Linie hätten die Rezensenten sich herumgedrückt um eine inhaltliche Aufnahme und Darstellung, vermutlich weil sie auf keine dominante Einflussnahme durch Husserl, Dilthey oder Kierkegaard gestoßen seien. Die daraus folgende Sprachlosigkeit mochte er auf Ratlosigkeit zurückführen, die vor den gängigen, feh-
Ders.: Überlegungen VII-XI, (Schwarze Hefte 1938/39), GA 95, 161. Theodor W. Adorno: Minima Moralia (Gesammelte Schriften 4, Frankfurt/M. 1997), 43. 10 Heidegger: Vom Wesen des Grundes (Sonderdruck aus der Festschrift für Edmund Husserl, 1929), hier: Überlegungen II-VI, (Schwarze Hefte 1931–1938), GA 94, 32. 8 9
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Heidegger liest Zeitung. Medialität als Metontologie
lenden Ismen, einschließlich der existenzphilosophischen kapituliert hätte. Man kann in seiner Bemängelung ausbleibender Besprechungen aber auch eine tiefergehende Kritik an solcher Art von Zeitungsschreiberei überhaupt vermuten. Dann wäre generell ein Fragezeichen hinter das flüchtige Abrechnen und Einfluss-Aufrechnen in Neuerscheinungen des Buchmarktes zu setzen. Er subsumiert solches Tun in demselben Abschnitt unter »Gerede«. (ebd.) Warum brauchen wir keine Informationen über neue Bücher? Und wenn wir sie nun schon haben, dann keinesfalls in ernsthaften Auseinandersetzungen. Man kann dagegen leicht einwenden, dass Heidegger jederzeit die Chance hatte, seine Kritiker und ihren Berufsstand zu kritisieren und kräftig in die Pflicht zu nehmen. Dies geschah auch indirekt durch (wenige) Besprechungen, die er selber verfasste, etwa über Karl Jaspers oder Ernst Cassirer. Aber das komparatistische, flache Niveau der Rezensenten, das er immer wieder kritisierte und das darin bestand, abzulenken und damit die von ihm aufgeworfenen Fragen zu umgehen, blieb gleichwohl das Kennzeichen einer allgemeinen Rezensentenkultur, wir dürfen behaupten, damals wie heute. Aber sich ganz von jedem Rezeptionsinteresse seiner eigenen Arbeiten zu lösen, das mochte er auch nicht. Als »breiten Mißerfolg« (46) seiner Schriften inklusive Sein und Zeit empfand er es, dass es ihm »nicht im geringsten gelungen« war (ebd.), »auch nur in die Richtung des Fragens zu drängen, geschweige denn ein Verständnis der Frage zu zeitigen, das zu einem wiederholten Fragen führt.« (ebd.) Das war 1931 ein ›gefühlter‹ Misserfolg, der sich im Ärger über das Verkanntsein, die Missinterpretation, das vorschnelle Gemeinwerden mit anderen Luft machte. Die berufliche und damit geschäftliche Position der »Scriptores« (47) geriet auf die Gegenseite einer philosophischen, das heißt denkerischen Auseinandersetzung mit den Sachen des Seins. Keinem echten Wissen, sondern nur einem geläufigen »Kennen« (55) entspringe die dann massenhaft und unausgesetzt verbreitete und bedrängende Mitteilung, die den Wert der denkenden Frage zwar nicht auslöscht, aber bis zur Unkenntlichkeit verfälscht. Heidegger hat es in dieser Phase seines Lebens, als er noch glaubte, der Nationalsozialismus wäre geeignet, eine Grundstimmung zur Frage nach dem Sein zu entfachen oder ihre Entfachung 171 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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zu begünstigen, als einen »Dreh« (140) bezeichnet, mit Hilfe dieses Nationalsozialismus diese Grundstimmung zu verhindern. Dies geschehe durch Zeitungsleute. Bei der Herabsetzung dieses Ismus und dessen, was er sich darunter vorstellen konnte, spielen Zeitungsleute eine große Rolle. Sie sind es, die eine mögliche Grundstimmung zum Gegenstand ihrer Publikationen machen, wenn es ihnen überhaupt klar ist, dass sie so ein Opfer fordern. Sicherlich wurden in einem solchen Dreh wissenschaftliche Themen herausgedreht aus einem gegebenen Stimmungskontext und auf einer niederen Stufe abgehandelt. Wohlgemerkt: Nicht der Nationalsozialismus setzt die großen Stoffe der Wissenschaft in ein neues, trüberes Licht, sondern deren Behandlung durch Zeitungsschreiber, die eine Empfehlung beim Leser erreichen können, und zwar eine nationalsozialistisch vordergründige. Heute würde man dieses Phänomen der Propaganda als Pressearbeit im Dienste einer bestimmten Buchpromotion bezeichnen. Ich persönlich verurteile den Gedanken, ein Buch in der Presse zu profilieren, gar nicht so sehr, natürlich aber deren braune Vorzeichen. Der Vorgang der Beeinflussung der Massen (von Zielgruppen) ist indessen derselbe. Die formalen, kulturbetrieblichen Prozesse sind heute keine anderen als diejenigen von 1931, allerdings haben sie sich technisch unendlich entwickelt und perfektioniert. Für Heidegger zählte das Faktum der Herabsetzung einer seinsgeschichtlichen Stimmung auf den Trivialfundus des Journalismus als negativ. Den Zeitungsschreibenden konnte man das Ausbleiben des großen Sprungs zur Last legen und damit auch ein Stück der zu beklagenden Seinsvergessenheit. Das Ergebnis war für ihn »Erstarrung«. (141) Was er die »Übernahme eines ganz neuen und unerhörten geistigen Auftrags« (ebd.) nennt, ist nicht identisch mit der Verbreitung des Nationalsozialismus, der in der Vernebelung durch die Schreiberlinge in »gleichgeschaltete Behäbigkeit« (ebd.) umschlägt. Im Gerede der Rezensionen erstickt also nicht etwa der Nationalsozialismus, sondern die Neugründung des Seins. Jener erlahme sogar schon darin, dass er sein Kampfpotential aufgebe und nicht Vehikel der Seinsfrage sein und bleiben kann. Damit schreiben die Redakteure nicht nur den Nationalsozialismus hinunter, sondern, beides unwissentlich, sie verfestigen auch die Unmöglichkeit eines neuen Anfangs im anderen Anfang. Das sagt auch, dass neuer Anfang und Nationalsozialismus nicht ein und dasselbe sind, so wie ein Gefährt und das darin Fahrende ja 172 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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nicht Identisches bedeuten. Soweit wir sehen, hat Heidegger sich kein anderes Vehikel mehr auserkoren. Nach der Abkehr von diesem Glauben, bei gleichbleibend negativer Einschätzung des Journalismus, bleibt es bei der puren, häufig formulierten Hoffnung auf einen anderen Anfang als Überwindung der Metaphysik. Bei der Suche nach einer Grundstimmung des Seins, in der der Nationalsozialismus das Vehikel sein könnte, stehen die Journalisten im Weg – so Heidegger 1931. Zeitungsmacher im Allgemeinen stellen nicht nur keine geistige Elite dar, sie sind das gerade Gegenteil davon. Während man sich noch mit Behauptungen, mit Beschreibungen von Ausbreitung und Wachstum der Bewegung aufhalte, gehe es eigentlich darum, »daß der Nationalsozialismus im Kampf bleibt« (141), ähnlich wie im Platonzitat aus der Rektoratsrede, wonach alles Große im Sturm stehe. 11 Vom Zeitungswesen ist dergleichen allerdings nicht zu erwarten, in seiner charakterlosen, bürgerlichen »Biedermannigkeit«. 12 All das hat schon etwas von einer emphatisch heroischen Geste, einer Einstellung, die zu fordern sei, um »eine schöpferische Umschaffung des Daseins zu erzwingen –;«. (ebd.) Dennoch fällt es schwer, darin die spätere Bedeutung der Medien als führende Propagandainstrumente des Dritten Reiches, speziell Joseph Goebbels’ zu erkennen, im Gegenteil: Presse verhindert eher den Sieg des Ganzen, das Eintreten eines Großen, als dass sie es herbeischreiben oder -drucken könnte. Leichter fällt es, das »Gerede« der Medien aus einem fundamentalontologischen Kontext zu verstehen, wonach es eine »Seinsart des entwurzelten Daseinsverständnisses« 13 ist. Ausdrücklich sagt Heidegger dort, dass das Phänomen Gerede »nicht in einer herabziehenden Bedeutung gebraucht werden« (222 (167)) soll. Das Gerede ist sogar eine positive Erscheinung des Menschen, die »die Seinsart des Verstehens und Auslegens des alltäglichen Daseins konstituiert.« (ebd.) Ohne dessen Herabsetzung ist das Gerede die ontologische Bestimmung des alltäglichen Seins des Da, zusammen mit der Neugier und der Zweideutigkeit. Beide Bedeutungen von Gerede führen uns Ders.: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, 117. 12 Ders.: Überlegungen II-VI, (Schwarze Hefte 1931–1938), GA 94, 142. 13 Ders.: Sein und Zeit, GA 2, 225 (170). 11
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aber keineswegs in Widersprüche; im Gegenteil, sie bringen uns aus ihnen heraus. Denn natürlich gehört das Pressegerede in die Konstitution des Daseins selbst und würde ohne diese Absicherung phänomenologisch in der Luft hängen. Es wurzelt als Erscheinung der Weltverschließung gleichursprünglich mit dem Gerede der Welterschließung in uns. Wenn Heidegger das Gerede ein »positives Phänomen« (ebd.) nennt, dann nicht, weil es zum Unterhaltungsteil einer Zeitung gehören kann. Vielmehr sind Verstehen und Auslegung ohne es gar nicht denkbar, es gehört also ontologisch in die Bewurzelung des Da, sofern dieses ein gewurzeltes Gebilde ist. Mit dieser Differenzierung ist der Bedeutung des Pressegeredes indessen nicht seine negative Schärfe genommen. Auch heute noch kann es uns befremden, wenn Medien in die Nähe des Spießertums und der alles Große verschleiernden Macht gerückt sind. Das gilt eben nicht nur für Medien der dreißiger Jahre, auch das AugsteinInterview von 1966 14 steht unter diesem Generalverdacht und -verdikt, durch Öffentlichkeit zu Lebzeiten nur weitere Missverständnisse und herabsetzende Urteile zu provozieren. Daher die Verschlusssache Heidegger und der erst spät beginnende Publikationsstart der Gesamtausgabe (1975). Sie hätte dem verschließenden Gerede der Öffentlichkeit Vorschub leisten können. Dies galt es zu verhindern. Wir haben gute Gründe, eine ganze Reihe von Termini, die wir aus den philosophischen Arbeiten Heideggers kennen, in dieser Weise zu identifizieren: Wenn sie in einem zeithistorischen, trivialen Kontext gebraucht werden, hängen sie nicht in der Luft, sondern spielen mit dem direkten Bezug zu ihrer phänomenologisch bereits erfolgten Analyse. Wir sagen absichtsvoll spielen und meinen damit gerade keinen formallogischen Bezug wie in einer technischen Gleichung von Identität oder Ähnlichkeit. Umgekehrt bezeichnen ontologische Analysen nicht etwa einen keimfreien, philosophisch wissenschaftlichen Raum, sondern sie sind höchst ›lebensfähig‹ und wandern durchaus einmal in die Waagschale der politischen, zeithistorischen Wertung. Bei einer genaueren Lektüre der Schwarzen Hefte stellt sich heraus, dass Heidegger diesen Spielraum eines streng ontologischen Sprachgebrauchs und der trivialen Verwendung derselben Begriffe niemals verlässt, sondern sogar bewusst einräumt und zulässt. Es gibt nie die eine Bedeutung Vgl: Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger (23. September 1966), in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, 652–683.
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ohne die andere im Hintergrund, aber nicht als formales Hin- und Hergeschiebe, sondern es gilt eine selbstinterpretierende Kritik in beide Richtungen. Der Mensch des Alltags in Freiburg oder Todtnauberg kritisiert vermeintliche Schwachpunkte in Sein und Zeit, so wie umgekehrt der Denker auch seine alltäglichen, politischen Irrtümer nennt, wenn auch nur vor sich und für sich selbst. So machen die Schwarzen Hefte eine private, über achtzig Jahre währende Klammer um sein öffentliches Erscheinen. »Charakter« zum Beispiel, so die Nummer 81 in Überlegungen und Winke III, 15 ist nicht eigentlich dasjenige, was Zeitungsleute im Munde führen, um sich darauf zu berufen, weil man ihn irgendwie zu haben oder zu vertreten hat, er also eine Art kulturellen Hype darstellt. De facto beschwor man im Gerede über Charakter etwas, das gerade am meisten fehlte. Man denke an Hannah Arendts New Yorker Vorlesung von 1965 Über das Böse 16, wo sie gegen die Gedankenlosigkeit aufrief, die uns die wahren Begebenheiten der Judenverfolgung nicht erkennen ließ. Mitläufer und Schreibtischtäter gehörten zu dieser Kategorie der banalen Bösen und Charakterlosen, die sich damals im Besitz des uneingeschränkten Charakters wähnten. Darüber war je schon höheren Orts entschieden worden. Für Heidegger war Charakter eher die Geschicklichkeit der Mitmacher, und zwar auch in allen Machenschaften der Artikelschreiberei. (142) Es gibt für ihn aber auch den positiven Charakter, den er in einem Brief an Kurt Bauch vom 13. Mai 1937 einen besonderen Stil des Daseins nennt. Darin bekundeten sich Standort und Ebenen des Daseins selbst und ganz unabhängig von jeweiliger Hörerschaft. 17 Charakter, Stil zeigte sich »in der Bewährung innerhalb der Geschichte, die er so oder so mitgestaltet.« 18 Charakter steht hier in deutlichem Bezug zu Sein und Zeit und meint ein »In-der-Welt-sein«, das sich ausdrückt, »d. h. Kraft der Fähigkeit der wissenden, geistigen und natürlichen Auseinandersetzung mit dem Seienden.« (143) M. Heidegger: Überlegungen II-VI, (Schwarze Hefte 1931–1938), GA 94, 142. Hannah Arendt: Über das Böse: eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlass hrsg. von Jerome Kohn. Übers. aus dem Engl. von Ursula Ludz, München [1965] 2006; vgl. auch vom Verfasser: Medialität der Medien, § 23b. 17 Hrsg. Almuth Heidegger: Martin Heidegger. Kurt Bauch, Briefwechsel 1932–1975, Martin Heidegger Briefausgabe, Wissenschaftliche Korrespondenz, Band 1, 41. 18 Heidegger: Überlegungen II-VI, (Schwarze Hefte 1931–1938), GA 94, 143. 15 16
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Hier war noch kaum zu ahnen, dass solche geschichtlich erkennende, charakterliche Kraft in der von Arendt Anfang der sechziger Jahre definierten Überwindung der Gedankenlosigkeit bestand oder hätte bestehen sollen und müssen. Heidegger allerdings rekurriert hier speziell auf »Zeitungsschreiber und Kulturmacher« (142), die er einem durch sie ausgelösten und bestimmten »Vulgärnationalsozialismus« (ebd.) zuordnet. Sein Wort vom »ethischen Materialismus« (ebd.) steht in einem ablehnenden Bezug zu Marx’ »ökonomisch-materialistischer Geschichtsauffassung«. (ebd.) Dieser Titel ist zweifelsohne kritisch gemeint. Denn unter materialistisch verstand er jenen Journalismus, der sich nicht etwa der Wahrheit einer Sachdarstellung verpflichtet sah, sondern seine Materie im Arbeitsfeld des machenschaftlichen Charakters erblickte. Dieser kam auf andere Weise zu Rechercheergebnissen, etwa durch vorgegebene Texte und vorgeformte Meinungen, jedenfalls in einer »Geschicklichkeit in allen Machenschaften, die nach etwas aussehen und die Dürftigkeit des Könnens und die Ernstheit und Gewachsenheit der Gesinnung – so sie fehlen – gut verdecken.« (142) In diesem Sinne ist das Ethische dieses Materialismus aufgesetzt und steht wie selbstverständlich unter der materialen Basis der gegebenen Dinge. Erst in der Verfügbarkeit des Materiellen zeigt sich diese ›ethische‹ Gesinnung, so die kritische Beurteilung der Medienfreiheit der dreißiger Jahre, die weit entfernt ist von einer nur irgendwie gearteten Akzeptanz durch Heidegger. Hierher gehören auch seine skeptischen Anmerkungen über das pflanzenhafte Wachstum der Kultur aus dem Volk, das ein »trüber Biologismus« (143) sei. Alles Volkskundliche, Völkische sollte an die Stelle der beiseitegeschobenen Intelligenz treten. So gesehen kann es keine intelligenten, charaktervollen Blätter mehr geben. In der Tat verstummt die Zeitungsgattung der sogenannten Intelligenzblätter ab 1930. 19 Um aber Verwechslungen zu vermeiden: Intelligenzblätter hießen die im Frankreich des 17. Jahrhunderts erfundenen Anzeigenblätter mit Todesanzeigen, Verkaufsanzeigen, Hinweisen darauf, wer in welchen Hotels abgestiegen sei usw. »Intelligence« bedeutete so viel wie Nachrichten. Diese hätten wohl in Heideggers Kritik ebenso wenig Gnade gefunden. Die Presseblätter der dreißiger Jahre hatten 19
https://de.wikipedia.org/wiki/Intelligenzblatt, 08. 10. 2015.
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nichts mit der von ihm angemerkten Austreibung der Intelligenz aus dem Journalismus zugunsten des Völkischen zu tun. Damit kann nicht die Mediengruppe der damals so genannten Intelligenzblätter gemeint gewesen sein. Zu unserem heutigen Sprachgebrauch: Anzeigenblätter heißen Anzeigenblätter, »Intelligenzblätter« wie die FAZ, die Süddeutsche oder der Spiegel tragen solche Bezeichnungen ja nur mehr oder weniger scherzhaft. Nach telefonischer Auskunft von Hermann Heidegger 20 gab es im Elternhaus »verschiedene Zeitungen«, die Freiburger Zeitung (die 1784–1943 erschien); Die Tagespost. Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur; während der NS-Zeit Der Alemanne (der von den Nationalsozialisten herausgegeben wurde und 1931–1945 erschien). Der Ausgabe vom 20. 06. 1933 kann man entnehmen, dass die angeordnete Bücherverbrennung zwischen dem 17. und 20. Juni auf dem Freiburger Exerzierplatz, dem Flughafengelände, stattgefunden hat. Im Spiegel-Interview hatte Heidegger gesagt: »Ich hatte die geplante Bücher-Verbrennung, die vor dem Universitätsgebäude stattfinden sollte, verboten.« 21 Des Weiteren gab es die deutschnationale Breisgauer Zeitung. Damit ist allerdings nicht gesagt, so der Sohn Heideggers, dass sein Vater diese Blätter tatsächlich auch gelesen hätte. Wenn er später, in den sechziger Jahren, in Zeitungen blätterte, dann, um in den Sportnachrichten nach dem Namen Franz Beckenbauer zu suchen. An dessen sportlichen Erfolgen und Misserfolgen sei sein Vater stets interessiert gewesen. Der Völkische Beobachter sei entgegen anders lautenden Informationen nicht bezogen worden. Dann gibt es die Jüdische Rundschau, die Alfred Baeumler, bekannter Erziehungswissenschaftler unter den Nazis, für ihn ins Rektorat bestellt hat, »die ausgezeichnet orientiert u. Niveau hat. Ich werde dir [Elfride] die Nummern schicken.« 22
Der Verfasser telefonierte mit Dr. Hermann Heidegger zum Zeitungsthema am 21. Mai 2015. 21 Heidegger: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, 652–683, hier 658. 22 Ders.: Mein liebes Seelchen, 175 f., bei Donatella Di Cesare: Heidegger, die Juden, die Shoah, 124. 20
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Mediale Verschlusssache Natur und Welt Es ist geboten, Heideggers Äußerungen über Medien ins Verhältnis zu setzen. Daher reicht es nicht aus, die Verbreitung von Zeitung und Radio in den Bauernhöfen, die er kritisiert, als hinterwäldlerisch oder romantisierend abzutun. Wenn er sagt, »der entlegenste ›Bauernhof‹ ist bereits durch Rundfunk und Zeitung von innen heraus zerstört« (80), dann bedeutet das nicht, die Bauernhöfe seien durch die schon vorhandenen und neu aufkommenden Medien bereits geistig ruiniert und verdorben, sondern dass die Medien markierende Erscheinungstypen der öffentlichsten Öffentlichkeit sind und der in ihr gehorteten Seinsverlassenheit. Sie sind historiologisch missdeutete Maschinen und deren Erzeugnisse, die seinsgeschichtlich in die Reihe der mächtigen Produkte einer sich längst schon vollendet habenden Metaphysik in einem alles umspannenden Ge-Stell gehören. In diesem denkerischen Kontext geht es also nicht um den Verlust ländlicher Idyllen. Ihre Zerstörung ist insofern eine solche, als die Eigenarten der Ländlichkeit dieser nun im Agrotourismus selber wieder zurückverkauft werden. Dies ist heute nicht anders als Ende der dreißiger Jahre. Es ist fast unmöglich, aber notwendig, darin mehr und anderes zu erblicken als Medienschelte und Technikfeindlichkeit. Neben der altbekannten, aber von den Zeitgenossen kaum durchdachten Seinsverlassenheit geht es gar nicht um das »Wirkliche« (ebd.) dieses Öffentlichen, nicht um die Frage, ob jemand die Wandlung der Natur in ein betrieblich organisiertes und käufliches Ding richtig oder falsch erkannt hat. Vielmehr fallen »Entscheidungen« (81) darüber in dem, was Heidegger »die Inständigkeit des Menschen im Sein« (ebd.) nennt, worin ein »Offenes« (ebd.), das kein Öffentliches sein kann, liegt. Aus dem einstmals Offenen wurde die Verschlusssache Natur und Welt. Die Publikationsmedien halten in ihrer Herkunft aus dem Technischen die Sachen von Natur und Welt verschlossen. So wurde es dem Menschen unmöglich, »sein Wesen [zu] wagen«. (ebd.) Medien bilden das härteste Gestein, das sich jeder Preisgabe und Transparenz ihrer selbst am hartnäckigsten widersetzt. 23 Inständigkeit im Sein dagegen würde bedeuten, dieses Offene Ich spiele hier auf das Gleichnis von den Steinbrechern an, das Heidegger setzt, um der Wiederkunft einer echten Not des Seins ein anschauliches Bild zu geben. Vgl. Überlegungen VII-XI, (Schwarze Hefte 1938/39), GA 95, 57 f.
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des Zwischen zuzulassen, darin selber zum Stehen und Bleiben zu kommen und zu sehen, dass dieses Zwischen das Mediale gleichursprünglich mit seiner Verhärtung und Verfestigung eben auch ausmacht. Also unterscheiden wir ein Mediales, das dem Steinbrechen ausgesetzt werden muss, von einem anderen, das sein gefügtes Wesen im Offenen treiben könnte. Denn im berstenden Stein verschwindet es ja nicht einfach, sondern zeigt sich als ursprüngliches Zwischen im Da des Daseins. Aber wie soll man sich dergleichen vorstellen? Seit Aristoteles ist das Medium ein Zwischen, das aus Luft zum Sehen und Hören besteht und später dann eine Art Moratorium der Botschaften ausmacht, die jemand aussendet oder empfängt. In einer Art Technikhistorie und Medienarchäologie wandelt sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts 24 das Mediale mit den Erscheinungsformen des technischen Maschinenparks und den Erfindungen von Physik, Kybernetik und Informatik in ihrer industriellen Gebundenheit. Während das Medium vor ca. 30 Jahren noch ohne Bedeutung war, gibt es heute etwa auf Wikipedia ein ganzes Netz von Verweisen auf Artikel zu Medium. Dieses Zwischen bewegt sich zwischen der Seinsverlassenheit, der (positiven) Erschaffung einer Medialität beispielsweise und einer neutralen Unentschiedenheit zwischen beiden. In diesem ontologischen Prozessmuster spiegelt sich nicht nur das Wesen der Kehre aus dem Ereignis, sondern auch das des Zwischen selbst. Es reicht sich quasi selbst herum, seine Ideen und Möglichkeiten. In ihm drehen sich die Wesungen der Kehre, jeweils nach der Neigung und Richtung ihres jederzeit möglichen Hinausfalls. Eine Art ›Verschiebevorrichtung‹ errichtet das Zwischen im Wendungspunkt der Kehre. Metaphysisch gesprochen ›organisiert‹, ›arrangiert‹ es als Selbstseinkönnen wesentliche Entwurfsmodi des Menschenwesens, sorgt für ihr Gemeinsames sowie für ihre Unterscheidung. In Sein und Zeit hätte diese Daheit den Namen Erschlossenheit bekommen 25 und ist hier das kehrige Pendel des sich selbst könnenden, medialen Menschen. Wenn wir bei der Lektüre der Schwarzen Hefte, hier speziell der Verschlusssache Natur, diese Grundzusammenhänge von Dasein und Medialem nicht sehen und nicht bedenken, bleibt uns Heideggers Stefan Münker, Alexander Rösler (Hrg.): Was ist ein Medium? 9. Vgl. zum fundamentalontologischen und zum seinsgeschichtlichen Wesen des Zwischen als Grund des Medialen die Arbeit des Verfassers: Medialität der Medien, § 4.
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›Zeitung‹, sein ›Rundfunk‹, seine Anmerkungen zur Öffentlichkeit, zum Verlegerischen usw. verschlossen, da er sie jederzeit aus deren Wesen her denkt. Resümee: Gewiss war Heidegger das Gegenteil des typischen, intellektuellen Lesers, der ohne morgendliche Zeitungslektüre das Haus nicht verlassen will. Sicher war es zeitweise mehr als der Sportteil und weniger als die Pflichtlektüre, die es für ihn eigentlich nicht gab. Allerdings verdanken wir ihm einige denkerische Anstöße, die mehr bedeuten als eine wohlfeile Medienschelte und vielleicht sogar eine neue, andere Philosophie der Medien anstoßen könnten.
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»zu begreifen, was uns ergreift …« Philosophie und Literaturwissenschaft, Heidegger und Staiger
Dass sich das Einzelne nur aus dem Ganzen und das Ganze nur aus dem Einzelnen erschließen ließe, war der antiken Rhetorik ein bekanntes Phänomen. Im Unterschied zum hohen Anspruch der Dialektik sollte aber diese logisch-psychologische Disziplin ein Meinungsund kein Wahrheitswissen bleiben, eine Überredungskunst 1, mittels derer der kunstvolle Umgang mit Konstruktionen der Sprache ermöglicht wurde, die aber bloß dem Erscheinen eines Wahren, dem WahrScheinlichen seine Überzeugungskraft zu verleihen vermochte. Die Übergänge vom Ganzen zum Teil bereiteten der Rhetorik keine besonderen Schwierigkeiten, auch nicht die tautologischen Bewegungen im Sprechen und Denken, ein vitiöses Verhältnis, das dem Altphilologen und Platonforscher Friedrich Ast als ›Zirkel‹ auffiel und um dessen Auflösung er sich bemühte 2. Zur dezidierten Bejahung der Zirkularität, dieser logisch-methodologischen Verlegenheit der um den Status der Wissenschaft lange kämpfenden Kunst der Interpretation entschloss sich zum ersten Mal Martin Heidegger in »Sein und Zeit« 3. Dort wurde die sogenannte ›Vor-Struktur des Verstehens‹ 4
Platon, Gorgias, 452 e ff. In: Platon, Werke, Band 2. (Werke in acht Bänden, Gunther Eigler (Hrsg.), Darmstadt, 5. Auflage 2005). 2 »Der Zirkel, daß ich a, b, c usw. nur durch A erkennen kann, aber dieses A selbst wieder nur durch a, b, c usf. ist unauflöslich, wenn beide A und a, b, c als Gegensätze gedacht werden, die sich wechselseitig bedingen und voraussetzen, nicht aber ihre Einheit anerkannt wird, so daß A nicht erst aus a, b, c usf. hervorgeht und durch sie gebildet wird, sondern ihnen selbst vorausgeht, sie alle auf gleiche Weise durchdringt, a, b, c also nichts anderes als individuelle Darstellungen des Einen A sind. In A liegen dann auf ursprüngliche Weise schon a, b, c; (…)«. In: Friedrich Ast, Hermeneutik (aus: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, S. 165– 212.) Zit. nach Hans-Georg Gadamer, Gottfried Boehm (Hrsg.) Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1976, S. 116–117. 3 S. Martin Heidegger, Sein und Zeit (SZ), § 32 (zit. nach Tübingen, 1953). 4 SZ, S. 151. 1
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aufgedeckt als eine in der Auslegung vollbrachte Aneignungsbewegung des Verstandenen: »In ihr [in der Auslegung] eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu.« 5 Was zunächst als Betonung eines tautologischen, dem Sinn aller formalen Logik zuwiderlaufenden Verfahrens erscheinen mag, zeigt sich als notwendiger Schritt in der Sinnbildung: Es gilt, das ›unthematische‹, natürliche ›Sichverstehen‹ zu durchdenken und zu Begriff zu bringen, oder, mit einem an Kierkegaards philosophische Terminologie erinnernden Grundbegriff des frühen Heidegger, es sich durchsichtig – oder eben ausdrücklich – zu machen. Vor-Habe, VorSicht und Vor-griff bilden das Fundament der com-prehensio (die ›Verhaftung‹ klingt im Wortlaut noch mit). Sie ist, Staigers schöne Formel aufnehmend 6, ein Greifen dessen, was einen im Griff hat. Heidegger konnte in seiner Auffassung der Auslegung an eine reiche rhetorisch-hermeneutische Tradition anknüpfen: Erwähnt sei hier nur die berühmte Formel August Böckhs von dem »Erkennen (…) des Erkannten« 7. Dabei sind die Urväter der philosophischen Hermeneutik, sowohl Böckh als auch Schleiermacher und, in Nachfolge Schleiermachers, Wilhelm Dilthey, bemüht, dem Zirkelhaften dieser Denk-Aneignungsbewegung zu entkommen 8. Man kann es also durchaus als einen erstmaligen hermeneutischen Durchbruch Heideggers betrachten, wenn er die Aufgabe formuliert, in diesen ›Zirkel‹ richtig ›hineinzukommen‹, ihn nicht zu vermeiden, sondern im Gegenteil, zu bejahen und zu vollziehen 9.
SZ, S. 148. Emil Staiger, »Die Kunst der Interpretation« – Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich, 1955 (ab jetzt KI), S. 10–11: »Das eigentlich Dichterische aber entziehe sich wissenschaftlicher Darstellung. Denn Dichtung sei – so lautet der beliebte Ausdruck – »irrational«. Das gehe schon deutlich genug aus dem Schaffen der führenden Interpreten hervor. (…) Versuchen sie aber im Ernst einmal, das schlichte poetische Wunder zu fassen – an »leichten«, unmittelbar verständlichen Texten, die für die Wissenschaft viel schwerer faßbar sind als »schwere« –, bemühen sie sich, an einem kleinen Gedicht zu begreifen, was uns ergreift, so kommen sie selten über die peinlichste Nachdichtung in Prosa, ein impressionistisch vages Gerede hinaus.« 7 August Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, Darmstadt, 1977, S. 75. Zit. in: Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 2001, S. 117. 8 Vgl. Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik (1900), In: Gesammelte Schriften, V. Band, Stuttgart 1957, S. 330. 9 SZ, S. 153: »Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus –, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.« 5 6
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»zu begreifen, was uns ergreift …«
Emil Staiger nahm diese Auffassung des hermeneutischen Zirkels aus dem, was er »Heideggers Ontologie« 10 nannte, mit Begeisterung auf. Zwei Jahrzehnte bevor die analytische Philosophie den Zirkel zum »sogenannten« 11 erklärt haben würde, ihn damit von seiner Dämonie endgültig befreit und zur (durch den Logos der Gesetzeswissenschaften überwundenen) Mythologie der historischen Wissenschaften gemacht hatte 12, war Staiger bereits der Meinung, dass die Physik und die Mathematik in gleicher Weise verfahren würden. 13 Gänzlich entzaubern wollte er diese hermeneutische Drehbewegung dennoch nicht: Was das ›methodische Erfassen‹ des ›schlichten poetischen Wunders‹ 14 angeht, käme man – daran sollte festgehalten werden – um das Zirkuläre nicht herum. Warum dem so sei, darüber dachte Staiger weiter nach in seinem berühmten Vortrag aus dem Jahre 1950 15. Staiger stellte – in Martin Heideggers Anwesenheit – die Frage nach dem Vollzug des hermeneutischen Zirkels der Literaturwissenschaft. Was darauf folgte, war eine Beschreibung dessen, was im Interpreten bei der Lektüre eines Gedichts vorgehe. Er unternahm da, wenn man so will, eine ›werkimmanente Deutung‹ (um den Ausdruck zu gebrauchen, der Staiger Ruhm bei den Germanisten eingebracht hat, gegen den er sich jedoch sträubte, ähnlich wie Heidegger hin und wieder gegen ›Existenzphilosophie‹ als Bezeichnung für sein philosophisches Unterfangen protestieren musste). Immanenter Umgang mit dem literarischen Text: Die Vorstellung hing wohl damit zusammen, dass dem Interpreten erlaubt und auch geraten war, sich auf eine besondere Art der persönlichen, innigen Begegnung mit dem einzelnen Text einzulassen. Staiger erklärte dies folgendermaßen: »Wir lesen Verse; sie sprechen uns an. Der Wortlaut mag uns fasslich scheinen. Verstanden haben wir ihn noch nicht. Wir wissen noch kaum, was eigentlich dasteht und wie das Ganze zusammenKI. S. 11. Wolfgang Stegmüller, In: Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten – Der sogenannte Zirkel des Verstehens, Darmstadt 1975. 12 Vgl. Stegmüller, ebd. S. 86. 13 KI, S. 11. 14 Ebd. S. 10. 15 Ebd. S. 10–11. Es handelt sich des Weiteren um die Beschreibung einiger Gedankengänge, die im Vortrag »Die Kunst der Interpretation« formuliert werden. Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die folgenden Stellen auf den gleichen Vortrag. S. KI, 1955, S. 9–33. 10 11
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hängt. Aber die Verse sprechen uns an; wir sind geneigt, sie wieder zu lesen, uns ihren Zauber, ihren dunkel gefühlten Gehalt zu eigen zu machen.« (S. 12) Bevor ihm das ›Herz nicht aufginge‹ bei diesem Appell des Gedichtes, könne der Interpret nur Angelerntes über den Dichter wiederholen. Sollte es aber zu jenem persönlichen Aufbruch kommen, so wäre die Wissenschaftlichkeit seines Berufs keineswegs gefährdet, sondern erst recht gewahrt. »Denn ohnehin wecke ich Leben nur, wo Leben in mir entzündet ist«. (S. 32) So das Credo Staigers, dessen finaler Formulierung er – zumindest rhetorische, wenn nicht methodologische – Augenblicke des Zweifels vorausschickt: »Es ist seltsam bestellt um die Literaturwissenschaft. Wer sie betreibt, verfehlt entweder die Wissenschaft oder die Literatur. Sind wir aber bereit, an so etwas wie Literaturwissenschaft zu glauben, dann müssen wir uns entschließen, sie auf einem Grund zu errichten, der dem Wesen des Dichterischen gemäß ist, auf unserer Liebe und Verehrung, auf unserem unmittelbaren Gefühl. Es fragt sich noch immer: Ist dies möglich?« (S. 12–13) Die Verlässlichkeit von ›Gefühlen‹, von Liebe und Verehrung, könnte demjenigen, der sich als geschichtliches – und endliches – Wesen erkannt hat, suspekt erscheinen – nicht angesichts des Wesens des Dichterischen, aber angesichts der Bestimmung des Umfangs und der Grenzen dessen, was alles unter gegenwärtiger Kunst ›wissenschaftlich‹ und auch literaturkritisch zu begreifen wäre. Der zeitliche Abstand 16 kann gerade im ›hier und jetzt‹ der Erfahrung keine Hilfe beisteuern. Dass Liebe und Offenherzigkeit, diese Garanten des Vorgriffs der Vollkommenheit 17, angesichts der Begegnung mit Kunst, die symptomatisch erscheinen mag, doch umschlagen können ins Martialische, ist sicherlich eine Gefahr, der nur die wissenschaftliche – an dieser Stelle vielleicht doch, hermeneutische – Distanz entgegenwirken kann. Andererseits hat sich ›das Wissen‹ eines gewissen GeSiehe dazu auch die berühmte ›Milderung‹ Gadamers der in der ersten Fassung von Wahrheit und Methode auftretenden Formel: »Nichts anderes als dieser Zeitenabschnitt vermag die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen«. Gadamers wichtige Ergänzung lautet in der entsprechenden Fußnote: »… es ist Abstand – nicht nur Zeitenabstand – was diese hermeneutische Aufgabe lösbar macht«. In: Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, In: Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1986, S. 304. 17 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 299. 16
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spürs für das Richtige immer schon bedient: techne, phronesis und nous, episteme und sophia sind, mit Aristoteles’ sechstem Buch der Nikomachischen Ethik gesprochen, nur verschiedene Weisen, Wahres zu treffen. Vergessen wurde später nur, dass das Wissen und die Wissenschaft nicht dasselbe sind. Ohne auf die Geschichte eines bis heute durchaus problematischen Verhältnisses von Wissen, Werten und wissenschaftlichem Verhalten hier tiefer eingehen zu können, dürfte nach wie vor als Gemeinplatz gelten: Rein algorithmisches Denken muss mit einer offen-heuristischen Verfahrensweise harmonisch zusammenkommen, damit neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Lange bevor die Induktionsdiskussion mit dem unangenehm Zirkulären konfrontiert wurde, das dem Induktionsschluss innewohnt, lässt bereits Platon das Problem der Wissenschaft bewusst offen: Die dritte These seines Dialogs über die episteme 18 scheitert trotz des vermeintlichen Weges, der sich aus der Aporie bahnt. ›Nur im Traum‹ könnten wir einer wahren Meinung den wissenschaftlichen Beweis so zugrunde legen, dass unser Wissen allem Zweifel enthoben wäre. Menschliches Wissen – die Wissenschaft – muss, mit Platon gesprochen, am Elementaren scheitern: Die ersten Bausteine unseres Denkvermögens sind selbst unlogischer Natur. Veranschaulicht wird dies an einer Buchstaben- und Wortlehre vom Ganzen und von Teilen, wobei das Verhältnis von Vorgriff auf das Gesamte und einzelne Element sich in seiner Zirkularität offenbart. Soweit der platonische Theaitetos zur episteme des Menschen. Dieser entspricht sicherlich ein anderer Begriff der Wissenschaft als der durch die aristotelische Tradition geprägte und uns heute weitgehend geläufige. Letzteres kennen wir als die eine Wissenschaft, deren Strenge wiederum die doxa, die Meinung (unbesehen dessen, ob sie wahr sei oder falsch) zutiefst widerstrebt. Emil Staiger ist – und dies entwickelt er in seinem Vortrag zur »Kunst der Interpretation« – fest davon überzeugt, dass ein Nachweis dessen, was am diffus Verspürten richtig ist, möglich sei und das – so seine Worte – ›begründet unsere Wissenschaft‹. (S. 15) Wie entsteht aber die Literaturwissenschaft? Es geht zunächst, so Staiger, um ein unmittelbares Gefühl, einen ›Sinn‹ für Literatur, der den geborenen Literaturwissenschaftler vom bloßen Genießer der Kunst unterscheiDie folgenden Ausführungen beziehen sich auf Platons Theaitetos. In: Platon, Werke, Band 6. Darmstadt, 2005.
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det: »… nicht jeder Beliebige kann Literarhistoriker sein« (S. 13). Die ›wissenschaftliche Fähigkeit‹ muss getragen werden von einem ›reichen und empfänglichen Herz‹, einem »Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedensten Töne anspricht.« (ebd.) Diese, nennen wir sie, empathische Fähigkeit, die zur Einfühlung und Identifizierung mit dem Gegenstand der Betrachtung einlädt und das Wesen und das Befreiende der Kunsterfahrung darstellt, ist sicherlich kein novum, nun aber soll eben dies auch das Kriterium für die Richtigkeit der Beurteilung von Kunstwerken abgeben: »vorausgesetzt, dass er – gemeint ist der zum ›gelehrten Kenner‹ mutierte ›Liebhaber‹ – begabt ist und sein Gefühl das Richtige trifft« (ebd.). Eine unlehrbare – aber auch unfehlbare Tugend. Die These Staigers lautet nun: »Das Kriterium des Gefühls wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein«. (ebd. S. 13) Was Staiger vorschlägt, ist durchaus gewagt. Der Satz klingt aber zugegebenerweise befreiend in einer verwissenschaftlichten Welt der Spezialisten, in welcher die von ihm oft angesprochene ›Schönheit‹ des Textes – ein nicht ungefährlicher Ausdruck – höchstens auf den Liebhaber, aber nicht auf das Gemüt des Fachmanns einwirken darf (und schon gar nicht auf sein Schreiben!): »Heute sollte ein Forscher es aber doch nicht mehr nötig haben, den Ernst und die Sachlichkeit seiner Wissenschaft durch schlechtes Schreiben zu beweisen. Wenn er sich klar ist über sein Tun und wenn es methodisch gesichert ist, dann wird er sich guten Gewissens um eine gefällige Darstellung bemühen und seine Schriften so verfassen, dass nicht nur der Fachkollege sich eine Belehrung aus ihnen holen mag. Fachkollegen sind in der Mehrzahl ohnehin keine geneigten Leser. Es wäre ein wunderliches Gehaben, gerade nur sie gewinnen zu wollen.« (S. 25) Schönheit, gutes Schreiben, methodische Sicherung seines Tuns: Letzteres lässt den divinatorischen Sprung nicht zum Sprung ins Leere werden. Ein geneigter Leser von Dichtung und Liebhaber gewagter Interpretationen wie Martin Heidegger hätte mit Staigers Ansatz durchaus sympathisieren können, auch wenn er Fragen oder Bedenken gegenüber dem »Gefühl« gehabt hätte, dem Staiger einen so hohen wissenschaftlichen Wert zusprach. Es war ja auch Heideggers Befindlichkeits- und Stimmungslehre, die bei Staiger offenbar gut angekommen war. Nichtsdestotrotz, zu einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses zwischen den staigerschen ›Gefühlen‹ (die allem Anschein nach nicht psychologistisch zu missdeuten sind) und 186 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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der heideggerschen ›Stimmung‹, dem sich an der Sprachbegegnung ›entzündenden Leben‹ und dem interpretierenden Verstehen, sollte es bei dieser Gelegenheit nicht kommen. Vielmehr konzentriert sich der unmittelbar nach dem Auftritt Staigers in Freiburg folgende Briefwechsel auf einen Vers aus Eduard Mörikes Gedicht »Auf eine Lampe«. Die Auseinandersetzung um die fragliche Passage ›Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst‹ ist ziemlich bekannt. 19 Heidegger schreibt Staiger bezüglich des philosophischen topos des ›Scheinens‹ des Schönen. Problematisch wird dabei nicht nur der ästhetische Reiz der Formulierung ›in ihm selbst‹– genauer, das Personalpronomen, dessen Bedeutung Staiger, des Schwäbischen nicht mächtig, im Sinne eines gänzlichen ›Abrückens‹ des Schönen interpretiert hatte, nämlich in eine Vergangenheit, aus der es nur noch nostalgisch ›scheinen‹ kann. Vielmehr geht es Heidegger um das Phänomen des symbolischen Er-›Scheinens‹, nämlich dessen, was im Scheinen des ›Schönseins‹ eigentlich in seiner ›Reinheit‹ erscheint. Auch wenn die Debatte um die Doppeldeutigkeit des Scheinens im Sinne des lucet und videtur schnell erledigt ist (Staiger interpretierte das Erscheinen im Sinne des videtur nicht als bloßen Schein, sondern als Entschwinden und Verblassen eines Gewesenen), klafft zwischen den beiden Interpreten trotz allen freundlichen Bemühens die Kluft auf, die häufig zwischen einer philosophischen und einer philologischen, literaturwissenschaftlichen Herangehensweise sichtbar wird. Staiger macht auf den durchaus nicht beliebigen Unterschied aufmerksam, der in den Auffassungen beider von der – dichterischen und philosophischen – Sprache besteht (S. 40). Auf den Punkt gebracht hat dies Jan Philipp Reemtsma: »Staiger sagt, Heidegger trivialisiere ein Gedicht; ich meine, Heidegger weiß nicht, was es heißt, einen literarischen Text zu interpretieren.« 20 Und er hat damit Recht, denn, was die Interpretation angeht, bewegt sich Heidegger sehr weit von der Intention, das Gedicht als literarisches Produkt und als Resultat einer künstlerischen Produktionsweise zu betrachten. Heidegger sieht es – und zwar offen und programmatisch – nicht als Ausdruck eines Bewussten oder Unbewussten, sondern als Sym-
Dass sie noch immer aktuell ist, wie das Problem der Interpretation selbst, zeigt sich auch daran, dass dem Briefwechsel erst jüngst mehrere Seiten eines Kapitels gewidmet wurden in Jan Philipp Reemtsmas »Was heißt: einen literarischen Text interpretieren?« München 2016 (s. hier Ansichtssachen, S. 40 ff.). 20 Ebd., S. 53. 19
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bol, als doppeltes sinnliches und ›ideelles‹ Erscheinen des ›Kunstwerks überhaupt‹ im Werk 21. Und zwar, noch hegelsch ausgedrückt, als ein Erscheinen ›der Idee als Wesen des Kunstwerks‹ (S. 36). Das Wort Wahrheit fällt noch nicht, dafür aber das Wort ›Wirklichkeit‹ (S. 42). Im Kontext der Diskussion um die hegelsche Ästhetik – sprich, ›Hegels Werke und Vischers Bücher‹ (ebd.), die Staiger als Literaturwissenschaftler verstimmt, da Mörike sich nachweislich mit keinem der beiden ernsthaft beschäftigt habe – erklärt Heidegger und bringt damit das Phänomen des phainesthai ins Spiel: »Aber der Schein, dass z. B. ein als Kunstgebilde nur gemalter Baum kein wirklicher Baum ist und gleichwohl als dieser scheinbare Baum gerade die Wirklichkeit des Baumes selbst zeigt, gehört zum Wesen jedes Kunstwerks, und zwar zu dessen eigentlichem Scheinen (als dem sich-an-ihm-selbst-zeigen)«. (S. 42) Nun, das Erscheinen als eigentliches Sich-an-ihm-selbst-zeigen berührt das Verhältnis von Symbol und Wahrheit und ist ein genuin philosophisches – ein ontologisches und auch ein onto-theologisches – Problem, je nach Gesichtspunkt der Fragestellung, und zugleich ein Problem mit – wie sich zeigen wird – keinen geringen philologischen Konsequenzen. Schauen wir uns im Kontext der heideggerschen Auffassung von der Wahrheit der Kunst – und auch als ein weiteres Beweisstück dafür, dass Heidegger keine literarischen Texte interpretieren kann oder möchte – noch eine auf den ersten Blick skandalöse Behauptung an. Diese fiel im Rahmen der ein Jahr nach dem Vortrag Staigers stattgefundenen »Aussprache« vom 6. November 1951, dem sogenannten Zürcher Seminar 22. »– das Gedicht ist nicht wahr, weil es von Hölderlin ist, sondern umgekehrt: Hölderlin hat es nur gesungen, weil es wahr ist, im Sinne einer Dichtung.« (GA 15, S. 426) Wie man in den Besitz dieser wie auch immer zu verstehenden Wahrheit, der die Dichtung angehört, kommen kann, durch welche Wissenschaft, das wäre die Frage. Aber will Heidegger das überDie hierauf folgenden Zitierungen und Paraphrasen im Kontext der Mörike-Diskussion Heideggers mit Staiger beziehen sich soweit nicht anders vermerkt auf den im Band »Die Kunst der Interpretation« wiedergegebenen Briefwechsel (vgl. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger, KI S. 34–49). 22 Die folgenden Stellen beziehen sich auf das Zürcher Seminar. In: Martin Heidegger, Gesamtausgabe (GA) Band 15, Hrsg. Curd Ochwadt, Frankfurt a. M. 1986, S. 425–439. 21
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haupt? Auf jeden Fall handelt es sich bei dem, was er tut, nicht um literarische Interpretation (was in seinem Falle anzugeben ein Missgriff wäre. Es geht hier bei aller Ähnlichkeit nicht um das Lesen des Textes als Exempel seiner selbst und auch nicht um ein Sich-selbstEinschreiben des Textes in sich – oder in ihm – selbst.) Ob es dann doch um eine Form der Epiphanie oder Ontophanie ginge? Solche Fragen wurden dann auch später im Seminar formuliert und in gewisser Weise zurückgewiesen. Wie dem auch sei, Heidegger hatte einen Tag zuvor seinen Vortrag »… dichterisch wohnet der Mensch« gehalten und war auf große Bedenken gestoßen: »Im besonderen könnte man sich fragen« – so Staiger – »ob der Ihrem gestrigen Vortrag zu Grunde gelegte Hölderlin-Text wirklich von Hölderlin stammt; er ist durch Hölderlins Freund Waiblinger überliefert. Frage: Ist das Hölderlin? Wenn ja, hat Hölderlin es so gemeint, wie wir es gestern gehört haben? Herr Heidegger hat diesen Einwand im voraus entkräftet mit dem Satz: ›Beweisen lässt sich alles.‹« (GA 15, S. 425) Die Provokation durch Heidegger lässt Staiger zwei weitere Fragen formulieren, die einen wunden Punkt treffen und die auf das Kernproblem der Differenz zwischen philosophischer – heideggerscher – und philologischer Interpretation zusteuern. Staiger fragt nämlich danach, warum die Darstellung philosophischer Gedanken durch Textinterpretationen veranschaulicht wird, bei gleichzeitig aufnehmend-ablehnender Haltung gegenüber der philologischen Kritik. Anders gesagt, ob Heidegger sich das Philologische nur zunutze mache, um doch willkürlich zu interpretieren. Heideggers Antwort (GA 15, S. 427–428) kann unter Umständen als kränkend empfunden werden von einem Philologen, der sich als Wissenschaftler versteht. Da fällt der Satz, die Philologie sei keine Wissenschaft, nicht in dem Sinne, dass sie ›gewisse Voraussetzungen anzusetzen‹ vermöge, ›aus denen der Tatbestand gefolgert werden kann‹. Richtigkeit ließe sich zwar beweisen nach naturwissenschaftlichem Modell, aber – und hier greift Heidegger genau das Tautologische dieser Beweise an – die Fragen, die und vor allem wie sie sich die Wissenschaft stelle, würden nur dasjenige in ihre Gegenstände hineinlesen, was sie durch ihre Sprach- und Betrachtungsweise selbst ihrem Weltbild unterschiebt. Hören wir dazu den Wortlaut Heideggers: »Die moderne Naturwissenschaft kann die Frage immer so stellen, daß die Sache sich als richtig beweist. Aber: Wer verbürgt, daß 189 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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der Ansatz der Natur, der in dieser Wissenschaft gemacht ist, – ob dies nicht nur ein ganz bestimmter Aspekt ist, der jederzeit auf diese Art Richtigkeiten hergibt? Diese Frage kann die Physik als Physik weder stellen noch beantworten, so daß jede Wissenschaft in einem wesentlichen Sinne fragwürdig ist. Eine Wissenschaft kann nie selber ihre eigene Wahrheit erweisen. Diese innere Transzendenz schließt ihre wesenhafte Fragwürdigkeit ein, und das ist nichts Negatives. Aber es sind Dimensionen, die es nicht erlauben, die Wissenschaft absolut zu setzen. Erst wenn man dies erkannt hat, dann kann man Philologie bejahen. Und insofern treibe auch ich Philologie.« (GA 15, S. 427–428) Die über die menschliche episteme hinausreichende Dimension der Wahrheit, auf die Heidegger Bezug nimmt, gehört zu einer bestimmten Form von Wissen. Das Geschehen des aletheuein, des Hinaustretens in die Unverborgenheit eines Sich-an-sich-selbst-Zeigens, kann vielleicht ein solches Wissen verbürgen, als Ereignis, als Geschenk, ein scheinendes Erscheinen. Es hat – um auf die Kunsterfahrung zurückzukommen – symbolischen Wert und reicht über das bloß immanent Richtige (und das wäre hier das vitiös Zirkuläre) hinaus. Die philosophische Auseinandersetzung mit der Kunst mutet sich eben diesen Schritt zu, und zwar aus der Not heraus, nichts Richtiges mehr sagen zu können und daher vertrauen zu müssen. Demut oder Zumutung? Nicht viel anders – und zwar auch als ein Glaubensakt – verfährt aber auch eine sich auf das Kriterium des Gefühls verlassende Wissenschaft. Der schöne Schein, der Widerschein des Ideellen ist und bleibt ein Geheimnis. Was Staiger – abgesehen von seinem Vertrauen in die Richtigkeit des Gefühls und zum vollkommenen Stil – vorbringt 23, gilt hier durchaus: Eine Grenze der Beweisbarkeit ist erreicht, ein nicht weiter reduktibles Individuum, eine Erscheinung im Hier und Jetzt, ein ineffabilis. Jenseits des »In-sich-Ruhenden«, der inneren Kohärenz, kann man das ins Schöne ›geflüchtete‹ Wahre nur zur Kenntnis nehmen und bejahen. Als zur Sprache der Kunst und zum ›dichtenden‹, poietischen Denken im hervorragenden Sinne gehörig kann dieses Sichzeigen als ein – auch den Worten der platonischen Diotima nachsinnend – Treten des me on in das on nie bloß richtig, dafür aber wahr sein. Und dass das Schöne sich vom Guten und WahKI, S. 14, aber auch S. 34: »Sie deuten mir beide nur an, daß jedes echte, lebendige Kunstwerk in seinen festen Grenzen unendlich ist. ›Individuum est ineffabile‹«.
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ren her zeige, daran soll selbst derjenige geglaubt haben, der die Dichter aus Sittlichkeitsgründen fortjagen wollte. Es ist aber der gleiche Philosoph, der die enthusiastische Raserei des Rhapsoden von einem wachen Traum – oder einer wahren Meinung – unterscheiden konnte. Man kann durchaus über die philologische Richtigkeit mancher philosophischen Interpretationen literarischer Texte streiten, man kann und sollte sie sogar in bestimmten Fällen als falsch bezeichnen. Wichtig ist, ob beide, die Literatur und die Philosophie, der Wahrheit, die ihnen in der Kunsterfahrung zuteilwird, noch etwas von dem Glauben schenken können, den sie der Wissenschaft bereitwillig schenken. Man darf hoffen, dass die von Staiger beschriebene Lust an der Interpretation dank der ›unerschöpflichen Tiefe der Kunst‹ (KI, S. 33) der treibende Eros zur Sache bleibt. Es scheint, nach wie vor, allein dieser Eros zu sein, der Philosophen und Literaturwissenschaftler gegen die Gefahren der Erstarrung und der Ideologisierung zu bewahren vermag.
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»Rätsel Bewusstsein« und Ortsverlegung vom Bewusstsein ins Dasein
Das Bewusstsein ist ein Rätsel für die Naturwissenschaft. Klar formuliert hat dies schon 1872 der Physiologe und theoretische Mediziner Emil Heinrich du Bois-Reymond in Berlin. »Welche denkbare Verbindung«, fragte er in einem Vortrag, »besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, [und] andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: ›Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot‹ … ?« Es sei, sagte er, in keiner Weise einzusehen, wie aus dem Zusammenwirken von Atomen Bewusstsein entstehen könnte. Und er schloss seinen Vortrag mit den berühmten Worten ignoramus und ignorabimus (wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen). 1 Mit diesem naturwissenschaftlichen Rätsel befasst sich die vorwiegend im angelsächsischen Sprachraum angesiedelte, jetzt aber auch hierzulande vorherrschende sogenannte Philosophie des Geistes, die Philosophy of Mind. Die von Du Bois-Reymond geschilderten »Wie es sich anfühlt«-Qualitäten (ich rieche Rosenduft, ich sehe Rot usw.) nennt diese Philosophy of Mind Qualia. Das Rätsel Bewusstsein lautet also auch: Wie kommt es von naturwissenschaftlich beschreibbaren Vorgängen zu einem Quale, das nur in der sogenannten Ich-Perspektive (ich sehe Rot) bewusst empfunden werden kann? Wenig zimperliche Vertreter der Philosophy of Mind negieren dieses Rätsel, ganz im Sinne von Michio Kaku, einem bekannten Physiker in New York, der in einem kürzlich erschienenen Buch geschrieben hat, eines Tages werde die Frage ganz einfach nicht länger von Bedeutung sein, ob der Roboter selber etwas »verstehe« und zum Beispiel Rot »empfinde«. 2 Vorsichtigere Vertreter der Philosophy of Du Bois-Reymond, E., Über die Grenzen des Naturerkennens (Vortrag am 14. Aug. 1872 in Leipzig), zit. nach R. Ferber, S. 65. 2 S. 345 f. 1
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»Rätsel Bewusstsein« und Ortsverlegung vom Bewusstsein ins Dasein
Mind aber lassen das Rätsel noch Rätsel sein, indem sie sagen, unsere Wissenschaft sei einfach noch nicht weit genug gelangt. Thomas Nagel zum Beispiel, der 1974 mit seiner berühmten Frage »What is it like to be a bat?« (Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?) ähnlich wie Du Bois-Reymond auf die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hingewiesen hat 3 – Thomas Nagel grenzt sich in einem neuen Buch 4 sowohl von den Kreationisten ab, die um der Bibel willen die Evolution leugnen, als auch von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung 5. Als Atheist hofft er auf eine zukünftige neue Theorie, die Bewusstsein und Geist als Ziel im Universum verankert, wobei er an die Zweckursache bei Aristoteles erinnert. Zurück zu Aristoteles möchte auch der deutsche Psychiater und Philosoph Matthias L. Schroeter. 6 Natürlich Seiendes, zum Beispiel ein Pferd, sei nach Aristoteles autokinetisch, selbstbewegt, im Unterschied zum künstlich Seienden, zum Beispiel einer Kutsche. Nur autokinetische (autopoietische) Systeme aber können, so versucht Schroeter zu beweisen, Bewusstsein haben. Seine komplexe Beweisführung ist für mich nicht ganz nachvollziehbar, obwohl ich auch glaube, dass eine Maschine niemals Bewusstsein haben wird. 7 Doch die meisten Versuche der Philosophy of Mind, das Rätsel Bewusstsein zu lösen, erinnern nicht an Aristoteles, sondern an Philosophen im 17. Jahrhundert. Zum Beispiel wenn das Bewusstsein in einer Hirnregion lokalisiert oder mit einer Wechselwirkung zwischen Gehirn und Geist erklärt wird, ganz ähnlich wie einst von René Descartes. Oder wenn man, wie einst Baruch de Spinoza von zwei »Attributen« der gleichen »Substanz«, von einem Dualismus der Aspekte spricht. Dies gilt auch dann, wenn das Bewusstsein mit hoher »Informationsintegration« in gewissen Neuronen-Netzwerken erklärt wird 8, oder wenn der Neurowissenschaftler Damasio die Entstehung Gleichnamiger Aufsatz in The Philosophical Review, Vol. 83, No. 4 (Cornell University, Ithaca [New York] 1974), S. 435–450. 4 Mind and Cosmos, Originalausgabe 2012, deutsche Ausgabe 2013 (Suhrkamp Berlin). 5 Die er auch im englischen Original mit dem deutschen Begriff Weltanschauung nennt. 6 2011 in seinem lesenswerten Buch Die Industrialisierung des Gehirns. 7 Vielleicht geht es bei dieser Frage ja ohnehin um etwas, wozu auch ein anderer Gedanke von Aristoteles passen könnte: »… es ist nämlich Unerzogenheit, nicht zu wissen, wofür man einen Beweis suchen muss und wofür nicht.« (Metaphysik IV 1006a) 8 Neuerdings wird zum Beispiel vermutet, das Gehirn generiere ständig unbewusste 3
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des Bewusstseins in der Evolution der Lebewesen mit einem dumpfen »Protogefühl« für deren inneres Milieu, für ihre »Homöostase«, in Zusammenhang bringt, über das vielleicht schon eine auf Berührung reagierende Amöbe verfüge 9. Spinoza ist also auch Vorläufer panpsychistischer Tendenzen in der Philosophy of Mind. Der britische Physiker Roger Penrose und der amerikanische Anästhesist Stuart Hameroff nehmen sogar an, dass sogenannte Mikrotubuli in den Nervenzellen des Gehirns verschränkte Quantenzustände ermöglichen, bei deren Kollaps Bewusstseinseffekte entstehen würden, und Hameroff spekuliert, dass »irgendeine Art von Protobewusstsein ein Grundbestandteil des Universums« sei. Qualia seien vielleicht »Muster in der elementaren Körnung der Raum-Zeit-Geometrie«. 10 Nun ja – Penrose und Hameroff spekulieren noch physikalisch, aber sie finden natürlich viel Anklang in manch esoterischer Gemeinde. Im September 1973, zweieinhalb Jahre bevor er starb, sagte Martin Heidegger in einem Seminar in Zähringen, »vom Bewusstsein zum Da-sein« überzugehen, sollte »einfach als Ortsverlegung« verstanden werden, wobei er vorausschickte, das sei »derart einfach, dass es höchst schwierig« sei, »es philosophisch verständlich zu machen«, im Grunde sei es »überhaupt noch nicht verstanden« worden. 11 In jenem späten Seminar sprach Heidegger auch über die Eingeschlossenheit des neuzeitlich, kartesianisch gedachten Bewusstseins. »… denn es liegt in der Grundverfassung des Ego cogito«, sagte er, »(wie ebenso in der Monade bei Leibniz), dass es keinerlei Fenster hat, durch die etwas hereinkommen oder hinausgehen könnte.« 12 In der Tat schrieb René Descartes, wenn wir das Licht einer Fackel sähen oder den Ton einer Glocke hörten, würde dies in bestimmten Nerven und mittels dieser im Gehirn »Bewegungen« hervorrufen, die uns Empfindungen gäben, »die wir derart auf Gegenstände als ihre Ursachen beziehen, dass wir denken, wir sähen die Fackel selbst und hörten die Glocke selbst, während wir nur die Bewegungen empfinden, die von ihnen ausgehen.« 13 Die Welt mit FaHypothesen darüber, wie unbewusst verarbeitete Sinnesreize zu interpretieren seien. Wenn sich eine Hypothese mit dem verarbeiteten Reiz decke, sei ein stabiler Zustand erreicht und die Wahrnehmung werde bewusst (vgl. T. von Däniken). 9 Vgl. S. 37 und 271 in: Selbst ist der Mensch. 10 Zit. nach S. Blackmore, S. 169 f., vgl. S. 165–177, 242–259. 11 GA 15, S. 385. 12 A. a. O., S. 383. 13 Les Passions de l’Âme, Art. 23, S. 41.
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»Rätsel Bewusstsein« und Ortsverlegung vom Bewusstsein ins Dasein
ckel und Glocke ist seit Descartes für das eingeschlossene Bewusstsein nur noch eine illusionäre Konstruktion des Gehirns. Diametral dem entgegengesetzt ist die berühmte Passage in Heideggers Vorlesung vom Winter 1951/52 über den »blühenden Baum«, eine Passage, die auch Helmuth Vetter in seinem schönen Grundriss Heidegger ausführlich zitiert 14 – der blühende Baum, vor dem wir stehen, und der vor uns auf der Wiese steht und uns anspricht. 15 Die Ortsverlegung verlegt also das, was die neuzeitliche Philosophie in das Bewusstsein eingeschlossen hat, wieder »nach draußen«, in die »Welt«, in die »offene Weite« des Da-seins – zum Beispiel jene Fackel und jene Glocke oder jenen blühenden Baum. Im Seminar von 1973 erläuterte Heidegger den französischen Teilnehmern diese Ortsverlegung, indem er fragte: »Wenn ich in der Erinnerung an René Char in Les Buclats denke, wer oder was ist mir dabei gegeben? René Char selbst!« 16 Im gleichen Sinne sagte Heidegger wenige Jahre zuvor in einem Zollikoner Seminar: Wenn er den Zürcher Hauptbahnhof vergegenwärtige, sei er auf diesen Bahnhof selbst gerichtet, nicht auf ein Bild oder auf eine Vorstellung vom Bahnhof in seinem Kopf. 17 Der blühende Baum, der vor uns steht, ist für uns gegenwärtig sinnenhaft wahrnehmbar anwesend. Der Zürcher Hauptbahnhof jedoch war für Heidegger und seine Zuhörer damals abwesend-anwesend. In der offenen Weite unseres Da-seins ist eben auch Abwesendes anwesend, wenn wir daran denken oder darüber sprechen, also Fernes, Vergangenes und Zukünftiges. Die Ortsverlegung führt vom neuzeitlichen objektivierenden Subjekt, das sich laut Descartes als Herr und Besitzer der Natur aufspielen darf und das doch in Unsplendid Isolation mit seinem Bewusstsein eingekerkert ist – diese Ortsverlegung führt hinaus in eine offene Weite, in die gegenwärtig sinnenhaft Anwesendes und Abwesendes anwesen kann. Λεῦσσε δ’ ὅμως ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως (leusse d’homōs apeonta noō pareonta bebaiōs), wie Parmenides einst sang. »Schau gleichwohl aber: was abwesend ist, dem Gewahrsein ist’s sicher anwesend …« 18 An den letzten Zollikoner Seminaren konnten meine Frau und
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S. 205–207. Was heißt Denken?, S. 16 ff.; GA 8, S. 44 ff. GA 15, S. 384. Zollikoner Seminare, S. 87–96 (Seminar vom 12. März 1965). H. Diels, 28B, 4.1, in meiner Übersetzung: Und sie bewegt sich doch nicht, S. 645.
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ich noch teilnehmen. Als ich 1967 oder 1969 Heidegger in der geschilderten Weise vom Zürcher Hauptbahnhof reden hörte 19, war ich so beeindruckt, dass ich mich heute noch genau daran erinnere. Und in der Tat hat Heidegger damit ja bereits die ganze heutige Philosophy of Mind überholt, für die das Bewusstsein immer noch so eingeschlossen ist wie für Descartes. Daher erstaunt auch nicht, dass sie das Rätsel Bewusstsein mit Überlegungen lösen will, die an Descartes, Spinoza und Leibniz erinnern. Vielleicht könnte man die Entwicklung von Heideggers Denken auch als immer konsequentere Ortsverlegung beschreiben. Dasein als In-der-Welt-Sein im Buch Sein und Zeit war bereits ein großer Schritt in dieser Ortsverlegung, aber das Buch konnte noch rein menschenkundlich, im Sinne einer daseinsanalytischen Anthropologie, verstanden werden, obwohl Heidegger in der Vorbemerkung geschrieben hatte, es gehe ihm um die Frage nach dem Sinn von Sein. Einen Sinn, eine Bedeutung von Sein fand er ja später (auch noch entsprechend dem Titel Sein und Zeit) im »gegenwärtig anwesen«, wobei, wie gesagt, auch Abwesendes gegenwärtig anwesen kann – Fernes wie auch jetzt hier in Wien der Zürcher Hauptbahnhof, Vergangenes wie jenes Seminar, in welchem von diesem Bahnhof die Rede war, Zukünftiges wie das Thema Heidegger und Parmenides am morgigen Tag – und zwar »draußen in der Welt«, jetzt der Bahnhof im fernen Zürich, damals das Seminar in Zollikon, morgen das Thema, das mich auch beschäftigt, hier in diesem Saal. Weil nun aber Heidegger Sein in solcher Weise als »anwesen« verstand, verlegt seine »Kehre zum Sein« den Ort noch weiter nach »draußen« – die Kehre von der Erschlossenheit des Seins im Dasein hin zur Lichtung als offene Weite des Da, in die etwas anwesen kann. Und wenn Heidegger unser Sagen ein Nennen, Zeigen, Rufen und Winken nennt, dann ist dieses Sagen wieder viel näher bei Welt und Ding, als es in der Neuzeit geworden ist. Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus (Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen). Mit dieser Aufzeichnung eines spätmittelalterlichen Mönchs hört Umberto Ecos Roman Der Name der Rose auf. 20 Der Name ist nun nur noch eine nackte Buchstabenfolge, von der Rose wie ein Etikett abtrennbar und beliebig übersetzbar, seit dem Offenbar hatte er damals das gemäß Anm. 17 bereits 1965 benutzte Beispiel wiederaufgenommen. 20 S. 635 19
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»Rätsel Bewusstsein« und Ortsverlegung vom Bewusstsein ins Dasein
20. Jahrhundert sogar digital. Doch wenn das Wort »Rose« wieder die abwesende Rose ins Anwesen herbeirufen und zu ihr hin winken kann, dann geschieht auch im Hinblick auf die Sprache Ortsverlegung. Und erst recht geschieht dies, wenn der blühende Baum, der vor uns steht, oder gar eine abwesende Rose uns ansprechen können, in einem stillen Sprachgeschehen, das sich nicht informationstheoretisch verrechnen lässt. Soviel ich weiß, hat Heidegger das Wort Ortsverlegung nur einmal, in jenem späten Seminar in Zähringen, gebraucht. Häufiger hat er die damit gemeinte Denkbewegung Sprung genannt und später auch Einkehr, Andenken und Erwachen. Zum Beispiel sprach er beim blühenden Baum, der vor uns steht, von einem Sprung »heraus aus dem geläufigen Bezirk der Wissenschaften und sogar … der Philosophie«. Wohin? »… auf den Boden«, sagte er, »auf dem wir leben und sterben, wenn wir uns nichts vormachen«. 21 Allein, wir machen uns sehr viel vor, und das passt zu Heideggers Bemerkung, dass das, was er mit der Ortsverlegung meine, derart einfach sei, dass es höchst schwierig sei, es philosophisch verständlich zu machen. Es ist einfach und darum schwierig, und es stellt die naturwissenschaftliche Weltanschauung mit ihrem »Rätsel Bewusstsein« radikal, von ihren Wurzeln her, in Frage. Um das deutlich zu machen, muss ich ein wenig ausholen: Die Methode der Naturwissenschaft lässt Auffälliges beobachten und auf Abstraktes, Mess- und Berechenbares hin reduzieren, um Gesetzmäßigkeiten zu finden, die sich mathematisch formulieren, experimentell überprüfen und vielleicht technisch anwenden lassen. Dabei fallen im Verlauf der bald 500 Jahre seit Kopernikus zwei Tendenzen auf: die Zunahme der Abstraktion und die fundamentale Vereinheitlichung. Zunächst waren Gewicht, Distanz und Zeitdauer am einfachsten zu messen, und so begann denn auch mit Galilei die abstrahierende Reduktion der Natur auf die Bewegung von Massepunkten im dreidimensionalen geometrischen Raum und in der gleichförmig ablaufenden eindimensionalen Uhrenzeit. Später brachte Newton den Fall eines Apfels und die Bewegungen am Himmel unter einen einheitlichen mathematischen Hut, und im 19. Jahrhundert wurden Elektrizität und Magnetismus vereinheitlicht, was die elektromagnetische Erklärung des Lichts und anderer Strahlungen ermöglichte. Weil die 21
Was heißt Denken?, S. 16 f.
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Hanspeter Padrutt
Rechnung dabei aber nicht ganz aufging, opferte Albert Einstein in seinen zwei Relativitätstheorien den dreidimensionalen Raum und die eindimensionale Zeit, indem er beides zu einer vierdimensionalen sogenannten Raumzeit verwob, die von der Gravitation sogenannt gekrümmt wird. Das ist nur noch rein mathematisch vorstellbar, aber das GPS, das Global Positioning System unserer Navigationsgeräte und Smartphones, funktioniert nur genau, wenn berücksichtigt wird, dass die Uhrzeit droben in den GPS-Satelliten wegen der Speziellen Relativitätstheorie eine Spur langsamer tickt als auf der Erde und wegen der Allgemeinen Relativitätstheorie um einen anderen kleinen Betrag etwas rascher. Auch bei der atomaren Erklärung der Chemie und Physik der Stoffe ging die Rechnung nicht ganz auf, weshalb nun auch die Vorstellung, dass ein Massepunkt sich zu einer bestimmten Zeit eindeutig an einem bestimmten Ort befindet, geopfert wurde zugunsten der Quantenmechanik mit ihren mathematisch formulierten Seltsamkeiten. Doch weil Relativitätstheorien und Quantenmechanik einander in gewisser Hinsicht widersprechen, ringen die Physiker nun um eine Vereinheitlichung auch noch dieser Theorien in einer Weltformel, einer sogenannten Theory of everything. Um dieses mathematische Ziel zu erreichen, versuchen sie es zum Beispiel mit zehn oder noch mehr Raumdimensionen und mit Elementarteilchen, die sie sich nicht mehr als extrem kleine Kügelchen vorstellen, sondern als extrem kleine schwingende Fädchen, als sogenannte Strings oder Superstrings. Zum mathematischen Ziel sagte Albert Einstein sinngemäß, wir müssten »uns damit abfinden«, dass der Weg vom nur mathematisch formulierbaren Fundament bis zu unserem alltäglichen Leben »immer beschwerlicher und länger« werde. 22 Dieser Weg von der Abstraktion bis zu unserem Alltag aber steht nun unter der Leitfrage »wie funktioniert es?« Schon Leibniz nannte die Lebewesen »Maschinen der Natur« 23, und im geistigen Rahmen der modernen Naturwissenschaft wird unsere Welt und ihre Entwicklung vom Urknall bis heute im Prinzip als maschinenhaft erklärbar angesehen. Dies gilt insbesondere auch für unser Gehirn. Das
Zit. nach Padrutt, Der epochale Winter, S. 103: »Um diesem Ziel näher zu kommen, müssen wir uns damit abfinden, dass die logische Grundlage immer erlebnisferner und der gedankliche Weg von den Grundlagen bis zu jenen Folgesätzen, welche ihr Korrelat in Sinnenerlebnissen finden, immer beschwerlicher und länger wird.« 23 Monadologie, § 64. 22
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von der EU gesponserte Human Brain Project in Lausanne möchte alles, was man über das Gehirn weiß und wissen wird, mit Computertechnik nachbilden und simulieren. Parallel dazu arbeitet die Computerindustrie selbst an sogenannter Künstlicher Intelligenz. Jedoch, dieser Weg von der Abstraktion bis zu unserem Alltag landet unweigerlich beim unlösbaren »Rätsel Bewusstsein«. Doch wenn wir davon ausgehen, dass wir mit der Anwesenheit des Anund Abwesenden in offener Weite – also ortsverlegt – zusammengehören, dann ist alle Abstraktion sekundär, abgeleitet, und wir müssen uns mit der fundamental vereinheitlichten mathematischen Abstraktion nicht abfinden. Wir müssen uns nicht mehr wie Du BoisReymond fragen, wie aus der Bewegung von Atomen im Gehirn Bewusstsein entstehen soll. Das Rätsel muss nicht gelöst werden, weil es sich selber auflöst und verschwindet. Wir sind ja, etwas salopp gesagt, dabei beim blühenden Baum vor uns und beim fernen Hauptbahnhof, während ein Roboter mit noch so komplizierter Künstlicher Intelligenz niemals in dieser weltoffenen Weise dabei sein wird. Damit wird nicht gesagt, naturwissenschaftliche Erkenntnisse seien falsch. Wenn wir etwas berechnen und technisch erreichen wollen, ist die naturwissenschaftliche Methode unschlagbar. Wenn man mit dem Smartphone überall sofort die nächste Pizzeria finden will, muss man beide Relativitätstheorien anwenden. Mit der Ortsverlegung werden auch die Abstraktionen der frühen Naturwissenschaft zum Problem. Der dreidimensionale geometrische Raum ist eine Abstraktion vom stillen Spiel der Orte und Gegenden, in dem wir Mitspieler sind, und von unserer alltäglichen Orientierung auf Himmel und Erde. Die eindimensionale Uhrzeit ist eine Abstraktion von der alltäglich erfahrenen Zeit, die wir für etwas haben oder nicht haben, und vom Weltspiel von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart, das Anwesenheit dessen gewährt, was uns jeweils angeht. Und Newtons Apfel ist nicht nur ein Massepunkt, sondern er verweist uns auch auf einen Apfelbaum, der geblüht hat, ganz abgesehen davon, dass auch Newton seinen Apfel essen konnte. Doch ist dann diese Ortsverlegung nicht hoffnungslos anthropozentrisch? »Es ist seltsam«, schrieb schon George Berkeley in sein Tagebuch – »es ist seltsam über die von vernünftigen Wesen entleerte Welt nachzudenken.« 24 Das erinnert mich auch an ein Zollikoner Seminar, in dem wir darüber diskutierten, was denn war, bevor es Men24
Philosophisches Tagebuch, Nr. 23, S. 4.
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schen gab, und was sein wird, wenn es keine Menschen mehr geben wird. Für Heidegger war damals klar, was er schon 1963 Medard Boss gegenüber gesagt hatte: »Anwesen gibt es nicht ohne ein ›wohin‹ Anwesen und Verweilen, An-weilen; d. h. ein Weilen, das solches angeht, was sich angehen lassen kann.« 25 Mit anderen Worten: Das Wort anwesen verlöre ohne uns Menschen jeglichen Sinn. Für eine Vergangenheit und eine Zukunft ohne Menschen braucht es jetzt lebende Menschen, die fantasieren oder forschen oder Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen. Es gibt nichts außerhalb der Zusammengehörigkeit von Mensch und Sein – der Mensch ist immer dabei. Und darum stößt der Vorwurf der Anthropozentrik ins Leere. Außerdem führt die Ortsverlegung vom gottähnlichen »Herrn des Seienden« zum »Hirten des Seins« 26, also auch zu einer ganz neuen Bescheidenheit. Und weil das Ebenbild Gottes mit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung immer mehr zum nichtigen Staubkorn im riesigen Universum verkommt, führt die Ortsverlegung paradoxerweise zugleich zu einer neuen Würde, zu einer »anthropoexzentrischen« Würde des Menschen. Es sei »derart einfach« und doch »höchst schwierig«, sagte Heidegger 1973, und im Grunde genommen sei es »überhaupt noch nicht verstanden« worden. Warum nicht? Vermutlich weil wir Ungewohntes sogleich ins Gewohnte einordnen. Natürlich, so »ordnen« wir sofort »ein«, natürlich können wir an den Hauptbahnhof denken, aber wenn man uns nur ein bisschen Lachgas einatmen lässt, ist es gleich aus mit unserer Zusammengehörigkeit mit der Anwesenheit des abwesenden Bahnhofs. In solch grober oder auch feinsinnigerer Weise herrscht unsere naturwissenschaftlich-technisch geprägte Denkweise heute bei Jungen und Alten, Linken und Rechten, Frommen und Gottlosen, am Stammtisch und an den Universitäten, in Boulevardmedien und geisteswissenschaftlichen Abhandlungen, z. B. der Psychologie und der analytischen Philosophie mitsamt der Philosophy of Mind. Ein amerikanischer Physiker schrieb vor einigen Jahren: »Im Zickzackkurs nähert sich die Wissenschaft dem, was sich, wie wir hoffen, als endgültige Wahrheit herausstellen wird …« 27 Endgültige Wahrheit – dank den Relativitätstheorien finden wir mit einem Smartphone zwar wahrhaftig die nächste Pizzeria. Doch ob es wahr 25 26 27
Zollikoner Seminare, S. 223. vgl. Brief über den »Humanismus« an Jean Beaufret in: GA 9, S. 342. B. Greene, S. 36.
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ist, dass wir überall auf Erden sofort eine Pizzeria finden müssen, ist eine ganz andere Frage. Sie lässt uns an unseren gemeinsamen Wohnaufenthalt auf der Erde denken, an unser οἰκεῖν (ōikein), das vom ökologischen Weltnotstand bedroht ist und sich mit einem kurzsichtig-gierigen Drang nach einer überall sofort verfügbaren Pizza schlecht verträgt. Vielleicht ist die ortsverlegte Sicht eben doch vorrangig, vor der sekundär abgeleiteten naturwissenschaftlichen Sicht, die wir gewiss brauchen, wenn wir einen berechenbaren Effekt erzielen wollen – oder noch viel dringender, wenn wir solche Effekte verhindern wollen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der sich am Horizont abzeichnenden Klimakatastrophe, die unser gegenwärtiges Flüchtlingsproblem nur als kleines Vorspiel erscheinen lassen könnte. In New York und Berlin, in Zürich und Wien fingern junge und alte Zeitgenossen jede freie Minute auf ihren Smartphones herum, als Maschinisten einer einzigen, weltumspannenden Rechenmaschine mit Abermillionen von sie bedienenden Maschinisten. Wenn es nicht funktioniert, ärgern sie sich sehr, aber weil es meistens funktioniert, streben sie wie süchtig vom einen virtuellen Erfolgserlebnis zum nächsten und sind dabei doch gezogen von einem gewaltigen Sog, der weltweit real Erfahrenes und Gesagtes, Geschriebenes und Gemaltes, Geformtes und Komponiertes in digitale Zahlenfolgen verwandelt und in beschönigend cloud (Wolke) genannte Großrechner-Formationen saugt, wobei die hierzu benötigten, zahllosen Smartphone-kleinen und Server-großen Geräte ihrerseits einen gewaltigen Sog nach seltenen Bodenschätzen verursachen, die anderswo von armen, real ausgebeuteten Menschen ausgebeutet und verarbeitet werden müssen. Und jetzt wird in Deutschland und in der Schweiz auch noch zum Sturm in die Industrie 4.0 geblasen, in die vierte industrielle Revolution mit vollständiger Digitalisierung und Automation der Industrieproduktion, mit untereinander »kommunizierenden« Robotern, mit dem »Internet der Dinge« und der »smarten Fabrik«. Unruhe nimmt überhand, der doppelte Sog beschleunigt sich, mit Burnout-Opfern da und Hunger-Opfern dort. Allerdings wird hier die Rechnung, angesichts der beschränkten irdischen Ressourcen, schon rein naturwissenschaftlich niemals aufgehen. Ich habe in meinen Vorträgen und Büchern seit über dreißig Jahren darauf hingewiesen, welche Bedeutung Heideggers Ortsverlegung und sein Verständnis der Phänomenologie als zuvorkommende Zurückhaltung für das zögerliche ökologische Erwachen der Menschheit hat, aber ich habe mir vor dreißig Jahren noch nicht so deutlich ausmalen können, 201 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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wie zutreffend Heideggers Bemerkung im Spiegel-Interview von 1966 war: Die Kybernetik, sagte er damals, nehme jetzt den Platz der Philosophie ein. 28 Kybernetik nannte man in jener Zeit ungefähr das, was heute Informatik heißt, und es ist heute wohl kaum mehr zu übersehen, dass die Informatik unseren Alltag weltweit immer mehr gleichschaltet. Michio Kaku, der bereits erwähnte Physiker, schwärmt in seinem Buch für zukünftige technische Möglichkeiten, zum Beispiel für einen handygroßen Kernspintomographen, der via Internet mit einem Super-Computer verbunden ist. Damit werde man dereinst die Gedanken eines wachen Menschen oder die Träume eines schlafenden gleichsam telepathisch lesen oder man werde mit eigenen Gedanken gleichsam telekinetisch einen Roboter ein Bild malen lassen. Oder ein Gelähmter werde damit (und dank einem maschinellen Zusatzskelett um seine Gliedmaßen) wieder tanzen können. Man werde ferner, schreibt Kaku, fremde Erinnerungen in Gehirne einpflanzen und damit Geisteskranke heilen usw., usw. Dies alles schildert Kaku begeistert und ohne viel medizinische, gesellschaftliche, ökologische oder auch militärische Bedenken, und er pflichtet einem Forscher bei, der gesagt habe, wir sollten uns nicht zu viele Sorgen wegen zukünftiger intelligenter Roboter machen, wir müssten nur akzeptieren, dass wir selber Maschinen seien. Dies sei nämlich nach Kopernikus und Darwin die dritte notwendige Wendung in unserer Weltsicht: einzusehen, »dass auch wir Maschinen sind«. 29 Nein, Mr. Kaku, mit der Ortsverlegung müssen wir das keineswegs einsehen; die Ortsverlegung ist auch eine »Befreiungsbewegung«. Diese Befreiungsbewegung ist nicht esoterisch. In der Schweiz hat ein Wünschelrutengänger mit einer Vorrichtung zur Messung der Ausschläge seiner Rute sogenannte »Orte der Kraft« gefunden und auf Landkarten einzeichnen lassen. Diese Koordinatenpunkte werden nun von Gläubigen aufgesucht, die dort eine geheimnisvolle, von der Wissenschaft noch nicht entdeckte Kraft zu spüren glauben. Nun ist es gewiss nicht dasselbe, ob wir unter einer Autobahnbrücke sitzen oder neben einem Wasserfall oder in einer romanischen Kapelle. Doch von Heideggers Denken wird die geometrische Raumvor1966 fand das Interview statt, 1976 wurde es nach Heideggers Tod veröffentlicht (vgl. GA 16, S. 674). 29 S. 358 f. 28
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stellung, die jedem Ort nur drei Koordinatenzahlen zuweist, viel grundsätzlicher in Frage gestellt als von solchem Hokuspokus. Jeder Ort hat nun wieder sein Spezifisches, jeder Ort erzählt uns von anderem, und das muss nicht pseudophysikalisch mit einer dubiosen Kraft erklärt werden. Natürlich war und ist Heidegger nicht der einzige, der sich grundsätzlich mit Naturwissenschaft und Technik auseinandergesetzt hat. Heidegger selbst wurde von Edmund Husserls »kategorialer Anschauung« angeregt 30, und Husserl seinerseits schrieb später auf den Umschlag eines Textes zur Räumlichkeit der Natur: »Umsturz der kopernikanischen Lehre in der gewöhnlichen weltanschaulichen Interpretation. Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht …« 31 Martin Buber sprach in einer an Heideggers blühenden Baum erinnernden Weise von einem Baum 32, und die Technikkritik von Friedrich Georg Jünger 33 und Günther Anders 34 kann in manchem an Heideggers Ausführungen über das »Gestell« der Technik erinnern, ebenso wie die Werke von Franz Kafka, Aldous Huxley, George Orwell und Charles Chaplin (im Film Modern Times) und so weiter. Doch für mich ist die im Seminar von 1973 dargelegte Ortsverlegung die radikalste In-Frage-Stellung der heute herrschenden naturwissenschaftlich-technischen Weltanschauung – der Weltanschauung wohlgemerkt, nicht einfach der Technik und nicht der naturwissenschaftlichen Methode! Eine solche Würdigung verlangt an dieser Tagung natürlich noch ein kurzes Wort zum Thema von gestern Abend und heute Morgen – nämlich zu Heideggers Seinsgeschichte und seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus: Zwar entwirft Heideggers Seinsgeschichte eine überzeugende Darstellung der umgekehrten Ortsverlegung von der Welt »draußen« hinein ins fensterlose Verlies des neuzeitlichen Bewusstseins. Zwar gibt es bei den Vorsokratikern tatsächlich auch überraschende Zeugnisse für ein ganz anderes damals alltägliches Weltverständnis. ΨΥΧΗΣ ΠΕΙΡΑΤΑ ΙΩΝ ΟΥΚ ΑΝ ΕΞΕΥΡΟΙΟ … (PSYCHĒS PEIRATA IŌN OUK AN EXEUROIO … : der Seele Grenzen gehend nicht könntest du ausfindig machen …) steht über dem Eingang zum Hörsaal der psychiatrischen UniverGA 15, S. 373 ff.; GA 20, S. 63–99. Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur in: M. Farber (Hrsg.), S. 307–325. 32 Vgl. Ich und Du (1923) in: Das dialogische Prinzip, S. 10–12. 33 Die Perfektion der Technik (zuerst erschienen 1946). 34 Die Antiquiertheit des Menschen (1. Band zuerst erschienen 1956, 2. Band 1980). 30 31
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sitätsklinik in Zürich. Dieser Satz Heraklits 35 bedeutet wohl kaum, dass das Unbewusste in der Psyche im Kopf unergründlich sei, Heraklits »Grenzen der Seele« lagen wohl eher noch draußen in der Welt, weiter draußen als im Gehen erkundbar. Aber ein solcher Einblick in die Geschichte ist ein Fernblick im Nebel, und auch die Seinsgeschichte ist einem Heidegger in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts im Nebel aufgeblitzt. Karl Jaspers wunderte sich über die »Grundstimmung der Kritiklosigkeit« in der Entfaltung dieser Seinsgeschichte, die, wie Jaspers sagte, »von einem einzigen Knirps zugleich anerkannt wird (als Geschichte) und überwunden wird«. 36 Ob Knirps oder »Meister aus Deutschland« 37, die Seinsgeschichte könnte schon Lücken und zeitbedingte Verzerrungen haben. Zum Beispiel fällt mir da Franco Chiereghin ein, der einen altrömischen Quellgrund vor Heideggers Aversion gegen das Römische verteidigt hat 38, einen Quellgrund, dem unter anderem unser Recht entsprang. Audiatur et altera pars und in dubio pro reo sind vielleicht zwei der altrömischen fides im Sinne von »Vertrauensvorschuss« entsprungene Schutzwälle gegen Hexenverfolgungen aller Art. Oder ich denke an mögliche nichtdeutsche und nichtgriechische Wurzeln der Droits de l’Homme, der Menschenrechte gegen jegliches »Gnadentum«, dagegen, dass ein Mensch sich als Mensch über andere Menschen erhebt, ob von Gnaden eines Gottes, eines Adels oder eines Amtes, eines Kapitals oder einer Partei, eines Volks oder eines Geschlechts. Heidegger hat diese Droits de l’Homme kaum je erwähnt, obwohl sie vielleicht auch mit seiner Analyse des Mitseins und der vorausspringenden Fürsorge in Beziehung gesetzt werden könnten. 39 Und ich muss eben auch an einen möglichen Zusammenhang der Zeichen des Seins bei Parmenides mit uralten außereuropäischen Gedanken denken (aber das ist natürlich auch nur mein Fernblick im Nebel). Die anfängliche Begeisterung Heideggers für den nationalsoziaH. Diels, 22B, 45 (hier wörtlich übersetzt). K. Jaspers, Notiz Nr. 238, S. 254. 37 Vgl. R. Safranski, S. 14. 38 Der griechische Anfang Europas und die Frage der Romanitas. Der Weg Heideggers zu einem anderen Anfang, in: H.-H. Gander (Hrsg.), S. 197–223. 39 Unter der Vorherrschaft der einspringenden Fürsorge spielt »unter der Maske des Füreinander« »ein Gegeneinander« (Sein und Zeit, S. 175; GA 2, S. 232), und der Mitmensch wird dabei oft zum »Abhängigen und Beherrschten« (Sein und Zeit, S. 122; GA 2, S. 163). Wie wäre es unter einer Vorherrschaft der vorausspringenden Fürsorge? 35 36
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listischen Aufbruch habe ich 1984, in meinem Buch Der epochale Winter, mit Hölderlins eigenwilliger Ödipus-Interpretation in Zusammenhang gebracht. 40 König Ödipus, der wegen einer Seuche in Theben den Kreon nach Delphi geschickt hat, deute, schrieb Hölderlin 41, den Orakelspruch »zu unendlich« – mit einem »Auge zu viel vielleicht«, wie Hölderlin dichtete 42 – worauf Ödipus gleich »ins Besondere« gehe und so dem Geschick, das er aufhalten wolle, noch zur Erfüllung verhelfe. Passt diese Geschichte, fragte ich 1984, »nicht auch zu Martin Heidegger, der in der Pestzeit des überhandnehmenden Maschinenwesens den nationalsozialistischen Aufbruch ›zu unendlich‹ deutete und gleich ›ins Besondere‹ ging, ins Rektorat des Jahres 1933?«. 43 Natürlich kann ich schon auch lebensgeschichtliche, milieu- und zeitbedingte Motive hinter Heideggers Engagement vermuten, vielleicht auch charakterliche. Schließlich mache ich mir als Psychiater schon meine Gedanken. Doch es widerstrebt mir als Nachgeborenem, der beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erst acht Monate gelebt hat, rückwärts in jene verrückten Jahre hinein über Beweggründe eines Menschen zu sprechen, der mir nicht mehr selber davon erzählen kann (vielleicht ist das ja meine déformation professionelle). Georg Picht schrieb 1977 über seine Erfahrungen in Heideggers Seminaren, Heidegger habe das Seminar »heilig ernst« genommen und sei »immer vom Pathos des Bewusstseins umgeben« gewesen: »von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen«. 44 Wenn wir so etwas heute hören, klingt es für unsere Ohren seltsam, und böse Wörter wie »Guru« oder »Narzisst« mögen uns einfallen. Doch wenn ich den fundamental-vereinheitlichten Totalabstraktionen der modernsten physikalischen Naturwissenschaft oder den Maschinenträumen eines Michio Kaku mit seiner Forderung, dass wir einsehen müssten, selbst Maschinen zu sein, oder auch den Verrenkungen der Philosophy of Mind und vor allem aber dem heutigen ökologisch und »kybernetisch« bedingten Weltnotstand – wenn ich all dem, wie ich es jetzt getan habe, Heideggers Ortsverlegung gegenüberhalte, diese Ortsverlegung zurück zum blühenden Baum, dorthin, wo »wir leben
40 41 42 43 44
S. 200–212. Anmerkungen zum Oedipus in: Werke und Briefe, S. 729–736. In lieblicher Bläue blühet in: SW, Bd. II/1, S. 373/V. 20 f. A. a. O., S. 210. S. 242.
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und sterben, wenn wir uns nichts vormachen« – dann scheint mir schon, dass es dabei durchaus um eine epochale Sache gehen könnte. Und ob Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus nun Dummheit war oder Machtrausch und Wahn eines nationalkonservativen Kleinbürgers oder doch Tragik im Sinne der Ödipus-Interpretation von Hölderlin – für mich ist etwas ganz anderes ein viel größeres Problem: dass nämlich wegen Heideggers Verstrickung seine in unserem Weltnotstand so notwendige In-Frage-Stellung der herrschenden naturwissenschaftlich-technischen Weltanschauung in fataler Weise zu wenig beachtet oder unbesehen abgelehnt wird. In fataler Weise – wäre ich gläubig, hätte ich Mühe, nicht an ein diabolisches Fatum zu denken oder zumindest an einen »Grimm« des »Seinsgeschicks«. Sie sehen, ich bin kein richtiger »Heideggerianer« und auch kein »Zukünftiger« seines »letzten Gottes«. Ich bin nur ein naturwissenschaftlich ausgebildeter alter Ungläubiger, den schon in jüngeren Jahren eine Ortsverlegung miterfasst hat. Außerdem verdanke ich Heidegger, dass er mir mit seinen Vorsokratiker-Studien einen Weg zu Parmenides eröffnet hat, auch wenn ich mit Heideggers ParmenidesAuslegungen nicht immer einiggehen kann. Zum Beispiel ist für mich die ἀληθείη (alētheiē) bei Parmenides nicht wie für Heidegger Ent-Bergung des Seins, also gewissermaßen »Entbergnis« (zu hören wie »Ereignis«) 45. Für mich ist diese ἀληθείη die aufblitzende paradoxe Wahrheit der Zeichen des Seins, also zum Beispiel – mit den Zeichen ἀτρεμές (atremes: unzitternd) und ἀκίνητον (akinēton: unbewegt) – die paradoxe Ruhe, die entgegen der δόξα (doxa), der Ansicht der Sterblichen, in allem noch so stürmischen Seinsgeschehen aufblitzen kann. 46 »Das Ruhige« sei »des Unruhigen Herr«, soll ein legendärer ungefährer Zeitgenosse des Parmenides gesagt haben, Lao-Tse im fernen China. 47 Vielleicht wäre solche »Wahrheit« ja auch eine frühe Antwort auf die späte Unruhe der Industrie 4.0.
45 46 47
Vgl. M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, S. 25, 78–80, GA 15, S. 394–407. Vgl. H. Padrutt, Und sie bewegt sich doch nicht, S. 513–534. Tao-Te-King, 26. Spruch.
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»Rätsel Bewusstsein« und Ortsverlegung vom Bewusstsein ins Dasein
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Günther Pöltner
Zur Auslegung von Texten mittelalterlicher Philosophen und Theologen durch Heidegger
1.
Heideggers Vorverständnis von Mittelalter
Heideggers Umgang mit Texten mittelalterlicher Denker unterscheidet sich auffallend von dem anderer Denker. Bilden Texte etwa eines Parmenides, Heraklith, Platon, Aristoteles oder eines Leibniz, Kant, Schelling, Hegel, Hölderlin, Nietzsche den Gegenstand einer peniblen Auslegung, so findet sich kaum etwas Ähnliches im Umgang mit Texten mittelalterlicher Denker. Die Bezugnahme auf deren Texte ist im Vergleich zum Gesamtwerk sporadisch zu nennen. Dieser Umstand hängt mit Heideggers Einstellung zum Mittelalter, d. h. für ihn: zur Scholastik zusammen. 1 Er weiß freilich, dass das Denken des Mittelalters neben der Scholastik auch die mystische Theologie umfasst. Was jedoch die Mystik betrifft, ist Heideggers Beschäftigung mit ihr nicht über Entwürfe und Aufzeichnungen für eine für 1918/ 19 geplante, jedoch nicht abgehaltene Vorlesung hinausgekommen. 2 Und was die Scholastik betrifft – sieht man von der Habilitationsschrift über einen damals dem Duns Scotus zugeschriebenen, in Wahrheit aber von Thomas von Erfurt stammenden Text und von einem kursorischen Eingehen auf Suarez (in GA 24) ab – so findet nur Thomas von Aquin ein wenig mehr Aufmerksamkeit. 3
Zu Heideggers Verhältnis zum Mittelalter einschlägig: Vetter (Hg.) 1999. Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik. Ausarbeitungen und Entwürfe einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/1919, in: GA 60, 301–337. 3 Es handelt sich um folgende drei Vorlesungen: (1) Einführung in die phänomenologische Forschung, Marburger Vorlesung Wintersemester 1923/24 (GA 17), (2) Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant, Marburger Vorlesung Wintersemester 1926/27, (GA 23), (3) Grundprobleme der Phänomenologie, Marburger Vorlesung Sommersemester 1927 (GA 24) (»Die These der auf Aristoteles zurückgehenden mittelalterlichen Ontologie (Scholastik): Zur Seinsverfassung eines Seienden gehören das Was-sein (essentia) und das Vorhandensein (existentia)« (GA 24, 20). Zu den Grundproblemen der Phänomenologie vgl. Vetter 1995. 1 2
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Zur Auslegung von Texten mittelalterlicher Philosophen und Theologen
1.1 Das Mittelalter als Übergangszeit Im Unterschied zum frühgriechischen Denken, das dank seiner in ihm aufgesparten verborgenen Möglichkeiten nach Heideggers Überzeugung einen anderen Anfang des Denkens ermöglicht, gibt das mittelalterliche Denken aufs Ganze gesehen keinen zukunftsträchtigen Boden ab. 4 Ähnlich wie schon für die Humanisten ist das Mittelalter auch für Heidegger eine bloße – wenngleich seinsgeschichtlich zu verstehende – Zwischenzeit, die es aus gleich noch zu erörternden Gründen zu keinem eigenständigen, d. h. einer originären Seinserfahrung entstammden Denken hat bringen können, eine Übergangszeit, in der sich unterschiedliche Grundhaltungen zum Seienden – die griechisch-römische und die christliche – vermischt haben, deren Verständnis jedoch zum Verständnis der neuzeitlichen Philosophie erforderlich ist. »Im Ganzen der Geschichte der philosophischen Forschung im strengen Sinne hat das Mittelalter keine grundsätzliche Bedeutung, nur die Rolle der bestimmten Prägung und Vermittlung des Überkommenen. Als dieses aber muß es erkannt und grundsätzlich verstanden sein, wenn man die Problematik der neuzeitlichen Philosophie und ihre Basis verstehen will gegenüber einem bloßen Kennenlernen von allerlei Lehrmeinungen und Standpunkten« (GA 23, 93 f.). 5 In dieser aus dem Wintersemester 1926/27 stammenden Stellungnahme (Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant) kommt bereits der Wandel eines anfänglich noch positiven Verhältnisses zum mittelalterlichen Denken zum Ausdruck. In der nach eigenen Angaben (GA 1, 191) im Frühjahr 1915 abgeschlossenen Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus geht es Heidegger noch darum, »den systematischen Gehalt der mittelalterlichen Scholastik wenigstens in den wichtigsten Problemkreisen flüssig zu machen« (GA 1, 204). 6 In dem Nach Baier ist festzustellen, dass das Mittelalter für Heidegger »eine Epoche der Degeneration darstellt, die wohl ihre eigene Notwendigkeit hat, ein Schicksal war und nicht einfach ein Fehler, die aber, unbeschadet der möglichen Aufnahme einzelner Gedanken, im Ganzen für ein zukunftsweisendes Denken keine positiven Anknüpfungspunkte hergibt« (Baier 1999, 25). 5 Um solch eine Aufarbeitung von Verstehensvoraussetzungen neuzeitlicher Philosophie (konkret: der cartesianischen) ging es bereits drei Jahre vorher beim Rückgang auf das verum esse bei Thomas von Aquin (GA 17, 162–194). 6 In der »Selbstanzeige« dieses Werkes ist davon die Rede, das mittelalterlich-scho4
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zur Habilitation verfassten Lebenslauf ist die Rede von einer »für einen gründlichen Aufbau der Scholastik als notwendig erkannte[n] eingehendere[n] Beschäftigung mit der Philosophie des Mittelalters« bzw. wird von einem »deutenden Verstehen des theoretischen Gehaltes« mittelalterlicher Philosophie »mit den Mitteln der modernen Philosophie« geredet (GA 16, 39). Das in der »aristotelisch-scholastischen Philosophie […] niedergelegte Gedankengut« müsse »eine weit fruchtbarere Auswertung und Verwendung zulassen« (GA 16, 38). In der Einleitung zur Habilitationsschrift hält Heidegger »die philosophische, genauer: phänomenologische Durcharbeitung des mystischen, moraltheologischen und asketischen Schrifttums der mittelalterlichen Scholastik für besonders dringlich. Auf solchen Wegen erst wird man zum lebendigen Leben der mittelalterlichen Scholastik vordringen, als welche sie ein Kulturzeitalter entscheidend fundierte, belebte und stärkte« (GA 1, 205 f.). Diese anfangs positive Einstellung zum mittelalterlichen Denken ändert sich. Es kommt zum Bruch mit dem System des Katholizismus: »[D]as System des Katholizismus […] – nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne)« sei für ihn »problematisch und unannehmbar« geworden. 7 Die geänderte Einstellung kündigt sich schon kurz vorher (1918/19) an: 8 »Das System schließt ein ursprüngliches genuines religiöses Werterleben innerhalb seiner völlig aus« (GA 60, 313). Weiters heißt es, »dass die Scholastik innerhalb der Totalität der mittelalterlich christlichen Erlebniswelt gerade die Unmittelbarkeit religiösen Lebens stark gefährdete und über Theologie und Dogmen die Religion vergaß« (GA 60, 314). Die Gefährdung des religiösen Lebens erblickt Heidegger in dessen philosophisch-begrifflicher Auslegung. In der im Sommersemester 1920 gehaltenen Freiburger Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (GA 59) spricht er von der »Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie« (GA 59, 91), und er ventiliert sogar »[d]ie wahrhafte Idee der christlichen Philosophie; christlich keine Etikette für eine schlechlastische Denken sei hinsichtlich des Kategorienproblems und der Logik überhaupt »einem tieferen Verständnis näher zu bringen« (GA 1, 412). 7 Brief vom 9. Januar 1919 an den Freiburger Dogmatiker Krebs, zit. in: v. Herrmann 2009, 297. 8 Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik. Ausarbeitungen und Entwürfe einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/1919, in: GA 60, 301–337.
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te und epigonenhafte griechische. Der Weg zu einer ursprünglichen christlichen – griechentumfreien – Theologie« (GA 59, 91). In der schon zitierten, aus dem Wintersemester 1926/1927 stammenden Vorlesung über die Geschichte der Philosophie von Thomas zu Kant heißt es: »Für die mittelalterlich-scholastische Philosophie nie das Prinzipielle und Eigenständige, sondern nur im Dienst der Theologie. Damit aber alle Fragen nach dem Seienden letztlich nicht auf das Sein orientiert, sondern das Seiende im ausgezeichneten Sinne« (GA 23, 95). Dieses Denken habe die »ursprünglichen Intentionen der antiken Philosophie (Platon, Aristoteles) vollends verdeckt« und das Überlieferte in eine der griechischen Problematik fremde »spezifisch theologische Systematik gezwängt« (GA 23, 95), wodurch der Begriff der Philosophie »wieder zweideutig« wurde (GA 23, 95): »Wissenschaft von den letzten Prinzipien kann besagen: vom Sein des Seienden, bedeutete aber im Grunde: Wissenschaft vom eigentlichen Seienden, Gott. Ontische und ontologische Fragestellungen, Erfahrung und Kritik verwirren sich noch mehr als vormals« (GA 23, 95 f.). Erst mit Kant habe die Philosophie »aus der Verwirrung einen ersten Schritt ins Freie tun« können (GA 23, 96).
1.2 Charakteristika mittelalterlichen Denkens Das mittelalterliche lateinische Denken ist für Heidegger durch zwei Komponenten charakterisiert: durch die Latinisierung der griechischphilosophischen Grundbegriffe einerseits und die Christianisierung des metaphysischen Denkens andererseits. 1.2.1 Latinisierung griechischer Grundbegriffe Die Übersetzung der Grundworte griechischen Denkens ins Lateinische ist keineswegs ein äußerlicher Vorgang, bei dem einer gleichbleibenden Bedeutung bloß ein anders lautendes sprachliches Zeichen zugeordnet wird. Vielmehr beginnt mit dieser Übersetzung, wie es im Kunstwerkaufsatz heißt, die »Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens« (GA 5, 8). Denn Übersetzen besagt Übersetzen – so wie man von einem Ufer auf ein anderes übersetzt. Die wörtliche Übersetzung griechischer Grundworte ins Lateinische erfolgt aus einer anderen Daseinserfahrung, aus einer anderen Grundstellung des Menschen zum Seienden im Ganzen – der römischen. »[H]inter der 213 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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anscheinend wörtlichen und somit bewahrenden Übersetzung [verbirgt sich] ein Übersetzen griechischer Erfahrung in eine andere Denkungsart. Das römische Denken übernimmt die griechischen Wörter ohne die entsprechende gleichursprüngliche Erfahrung dessen, was sie sagen, ohne das griechische Wort« (GA 5, 8). 9 »Römertum, Judentum und Christentum haben die anfängliche Philosophie – d. h. die griechische – völlig verändert und umgefälscht« (GA 35, 1). 10 Indem z. B. die Römer das griechische ENERGEIA mit actualitas (Wirklichkeit) übersetzen, spricht dieses Wort aus einer anderen Grundstellung des Menschen zum Seienden im Ganzen. 11 Griechisch gedacht besagt ENERGEIA (›Werkheit‹) hervorkommen ins Unverborgene und so anwesen, 12 das ERGON (Werk) ist das ins Offene des Anwesens Freigelassene. Mit der Übersetzung ins Lateinische spricht das Wort nicht mehr aus dem Bereich des Vorliegens in der Unverborgenheit, sondern aus dem des Wirkens im Sinne des herstellenden Machens und des damit verbundenen Beherrschens. Das ERGON wird »zum opus des operari, zum factum des facere, zum actus des agere. Das ERGON ist nicht mehr das ins Offene des Anwesens Freigelassene, sondern das im Wirken Gewirkte, im Tun Geleistete. Das Wesen des ›Werkes‹ ist nicht mehr die ›Werkheit‹ im Sinne des ausgezeichneten Anwesens in das Freie, sondern die ›Wirklichkeit‹ eines Wirklichen, das im Wirken beherrscht und in das Vorgehen des Wirkens eingespannt wird« (GA 6.2, 375). Ähnliches gilt von der Übersetzung von NOUS und LOGOS mit ratio, 13 das aus »[A]lle abendländische Geschichte [ist] seitdem in einem mehrfachen Sinne römisch und niemals mehr griechisch […] Auch das Germanische des Mittelalters ist in seinem metaphysischen Wesen römisch, weil christlich« (GA 6.2, 376). Das Römische muss dabei »im vollen Reichtum seiner geschichtlichen Entfaltungen genommen werden, so daß es das politisch Imperiale des Römertums, das Christliche der römischen Kirche und das Romanische umfaßt« (GA 6.2, 376). 10 Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides, Freiburger Vorlesung Sommersemester 1932. 11 Die Übersetzung bringt »eine andere, und zwar auch hier eine aus der Verschließung des Seins ereignete Versetzung eines anderen Menschentums in das Ganze des Seienden« zur Sprache (GA 6.2, 375). 12 Die ENERGEIA meint »das in der Unverborgenheit da-stehende Anwesen des Herund Hin- und Aufgestellten« (GA 6.2, 368). 13 »Ratio stammt vom Zeitwort reor. Reor besagt: etwas für etwas nehmen: NOEIN; dies ist zugleich: etwas als etwas darlegen: LEGEIN […]. In der ratio verschwindet jedoch das ursprüngliche Wesen von LEGEIN und NOEIN. Mit dem Aufkommen der Herrschaft der ratio kehren sich alle Verhältnisse um. Denn jetzt erklären die mittelalterliche und die neuzeitliche Philosophie das griechische Wesen von LEGEIN 9
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dem Bereich des Rechnens und Verrechnens spricht. Ausschlaggebend an diesem Übersetzungsvorgang ist, dass die Grundstellungen zum Seienden im Ganzen nicht mehr rein ins Wort kommen, sondern sich verdunkeln und verwirren. Dazu kommt noch, dass dieses Seinsverständnis, für welches das Seiende »durch das Wirken im Sinne des verursachenden Machens« bestimmt ist (GA 6.2, 377), dadurch verfestigt wird, dass der biblische Schöpfungsglaube in ihm das Mittel seiner metaphysischen Absicherung erblickt. 1.2.2 Christianisierung metaphysischen Denkens Mit dem Wandel des Seins zur actualitas ist das Seiende »bestimmt durch das Wirken im Sinne des verursachenden Machens« (GA 6.2, 377). Das Sein des Seienden besteht im Verursachtsein. Dieses Seinsverständnis ist nach Heidegger »der christlichen Weltauffassung und Auffassung des Seienden als ens creatum gleichsam auf den Leib zugeschnitten« (GA 24, 168). Daher ist es nicht verwunderlich, dass »sich das Vorstellen des biblisch-christlichen Schöpfungsglaubens« der herstellungs-ontologischen Begrifflichkeit »bemächtigen kann, um sich die metaphysische Rechtfertigung zu sichern« (GA 6.2, 377). »Gott ist als das ens increatum das herstellungsunbedürftige Seiende schlechthin und für alles andere Seiende die causa prima« (GA 24, 168). Das Seiende als Geschaffenes verstehen heißt, es als ein »Angefertigtes« (GA 5, 14), als ein »rational Vorgedachtes« (GA 40, 202) begreifen. Das Seiende wird zu einem »von anderem Seienden Gemachten« (GA 65, 111) 14, und »Gott [wird] als Hersteller der Dinge«
und NOEIN, von LOGOS und NOUS aus ihrem Begriff der ratio her« (GA 8, 213 f.). Die Worte LEGEIN und NOEIN besagen griechisch gedacht, »was später eigens und nur für eine kurze Zeit ALETHEUEIN genannt wird: entbergen und entborgenhalten das Unverborgene« (GA 8, 213). Das griechische ALETHEUEIN »wandelt sich in das rechnende Sicheinrichten der ratio […] Die ratio ist das Sicheinrichten auf das Richtige« (GA 54, 74). 14 »Seinsverlassenheit des Seienden: daß das Seyn vom Seienden sich zurückgezogen und das Seiende zunächst (christlich) nur zu dem von anderem Seienden Gemachten wurde. Das oberste Seiende als Ursache alles Seienden übernahm das Wesen des Seyns. Dieses ehemals vom Schöpfergott gemachte Seiende wurde dann zum Gemächte des Menschen, sofern jetzt das Seiende nur in seiner Gegenständlichkeit genommen und beherrscht wird. Die Seiendheit des Seienden verblaßt zu einer ›logischen Form‹, zum Denkbaren eines selbst ungegründeten Denkens« (GA 65, 111).
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(GA 24, 148) begriffen. Diese Auslegung hat für Heidegger vor allem zwei Folgen. Mit ihr wird (1) der Rationalismus »vorbereitet und verstärkt« (GA 40, 202) und ein weiterer Schritt in Richtung eines technischen, über das Seiende herrscherlich verfügenden Denkens getan. Tritt nämlich an die Stelle der göttlichen Vernunft die sich absolut setzende menschliche Vernunft, muss »das Sein des Seienden im reinen Denken der Mathematik denkbar werden« (GA 40, 202). 15 Das »vom Schöpfergott gemachte Seiende« wird »zum Gemächte des Menschen« (GA 65, 111). Mit der Auslegung von Sein als Geschaffensein wird (2) das Ursache-Wirkung-Verhältnis zum beherrschenden Prinzip des Denkens. Auf diese Weise wird Gott seiner Göttlichkeit entkleidet, weil er auf eine Ursache – wenn auch auf die höchste Ursache – herabgesetzt wird (GA 7, 27). 16 Der »christlich-jüdische Gott« gilt als »die Vergötterung des Ursachseins als solchen« (GA 66, 240). Für Heidegger ist die Auslegung des Seins als Geschaffenseins genau genommen keine Auslegung des Seins, sondern eine »ontische Erklärung« (GA 24, 140), die im Sinne der Onto-Theologie das Sein auf ein höchstes Seiendes zurückführt.
2.
Zur kritischen Würdigung
Eine kritische Würdigung von Heideggers Ausführungen wird sich vergegenwärtigen, dass sein Zugang nicht nur zur mittelalterlichen Philosophie, sondern zur Philosophie überhaupt durch das neuscholastische Seinsverständnis vermittelt ist. 17 Die Neuscholastik firmiert »Weil das Seiende ein von Gott Geschaffenes, d. h. rational Vorgedachtes ist, muß, sobald der Bezug des Geschaffenen zum Schöpfer sich löst und andererseits in eins damit die Vernunft des Menschen sich in die Vorherrschaft bringt, sich sogar als absolut setzt, das Sein des Seienden im reinen Denken der Mathematik denkbar werden. Das so berechenbare und in die Rechnung gestellte Sein macht das Seiende zum Beherrschbaren in der modernen mathematisch gefügten Technik, die etwas wesentlich anderes ist als jeder bisher bekannte Werkzeuggebrauch. Seiend ist nur, was richtig gedacht einem richtigen Denken standhält« (GA 40, 202). 16 »So kann, wo alles Anwesende sich im Lichte des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs darstellt, sogar Gott für das Vorstellen alles Heilige und Hohe, das Geheimnisvolle seiner Ferne verlieren. Gott kann im Lichte der Kausalität zu einer Ursache, zur causa efficiens, herabsinken« (GA 7, 27). Zu einer Ursache aber kann man nicht beten (GA 11, 77). 17 Siehe dazu: Wucherer-Huldenfeld 1999. 15
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zwar auch unter dem Titel Thomismus oder Neuthomismus, aber dieser Titel ist insofern irreführend, als das neuscholastische Seinsverständnis maßgeblich von der skotistisch-suarezianischen Tradition geprägt ist. Für diese Tradition ist ein nominales Seinsverständnis charakteristisch. Nominal – weil das Partizip ›seiend‹ (ens) nicht verbal (zeitwörtlich), sondern hauptwörtlich (als nomen) als ›das Seiende‹ verstanden wird. Wird nun nach dem Sein gefragt, wird das Seiende als solches daraufhin befragt, was es ist. Nach dem Sein des Seienden wird in Form der Was-Frage, d. h. wie nach einer Wesenheit gefragt. Die auf das Seiende gerichtete Was-Frage fragt danach, was allem Seienden gemeinsam ist. Das aber ist die Seiendheit (entitas), das begrifflich gefaßte Sein, die abstrakteste und leerste Bestimmung, in der alles, was ist, gleicherweise übereinkommt, die unterschiedslos allem und jedem zukommt, und von allem prädiziert werden kann. Seiendes kommt darin überein, real, d. h. überhaupt etwas und nicht nichts zu sein. Die Seiendheit ist der Sachgehalt (realitas). Da die Seiendheit von dem Unterschied von ›sein (= existieren, wirklich sein) versus bloß gedachtsein‹ abstrahiert, unterscheidet sich das Seiende vom bloß Gedachtseienden nicht durch den Sachgehalt (realitas), sondern durch den Modus, nicht durch das Was, sondern durch das Wie. Sein ist auf bedeutungsnackte Faktizität reduziert. 18 Heidegger unterstellt dieses nominale Seinsverständnis der Scholastik insgesamt. Und so findet er auch bei Thomas von Aquin einzig das, was zur Bestätigung seiner Vormeinung dient, und ignoriert hartnäckig diejenigen Züge, die diese Vormeinung durchkreuzen. Für Heidegger ist Thomas im Grunde ein Thomist. Und er macht mit Thomas das, was er dem Verhalten der Platonisten gegenüber Platon ankreidet: »Platon mit Hilfe irgendeiner Art von Platonismus deuten zu wollen, ist der eigentliche Verderb. Denn dieses Verfahren gleicht dem, das versucht, das frische Blatt am Baum aus dem gefallenen Laub am Boden zu ›erklären‹« (GA 54, 144).
Die Seiendheit ist das allerallgemeinste Prädikat, der Minimalsachgehalt: etwas (und nicht nichts) zu sein. Indem dieser Minimalsachgehalt von der Wirklichkeit (Existenz) abstrahiert, ist diese umgekehrt frei von allem Sachgehalt. Ein wirklicher Sachgehalt unterscheidet sich daher von einem nicht-wirklichen nicht durch ein sachhaltiges Moment, sondern einzig und allein durch einen Modus. Sein i. S. von Existenz ist zwar etwas zum Sachgehalt Hinzukommendes, aber eben nicht ein weiterer Sachgehalt, sondern ein bloßer Zustand. Daher konnte später Kant sagen, Sein sei kein reales Prädikat (Kritik der reinen Vernunft, B 626).
18
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(1) Das fängt schon damit an, dass sich Thomas nicht einfachhin unter die These subsumieren lässt, die nach Heidegger das Kennzeichen der mittelalterlichen Ontologie ist, dass nämlich zur Seinsverfassung eines jeden Seienden »das Was-sein (essentia) und das Vorhandensein (existentia)« gehört (GA 24, 20), wobei das ontische Fundament dieser ontologischen Begrifflichkeit das herstellende Verhalten ist. Die Scholastik, zu der ja auch Thomas gehört, interpretiert nach Heidegger die existentia als ›sistentia extra causas et nihilum‹ (GA 24, 123). Allein Thomas stellt der essentia keine ›existentia‹ gegenüber. Er spricht weder von einer ›existentia‹ noch von einer ›sistentia extra causas et nihilum‹, sondern von ›esse‹. Und wenn er – höchst selten – von existentia spricht, dann meint er gerade nicht, dass ein Sachgehalt außerhalb der Ursache gesetzt, hergestellt und damit vorhanden ist, dass ein mögliches Wesen sich im Zustand der Aktualität befindet. Die existentia ist nicht die Position eines Dinges. Wenn Thomas sagt, das Sein (esse) kommt zur essentia hinzu (accidit), so heißt das nicht, dass ein Sachgehalt (realitas) in den Aktualitätszustand versetzt wird, sondern dass sich das Wesen (die sich ereignende Seinsweise eines Seienden) einer Seinsgabe verdankt, nicht aber ihr vorausgesetzt ist. Thomas ist keinem nominalen, sondern einem verbalen Seinsverständnis verpflichtet: »ens sumitur ab actu essendi« (Ver. 1,1), ›Seiend‹ ist vom Seinsakt, vom Vollzug des Seins, vom sich ereignenden Sein her zu verstehen, und nicht umgekehrt das Sein vom Seienden her als dessen Seiendheit oder als etwas zu einem Sachgehalt Hinzukommendes (= bedeutungsnackte Existenz). Und er verdeutlicht das an einem Beispiel: »Das Sein selbst (ipsum esse) ist das, wodurch das Seiende ist (id quo aliquid est), wie das Laufen das ist, wodurch etwas läuft«. 19 Das Laufen ist nicht – wie der gemeine Hausverstand meint – die vom Läufer verursachte Wirkung nach dem Motto: Würde der Läufer nicht laufen, gäbe es auch keinen Lauf, also ist er dessen Ursache. Allein die Frage kehrt hartnäckig wieder: Wenn der Läufer angeblich die Ursache des Laufens ist – wodurch ist der Läufer (die vermeintliche Ursache) Läufer – und nicht etwas anderes? Was den Läufer als Läufer ausmacht, das ist eben sein Laufen. Und so bleibt es dabei: Das Laufen ist, wie das Phänomen zeigt, der Grund dafür, dass der Läufer ein solcher ist. 20 19 20
»ipsum esse est quo aliquid est, sicut cursus est quo aliquid currit« (De anima, 6). Anlässlich dieses Beispiels erscheint eine phänomenologische Erinnerung an-
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Und so wie man nicht sagen kann, das Laufen läuft, kann man auch nicht sagen, das Sein ist (non possumus dicere quod ipsum esse sit). 21 Sein subsistiert nicht. Das Sein selbst (ipsum esse) darf nicht zu einem Seienden höherer Ordnung hypostasiert werden. Das Seiende, von dem Thomas ausgeht und das als Seiendes bedacht werden soll, ist nicht das ens possibile, nicht ein Denkmögliches, das existieren, in den Zustand faktischer Vorhandenheit versetzt werden kann, es ist auch nicht das in die Existenz herausgetretene Denkmögliche, das faktisch Existierende, sondern das in der Erfahrung gegebene konkrete Seiende (ens sive id quod est), das selbständig Seiende, ens subsistens, 22 das den Grund seiner Eigenständigkeit in sich hat (per se ens), indem es am Sein partizipiert. 23 Das Sein ist der Grund des Seienden als eines solchen: Weil Seiendes am Sein partizipiert, ist es selbständig. Nochmals: Das Sein selbst (ipsum esse) darf nicht zu einem Seienden höherer Ordnung hypostasiert werden. So wie man nicht sagen kann, das Laufen läuft, kann man auch nicht sagen, das Sein ist. 24 Sein subsistiert nicht. (2) Wenn vom actus essendi gesprochen wird, meint agere nicht, wie Heidegger unterstellt, ein Machen, Leisten, Erwirken (GA 6.2, 375), sondern wie Thomas ausdrücklich anmerkt, ein Mitteilen, Anteil geben, Teilhaben lassen. »natura cuiuslibet actus est, quod seipsum communicet … Agere vero nihil aliud est quam communicare« (Pot. 2, 1). Die Natur des Aktes ist Selbstmitteilung. Sein, esse, ist vom
gebracht: Geht es um den Läufer als solchen, muss einzig und allein auf sein Laufen, auf den Vollzug, geblickt werden. Ohne Laufen kein Läufer. Mit dem Laufen wird zugleich der Laufende aus den Augen verloren. Das Laufen macht den Läufer zum Läufer. Das Kausaldenken des Hausverstandes hingegen operiert mit einem Davor und Danach: Zuerst gibt es den Läufer – und dann tut er etwas, das er aber auch unterlassen kann – nämlich laufen. Mit der Unterstellung eines Davor und Danach ist der Laufende aber bereits als Laufender aus dem Blick verloren. Er wird nicht mehr in seinem Eigensein wahrgenommen, sondern unter der Hand als etwas anderes seiend vorgestellt. Das Davor und Danach ist das Resultat einer Abstraktion: Man trennt den Laufenden von seinem Lauf (seinem Läufersein!) und verdreht so unter der Hand das Laufen zu einer Eigenschaft, von der man nicht mehr sagen kann, wessen Eigenschaft sie ist – es wird zu einer Eigenschaft eines ignotum X depotenziert. 21 In Boethii De Hebd. lect. II, n. 23. 22 »quod in suo esse subsistit« (In Boethii De Hebd. Lect. II, n. 23). 23 »possumus dicere quod ens, sive id, quod est, sit, inquantum participat actum essendi« (In Boethii De hebd. Lect. II, n. 23). 24 »non possumus dicere quod ipsum esse sit« (In Boethii De Hebd. lect. II, n. 23).
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communicare, vom Mitteilen, Sich-Mitteilen, Anteilgeben her zu verstehen. (3) Unter ›Sein‹ (esse) versteht Thomas nicht das faktische Vorhandensein einer Wesenheit, sondern das Vollendetste, die Vollkommenheit alles Vollkommenen. Er ist sich der Andersartigkeit seines Seinsverständnisses sehr wohl bewusst: »hoc quod dico esse (das, was ich unter Sein verstehe!) est inter omnia perfectissimum […] est actualitas omnium actuum, et propter hoc est perfectio omnium perfectionum« (Pot. 7, 9 ad 2). Der grammatikalische Superlativ (perfectissimum) meint nicht das denkbar Höchste, sondern unvordenkliche, grenzenlose Fülle – oder mit Heidegger gesprochen: »Reichtum«, »Überfluß« (GA 51, 49). An dieser Seinsfülle hat alles, was ist, auf je verschiedene Weise Anteil, nämlich im Maße seiner essentia. Die essentia nennt nicht einen Sachgehalt, der in einen faktischen Existenzzustand übergeführt werden kann, sondern die konkrete Seinsweise des Seienden, die Weise seiner Seinsteilhabe bzw. Seinsteilnahme. Der Unterschied von esse und essentia benennt nicht den Unterschied von Wassein und Vorhandensein, sondern den Unterschied von Sein und den Weisen seiner Partizipation. (4) Partizipation – und das gilt es vor allem zu realisieren – ist kein Kausalverhältnis. Verursachen heißt, an einem Vorgegebenen eine Wirkung hervorbringen. Das Teilhabeverhältnis ist kein UrsacheWirkung-Verhältnis, sondern ein Gründungsverhältnis. Das Gründen ist nicht mit der Tätigkeit einer seienden Ursache zu verwechseln. Das Wesen der Gründung bestimmt sich für Thomas aus der Teilhabe. 25 Dass ein Teilhabeverhältnis kein Ursache-Wirkungs-Verhältnis ist, wird bereits an den ontischen Teilhabeverhältnissen wie etwa dem Spiel oder dem Gespräch ersichtlich. Ein Spiel ist nicht die Ursache dafür, dass die Spieler die sind, die sie sind. Weder ist Spieler zu sein die Wirkung des Spiels, noch verursachen umgekehrt die Spieler das Spiel. Die Spieler erzeugen nicht ihr Spiel, sondern nehmen an ihm teil. Das Spiel ist der Grund dafür, dass die Spieler die sind, die sie sind, es ist der Seinsgrund (id quo) der Spieler als solcher. Was die »ex hoc quod aliquid per participationem est ens sequitur quod sit causatum ab alio« (STh I, 44, 1 ad 1).
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Spieler vollziehen, und was nur ist, indem sie spielen, ist das, woran sie teilnehmen. Spielen heißt, teilnehmen am Spiel. Das Spiel ›ist‹ nur, weil gespielt wird, es ist nichts für sich Bestehendes (non subsistit), und trotzdem besitzt es eine die Spieler bestimmende Eigendynamik – es nimmt z. B. seinen Gang, es ergreift die Spieler, es reißt die Zuschauer mit. Im Blick auf das Spiel selbst, auf das Spiel als Spiel, muss gesagt werden: Das Spiel selbst ist zwar nicht ohne die Spieler, aber es ist – wie seine Eigendynamik zeigt – nicht durch sie, was es ist. Denn spielen heißt teilnehmen am Spiel. Das Spiel lässt an sich teilhaben, nicht aber nimmt das Spiel an den Spielenden teil. (a) Die Seinsteilhabe ist kein Haben von Teilen. Das Sein lässt an sich auf unendliche Weise teilhaben, ohne darin aufgeteilt zu werden. Es ist kein Riesending, das sich zerstücken lässt. Teilhabe drückt eine Differenz-in-Identität aus: Teilhabe heißt, das Ganze, an dem teilgehabt wird, (im verbalen Sinne) sein (Identität) – aber nicht auf die Weise des Ganzen (non totaliter), 26 sondern teilweise (partialiter), 27 d. i. das Ganze auf eingeschränkte Weise sein (Differenz) und es so repräsentieren. Weil die Einschränkung die Unendlichkeit des Seins nicht aufhebt, ist es abgründiger Grund des Seienden – »esse autem est illud quod est magis intimum cuilibet, et quod profundius omnibus inest« (STh I, 8, 1). Das Sein, an dem teilgehabt wird, ist keine für sich bestehende Größe, es darf nicht nach Art eines subsistierenden Seienden vorgestellt werden. Das Wort ›sein‹ benennt etwas nicht Subsistierendes: »esse significat aliquid […] non subsistens«. 28 Sein – nichts Seiendes, aber auch nicht nichts. (b) Der Anteilgabe am Sein geht kein seiendes Subjekt voraus. Denn dessen Sein beruhte ja wiederum bereits in der Seinsteilhabe bzw. im Seinsempfang – womit bereits gesagt ist, dass sich Sein nicht erklären, nicht auf anderes Seiendes zurückführen lässt. Die Seinsmitteilung trifft nicht auf ein bereits Seiendes, sie ergeht nicht an Seiendes, sondern ergibt dieses allererst. Die Seinsmitteilung stiftet die Möglichkeit des Empfangs, das communicare ereignet sich als re-
Was etwas nicht zur Gänze ist, von dem wird im eigentlichen Sinn gesagt, es habe teil (»quod … non totaliter est aliquid … proprie participare dicitur«, In Met. I, n. 154). 27 »quod participatur … partialiter habetur et non secundum omnem perfectionis modum« (ScG I, 32, n. 288). 28 Das Wort ›sein‹ nennt nichts Subsistierendes: »esse significat aliquid completum et simplex, sed non subsistens« (Pot. 1,1). 26
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cipere. Das Grundgeben ereignet sich als Grundnehmen. 29 Das Seiende erhebt sich aus seinem ihm zu eigen gegebenem Grund und gewinnt so Stand in sich – ens per se sub-sistit. (5) Ähnliches gilt von der seinsverstehenden Vernunft. Nach Ver.1, 1 ist das Sein das ursprünglich Vernommene, d. i. Empfangene der Vernunft (quod primo intellectus concipit). 30 Heidegger liest, Sein sei die »allgemeinste und jederzeit zutreffende Antwort« (GA 23, 49) – Sein als der allgemeinste und deshalb leerste Begriff. Thomas meint hingegen mit ens weder den allgemeinsten und leersten Begriff, noch versteht er das concipere als Begreifen, sondern als Empfangen, Hinnehmen. In Ver. 21, 1 ist ausdrücklich von der »prima conceptio« die Rede. 31 Dem Seinsvernehmen geht kein Intellekt voraus. Nicht ist zuerst eine Vernunft, die dann irgendwann zu einer seinsverstehenden Vernunft wird, indem sie Sein vernimmt, sondern indem sich Sein zu vernehmen gibt, wird in eins das Vernehmen-können gestiftet. Es gibt hier kein Davor und Danach. Die Vernunft ist nichts anderes denn Seinsverständnis, wenngleich sie nicht der Grund der Seinserschlossenheit ist. Es geht hier nicht darum, den Partizipationsgedanken voll zu entfalten, sondern bloß darum, auf den »Geburtsbrief« (GA 24, 140) der von Thomas verwendeten ontologischen Begrifflichkeit aufmerksam zu machen. Wenn es heißt, das Seiende empfange das Sein (suscipere) 32, das Seiende habe das Sein (habet esse), 33 das Sein sei das vom Seienden Empfangene, dann spricht dieser Geburtsbrief eine durchaus eindeutige Sprache. Die ontologischen Grundbegriffe des Thomas haben ihren bedeutungsgebenden Ursprung im Bereich des Gebens und Schenkens. Gewiss: Dieser Ursprung wird von Thomas nicht thematisiert. (Er hatte in seiner geschichtlichen Situation auch keinen Anlass dazu.) Allein darauf kommt es jetzt nicht an, sondern darauf, dass das ontische Fundament seiner Ontologie nicht in einem herstellenden Verhalten, sondern in einem Verhalten des Daseins zur Erschlossenheit seines Seins liegt, dessen Grundzug darin besteht, gewissermaßen alles zu sein, d. i. für das Sein des Seienden offen zu »ens suscipit actum essendi« (In Boethii De hebd. lect. II, n. 23). »illud autem quod primo intellectus concipit quasi notissimum […] est ens« (Ver. 1, 1). 31 »ens, quod est prima conceptio intellectus« (Ver. 21, 1). 32 Seiendes ist, »suscipiendo actum essendi« (In Boethii De Hebd. lect. II, n. 23). 33 »ens simpliciter est quod habet esse« (STh I-II, 26, 4). 29 30
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Zur Auslegung von Texten mittelalterlicher Philosophen und Theologen
sein: »quodammodo omnia esse« (Ver. 1, 1). In solchem Verhalten geht dem Dasein auf: zu sein heißt, zu sich selbst freigegeben sein. Wir sind, indem uns zu sein gegeben wird und dies so, dass wir dem Guten als dem in sich Sinnvollen Raum geben können. Die ontologischen Grundbegriffe des Thomas entstammen einer Seinserfahrung, die da lautet: zu sein besagt gegeben sein. Demnach ist es die erste Aufgabe einer Ontologie, auf das Geben selbst zu achten und es nicht im Sinne eines Kausaldenkens zu überspringen. Wird mit Thomas gefragt, woher es uns gegeben ist, dazusein, so lautet die Antwort: Dieses Woher läßt sich mit nichts Seiendem identifizieren, es ist kein Seiendes. Zu sich selbst freigegeben zu sein verweist vielmehr in ein abgründiges Geheimnis. Ich verdanke mich einem Geben, dessen Woher sich in der Gabe und zugunsten der Gabe verbirgt. Sich solch einem Geben zu verdanken heißt aber, geschaffen sein: »creare autem est dare esse« (Super Ev. S. Joannis lect. V. n. 133). (6) Schöpfung ist für Thomas kein Machwerk eines schlechthin herstellungsunbedürftigen Seienden namens ›Gott‹, sondern abgründige Freigabe zu selbständigem Sein und Wirken – abgründig, weil schlechthin un-begreiflich. Das (auf unendliche Weise) partizipierbare Sein, das esse non subsistens, ist nicht Gott. Denn dieses Sein ist nicht ohne das Seiende, es ist nur im Gründen, nicht ohne das Gegründete und unterliegt einer Notwendigkeit, die der Freigabe zu selbständigem Sein widerstreitet. Deshalb lautet der philosophische Name für Gott bei Thomas bekanntlich: ipsum esse subsistens. 34 Das sieht nun ganz danach aus, als würde hier eine Hypostasierung vorgenommen. Denn subsistieren – das ist ja Sache eines Seienden, und Seiendes fällt unter die genera, die Kategorien. Allein Thomas erklärt, Deus non est in aliquo genere. 35 Gott, der abgründige Grund der Seinsgabe, fällt unter keine der Kategorien, auch nicht unter die Substanzkategorie. 36 Der Satz ›Deus non est in aliquo genere‹ sagt dann, Gott ist kein Seiendes, keine seiende Ursache und also auch nicht das höchste Seiende. Er sagt gleichzeitig, dass sich Gott einem begreifenden Urteilen, einem begrifflichen Fassen und Vorstellen bleibend entzieht. So heißt es 34 35 36
»Deus est ipsum esse subsistens« (STh I, 4, 2). »relinquitur quod Deus non sit in genere« (STh I, 3, 5). »Deus non est in genere substantiae« (STh I,3 5 ad 1).
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Günther Pöltner
denn auch: »de Deo scire non possumus quid sit, sed quid non sit«, 37 wir können nicht wissen, was es für Gott heißt zu sein, Gottes Sein entzieht sich unserem Wissen. Gott ist der Unbegreifliche. Das Wort ›subsistens‹ hat demnach in der Formel ›ipsum esse subsistens‹ eine prohibitive Funktion: Das Wort ›Gott‹ benennt zwar nichts Seiendes, ist aber deshalb keine Leerintention. Die Rede des Thomas vom Geschaffensein liefert nicht, wie Heidegger einer solchen Rede von vornherein unterstellt, eine ontische Erklärung, sondern beinhaltet die Auslegung einer Seinserfahrung. 38 Max Müller, einer der ersten Wegbereiter Heideggerschen Denkens im deutschen Sprachraum, hat vor mehr als einem halben Jahrhundert zu Heideggers seinsgeschichtlicher Deutung der abendländischen Metaphysik bemerkt, die Metaphysik sei nicht einfachhin auf die Geschichte eines technisch-verfügen-wollenden Denkens festzunageln. Heidegger unterschlage, dass die »abendländische Metaphysik […] dort, wo sie große Metaphysik ist, immer auch gegen sich selbst und gegen die Vorstellbarkeit und Gegenständlichkeit« angedacht hat. 39 Die Metaphysik »ist gleichzeitig der immerwährende Aufstand gegen sich selbst, und dieses Gegendenken gehört notwendig zum metaphysischen Denken, wo dieses wirklich Rang hat«. 40 Heideggers Interpretation des Satzes vom Grund könne ja »nicht besagen wollen, dass Denken grundlos sein soll und dass ›Sein‹ nicht immer auch ›Grund‹ sei für Seiendes«. 41 Ein Denken des Grundes sei schon deshalb nicht identisch mit einem Denken, das über den Grund verfügt und so das Seiende beherrschbar macht, weil es ja Heidegger selbst offenkundig nicht um ein »›grundloses‹, sondern ›abgründiges‹ Denken [gehe], d. h. [um ein] Denken, das den Gang bis zum unverfügbaren, unbegreifbaren, letzten Grund geht und so bis zu ihm hinreicht«. 42 Max Müller hat deshalb vom »Procrustes-Modell« heideggerschen Denkens gesprochen (273). 43 Dass Thomas von Aquin zu diesen Aufständischen gehört, steht wohl außer Zweifel. Freilich: Ohne den heideggerschen Prokrustes hätte man ihn als einen solchen wohl kaum entdecken können! 37 38 39 40 41 42 43
STh I, 3 prol. Siehe dazu: Pöltner 1999. Müller 1964, 271 f. Müller 1964, 272. Müller 1964, 272. Müller 1964, 272. Müller 1964, 273.
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Zur Auslegung von Texten mittelalterlicher Philosophen und Theologen
Literatur Heidegger wird nach der Gesamtausgabe seiner Werke (GA, Frankfurt 1977 ff.) mit Angabe der Band und Seitenzahl zitiert. Baier, Karl, Heidegger und das Mittelalter, in: Vetter, Helmuth (Hg.), Heidegger und das Mittelalter, Frankfurt 1999, 13–40 (zit.: Baier 1999). Herrmann, Friedrich-Wilhelm v., Hermeneutische Phänomenologie des Daseins und christliche Theologie, in: Becht, Michael/Walter, Peter (Hg.), Zusammenklang, Freiburg u. a. 2009, 296–307 (zit.: v. Herrmann 2009) Müller, Max, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, 3. Aufl. Heidelberg 1964 (zit.: Müller 1964). Pöltner, Günther, Martin Heideggers Kritik am Begriff der creatio, in: Vetter, Helmuth (Hg.), Heidegger und das Mittelalter, Frankfurt 1999, 61–80 (zit.: Pöltner 1999). Vetter, Helmuth, ›Die Theologie ehren wir, indem wir von ihr schweigen.‹ Zur Seins- und Gottesfrage im Ausgang von Heideggers Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie, in: Schmetterer Eva/Faber Roland/Mantler, Nicole (Hg.),Variationen zur Schöpfung, Innsbruck/Wien, 1995, 65–80 (zit.: Vetter 1995). Vetter, Helmuth (Hg.), Heidegger und das Mittelalter, Frankfurt 1999 (zit.: Vetter (Hg.) 1999). Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl, Zu Heideggers Verständnis des Seins bei Johannes Duns Scotus und im Skotismus sowie Thomismus und bei Thomas von Aquin, in: Vetter, Helmuth (Hg.), Heidegger und das Mittelalter, Frankfurt 1999, 41–59 (zit.: Wucherer-Huldenfeld 1999).
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Hansjörg Reck
Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von Martin Heidegger und Medard Boss
I.
Entstehung, Anliegen und Sinn der Zollikoner Seminare
Die Zollikoner Seminare 1 entstanden vor 56 Jahren aus einem gemeinsamen Interesse des Arztes Medard Boss und des Philosophen Martin Heidegger, dem ärztlichen Beruf, insbesondere der Psychotherapie, über ein naturwissenschaftliches Verständnis hinaus, eine Grundlage zu geben, die dem Menschen in seinem Menschsein gerecht würde. Das führte Boss zur Lektüre von Sein und Zeit 2. Heidegger sah seinerseits gerade im ärztlichen Bereich der Naturwissenschaften richtungsweisende Phänomene, die sich aber dem dort gewohnten, messenden Zugang versperrten. In einer Offenheit für die daraus sich ergebenden Fragen mochte er jedoch die Möglichkeit für ein daseinsanalytisches Verständnis des Arztes geahnt haben. So ließ er sich für die über zehn Jahre gehenden Seminare gewinnen, die protokolliert wurden, seither mit ihren neuen Denkansätzen im Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Anleitung in der Ausbildung zum Daseinsanalytiker gelten und 1987 veröffentlicht wurden.Es geht darin um Grundsätzliches in der Geschichte von Wissenschaft und Philosophie, deren unterschiedliche Methoden, um Fragen des »In-der-Welt-seins« des Menschen und um Beiträge zur Verbesserung der Krankheitslehre über bloße Funktionsstörungen hinaus. Zuvor schon hatte sich L. Binswanger mit einem ähnlichen Anliegen für Heideggers Einsichten in Sein und Zeit interessiert, jedoch noch nicht erkannt, dass »der alles bestimmende Entwurf des Menschseins als Dasein im ekstatischen Sinne ein ontologischer ist, durch den die Vorstellung des Menschseins als ›Subjektivität des Bewußtseins‹ überwunden wird« (151). Heidegger, M., Zollikoner Seminare, herausgegeben von Medard Boss, Klostermann, Frankfurt/M. 1987, Seitenzahl der daraus angeführten Zitate: laufend im Text. 2 Heidegger, M.: Sein und Zeit (S.u.Z.), GA. Bd. 2, Klostermann, Frankfurt/M. 1977. 1
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Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von M. Heidegger und M. Boss
Die Zollikoner Seminare, aus denen ich zitiere, sind kein Buch mit Lehrsätzen und Formeln, sondern mit den Teilnehmern erarbeitete Gedanken, die allerdings einem strengen Ordnungsprinzip folgen und zum weiteren Denken anregen sollten. So wie man zwar Sein und Zeit »als Anthropologie und als eine Art existenzieller Ethik …« benützen kann, dabei jedoch »alles Entscheidende übersehen würde«, nämlich »die Frage nach der Wahrheit des Seins« (Heidegger 3) so würde man die Zollikoner Seminare als daseinsanalytisch-philosophische Anweisung für den Therapeuten missverstehen. Denn wie v. Herrmann 4 dazu schreibt, »geben sie nicht etwa eine Einführung in die verschiedenen Kapitel und Analysen von Sein und Zeit, sondern möchten jene Denkweise einüben, in der sich das Menschsein des Menschen als Da- sein, [d. h. »In-der-Welt-sein«] zeigt«. Sie greifen Gedanken aus Sein und Zeit auf, berücksichtigen aber auch das seinsgeschichtliche Denken Martin Heideggers. Heidegger wendet sich gegen eine »an allen Ecken und Enden« dogmatische Wissenschaft und stellt einerseits fest, es sei »die höchste Not, daß es denkende Ärzte gibt, die nicht gesonnen sind, den wissenschaftlichen Technikern das Feld zu räumen« (134). Andererseits bemerkt er in einem der inzwischen fortgeschrittenen Seminare: »Sie werden gemerkt haben, daß ich Sie nicht zu Philosophen machen, sondern Sie nur achtsam werden lassen möchte auf das, was den Menschen unumgänglich angeht und was ihm doch nicht ohne weiteres zugänglich ist« (147). Die Daseinsanalyse muss heute mit ihrer Zugangsweise gegen den vorherrschenden Mainstream in Forschung und therapeutischen Techniken schwimmen, deren Methode seit Descartes’ »ego cogito sum« »nichts anderes als die Sicherstellung der Berechenbarkeit der Natur ist« (136 f.). Die Seminare können aber als Dokument eines gemeinsamen Bemühens von Boss und Heidegger verstanden werden, zusammen mit den Seminarteilnehmern ein phänomenologisch-hermeneutisches Denken in der Therapie aufkommen zu lassen. Sie sind auch ein Dokument einer Freundschaft. In ihr lernte Boss Heidegger nicht nur persönlich »mit seinen grundlegend neuen, unerhörten Einsichten in das menschliche Existieren und seine Welt« kennen, sondern Heidegger, M.: Besinnung, GA, Bd. 66, 144. v. Herrmann, F.-W.: M. Boss und die Zollikoner Seminare, DASEINSANALYSE 20, 2004.
3 4
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Hansjörg Reck
auch als einen vom Vorwurf eines »Nazi-Mannes« »am gründlichsten verleumdeten«, integren Menschen (VIII f.).
II.
Aktualität
Ich möchte im Hinblick auf das hier zu behandelnde therapeutische Anliegen nicht weiter auf die Debatte um das Erscheinen der Schwarzen Hefte eingehen, die Boss noch nicht kannte, die ihn aber vermutlich weniger irritiert hätten. Es fragt sich nur, wie weit es die vermeintlich antisemitisch, nationalsozialistischen Spuren selbst in diesen Heften sind, die Anstoß erregen, und wie weit damit der alte Vorwurf einer »Wissenschafts-, Gegenstands- und Begriffsfeindlichkeit«, die Heideggers Daseinsanalytik anhafte, wieder neue Nahrung bekommen hat. Heidegger weist diesen Vorwurf – auch in den Zollikoner Seminaren – mit der Bemerkung zurück: Er wehre sich »nicht gegen die Wissenschaft als Wissenschaft, sondern nur gegen die Verabsolutierung [einer] Naturwissenschaft« (160), in der die Natur auf ihre Gesetzmäßigkeit hin vorgestellt, vergegenständlicht und berechnet, ein weiteres Denken aber ausgeschlossen wird. Es gelte zu sehen, »was in der neuzeitlichen Wissenschaft vorgeht« (154) und in welchem Geschick wir dadurch heute stehen: Die Natur wird im Experiment als Gegenstand mit einer im Vorhinein bestimmten Theorie (Hypothese) befragt, diese wird verifiziert oder falsifiziert (166). Damit ist sie nicht mehr so, wie sie von sich her den Menschen anspricht, sondern Objekt seiner Beherrschung und Berechnung (165,168). Über Wahrheit, verstanden als Richtigkeit, entscheidet die Messbarkeit der Dinge. Demgegenüber gibt Heidegger zunächst zu bedenken, dass »das Entscheidende einer Wissenschaft« sei, ihrer Sache zu entsprechen; dass ihre Methode dieser angemessen sei. (173) Es gebe aber Sachen im Denken, wo eindeutige Begriff und Beweise »nicht nur versagen, sondern gar nicht hingehören«, die vielmehr »nur« ein Gewahr-werden verlangen (172). Sachen, die ihrer Natur nach der Berechenbarkeit widerstreben, die mit der Methode der exakten Wissenschaften, wie der Physik, zu messen unsachlich wäre (173). Dazu aber gehören Phänomene wie Freude, Trauer, Schmerz.- Wie sind sie zu verstehen? Da es keine »lückenlose Erklärbarkeit« von Seele und Bewusstsein gibt, erfindet man »das Unbewusste«, womit jedoch, wie mit der Unterstellung einer »Psychodynamik«, der Natur der Dinge Gewalt an228 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von M. Heidegger und M. Boss
getan wird (233, 260). Entspräche dieser nicht eher eine Wissenschaft vom Menschen, die sein Wesen von einem Seins-verständnis her erfährt? Während die traditionelle Psychologie Seele und Verhalten vergegenständlicht (Freud spricht von einem »Apparat«), sieht die Daseinsanalyse Wesen und Bestimmung des Menschen in einer Offenständigkeit und einem Vernehmenkönnen von Anwesendem, sieht ihn als »Hüter der Lichtung des Seins« (24, 223). Während »Analyse« bei Sigmund Freud Zurückführung auf Elemente der Symptome in der Absicht ihrer kausalen Erklärung besagt (148), bedeutet »Analytik des Daseins« als ontologische bei Heidegger (150 f.) »kein Auflösen in Elemente«, sondern »die Artikulation der Einheit eines Strukturgefüges«, die Frage nach der »existenzialen Grundverfassung« des Daseins, dessen »Entwurf [ ] im ekstatischen Sinne«, dessen Bestimmungen im Bezug zum Sein überhaupt. »Daseinsanalyse« meint in S.u.Z. den ontischen Vollzug dieser Analytik; ontische Wissenschaft und ontologische Besinnung gehören aber zusammen. »Daseinsanalyse« als Therapie verlangt die Beachtung des »phänomenalen Gehalts« eines konkreten Phänomens wie der Liebe, bzw. Sorge, auf dem Hintergrund seines ontologischen Sinns (150, 161 ff.). Dessen Bedeutsamkeit zu verstehen setzt das »Ereignis« seines Erscheinens in einer »Lichtung«, in die der Mensch, wie Heidegger sagt, hinaus steht, voraus (223). Die Zollikoner Seminare gehen auf die Gründerzeiten und die damalige Aufbruchstimmung in der Psychotherapie zurück. Heute ist zu fragen, ob sie nur noch von historischem Interesse oder immer noch, ja heute erst recht, dann inwiefern, aktuell sind. Ihre Aktualität liegt zweifellos darin, sachliche Anstöße für das Denken der Therapeuten und eine Grundlegung daseinsgemäßer Psychotherapien zu geben. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob sie noch aktuell sind, sondern ob sie damals schon hinreichend rezipiert und angeeignet wurden, oder ob ihr Schatz erst recht zu heben wäre. Bei der Begegnung zwischen dem Philosophen und dem Arzt sowie den an therapeutischen Fragen interessierten Seminarteilnehmern ging es um eine Erweiterung der in der Medizin, besonders in der Psychiatrie und Psychotherapie unzureichenden wissenschaftlichen Grundlagen. Denn neben einer Genugtuung über die Fortschritte einer modernen Medizin drängten Mängel in ihr zur Besinnung und Verbesserung: Auf Seiten der Lernenden und deren Methoden, wie auf Seiten der Leidenden und deren Freiheitsbeschränkungen. Hierbei rückte immer wieder die Unterschiedlichkeit der Methode der Naturwissen229 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Hansjörg Reck
schaften und die einer hermeneutischen Phänomenologie, die Heidegger vertrat, ins Zentrum der Überlegungen. Bei ihr ging es darum, eine Gegebenheit wie Zeit oder Raum und ihre Bedeutung selbst sehen zu lassen und auf Rückschlüsse zu verzichten. Mit dem Verständnis des Menschen als in seiner Grundverfassung »Welt«-offenen und vernehmenden Da-seins, statt eines als »animal rationale« vergegenständlichenden Subjekts, kamen die großen, auch therapie-relevanten Themen wie Weltoffenheit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, das Miteinander-in-einer-gemeinsamen-Welt-sein, das Gestimmt-sein, Leiblich-, Geschichtlich- und Sterblich-sein als die Grundzüge dieses Daseins, seine Existenziale, zur Sprache. Ich selbst habe die Protokolle dieser Seminare in meiner Weiterbildung im Daseinsanalytischen Institut Zürich, später im eigenen Unterricht, besonders am Daseinsanalytischen Institut Wien, als zwar zunächst ungewohnte, dann aber geradezu revolutionäre Einsichten und gutes Lehrmittel für die »Einübung« dieses neuen Denkens kennen und schätzen gelernt. Konfrontiert mit der Frage eines jungen Therapeuten, was ihm in der heutigen Zeit Heideggers Denkansatz nützte, wäre zu antworten: den Menschen nicht nur mit seinen zu behebenden »Defekten«, sondern als vom Sein, d. h. von dem, was ist, gebraucht zu sehen.
III. Kranksein und Gesundsein Zu dem zentralen Thema »Krankheit und Gesundheit« sowie zum Alltag des Arztes stellt Heidegger fest: »Das Merkwürdige ist, daß sich Ihr ganzer ärztlicher Beruf im Bereich einer Negation im Sinne einer Privation bewegt«. Der Arzt fragt: »Was fehlt Ihnen«, worauf der Patient seine Beschwerden, also was er hat, mitteilt. »Privation« ist aber nicht nur negativ zu sehen. Sie weist als ein Nichtmehrsein, also eine Möglichkeit des Seins, d. h. als ontologisches Phänomen, immer auch auf die andere, der Intaktheit, denn: »Sofern Sie es mit der Krankheit zu tun haben, haben Sie es in Wahrheit mit der Gesundheit zu tun, im Sinne von fehlender und wieder zu gewinnender Gesundheit«. Weil »das Kranksein eine privative Weise des Existierens [ist], deshalb kann man auch das Wesen des Krankseins nicht ohne zureichende Bestimmung des Gesundseins angemessen fassen« (58 f.). Unsere Gesundheit ist uns wie unsere Freiheit und unsere Mög230 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von M. Heidegger und M. Boss
lichkeiten als unaufdringliches Geschenk mitgegeben, das wir in seiner Verborgenheit meist wenig beachten. 5 Hingegen drängt sich Krankheit auf als Fehlen von Gesundheit, die in einer Behandlung wieder erreicht werden will. Dabei ist »der Mensch wesensmäßig hilfebedürftig«, weil unvollkommen und immer in Gefahr, sich und seine Freiheit zu verlieren. »Jede Krankheit ist ein Verlust an Freiheit, eine Einschränkung der Lebensmöglichkeiten«. Unsere »Möglichkeiten im existenzialen Sinn sind [aber, wie deren Verlust] immer ein geschichtliches« Ereignis, also nicht nur einfach wieder herstellbar (202 f.). So ergibt sich evtl. die Konfrontation mit einem bleibenden Schaden: eine schmerzliche Erfahrung, die aber vielleicht nicht nur als Mangel zu verstehen ist, sondern auch als besondere Herausforderung zur Einsicht in das eigene Geschick. Freiheit bedeutet »Frei- und Offensein für einen Anspruch«. Dieser Anspruch ist abseits von einem Determinismus und Kausalgeschehen der Beweggrund, die Motivation, für ein Entsprechen (272). Auf ihn gilt es in einem therapeutischen Gespräch zu hören und zu antworten. Auch dem in seinen Weltbezügen Behinderten bleibt innerhalb seiner Möglichkeiten die Freiheit, sich für diese zu öffnen und von deren Sein in Anspruch nehmen zu lassen, dabei seine entsprechende Antwort zu finden. Heidegger geht von nächstliegenden, alltäglichen Erfahrungen mit unmittelbar Anwesendem und gewohnten Verhaltensweisen aus, die es zu verstehen gilt, um zu einem Verständnis von Kranksein wie Gesundsein zu kommen. Hinter einem Phänomen wird keine seelische Energie und Psychodynamik supponiert. Stattdessen ist der phänomenologisch-hermeneutische Blick auf das sich Zeigende selbst, Krankes wie Gesundes gerichtet (35 f., 233 f.): Das »Gedächtnis« beispielsweise ist nicht nur als ein Behälter zu sehen, sondern als Bezug eines ek-statischen Daseins im An-denken an Gewesenes als das noch Wesende, Gegenwart und Zukunft noch Bestimmende (53 f., 275 f.). »Vergessen« wird nicht als subjektive Handlung, sondern als etwas, das sich unserem In-der-Welt-sein entzogen und verborgen hat, also mit Zeitlich- und Räumlich-sein zu tun hat, verstanden (212). »Fehlleistungen« wie z. B. Versprechen sind kein unbewusstes Wollen, das hier unterstellt wird, sondern ein Beziehungsphänomen. In Vgl Gadamer, H.-G.: Über der Verborgenheit der Gesundheit, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993, 133 ff.
5
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der Erfahrung der »Angst« und des »nichts« taucht auch die Frage auf, ob ich der doppelten Inanspruchnahme durch einerseits Loslösung, Aufbruch, Wandlung, andererseits Durchhalten von Kontinuität und Identität gewachsen bin (256 f.). Bei einem heftigen Schmerz ist das »In-der-Welt-sein« bis auf die Intensität eines Reizes reduziert. Zu einem »Burnout« könnte es mit immer mehr Beanspruchungen in der Annahme von Gewinn und mit einem Vergessen von Entlastungen kommen (261 f.). Zu einer »Entlastungsdepression« und in seiner Weise belastendem Leere-gefühl z. B. nach der Pensionierung mit »dem Wegfall der Berufspflicht« (187). In einem psychotischen Weltverhältnis, z. B. in einer Halluzination, geht es nicht nur um die Unterscheidung von Wirklichem oder Unwirklichem, sondern um die Gebanntheit, d. h. Unfreiheit in dieser Wirklichkeit (196).
IV. Was ist die daseinsanalytische therapeutische Methode? Allem voran stellt Heidegger in seinen Zollikoner Seminaren das Vernehmenkönnen menschlichen Existierens. Bevor ich hierauf und auf die Existenziale wie Zeitlichkeit und Leiblichkeit des Menschen, die darin besonders ausführlich behandelt werden, zu sprechen komme, sei bemerkt, was in den Seminaren zur ärztlichen Behandlung, insbesondere zum psychotherapeutischen Vorgehen, gesagt ist: Es liegt nahe, vom Arzt Hilfe für eine bald- und bestmögliche Rückkehr zur früheren Intaktheit und Funktion zu erwarten. Doch auf welchem Wege? Nach Heidegger geht es »beim ärztlichen Helfenwollen […] nicht [nur] um das [wieder] Funktionieren eines Organismus, sondern um das Existieren« des Menschen. Daseinsmöglichkeiten sind »nicht Tendenzen oder Vermögen in einem Subjekt«. Sie ergeben sich »von ›draussen‹ her« aus dem Sich-verhalten-können zu Begegnendem (202 f.). Das Denken des Arztes und Psychotherapeuten sollte deshalb ein offenes, d. h. die Beschwerden des Patienten und ihre Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigendes, statt lediglich ein vergegenständlichendes, folgerndes und zuordnendes sein. Statt sich mit seinem Patienten in Seiendem zu verlieren, wäre gemeinsam zu erfahren, dass der Mensch von dessen Sein gebraucht wird, um diesem zu entsprechen. Mit der Notwendigkeit einer Therapie stellt sich zugleich die Frage nach der angemessenen und Erfolg versprechenden Methode. Die sich laufend verbessernden Mittel zur Behandlung verschiedener 232 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von M. Heidegger und M. Boss
Gebrechen möchte niemand missen. Hier nützt im Kampf gegen die Bedrohungen unserer Natur ein objektivierendes, rechnendes Denken. Obwohl nun auch das Verhalten des Menschen »Natur« ist, heißt das aber noch nicht, dass jedes Verhalten wie diese berechenbar ist. Die »Natur« ist es ja auch nicht immer und schon gar nicht insgesamt, sondern sie ist zugleich auf ein besinnliches Denken angewiesen. Eine kybernetische Wirklichkeitsauffassung, die den Menschen als Nachricht innerhalb eines Regelkreises (Wiener) sieht, gefährdete, ja zerstörte letztlich unser Menschsein (119, 160). Eine Psychotherapie, die den Menschen mit Körper und Geist vergegenständlicht, statt ihn in seiner Existenz zu sehen, führt nach Boss »nie zu einem gesünderen Menschen«, höchstens zu einem »polierten Gegenstand« (270).- Auch eine systemische Betrachtungsweise läuft Gefahr, zu vergegenständlichen. Und wenn schon der Druck berechnender Gesellschaftszwänge heute häufig in die Krankheit führte, ist hier von einer nur objektivierenden und messenden Therapie-Methode keine Heilung zu erwarten. Statt also an einem Objekt etwas bewirken zu wollen, sollte sich der Therapeut, wie der Supervisor, zurücknehmen, den zu behandelnden Menschen als solchen annehmen, mit dessen Problemen sein Wesen und offene Möglichkeiten zum Vorschein kommen lassen. Statt wie Freud mit der analytischen Grundregel der Offenheit hinter den Phänomenen nach einem Unbewussten zu fahnden, gelte es, »den Seins-charakter des Menschseins des rücksichtslos sich aussprechenden Menschen zu bestimmen«, dabei auf die sichtbar gewordenen wie die noch verborgenen Phänomene selbst als den Schlüssel von Diagnose und Therapie zu achten (282). Die Methode der hermeneutischen Phänomenologie, die der therapeutischen Daseinsanalyse zugrunde liegt, verlangt, ohne Schlüsse zu ziehen (80), »jedes Phänomen eigens in seinem Eigentümlichen sichtbar zu machen« (82); bei der Erörterung von Phänomenen, die sich im Verhältnis von Analysand und Analytiker zeigen, nicht pauschal unter ein Existenzial, wie unter eine Kategorie, unterzuordnen (162). »Was die Phänomene, das heißt das, was sich zeigt, von uns verlangen, ist nur, daß wir sie erblicken und nehmen, wie sie sich zeigen« (80). Das bewährt sich insbesondere auch für ein Verständnis der Traumrealität und deren Relevanz für das Wachsein, in dem sich unser »In-der-Welt-sein« kontinuierlich fortsetzt. Es geht darum, den gesunden wie den kranken Menschen im Lichte seines »Daseinsentwurfes« zu betrachtet, mit dem er einem 233 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Hansjörg Reck
»Zuwurf« entspricht. Weil das ungewohnt, deshalb schwer ist und eingeübt werden will, wird es umso ratsamer, sich als Therapeut in einer eigenen Analyse als Dasein zu erfahren (280 f.).
V. Im Hinblick auf die daseinsanalytische Praxis komme ich jetzt auf folgende Schwerpunkte der Seminarthemen: 1. Dasein als »In-derWelt-Sein«, 2. Mitsein und Gestimmtsein, 3. Zeitlichkeit, 4. Räumlichkeit und Leiblichkeit des Menschen, damit auf das Thema der Psychosomatik, zu sprechen:
1.
Dasein als »In-der-Welt-Sein«
Damit uns Seiendes zugängig wird, in seiner Bedeutsamkeit gehört und vernommen werden kann, muss »ein Offenes walten«, in dem Dinge erscheinen können: Nicht indem wir als Subjekt sie uns als Objekt vornehmen, sondern indem wir sie von sich aus anwesend sein lassen. Der Mensch ist für den Raum als Raum offen, wobei sein Sagen und Zeigen immer auch ein Freiraum-Schaffen und RaumEinnehmen ist (10 f., 231 f., 275). In seiner Offenheit und Freiheit kann das Dasein, anders als ein Gebrauchsding, das ihn Ansprechende als solches vernehmen (188, 272). »Big Data« eines Computers werden das niemals können. 6 Heidegger nennt »diese Offenheit, die ein mögliches Scheinenlassen und Zeigen gewährt«, wie gesagt, »die Lichtung«. 7 Um aber zu betonen, dass der Mensch in die Offenheit des Seins steht, bezeichnet er den Entwurf des »Menschseins« als »Da-sein oder In-der Weltsein« (3 f., 150 f., 157 f., 208). Er fragt nicht nur nach dem Sein des Seienden, sondern nach dem Sein als solchem, nach der Offenbarkeit von Sein und dem Sinn von Sein überhaupt (154). »Seele« als Gegenstand, gar kapselartiges Gebilde verstanden, übersieht die Offenheit des Da-seins, sein Offenstehen für das AnPadrutt, H., Gedanken zu Geschichte und Zukunft der Daseinsanalyse, Böhlau, Köln, 2003, S. 78. Niederer, A. Hilfe von Dr. Computer, NZZ Nr. 99, 56, v. 29. 04. 2016. 7 Heidegger, M., Zur Sache des Denkens, GA Bd. 14, S. 80. 6
234 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von M. Heidegger und M. Boss
wesende und damit das Vernehmenkönnen von Bedeutsamkeiten der menschlichen Existenz, sein »In-der-Welt-sein«, in einem ek-statischen Sinne. Statt in einem Bewusstsein, verstanden als Selbst- und Gegenstandsbewusstsein, besteht die Ethik des Daseins in einem »Aufenthalt in der Lichtung des Seins« (188); deshalb unterscheiden wir in einer Daseinsanalyse auch zwischen »Lichtung und Verbergung«, statt zwischen »Bewusstsein und Unbewusstsein« (227). Unser Vernehmenkönnen, Wollen, Entscheiden und Handeln ist von einer Wahlfreiheit bestimmt, offen, weder kausal noch determiniert (272). Damit hat auch jede Gesellschaft ihre Normen, Grenzen sowie »Freiheiten«. Diese können freilich ins Grenzenlose gehen, dabei seinsvergessen sich starrsinnig oder sorglos in zu besorgendes Seiendes verlieren, ja Opfer verstiegener Ideologien werden.
2.
Mitsein und Gestimmtsein
Der Mensch als Dasein ist kein für sich bestehendes Subjekt, sondern als In-der-Welt-Sein immer Mitsein: als Innestehen in der Lichtung des Seins erschlossen für das ihn angehende Begegnende (204). Heidegger weist darauf hin, dass in dem Satz von Sein und Zeit: »Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht« 8, »Sein« als »In-der-Welt-sein« zu verstehen ist, 9 was also die Unverborgenheit des Seienden und Mitsein mit einschließt. Der Satz ist somit keineswegs als Aufmunterung zu einer bloßen Eigensüchtigkeit, zu einem Solipsismus, zu verstehen. »Miteinander-sein« bedeutet auch nicht ein Einfühlen eines »Ichs« in ein anderes, kein Verhältnis zweier Subjekte, sondern »Miteinander-Sein« in einer gemeinsamen »Welt«, in der der andere als solcher schon verstanden ist (142 f., 207).- Das »Du« in einer mitmenschlichen Beziehung und das Verständnis der Gestimmtheit in ihr lassen sich nicht mit molekularbiologischen Verfahren und Hirnstrom-Messungen ergründen (243). Befindlichkeit ist auch nicht nur eine »Stimmung«, sondern ein Seins-bezug, fundiert in der Ausgesetztheit des Menschen, in seinem Weltbezug (182). Das Angesprochen-sein und Ent-sprechen als Grundwesen einer mitmensch-
8 9
Heidegger, M., S.u.Z., GA Bd. 2, § 41, S. 254. Vgl. Heidegger, M., Einleitung in die Philosophie, GA. Bd. 27, § 14.
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lichen Beziehung bekundet sich in Wort, Klang und Rhythmus einer Sprache und was sie damit sagen, mitteilen will. Die Art des Gesprächs, in dem die Sprache spricht, wird allerdings durch die Computersprache mit ihrem rechnenden Weltbezug heute verändert. Sowohl Beanspruchung wie Überbeanspruchung weisen auf das ek-statische Wesen des alltäglichen Daseins und setzen seine Ansprechbarkeit voraus (183). So ist schon das Lernen eines Kindes mit der Mutter keine »Introjektion«, sondern ein Teilen der gemeinsamen »Welt« (203 f.). So sind Schuldzuweisungen keine »Projektion«, sondern die Abwehr der eigenen Möglichkeit, böse und schuldig zu sein; so wird im Auftauchen altbekannter »Gefühle« in der Therapie keine bloße »Übertragung«, sondern eine Fixierung gesehen. Wollen und Wünschen sind, da sie ein »schon sein bei …« voraussetzen, niemals unbewusste Strebungen, sondern Vollzugsweisen eines »In-der-Welt-Seins«, begründet in der Sorge- Struktur. In ihr »als existenzialer Grundverfassung des Da-seins […] gründen auch alle ontischen Verhaltensweisen der Liebenden, wie der Hassenden« (237, 286). Ein Beweggrund (Motivation) ergibt sich aus einem vorbestehenden Bezug, ist kein »Trieb« (217). Die Erinnerung an eine Freundschaft bedeutet nicht, dass diese zwischenzeitlich ausgelöscht, sondern nur leiblich nicht gegenwärtig war (201). Wahrnehmungen sind nicht nur inner-psychische Vorkommnisse. So auch beispielsweise der unfreie Bezug eines Halluzinierenden, der dem Andrang eines ihn bedrohenden Anwesenden wehrlos ausgeliefert ist.
3.
Zeitlichkeit des Dasein
Bei den heutigen globalen Möglichkeiten der Kommunikation, aber auch in der Therapie, spielt die Uhrzeit, d. h. die gemessene Zeit, eine immer größere Rolle. Heidegger geht in den Zollikoner Seminaren wieder von der alltäglichen Erfahrung aus: Beim Rechnen mit der Zeit in ihren Dimensionen von heute, gestern und morgen hat das »Jetzt« und das »Wieviel« den Vorrang. Doch Zeit zu messen, zu bestimmen, zu nehmen oder zu verlieren ist nur möglich, weil sie uns gegeben ist, weil wir für etwas Zeit haben, weil wir existierend in der Zeit sind. Zeitcharaktere, wie Dauer, Deutsamkeit, Datiertheit und Öffentlichkeit, die beim Zeitzählen nicht beachtet werden, sind nicht machbar, sondern gehören zur Zeit selbst (43, 53, 56). Was aber ist die 236 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
Zur Aktualität der Zollikoner Seminare von M. Heidegger und M. Boss
Zeit selbst? Sie gilt als Horizont jedes Verständnisses von Sein. Und dieses als Anwesen bringt die Zeit mit ins Spiel (155 f.). Wie bestimmt dabei die Zeit den Menschen, so dass ihn »Sein« anspricht? Im Gegensatz zum mathematischen Zeitverständnis verzichtet eine phänomenologische Sicht auf jegliche Schlussfolgerung, verlangt vielmehr [ein] »Eigens-Sich-einlassen in ein Verhältnis zu Begegnendem, in dem wir uns schon aufhalten« und was sich dem Da-sein als »gewärtigende, gegenwärtigende, behaltende Zeitigung« zeigt (82 ff., 85, 142 f., 203). Die Lichtung von Zeit und Raum ermöglicht erst das »freie Spiel« unserer Gedanken, Sprache, Beziehungen und Freiheit. 10 So haben wir, wenn wir uns z. B. den Stephansdom vergegenwärtigen, nicht nur eine gedankliche »Vorstellung«, sondern sind dort bei diesem selbst, während wir gleichzeitig leibhaftig hier sind (87 ff.). Das bedarf keiner Beweise. Jedoch ist zeitliches wie räumliches »Anwesen« nicht ohne den Menschen, der offen dafür ist und sich davon angehen lässt, möglich (95 f.). So ist die Berechnung prähistorischer Funde ein indirektes, menschliches Schließen auf das damals Anwesende, in dem wir aber in der Lichtung des Seins auch Gewesen-sein erfahren können (220 f.). In diesem Anwesenlassen von Gewesenem und Hören auf dieses »kulturelle Erbe« können »Welten« in ihrer Bedeutung aufgehen, bekommen Geschichte, sowie die wahrheitsgemäß berichteten Geschichten unserer Patienten, ihren Ort und »Sinn«. Die Geschichtlichkeit des Daseins, seine Endlichkeit und Sterblichkeit müssen als Wesensbestimmung statt als Mangel, als Möglichkeit der Erfahrung von Sein wie von Nichts im Hinblick auf ein Seinsgeschick verstanden werden (230). Die Zusammengehörigkeit von Menschenwesen und Zeit wird natürlich auch in einem gestörten Zeitbezug, wie z. B. beim Phänomen der Langeweile, der Gedächtnisstörungen, der Schizophrenie (66 f., 95) deutlich. Ein solch privativer Zeitbezug wird aber nur von diesem »ursprünglichen Zeitverhältnis«, nicht von einer »gerechneten Zeit« her, verständlich (55).
Vgl. auch Safranski in »Zeit«, »Literarische Spielräume«, S. 201 f., 218, München 2015.
10
237 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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4. a.)
Leiblichkeit des Menschen, »Psychosomatik« Psychosomatik
In der Medizin gewinnt die Psychosomatik trotz ihrer notwendig anderen und ungewohnten Zugangsweise zunehmend an Aktualität. Atmungs-, Kreislauf-, Magen-Darm-, Haut- und andere psychosomatische Störungen werden in unserer Zeit immer häufiger, dabei entweder als »unstabiler Gleichgewichtszustand eines komplexen dynamischen Systems« (247) verstanden oder nach Art der Naturwissenschaft auf Messbarkeit reduziert, statt hier das »Menschsein«, d. h. das »Da-sein« in seinen Beziehungen, zu bedenken (100, 248 f.). So gesehen wäre aber bereits jedes Krankheitsgeschehen mehr als ein messbarer Einbruch in die Gesundheit. Es fragt sich zunächst immer, was Soma und was Psyche, wo der Übergang und wie das Verhältnis beider zueinander ist, was sich messen und was sich nur intuitiv erfassen lässt. Schmerzen, Stress, Burnout sind als solche nicht messbar. Stress als maßvolle Beanspruchung kann aufgrund unseres ekstatischen Weltbezugs lebenserhaltend, als grenzenlose Beanspruchung durch alles mögliche Seiende krankmachend sein (180 f., 183 f.). Schmerzen haben immer einen Bezug zu ihrem Auslöser. Phantomschmerzen z. B. gehen als Zeichen der ek-statischen Leiblichkeit über das bloße nicht mehr Vorhandensein eines Körperteils hinaus, verweisen als Privation auf dieses.
b.)
Körper und Leib
Ein vorhandener Körper ist in seinen Begrenzungen quantitativ bestimmbar. Unser Leib ist hingegen nicht nur vorhanden, sondern – sich einräumend – offen für Begegnendes und dessen Bedeutung, eksistierend. So sind seine Reichweite und Grenzen je nach dem dabei »geleibten Seins-horizont« qualitativ verschieden; bei einer Anorexie z. B. extrem eng (112 f.). Um sich dem »erstaunlichen Gedanken des Leibes« (Nietzsche) zu nähern (105), bedarf es der Überwindung der Subjekt-Objekt-Beziehung zu Gunsten eines leibenden »In-derWelt-seins«. Als ein Existenzial gehört »Leiben« zu diesem »In-derWelt-sein«, das primär Seinsverständnis, d. h. »ek-statisch entwerfendes Innestehen in der Lichtung des Da …« ist (236, 248). Zum sachlichen Verständnis der Leibphänomene führen daher keine Erklärungen, »Mechanismen« und »Kausalzusammenhänge«, sondern die 238 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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Einsicht in einen Motivationszusammenhang aus dem entsprochen, d. h. »geleibt« wird. Ihre Behandlung ist also nur nach zureichender Ausarbeitung der Grundzüge des existenzialen »In- der-Welt-seins« möglich (202, 233, 236, 244, 277). c.)
Alltagserfahrung
Heideggers Zugang zum Leib-Phänomen kommt zunächst wieder von der Alltagserfahrung her: indem er einzelne Phänomene sichtbar werden und als solche mit ihrer Verweisung stehen lässt, ohne sie auf etwas zurückzuführen (111). Leiblichkeit setzt Räumlichkeit des Daseins voraus. Dieses ek-sistiert näher oder ferner ausgerichtet, mit einem Nahsinn, handelnd, und einem Fernsinn, sehend und hörend. Natürlich sind die Funktionen unserer Sinnesorgane, die in den Bereich des Somatischen gehören, für Wahrnehmungen nötig. Doch ist zugleich das ein Menschsein auszeichnende Vernehmen- und SagenKönnen gefragt, das sich in seiner Wirklichkeit dem Dogma einer ubiquitären Messbarkeit widersetzt. Räumlich wie zeitlich »gelichtet« sind wir draußen bei den Dingen unserer Welt. Ohne diesen Freiraum wäre kein leibliches Anwesen möglich. Ganz der »Welt« und einer bestimmten Sache zugewandt, darin »mit Leib und Seele« aufgehend, »verschwinden« Hand, Augen und Ohren. Und in den schönsten Augenblicken unseres Daseins auch die Zeit. 11 Trotz der Entfernung des Freundes reichen wir von hier bis hin zu diesem. Er ist in der Vergegenwärtigung abwesend anwesend (105 f., 137 f.). Und wenn heute einer seiner Heimat beraubt auf der Flucht ist, da Leib und Leben bedroht sind, wird er dabei mit Möglichkeiten wie Grenzen konfrontiert, ein neues »Heim« und »Sprache« zu finden.Hören, Sprechen, Schreiben, Schweigen sind Weisen des Leibens, die zum freien Spielraum eines »In-der-Welt-seins« gehören (121 f.). Grund für die Notwendigkeit zu sprechen ist, dass der Mensch in der Offenbarkeit des Seins, d. h. der Unverborgenheit des Anwesenden steht, damit – wie auch immer (126) – etwas zu sagen hat. Auch die Sprache der Gebärden, die »Körpersprache«, ist keine bloße »Ausdrucksbewegung«, hinter der etwas zu suchen wäre, sondern ein durch das Leiben bestimmtes und durch die Beziehung zu Jemandem mehr oder weniger offenes »In-der-Welt-sein«. Z. B. das Vgl. Safranski, R., Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015, 229.
11
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Erröten: kein Ausdruck eines seelischen Zustandes, sondern im ekstatischen Sinne die Gebärde einer mitmenschlichen Beziehung, so wie Tränen, die sich nicht messen, nur ermessen lassen (111 f.). d.)
Fähigkeiten, die Organe ausbilden
Die Frage, »ist das Leib-sein als solches etwas Somatisches, oder Psychisches, oder keines von beiden«, hat für Heidegger »ihr Fatales«, 12 da weder bestimmt ist, was das Somatische noch das Psychische als solches ist. Die unterschiedliche Zugangsweise, die Methode, bestimmt sich »von der Seinsart des betreffenden Seienden her«, wie dieses von jener (103, 131 f.). Neurophysiologische und chemische Prozesse im Gehirn sind zwar eine Bedingung für das Phänomen »Gedächtnis«, aber nicht dieses selbst und seine Ursache (248 f.). Auf der Suche nach dem Verhältnis von Psyche und Soma forscht man intensiver denn je nach biologisch messbaren Korrelaten zu bestimmten seelischen Wahrnehmungen. Aus daseinsanalytischer Sicht ist aber Leiblichsein nur über ein Dasein im Sinn eines Existierens eines Weltoffenständigkeitsbereiches zu erfahren. Alle Leiblichkeit, »bis hin zur letzten Muskelfaser und zum verborgensten Hormonmolekül, gehört wesensmäßig in das Existieren […], ist also grundsätzlich nicht leblose Materie«, sondern Vernehmenkönnen von Bedeutsamkeiten (293). »Die grundlegende Philosophie aller psychosomatischen Medizin« ist die »Einsicht in das unmittelbare Entwachsen von allem unserem sogenannten materiellen Leiblichen aus den an sich nicht materiell faßbaren Vernehmens- und Verhaltensmöglichkeiten, aus denen unser Da-sein […] besteht« (296). Boss äußerte hier zwar die Befürchtung, dass seine »naturwissenschaftlich präparierten Kollegen« »über eine solche Sicht nur lachen werden«. Heidegger gab jedoch zu bedenken, dass »gerade dem Naturwissenschaftler die Umwandlung der Seinsart einer nicht-materiellen [ ] Verhaltensmöglichkeit in die von ›Leiblich-Materiellem‹ nicht mehr unvertraut sein« sollte, nachdem er von Einstein gelernt habe, »daß ›Energie‹ und ›Materie‹ sich restlos ineinander umwandeln lassen, also wesensmäßig dasselbe sind« (294). Wie Heidegger in »Die Grundbegriffe der Metaphysik« 13 ausführt, hat »nicht das Organ (nachträglich eingebaute) Fähigkeiten, sondern die Fähigkeit hat Or12 13
Vgl. Heidegger, M., Sein und Zeit, (S.u.Z.), GA, Bd. 2, 487. Heidegger, M., GA Bd. 29/30, Frankfurt/M. 1983, 324 f.
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gane, […] die in ihr aufgehen«. So sehen wir beispielsweise nicht nur deshalb, weil wir Augen haben, »vielmehr können wir [umgekehrt] nur Augen haben, weil wir … sehenden Wesens sind« (293). Das gilt für »die gesamte Leiblichkeit« und kann wohl auch im Falle von Erkrankungen angenommen werden: Eine dauerhafte Behinderung des Freiraums unserer Fähigkeiten kann organische Konsequenzen haben. Und, so könnte man auch fragen, wo bleiben die Fähigkeiten nach dem Tode eines Menschen? Sind sie wie seine Organe auch vergangen? Gehen sie unbenommen eines religiösen Glaubens wie diese wieder in den Kreislauf der Natur ein? Jedenfalls sind sie dann abwesend. Aber es schwingt noch etwas Geistiges, nicht Fassbares, nach, wie nach den verklungenen Tönen einer Sinfonie, wenn sie gehört wurden.
VI. Ertrag Die Früchte der Zollikoner Seminare wurden bereits an mehreren Orten geerntet; sie wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Sie fanden und finden in der Zeitschrift bzw. in dem seit 2000 erscheinenden Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie mit dem Titel DASEINSANALYSE als offiziellem Organ der Internationalen Vereinigung für Daseinsanalyse eine Fortsetzung. Ihre Aktualität ist umso offensichtlicher, als mit dem Fortschritt und der Faszination von der naturwissenschaftlich-technischen Medizin die Menschheit zwar einen Gewinn erzielt hat, damit aber die Gefahr einer einseitigen Sichtweise des Menschen größer, ein rettendes Innehalten und Einsicht, wie sie die Seminare bieten, noch dringlicher geworden sind. 14 Der Schatz der Zollikoner Seminare ist längst nicht ausreichend gehoben. Mit ihm könnte die Daseinsanalyse, der es um das Wesen des Menschen und seine Freiheit geht, vielleicht ein Ausufern sowohl einseitig biologischer als auch esoterisch orientierter Heilverfahren verhindern.
Vgl. Padrutt, H., Gedanken zu Geschichte und Zukunft der Daseinsanalyse unter besonderer Berücksichtigung der Zollikoner Seminare, in: Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie – Heidegger im Dialog mit Medard Boss, Böhlau, Köln 2003, 72 f.
14
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Hansjörg Reck
Literatur Boss, Medard (Hg.): Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Klostermann, Frankfurt/M. 1987. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es (»seelischer Apparat«), in: Studienausgabe, Band 3, S. 52, 273 ff., Band 11, S. 285 f., Fischer, Frankfurt/M. 1975. Gadamer, Hans-Georg: Über die Verborgenheit der Gesundheit, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993. Heidegger, Martin: Zollikoner Seminare, Klostermann, Frankfurt/M. 1987. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, GA, Band 2, Klostermann, Frankfurt/M. 1987. Heidegger, Martin: Besinnung, GA, Band 66, Klostermann, Frankfurt/M. 1997. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA, Band 29/30, Klostermann, Frankfurt/M. 1983. Heidegger, Martin: Zur Sache des Denkens, GA, Band 14, Klostermann, Frankfurt/M. 2007. Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie, GA, Band 27, Klostermann, Frankfurt/M. 1996. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von: Medard Boss und die Zollikoner Seminare, DASEINSANALYSE, 20, Wien 2004. Niederer, Alan: Hilfe von Dr. Computer, in: NZZ Nr. 99, p. 56, vom 29. 04. 2016. Padrutt, Hanspeter: Gedanken zu Geschichte und Zukunft der Daseinsanalyse, in: Collegium Hermeneuticum 9, Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie, Heidegger im Dialog mit Medard Boss, Böhlau, Köln 2003. Safranski, Rüdiger: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, Hanser, München 2015.
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Blick – Allmacht – Wink Zur Gottesfrage bei M. Heidegger
Der letzte Abschnitt des sog. »zweiten Hauptwerks« Heideggers nach Sein und Zeit (1927), der Beiträge zur Philosophie (1936–38), trägt den Titel: »Der letzte Gott« und den Untertitel: »Der ganz Andere gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen« 1. Der »letzte Gott« ist also ein »ganz Anderer« als alle gewesenen Götter, genauer: »gegen alle gewesenen Götter«, »zumal gegen den christlichen [Gott]«. Wenn man ungefähr versteht, welchen Gott Heidegger mit dem »christlichen Gott« meint, so fragt man sich, welche Götter er mit den »gewesenen Götter[n]« im Auge hat. Da der »letzte Gott« – gemäß Heidegger – der einzig noch mögliche Gott inmitten der gegenwärtigen Herrschaft der Machenschaft ist, mit dieser aber die abendländische Seinsgeschichte zu Ende geht, so werden – ebenso wie der letzte Gott – auch die »gewesenen Götter« der Dimension der abendländischen Seinsgeschichte angehören. Es werden Götter der abendländischen Seinsgeschichte sein. Um welche Götter also handelt es sich? Welches ist ihr Wesen? Das gilt es vorweg im Umriss anzuzeigen. Nun wird im Lehrgedicht des Parmenides der junge Denker bei seiner Ausfahrt in die anfängliche Lichtung des Seins von einer Göttin empfangen. So heißt es im Prooimion: »Und die Göttin, θέα, empfing mich freundlich« 2. Das griechische Wort θέα meint zuBeiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Martin Heidegger Gesamtausgabe [= GA], Band 65, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1989, S. 403. Im Nachwort nennt der Herausgeber die Beiträge zur Philosophie ein »weiteres Hauptwerk«, das »nach der ersten, der fundamentalontologischen Ansetzung der Seinsfrage« in Sein und Zeit »den ersten umfassenden Versuch einer zweiten, der seynsgeschichtlichen […] Ansetzung und Ausarbeitung derselben Frage« enthalte (S. 511). 2 καì με θεὰ πρόφρων ὑπεδέξατο […]. Fragment I, Vers 22. Die von uns zitierte Übersetzung stammt von Uvo Hölscher. In: Parmenides. Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, griechisch und deutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Uvo Hölscher, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1969, S. 13. Heidegger übersetzt: 1
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Ingeborg Schüßler
nächst den »Blick«, der uns anblickt, wie ja auch das Wort »Theater« ursprünglich die Darstellung des Dargestellten in seinen Anblicken meint. Das Wesen der frühgriechischen, vorplatonischen Götter beruht also im Blick. Sie sind, wie Heidegger in seiner Vorlesung zu Parmenides darlegt, die in das Offene des Seienden Herein-blickenden 3. Aber auch die Ideen Platons, die diesem gemäß göttlichen Wesens (θεῖον) sind 4, sind immer noch, wie ihr Name bezeugt, die Blickenden, – meint doch das Wort ἰδέα ebenso wie das Wort εἶδος (beide zu ἰδεῖν, »erblicken«) ursprünglich den »Anblick« und »Blick«, dem unser Blicken entspricht 5. Dann wären die vorplatonischen griechischen Götter die Blickenden und Platons höchste Idee, die ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ, wäre der strahlendste Blickgott, in dem sich ihre Reihe vollenden würde. Aus diesem aber wird zunächst – wie zu zeigen ist – der Gott der ontologischen Metaphysik in Gestalt der höchsten entitas (οὐσία) und des höchsten Grundes (ἀρχή) des Seienden als solchen hervorgehen, aus welchem wiederum – durch seine Synthese mit dem alttestamentlichen Schöpfergott 6 – der »christliche Gott« als der allmächtige Schöpfergott entstehen wird 7. Und von allen diesen Göttern würde sich der »letzte Gott« unterscheiden, »gegen« sie »der ganz Andere« sein, »zumal gegen« den metaphysischchristlichen Schöpfergott. In der Tat ist der »letzte Gott« – gemäß »Und mich nahm die Göttin zugeneigten Sinnes auf […].« In: Parmenides, Freiburger Vorlesung, Wintersemester 1942/43. Hrsg. von Manfred S. Frings, GA 54, 1982, S. 6. 3 Vgl. GA 54, S. 161–165. θέα gehört zu θεάομαι, »ich erblicke« bzw. zur (ungebräuchlichen) Infinitivform: θεᾶν »blicken«. Die Götter sind die θεάοντες, die in das Offene des Seienden »Herein-Blickenden«. Und sie sind die δαιμόνες (vgl. Parmenides, Fragment I, Vers 3 und Fragment 12, Vers 3). δαίμων gehört zu δαίω, »ich teile, teile aus, teile zu«. Die Götter sind die δαίοντες, die sich in das Offene des Seienden »Herein-gebenden« (GA 54, S. 165) bzw. »die in das Geheure sich darweisenden Ungeheuren« (S. 161). Beide Grundzüge ergeben sich gemäß Heidegger daraus, dass die griechischen Götter im Unterschied zu allen anderen Göttern (auch dem christlichen) der Wesung des Seins (φύσις) entstammen (GA 54, S. 163 sq). Daraus ergibt sich noch eine Reihe weiterer Bestimmungen der griechischen Götter (vgl. GA 54, S. 161–65). Aber ihr wesentlicher Grundzug besteht doch darin, die Hereinblickenden zu sein. Vgl. dazu auch Der Spruch des Anaximander, Manuskript einer nicht vorgetragenen Vorlesung, geschrieben vermutlich Sommer/Herbst 1942, hrsg. von Ingeborg Schüßler, GA 78, 2010, S. 77. 4 z. B. Phaidon, 80 a 10; Politeia, VI, 500 e 3. 5 Vgl. GA 54, S. 154. 6 Mose I, 1 (Genesis). 7 Zur Abfolge der Götter, vgl. Heideggers Bemerkung in Zum Ereignis-Denken, hrsg. von Peter Trawny, GA 73.1, 2013, S. 819.
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Blick – Allmacht – Wink
Heidegger – weder der Blickende noch der höchste Grund des Seienden, noch der Allmächtige, sondern der Winkende. Wie Heidegger sagt: »Seine Wesung hat er im Wink« 8. Wie kommt es gemäß Heidegger zu diesem Wesenswandel der Götter? Um ihn zu verstehen, gilt es zunächst, an die Grundfrage Heideggers zu erinnern. Diese ist seit Anfang der dreißiger Jahre die Frage nach der »Wesung des Seins«, d. h. die Frage, wie das Sein dessen, was ist, in das Offene seines Wesens gelangt. Diese Frage ist nicht Gegenstand abstrakter Spekulation, sondern sie geht uns heute inmitten des beeindruckenden Fortschritts von Wissenschaft und Technik an, – bringt doch dieser Fortschritt merkwürdigerweise zugleich eine zunehmende Wesens-Verödung alles dessen, was ist, mit sich. Wie also kommt das Sein in das Offene seines Wesens? Heidegger hat versucht, diese Frage auf mannigfache Weise zu beantworten. Aber diese mannigfachen Versuche zentrieren in einem Grundgedanken, den er bereits in seiner Freiburger Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« (1929) vorgetragen und sodann immer wieder vertiefend abgewandelt hat. Diesen Grundgedanken, der bis heute in der Öffentlichkeit nicht angekommen ist, hat er in der bekannten Formel vom »nichtenden Nichts« gefasst 9. Was meint diese? Hier sei nur kurz an den wesentlichen Sinn derselben erinnert. Das Sein ist kein Seiendes: es ist nicht ein Seiendes und insofern Nichts. Aber dieses Nichts ist kein nichtiges Nichts, sondern es ist eben »nichtendes« Nichts. Es hat sein Wesen im »Nichten«. Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, das Verb »nichten« in Analogie zum Verb »bieten« und dessen Wortfeld zu verstehen 10. Das Sein west, GA 65, Nr. 256, S. 409. »Was ist Metaphysik?« in: Wegmarken, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 9, 1976, S. 103–122; insbes. S. 114. Noch in seinem späten »Seminar in Le Thor 1969«, in dem er seinen Denkweg nachzeichnet, verweist Heidegger auf das »nichtende Nichts« als wesentlichen Grundgedanken. In: Seminare, hrsg. von Curd Ochwadt, GA 15, 1986, S. 326–370, insbes. S. 361. 10 Wir verdanken den Hinweis auf die Analogie von »nichten« und »bieten« dem Kölner Philosophen Karl-Heinz Volkmann-Schluck (1914–1981), der sie in seiner im Wintersemester 1975/76 an der Universität zu Köln gehaltenen Vorlesung: Die Seinsfrage im postmetaphysischen Denken. Die Philosophie Martin Heideggers vorgetragen hat. Diese wurde aus dem Nachlass herausgegeben unter dem Titel: Die Philosophie Martin Heideggers. Eine Einführung in sein Denken. Hrsg. von Bernd Heimbüchel. Königshausen & Neumann, Würzburg 1996. (Zur Analogie von »nichten« und »bieten«, vgl. § 12. »Die postmetaphysische Bestimmung von Sein und Nichts«, insbes. S. 110). 8 9
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indem es »nichtend«, d. h. gleichsam ver-bietend ist. Es west als Verbietendes, als Ab-weisendes. Es weist von sich selbst ab, – hat es doch sein Wesen im Entzug seiner selbst, so dass es stets den Zugriff auf sich verbietet und von sich abweist: es ist ab-weisend – in jeder Hinsicht (so wie ja auch der Tod, wenn er in unser menschliches Dasein hineinsteht, ein Phänomen ist, das sich entzieht und abweisend ist). Aber das Sein weist – wenn es als das sich Ent-ziehende und Abweisende in Wesen kommt – nicht nur von sich selbst ab, sondern es weist zugleich das Seiende in seiner tagtäglichen Vordringlichkeit ab: es lässt es in die Gleichgültigkeit versinken. In allem diesem ist das Sein, sofern es ins Wesen kommt, zunächst nichtend in »negativem« Sinne: es ist ver-bietend, ab-weisend. Aber indem es das Seiende im Ganzen in seiner Vordringlichkeit ab-weist und in die Gleichgültigkeit versinken lässt, macht es doch zugleich so etwas wie ein Offenes bzw. eine offene Weite frei, ja lässt diese Offenheit eigens wesen, dergestalt dass es – im steten Entzug seiner selbst – sich nunmehr selbst in diese Offenheit freigibt und sich selbst als Wesendes und Wesentliches inmitten des Seienden im Ganzen gewährt. Dann ist es nichtend in »positivem« Sinne: es »bietet sich« selbst, d. h. gibt sich in sein Wesen frei (sowie ja auch der Tod, wenn er in unserem Da-sein aufsteigt, Blick und Horizont für das Wesentliche freigibt) 11. Das Sein west in der Weise des Nichtens, als ein sich Bieten im Verbieten, als sich Gewähren im Entzug 12. Von diesem Grundgedanken wurde HeiZum Sinn des Todes innerhalb der Lichtung von Sein, vgl. u. a. GA 78, § 15. b), S. 146–150. Hier stellt Heidegger die Frage: »Ist das Äußerste des Anwesens, das wir den Tod nennen, zugleich das Innerste aller Anwesung von Anwesendem?« (S. 148). Und in der Beilage deutet er an: »die höchste Weise der Einräumung des Seins: der Tod.« (Anhang II, Nr. 19, S. 310). Zum Verhältnis von nichtendem Nichts und Tod, vgl. auch unseren Aufsatz »Le dernier dieu et le délaissement de l’être selon les Apports à la philosophie de M. Heidegger«. In Études Heideggeriennes. Duncker & Humblot, Berlin. Première partie, in vol. 25 (2009), S. 49–78, insbes. S. 60 sqq. 12 Heidegger selbst hört das Verb »nichten« in Analogie zu den Verben »weisen« (in »Was ist Metaphysik?«, in GA 9, S. 114) und »wenden« (in »Seminar in Le Thor 1969«, in GA 15, S. 361) und deren Wortfeldern. Wie schon aus der Analogie mit dem Verb »bieten« hervorgeht, zeigt auch die Analogie mit diesen Verben, dass das Verb »nichten« eine doppelte – nämlich »negative« und »positive« – Bedeutung hat. Auch diese Verben enthalten in ihren Wortfeldern entsprechende positive und negative Formen: »weisen« – »ab-weisen«, »zu-weisen«; »wenden« – »ab-wenden«, »zuwenden«. Demgemäß hat das Verb »nichten«, sofern es 1) in Analogie zu »ver-bieten«, »ver-weisen«, »ab-wenden« und d. h. gleichsam als »ver-nichten« gehört wird, »negative« Bedeutung (es meint den Entzug, der verbietet und ab-weist). Sofern es 2) in Analogie zu »bieten«, »weisen«, »[zu-]wenden« gehört wird, hat es »positive« 11
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degger »umgetrieben«. Er ließ ihn nicht locker. Und er ist ihm überall auf der Spur gewesen. So hat er das in ihm gemeinte Grundphänomen auch in der φύσις, wie sie die frühen griechischen Denker und Dichter erfuhren, in gewisser Weise wiedererkannt. Diese aber bildet, ihm gemäß, den Anfang, die ἀρχή, der abendländischen Seinsgeschichte, der sie auf ihre Bahn gebracht hat und ihre Bahn bis heute bestimmt. Damit aber kommen wir zu unserer Frage, wie es innerhalb der Dimension der abendländischen Seinsgeschichte zu der dreifachen Grundgestalt des Göttlichen kommt: den griechischen Göttern als den Herein-blickenden, dem Gott der ontologischen Metaphysik als dem höchsten Grunde des Seienden als solchen sowie dem christlichen allmächtigen Schöpfergott, »gegen« welche alle – und »zumal« Bedeutung (es meint das Gewähren, das bietet und zu-wendet). Formell ergeben sich die folgenden Analogien: »ver-nichten« – nichten || ab-weisen – weisen || ab-wenden – [zu-]wenden. Wenn wir hier das »Nichten« als ein »sich Bieten« des Seins in seinem Wesen interpretieren, so beziehen wir in solches »Nichten« auch die nichtende Wesensweise der frühgriechischen φύσις mit ein, deren Nichten das freigebende Bieten des Seins als Her- und An-wesen ist. Wir nehmen hier also das »Nichten« in weiterem Sinne als es Heidegger in seiner Antrittsvorlesung nimmt. In dieser ist Heidegger nicht an der φύσις, sondern an den gegenwärtigen Wissenschaften orientiert. Diese kennen nur das vorhandene, greifbare Seiende, keineswegs aber das Sein selbst als das an sich haltende Heran- und An-wesen. Dieses ist vielmehr im abgründigen Sog der nihilistischen Verödung (als dem Grundgeschehen der abendländischen Seinsgeschichte) an das bloß vorhandene Seiende verfallen. Das Nichten (in seiner zweiten, »positiven« Bedeutung) ist dann ein »Weisen« in das Seiende in seinem bloßen Dass des Seins. Und das Sein selbst west dann als das soghaft ab-gründige Nichts (ja im absoluten Primat des Seienden gleichsam als totales »Nichts«). Daher eben die Formel vom »nichtenden Nichts« als Fassung der Wesensweise des Seins. Diese entspricht der Vorherrschaft der Wissenschaften, die von der Negativität des Seins selbst nichts wissen und auch nichts wissen wollen, obwohl diese doch seit der Dialektik eines Hegel und Marx (und auch im Neomarxismus) das abendländische Denken beunruhigt. Wie sehr das »nichtende Nichts« das Denken Heideggers auch nach der Antrittsvorlesung bestimmt, zeigt sich u. a. in der folgenden Aufzeichnung: »Es ist der härteste, aber auch untrüglichste Probierstein auf die denkerische Kraft und Ernsthaftigkeit eines Philosophen, ob er sogleich und von Grund aus im Sein des Seienden die Nähe des Nichts erfährt. Wem dies versagt bleibt, der steht endgültig und ohne Hoffnung außerhalb der Philosophie.« In »Überlegungen IV« (1934/35), Nr. 209, in Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931–1938), hrsg. von Peter Trawny, GA 94, 2014, S. 269. Und in den Beiträgen ist das »Nichten« das, was uns in die »Wahrheit«, d. i. die Weite der abgründigen Offenheit des Seins ent-rückt: »[Es gilt], das Nichtende im Seyn selbst, das uns eigentlich erst ins Seyn und seine Wahrheit entsetzt, als verborgenstes Geschenk zu erfahren.« (GA 65, Nr. 145, S. 267).
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den allmächtigen Schöpfergott – Heideggers Gott als der Winkende »der ganz Andere« sein wird. Wir können hier nur die wesentlichen Grundlinien vereinfachend nachzeichnen (um den möglichen Preis, sie zu überzeichnen). Heidegger erkennt also das Wesen des Seins als des »nichtenden Nichts« in gewisser Weise in der griechischen φύσις wieder, die – ihm gemäß – den bestimmenden Anfang der abendländischen Seinsgeschichte bildet. Welchen Wesens ist sie? Zum Wortfeld des Wortes φύσις gehören die griechischen Worte φῶς, »Licht«, »Helle«, »Glanz«; φαίνειν, »erscheinen«, »scheinen«, »glänzen«; φύειν, »wachsen« im Sinne von »Aufgehen ins Erscheinen« 13. Die φύσις ist der Aufgang des Seins dessen, was ist, in den Glanz seines Erscheinens. Solche φύσις ist im griechischen Anfang nicht auf einen begrenzten Bereich beschränkt, sondern sie betrifft das Ganze dessen, was ist. Alles, was ist, geht in den Glanz seines Erscheinens auf: das Meer und das Gebirge, Gewächs und Getier, Streitwagen und Rosse im Wettkampf der Athleten, Menschen und Götter im Wettkampf der Dichter 14. In solchem Aufgang waltet ein Übermaß an Offenbarkeit 15, an Helle, an Licht, an Glanz und Brillanz: die φύσις ist in sich selbst »poetisch«, nicht im eingeschränkten Sinne der »Poesie« als Dichtkunst, sondern im Sinne einer allwaltenden ποίησις, die das Sein alles dessen, was ist, eigens in den Glanz und die Pracht seines Erscheinens her-vor-bringt 16, – wie diese im übrigen noch bei Platon nachklingt, der die ποίησις bzw. das ποιεῖν als ἄγειν εἶς οὐσίαν, als »Hervor-führen [des Seienden] in [die] οὐσία, [sein] wesentliches Sein« definiert 17. Aber die Erfahrung solchen Aufgangs schließt im Heidegger beruft sich u. a. auf die philologische Forschung: »Neuerdings bringt man die Wurzel φυ- in den Zusammenhang mit φα-, φαίνεσθαι. Die φύσις wäre so das ins Licht Aufgehende, φύειν, leuchten, scheinen und deshalb erscheinen (vgl. Zeitschrift für vergl. Sprachforschung).« In: Einführung in die Metaphysik, Freiburger Vorlesung Sommersemester 1935. Hrsg. von Petra Jaeger, GA 40, 1983, S. 76. Zur griechischen Erfahrung der φύσις, vgl. auch S. 15–19 und S. 108. 14 Vgl. z. B. Pindars »V. Isthmische Ode« und Heideggers Interpretation der Verse 1– 18 in GA 78, S. 65–101. 15 Zum Übermaß des Aufgangs ins Erscheinen, vgl. »Seminar in Le Thor 1969«, in GA 15, S. 330–332. 16 Vgl. GA 78, S. 60 sqq, S. 289 und S. 323 (Anhang II, Nr. 39). Heidegger greift die in der φύσις waltende ποίησις wieder auf in »Die Frage nach der Technik« (1953), in Vorträge und Aufsätze, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 7, 2000, S. 5–36, insbes. S. 12 sq. 17 Sophistes, 219 b 4 sq. 13
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griechischen Anfang eine andere, ihr entgegengesetzte Erfahrung ein, in der eben das besagte Phänomen des »Nichtens«, des sich Gewährens im Entzug, ins Spiel kommt. Aller Aufgang in das Lichte des Erscheinens kommt aus einer tiefen Verbergung und geht auch immer wieder in diese zurück, – würde sich doch sonst die Möglichkeit des Aufgehens erschöpfen. Gleich einer Quelle, die nur aufquillt und ihre Wasser verschenkt, wenn sie zugleich in sich zurückquillt, ihre Wasser zurücknimmt, um sich in einen neuen Aufgang zu sammeln. Oder gleich einer Woge, die heranwogt und bis zu ihrem Gipfel aufwogt, so jedoch, dass sie zugleich in sich zurückwogt, um sich in ein neues Aufwogen zu sammeln 18. Die φύσις waltet, wie noch Aristoteles sagt, διχῶς, in »zwiefach strittiger Weise« 19: als Tag und als Nacht, als Sommer und Winter, als Geburt und Tod 20, als Feuersglut, die auflodernd auch immer schon in ihre Asche erlischt, um aus dieser erneut zu entflammen 21. Solche gegenwendigen ἐναντία sind innig geeint: sie sind – wie Heidegger es ausdrückt – ineinander »gewunden«. Und das Sein dessen, was ist, west ursprünglich im innigen »Gewinde« ihrer Einheit. Und das heißt: es weilt je nur für eine Zeit in übergängiger Weise im Offenen seines Erscheinens 22. Aber es ist doch im Übermaß gelichtet. Es west im Glanz seines Erscheinens. Es ist »poietisch«: es ist durch die ποίησις, als welche die φύσις selbst Ein Beispiel für das Geben im Nehmen ist auch das Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer: »Der römische Brunnen«, das Heidegger in seinem Kunstwerkaufsatz zitiert. In »Der Ursprung des Kunstwerkes« (1935/36), in Holzwege, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 5, 1977; S. 1–74, insbes. S. 23. 19 […] ἡ φύσις διχῶς λέγεται· καὶ γὰρ ἡ στέρησις εἶδός πώς ἐστιν (Physik II, 1; 193 b 18–20). Heidegger übersetzt: »[…] die φύσις wird zwiefach angesprochen; denn auch die Beraubung ist so etwas wie Aussehen«. In »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik Β, 1« (1939), in Wegmarken, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 9, 1976, S. 239–301, insbes. S. 294. Vgl. dazu auch Heideggers Auslegung S. 294–297. 20 Vgl. Heraklit, Fragment 67. In: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels. Hrsg. von Walther Kranz. 1. Band. 16. Auflage 1972, S. 67. Zum sammelnden Rückgang als Woher des Aufgangs, vgl. auch Sophokles, Aias, 666–677 (von Heidegger zitiert GA 78, Anhang II, Nr. 11; S. 305). 21 Im Anhalt an Heraklit, Fragment 30, Diels/Kranz I, S. 158. Vgl. auch Pindar: αἰθόμενον πῦρ, »entflammtes Feuer«, in: Olympia I, 1. 11 (S. 305). 22 Zum »Gewinde« von Aufgang und Untergang (γένεσις und φθορά) und zum übergängigen »Weilen«, vgl. GA 78, § 19. b) – c), S. 169–176. Zum übergängigen »Weilen«, vgl. auch Das Ereignis (1941/42), hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 71, 2009; Nr. 55, S. 37 und Nr. 58, S. 39. Ferner: Grundbegriffe, Freiburger Vorlesung Sommersemester 1941, hrsg. von Petra Jaeger, GA 51, 1981, S. 117 u. S. 120. 18
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waltet, eigens in die Pracht seiner selbst »her-vor-gebracht«. Solcher Glanz aber, solche Brillanz ist verfänglich – und verfängt in der Tat. Mit Heidegger gesagt: Das Wesen verfängt sich im Schein 23. Anstatt sich dem Untergang zu fügen, der doch – recht bedacht – die versammelnde Wesens-Quelle seines Aufganges ist, »ent-windet« sich das Sein dem anfänglichen »Gewinde« von Aufgang und Untergang 24, um sich – im »Aufspreizen« seiner selbst – in den bloßen Glanz und die Brillanz, in das »Poietische« als solches und das heißt am Ende in die bloße »Mache«, das bloß »Gemachte«, den bloßen »Effekt« zu verlegen 25. Und anstatt im Gewinde von Aufgang und Untergang übergängig zu weilen, »besteht« und versteift es sich darauf, die übergängige Präsenz seiner selbst zu »über-stehen« und über sie hinaus, ja am Ende in Ewigkeit zu bestehen 26. Im Übermaß seiner Lichtung west das Sein im griechischen Anfang bereits tendenziell in der Aufspreizung seiner selbst in die bloße »Mache« und »Gemachtheit« sowie in der sich versteifenden Beständigung seiner selbst in die bloße Beständigkeit. Absolute Selbstermächtigung und absolute Selbstbeständigung werden am Ende die Wesensfolgen des Übermaßes der anfänglichen Lichtung des Seins als φύσις sein. Aber es geschieht hier noch mehr. Sofern sich das gelichtete Sein
Vgl. »Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen« (Oktober 1931), in GA 94, S. 3–101; Nr. 214, S. 89; Nr. 218, S. 91. Und »Überlegungen IV« (1934 /35), in GA 94, S. 205–309; Nr. 51, S. 221. Ferner GA 71, Nr. 48, S. 52 sq. und Nr. 75, insbes. S. 56 (»Der Aufgang ist Anwesung. Zur Anwesung gehör[t] […] der Zauber (καλόν)«) und Nr. 98, S. 69. 24 Zur Entwindung, vgl. GA 78, § 19. d), S. 177 sq. und GA 71, Nr. 38, S. 28. 25 Gemäß der seinsgeschichtlichen Herleitung der »Machenschaft« aus der übermäßigen Lichtung des Seins als φύσις hört Heidegger das Wort »gemacht« vor allem im Sinne des »bloß Gemachten« bzw. der »Mache« (und nicht so sehr im Sinne von »verfertigt«). Vgl. GA 65, Nr. 109, S. 208: »[…] die ἰδέα [εἶδος] [ist] das Aussehen von etwas, das, als was sich etwas gibt und macht […]« (vgl. die Redewendung: »Das macht sich gut«). Das Wort »Mache« findet sich in der Abhandlung »Die Geschichte des Seyns«, die in dem denselben Titel tragenden Bande Die Geschichte des Seyns, hrsg. von Peter Trawny, GA 69, 1998, veröffentlicht ist: »Das Wort ›Machenschaft‹ hat […] einen wesensgeschichtlichen Bedeutungsbezug zur φύσις, sofern sie alsbald für eine Weise der ποίησις (Mache) im weitesten Sinne genommen wurde.« (Nr. 41, S. 46 sq). Und in der Abhandlung »Vom Wesen und Begriff der φύσις. Aristoteles. Physik B 1« stellt Heidegger die Überlegenheit der φύσις in Absetzung gegen die bloße »Mache« heraus (GA 9, insbes. S 290). 26 Zum sich Aufspreizen in den Schein und zum insistierenden Bestehen auf der eigenen Beständigkeit, vgl. GA 78, S. 176–178 und GA 71, Nr. 57, S. 38; Nr. 59, S. 40; Nr. 90, S. 66. 23
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dem Gewinde von Aufgang und Untergang zunehmend entwindet, sofern es sich selbst in den Glanz und die Mache aufspreizt sowie auf beständiger Präsenz seiner selbst besteht, geht es nicht nur zunehmend aus seinem Gewinde mit dem Untergang fort, sondern lässt in solchem Fortgang auch zunehmend die Dimension des Untergangs als solche außer Acht, welcher Untergang doch als sammelnder Rückgang die ursprüngliche Quelle seiner Wesung ist. Weit entfernt, sich der Dimension des sammelnd rückgänglichen Untergangs eigens zu öffnen, um sich in ihn als seine gewährende Wesensquelle zu gründen 27, begibt sich das Sein im Fortgang von ihm des gewährenden Wesens desselben, dergestalt, dass es sich gewissermaßen selbst um sein erfülltes Wesen bringt und so sich selbst verödet. Eine Selbstverödung des sich lichtenden aufgänglichen Seins geht mit seiner Entwindung aus dem Gewinde einher. Aber auch die Dimension des sammelnden Rückgangs wird dann auf ihre Weise zu solcher Wesensverödung beitragen. Denn beide Dimensionen – der Aufgang des Seins und der sammelnde Rückgang desselben – sind immer schon innig geeint, so dass sie sich in ihren je eigenen Tendenzen wechselseitig entsprechen. Je mehr also das aufgängliche Sein von seinem rückgänglich sammelnden Wesensgrunde fort-gehen bzw. von ihm »ab-kommen« 28 wird, desto mehr wird sich auch dieser von jenem ab-wenden, und das heißt: desto rückgänglicher, nehmender, entziehender wird er sein. Der sammelnde Rückgang – der doch eigentlich sammelnd ist, um den Aufgang des Seins zu gewähren – wird sich also vorrangig und zunehmend in das bloße Nehmen, das bloße Entziehen (das »Ab« als solches) verlegen. Demgemäß wird er seinerseits dem aufgänglichen Sein zunehmend das Wesen entziehen und es veröden, ja am Ende – in Entsprechung zum Gipfel des Aufgangs des Seins – als soghaft-verödender Ab-grund walten. Die Selbstverödung des gelichteten, sich aufspreizenden Seins und dessen verödender Wesensentzug durch seinen sich bis in den Ab-grund zurücknehmenden Wesensgrund gehen zusammen. Die Wesensverödung ist in sich zwiefachen Wesens 29. Vgl. GA 69, »Die Geschichte des Seyns«, Nr. 56, S. 62: »[Das Wesen des Seins] […] [musste] seit dem ersten Aufgang der Gründung seiner Wahrheit und damit des Wesens der Wahrheit entbehren. […]. Warum dieses Entbehren? Die Folge des Fortgangs aus der Überfülle des erstanfänglichen Anfangs […]«. 28 Zum Ausdruck »ab-kommen«, vgl. unsere Fußnote Nr. 32. 29 Zur »Wesensverödung«, vgl. GA 65, Nr. 51, insbes. S. 110: »In der Öde und Furchtbarkeit klingt etwas vom Wesen des Seins an.« Nr. 227, insbes S. 356: »[…] die 27
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Diese Wesensverödung geschieht nicht mit einem Schlag. Gemäß dem ursprünglichen innigen Gewinde von Aufgang und Untergang kann im strittigen Verhältnis solcher ἐναντία die »Entwindung« nur allmählich geschehen. Zwar ist – wie Heidegger in seinem »Das Ereignis« betitelten Manuskript notiert – die Entwindung grundsätzlich bereits damit geschehen, dass sich die Wesung des Seins in die φύσις, d. h. das Übermaß der Lichtung verlegt 30. Denn eben damit fängt das aufgängliche Sein auch schon an, sich aus seinem Gewinde mit dem Untergang zu lösen. Aber gemäß der innigen Einheit von Aufgang und Untergang west doch in solcher ersten und grundsätzlichen Entwindung zunächst das ursprüngliche Gewinde immer noch weiter, so jedoch, dass diese erste Entwindung auch schon »der Ursprung des Fortgangs« des Seins in den bloßen Aufgang ist 31. Aber erst solcher »Fort-gang« vollbringt die Entwindung und führt sie bis zu ihrem Ende. So ist der »Fort-gang« – gemäß der Beiträge – immer auch »Fortschritt« 32, und zwar nicht nur im bisher erläuterten Sinne des »Fort-schreitens« bzw. »Ab-kommens« des aufgänglichen Seins von seinem ursprünglichen Gewinde mit dem Rückgang, sondern auch im gewohnten Sinne des neuzeitlichen »Fortschritts«, der eben – von der φύσις her gedacht – ein Fortschritt des Seins in die bloße Mache und verfügbare Präsenz und d. h. in die Wesensverödung ist 33. Mit der anfänglichen Entwindung als dem Ursprung des »Fort-gangs« bzw. »Fortschritts« ist also das Sein dessen, was ist, geschichtlich auf die Bahn seiner sich immer weiter steigernden Lichtung gebracht. Diesen Geschichtsgang gilt es nun im besonderen Hinblick auf den Wesenswandel der Götter in Grundlinien nachzuzeichnen. Zunächst fragt sich, wie hier überhaupt das Göttliche hereinspielt. Denn es handelt sich ja bisher um ein bloßes Seinsgeschehen. Welchen Wesens ist das Göttliche, dass es hier ins Spiel kommen kann? Gemäß griechischer Erfahrung ist das Göttliche vor allem von Lage, in der wir uns finden [ist die] riesig[e] Leere und Verödung […], die Öde aber [ist] die verborgene Seinsverlassenheit.« Nr. 76, insbes. S. 157: »die gähnende Seinsverlassenheit des Seienden«. Nr. 66, insbes. S. 131: »Aushöhlung des Seienden«. Nr. 117, insbes. S. 228: »[das] Leere«, »[die] Verödung«. Ferner auch Nr. 34, insbes. S. 73; Nr. 57, insbes. S. 119 und Nr. 58, insbes. S. 123. 30 Vgl. GA 71, Nr. 38, S. 27 sq und Nr. 74, insbes. S. 56. 31 Ibid. Nr. 38, S. 27 sq. und Nr. 39, S. 28 sq. 32 GA 65, Nr. 87, insbes. S. 175: »Abkünfte und Fortschritte«. 33 GA 65, Nr. 56, insbes. S. 119 und Nr. 76, insbes. S. 156. Vgl. auch Nr. 59, S. 124.
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der Art der Gunst (χάρις), die sich unerwartet einstellen kann. Wenn z. B. im ersten Gesang der Ilias Achill im heftigen Streit mit Agamemnon zornesentbrannt bereits das Schwert zückt, um diesem den tödlichen Streich zu versetzen, und sich plötzlich besinnt und einhält, so ist das die göttliche Gunst der Athene, die hier einschreitet und ihn zurückhält 34. Solche göttliche Gunst ist aber immer auch dann im Spiel, wenn Lichtung von Sein in der Weise der φύσις geschieht, – geht doch der Aufgang des Seins aus dem versammelnden Rückgang hervor, welcher Rückgang stets auch bloßer Rückgang, d. h. bloße entziehende Rücknahme bleiben könnte, ohne sich in das Gewähren des Aufgangs des Seins (als eines auf uns zu- und her-an-wesenden Möglichen [δυνατόν] und schließlich An-wesenden [παρ-οὐσία]) umzuwenden 35. Wenn solcher Rückgang gleichwohl das Sein aufgehen und her- und an-wesen lässt, so ist das Gunst 36. So wäre jede Wesung des Seins in sich selbst schon göttlich. Und wenn sie ins Volle ihres Wesens kommt, dann ist das jeweils der Gott selbst. Wie also kommt das Göttliche bzw. der Gott in der Lichtung des Seins als φύσις ins Spiel? Welches ist die anfängliche Wesensgestalt der Götter und wie geht diese in der Entwindung zunehmend in die Wesensverödung fort? Wir können auch solchen »Fort-schritt« hier nur in Grundlinien nachzeichnen. Wenn seit dem griechischen Anfang das Sein dessen, was ist, sich in der Weise der φύσις und das heißt übermäßig lichtet, so bedeutet das, dass solches Sein nicht nur in das Offene seines Erscheinens aufgeht, sondern sich selbst in solchem Aufgang zunehmend in das Offene heraus-bringt, bis es selbst in seinem Wesen präsent ist. Dann zeigt es sich als εἶδος, dann blickt es uns offen in seinem Wesen an. Dann ist es offener Blick. Und solcher Blick ist göttlich, da er sich eben der Gunst des sich in den Aufgang kehrenden Rückganges verdankt. Im Anblick des εἶδος west göttliche Gunst. Und wenn es eigens im Vollen seines Wesens in das Offene heraustritt, dann blickt in Ilias I; 188–221. So gibt Heidegger zu bedenken: »Wie wenig wissen wir vom Rätsel und Wesen der Möglichkeit?« In »Überlegungen IV« (1934/53), GA 94, Nr. 196, insbes. S. 266. 36 In solchem Seinsgeschehnis kommen auch andere Züge des Göttlichen ins Spiel, die sich jedoch im Übermaß der Lichtung verdunkeln und sich erst wieder im winkenden Gott, wie Heidegger ihn denkt, zur Geltung bringen. Vgl. GA 54, insbes. S. 164 (wo als Züge des Göttlichen nicht nur ἡ χάρις, »die Gunst«, sondern auch τὸ δαιμόνιον, »das Ungeheure« und ἡ αἰδώς, »die Scheu« im Sinne des Scheuenden, Abschreckenden genannt sind). 34 35
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ihm ein Gott in das Offene des Seienden herein. Die Götter sind anfänglich – gemäß Heidegger – die »Herein-blickenden«, θεοί (im wörtlichen Sinne) 37. Es sind, so können wir sagen, »Blickgötter«. Dabei mag es sein, dass in der Helle ihres Blicks anfänglich noch der rückgänglich tiefe Grund, der solchen Blick jeweils auf-gehen lässt, dunkelnd mit erscheint. Aber im sich entwindenden Fort-schreiten des aufgänglichen Seins werden solche Blicke immer heller und strahlender und lassen den dunkelnden Grund, der noch in ihnen spielt, immer mehr zurück. Damit aber kommt bereits – wenn auch nur in vorläufiger Weise – das Verödungsgeschehen ins Spiel, das wir in seinen Grundzügen vorweggenommen haben. Wenn der jeweilige Blickgott zwar den Aufgang seines Wesens dem sammelnden Rückgang verdankt, so jedoch, dass er von diesem in den bloßen Aufgang fort-geht und ihn als seinen Wesensgrund außer Acht lässt, so bedeutet das, dass solch aufgänglicher Blickgott sich nicht nur gewissermaßen selbst um sein Wesen bringt, sondern dass nunmehr auch sein Wesensgrund – entsprechend solchem fort-gänglichen Aufgang – sich vorrangig in sein nehmend-entziehendes Wesen verlegt und seinerseits dem Gotte sein Wesen entzieht. Der Blick des Gottes verödet und wird zunehmend zum öden, leeren Blick, dergestalt dass solcher Blick – gemäß dem versteifenden Bestehen auf sich – schließlich nur noch als leeres Schema stehen bleibt. Der Gott als solcher bleibt aus: er ist ge-wesen, – d. h. nicht etwa einfach ins pure Nichts vergangen, sondern der rückgängliche, versammelnde Wesensgrund hat das Wesen des Gottes in sich zurückgenommen. Da dies aber in sich steigernder Weise immer erneut geschieht, so gehen die Götter untergänglich-aufgänglich in einer sich aufstaffelnden Reihe als immer blickendere, immer strahlendere Blickgötter hervor. Solches Geschehen findet offenbar in der höchsten Idee Platons, der ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ, seine Vollendung 38. Von der anfänglichen φύσις her gesehen, versammelt sich in dieser der Aufgang des Seins als des εἶδος in den hellsten, strahlendsten Blick des höchsten Gottes. Aber auch hier kommt das in sich zwiefache Verödungsgeschehen ins Spiel, ja sogar auf einen ersten Gipfel, so dass auch dieser Gott als Wesender ausbleibt und gewesen ist 39. Sein Blick verödet. Seine Gestalt bleibt am Ende nur als leeres Schema stehen. 37 38 39
Vgl. unsere Fußnoten Nr. 3 und Nr. 5. Zur ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ, vgl. Politeia, VI, 508 e-c. Dazu trägt auch die Auslegung der höchsten Idee als des ἀγαθόν (d. i. die »Ver-
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Damit aber ist ein Wesenswandel des Göttlichen verbunden. Dieser führt zunächst den Gott der ontologischen Metaphysik herbei, der dann seinerseits den allmächtigen christlichen Schöpfergott vorbereiten wird. Zunächst ist hier Grundsätzliches herauszustellen. Wenn das Sein gemäß dem Übermaß seiner Lichtung sich mehr und mehr in den Glanz, die Brillanz, den Schein, ja die Mache und den Effekt sowie die beständige Präsenz seiner selbst verlegt, und wenn damit zugleich – gemäß dem Fort-schritt aus dem Gewinde – die zwiefache Wesensverödung des Seins zusammengeht, so bedeutet das, grundsätzlich gesehen, dass solches Sein im Wesensschwund seiner selbst sich nicht länger rein in sich selbst als Wesendes zu halten vermag. Es verliert an Kraft und findet sich in seiner Wesung geschwächt. Wenn es bislang – innerhalb des Offenen seiner sich zunehmend lichtenden Offenheit – das primär und eigentlich Wesende war, so drängt nunmehr in dieser das – ebenfalls zunehmend wesenlose, schließlich bloß vorhandene – Seiende in den Vordergrund, während das Sein selbst in seiner Wesung zurücktritt. Ja, es sinkt – da in seinem Wesen geschwächt – am Ende zu einer bloßen Bestimmtheit des Seienden ab. Anstatt eigens aus seinem rückgänglichen Grunde als seiner Quelle zu wesen, bezieht es nunmehr seinen Bestand aus dem bloßen Seienden, an das es »verfallen« ist. Zugleich aber bleibt es das, was sich in den Glanz, die Brillanz, ja die Mache aufspreizt sowie auf beständiger Präsenz seiner selbst besteht. Das Sein dessen, was ist, sinkt – gemäß der Terminologie der traditionellen Ontologie – zur beständigen »Seiendheit« (οὐσία, entitas) des Seienden herab, deren Name bereits gemäß Heidegger das »Künstliche«, d. i. das Gemachte ihrer selbst verrät 40. Wenn also bei Platon das Sein dessen, was ist, im aufgänglich-rückgänglichen Wesensgeschehen der φύσις in den höchsten Glanz seines Erscheinens als εἶδος und ἰδέα aufgeht, ja sich in diesen aufspreizt und beständigt, und wenn gerade damit auch die in sich zwiefache Wesensverödung auf einen ersten Gipfel kommt, so bedeutet das eben, dass solches Sein – im sich Vordrängen des Seienden – am Ende zur bloßen Seimoralisierung« derselben) bei, die jedes Weiterfragen über sie hinaus zu erübrigen scheint und somit das Außer-Acht-Lassen der Wesensquelle besiegelt. Vgl. GA 65, Nr. 110, insbes. S. 211 und GA 71, Nr. 38, insbes. S. 28. 40 Heidegger weist selbst auf die »Künstlichkeit« des Namens »Seiendheit« hin. Dem entspricht, dass die »Seiendheit« – seinsgeschichtlich aus der Machenschaft gedacht – das Sein als ontische Bestimmtheit des Seienden im Modus der wesenlosen Gemachtheit ist. Vgl. GA 65, Nr. 68, insbes. S. 132.
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endheit desselben herabsinkt. Es wandelt sich in die Seiendheit (οὐσία, entitas) des Seienden. Es fragt sich, was dieser Wesenswandel impliziert. Von dem ursprünglich in sich selbst wesenden Sein her gesehen, ist das Sein als Seiendheit zwar nur noch so etwas wie eine bloße Eigenschaft, ein bloßes Attribut des Seienden, ja – wie Heidegger sagt – ein bloßer »Nachtrag« desselben 41. Aber vom Seienden selbst her betrachtet, ist solche Seiendheit doch die wesentliche Bestimmtheit des Seienden als solchen (τοῦ ὄντος ᾗ), die es vom Nicht-Seienden unterscheidet, ja sogar der bestimmende Grund (αἰτία), durch den es von diesem geschieden und so vor dem Nichts bewahrt ist. Auch ist ja gemäß ihrer Herkunft aus dem sich in die Beständigkeit aufspreizenden Sein bereits bei Platon die Seiendheit (οὐσία), d. i. die Idee das beständigste, das »immer« und »eigentlich Seiende« (τὸ ὂν ἀεί und τὸ ὂν ὄν) 42, das im Übertreffen seiner selbst als ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ die κυρία, die »Herrin« alles Seienden ist 43. Demgemäß ist bei Aristoteles die Seiendheit am Ende die ἀρχὴ τοῦ ὂντος ᾗ ὄντος, der »höchste Grund (principium) des Seienden als Seienden« 44. Die Frage nach dem Seienden als Seienden (ὂν ᾗ ὄν) sowie nach dem höchsten Grund (ἀρχή) desselben ist aber gemäß Aristoteles Aufgabe der πρώτη φιλοσοφία (prima philosophia), d. h. der ontologischen Metaphysik 45. Als Seiendheit und höchster Grund des Seienden als solchen ist das Sein fortan Sache der ontologischen Metaphysik. Aber auch in solcher Seiendheit ist zunächst immer noch die φύσις und mit ihr die Gunst des Göttlichen, wenngleich abgeschwächt, im Spiel. Demgemäß ist die Seiendheit als ἀρχή, als »höchster Grund« des Seienden
In »Das Seyn«, in GA 65, S. 421–510, insbes. Nr. 259, S. 425. Vgl. auch Beiträge, GA 65, Nr. 44, insbes. S. 93; Nr. 52, insbes. S. 111 sq; Nr. 86, insbes. S. 174 und Nr. 91, S. 183. 42 τὸ ὂν ἀεί, Timaios 27 d, 6 (vgl. auch Phaidon 78 c 13 sqq und Politeia X; 611 e 3). τὸ ὂν ὄντως, Phaidros, 249 c 5. 43 Politeia, VII; 517 c 3. 44 Vgl. Met. VI, 1; 1025 b 3 sq. 45 Met. VI, 1; 1026 a 24. Gemäß Heidegger ist die Frage nach dem »Seienden als Seienden« (ὂν ᾗ ὄν) bzw. nach dem »Grund« (ἀρχή) desselben die »Leitfrage« der Metaphysik, während die Frage nach der Wesung des Seins die »Grundfrage« des »nach-metaphysischen« Denkens ist (das die Ansätze des »vor-metaphysischen« Denkens aufnimmt und eigens entfaltet). Vgl. GA 65, Nr. 34, insbes. S. 75–77. Vgl. auch Nr. 2, insbes. S. 6; Nr. 85, insbes. S. 171; Nr. 91, insbes. S. 179; Nr. 110, insbes. S. 221 und Nr. 119, insbes. S. 232 sq. 41
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als solchen, nunmehr der Gott 46. Dieser Gott ist der Gott der ontologischen Metaphysik. Dieser unterscheidet sich offenbar von den gewesenen Göttern als den Herein-blickenden, in deren Blick der ursprüngliche Wesensgrund immer noch mit hinein dunkelte, auch wenn sie – im Übermaß der Lichtung – sich bereits dem Gewinde mit ihm entwandten, sich von ihm fort-wandten und ihn außer Acht ließen. Sofern nämlich der Gott der Metaphysik selbst der höchste Grund des Seienden ist, lässt er den ursprünglichen Wesensgrund nicht nur außer Acht, sondern er benimmt sich – da eben selbst der höchste Grund – im vorhinein die Möglichkeit, ihm überhaupt Achtung zukommen zu lassen, geschweige denn sich ihm eigens zu öffnen, ihn wesen zu lassen und sich selbst in ihn zu gründen. Mit dem Gott der ontologischen Metaphysik wird sich also die zwiefache Wesensverödung des Seins weiter steigern. Nun aber wird sich gerade dieser Gott – vermittelst seiner Synthese mit dem alttestamentlichen Schöpfergott – in den allmächtigen christlichen Schöpfergott verwandeln 47. Jedoch fragt sich, wie solche So schon bei Aristoteles. Vgl. Met. I, 2; 983 sq: ὁ θεὸς […] ἀρχή τις (»der Gott [ist] […] ein höchster Grund«). Dazu VI, 1; 1026 a 22 sqq und XII, 7; 1072 b 29 sq: »Das Göttliche« (τὸ θεῖον) bzw. »der Gott« (ὁ θεός) [ist die] οὐσία ἀκίνητος καὶ κεχωρισμένη τῶν αἰσθητῶν (die »unbewegte und vom Sinnlichen abgetrennte Seiendheit«). 47 Gemäß Heidegger bildet die ontologische Metaphysik in der Gestalt, wie sie sich bei Platon und Aristoteles ausgebildet hat, den »Rahmen und den Begründungsbereich«, innerhalb dessen die Synthese der abendländischen Seinsgeschichte mit dem alttestamentlichen Schöpfergott vollzogen wurde. »Das ἐπέκεινα τῆς οὐσίας als ἀρχὴ τοῦ ὄντος hat […] den Charakter des θεῖον und θεός, vgl. Aristoteles. Die Frage nach dem Seienden als solchem (im Sinne der Leitfrage), die Ontologie, ist somit […] Theo-logie. […] Mit dieser Entfaltung des ersten Endes des ersten Anfangs (mit der platonisch-aristotelischen Philosophie) ist die Möglichkeit gegeben, daß sie dann, und in ihrer Gestalt fortan die griechische Philosophie überhaupt, den Rahmen und den Begründungsbereich für den jüdisch (Philo) christlichen (Augustinus) Glauben hergibt; ja von daher gesehen sogar als Vorläufer des Christentums ausgegeben bezw. als ›Heidentum‹ für überwunden gehalten werden kann.« (GA 65, Nr. 110, insbes. S. 211). Wie Heidegger hier andeutet, wurde die Synthese von ontologischer Metaphysik und alttestamentlichem Glauben von Philo von Alexandrien (~ 25 v. Chr.–50 n. Chr.) für das Judentum und von Augustinus (354–430) für das Christentum vollzogen. In ähnlichem Sinne äußert sich Heidegger in dem von ihm im Wintersemester 1937/38 gehaltenen Seminar »Die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens«, in Seminare (Übungen) 1937/38 und 1941/42, hrsg. von Alfred Denker, GA 88, 2008: »[…] Den gewöhnlichen Platonismus verkoppelt mit dem jüdischen Monotheismus des Alten Testamentes hat Philo. Die Wirkung und Verwandlung [des jüdischen Monotheismus] durch [den] Neuplatonismus (Dionysios 46
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Synthese überhaupt möglich ist, – da dieser Gott doch als Gott der ontologischen Metaphysik zunächst ganz anderen Wesens als der alttestamentliche Schöpfergott ist. Er muss sich also für die Möglichkeit dieser Synthese gleichsam vorbereiten, und zwar in Verwandlung eines Grundzuges, der ihm von Haus schon eignet. Welches ist dieser Grundzug? Nun hat sich gezeigt, dass der Gott der ontologischen Metaphysik zwar zunächst die »Seiendheit« als bloße Bestimmtheit des Seienden, aber zuletzt doch als der höchste Grund des Seienden als eines solchen ist, der dieses vor dem Nichts bewahrt. Warum sollte er dann nicht auch die höchste »Ursache« (causa), ja am Ende die höchste Wirk-Ursache (causa efficiens) des Seienden sein, die dieses erwirkt, – zumal er als Seiendheit schon die Mache, das Machen, zu seinem latenten Grundzug hat. Dazu muss sich freilich das Sein des Seienden – das er eben verursachen und erwirken soll – vorgängig schon als Erwirkbares, Machbares darbieten. Das geschieht – gemäß Heidegger – vor allem durch die lateinisch-römische Übernahme und Umdeutung der aristotelischen ἐντελέχεια als actualitas. Zwar steht die aristotelische ἐντελέχεια immer noch im Gefolge der ursprünglichen φύσις, ja sie ist gemäß Heidegger sogar eine höchste Vollendungsgestalt derselben, – ist sie doch, wie das Wort selbst sagt, das »sich Halten« (ἔχειν) des Seins »im τέλος« (ἐν τέλει), d. i. in der versammelnden »Vollendung« seines Aufgangs (gleich einer Woge 48, die in ihren höchsten Gipfel aufwogt, ihr ganzes Aufwogen in ihn versammelt und in ihm eine Weile sich hält und steht). Aber solche ἐντελέχεια erscheint doch bereits im Hellenismus innerhalb des nunmehr schon Aeropagita); damit [ist] grundsätzlich für [das] Christentum die Übernahme des Aristotelismus und des Platonismus ermöglicht. […].« (Nr. 48., S. 67). Auch hier weist also Heidegger darauf hin, dass die Synthese von jüdischem Monotheismus und griechischer Philosophie von beiden Seiten her erfolgt, so zwar, dass es sich bei Philo nur um eine »Verkoppelung« des »gewöhnlichen Platonismus« mit dem »jüdischen Monotheismus«, dagegen bei Dionysius Aeropagita (dem christlichen Neuplatoniker des 5. Jh.n. Chr.) um die »Verwandlung« desselben »durch [den] Neuplatonismus« handele (durch die er auch erst zu seiner »Wirkung« innerhalb des abendländischen Denkens komme). In Philons bloßer »Verkoppelung« bleibt also der jüdische Monotheismus als solcher im Grunde unberührt. Erst durch seine neuplatonische »Verwandlung« wird er in das griechiche, latent schon machenschaftliche Denken hineingezogen, um diesem dann freilich die eigentliche machenschaftliche Stoßkraft zu erteilen. Wie diese Andeutungen zeigen, ist heute (im Zeitalter der Machenschaft) eine erneute gründliche Auseinandersetzung mit der Synthese von griechischer Philosophie und jüdischem Monotheismus erforderlich. 48 Vgl. unser Beispiel supra, S. 249.
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vorrangigen Horizonts der Mache und Gemachtheit, dergestalt dass die Römer sie dann als actualitas, als das Gewirkt- und Erwirktsein durch eine agierende, wirkende Ursache auslegen konnten 49. So wird im Umkreis des hellenistisch-römischen Denkens der Gott der Metaphysik in der Tat zur höchsten Wirkursache des Seienden als des von ihm Erwirkten. Damit ist aber in ihm die Möglichkeit bereitgestellt, die Synthese mit dem alttestamentlichen Schöpfergott einzugehen. Mit dieser Synthese ist ein entscheidender Wesenswandel des Gottes der Metaphysik verbunden: Er wandelt sich in den allmächtigen christlichen Schöpfergott. Denn der alttestamentliche Schöpfergott ist ja gemäß dem ersten Buch Mose der creator mundi, der die Welt (gemäß der Überlieferung) aus dem Nichts erschafft. Die creatio ist creatio ex nihilo 50. Ein solches Erschaffen des Seienden aus dem Nichts ist aber nur durch Allmacht, omnipotentia, möglich 51. Wenn Zum Wesen der ἐντελέχεια bei Aristoteles und deren hellenistisch-römischer Umdeutung als actualitas, vgl. »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1«, in GA 9, insbes. S. 284 sq; »Wissenschaft und Besinnung«, in Vorträge und Aufsätze, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 7, 2000, S. 37–65, insbes. S. 43 sqq; Beiträge, GA 65, Nr. 61, insbes. S. 126 und Das Ereignis, GA 71, Nr. 17, S. 19. 50 Vgl. die folgende Fußnote. 51 Den Begriff »Allmacht« hat Vf. eingeführt. In den seinsgeschichtlichen Manuskripten finden sich verwandte Begriffe, z. B. »summum ens«, »ens entium« (GA 65, Nr. 117, S. 229 und Nr. 110, S. 214), »das Absolute«, »das Unbedingte« (GA 71, Nr. 23, S. 21). Die Begriffe: summum ens und ens entium führen in der mittelalterlichen Scholastik zum Begriff des ens realissimum, der die omnipotentia einschließt. Im Alten Testament ist ein häufiger Gottesname: »El schaddaj«, übersetzt in der Septuaginta (begonnen im 3. Jh. v. Chr.): ὁ παντοκρατώρ (»der Alles-Beherrschende«) und in der Vulgata (Hieronymus 347–419): omnipotens (der »Allmächtige«). (Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2007, Stichwort: »Allmacht [omnipotentia]«). Gemäß Augustin besteht die Allmacht Gottes darin, »dass er alles kann, was er wollen kann […]«: Sie ist eine Macht, die unbegrenzt bzw. unendlich ist (ibid.). In der Patristik wird unter der »Allmacht« Gottes neben der »Allherrschaft« (παντοκρατία) mehr und mehr die unbegrenzte Schöpferkraft Gottes verstanden (ibid.). Deren Exponent ist die creatio ex nihilo, die sich nicht ausdrücklich im Alten Testament findet, – und auch nicht finden kann, da ihr Herkunftsbereich offensichtlich die griechisch-eleatische Philosophie ist, sofern sie den von dieser aufgestellten Grundsatz: ex nihilo nihil fit (»aus nichts entsteht nichts«) leugnet. Vgl. zu diesem Grundsatz Parmenides, Lehrgedicht, Frgm. VIII; 12–13 [Lesart Simplicius]; Melissos, Frgm. I, in Diels I, S. 268; Aristoteles, Physik I, 4; 187 a 28 sq. Eine Ausnahme bildet das 2. Buch der Makkabäer, 7; 28, das jedoch. zu den Apokryphen gehört und relativ spät [~ 2. Jh. v. Chr.] ist. Die creatio ex nihilo wurde erst auf dem 4. Laterankonzil 1215 als Dogma angenommen (ibid.). Der neuzeitliche Schulmetaphysiker Christian Wolff (1679–1754) definiert die Allmacht rationalistisch als 49
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der Gott der ontologischen Metaphysik im römischen Hellenismus bereits die höchste Wirkursache ist, so ist er diese jetzt in der Weise der Allmacht. Und er ist Allmacht nicht nur als höchste, sondern auch als allumfassende Macht. Denn mit dem allmächtigen Gott als höchster Wirkursache kommt das Ganze des Seienden in einen universalen durchgängigen Wirkungszusammenhang zu stehen, der in ihm festgemacht ist 52. Damit aber kommt die Mache – die doch anfänglich der φύσις, d. h. dem Übermaß der Lichtung des Seins entspringt – als Grundzug des Seins zur eigentlichen Herrschaft. Die Mache wird Machenschaft, d. h. – wie Heidegger sie definiert – »Herrschaft des Machens und des Gemächtes« 53. Der Gott der ontodas »Vermögen, alles Mögliche wirklich zu machen« (Vernünftige Gedanken I, § 1022). In GA 65 finden sich Bestimmungen der Machenschaft, die an die angeführten Definitionen der »Allmacht« anknüpfen. Z. B.: »›Alles wird gemacht‹ und ›läßt sich machen‹, wenn man nur den Willen dazu aufbringt. […] Dieser Wille hat sich im voraus der Machenschaft verschrieben.« (Nr. 51, S. 108). »[…] weil die Machenschaft die Seiendheit des Seienden bestimmt, […] kann sie [… keine] Grenzen zulassen.« (Nr. 51, S. 109). »Nichts ist unmöglich. Des Seienden ist man gewiß.« (Nr. 58, S. 120). Wenn sich der Begriff »Allmacht« auch nicht selbst in den seinsgeschichtlichen Manuskripten Heideggers findet, so leitet er doch offenbar Heideggers seinsgeschichtliche Auslegung des christlichen Schöpfergottes als der Synthese des ontologisch-metaphysischen Gottes und des jüdischen Schöpfergottes. Dafür spricht auch die Aussage Heideggers: »In der Machenschaft liegt […] die christlich-biblische Auslegung des Seienden als ens creatum, mag dieses nun gläubig oder verweltlicht genommen werden.« (Vgl. die folgende Fußnote). Der Begriff »ens creatum« schließt die creatio ex nihilo, also die Allmacht Gottes ein. 52 Vgl. die entscheidenden Hinweise Heideggers: »Der mittelalterliche actus-Begriff verdeckt bereits das anfängliche griechische Wesen der Auslegung der Seiendheit [als beständiger Anwesenheit, die in der ἐντελέχεια gipfelt]. Damit hängt es zusammen, dass nun das Machenschaftliche sich deutlicher vordrängt und durch das Hereinspielen des jüdisch-christlichen Schöpfungsgedankens und der entsprechenden Gottesvorstellung das ens zum ens creatum wird. Auch wenn man ein grobes Ausdeuten der Schöpfungsidee sich versagt, so bleibt doch wesentlich das Verursachtsein des Seienden. Der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang wird zum allbeherrschenden (Gott als causa sui). Das ist eine wesentliche Entfernung von der φύσις und zugleich der Übergang zum Hervorkommen der Machenschaft als Wesen der Seiendheit im neuzeitlichen Denken.« (GA 65, Nr. 61, S. 126 sq). Ferner: »[Der Name] Machenschaft [nennt] eine bestimmte Wahrheit des Seienden (seiner Seiendheit) [nämlich die Wahrheit als die von jedem Sich-Verbergen freie Offenheit der Seiendheit des Seienden]. Zunächst und zumeist ist uns diese Seiendheit faßlich als die Gegenständlichkeit […]. Aber die Machenschaft faßt diese Seiendheit tiefer, weil auf die τέχνη [bzw. ποίησις] bezogen. In der Machenschaft liegt zugleich die christlich-biblische Auslegung des Seienden als ens creatum, mag dieses nun gläubig oder verweltlicht genommen werden.« (GA 65, Nr. 67, S. 132). 53 GA 65, Nr. 67, S. 131.
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logischen Metaphysik erscheint aufgrund seiner Synthese mit dem alttestamentarischen Schöpfergott als der allmächtige Gott des Machens, d. h. letztlich – überlichtet ausgedrückt – als allmächtiger »Macher-Gott«, dessen Verhältnis zum Seienden das Machen, das Effizieren von Effekten ist. So ist er gemäß Thomas von Aquin der allmächtige artifex, der die Ideen der entia creanda als perfectiones vorweg in seinem intellectus konzipiert und ihnen gemäß die Dinge ex nihilo erschafft 54. Und gemäß Leibniz, der im neuzeitlichen Gewissheitswillen die cartesische mathesis universalis in den intellectus divinus verlegt, konzipiert der allmächtige Schöpfergott in methodisch verfahrender cogitatio a priori die Möglichkeiten der Dinge in Gestalt von widerspruchsfreien Logikkalkülen, um diese sodann zu verwirklichen und ihnen gemäß die Welt zu erschaffen. »Cum Deus calculat et cogitationem exercet, fit mundus.« »Wenn Gott rechnet (calculat) und sein Denken in die Tat umsetzt, entsteht (fit) die Welt« – »fit«: sie »wird gemacht« 55. Wenn nun bereits der Gott der ontologischen Metaphysik als höchster Grund des Seienden seinen ursprünglichen Wesensgrund im sich entwindenden Fort-schreiten nicht nur außer Acht ließ, sondern – da er ja sich selbst als den höchsten Grund aufgestellt hatte – sich die Möglichkeit benahm, ihn als seinen ursprünglichen Wesensgrund auch nur zu beachten, geschweige denn, sich ihm eigens zu öffnen und sich in ihn zu gründen, so wird der allmächtige metaphysisch-christliche Schöpfergott – da er eben nunmehr höchster Grund und Ursache im Modus der Allmacht ist – nicht nur von diesem seinem ursprünglichen Wesensgrunde weg- und fort-schreiten und ihn außer Acht lassen, sondern sich seiner am Ende schlechthin entledigen. Denn seine Allmacht impliziert – zumindest grundsätzlich gesehen –, dass er sich selbst in das Machen ermächtigt wie auch sich selbst in die Beständigkeit seiner selbst beständigt. Was bislang bloßes sich Aufspreizen in die Mache und bloßes sich versteifendes BeVgl. Quaestio disputata de veritate, Articulus II: »[…] res naturales […] sunt mensurata ab intellectus divino, in quo sunt omnia sicut artificiata in intellectu artificis« (»[…] die natürlichen Dinge sind vom göttlichen Verstand gemessen, in dem alle [Dinge] so sind, wie die [durch Kunst] hergestellten Dinge im Verstand des [herstellenden] Künstlers.« (Übersetzung von Vf.) 55 Zitiert von Heidegger in seiner im Sommersemester 1928 gehaltenen Freiburger Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, hrsg. von Klaus Held, GA 26, 1978, S. 36 sq. In der Übersetzung von D. Mahnke. (Hier auch die bibliographischen Hinweise). 54
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stehen auf Beständigkeit war, wird zufolge der Allmacht absolute Selbstermächtigung in die absolute Macht sowie absolute Selbstbeständigung in die absolute Beständigkeit 56. Damit aber stellt sich der allmächtige christliche Schöpfergott gänzlich auf sich selbst, dergestalt dass er sich seines ursprünglichen Wesensgrundes entledigt. In solchem sich entledigenden Sich-auf-sich-selbst-Stellen wandelt sich das bisherige »Fort-schreiten« zur entschiedenen Fort-wendung vom ursprünglichen Wesensgrund. Zwar wird er auch im christlichen Schöpfergott zunächst noch weiter wesen, da dieser ja aus dem Gott der ontologischen Metaphysik und – mittels desselben – aus der φύσις hervorgegangen ist und diese insofern weiter in sich trägt. Aber gemäß dem entschieden sich fort-wendenden Fort-schreiten in die absolute Selbstermächtigung und Selbstbeständigung wird auch die zwiefache Wesensverödung in ihm entschieden ins Spiel kommen. Auch der christliche Schöpfergott wird am Ende in seiner Wesung ausbleiben und gewesen sein und nur als leeres Schema stehen bleiben. Das ist die Erfahrung Nietzsches, die er in seinem Wort vom »Tode Gottes« ausspricht 57. Und da der christliche Schöpfergott seinsgeschichtlich der versammelnde Gipfel der φύσις und alles in ihr spielenden göttlichen Wesens ist, kommt mit ihm auch die zwiefache Wesensverödung dieses ganzen göttlichen Wesens auf ihren Gipfel. Mit ihm bleiben alle bisherigen Götter der abendländischen Seinsgeschichte in ihrer Wesung aus und sind gewesen. Das ist die Erfahrung Hölderlins von der »Flucht der Götter« 58. Alles göttliche Wesen ist in den versammelnd-nehmenden Wesensgrund zurückgenommen, der nunmehr als verödender Ab-grund west. Es bleibt aus, ist Was sich hier als Tendenz vorzeichnet, wird in der Epoche der Vollendung der abendländischen Seinsgeschichte durch die metaphysisch-christlichen Systeme des Deutschen Idealismus, insbes. das eines Hegel, ausgeführt. 57 In Die fröhliche Wissenschaft (1882), Drittes Buch, Nr. 125 »Der tolle Mensch«, in Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, DTV, München, De Gruyter, Berlin / New York, Band III, insbes. S. 481. Vgl. dazu auch Heideggers Auslegung: »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹« (1943), in Holzwege, GA 5, S. 209–267, insbes. S. 214 und S. 260–263. 58 Vgl. Hölderlins Hymne »Germanien« (1801), Strophe I und II, sowie Heideggers Auslegung in Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, Freiburger Vorlesung WS 1934/35, hrsg. von Susanne Ziegler, GA 39, 1980, insbes. S. 80 sq und S. 93–97. Vgl. auch Heideggers Bemerkung zur Dichtung Hölderlins in »Vorwort zur Lesung von Hölderlins Gedichten« (1963), in Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 4, 1981, S. 195–197, insbes. S. 195. 56
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gewesen – und zwar gewesen im ab-gründigen, tiefsten Entzug seiner selbst. Es stellt sich die Frage, ob die abendländische Seinsgeschichte in dieser bloßen Negativität endet, ob sie sich also einzig in den Fortschritt der immer mächtigeren, immer verödenderen Machenschaft entlässt, ohne Sinn und Ziel, oder ob hier noch einmal ein Gott ins Wesen kommen kann. Welchen Wesens aber sollte dieser Gott sein? Und wenn ein solches Gotteswesen noch irgendwie möglich ist, wie soll es inmitten der gegenwärtigen Herrschaft der uns alle mitreißenden Machenschaft überhaupt noch ins Spiel kommen und uns betreffen können? Gemäß Heidegger wird der hier zur Frage stehende Gott der von ihm sog. »letzte Gott« sein, – der »Letzte« nicht nur in dem Sinne, dass er der zuletzt einzig noch Mögliche ist, sondern auch und vor allem in dem Sinne, dass auf ihn »letztlich« alles ankommt 59, – wenn anders inmitten der Herrschaft der verödenden Machenschaft überhaupt noch Sinn und Wesen soll walten können. Dieser »letzte Gott« hat – wie zu Beginn zitiert – »seine Wesung im Wink«. Dies gilt es jetzt zu zeigen. Wenn alles göttliche Wesen ausbleibt und gewesen ist, so stellt sich, wie gesagt, zunächst die Frage, welchen Wesens ein Gott hier noch sein kann. Wenn überhaupt, so kann er offenbar so etwas wie ein Wesen einzig und allein noch in solchem Ausbleib und Gewesensein selbst haben. Er müsste also gerade in und mit diesem Ausbleib ins Wesen kommen. Das bedeutet aber, dass das Gewesensein der bisherigen Götter gerade selbst als das Gewesensein, das es ist, herund an-wesen müsste. Das aber ist durchaus möglich. So vermag ja auch ein von uns sich Ent-fernender, von uns Scheidender, ja im Tod Verschiedener, in solchem Gewesen-sein zu uns her- und an-zuwesen und uns nahe zu sein, ja oftmals näher als zur Zeit, da er in nächster Nähe bei uns war. Das Gewesensein der Götter vermag also als solches her- und an-zu-wesen 60. Wenn es nun aber an-west, so Vgl. z. B. GA 65, Nr. 254, insbes. S. 406 sq: »Der letzte Gott [… ist] die äußerste und kürzeste Entscheidung über das Höchste […].« Ferner Nr. 256, insbes. S. 406 sq: »Ob [das äußerste Winken des letzten Gottes …] noch vernommen wird […], darin entscheidet sich die Zukunft des Menschen. Er mag noch jahrhundertelang mit seinen Machenschaften den Planeten ausrauben und veröden, das Riesenhafte dieses Treibens mag in das Unvorstellbare sich ›entwickeln‹ […], die eigene Größe des Seyns bleibt verschlossen […].« 60 »Die äußerste Ferne des letzten Gottes ist eine einzigartige Nähe.« (GA 65, Nr. 2656, insbes. S. 412). 59
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darf es sich doch nicht in das bloße An-wesen verlegen, sondern es muss solches ferne Gewesensein auch in seinem Her- und An-wesen weiterhin bleiben. Sonst würde es nicht selbst als Gewesensein anwesen. Aber auch das Her- und An-wesen darf sich nicht in sich selbst verlegen und fortan bloßes An-wesen ohne Ausbleib sein, – vergleichbar der Art, dergemäß dies in der φύσις geschah. Andernfalls das Anwesen eben nicht das An-wesen des Gewesenseins bliebe. Vielmehr muss das Her- und An-wesen des Gewesenseins der Götter sich auch immer schon in das Gewesensein zurücknehmen, ja sich eigens zu ihm zurück- und ihm zu-wenden, um es so eigens als fernes und immer ferneres Gewesensein wesen zu lassen. Nun ist aber solches Gewesensein, das wesend im Her und Zurück seiner selbst schwingt, gerade von der Art des Winkens. Hier ist an das Winken, wie es im Abschied eines von uns Scheidenden, sich von uns Verabschiedenden ins Spiel kommt, also an das »abschiedliche Winken« zu denken 61. Wenn der Scheidende uns in seinem Abschied zu-winkt, so west er in solchem Zu-winken zu uns her- und heran und lässt sich uns nahe und immer näher sein, so jedoch, dass er dabei gerade der scheidend sich Entfernende bleibt, ja selbst in sein sich entfernendes Scheiden zurück-winkt, um so selbst in immer fernerer Ferne als der immer Fernere zu wesen. Das abschiedliche Winken ist nicht nur näherndes sich uns Zu-winken des Scheidenden in die Nähe, sondern immer auch zugleich ent-fernendes Zurück-winken desselben in die Ferne 62. Wie Heidegger sagt: Im Wesen des Winkens liegt das Geheimnis der Einheit innigster Näherung in der äußersten Entfernung […]. 63
Sofern nun der letzte Gott einzig und allein noch das sich zurücknehmende Her-wesen des Gewesenseins der Götter zu seinem Wesen Der Ausdruck »abschiedliches Winken« stammt von Karl-Heinz VolkmannSchluck. Zwar spricht auch Heidegger in seiner Vorlesung Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« GA 39, S. 31 sq. vom Winken »beim Abschied«, so jedoch, dass er diesem das Winken »bei der Ankunft« gegenüberstellt, es also nur als einen bestimmten Modus des Winkens fasst. Anders begreift er das Phänomen des Winkens in den Beiträgen, wo das Winken des letzten Gottes stets schon als solches (unangesehen seiner Modi) abschiedlichen, Ferne walten lassenden Wesens ist (vgl. die infra zitierte »Definition« des Winkens). 62 Anders gesagt: Das »Hin-weg« ist in sich immer schon ein »Her-zu«, und umgekehrt. Zum wechselseitigen Verfugtsein des widerwendigen »Hin« und »Her« vgl. GA 78, insbes. S. 174 (einschließlich Fußnote 113). 63 Beiträge, GA 65, Nr. 256, insbes. S, 408. 61
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haben kann, so hat dieser letzte Gott eben sein Wesen im abschiedlichen Winken. Er ist der Winkende. In ihm winkt sich uns das Gewesensein des göttlichen Wesens zu, um sich auch immer schon im Zurück-winken als fernes Gewesen-sein wesen zu lassen 64. Es fragt sich jedoch, wie solches letzte mögliche Wesen des Göttlichen, solcher »letzte Gott«, inmitten der gegenwärtigen Herrschaft der uns alle mitreißenden Machenschaft überhaupt ins Spiel kommen und uns betreffen kann. Denn diese ist ja keineswegs auf ein Ab-wesen, sondern auf die stete Steigerung der verfügbaren Präsenz ihrer Effekte aus, ja sie hat sich in der absoluten Selbstermächtigung und Selbstbeständigung ihrer selbst ihres rückgänglichen Wesensgrundes entledigt, der zuletzt gerade als das entziehend-nehmende Ab-wesen waltete und als verödender soghafter Ab-grund alles göttliche Wesen in sich zurückgenommen hatte. Wie also soll hier der letzte Gott als der Winkende überhaupt noch ins Spiel kommen können? In seinem Winken müsste er ja das versammelnd-nehmende Ab-wesen, diesen Ab-grund als solchen her-wesen lassen. Aber dieser ist für die Machenschaft so gut wie nicht: das reine Nichts, – in dem sie gleichwohl hängt. Hier nun scheint die Wesensverödung der bisherigen Götter einen Hinweis geben zu können. Sofern diese auf dem fortschreitenden Nicht-Achten des Wesensgrundes beruhte, scheint der »letzte Gott« gerade dadurch ins Spiel kommen zu können, dass der nunmehr als Ab-grund waltende Wesensgrund eigens in die Acht genommen wird. Aber die Machenschaft hat sich des Abgrundes nicht nur entledigt, sondern sie ist es auch, die ihn in der ständigen Steigerung ihrer Effekte verdeckt und verhüllt. Ein unmittelbares Achten auf den Abgrund fällt hier also aus. Vielmehr bedarf es hier eines Dritten, das diesen Abgrund ursprünglich aus der Verhüllung ins Offene rückt. Dieses Dritte ist – gemäß Heidegger – der plötzliche Einfall des DA des Ab-grundes als eines solchen, in welches DA wir Menschen uns dann ebenso plötzlich entrückt finden und so das DA des Ab-grundes sind und das heißt: das »DA-sein« sind. Heidegger nennt diesen EinHeidegger weiß sich hier im Gefolge von Hölderlin (als dem Dichter des anderen Anfangs) und Heraklit (als dem Denker des ersten Anfangs). Hölderlin sagt im Gedicht »Rousseau«: »… und Winke sind / Von Alters her die Sprache der Götter« (Strophe VIII, Vers 3–4; zitiert GA 39, S. 32). Und Heraklits Fragment 93 lautet: ὁ ἄναξ οὗ τὸ μαντεῖον ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει, ἀλλὰ σημαίνει. »Der Herr, dessen Spruchort zu Delphi ist [Gott Apollo], sagt weder, noch verbirgt er, sondern winkt.« (zitiert und übersetzt von Heidegger in GA 39, S. 127).
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fall das »Ereignis«, da es sowohl den Ab-grund in das DA seines eigenen Wesens »er-eignet« wie auch uns Menschen als das – in den Ab-grund entrückte – sterbliche DA-sein und damit in unser eigenstes Wesen »er-eignet« 65. Wenn nun der Abgrund im einfallenden Ereignis sich in das DA und d. h. in das Offene seiner selbst gerückt findet und wenn wir Menschen ihm zugleich als sterbliches DA-sein geöffnet sind, ja ihn in die Acht nehmen und ihn gründen, dann kommt dieser Ab-grund eben in seinem Eigenen ins Wesen, dergestalt dass er nunmehr als entziehend-gewährender Ab-grund inmitten der Herrschaft der Machenschaft die Dimensionen von Ferne und Nähe, von Ab-wesen und An-wesen, von Ge-wesen und auf uns zu-kommendem Her-wesen vorgängig wesen lässt und so den »Zeitspiel-raum« für das winkende Wesen des letzten Gottes in seiner ganzen Weite eröffnet 66. Auf solche vorgängige Wesung des Abgrundes ist der »letzte« Gott angewiesen, sofern er eben der »letzte« bzw. – wie Heidegger hier auch sagt – der »äußerste Gott« ist. Denn als solcher hat er eben sein Wesen darin – und das ist der eigentliche, tiefste Sinn dieses Namens 67 –, das, was selbst schon immer »das Letzte«, τὸ ἔσχατον bzw. das »Äußerste«, extremum ist, winkend voll ins Wesen zu bringen. Dieses ex-tremum ist aber der im (ekstatischen) »EX« sich lichtende und so erst »ge-wesene«, alles Wesen versammelnd bergende Ab-grund des Seyns (der Tod) 68. Diesen vermag der letzte Gott nicht selbst anfänglich in das Offene seines Wesens zu bringen. Vielmehr bleibt dies dem Menschen als dem – durch das Ereignis des DA – ereigneten sterblichem DA-sein vorbehalten. Vgl. z. B. GA 73.1, S. 226: »Er-eignen – zum Eigentum bringen – sich zu Eigen werden lassen.« 66 So sagt Heidegger: »[…] es ist das Er-eignis der Er-eignung des Da-seins, worin […] die Stätte gegründet wird, der Zeit-spiel-raum des Vorbeigangs [des letzten Gottes] […].« (GA 65, Nr. 126, insbes. S. 243). Oder auch: »Im Da-sein und als Da-sein ereignet sich das Seyn die Wahrheit [d. i. die abgründige Offenheit] […] als jenen Bereich der Winkung und des Entzugs […], worin sich erst Ankunft und Flucht des letzten Gottes entscheiden.« (Nr. 5, insbes. S. 20). Vgl. dazu vor allem das Textstück GA 65, Nr. 242 (S. 379–388), das den Titel trägt: »Der Zeitraum als Ab-grund«. 67 Aus diesem ergeben sich die beiden von uns zunächst angeführten Bedeutungen, vgl. supra, S. 263. 68 Heidegger nimmt hier in seinsgeschichtlicher Abwandlung die existenziale Bestimmung des Todes als der »äußersten«, »unüberholbaren« (letzten) Möglichkeit des Da-seins auf, wie er sie in der existenzialen Analytik des Da-seins in Sein und Zeit gewonnen hat (vgl. Sein und Zeit (1927), hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 2 (1977). § 53. »Existenzialer Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode«, insbes. S. 347–351. 65
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Wie Hölderlin sagt: »Nämlich es reichen die Sterblichen eh’ an den Abgrund.« 69 Insofern ist der letzte Gott auf das sterbliche Dasein und – vor diesem – auf das Ereignis des DA, i. e. der ek-statischen Lichtung und Wesung des Ab-grundes sowie des sich mit ihm auch schon lichtend-weitenden Zeitspielraumes angewiesen. Wie Heidegger bündig sagt: »Der äußerste Gott bedarf des Seyns« 70, um selbst ins Wesen kommen. Aber der letzte Gott neigt auch von sich her dazu, sich in jenen – mit dem Ab-grund sich lichtend-weitenden – Zeitspielraum des vorgängig schon wesenden Seyns zu begeben, um dieses durch sein Winken voll ins Wesen zu bringen. Wenn sich also der ab-gründige Spielraum des Seyns dank des Ereignisses öffnet, so übt dieser gleichsam eine »Anziehung« auf den letzten Gott aus. Das Ereignis ist nicht der Gott selbst, aber es ist doch […] das Netz, in das sich der letzte Gott selbst hängt, um es zu zerreißen und in seiner Einzigkeit enden zu lassen, gottlich und seltsam und das Fremdeste in allem Seienden. 71
Wenn nun auf solche Weise der letzte Gott ins Wesen kommt und in seinem Winken das gesammelte Ab-wesen bzw. den Ausbleib des Göttlichen voll ins An-wesen bringt, dann fällt uns auch – in eins mit dem Ereignis – solches An-wesen an. Mehr noch: mit solchem An-wesen, ja ihm zuvor, fällt uns dann auch der Ausbleib des Göttlichen an: […] der Anfall des Seyns, selten und sparsam in sich, kommt immer aus dem Ausbleib des Seyns, dessen Wucht und Nachhaltigkeit nicht geringer als die des Anfalls ist. 72
Sowohl das An-wesen wie das Ab-wesen des Göttlichen fallen uns gleichermaßen im Winken des Gottes an. Dabei bleibt auch hier das An-wesen stets das An-wesen des Ausbleibs, da es sich stets im Winken in diesen zurücknimmt (nicht aber von ihm fort-geht). Das Zuwinken des letzten Gottes ist stets an-fallendes Her-an-wesen des anIn Mnemosyne (1803), Erste Fassung, 1. Strophe, Vers 15 sq. Z. B. GA 65, Nr. 216, S. 408; Nr. 123, S. 240; Nr. 157, S. 279. Damit unterscheidet sich der letzte Gott vom Gott der Metaphysik und des Christentums. Dieser bedarf so wenig der vorgängigen Wesung des Seyns, dass er vielmehr umgekehrt – als das höchste Seiende bzw. als die höchste ontische Ursache alles Seienden – selbst mit dem (zum Nachtrag abgesunkenen) Sein konfundiert wird (vgl. GA 65, Nr. 126, S. 243 sq). 71 GA 65, Nr. 143, S. 263. 72 GA 65, Nr. 121, S. 236. 69 70
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fallenden Gewesenseins, dergestalt, dass er auch immer schon in dieses zurück-winkt. Das Winken des letzten Gottes ist – formelhaft gesagt – das Her- und Zurück- bzw. Her- und Hin- des Gewesenseins. Dieses Gewesensein hat aber – als Wesung des versammelnden, sich entziehenden Ab-grundes – zu seinem Grundzug, das ab-gründig sich Entziehende zu sein, dergestalt, dass es – mit seinem Entzug – auch den letzten Gott, wenn er winkend ins Wesen kommt, immer schon wieder mit sich entzieht. So west der letzte Gott in der Weise, dass er, kaum da, sich auch schon wieder entzieht. Er west, indem er vorbeigeht. Er west inmitten der Machenschaft im »Vorbeigang« seiner selbst 73. Wenn er aber vorbeigeht, dann west er in seiner ganzen Befremdlichkeit, – ist er doch letztlich das winkende Wesen des Abgrundes selbst, der das ursprünglich Befremdende in allem Seienden ist 74. Als solcher aber ist der letzte Gott – wie zu Beginn zitiert – »der ganz Andere gegen alle gewesenen Götter, zumal gegen den christlichen [Gott]«. Denn er ist eben – als der abschiedlich von fern her Winkende – das uns anfallende und sich zurücknehmende Wesen des sich entziehenden, ab-gründigen Wesensgrundes alles Wesens selbst, – während die gewesenen Götter der φύσις diesem zwar ihr Wesen verdankten, so jedoch, dass sie sich im Übermaß der Lichtung zunehmend in den Glanz, die Brillanz, die Mache der bloßen Präsenz aufspreizten, diese ins Ewige beständigten und so fort-schreitend ihres Wesensgrundes nicht achteten, – um sich am Ende zufolge der Allmacht und Ewigkeit des christlichen Schöpfergottes desselben zu entledigen. Vereinfachend gesagt: die Götter der Seinsgeschichte der φύσις sind Götter der vom Ab-wesen fort-gehenden, sich auf sich selbst stellenden Präsenz, während der »letzte Gott« der Gott der zu sich zurückkehrenden Ab-senz ist, die jetzt die ab-gründig Tiefste ist, da sie alle Götter, auch den Höchsten, in sich zurückgenommen hat. So ist er eben »der ganz Andere gegen alle gewesenen Götter«. Er ist der ganz Andere »gegen« sie, nicht etwa in dem Sinne, dass er bloß von ihnen verschieden und ihnen entgegengesetzt wäre (wobei er immer noch auf derselben Ebene wie sie und so einer der ihren bliebe), sondern in dem Sinne, dass er als der Winkende selbst sein Wesen im »Gegen«, im »Ent-gegen« als solchem hat. Und zwar in demjeniGA 65, Nr. 254, S. 406. Heidegger führt die Fremdheit auch auf die Ferne zurück: das Ferne ist das Fremde. Vgl. GA 71, Nr. 87, S. 64.
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gen »Ent-gegen«, das selbst die Grundbewegung des Wesensgrundes alles Wesens ist, nämlich die, im Ent-, d. h. im sich Ent-fernen, d. i. im sich Ent-ziehen, gerade »entgegenkommend«, d. i. freigebend gewährend zu sein 75. Wenn nämlich solches Ent-gegen eigens voll in seine Wesung kommt, dann ist mit ihm auch schon der letzte Gott als der Winkende in seine Wesung gekommen. Der letzte Gott ist als der Winkende die eigentliche Wesung solchen »Ent-gegens« selbst, das selbst in seinem Hin und Her die Wesung des im Entzug gewährenden Ab-grundes alles Wesens ist. Aber der »letzte Gott« ist nicht nur das Ende der sich der φύσις verdankenden Seinsgeschichte, sondern zugleich der Anfang einer »anderen Geschichte« des Seins. Denn in ihm west eben das göttliche Wesen anders als in den gewesenen Göttern: Es west aus dem Abwesen und als Ab-wesen, sofern dieses, sich gewährend, sich ins Herund An-wesen bringt und sich dabei immer schon selbst in das AbZur Bedeutung der Worte »gegen« und »entgegen« sei das Folgende bemerkt: Das Wort »gegen« ist in dem Sinne zu verstehen, wie Heidegger es im Wort »Gegend« gemäß seinen Ausführungen in »Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken« (1944/45) hört. (In Aus der Erfahrung des Denkens, hrsg. von Hermann Heidegger, GA 13, 1983, S. 37–74; zur »Gegend«/»Gegnet«, insbes. S. 45 sqq.). Das Textstück ist einem längeren Text entnommen, der den Titel Ἀναβασίη trägt; in Feldweggespräche (1944/45), hrsg. von Ingrid Schüßler, GA 77, 1995, S. 1–160). »Gegend« lautet mittelhochdeutsch »Gegnet«. Die »Gegend« ist, indem sie »gegnet«, sie ist das »Gegnende«, d. h. das weichend sich zurückziehend sich Öffnende und Weitende, das sich ent-fernend sich Nähernde (und umgekehrt). So heißt es in der »Erörterung«: »Die Gegnet zieht sich eher zurück, als daß sie uns [im Sinne der objektivierenden Gegenständlichkeit] entgegenkommt.« (GA 13, S. 45). »Die Gegnet [ist] selbst die Nähernde und Fernende.« (S. 70). »Die Gegnet [ist] selbst die Nähe der Ferne und die Ferne der Nähe.« (ibid.). (Die doppelte Bedeutung von »gegen« ist auch in den verwandten englischen Worten deutlich: a-gain = »zurück zu …«, und a-gainst = »gegen«). Das Wort »Ent-gegen« ist ekstatisch zu denken. Das Präfix »ent-«, das dem lateinischen ex, gr. ἐξ, dt. »aus« entspricht, bedeutet »aus« im doppelten (entgegengesetztem) Sinne, nämlich 1) aus = hin-aus (i. e. hin-weg, weg von …) und 2) aus = her-aus (i. e. her-zu, her-an). Die Präposition »gegen« bedeutet im Wort »ent-gegen« vor allem »gegen zu …« (so wie in »gegen Osten« bzw. »gen Osten«, »gegen Westen« bzw. »gen Westen«). Je nach dem, welche Richtung im Praefix »ent-« vorrangig gemeint ist, meint das »-gegen« in »ent-gegen« die dieser entgegengesetzte Richtung: Das Ent-/Aus- (ex) qua Hin-aus (bzw. Hin-weg) ist in sich ein Her-aus (Her-zu, Her-an): es ist »gegen« den Aufgang, d. i. dem Aufgang zu. Und das Ent-/Aus (ex) qua Her-aus (bzw. Her-zu, Her-an) ist in sich »gegen« den Untergang, d. i. dem Untergang zu. Kurz gesagt: das Hin ist in sich ein Her und das Her ist in sich umgekehrt ein Hin. Wie schon in unserer Fußnote Nr. 62 verweisen wir auch hier auf GA 78, S. 174 (einschließlich der Fußnote Nr. 113) sowie auf den Anhang II, Nr. 19, S. 310.
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wesen zurücknimmt. Er west als der Winkende, der uns das Seyn als das Ferne nähernd zuwinkt und immer auch schon im Zurückwinken in die Ferne ent-fernt. Nun aber trägt der winkende Gott das ganze gewesene Gotteswesen in sich, da ja der entziehend gewährende Wesensgrund nicht nur die Götter der φύσις je und je für sich, sondern mit dem höchsten (metaphysisch christlichen) Gott als ihrem versammelnden Gipfel zuletzt auch alle in eins und »zumal« in sich zurückgenommen hat. Demgemäß ist es grundsätzlich möglich, dass eben dieses ganze gewesene Gotteswesen mit dem winkenden Gott wiederkehrt. In seinem Winken würden dann alle gewesenen Götter als Ferne und aus der Ferne auf uns zukommen, so zwar, dass sie sich zugleich auch immer schon in die Ferne entziehen würden. Sie würden also verwandelt wiederkehren. Sie würden im Ausbleib her- und an-wesen und sich immer schon wieder in diesen zurücknehmen. Das Winken des letzten Gottes ist dann – wie Heidegger sagt – der Anfall und Ausbleib der Ankunft sowohl als der Flucht der gewesenden Götter und ihrer verborgenen Verwandlung. 76
Indes ist es möglich, dass der letzte Gott noch andere Götter als die Gewesenen winkend ins Spiel bringt. Welche und wie viele es sind, ist nicht vorausnehmbar. Als im Abgrund Verwahrte entziehen sie sich der Berechnung und liegen jenseits aller Zahl. So ist der letzte Gott weder nur das Ende der bisherigen Seinsgeschichte noch der andere Anfang der verwandelt wiederkehrenden bisherigen Seinsgeschichte, sondern er ist der »andere Anfang unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte« 77. Deshalb darf – so schließt Heidegger – die Seinsgeschichte der φύσις nicht im endlosen »Und-so-weiter« der Machenschaft enden, sondern muss zu ihrem wesentlichen »Ende gebracht werden« 78, welches eben der »letzte Gott« ist. Wenn dieser mit dem Ereignis des DA winkend ins Wesen kommt, um das im Ereignis sich anfänglich Lichtende ins Volle seines Wesens zu bringen, dann kehrt sich das, was heute eigentlich ist und uns inmitten der Machenschaft unerkannt bedrängt – und das ist das Nichts des Ab-grundes, in dem sie hängt und der als verödender Sog alles göttliche Wesen ent-
GA 65, Nr. 256, S. 409. GA 65, Nr. 256, S. 411. 78 »Der letzte Gott ist nicht das Ende, sondern der andere Anfang unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte. Um seinetwillen darf die bisherige Geschichte nicht verenden, sondern muß zu ihrem Ende gebracht werden.« (ibid.) 76 77
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zogen hat –, in den anders wesenden Ab-grund, nämlich in den Abgrund, der als zutiefst sich Entziehender gerade der unermesslich Gewährende ist.
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Heideggers seinsgeschichtliches Denken in manichäisch-adventistischer Zuspitzung
Kaum jemand, der sich eingehend mit Heidegger beschäftigt hat, wird behaupten wollen, durch den Inhalt der Schwarzen Hefte nicht überrascht worden zu sein. Neben viel Vertrautem und ganzen Passsagen, die ebenso gut in anderen Texten stehen könnten, stößt man immer wieder auf Äußerungen und Gedankengänge, die einen aufhorchen lassen und die man so aus dem bislang zugänglichen Textcorpus nicht hätte erahnen oder erschließen können. Einiges ist in höchstem Maße befremdlich; etwa wenn Heidegger offensichtlich Kontingentes glaubt schicksalhaft deuten zu müssen: datumsmäßige Koinzidenzen 1, sein Geburtsjahr 2, den Anfangsbuchstaben 3 oder Ingredienzien 4 seines Namens. Und nicht weniges ist anstößig bis abstoßend, wie GA 97, 131: »1807: Phänomenologie des Geistes. 1867: Das Kapital. 1927: Sein und Zeit.« GA 96, 198: »Gleichzeitigkeit: Der russische Außenminister Molotow kommt nach Berlin und die neueste Neuzeit der Deutschen wird sichtbar. Hölderlins Hymne ›des‹ Heiligen ›Wie wenn am Feiertage …‹ [Martin Heidegger: Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage … Halle an der Saale: Niemeyer o. J.] ist gedeutet und die verborgene Geschichte verhüllt ihren anderen Anfang.« Ebd.: »Die beiden M: Vormals erzählten die Zeitungen, die noch etwas vom früheren ›Kalender‹ an sich trugen, zu diesem Tage von den Bräuchen und Freuden zum St. Martinstag. Heute meldet zu diesem Tage ›die Presse‹ die Anreise Molotows nach Berlin.« 2 GA 94, 523: »Spiel und Unheimlichkeit historischer Zeitrechnungszahlen im Vordergrund der abgründigen deutschen Geschichte: / 1806 Hölderlin geht weg und eine deutsche Sammlung fängt an. / 1813 Der deutsche Anlauf erreicht seine Höhe und Richard Wagner wird geboren. / 1843 Hölderlin geht aus der ›Welt‹ und ein Jahr darauf kommt Nietzsche auf sie. / 1870/76 Die deutschen Gründerjahre werden gegründet und Nietzsches ›unzeitgemäße Betrachtungen‹ erscheinen. / 1883 ›Zarathustra I‹ kommt heraus und Richard Wagner stirbt. / 1888 Ende Dezember: Nietzsches ›Euphorie‹ vor dem Zusammenbruch und – – / (26. 9. 1889).« 3 GA 95, 266: »Die drei H: Heraklit, Hegel, Hölderlin. / Ereignis: unverständlich – dem Verstand / Unvernünftig – für die Vernunft – / Ausblickend nach dem entsprechenden Denken – dem (mehrdeutig) verhaltenen (wahrend) Entsagen.« 4 GA 97, 62: »Heid-egger / einer, der auf unbebautes Land, Heide, trifft und diese eggt. Aber die Egge muß er erst lang einem Pflug durch Steinäcker voraufgehen lassen.«; GA 94, 273: »Warum habe ich zwei ›G‹ in meinem Namen? Wozu anders, 1
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Heideggers seinsgeschichtliches Denken
etwa Heideggers Relativierung der Nazigreuel durch Verweis auf irgendwelche Erscheinungen oder Tendenzen nach 1945, die er für ungleich schlimmer erachtet. 5 In diese Kategorie gehören auch die Äußerungen über das Judentum. 6 Sie sind es, die bisher im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden haben, zusammen mit Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus, dessen volles Ausmaß und dessen wechselnde Ausprägung im Lauf der Jahre die Schwarzen Hefte ebenfalls an den Tag gebracht haben. 7 Beigetragen zu dieser Fokussierung der Diskussion haben die Veröffentlichungen und Vorträge von Peter als daß ich erkenne, was es ständig gilt: Güte (nicht Mitleid) und Geduld (d. h. höchster Wille).« 5 GA 97, 59: »Endgültig ist der auszehrende Nihilismus erst, wenn er diejenige Täuschungssicherheit erlangt hat, die ihm erlaubt, auch den ›Glauben‹ und das Christentum und die Moral in seinen Dienst zu nehmen und dafür bejaht und gefördert zu werden. Der Terror des endgültigen Nihilismus ist noch unheimlicher als alle Massivität der Henkerknechte und der Kz.« Ebd. 99 f.: »Wäre z. B. die Verkennung dieses Geschickes – das uns ja nicht selbst gehörte, wäre das Niederhalten im Weltwollen – aus dem Geschick gedacht, nicht eine noch wesentlichere ›Schuld‹ und eine ›Kollektivschuld‹, deren Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaften der ›Gaskammern‹ gemessen werden könnte –; eine Schuld – unheimlicher denn alle öffentlich ›anprangerbaren‹ ›Verbrechen‹ – die gewiß künftig keiner je entschuldigen dürfte. Ahnt ›man‹, daß jetzt schon das deutsche Volk und Land ein einziges Kz ist – wie es ›die Welt‹ allerdings noch nie ›gesehen‹ hat und das ›die Welt‹ auch nicht sehen will – dieses Nicht-wollen noch wollender als unsere Willenlosigkeit gegen die Verwilderung des Nationalsozialismus.« Ebd. 250: »Man sehe sich das rastlose Gezappel an, mit dem heute die Westmächte ›Europapolitik‹ machen […] Die Verantwortung solcher Gedankenlosigkeit, oder ist es schon mehr: Unvermögen des Denkens, übersteigt um viele tausende von Graden das unverantwortliche Unwesen, mit dem Hitler in Europa umhertobte.« 6 Mit Trawny (Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt/M.: Klostermann 2014, 42, 122) rechnen wir dazu auch das Fehlen von Äußerungen in den Schwarzen Heften zu Rechtsungleichheit, Schikanen, Pogromen und Verfolgungen, denen Juden ab 1933 ausgesetzt waren. 7 Hinzu kommt mittlerweile die Enthüllung, daß Heidegger seinem Bruder Fritz 1931 zu Weihnachten, diesem »zaubervollen deutschen Fest«, wie er schreibt, Hitlers »Mein Kampf« als Geschenk übersandt und zur Lektüre anempfohlen hat, um ihn ebenfalls für Hitler zu begeistern. Es gehe dabei nicht um Parteipolitik, »sondern um Rettung oder Untergang Europas und der abendländischen Kultur«. Dabei schätzte Heidegger sichtlich den programmatischen Teil des Buches, denn der autobiographische in den Anfangskapiteln sei »schwach«. Im programmatischen Teil ist sowohl die Vernichtung der Juden als auch die Annexion der Ostgebiete samt Versklavung der ortsansässigen Bevölkerung vorgezeichnet. Siehe Walter Homolka/Arnulf Heidegger (Hrsg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger, Freiburg/Br.: Herder 2016, 21 f.
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Rainer Thurnher
Trawny und Donatella Di Cesare. 8 Bedingungslose Verehrer Heideggers sehen sich in die Defensive gedrängt und treten als Apologeten in Erscheinung. Sie verweisen auf die geringe Anzahl der problematischen Stellen in Relation zur gesamten Textmasse, übersehen aber dabei, daß diese Textmasse eben den Rahmen zur Entfaltung bringt, innerhalb dessen Heideggers wechselnde Stellung zum Nationalsozialismus und seine Äußerungen zum Judentum allererst deutbar und in ihrer Gewichtung bestimmbar werden; auch daß diese Textmasse sonst noch mancherlei enthält, das nicht minder anstößig ist. Zudem wird versucht, dem Problem durch ein Herunterspielen der Bedeutung der Schwarzen Hefte zu begegnen: es handle sich um private Aufzeichnungen, die in keiner Beziehung zu den »großen seinsgeschichtlichen Abhandlungen« 9 der Bände 65 bis 67 und 69 bis 72 der Gesamtausgabe stünden. Diese seien für eine Leserschaft konzipiert und kämen nebst den Vorlesungen allein als Quelle in Betracht. Dem steht entgegen, daß Heidegger selbst die Schwarzen Hefte für die Publikation im Rahmen der Gesamtausgabe vorgesehen hat, und zwar als deren Abschluß, was wohl etwas zu bedeuten hat. Es ist zu vermuten, daß es sich hinsichtlich der Gewichtung als Quelle gerade umgekehrt verhält: daß man bei der Auslegung der Vorlesungen und der seinsgeschichtlichen Abhandlungen künftig an dem Aufschluß, den die Schwarzen Hefte bieten, nicht wird vorbeigehen können; daß diese in der Heideggerforschung eine ähnliche Zäsur herbeiführen werden wie einstmals das Erscheinen der Beiträge. Gegenwärtig befinden wir uns noch in der Schrecksekunde und einer daraus herrührenden Einschränkung des Blickwinkels. Ich plädiere dafür, sich daraus zu lösen und nachzusehen, was die Schwarzen Hefte außer den stupenden, befremdlichen und skandalträchtigen Äußerungen sonst noch enthalten. Man wird dann entdecken, daß sie es erlauben, Heideggers denkerische Entwicklung weitaus präziser und detaillierter nachzuzeichnen, als dies bisher möglich war. Sie gewähren uns, um diese Lieblingsmetapher 10 Heideggers heranzuziehen, einen direkten Einblick in seine Werkstatt; sie zeigen uns über all die Jahre hinweg gleichsam jeden Handgriff, strategische ÜberPeter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt/M.: Klostermann 2014. Donatella Di Cesare: Heidegger, die Juden, die Shoah. Frankfurt/M.: Klostermann 2016. 9 Vgl. dazu das Nachwort des Herausgebers Friedrich-Wilhelm von Herrmann in GA 71, 343. 10 Vgl. GA 97, 71, 76, 170, 284, 308, 510. 8
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Heideggers seinsgeschichtliches Denken
legungen, wie bei der Ausgestaltung vorzugehen sei, sein Bemühen um die Werkstücke, auch seine Experimente, Entwürfe, Skizzen und Proben. 11 Und sie zeigen uns, was Heidegger bei und für sich dachte, wenn es nicht darum ging, bei der Abfassung der Gedanken auf potentielle Adressaten Rücksicht zu nehmen. Was diese anbelangt, ist den Schwarzen Heften zu entnehmen, daß man gut beraten ist zu differenzieren, welche Texte auf ein breiteres Publikum berechnet waren, wie die Vorlesungen, Vorträge und Aufsätze, und welche auf diejenigen abzielten, die Heidegger als die Seltenen und Künftigen 12 bezeichnet. Und noch in einer anderen Hinsicht scheinen die Schwarzen Hefte einzigartig zu sein: sie gewähren uns einen Einblick, wie Heidegger über all das dachte, was um ihn vorging; wie er einschätzte, was in wissenschaftlicher, national- und geopolitischer, sozial-organisatorischer, ideologisch-propagandistischer, kultureller, religiös-konfessioneller sowie militärischer Hinsicht sich über die Jahre zugetragen hat. Mit Erstaunen kann man lesen, daß es im Rahmen der Seinsgeschichte zu Rollenzuweisungen an konkrete Entitäten kommt: an bestimmte Personen, soziale Gruppen, politische und religiöse Gesinnungsgemeinschaften, an ganze Völker wie die Deutschen, Russen, Juden, Italiener, Engländer, Amerikaner, Japaner – eine Rollenzuweisung wohlgemerkt durch das Seyn selbst in dessen geschickhafter Ereignung. Heidegger begreift sich lediglich als denjenigen, dessen untrüglichem Wesensblick – dessen »Einblick in das, was ist« 13 – sich dies enthüllt. In den Wachstuchheften führt er darüber treulich Buch. Folgende höchst bemerkenswerte Überlegung scheint einen Aufschluß darüber zu enthalten, weshalb Heidegger auch die Schwarzen Hefte in die Gesamtausgabe, und zwar als deren Abschluß, wollte aufgenommen haben; sie dürften indes auch auf vieles von dem zu beziehen sein, was andere nachgelassene Bände enthalten: »Werkstattübungen und Skizzen können wohl zum Verständnis eines gedachten Gedankens verhelfen. Sie können jedoch auch und viel öfters irreführen; denn die entscheidenden Vorarbeiten werden gerade zu dem, woran sich jäh der Blitz des Anderen und eigentlich Gedachten auslöst. Dieses Gedachte ist nur aus ihm selbst zu denken. Es läßt sich aus keinem Verstandenen und keinen Vorstudien errechnen. Aber auch jenes Verständnis, das zu gelingen scheint, ergibt nie das Denken des Gedachten. Jenes bleibt nur der täuschende Ersatz für dieses. Die fleißigen Bearbeiter von ›Nachlässen‹ übersehen diese Zusammenhänge zu leicht.« (GA 97, 269; vgl. ebd. 161 f.) 12 GA 94, 358: »Aber einige Wenige müssen später kommen, die begreifen, was geschichtliche Besinnung für uns Übergehende bedeutet.« Vgl. ebd. 429 f.; GA 95, 198. Ferner GA 65, insbes. 400 f. 13 Vgl. GA 95, 314, 384, 409. 11
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Mit meinen Ausführungen möchte ich dem eben Gesagten Nachdruck verleihen. Wegen des vorgegebenen Rahmens mußten sie allerdings summarisch und lückenhaft ausfallen. Zudem war es erforderlich, viele der beredten Zitate in die Fußnoten zu verbannen. Es war naheliegend, der Chronologie der Schwarzen Hefte zu folgen; sie zeigen das seinsgeschichtliche Denken in unterschiedlichen Phasen, die sich deutlich voneinander abheben: anfangs in statu nascendi (1931 bis 33), dann in dessen Verquickung mit dem Nationalsozialismus während der Rektoratszeit (1933/34), anschließend in der Modifikation, welche die Ernüchterung darüber erwirkte (1934 bis 38). Es ist dies die Phase, in der Heidegger um sein »Werk des Denkens« ringt, das entscheidend zur Da-Gründung beitragen soll. In einer vorläufig letzten Phase (1938–1948) weichen Werk- und Gründungsgedanke, Entscheidungszwang und Naherwartung den Denkfiguren vom »Weg« und »Vorbeigang«. Sehr schön läßt sich auf den ersten 100 Seiten von Bd. 94 nachvollziehen, wie Heidegger von »Sein und Zeit« ausgehend seinen seinsgeschichtlichen Ansatz entwickelt, was einer radikalen Umdeutung gleichkommt. 14 Die Umorientierung betrifft den Zeitbegriff, den Seinsbegriff, die Aletheia, das Daseinsverständnis und Heideggers Selbstverständnis als Philosoph. Die ursprüngliche Zeit in ihrer Ekstatik, gefaßt als vorlaufend-wiederholender Augenblick, mutiert jetzt von der Zeitlichkeit des entschlossenen Einzelnen zur Geschichts- und Schicksalszeit des Abendlandes. Statt der »erstreckte [n] Stätigkeit, in der das Dasein als Schicksal Geburt und Tod und ihr ›Zwischen‹ in seine Existenz ›einbezogen‹ hat« 15, umfaßt sie jetzt das »Seinsgeschehnis, das seine Zeit hat« 16 vom ersten Anfang bei den Griechen bis zur Eröffnung des in die Zukunft weisenden anderen Anfangs. »Wiederholung« meint jetzt den Rückgang in den ersten Anfang, dessen früh verstellte und verbaute Potentiale im herbeizuführenden anderen Anfang zur Entfaltung kommen sollen. Im wieder-holenden Nach-vorne-Entwerfen des bei den Griechen unentfaltet Gebliebenen gilt es das neue, heraufkommende Weltalter zu stiften und zu gründen. Dieses unentfaltet Gebliebene ist das Sein in seiner geschichtlichen Wesung. Es zu befreien aus der Prägung als Sein Bestreben, diese als Entfaltung dessen darzustellen, was in »Sein und Zeit« keimhaft bereits angelegt war, findet sich dabei bereits in diesem frühen Stadium. 15 SZ 390 f.; GA 2, 516; vgl. ebd. 387; 511. 16 GA 94, 6. 14
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Anwesenheit und bloße Seiendheit, es in seiner Entfaltung als »Seinsgeschehen« zur Geltung kommen zu lassen, ist das Gebot der Stunde. 17 Seine Berufung sieht Heidegger nunmehr darin, »dem ›Sein‹ zum Ausbruch zu verhelfen im wirklichen Werk« 18, die Erinnerung wachzuhalten an die »Entmächtigungsgeschichte« 19 der Metaphysik, um im Gegenzug die »Ermächtigung des Seins« 20 einzuleiten. Wie das Sein ist auch die Wahrheit dynamisch zu denken als ein Geschehen von Entbergung und Verbergung, wobei Seinsgeschehen und Wahrheitsgeschehen als ein und dasselbe in der »Schicksalszeit« sich entfalten. Das Verbergende in der geschichtlich sich ereignenden »Wahr-heit« begreift Heidegger nunmehr als »Wahr« und »Bergung« im Hinblick auf die noch unentfalteten Möglichkeiten des ersten Anfangs. Im Entzugsgeschehen der Metaphysik, in deren Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit, in deren Ent-eignis, ist das Er-eignis ge-wahrt, dessen Entfaltung, wie Heidegger meint, sich bereits ankündigt. Damit sind wir beim »Augenblick« 21. Dieser bestimmt sich aus der Vollendung der Neuzeit im entfesselten Willen zum Willen. Alles sieht Heidegger zutreiben auf ein Äußerstes an Verfall, Irre, Gottferne, Nihilismus, Ent-eignis, Entfremdung und Verwahrlosung des Seienden. In alledem kündigt sich jedoch bereits der anbrechende Tag an, der auf die Weltnacht folgen soll. So finden sich Einträge wie: »Ein großes Glauben geht durchs junge Land« 22, »Die Welt ist im Umbau. Was werden will – in welche Aufgaben es sich vordrängt – welche Perspektiven diese Aufgaben erzwingen; welches Geschehnis (Sein – GA 94, 26: »Dieses ungeheure Wissen um die Möglichkeiten des gewesenen Großen und die Aufgaben ihrer Befreiung und Gestaltung …« Ebd., 29: »Philosophieren: ausbildende Auslösung des Seinsgeschehnisses.« Ebd. 358: »Die geschichtliche Wahrheit der geschichtlichen Besinnung besteht nicht darin, daß das Vergangene an sich richtig dargestellt, sondern daß das Zukünftige im Gewesenen, auch wenn und gerade wenn es abgedrängt und nicht gemeistert ist, in seiner vorgreifenden, aber unbefreiten Macht an den Tag komme, d. h. für uns zur Aufgabe […] werde.« Vgl. ferner ebd. 7, 11 f., 14, 48–51, 149 f., 172, 187, 212; GA 35, 223 f.; GA 95, 153 f., 207, 296; GA 96, 154. 18 GA 94, 12; vgl. ebd. 18: »… Ausbruch und Anbruch des Seins, das erstritten werden muß.« 19 GA 94, 90. 20 GA 94, 39. 21 GA 94, 13: »Das Wesen der Zeit erfragen, um sich in unseren Augenblick zu finden.« 22 GA 94, 26. 17
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Wahrheit) da am Werk ist – dieses ›Werk‹ in seinem Vor-wirken erblicken und befreien« 23, »… die Welt ist im Umbau zu ihr selbst. Wir nähern uns wieder der Wahrheit und ihrer Wesentlichkeit …« 24 Die Grundstimmung des so gedachten Augenblicks sieht Heidegger in der Verhaltenheit. Sie vereinigt in sich den Schrecken 25, hervorgerufen durch die Not der Seinsverlassenheit, und den Jubel 26, entsprechend der ahnenden Vorwegnahme der »Ereignung« und »Wiederbringung des Seienden aus dem Seyn« 27. Aus dieser Grundstimmung heraus soll die Gründung des künftigen Daseins im Werk erfolgen; und die Zeitgenossen darauf einzustimmen, was auch heißt: sie auf die »Not der Notlosigkeit« ständig hinzuweisen, bildet ein wesentliches Ingrediens dieses Vorhabens. Wir sind damit beim gewandelten Verständnis von Philosophie: diese ist nun nicht mehr identisch mit Ontologie 28, nicht mehr »aufweisendes Sehenlassen« der Seinsverfassungen und Seinsmodalitäten in deren temporaler 29 Bestimmtheit: »Philosophie handelt nie ›von‹ und ›über‹ etwas«, sondern »immer nur für – das Sein« 30. Jetzt GA 94, 31; ebd. 26: »Die Welt ist im Umbau – aber noch ist die dichtende Kraft im Dunkel – und doch ist sie da! Wer wird sie befreien?« 24 GA 94, 38; vgl. ebd. 63: »Die Welt ist im Umbruch; der Mensch steht im Aufbruch.« 25 GA 94, 91: »Die Wesentlichkeit des Wesens ist nur in und aus seiner Wesentlichkeit zu ermächtigen – Schrecken und Segen, die großen Stimmungen, die den Menschen einverleiben.« 26 Der Begriff Verhaltenheit in Verbindung mit dem Jubel taucht früh auf in einer Textpassage, die den Herbst zum Sinnbild der Sammlung für einen neuen Aufgang macht: »Herbst – nicht das Sterben und der Verfall, nicht das Vorbei – wohl aber das verglühende, glutsammelnde Eingehen in das sichere Schweigen einer neuen Zeit des Erwachens zur Entfaltung – das Gewinnen der Verhaltenheit des gefestigten Jubels der unausschöpfbaren Größe des Seins zum Ausbruch.« (GA 94, 34) 27 Die Rede von der »Wiederbringung des Seienden aus dem Seyn« wird während dieser Phase zu einer stehenden Formel; gemeint ist damit, daß das in der Epoche der Seinsverlassenheit ent-eignete und seiner Wesenskraft beraubte Seiende im Zuge der Ereignung und Zukehr des Seyns seine Wesenskraft wiedergewinnt. Vgl. dazu insgesamt GA 94, 7 f., 10, 13, 25, 45, 211, 314, 332, 339, 344, 348, 385, 398, 403, 404, 425, 443, 449, 491, 502. 28 SZ 38, GA 2, 51: »Ontologie und Phänomenologie sind nicht zwei verschiedene Disziplinen neben anderen zur Philosophie gehörigen. Die beiden Titel charakterisieren die Philosophie selbst nach Gegenstand und Behandlungsart.« Vgl. GA 24, 466 f. 29 Vgl. GA 24, 460 f. 30 GA 94, 31; ebd. 39: »Seinsermächtigung – nicht nachträglich in Begriffe einfangen und aufspannen, was wir ohnehin schon haben, sondern erst das Erwirken, was noch nicht west. Deshalb hat die Philosophie wesensmäßig keinen Gegenstand.« 23
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gewinnt sie den Charakter der geschichtegründenden Tat, des unbedingten Einsatzes, der Erwirkung, der »Befreiung und Gestaltung« 31, der Auseinandersetzung und des Kampfes – stets bezogen auf das zu ermächtigende und zu befreiende Sein. Da dieses in der Zukunft sich ereignet, ist das Philosophieren ein Vor-springen 32 und Vor-bauen, es hat den Charakter der Gestaltung, des Er-fragens und Er-denkens. Hier gibt es kein durch einen Grund verbürgtes Terrain. Die Gründung des Da, welches zugleich Entscheidungsstätte über Ankunft und Ausbleib der Götter sein soll, fordert den Sprung in den Ab-grund. Den Überlegungen ist daher das Motto vorangestellt: pánta gàr tolmetéon! 33 Diese neue Art von Denken bedarf zudem eines beispiellosen sprachlichen Zugriffs in der Einheit von Denken und Dichten. 34 In ihrer vorauswirkenden, er-denkenden Kraft müssen eine neue Logik und Begriffe von »inbegrifflicher« Art ersonnen werden. 35 Zweierlei verbindet sich mit diesem Philosophieverständnis: Einmal sieht sich Heidegger nunmehr als vom Seyn berufenen und er-eigneten 36 Denker, wie er auch Hölderlin zu begreifen beginnt als vom Seyn ereigneten Dichter. Solche Berufung bedeutet sowohl Erwählung und Auszeichnung als auch Auftrag und ein von Außenstehenden nicht abzuschätzendes Maß an Verantwortung; geht es doch um Sein oder Nichtsein nicht nur des zukünftigen Menschen, sondern auch der kommenden Götter. Sodann verabsolutiert Heidegger dieses Philosophieverständnis: jede andere denkerische Bemühung ist dem Ernst der gegenwärtigen Weltstunde unangemessen und daher nicht Philosophie, sondern Philosophiebetrieb.37 GA 94, 26. GA 94, 29, 32, 45, 79; GA 95, 240, 259. 33 GA 94, vor Seitenzählung. 34 GA 94, 87: »… das sich loswerfende denkende Dichten …«; ebd. 243: »Das Denken des Denkers ist das andenkende (an den ersten Anfang) Er-denken (eines zweiten). Das Er-denken … kein leeres Ausdenken, sondern schaffendes Er-nennen.«; ebd. 252: »Das Sagen der Philosophie ist Ersagen und An-sagen.« Vgl. ebd. 15. 35 Vgl. insbes. GA 94, 22–25, 18, 30. 36 GA 94, 12: »… Gnade der Berufung zu einem unvergleichlichen Schicksal«; vg. ebd. 133, 251, 172, 113, 66, 326; GA 95, 147, 169; GA 96, 41, 137, 144, 207, 209, 225, 260; GA 97, 16, 18, 256, 183, 55, 67, 86, 93; GA 16, 425; GA 65, 401. Gegen Kriegsende leitet Heidegger aus dem Glauben an seine Berufung durch das Sein die Zuversicht ab, er werde den Zusammenbruch heil überstehen können; GA 97, 26: »In dem, was ich zu denken versuche und wie alles dabei bis zur Stunde gegangen, erfahre ich immer wieder einen Segen der Bestimmung, daß wohl daraus eine Gewähr spricht für eine Behütung, die alle großen Einstürze überstehen wird.« 37 GA 94, 30, 492 f. und passim. 31 32
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Überhaupt spitzt sich für Heidegger nunmehr alles zu auf die eine Entscheidung, vor die er seine Zeitgenossen gestellt sieht. Da die Metaphysik zu Ende geht, gibt es im Rahmen des Hergebrachten keine Wahl mehr, die von Belang sein könnte. 38 Im Bestehenden gibt es nur mehr nichtige Betriebsamkeit, ein heil- und hilfloses Geschiebe und Gezappel. Jeder Einsatz, gleich wofür, ist nur ein Einsatz für das Seiende und gegen das Sein. Demgegenüber hat nur eine Entscheidung Gewicht: die für das Sein. Damit beginnt sich für Heidegger alles in quasi-manichäischer Weise zuzuspitzen: einander gegenüber stehen das Seiende und das Sein. Heidegger spricht vom »Augenblick der Entscheidung zwischen der Vormacht des Seienden und der Herrschaft des Seyns« 39. In der Entschiedenheit für das Sein kann es Philosophie, Kunst und Dichtung, kann es Opfer und politische Tat geben – nämlich als die wesentlichen Formen des Werks der Da-Gründung und Weltstiftung. 40 Parallel dazu sind im Seienden nur auszumachen: Philosophiebetrieb, Kunst- und Kulturbeflissenheit, Literatentum 41, Angst vor Sprung und Entscheidung und damit die Unfähigkeit zum Opfer, Parteigezänke 42 und Taktieren. Die Entscheidung für das Sein ist Einsprung in die Geschichte. Im Seienden hingegen wird nur Historie betrieben, für Heidegger eine entbehrliche Wissensform, deren tiefere Absicht es ist, den Blick auf die Geschichte zu verstellen. Im Sein gibt es Wissen, im Seienden nur den Wissenschaftsbetrieb, der, wie Heidegger meint, die Universitäten zugrunde richtet. 43 Einen Ausweg aus Irrnis und Heillosigkeit bietet nur ein Erspringen des noch ungegründeten Künftigen. Was uns die Schwarzen Hefte hier vor Augen führen, ist ein holistisches Heilskonzept, das mit einer pauschalen und gänzlich undifferenzierten Sicht auf die faktischen Verhältnisse und ihre Gestaltungsmöglichkeiten 44 einherGA 96, 255: »Im Zeitalter der unbedingten Seinsverlassenheit laufen unübersehbare und daher für die Rechnung ›große‹ Begebenheiten ab. Allein, irgendetwas Entscheidendes kann da nie geschehen, weil nichts mehr auf dem Spiel steht, da alles sein inneres Gewicht verloren hat und jedes gleichviel, d. h. gleichwenig, wiegt. Dies ist eine eigene Art von ›Größe‹, die der Entscheidungsunmöglichkeit.« 39 GA 96, 66. 40 GA 94, 318, 506, 34 f., 157, 214 f., 217, 222, 224 f., 332, 398, 440; GA 95, 30, 254; GA 65, 23 f., 256. 41 Vgl. GA 97, 60. 42 Vgl. GA 94, 61. 43 GA 94, 17, 33, 44. 44 GA 96, 238: »Bahne Pfad um Pfad zum Seyn und sorge, daß sie nie eine Straße 38
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geht. Heideggers Betrachtungsweise stellt von da an nur mehr in Rechnung, welches Gewicht einzelne Gegebenheiten im Hinblick auf die eine Entscheidung haben. Ich stehe nicht an, dies als ideologische Verblendung zu bezeichnen, wobei das Pikante nun darin besteht, daß Heidegger es gerade umgekehrt sieht: Alle, die vom Seyn nichts wissen, d. h. von ihm nichts wissen können, weil sie wurzelund bodenlos sind, oder nichts wissen wollen, weil der Sprung sie ängstet, sind »Verblendete« 45, die im Seienden sich abmühen, ohne zu ahnen, daß diesem der Untergang beschieden ist. Sie sind »seinsblind« 46 und gleichen Flächenwesen 47, welchen der Sinn für die Tiefendimension der Geschichte fehlt. Nur den vom Sein erwählten, im Sein inständigen Seltenen und Künftigen schreibt Heidegger jene überlegene Einsicht zu, die er als Wissen bezeichnet. Im Zusammenhang damit attestiert sich Heidegger »Rang« 48 und »Adel« 49 und hält die Titel »Erleuchteter« 50 und »Seher« 51 nicht für zu hoch gegriffen. Auffallend ist, daß Heidegger durchgehend, wenn er sich meint, nicht in der Ich-Form, sondern im Plural von den Wissenden, den Seltenen, den Künftigen, den Gründern spricht. Dies überrascht nicht zuletzt deshalb, weil er über all die Jahre nirgendwo Gleichgesinnte werden. Wie das noch Seiende sich ›zurecht‹ macht, ist bereits gleichgültig, da ihm keine Wahrheit eignet.« GA 95, 191 f.: »… dann scheint es, als ob zum anderen Male die eigentliche Entscheidung nicht erreicht werden könnte; denn sie lautet keinesfalls Krieg oder Frieden, Demokratie oder Autorität, Bolschewismus oder christliche Kultur – sondern: Besinnung und Suche der anfänglichen Ereignung durch das Seyn oder Wahn der endgültigen Vermenschung des entwurzelten Menschen.« 45 GA 97, 25 f. 46 GA 97, 25. 47 GA 95, 96: »… ein eigenes Beginnen, das aber sich selbst in seiner Wahrheit entzogen bleibt, weil es alles zur bloßen Oberfläche zurechtmachen muß; denn nur noch auf der Einrichtung der Oberfläche und dem Tanz auf dieser kann der jetzige Mensch, so wie er sich kennt (als Subjektum), sich bestätigt finden.« GA 96, 107: »[Die Betriebsamen im Seienden] sind die zuerst Getriebenen und Gestoßenen durch jenen Stoß, den sie niemals antreffen, weil er aus dem Sein kommt, aus seiner Verweigerung, wogegen sie nur ihr wirksames Seiendes als Erklärungsbereich kennen und kennen dürfen.« Siehe ferner GA 95, 284 f., 313, 365 f., 426 f.; GA 96, 40, 61 f., 106 f.; GA 97, 128, 131, 134. 48 GA 94, 266. 49 GA 94, 124, 121; GA 95, 100, 160 f., 252, 283, 297; GA 97, 207 f. 50 GA 97, 3: »Nur das Seyn ist und wenige unbekannte Boten seiner Wahrheit dürfen für das Seyn eine Welt gründen und die Erde grüßen. Gegrüßtsein ist Erleuchtung. Nur wer erleuchtet worden, kann sein Wesen und in diesem erst sich selbst kennen.« Vgl. ebd. 22, 26 f. 51 GA 94, 345.
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oder Mitstreiter unter den Lebenden auszumachen vermag. Vielmehr zieht sich durch die Schwarzen Hefte die Klage, von niemandem verstanden zu sein und neben der Last des Wagnisses, der Verantwortung und der Arbeit auch die der Einsamkeit tragen zu müssen. 52 Allerdings scheint Heidegger überzeugt gewesen zu sein, es müsse eine Art von mystischer Gemeinschaft 53 der vom Sein ereigneten DaGründer geben; es müßten andere Wissende in den Bereichen des Opfers 54, des Denkens, der Kunst und der Dichtung in Ernst und VerSo etwa GA 94, 304, 175, 251, 355; GA 95, 198, 322, 417; GA 97, 29, 37, 49, 82, 101, 110 f., 111 f., 179, 265. 53 GA 96, 233: »Geschichte west dann, wenn die einzelnen Einsamen als die Gründer des Wesens der Wahrheit im höchsten wechselweisen Anerkennen aneinander vorbeigehen.« Ebd. 252: »Sichloslassen aus der Sucht nach Unterkünften im Bestätigen, ist der erste Schritt des Vordenkens in das Sein. Die also Denkenden bedürfen keiner Gemeinschaft, um einig zu sein im Einzigen.« Ebd. 159: »[Solche] dürfen wir wohl in jenen wissen, die in einem weit vorlaufenden Dichten und Denken einer anderen Geschichte angehören. Wo sie sind und ob sie sind, bleibt so sehr verborgen, daß nicht einmal dieses Fragen nach ihnen wach oder geläufig wird. Diese […] Unsichtbaren und allein Wirklichen bereiten das ›Dichterische‹ vor, in dessen Grund einzig die Geschichte des Menschen ergründet ist.« Vgl. ebd. 267 f.; GA 94, 491, 40, 59, 251; GA 95, 31, 116 f., 164, 203 f.; GA 97, 26 f., 90, 101 f., 107, 109, 115, 149, 229, 255; GA 65, 400. 54 Als geradezu grotesk und gespenstisch mutet es an, wenn Heidegger vom Beginn des Krieges bis 1945 und darüber hinaus den Blutzoll, welchen die deutschen Soldaten zu entrichten hatten, nicht als sinnloses Hingeschlachtetwerden, sondern als Opfer auffaßt, welches der »fernen Verfügung« gilt; dies umso mehr, als er den Krieg im Lichte der Vollendung der Neuzeit, der sich aufspreizenden Subjektivität, des Willens zum Willen, der »totalen Mobilmachung« (Ernst Jünger) und des Riesenhaften deutet. Den Soldaten unterstellt Heidegger dabei eine Art von Wissen um die Bestimmung des von ihnen erbrachten Opfers. Vgl. dazu u. a. GA 96, 275: »Vielleicht ist jedesmal in dem Abschied der vielen geopferten Bauernsöhne die Heimat reiner und unvergänglicher aufbewahrt und ihrer Bestimmung zugekehrt als in unseren Bemühungen, die oft am Vergänglichen haften bleiben.« Ebd. 29: »Die verborgene Deutschheit – unantastbar sei das Opfer der Gefallenen; jeder […] soll wissen, daß der Krieger wesentlicher war als es der Schreiber je sein kann.« Ebd. 226: »Das deutsche Blut verströmt umsonst, wenn die geistige Entscheidung der abendländischen Geschichte nicht aus dem verborgenen Geiste des Abendlandes für den aufbewahrten Geist Europas gewagt und in langer Besinnung erkämpft wird.« (vgl. dazu ebd. 256); GA 97, 22: »Nie wäre es zu tragen, was die Geopferten geben, wenn nicht jede Stunde dem Kommenden geweiht wäre.« Zur Zeit der geistigen Neuausrichtung nach dem Krieg notiert Heidegger: »Wissen diese Herren an den Universitäten eigentlich, wen sie in den Frontsoldaten eigentlich vor sich haben? Genügt es zu sagen, dies seien ›ungebildete‹ und irregeführte Ahnungslose […] – weiß man nicht, daß sie innerhalb einer verborgenen, noch gar nicht ausgetragenen Auseinandersetzung der neuzeitlichen europäischen Welt mit sich selber Opfergänge gingen, über die man schweigt, während man andere Dinge, die noch andere Seiten haben, zu einem Riesenlärm miß52
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schwiegenheit ebenfalls ihr weltstiftendes Werk vorantreiben, ohne voneinander Kunde zu haben. Anders bei der Staatsgründung – hier glaubte Heidegger für einige Monate in den Führern der nationalsozialistischen Bewegung ein solches Wissen ansatzweise voraussetzen zu dürfen, wie er auch im Erstarken der Bewegung den Anbruch der neuen Weltzeit meinte ausmachen zu können. Mit dem Übergang vom ersten zum anderen Anfang vollzieht sich für Heidegger auch der Brückenschlag vom Griechentum zu den Deutschen; so dekretiert er bereits 1932: »Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen …« 55, womit eben auch »seiner die Übernahme der fernen Verfügung des Anfangs allein wartet« 56. Diese rational kaum abzusichernde Überzeugung entnimmt Heidegger in erster Linie Hölderlin, wobei Wendungen wie »ferne Verfügung« 57 und »geheimes geistiges Deutschland« 58 auf eine vermittelnde Rolle des Georgekreises schließen lassen. Es gilt aber auch noch etwas anderes zu berücksichtigen. Den Schwarzen Heften ist zu entnehmen, daß für Heidegger »Bodenständigkeit«, »Wurzelhaftigkeit«, Erd- und Landschaftsgebundenheit früh zu philosophischen Kategorien und folgenreichen Kriterien werden. Man findet sie bereits 1932, und zwar sowohl im Zusammenhang mit der heraufkombraucht und überall nur ›Opfer‹ sieht, wo vielleicht die Voraussetzung zum Opfer fehlte?« Der zuletzt zitierte Satz ist in seiner Infamie schwerlich zu überbieten und kommt, die Homonymie von sacrifice und victim im Deutschen sich zunutze machend, einer Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus gleich. Siehe ferner GA 96, 373; GA 97, 28. Auffallend ist, daß Heidegger dabei den Opfermut der Soldaten stets in Beziehung sieht zu seinem denkerischen Einsatz, was ihn zu dem folgenden Notat verleitet, welches wiederum, diesmal an Peinlichkeit, kaum zu überbieten sein dürfte: »Für den geistig handelnden Menschen gibt es heute nur zwei Möglichkeiten: entweder draußen auf der Kommandobrücke eines Minensuchers zu stehen oder das Schiff des äußersten Fragens gegen den Sturm des Seyns zu drehen.« (GA 97, 160; vgl. dazu ebd. 174, 177). 55 GA 94, 27 (Hervorhebung R. Th.); GA 96, 65: »Die Auseinandersetzung mit dem letzten Metaphysiker kann nur als deutsches Denken Geschichte werden, weil ihm die Weite und Abgründigkeit vorbehalten ist, aus der das anfänglich griechische und das vollendende neuzeitliche Fragen ursprünglich überwunden werden kann.« 56 GA 94, 95 (Hervorhebung R. Th.). Vgl. ebd. 97: »Ob wir es vermögen zu erfahren und zu erfragen, welcher Vorrang unserem Volk vom Schicksal zugemessen ist?« Ebd. 109: »… den geheimen volklichen Auftrag der Deutschen zurückzuknüpfen in den großen Anfang.« Vgl. ebd. 110, 121, 125, 317, 501 f., 521 f. 57 GA 94, 54, 45, 59, 63, 95, 100, 163. 58 GA 94, 155.
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menden Epoche 59 als auch mit Heideggers Selbstverständnis 60. Der Seinsbezug bleibt dem Bodenständigen vorbehalten, während das »dem nur Seienden Verfallene und dem Seyn Entfremdete« das »Bodenlose« ist, »das sich selbst ausschließt, weil es das Seyn nicht wagt«. 61 Deutsche und Griechen sind somit in ihrer Bodenständigkeit und »Innigkeit« 62 untergründig miteinander verbunden. 63 Heideggers Rede von einer »griechisch-deutschen Sendung« 64 beinhaltet aber noch einen weiteren, höchst folgenreichen Aspekt: den Gedanken nämlich, daß das Römertum 65, das Jüdische und das ChristenGA 94, 38: »… die Welt ist im Umbau zu ihr selbst. Wir nähern uns wieder der Wahrheit und ihrer Wesentlichkeit – wir werden gesonnen, alles, was sie verlangt, zu übernehmen und in ihr Stand zu nehmen – boden-ständig zu werden.« GA 97, 60. 60 GA 94, 38: »Boden-ständig kann sein, wer aus Boden herkommend, in ihm genährt und auf ihm steht – dies das ursprüngliche – jenes was mir oft durch Leib und Stimmung schwingt – als ginge ich über die Äcker am Pfluge, über einsame Feldwege zwischen reifendem Korn, durch die Winde und Nebel, Sonne und Schnee, die der Mutter Blut und das ihrer Vorfahren im Kreisen und Schwingen hielten.« GA 94, 168: »Die Wissenden […] einsam, in den Grund verwurzelte Bäume …« GA 97, 192: »Die gesunde Kraft einer langen Folge von Bauerngeschlechtern muß sich wohl versammelt haben, um das Denken auszutragen und – sich darein und in sein Bleibendes zu verströmen.« Vgl. ebd. 101. Nachdem Heidegger die Entwicklung, die der Nationalsozialismus genommen hatte, kritisch zu beurteilen begann, und ihn als »undeutsch« qualifizierte (GA 94, 233), übte er im selben Zug Kritik an der völkischen Weltanschauung, die Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit nur vortäusche: »Die vielen, die jetzt ›über‹ Rasse und Bodenständigkeit reden, und in jedem Wort und jeder Unterlassung ihrer selbst spotten und beweisen, daß sie von all dem nichts ›haben‹, geschweige denn von Grund aus rassig und bodenständig sind.« (GA 94, 173; vgl. ebd.219; 158: »für die entwurzelten Städter und Heutigen«). 61 GA 95, 96 f. 62 Hölderlin zitierend ortet Heidegger Innigkeit dort, »wo jeder mit Sinn und Seele der Welt angehörte, die ihn umgab« (GA 39, 117). 63 GA 16, 283: »… des uns stamm- und wesensverwandten Volkes der Griechen …« 64 GA 39, 151; von Heraklit spricht Heidegger als »einer Urmacht des abendländischgermanischen [sic!!] geschichtlichen Daseins« (a. a. O. 134). 65 Mit dem Römertum bringt Heidegger nebst dem Humanismus den Kulturbegriff in Verbindung: »Wir dürfen der Einsicht nicht ausweichen, daß die anfängliche griechische Welt durch eine Kluft von der römischen geschieden bleibt. Daß aber jene und diese nur in ihren Spätzeiten so etwas wie einen ›Humanismus‹ […] pflegten.« (GA 96, 223) Durch den Kulturbegriff wird, wie Heidegger meint, der Blick verstellt auf die weltgründenden Daseinsmächte der Dichtung, der Kunst (vgl. GA 95, 254), der Philosophie. Sie werden aus dem Bezug zum epochal Geschichtlichen des Seyns gelöst und zu Betätigungsfeldern einer historisch aufgefaßten, über die Jahrhunderte tradierten und Völkergrenzen übergreifenden Kulturpflege herabgesetzt: »Die ›Kulturpolitik‹ wird jetzt zu einer Weltseuche und im übrigen – haben die Franzosen dieses merkwürdige Gebilde erfunden, und wir haben erst später den Nutzen dieses 59
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tum, welche in der Epoche der Metaphysik das abendländische Geistesleben nachhaltig prägten, als Gestaltungsmächte der künftigen Geschichte nicht mehr in Betracht kommen: »Römertum, Judentum und Christentum haben die anfängliche Philosophie – d. h. die griechische – völlig verändert und umgefälscht.« 66 »Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken […] das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums geblieben.« 67 Dies gilt es im Auge zu behalten, wenn wir uns der zweiten Phase in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken zuwenden. Zu einem Zeitpunkt, als das seinsgeschichtliche Denken eben erst Gestalt angenommen hatte, Heidegger die Welt im Umbruch wähnte und die Deutschen dazu berufen sah, inmitten der »Weltlosigkeit« 68 eine neue Welt aufzurichten, begann er sich für den im Erstarken begriffenen Nationalsozialismus zu erwärmen. Die ersten Eintragungen, vermutlich aus dem Winter 1932/33, geben folgendes Bild: »Die politische Erregung der Jungen« 69, ihr »politische[s] Wollen« 70, die »jüngste überraschende Erregung der Jungen in eins mit den ungewöhnlichsten Alten« 71 hat sich auch Heidegger mitgeteilt, wie aus dem Staccato der folgenden Notiz ersichtlich: »Die Er-regung kein flüchtiger Kitzel – sondern das Erstehen einer Regsamkeit der ›politischen‹ Werkzeuges erkannt. Ist es aber darum weniger das, was es bleibt, das ›historisch‹-technische ›Instrument‹ des römisch-romanischen – neuzeitlichen Geistes – undeutsch bis ins Innerste?« (GA 95, 323). 66 GA 35, 1. 67 GA 97, 20; vgl. GA 94, 55: »… die Verfestigung und Trivialisierung des selbst schon veräußerlichten antiken Seinsverständnisses in der christlichen ›Weltanschauung‹ und deren Säkularisierung […] kann nur durch die Philosophie von Grund aus gesprengt und produktiv ersetzt werden. Aber das heißt doch: an einen völlig neuen Anfang der Philosophie ›glauben‹ ! schließt in sich, dem ersten Anfang gewachsen zu sein und mit ihm – auseinandersetzend – beginnen? Im Vorbauen abbauen, im Abbauen vorbauen, das ist eines …«; ferner GA 95, 406: »Daher auch gerade dort [sc. bei den Westmächten] die merkwürdige religiös-geschäftliche-›politische‹ Verteidigung des Christentums – daher auch dort das völlige Unvermögen, den metaphysischen Anfang der abendländischen Geschichte bei den Griechen in seiner Abgründigkeit zu begreifen; daher, als schon lang bestehende Folge, das Ausweichen in den ›Humanismus‹.« Vgl. ferner GA 96, 205, 223. 68 GA 94, 218: »… weil wir keine Welt haben und nur eine Wirrnis des Seyns.« Siehe ferner GA 95, 97. 69 GA 94, 61. 70 Ebd. 58. 71 Ebd. 62; vgl. 117.
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Übernahme von Seiendem – das Ertragen einer frühen Härte, das Nahen einer freien Zucht – erwachende Verbundenheit mit dem, was bedrängt. Arbeit – Volk – Zucht – Staat – Anbruch von Welt.« 72 Man sieht: vom ersten Moment an taxiert Heidegger die Bewegung aus dem Blickwinkel des Seinsdenkens. Dabei sieht er sie in Gefahr und fühlt eine Verpflichtung, sich ihrer anzunehmen: es drohen »Verwirrung und Vertrübung einer werdenden Fügung und eines beginnenden Fugs« 73; das Erwachen ist noch »ohne die weisende Kraft in eine ferne Verfügung«, es bedarf »der Kälte des Begriffs und der Schärfe der Bedrängnis der wesentlichen Furchtbarkeit des Seins« 74. Die Verschmelzung von Seinsdenken und nationalsozialistischem Engagement ist vollzogen. Wesenszüge derselben zeichnen sich bereits ab: die Auffassung etwa, die nationalsozialistische Bewegung füge sich in das Seinsgeschehen, laufe aber Gefahr zu entarten: »Der Nationalsozialismus nicht als fertige ewige Wahrheit vom Himmel gefallen – so genommen wird er eine Verirrung und Narretei. So, wie er geworden ist, muß er selbst werdend werden und die Zukunft gestalten – d. h. selbst als Gebild vor dieser zurücktreten.« 75 Mit anderen Worten: Der Nationalsozialismus bedarf noch einer Transformation, um zu seinem eigentlichen Wesen im Sinne der »fernen Verfügung« zu gelangen. 76 Was der Bewegung fehlt, ist Wissen: »Die Philosophie kann […] ein Wissen schaffen, das mittelbar in je verschiedenen Stufen der Klarheit, Fülle und Strenge als wesentliches Wissen des Volkes um sich selbst in dieses sich einpflanzt. […] Dieses Wissen allein schafft den Gewittersturm, in dessen Bereich – wenn überhaupt – die Blitze
Ebd. 61. Ebd. 74 Ebd. 59. 75 GA 94, 114 f.; vgl. ebenda: »Der Nationalsozialismus ist nur dann eine echte werdende Macht, wenn er hinter all seinem Tun und Sagen noch etwas anderes zu verschweigen hat – und mit einer starken, in die Zukunft wirkenden Hinter-hältigkeit wirkt. Wenn aber das Gegenwärtige schon das Erreichte und Gewollte wäre, dann nur ein Grauen vor dem Verfall übrig.«; ebd. 430: »Nur dann wird das geschichtliche Dasein unseren politischen Willen unterlaufen und überhöhen, wenn es dichterischdenkerisch von sich aus seinen anderen Anfang findet. Alles bloße Mitlaufen mit dem politischen Willen ist unzureichend und entspricht niemals der Einzigartigkeit unserer Sendung.«; vgl. ferner ebd. 92. 76 Vgl. dazu den Brief an Elisabeth Blochmann vom 30. 3. 33 in GA 16, 71 f. Ferner Heideggers Beurteilung im Rückblick, GA 16, 374–377, 389 f., 398, 414. 72 73
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der Götter uns treffen und die Weltstunde des Volkes ansagen.« 77 Als Träger solchen Wissens sieht sich Heidegger dazu gedrängt, sich einzuschalten. 78 Sein Parteieintritt, so schreibt er an seinen Bruder, ziele auf eine »Läuterung und Klärung der ganzen Bewegung« 79 ab. An ein Beiseitestehen in dieser »Weltstunde« 80 ist nicht zu denken; geht es doch um die eine Entscheidung zwischen Seiendem und Sein. 81 Sein Rektorenamt begreift Heidegger in erster Linie als Möglichkeit, führenden Kräften dieses Wissen zu vermitteln. Dabei setzt Heidegger voraus, daß Aufbruch und Begeisterung in sich schon Vorformen des Wissens sind; daß ein solches bei den von der Bewegung Erfaßten ansatzweise vorausgesetzt werden kann. 82 Wissenserzie-
GA 16, 333. Mit den Worten »Man muß sich einschalten« nahm Heidegger von Jaspers bei deren letzter Begegnung Abschied. Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie, München: Pieper 1977, 100. Im Tenor ähnlich heißt es im Brief an Elisabeth Blochmann vom 30. 3. 33, GA 16, 71: »Das gegenwärtige Geschehen hat für mich […] eine ungewöhnliche sammelnde Kraft. Es steigert den Willen und die Sicherheit, im Dienste eines großen Auftrages zu wirken und am Bau einer völkisch gegründeten Welt mitzuhelfen. […] Wir werden […] die Berufung der Deutschen in der Geschichte des Abendlandes erst finden, wenn wir uns dem Sein selbst in neuer Weise und Aneignung aussetzen. So erfahre ich das Gegenwärtige ganz aus der Zukunft. Nur so kann eine echte Teilnahme wachsen und jene Inständigkeit in unserer Geschichte, die freilich Vorbedingung für ein wahrhaftes Wirken bleibt. Demgegenüber muß in aller Ruhe jenes überall aufschießende und allzu eilige Mitlaufen mit den neuen Dingen hingenommen werden. Jenes Sichankleben an das Vordergründliche, das nun plötzlich alles und jedes ›politisch‹ nimmt, ohne zu bedenken, daß das nur ein Weg der ersten Revolution bleiben kann. Freilich kann das für Viele ein Weg der ersten Erwekkung werden und geworden sein – gesetzt daß wir uns für eine zweite und tiefere vorzubereiten gesonnen sind.« 79 GA 16, 93. 80 GA 16, 319; GA 94, 109, 498 f.; vgl. ebd., 112: »Weltaugenblick« 81 In einer Ansprache an die Studienanfänger führt Heidegger als Rektor aus, »unter der Befehlskraft der neuen deutschen Wirklichkeit« werde die Immatrikulation »zur Entscheidung. Das ›Examen‹ steht für den neuen Studenten nicht am Ende der Studierzeit, sondern am Anfang. Und diese Prüfung fordert ihn heraus, entweder wahrzunehmen, daß er sein Dasein begriffen hat, oder aber, sich zu verlieren in den Vorstellungen und Bräuchen einer versinkenden Welt.« (GA 16, 207) 82 GA 16, 202: »… wo das Volk unverbraucht in die Wurzeln seines Daseins hinabreicht, wo es verwegen zu sich selbst drängt – bei der deutschen Jugend. Sie hat keine Wahl. Sie muß. Sie weiß – gemäß dem ihr eigenen Wissen – sich angesetzt auf das Ziel, im Werden des Staates seinen neuen Wissensanspruch durchzusetzen.« Siehe ferner GA 94, 498, 499. 77 78
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hung 83, Aufklärung der Studenten, Dozentenlager 84, Dozentenschulung 85 und das Hinwirken auf eine gesamtdeutsche Dozentenakademie 86, eine »künftige[.] hohe[.] Schule des deutschen Geistes« 87 bzw. »Reichshochschule« 88 werden ihm zu einer Herzensangelegenheit, ebenso wie die Durchdringung der darniederliegenden Wissenschaften mit Seinswissen. Philosophie erfährt damit ihre Transformation in »Metapolitik«. 89 »Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität« war angedacht als ein freibeuterischer Akt: »Die Universität ist tot, es lebe die künftige hohe Schule der Wissenserziehung der Deutschen.« 90 Ein Wissen ist insbesondere beim Führer vorauszusetzen; anders ist seine Entschlossenheit und Durchschlagskraft nicht zu denken: »Der Führer hat das sichere Wissen um das Einfache. Er hat zugleich den unbändigen Willen zu seiner Durchsetzung.« 91 Sichtlich hat HeiGA 94, 132: »… der Inangriffnahme der dringlichsten Erziehungsaufgabe an der deutschen Jugend: der volklich, geschichtlich, geistigen Wissenserziehung, für die Wissen nicht mehr bedeutet: unverbindlicher Besitz an Kenntnissen, sondern ein Sein – das sich begreifende und im Begriff ergriffene Gewachsensein gegenüber der großen und deshalb schweren Zukunft unseres Volkes.« Siehe ferner ebd. 122 f., 126, 117 f., 137. 84 GA 16, 170. 85 Siehe dazu die programmatischen Richtlinien zur »Einrichtung der Dozentenschule«, GA 16, 308–314. 86 GA 16, 213 (zu Punkt 7), 177. 87 GA 16, 170; vgl. ebd. 213, 177. 88 GA 94, 117. 89 GA 94, 124: »Die Metaphysik des Daseins muß sich nach ihrem innersten Gefüge vertiefen und ausweiten zur Metapolitik ›des‹ geschichtlichen Volkes.«, siehe ferner ebd. 115, 116. 90 GA 94, 125. Ebd. 139: »Die erste Führeraufgabe in der Wissenserziehung ist: die Ziele im Ganzen zu setzen und auf den Weg zu bringen und die Waffen zu schaffen. Jenes [sc. das Wahrnehmen der Verwaltungsaufgaben] führt allenfalls zu einer ›Universitätsreform‹. Dieses macht der Universität ein Ende und schafft Ursprung.« Ebd. 128: »Das Ende der Universität und der Anfang des neuen Wissens. Beides gehört zusammen; dieses be-endigt jene.« Ebd. 498: »Wer vermag jedoch jenen Entschluß aufzunehmen in eine sich bildende Stätte der Bergung der Wahrheit, wer vermag ihn zuvor denn ganz zu vernehmen und alles Gelernte daranzugeben für die Übernahme des ganz Anderen.« Vgl. ferner ebd. 122, 123, 126 f. 91 Die Deutsche Universität (Zwei Vorträge in den Ausländerkursen der Freiburger Universität, 15. Und 16. August 1934.) GA 16, 307. Im vollen Wortlaut heißt es: »Das ganze neue Geschehen, in dem unser Volk steht, ist im Grund einfach. Einfachheit ist ein Zeichen der Größe. […] Der Führer hat das sichere Wissen um das Einfache. Er hat zugleich den unbändigen Willen zu seiner Durchsetzung. Wer das Große wirklich sehen will, muß selbst Größe haben; […] Erziehung des Volkes durch den Staat zum 83
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degger für einige Zeit im Führer den Vollstrecker des Werks der DaGründung im Bereich des Politischen 92 gesehen. Heideggers Konzept der »Wissenserziehung«, verbunden mit dem Ansinnen eines radikalen Funktionswandels der Universitäten, sein Vorhaben, den Nationalsozialismus über sich selbst aufzuklären, ja selbst »den Führer zu führen« 93, war vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt. Mit Enttäuschung mußte Heidegger feststellen, daß niemand bereit war, die Bedeutung seines Seinswissens zu würdigen; daß man bei höherer Stelle 94 Bäumler, Krieck und Rosenberg den Vorzug gab, wenn es um die ideologische Ausrichtung ging; auch daß er fälschlicherweise Elan und Begeisterung für eine rudimentäre Form des Wissens gehalten hatte, auf die sich aufbauen ließe; daß sein Ziel, eine elitäre Führungs-Riege der Wissenden zum »Aufbau der neuen geistigen Welt« heranzubilden, nicht zu erreichen war. 95 Heideggers Enttäuschung betraf aber noch einen weiteren Volk – das ist der Sinn der nationalsozialistischen Bewegung, das ist das Wesen der neuen Staatsbildung. Solche Erziehung zum höchsten Wissen ist die Aufgabe der neuen Universität.« Erziehung des Volkes durch den Staat zum Volk – dieser Satz ist erläuterungsbedürftig. Wie Heidegger der Auffassung war, der Nationalsozialismus müsse durch das seinsgeschichtliche Wissen erst zu seiner Wesensbestimmung gebracht werden, so meinte er auch, die Deutschen könnten erst durch die bewußte Erfüllung ihrer seinsgeschichtlichen Mission zu ihrem Wesen gelangen. 92 GA 16, 318: »So ist es mit der Philosophie. So ist es mit den beiden anderen Grundmächten, durch die ein geschichtliches Dasein eines Volkes gestiftet wird, mit der Dichtung und der Tat der Staatsschöpfung. Dichten, Denken, politische Tat in diesem wesentlichen Sinne, das sind […] die in sich zusammengehörigen Grundgeschehnisse der Zeiten, der Völker und ihrer Weltstunde.« 93 An einer 1933 erfolgten Berufung nach München reizte Heidegger die »Möglichkeit, an Hitler heranzukommen« (GA 16, 168). Daß Heidegger »den Führer führen« wollte – die Formulierung stammt von Jaspers –, gibt den Eindruck wieder, den dieser in Gesprächen mit Heidegger gewonnen hatte. Vgl. dazu: Otto Pöggeler: Den Führer führen? Heidegger und kein Ende. In: Philosophische Rundschau 32/1985, 27, Fußnote 1, ferner: Karl Jaspers: Notizen zu Martin Heidegger, Hrsg. von Hans Saner, München/Zürich: Pieper 1978, 183. 94 Dazu Heidegger rückblickend: »… Wie aber kann solches Vorhaben [sc. der gesamtdeutschen Dozentenakademie] einer amtlichen Stelle nahegebracht werden? Das ist unmöglich. Und diese Annäherung wurde dann auch rechtzeitig unterbunden.« (GA 95, 125 f.) 95 Wohl aus der Erfahrung der gescheiterten Vermittlung seines Wissens bildete sich bei Heidegger die Überzeugung heraus, daß er sein seinsgeschichtliches Denken erst auszugestalten und in jene Werkgestalt zu bringen habe, die als Werk des Denkens im Verein mit dem Werk der Dichtung, der Kunst, der Staatsgründung und des Opfers weltstiftend werden könnte. In diesem Lichte sind die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [GA 65] zu sehen; siehe dazu unten FN 148–151.
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Punkt: er hatte erhofft, das revolutionäre Momentum des Aufbruchs werde ausreichen, mit allem tabula rasa zu machen, was für den Aufbau »der heraufkommenden neuen geistigen Welt« 96 nicht mehr in Frage kommt. Neben dem Wissenschafts- und Kulturbetrieb, neben Humanismus und liberaler Bürgerlichkeit 97 zählte dazu vor allem auch das Christentum: »Grundbedingung für die kommende Umerziehung des Volkes ist: Abbau jener merkwürdig unwirklichen Scheinwelt, in der wir uns vor dem Kriege bewegten […] – einem leeren Patriotismus und einem entscheidungslos gewordenen Christentum […] All das muß bis in seine letzten und verstecktesten Äste ausgebrannt werden.« 98 Die diesbezügliche Erwartung manifestiert sich im martialischen Tonfall 99 Heideggers während dieser Phase und weit darüber hinaus. Wörter wie Härte 100, Sturm 101, Kampf, UnGA 16, 301. GA 94, 136: »Die drohende Verbürgerlichung der Bewegung wird gerade dadurch wesentlich unmöglich, daß der Geist des Bürgertums und der durch das Bürgertum verwaltete ›Geist‹ (Kultur) von einem geistigen Nationalsozialismus her zerstört wird.« Vgl. GA 16, 240. 98 GA 16, 282; im vollen Wortlaut heißt es: »Aber die Befreiung zu dieser Freiheit verlangt die völlige Umschaffung des ganzen Gefüges des Volkes […] Diese Umschaffung wird das Werk einer langen Umerziehung. Und diese wieder steht unter zwei großen Grundbedingungen: Die erste ist die Überwindung alles spießerhaften Wesens […] Und die zweite Grundbedingung für die kommende Umerziehung des Volkes ist: Abbau jener merkwürdig unwirklichen Scheinwelt, in der wir uns vor dem Kriege bewegten und die nach dem Kriege noch einmal aufflackerte und zur Gesetzlosigkeit ausartete – jenes eigentümliche Gemisch aus einem unechten Humanismus, – einem leeren Patriotismus und einem entscheidungslos gewordenen Christentum […] All das muß bis in seine letzten und verstecktesten Äste ausgebrannt werden.« Vgl. ebd. 71 f., 117, ferner GA 94, 55, 492 f. Deutlicher noch als in den Nietzsche-Vorlesungen und lange vor diesen zeigt sich in den Schwarzen Heften Heideggers tiefsitzendes Ressentiment gegen alle Erscheinungsformen des Christlichen und im besonderen gegen den Katholizismus; vgl. dazu unten FN 110. 99 Exemplarisch sei hier angeführt ein Auszug aus Heideggers Rede bei der feierlichen Immatrikulation am 23. November 1933, GA 16, 204: »Die Kameradschaft prägt den Einzelnen über sich hinaus und schlägt ihn in das Gepräge eines ganz eigenen Schlages der Jungmannschaft. Wir kennen die Festigkeit ihrer Gesichtszüge, die gestraffte Klarheit ihres Blicks, die Entschiedenheit ihres Händedrucks, die Rücksichtslosigkeit ihrer Rede. Der eigenbrötlerische Einzelne ebenso wie die zucht- und richtungslose Masse werden zerschlagen von der Schlagkraft dieses Schlages junger Menschen.« 100 GA 16, 131: »… unser Mut steigt, – das Dunkel zu brechen und der kommenden Härte mannhaft standzuhalten«. 101 GA 94, 429: »Nichts ist dem gewöhnlichen Denken fremder und verdächtiger als der Schritt in das Ungeschützte, weil da – nach der üblichen Rechnung – nur mit 96 97
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erbittlichkeit etc. häufen sich. In den Schwarzen Heften läßt der Satz aufhorchen: »Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Größe.« 102 Durchgehend ist in den Schwarzen Heften im Hinblick auf die zur Vollendung gelangte Metaphysik vom Untergang die Rede. Sie bleibt in der Regel unbestimmt und kryptisch. Bisweilen gibt es Stellen, die vermuten lassen, Heidegger denke dabei an eine Art von Implosion. 103 Daneben gibt es aber auch Stellen, die von der Unumgänglichkeit einer Auseinandersetzung sprechen. Einen Begriff davon gibt eine Stelle aus der Vorlesung vom WS 33/34: »Der Feind kann in der innersten Wurzel des Daseins eines Volkes sich festgesetzt haben und dessen eigenem Wesen sich entgegenstellen und zuwiderhandeln. Um so schärfer und härter und schwerer ist der Kampf« – es gelte »den Feind als solchen zu erspähen, […] ihm gegenüber sich nichts vorzumachen, sich angriffslustig zu halten, […] und den Angriff auf weite Sicht mit dem Ziel der völligen Vernichtung anzusetzen.« 104 Ratlos steht man Stellen gegenüber wie: »Was bedeutet dies, daß die Menschenmasse nicht einmal dessen mehr gewürdigt wird, durch einen Schlag vernichtet zu werden; gibt es einen härteren Beweis für die Seinsverlassenheit? Wer ahnt den Anklang des letzten Gottes in
Verlusten gerechnet werden kann. Das Ungeschützte in der Lichtung der Verweigerung ist der Sturm, der im Seyn selbst weht – das Er-eignis selbst steht auf Sturm. – Gewalt – Bändigung – und Brechen und Untergang sind die Zeichen des Seyns. Aber dieser Sturm des Ereignisses ist die Innigkeit der Götterung in der Erzitterung des Seyns.« 102 GA 94, 194; in der Fortsetzung heißt es: »Die Gefahr ist nicht er selbst – sondern daß er verharmlost wird in eine Predigt des Wahren, Guten und Schönen …« Was damit gemeint ist, geht aus GA 39, 99 hervor. Vgl. ferner GA 94, 402: »Die Retter der ›Kultur‹ sind weit verhängnisvoller als alle notwendig gewordene Barbarei, die sie nicht begreifen und der sie nur gewachsen sind durch die Flucht.« 103 GA 94, 175: »Nicht das Heutige berennen oder gar widerlegen wollen – sondern durch Stiftung eines gefügten Künftigen das Bisherige als ein solches, d. h. als Gewesenes setzen und so in den schöpferischen Untergang stellen.« GA 36/37, 14: »Aber niemand wird Sie auch fragen, ob sie wollen oder auch nicht wollen, wenn das Abendland in seinen Fugen kracht und die abgeleitete Scheinkultur endgültig in sich zusammenstürzt und alle Kräfte in die Verwirrung versetzt und im Wahnsinn ersticken läßt. Ob das geschieht oder nicht geschieht, das hängt allein davon ab, ob wir als Volk uns selbst noch wollen oder ob wir uns selbst nicht mehr wollen. Jeder entscheidet darüber mit …« GA 94, 498: »Doch dieses alles muß geschehen, damit das Seyn noch einmal zu einer Weltstunde sich entschließt […] und alles Rechnen und Machen, so es zum ersten und einzigen sich aufgespreizt hat, als kleine Sucht in sich zusammenfällt.« 104 GA 36/37, 91; vgl. ferner GA 16, 72; GA 95, 196 f.
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solcher Versagung?« 105 oder: »Deren [sc. der Technik] letzter Akt wird sein, daß sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist, sondern die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunreinigung durch die Vormacht des Seienden.« 106 Sehr bald zeigt sich Heidegger enttäuscht darüber, daß die Bewegung sich in der revolutionären Attitüde und radikalen Rhetorik erschöpft, ohne zur Tat zu schreiten; daß der revolutionäre Elan nur vorgehalten hat, bis die Pfründe neu verteilt waren. 107 Alles sei, mit einem neuen Anstrich versehen, beim Alten geblieben. 108 Indem sie sich mit dem Erreichten zufriedengibt, verfehlt die Bewegung ihre geschickhafte Bestimmung. Was die »überlebte Scheinkultur« anbelangt, ist man auf Ausgleich bedacht oder übernimmt ihre Formen, statt auf Konfrontation zu gehen. Statt die Menschen »der Härte des Seins auszusetzen«, werden sie in betriebsmäßiger Organisation von »Kraft durch Freude« mit Kultur und Erlebnissen versorgt, was heißt: von der anstehenden Entscheidung abgelenkt. 109 Ein besonderes Ärgernis, dem fortgesetzt in Eintragungen Ausdruck gegeben wird, ist GA 94, 282 f. GA 96, 238. 107 GA 94, 118 f.: »›Bewegung‹ aber nicht das richtungslose, sprunghafte, launenhafte Probieren und rasch Wiederaufgeben. Nicht Organisation und Stellenbesetzung und darauf Rückkehr und Verbleib beim bisherigen Menschentum. […] Die Gefahr der Unzulänglichkeit wird sich aber noch steigern, wenn sich solche Massenreste in der Partei – als ›Kämpfer‹ gestempelt – aufblähen und aus Dauerstellungen heraus alles […] hemmen und innerlich lähmen und vernichten.« Ebd. 120: »Wir dürfen nicht nach den aufgeblähten Kleibürgern die Maße nehmen; wir dürfen nicht die Biedermänner, die sich gegenseitig zu ›Führern‹ ernennen, für die Schöpfer kommender Zeiten halten.« Ebd. 143: »[Man] verfällt […] in die ödeste Spießbürgerei und drängt auf Nachahmung und Eignung der bürgerlichen Vorrechte und deren Ansehen; das verfügbar Vorhandene Herrschende wird aufgegriffen, um sich damit selber zur Herrschaft zu bringen; ›man‹ scheut den Kampf, der nach vorne ins Ungewisse stößt …«. 108 GA 94, 155: »[D]ie zeitgemäße ›Führung‹ soll es nicht auf inneren Wandel und Selbsterziehung absehen – sondern auf möglichst sichtbare Anhäufung neuer Einrichtungen oder auf eindrucksvolle Änderung des Bisherigen. Es kann bei diesem Tun aber das Wesentliche ganz beim Alten bleiben.« Ebd. 133: »Der Grundmangel […] liegt nicht darin, daß zu wenig und dieses nur zögernd und unsicher geschieht, sondern daß zuviel und zu überstürzt im Handumdrehen als neu gemacht werden will. Als sei der Nationalsozialismus ein Anstrich, der allem jetzt schnell aufgetragen wird. Wann begreifen wir etwas von der Einfachheit des Wesens und der bedächtigen Stetigkeit seiner Entfaltung in Geschlechtern. Wir taumeln je nur in abwegigen und überkommenen, nur scheinbar vorgreifenden Zielsetzungen.« 109 GA 94, 366, 499 f.; GA 95, 196. 105 106
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die mangelnde Frontstellung gegen das Christentum, der Ausgleich mit den Kirchen und das Konkordat mit dem Vatikan. 110 Statt auf Entscheidung und Klarheit zu dringen, bewegt man sich in einem Gemisch von Unvereinbarem. 111 Mit dieser Kritik an der Bewegung, die bereits während der Rektoratszeit einsetzt, ist der Übergang zur nächsten Periode in Heideggers Seinsdenken vollzogen. Was sein Verhältnis zum Nationalsozialismus anbelangt, führt Heidegger nunmehr eine Unterscheidung ein zwischen dem real existierenden Nationalsozialismus – er nennt ihn »Vulgärnationalsozialismus« 112 – und dem »geistigen Nationalsozialismus« 113 und sieht sich selbst vorübergehend als »Widerständi-
GA 94, 117: »Das bevorstehende Konkordat mit dem Vatikan soll ein Sieg werden, weil er die Priester von der ›Politik‹ vertreiben soll. Das ist eine Täuschung; die unvergleichlich gut eingespielte Organisation bleibt – die Macht der Priester ebenfalls …«; ebd. 121: »[w]ir dürfen nicht die Biedermänner, die sich gegenseitig zu ›Führern‹ ernennen, für die Schöpfer der kommenden Zeiten halten. Wir müssen einen tiefen und scharfen Verdacht bereithalten, solang alles sich um eine Auseinandersetzung mit dem Christentum drückt.«; ebd.186: »Indem man aber dem Konkordat gemäß den Kampf gegen die katholische Kirche absagt … […] … den Katholizismus zu bekämpfen […] mit dem ganzen festen inneren Gefüge seiner kirchlichen ›Organisation‹ – ist Grunderfordernis. Doch dieser Kampf verlangt zuerst eine entsprechende Ausgangsstellung und ein klares Wissen um die Lage.«; ebd. 131–133: »Sie [sc. die Hochschule] weiß nichts davon, daß eine Selbstbehauptung nichts Geringeres bedeuten müßte als die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der großen geistig-geschichtlichen Überlieferung, wie sie durch die Welten des Christentums, des Sozialismus als Kommunismus und die neuzeitliche Aufklärungswissenschaft heute noch Wirklichkeit ist. […] Geschichtlich-geistige Welten und Mächte werden nicht dadurch überwunden, daß man ihnen den Rücken kehrt oder [sie; Erg. R. Th.] durch Abmachungen in Ketten legt.« Vgl. ferner ebd. 145 f., 440 f., 456 f., 178, 181–183, 463, 511, 514. 111 GA 94, 260: »Aber welcher Hexenkessel brodelt da – falls es auch nur noch ein Brodeln ist – Christentum, ›positives‹ Christentum, deutsche Christen, Bekenntnis›front‹ !, politische Weltanschauung, erdachtes Heidentum, Ratlosigkeit, Abgötterei der Technik, Vergötzung der Rasse, Anbetung Wagners usf. usf. Man will nicht über sich im Klaren sein …«; ebd. 141: »Beachte die übertriebene Betonung des bisherigen Kampfes, als sei er nun zu Ende. Wer sich nur noch behauptet und dabei einer hohlen Überlegenheit verfällt, der ist am wenigsten gefeit gegen jene Urteilslosigkeit, die eines Tages wahllos alles schluckt und preist, was vordem angeblich bekämpft wurde.« 112 GA 94, 142: »Man kann heute schon von einem ›Vulgärnationalsozialismus‹ sprechen; damit meine ich die Welt und die Maßstäbe und Forderungen und Haltungen der zur Zeit bestallten und geschätzten Zeitungsschreiber und Kulturmacher. Von hier geht, unter hirnloser Berufung natürlich auf Hitlers ›Mein Kampf‹ eine ganz bestimmte Geschichts- und Menschenlehre ins Volk; …« 113 GA 94, 135, 136 110
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gen« 114. Als solcher gibt er seiner Enttäuschung über die Entwicklung, die der Nationalsozialismus genommen hat, reichlich Ausdruck und kritisiert ihn in vielerlei Hinsicht. Zugleich aber stellt er klar, daß seine Widerständigkeit eine andere ist als die der bürgerlich-christlich-humanistischen Reaktion. Dieser war der Nationalsozialismus von je her zu radikal. Heidegger hingegen ist er zu zahm und entscheidungsschwach. Sein Blick ist nicht nostalgisch auf die vorrevolutionären Zustände, sondern zukunftsbezogen auf die »ferne Verfügung« gerichtet. Sein Widerstand gilt ausschließlich dem Vulgärnationalsozialismus, so daß er gleichzeitig, wie in der Vorlesung vom Sommersemester 1935, von der »inneren Wahrheit und Größe« des Nationalsozialismus 115 sprechen kann, wenn er nicht dessen Entartung, sondern sein erst zu erwirkendes Wesen meint. Heideggers Kritik setzt unter anderem am Rassismus und Biologismus an. Hier werde, was Bedingung ist 116, zum Unbedingten erhoben. 117 Es werde angenommen, Kultur und Geistigkeit würden naturhaft aus den gegebenen Bedingungen hervorwachsen, während diese doch nur die Voraussetzung bilden, den Herausforderungen des Künftigen in Freiheit und Entschluß sich zu stellen, womit das Volk als geschichtliches erst zu seiner Bestimmung gelangt. 118 Sieht Heidegger in dieser Epoche seines Denkens den Vulgärnationalsozialismus anfänglich noch negativ und als Gegenstand der GA 94, 171; vgl. ferner ebd. 159, 164, 352. Heidegger sieht sich nun in einer »schöpferisch bejahenden Opposition« (ebd. 156). 115 GA 40, 208; zu der in Klammer hinzugefügten »Erläuterung«, bei der es sich in Wahrheit um eine nachträgliche beschönigende Umdeutung handeln dürfte, vgl. GA 16, 667 f. 116 GA 16, 151: »Jedes Volk hat die erste Gewähr seiner Echtheit und Größe in seinem Blut, seinem Boden und seinem leiblichen Wachstum.« 117 GA 94, 233: »Das ›völkische‹ ›Denken‹ macht das, was eine Bedingung und bildende Kraft ist, zum Gegenstand und eigentlichen Ziel.«; ebd. 351: »… die Rasse nur Bedingung, aber nie das Unbedingte und Wesentliche eines Volkes sein kann.«; vgl. ferner 189, 316, 351, 143, 223, 173, 168. 118 Vgl. GA 94, 143: »Man verbreitet die irrsinnige Meinung, die geistig-geschichtliche Welt (›Kultur‹) wachse pflanzenhaft aus dem ›Volk‹ heraus …«; ebd. 223: »Was politisch im Recht und groß ist, das Volk zu sich selbst zurückzubringen, das wird weltanschaulich willkürlich und klein – zu einer Vergötzung des Volkes, das nun als etwas Vorhandenes gepriesen wird, in dem alles vorhanden […] und aus dem alles ebenso bequem und von selbst herauskommt […] Diese ›völkische‹ Vertierung und Mechanisierung des Volkes sieht nicht, daß das Volk nur ›ist‹ auf dem Grunde des Daseins, in dessen Wahrheit erst Natur und Geschichte – überhaupt erst eine Welt ins Offene kommt und die Erde zu ihrer Verschlossenheit befreit.« 114
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Kritik, so ändert sich diese »widerständige« Einstellung in dem Maße, in dem Heidegger beginnt, dessen Rassenideologie und Züchtungsgedanken als Manifestation des Subjektivismus, des Willens zum Willen, der Machenschaft und des Riesenhaften, des rechnenden Denkens im Dienste der animalitas und brutalitas des animal rationale, kurzum: als Vollendung und Endgestalt der Neuzeit zu begreifen. 119 In dem Maße, in dem dies geschieht, beginnt Heidegger auch diese Ausprägung des Nationalsozialismus in gewisser Weise zu bejahen – muß doch die Neuzeit sich allererst vollenden, ehe es zur Kehre kommen kann. 120 Und ist doch die Machenschaft selbst ein Geschick des Seins und in ihrer äußersten Zuspitzung der »Anklang« der bevorstehenden Ereignung. Der Satz: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« läßt sich nämlich auch umkehren: Damit das Rettende kommen kann, ist dafür Sorge zu tragen, daß die Gefahr ihr Äußerstes erreicht. Es ist dies eine Denkfigur, die für Fundamentalismen jeder Art charakteristisch ist. Im Zusammenhang damit tritt ab 1939, zeitgleich mit dem Hitler-Stalin Pakt, das Russentum in Heideggers Gesichtskreis. Dieses dürfe nicht mit dem Bolschewismus verwechselt werden. Wie die Deutschen sind auch die Russen für Heidegger ein arisches 121, bodenständiges 122 und heimatverbundenes Volk; und ihre Lage gleicht der Dieser Umschwung beginnt im Bd. 94 etwa ab 338 f.; siehe dazu dann ebd. 384 f., 435, 472, 487, 498, 518; ferner GA 96, 48. 120 Die dergestalt motivierte Wertschätzung der diktatorischen Regime des Nationalsozialismus und des Bolschewismus durch Heidegger geht einher mit einer Kritik an der demokratischen Ausrichtung der Westmächte, welche die Vollendung der Metaphysik nicht aufhalten, sondern nur verzögern können. Vgl. dazu GA 95, 405 f.: »In dem, was man geographisch-politisch die ›westlichen Demokratien‹ nennt, ist seit langer Zeit schon […] die ›Neuzeit‹ zum Stillstand gekommen; zum Schritt in die Vollendung fehlt die Kraft und vor allem die Wesensberufung. Alles, was da geschieht, ist Ausgleich – Versuch des Verteidigens und Fertigwerdens, kein vorgreifendes Gestalten und Lenken; von dort fallen keine Entscheidungen – vor allem nicht solche der wesentlichen Besinnung auf die anfängliche Grundgestalt einer anderen Geschichte des Seins. Noch legt scheinbare äußere Macht, großer Reichtum, ererbte ›Kultur‹ und bloßer Widerstandsgeist, ein Unmaß von Heuchelei – so etwas wie eine Sperre vor den Übergang in die Vollendung der Neuzeit – diese Sperre kann eine Verzögerung bringen, sie vermag jedoch die Wesensvollendung der Neuzeit nicht aufzuhalten …« Vgl. GA 97, 126 f., 130, 136, 249 ff. 121 GA 96, 47: »Der ›Bolschewismus‹ hat nichts zu tun mit […] dem Slaventum der Russen – also mit dem arischen Grundwesen – er entspringt der abendländisch-westlichen neuzeitlichen rationalen Metaphysik.« 122 GA 96, 257: »Das Russentum hat … ein wurzelhaftes Quellgebiet in seiner Erde, 119
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der Deutschen. Heidegger sieht nämlich im Nationalsozialismus ein Analogon zum Bolschewismus: »Der Bolschewismus (im Sinne der despotisch-proletarischen Sowjetmacht) ist weder ›asiatisch‹ noch russisch – sondern gehört in die Vollendung der in ihrem Beginn westlich bestimmten Neuzeit. Entsprechend ist der autoritäre ›Sozialismus‹ (in den Abwandlungen des Faschismus und Nationalsozialismus) eine entsprechende Form der Vollendung der Neuzeit. Der Bolschewismus und der autoritäre Sozialismus sind metaphysisch dasselbe und gründen in der Vormacht der Seiendheit des Seienden.« 123 Von diesem Befund ausgehend wird Heidegger von dem Gedanken umgetrieben, was nach dem Untergang dieser Endgestalt sich ereignen könnte; was es bedeuten würde, wenn Deutschtum und Russentum im Verein oder in einer noch zu eröffnenden geistigen Auseinandersetzung ihre seinsgeschichtliche Bestimmung erlangen würden; was wäre, wenn »eine rückgewinnende Befreiung des Russentums zu seiner Geschichte […] und eine abgründige Frag-Würdigkeit des Deutschtums zu seiner Geschichte sich anbahnt, wobei die Geschichte beider aus demselben verborgenen Grunde einer anfänglichen Be-stimmung kommt: die Wahrheit des Seyns (als Er-eignis) zu gründen.« 124 Damit sind auch die Russen, um in ihr Wesen zu finden, auf das Seinsdenken angewiesen: »Das unerschlossene Geheimnis des Russentums […] kann nur als ein solches gewährt und gegründet werden durch ein entsprechend ursprüngliches – alle Metaphysik und Alles christliche Kulturgetriebe hinter sich bringendes – denkerisches Ersagen des Abgrunds des Seyns.« 125 Dabei denkt Heidegger offenbar an ein wechselseitiges Geben und Nehmen, an die Möglichkeit, »daß Völker einer ureigenen Geschichtskraft in ihrer Gegenwendigkeit sich zur Einheit bringen: z. B. der wissende Begriff und die Leidenschaft der Besinnung mit der Innigkeit und Weite des Unheimlichen – Deutschtum und Russentum …« 126 »Im Wesen des die sich eine Welteindeutigkeit vorbestimmt hat. Dagegen ist der Amerikanismus die Zusammenraffung von Allem, welche Zusammenraffung immer zugleich die Entwurzelung des Gerafften bedeutet.« 123 GA 96, 109; vgl. ebd. 111: »Der despotische Kommunismus und der autoritäre Sozialismus sind nicht politisch, wohl aber metaphysisch dasselbe.« 124 GA 96, 109 f. 125 GA 96, 48; vgl. ebd. 134: »… einer Geschichtlichen Besinnung, die zu einer Wesensbefreiung des Russentums stark und schöpferisch genug wäre.« 126 GA 96, 56; vgl. GA 95, 402: »Müßte da nicht der deutsche Geist [sc. in der Begegnung mit dem Russischen] in seiner höchsten Kühle und Strenge ein echtes Dunkel meistern und zugleich als seinen Wurzelgrund anerkennen? Vermöchte so erst ein
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Russentums liegen Schätze der Erwartung des Gottes verborgen, die alle Rohstofflager wesentlich übertreffen. Wer wird sie heben? d. h. zu ihrem Wesen befreien […] Wer ist so einfach, daß er sein eigenstes Wesen und sein Fremdestes gleichursprünglich zur Einheit findet und stiftet? Was muß geschehen, damit solches eine geschichtliche Möglichkeit werde? Das Seyn selbst muß erstmals sich in seiner Wahrheit verschenken und dazu muß die Vormacht des Seienden über das Sein, die Metaphysik in ihrem Wesen, geschichtlich überwunden werden.« 127 Zeitgleich mit den Äußerungen zum Russentum mehren sich auch Heideggers Aussagen über das Judentum. Anders als die Russen und Deutschen sind die Juden für Heidegger wurzellos, »an nichts gebunden« 128 und »überall unfaßbar« 129. Zudem wird ihnen eine besondere Begabung und Affinität zur Rechenhaftigkeit zugeschrieben. 130 Vor dem Hintergrund seiner dualistisch-dynamischen Geschichtskonzeption gelangt Heidegger daher zu der Überzeugung, daß der den Juden zuzuweisende Entfaltungs- und Wirkungsbereich im Seienden, näherhin in der zur Vollendung gelangenden Neuzeit liegt, während ihnen, ihrer Disposition gemäß, der Zugang zum Sein verwehrt bleibt. So spricht ihnen Heidegger zunächst die Fähigkeit ab, den Gedanken der Seinsgeschichte überhaupt nachvollziehen zu können: »Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums […] hat darin ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ›Geist‹ verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen zu können. Je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen und Fragen werden, umso unzugänglicher bleiben sie dieser ›Ras-
Menschentum geschichtlich werden [sic!], das einer Gründung der Wahrheit des Seins gewachsen wäre und zu einer Gottfähigkeit berufen?« 127 GA 96, 128. 128 GA 95, 96 f. 129 GA 96, 262; demgemäß spricht Heidegger vom »Weltjudentum« (ebd.) bzw. »internationale[n] Judentum« (GA 96, 133). 130 GA 95, 97: »Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird.« GA 96, 56: »Die Juden ›leben‹ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip …«
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se‹.« 131 Als Beleg für die Stichhaltigkeit dieser Aussage führt Heidegger an, daß Husserl keinen Zugang zur Seinsfrage habe finden können. 132 Doch selbst wenn ihnen das Seinsdenken nicht verschlossen bliebe, würde es den Juden am Mut gebrechen, den Sprung zu vollziehen: »Und vielleicht ›siegt‹ in diesem ›Kampf‹, in dem um die Ziellosigkeit schlechthin gekämpft wird und der daher nur das Zerrbild eines ›Kampfes‹ sein kann, die größere Bodenlosigkeit, die, an nichts gebunden, sich alles dienstbar macht (das Judentum). Aber der eigentliche Sieg, der Sieg der Geschichte über das Geschichtslose, wird nur dort errungen, wo das Bodenlose sich selbst ausschließt, weil es das Seyn nicht wagt, sondern immer nur mit dem Seienden rechnet und seine Berechnungen als das Wirkliche setzt.« 133 Im Seienden, auf das sie beschränkt bleiben, weist Heidegger den Juden eine entscheidende, wenngleich wenig schmeichelhafte Rolle zu: sie scheinen ihm vom Sein dazu ausersehen, die Vollendung der Metaphysik zu erwirken; repräsentieren die Juden doch, wie Heidegger meint, jene »Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche ›Aufgabe‹ übernehmen kann.« 134 Somit ist die »Judenschaft […] im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung.« 135 Prinzip denkt Heidegger hier, wie zu vermuten ist, im Sinne der Arche sowohl als Ausgangspunkt als auch als das von diesem Ausgangspunkt Herrührende und fortan alles Beherrschende. Heidegger sagt darüber: »Das Zerstörerische in der Umkehrung der Vollendung der Metaphysik Hegels durch Marx. Der Geist und die Kultur wird zum Überbau des ›Lebens‹ – d. h. der Wirtschaft, d. h. der Organisation – d. h. des Biologischen – d. h. des Volkes.« 136 Der Wortlaut zeigt hier deutlich, daß Heidegger nicht nur den Bolschewismus für einen Ausfluß jüdischer Geistigkeit hält, sondern auch den Vulgärnationalsozialismus mit seiner Rassenideologie. Daß eine Machtpolitik auf Basis der biologistischen Rassenlehre als Spielart des Bolschewismus anzusehen sei (womit sie in ihrem Kern als »jüdisch« zu qualifizieren ist), – diese Auffassung hat sich bei Heidegger bereits 1933 heraus131 132 133 134 135 136
GA 96, 46. GA 96, 46 f. GA 95, 96 f. GA 96, 243. GA 97, 20. GA 97, 20.
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gebildet 137 und in der Folge, wie aus den Schwarzen Heften zu entnehmen ist, verfestigt. Auch einzelne Momente der politischen Praxis des Nationalsozialismus hält Heidegger für »undeutsch« 138 und »jüdisches Gebahren« 139. Nur so ist die Stelle verständlich, die wiederum unmittelbar anschließt: »Wenn erst das wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das ›Jüdische‹ überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung ›des Jüdischen‹ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt.« Es ist eine von Heidegger vielfach und so auch in den Schwarzen Heften geäußerte Ansicht, daß in Auseinandersetzungen die Kämpfenden dazu neigen, wesentliche Voraussetzungen und Haltungen des Gegners zu übernehmen. 140 In der Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus hat sich, wie Heidegger wohl meint, auf den Nationalsozialismus die Marxsche Auffassung übertragen, das Bewußtsein und die Kultur seien als Überbau und Ausfluß der Basis – in diesem Fall der biologisch-rassischen – zu begreifen. Dabei scheint Heidegger der Auffassung gewesen zu sein, daß nicht nur im Krieg zwischen Deutschland und Russland Völker sich gegenseitig aufreiben, deren eine Ideologie, die im Ursprung jüdisch GA 36/37, 211: »Grundsätzlich unterscheidet sich diese Denkart in Nichts von der Psychoanalyse von Freud und Konsorten. Grundsätzlich auch nicht vom Marxismus, der das Geistige als Funktion des wirtschaftlichen Produktionsprozesses nimmt; ob ich statt dessen das Biologische oder etwas anderes nehme, ist für die entscheidende Frage nach der Seinsart des geschichtlichen Volkes gleichgültig.« Zu dem Umstand, daß auch Freud und die von ihm ausgehende Psychoanalyse von Heidegger stets mit dem Jüdischen assoziiert werden, siehe GA 96, 218: »… die Psychoanalyse des Juden ›Freud‹ …«; GA 95, 258: »… die jüdische ›Psychoanalyse‹ …« GA 95, 60: »… die arischen Abwandlungen der Psychoanalyse …« 138 GA 94, 233. 139 GA 95, 326: »Die ›Kultur‹ als Machtmittel sich anzueignen und damit sich behaupten und eine Überlegenheit vorgeben, ist im Grunde ein jüdisches Gebahren.« Kurz zuvor (323) hatte Heidegger die Kulturpolitik noch als französische Erfindung ausgegeben und sie als »›historisch‹-technische[s] ›Instrument‹ des römisch-romanischen – neuzeitlichen Geistes – undeutsch bis ins Innerste« bezeichnet. 140 GA 96, 255: »Die Abhängigkeit vom Gegner kann in Auseinandersetzungen so entschieden werden, daß sie zur Angleichung an ein Wesen zwingt und den Wesensverlust im Eigenen bringt. Jede Überwältigung des Gegners ist dann nur noch die Befestigung des eigenen Unwesens.« Vgl. ebd. 256: »In der wesenhaft abhängigen Gegenwehr …« 137
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ist, sich bemächtigt hat. Auch Rassenwahn und Züchtungsgedanke haben für Heidegger ihre Wurzeln im Judentum, womit auch die »Endlösung der Judenfrage« als ein Akt der »Selbstvernichtung« anzusehen wäre, in dem »das wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft«: »Durch den Rassegedanken wird ›das Leben‹ in die Form der Züchtbarkeit gebracht, die eine Art der Berechnung darstellt. Die Juden ›leben‹ bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen.« 141 Ein Historiker könnte hier etwa einwenden, daß die Juden aufgrund ihres messianischen Glaubens – dieser schließt auch eine Missionierung aus – und wegen ihrer gesellschaftlichen Isolation in der Diaspora unter sich geblieben seien; daß aber nach der Erlangung der Bürgerrechte mindestens jene Juden, für die der Mosaische Glaube nicht mehr bindend war, keinerlei besonderen Ehrgeiz hatten, ihr Judentum zu pflegen und Mischehen zu meiden. Aber eben – die Historie ist eine Wissensform, mit der die Künftigen sich nicht mehr belasten wollen. Hinsichtlich der vorläufig letzten von jenen Phasen in Heideggers Denken, in welche die Schwarzen Hefte, soweit sie bisher vorliegen, uns einen Einblick gewähren, ist es im vorgegebenen Rahmen geboten, sich kurz zu fassen und sich zu beschränken auf eine skizzenhafte Darstellung und die nötigsten Stellenverweise. Folgendes Bild zeichnet sich ab: Vom Beginn seines seinsgeschichtlichen Denkens an hegte Heidegger über viele Jahre hinweg die Erwartung, die Kehre und das »neue geistige Deutschland« stünden unmittelbar vor der Verwirklichung. Nicht nur während der Zeit, als er in der nationalsozialistischen Revolution selbst den entscheidenden Aufbruch erblickte, sondern auch in den Folgejahren, als er dem Vulgärnationalsozialismus kritisch gegenüberstand, sei es als »Widerständiger«, sei es in pragmatischer Bejahung, lebte Heidegger im Modus der Naherwartung. Dies sollte sich ändern, als die militärische Niederlage Deutschlands sich abzuzeichnen begann. Neben Einträgen, die an der Naherwartung 142 festhalten, finden sich nun in zunehmender Häufung Stellen, in welchen Heidegger sich mit der Möglichkeit
141 142
GA 96, 56. Markant etwa in GA 96, 155 ff., GA 97, 40, 54.
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Heideggers seinsgeschichtliches Denken
einer Parusieverzögerung 143 vertraut macht und darüber sinniert, was die »Zögerung« und das »Ausbleiben des Seyns« 144 im Hinblick auf das »Geheimnis« wohl bedeuten könnten. Zuletzt rechnet Heidegger mit einem Zeitraum von 300 Jahren 145 bis hin zur Kehre im Seyn, wobei aus den Schwarzen Heften nicht ersichtlich wird, wie er auf diese Zahl kommt. Während dieses Interims soll es ein Zugleich, eine Kon-stellation, einen »Vorbeigang« aneinander geben; einen Vorbeigang der Vollendung der Metaphysik einerseits und der Vorbereitung des Künftigen – getragen von den Seltenen, Wissenden, Zukünftigen – andererseits. 146 Dieser Wandel in Heideggers Antizipation des Künftigen hat zur Folge, daß Heideggers Haltung nun ge-
Der Ausdruck stammt freilich nicht von Heidegger, sondern vom Autor. Wegen der strukturellen Analogie indes der Situation Heideggers mit der Lage der Urchristen – daß nämlich das, was sie für gewiß hielten und woraufhin sie ihr Leben ausrichteten, sich nicht einstellen wollte – legt er sich nahe. Heidegger selbst spricht von der »Zögerung« und dem »Ausbleiben des Seyns« (vgl. dazu die folgende FN). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß es Heidegger entgangen zu sein scheint, daß sein Zeitverständnis im Hinblick auf die Seynsgeschichte absolut ungriechisch ist; gehen die Griechen doch von der zyklischen Wiederholung des Gleichen aus! Heideggers Schema entspricht weit eher dem des jüdischen Messianismus: Beginn mit einem nahezu vollkommenen Zustand, der jedoch als solcher nicht gewürdigt werden und zur vollen Entfaltung gelangen kann, im Hinblick auf das Unentfaltete als Verheißung indes fortlebt; dann der Durchgang durch einen Zustand der zunehmenden Entfernung vom Anfang bis hin zur »vollendeten Sündhaftigkeit« bzw. dem »Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit« (GA 96, 93, 106), schließlich die Vollendung im Wiedergewinnen des Anfangs und der Erfüllung seiner Verheißung. 144 GA 97, 112: »Die Erfahrnis: das Leid der Verweigerung der Wahrheit des Seyns selbst; die Seinsvergessenheit. Dieses Leid und der Riß. Der Austrag des Ausbleibens des Seyns. Das Seyn in seiner Verweigerung als dieses ist das Zu-Denkende … […] Austragen die Verweigerung als Hehl der Verheyterung des Ereignisses der Freyheit – Austragen und Warten – Warten und Ereignis.« Ebd. 119: »Alles Geschickliche schickt sich und fügt sich aus der Zögerung – das Wesentliche hält sich in der längsten Zögerung – ist die Ver-Zögerung selbst. Verzögerung ent-wendet und im Ent-wenden zieht es zu sich in die Enteignung der gesparten Huld und braucht so und be-zieht, ereignet den Be-zug. Verzögerung: die Sammlung, die freyende in die und als Zögerung. […] die Verzögerung und das Warten.« Ferner ebd. 55, 36, 42, 60, 94, 109, 110, 120, 143, 233; GA 96, 262. U. a. bezieht sich Heidegger auf Hölderlins Verse »Lang ist die Zeit/es ereignet sich aber das Wahre.«, so in GA 97, 44, 86, 98. 145 GA 96, 196, 224, 225; GA 97, 57, 82, 108, 116, 149 f., 190; vgl. Ebd. 44. 146 GA 97, 25: »Dem Geheimnis des Seyns entspricht es wohl, daß zumal sich ereignet mit dem Wider-fug der Verwüstung der Fug eines Anfangs und daß beide aneinander, sich-nicht-kennend, vorbeigehen.« Ebd. 21: »Vorbeigehen am Rechnen der Macht. Eingehen in die Erwartung des Spielzeitraums des Geschichts.« Vgl. ebd. 44. Ferner GA 71, 28, 75, 78, 82, 84, 91, 95, 138, 142, 143
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löster – gelassener 147, wenn man so will – wird: der Zwang, seinen Zeitgenossen eine unmittelbare Entscheidung zwischen dem Seienden und dem Seyn abzuverlangen, fällt ebenso weg wie das Gedrängtwerden zu jenem monumentalen Werk 148 des Denkens, das im Augenblick weltstiftend sein sollte. Die Metapher des Weges beginnt an die Stelle der Rede vom weltstiftenden Werk zu treten. 149 Wenn unsere These 150 zutrifft, daß die »Beiträge zur Philosophie« Vorarbeiten und »Fingerübungen« zu dem Werk sind, das Heidegger sich abzuringen versuchte, so wird es aus der nunmehr gewandelten Einstellung Heideggers verständlich, daß er von dieser her auf die »Beiträge« als einen zwar notwendigen, aber aus einem Irrweg erwachsenen Teil seines Weges zurückblicken kann. 151 Hat Heidegger anfänglich davon gesprochen, daß es die Aufgabe der Philosophie sei, »dem Seyn zum Durchbruch zu verhelfen«, hat er die Heraufkunft des Neuen von der »Wissensschulung« abhängig gemacht etc., so weicht diese Haltung der Entschlossenheit nun der Einsicht, der Denker könne es dem Seyn überlassen, für sich selbst zu sorgen und den »Augenblick« GA 97, 117: »Seyn – nie fassen, sondern lassen; aber lassen: Seyn.« Ebd. 40: »Wo nur gewirkt wird, ist alles verwirkt. (Alles gerät da in Verlust; nichts Bleibendes zu gründen; dies nur empfangen als das Ereignis selbst.« Vgl. ebd. 23. 148 GA 94, 242: »Das denkerische Mitteilen nur im gefügten Lehren aufgebaut und hingebaut als das denkerische Sprachwerk. Hier ist in einem wesentlich anderen – ursprünglicheren – Sinne das ›Wesen‹ der Sprache am Werk; nicht als Mittel des angemessenen und eingängigen ›Ausdrucks‹, sondern als fügende Aufstellung des Wesenden Wissens und Nichtwissens. Solches Werk muß ›stehen‹, damit die Zeiten und Zeitalter darüber hingehen können.« 149 GA 96, 171: »Gänge des Denkens, die ergangen, dürfen sich nicht mehr zu ›Werken‹ verfälschen, sondern müssen die Spur sein und deren Verborgenes bewahren.« GA 97, 113: »Alles, was ich denkend unterwegs versuchte, sind ungefüge Blöcke; alle Wege nur Holzwege – Bleibe unterwegs.« – Die Rede von den »Blöcken« ist nicht von ungefähr; vgl. dazu die Stelle in Einführung in die Metaphysik, GA 40, 66, wo vom Pomelos, von der Auseinandersetzung die Rede ist, durch die Welt gestiftet wird; diese Auseinandersetzung »wird von den Schaffenden, den Dichtern, Denkern, Staatsmännern getragen. Sie werfen dem überwältigenden Walten den Block des Werkes entgegen und bannen in dieses die damit eröffnete Welt.« Ferner GA 45, 157: »Diese nur Wenigen erst in den Grundzügen sichtbare geistig-geschichtliche Wirklichkeit müssen wir für die Zukunft der heraufkommenden Jugend in den Weg werfen als den Block im gestalteten Werk.« Zur Wegmetapher vgl. ferner GA 97, 117, 191, 203. 150 Dargelegt in der Arbeit des Autors: »Zeit und Sein im Licht der Beiträge zur Philosophie«, in: Heidegger Sudies Vol. 25 (2009): »1989–2009. Twenty Years of Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis): The Impact and the Work Ahead«, 84–87. 151 Siehe dazu GA 97, 191, 176 f., 395. 147
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Heideggers seinsgeschichtliches Denken
seiner Zukehr zu bestimmen: »Die Entscheidung kommt aus dem Seyn selbst.« 152 Den »Irrtum« seiner Rektoratszeit sieht Heidegger nunmehr rückblickend in seinem Aktivismus und der »Übereilung«. 153 Alles verschiebt sich hin zu einem Monergismus des Seyns, wie Heidegger auch seine Notate nun als vom Seyn empfangen, als ein »Diktat des Seyns« 154 begreift. Was wir im Titel als »manichäisch-adventistische Zuspitzung« in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken bezeichnet haben, beginnt sich hier zu entspannen.
GA 96, 171; vgl. dazu GA 71, 168: »Die Überwindung der Metaphysik ist nicht eine ›Leistung‹ von Denkern, die ihre Gedanken über die Vorstellungsweise der ›Philosophen‹ hinaus bringen. Die ›Überwindung‹ ist die Geschichte des Seyns zu der Frist, da dieses die Enteignung des Seienden zurücknimmt.« 153 GA 97, 98: »Der Irrtum war die Übereilung der ›Zeit‹. Das noch nicht Klar-sehen, daß diese ›lang‹ ist – daß nicht durch ›Wirken‹ und mit einem ›Schlag‹ ein Wandel zu schaffen, überhaupt zu machen sei.« Ferner ebd. 24,124, 148. 154 GA 97, 86: »Denken? – Das Diktat des Seyns in die Sprache einschreiben. […] Das bereite und vor-bereitete Sich-sagen-lassen verlangt die höchste Kühnheit.« Ebd. 85, 228, 256, 262, 266. In Entsprechung dazu beginnt Heidegger sich als »Sprachrohr« zu begreifen: »Die Hölderlinvorlesung […] hat für mich selbst einen großartigen Zug. Oft habe ich das Gefühl, nur noch ein ›Sprachrohr‹ zu sein.« (Brief an Bruder Fritz vom 20. Februar 1942, in: Walter Homolka/Arnulf Heidegger (Hrsg.): Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger, Freiburg/Br.: Herder 2016, 79. 152
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Ulrich von Bülow
Das »Hand-Werk« des Denkens – Zum Nachlass von Martin Heidegger 1
I.
Interpretation von Nachlässen
Vergleicht man Nachlässe von Philosophen, bemerkt man oft schon auf den ersten Blick erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Zusammensetzung. Zum Teil lassen sie sich aus den äußeren Lebensumständen erklären. Während Heidegger, bekanntlich ein heimatverbundener Philosoph, selten umzog, zwangen die politischen Umstände seinen Schüler Karl Löwith zur Flucht, die ihn buchstäblich um die ganze Erde führte. Kein Wunder, dass sein Nachlass sehr viel kleiner ist. Heideggers umfangreiche Papiere bestehen zum größten Teil aus Manuskripten und Notizen; auf Korrespondenzen und persönliche Lebensdokumente legte er keinen Wert. Dazu passt, was er seinen Studenten in einer Vorlesung über Aristoteles sagte: »Bei der Persönlichkeit eines Philosophen hat nur das Interesse: Er war dann und dann geboren, er arbeitete und starb. Die Gestalt des Philosophen oder ähnliches wird hier nicht gegeben werden.« 2 Ganz anders dachte Karl Jaspers in diesem Punkt: Der Psychiater und Philosoph der »Existenzerhellung« bewahrte gerade alles Private sorgfältig auf und dokumentierte nicht nur seine eigenen Lebensstationen, sondern auch besondere Vorfälle im Verwandten- und Bekanntenkreis. Heidegger dagegen kümmerte sich vor allem um die Handschriften seiner veröffentlichten und unveröffentlichten Texte; nicht nur die Manuskripte zu Vorlesungen, Vorträgen und Abhandlungen, sondern auch unzählige Notizzettel liegen bis heute in jenen Buchschubern, die er selbst beschriftet hat. Insgesamt handelt es sich um Dieser Aufsatz erschien in gekürzter Form in: Offener Horizont. Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft, hrsg. v. Matthias Bormuth, Jg. 2, 2015, S. 307–327. 2 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (Sommersemester 1924), Gesamtausgabe, Bd. 18 [= GA 18], Frankfurt am Main 2002, S. 5. 1
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Das »Hand-Werk« des Denkens
173 Schuber, die er um 1973 zusammen mit Walter Biemel in vier Reihen angeordnet hat. Die A-Reihe enthält 47 Schuber mit chronologisch sortierten Vorlesungsmanuskripten. Die B-, C- und D-Reihen versammeln in eher unsystematischer Reihenfolge Vorträge, Aufsätze, Vorarbeiten und Notizen in insgesamt 126 Schubern.
Manuskript-Schuber im Nachlass von Martin Heidegger (Foto: DLA Marbach)
Diese durchdachte Ablagestruktur unterscheidet Heideggers Nachlass beispielsweise von dem seines Schülers Hans-Georg Gadamer. Dieser wirkte vor allem im mündlichen Dialog und schenkte seinen Papieren insgesamt wenig Beachtung; sie fanden sich in seinem großen Heidelberger Haus vollkommen ungeordnet an allen möglichen und unmöglichen Orten. Offensichtlich drückt sich bereits in den äußeren Charakteristika von Nachlässen eine gewisse Grundeinstellung der jeweiligen Autoren aus. Wer versucht, Nachlässe zu interpretieren, sollte jedoch immer auch bedenken, dass vieles nicht erhalten bleibt. Alles deutet darauf hin, dass Heidegger bewusst auswählte, was er der Nachwelt überliefern wollte. 305 https://doi.org/10.5771/9783495813805 .
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In seiner Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie zitiert er 1927 eine lange Passage aus Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in der es um unwillentlich überlieferte Hinterlassenschaften geht. Bei seinen Wanderungen durch Paris bemerkt Rilkes melancholische Hauptperson die stehengebliebene Mauer eines ansonsten abgerissenen Hauses: »Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke […] Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem handbreiten Rest der Fußböden, es war unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab, zusammengekrochen.« 3
Aus diesen Rückständen rekonstruiert der Erzähler intuitiv den wenig spektakulären Alltag der früheren Bewohner. Heidegger sieht darin einen Beleg für die Möglichkeit, die Dinge, mit denen jemand umgegangen ist, so zu beschreiben, dass sich eine vergangene Welt, ein früheres In-der-Welt-Sein zeigt. Er wusste aus eigener Erfahrung, was Nachlässe – etwa die von Hölderlin oder Nietzsche – für das Nachleben der Autoren bedeuten können, und wollte nichts dem Zufall überlassen. Zwar wollte er nicht nur Werke, sondern auch Wege überliefern, aber das sollten vor allem Denkwege, weniger Lebenswege sein. Er glaubte nicht, dass man einen Philosophen besser versteht, wenn man seine Briefe oder sein Liebesleben kennt. 4 Die folgende Interpretation des Nachlasses von Martin Heidegger strebt selbstverständlich keine Vollständigkeit an. Vielmehr soll auf der Grundlage repräsentativer Beispiele rekonstruiert werden, welche Funktion die überlieferten Papiere für Heidegger hatten, wie sie entstanden sind und wie er mit ihnen gearbeitet hat. Leitende Begriffe sind dabei Schriftlichkeit, Selbstkommunikation und Verschweigen.
Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927), GA 24, Frankfurt am Main 1975, S. 245. 4 Vgl. Mein bisheriger Weg, in: Besinnung, GA 66, S. 416. 3
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II.
Denken im Modus der Schriftlichkeit
Martin Heideggers Nachlass besteht hauptsächlich aus Manuskripten und Schriftstücken, in denen seiner Meinung nach das Wesentliche seines Denkens enthalten ist. Bekanntlich maß er der Sprache in allen Perioden seines Philosophierens eine fundamentale Bedeutung bei. Die aristotelische Definition des ζῷον λόγον ἔχον übersetzte er nicht wie üblich mit animal rationale, gemeint sei zunächst ein Lebewesen, das mit Sprache und Rede begabt ist: »Der Mensch ist ein Lebendes, das im Gespräch und in der Rede sein eigentliches Dasein hat.« 5 Ähnlich hieß es 1927 in Sein und Zeit: »Als existenziale Verfassung der Erschlossenheit des Daseins ist die Rede konstitutiv für dessen Existenz.« 6 Und diese Einsicht stand auch im Zentrum seiner Spätphilosophie, etwa im Vortrag Der Weg zur Sprache von 1959: »Das Vermögen zu sprechen zeichnet den Menschen zum Menschen aus.« 7 Das Denken ist für Heidegger nur sprachlich vorstellbar und kann sich, wenn es nicht stumm bleibt, entweder mündlich oder schriftlich äußern. Es gibt Philosophen, wie Hans-Georg Gadamer, die zum Denken kaum Papier benötigten, sondern ihre Gedanken vorzugsweise im Gespräch oder beim Diktieren formulierten. Diese spontane mündliche Form des Denkens sah Heidegger als besonders ursprünglich und vorbildlich an. Immerhin habe Sokrates, der »reinste Denker des Abendlandes«, ausschließlich durch mündliche Gespräche gewirkt, aber »nichts geschrieben«. 8 Auch sonst scheint er das Mündliche bevorzugt zu haben. Das Phänomen der Schrift kommt in Sein und Zeit nur im pejorativen Neologismus »Geschreibe« vor, das ebenso wie das »Gerede« eine Verfallsform bezeichnet. 9 Derrida vertrat die Auffassung, dass Heideggers Privilegierung der Lautform und seine Bevorzugung phonischer Metaphern eine grundsätzliche Abwertung der Schrift impliziere, und interpretierte dies als Ausdruck einer »Philosophie der Präsenz«. 10 Meiner Meinung nach hat er übersehen, dass Heidegger Heidegger, (Anm. 2), S. 416. Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, Frankfurt am Main 1977, S. 214. 7 Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, Frankfurt am Main 1985, S. 229. 8 Martin Heidegger, Was heißt denken? (1951–1952), GA 8, Frankfurt am Main 2002, S. 20. 9 Heidegger, (Anm. 6), S. 224. 10 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1983, S. 26, 38 ff. 5 6
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an vielen Stellen durchaus die Gleichrangigkeit der mündlichen und schriftlichen Sprachform anerkannte. Zwar betonte er wie Aristoteles oder Herder, 11 dass die frühere und daher »ursprüngliche« Erscheinungsform der Sprache die akustische gewesen sei. Doch vor allem in seinen späteren Werken gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass er das Medium der Schriftlichkeit durchaus als gleichwertig ansah. An einer Stelle schrieb er vom »Verlauten« der Sprache und fügte – etwas paradox – hinzu, »sei dies Rede oder Schrift« 12. Ausdrücklich vertrat er die Meinung, es sei »von untergeordneter Bedeutung«, ob ein Gespräch »als ein geschriebenes vorliegt oder als ein irgendwann gesprochenes verklungen ist«. 13 Gelegentlich scheint er sogar der Schrift ein Primat zugeschrieben zu haben, etwa wenn er behauptete, die Buchstaben (»Grammata«) seien die Voraussetzung der »gefügten Lautung«. 14 Wie dem auch sei: Heideggers Nachlass zeigt, dass er selbst zum Denken Papier benötigte. Er dachte schreibend, notierte Einfälle bereits im Frühstadium ihrer Entwicklung und arbeitete Vorlesungen und Vorträge Wort für Wort am Schreibtisch mit der Feder in der Hand aus. Angesichts der Tatsache, dass er den ursprünglichen Lautcharakter der Sprache so oft hervorgehoben hat, mag es überraschen, dass seine eigene Denkarbeit sich vor allem im Medium der Schrift vollzog, als ein »Hand-Werk«, wie er es einmal nannte. 15 Tatsächlich schrieb er ausschließlich mit der Hand und lehnte die Schreibmaschine als entfremdende Technik ausdrücklich ab. 16 Vgl. Martin Heidegger, Seminar: Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes. Zu Herders Abhandlung »Über den Ursprung der Sprache«, GA 85, Frankfurt am Main 1999. 12 Martin Heidegger, Die Sprache, in: Heidegger (Anm. 7), S. 28. 13 Martin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Heidegger (Anm. 7), S. 144. 14 Martin Heidegger, (Anm. 11), S. 112. – Für wesentlicher halte er einen anderen Unterschied, nämlich den zwischen den »Grundelemente[n] Laut und Schrift auf der einen und Bedeutung und Sinn auf der anderen Seite«. Diesen führte er auf den allgemeineren »metaphysischen Unterschied des Sinnlichen und Nichtsinnlichen« zurück, den er in seiner späten Sprachphilosophie zu überwinden suche. (Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Heidegger (Anm. 7), S. 98.) 15 Heidegger (Anm. 8), S. 18. 16 In der Vorlesung über Parmenides (Wintersemester 1942/43) verdeutlicht Heidegger das Wesen der Technik am Beispiel des Unterschieds zwischen der Hand- und der Maschinenschrift: »Die Schreibmaschine entreißt die Schrift dem Wesensbereich der Hand, und d. h. des Wortes.« (Martin Heidegger, Parmenides (Wintersemester 1942/ 43), GA 54, Frankfurt am Main 1982, S. 119, vgl. auch S. 125–127.) Obwohl diese 11
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Die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Medien sprachlicher Kommunikation waren Heidegger wohl bewusst. Anlässlich der Edition seiner Nietzsche-Vorlesung bedauerte er, dass »das Geschriebene und Gedruckte die Vorteile des mündlichen Vortrags vermissen« lasse. 17 In diesem Sinn empfahl er, seinen Vortrag Der Satz der Identität von der Schallplatte zu hören, statt ihn nur zu lesen. 18 Zwar kann der Hörer eines mündlichen Vortrags keinen Einfluss auf das Tempo nehmen, weder verweilen noch zu früheren oder späteren Textstellen springen, dafür hat der Autor als Sprecher die Möglichkeit, durch Rhythmus und Sprachmelodie den Sinn des Gesagten zusätzlich zu verdeutlichen und zu verlebendigen.
Heideggers Redemanuskript von Der Weg zur Sprache (Foto: DLA Marbach)
Öffentliche Vorträge vor größerem Publikum hat Heidegger sehr genau vorbereitet und regelrecht einstudiert. Nachdem ein Text viele Fassungen durchlaufen und seine vorerst endgültige Form gefunden eher beiläufige Stelle zeigt, dass Heidegger die Schrift durchaus nicht verachtet, sieht Derrida hier paradoxerweise einen Beleg für Heideggers »Phonozentrismus«. (Jacques Derrida, Heideggers Hand, in: Geschlecht (Heidegger), Wien 1988, S. 77). 17 Martin Heidegger, Nietzsche I, GA 6.1, Frankfurt am Main 1996, S. 10. 18 Martin Heidegger, Seminar in Le Thor 1968, in: Seminare (1951–1973), GA 15, Frankfurt am Main 1986, S. 366.
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hatte, wurde er in der Regel noch einmal gut lesbar mit der Hand abgeschrieben und mit farbigen Markierungen versehen, die Sprechpausen und Stimmmodulationen andeuten. Für seinen Vortrag Der Weg zur Sprache, den er am 23. Januar 1959 in der Bayrischen Akademie der Schönen Künste hielt, sind sowohl das Manuskript als auch eine Tonaufnahme erhalten. 19 An diesem Beispiel kann man sehen und hören, wie sorgfältig Heidegger einen schriftlichen Text in einen mündlichen Vortrag umformte.
III. Schreiben als Selbstkommunikation Als Heidegger am Ende seines Lebens die Gesamtausgabe seiner Schriften plante und sich mit seinem Archiv beschäftigte, beklagte er in einer Notiz, dass das in seinen Seminaren Gesagte nicht überliefert werden konnte. Er nannte das Seminargespräch in diesem Zusammenhang die »fruchtbarste Unterweisung u. Prüfung im Denken« und schrieb, das prüfende Denkgespräch läßt sich nicht überliefern; weder durch die besten Protokolle, noch durch Tonbandaufnahmen. Dieser schwerste Verlust ist weder durch Vorlesungen noch durch Schriften zu ersetzen. Ihn hinzunehmen, gehört vielleicht zu einem Denken, das keine Lehre verkündet und keine »Operation« einer Methode kennt, vielmehr Weg ist oder gar nur der Anfang eines Weges. 20
Heidegger diskutiert die Frage des Mediums hier unter dem Aspekt der damit verbundenen Kommunikationsform. Anders als der schriftliche Austausch zwingt die mündliche Interaktion im Seminar die Beteiligten zu sofortigem Reagieren und erlaubt nicht, einmal Ausgesprochenes wieder ungesagt zu machen. Das Gespräch mit einem sichtbaren Gegenüber stellt hohe, nicht zuletzt disziplinierende Anforderungen und ist ein so komplexes, alle Sinne beanspruchendes Geschehen, dass es sich später kaum rekonstruieren lässt. Dieses lebendige Gespräch, an das sich Heidegger am Ende seines Lebens
Martin Heidegger, Die Sprache 1959, in: Von der Sache des Denkens. Vorträge, Reden und Gespräche, 5 Audio-CDs, München: HörVerlag 2000; vgl. Nachlass Martin Heidegger, B 87 (DLA Marbach). 20 Martin Heidegger, Zur Gesamtausgabe, Nachlass Martin Heidegger, Zugang 2006, Schuber II (DLA Marbach). 19
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erinnerte, fand nach dem Zeugnis vieler Studenten vor allem in seinen frühen Freiburger und Marburger Seminaren statt. In seiner Aristoteles-Vorlesung von 1924 wies er darauf hin, dass im Gespräch Hören und Sprechen kaum auseinanderzuhalten seien. Um zu hören, müsse man das vom Gesprächspartner Gesagte zunächst für sich selbst nachsprechen, erst in diesem »Wiederholen« könne man hören. 21 Der Mensch habe den λόγος (die Sprache) grundsätzlich nur in der Weise, dass er auf »sein eigenes Sprechen« höre. 22 So verstanden besteht jedes Gespräch gewissermaßen aus koordinierten Selbstgesprächen. Bereits 1922 wies Heidegger im sogenannten Natorp-Bericht, mit dem er sich für die Marburger Professur bewarb und sein philosophisches Projekt zum ersten Mal umriss, mehrmals darauf hin, dass das »faktische Leben« »zeitigend mit sich selbst spricht«. 23 Und eben dieses »vom faktischen Leben selbst vollzogene Ansprechen und Auslegen seiner selbst« 24 erklärte er zum Hauptgegenstand seiner philosophischen Forschungen, die er »phänomenologische Hermeneutik der Faktizität« nannte. 25 Nach alldem verwundert es nicht, dass Heidegger Platons berühmte Definition des Denkens als Gespräch der Seele mit sich selbst 26 mehrmals erwähnte und interpretierte. 27 Der »λόγος«, so kommentierte er in seiner Vorlesung über den Dialog Sophistes, sei ein »Reden, welches die Seele bei sich selbst und zu sich selbst durchgeht«, und zwar »ohne die sinnliche Wahrnehmung«. Es handle sich um eine Rede, »die gesprochen wird, nicht zu einem Anderen, sondern […] zu sich selbst« und »nicht in der Weise der Verlautbarung«, sondern »schweigend zu sich selbst«. Dieser Modus des Sprechens bzw. Schweigens ziele »nicht auf die Mitteilung an einen Anderen«, vielmehr gehe es um die »Aneignung dessen, was gesichtet ist«. Jede Form der geistigen Aneignung müsse durch eine Phase des Selbst-
Heidegger (Anm. 2), S. 105. Ebd., S. 104 f. 23 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), GA 62, Frankfurt am Main 2004, S. 358, 363, 364. 24 Ebd., S. 367. 25 Ebd., S. 364. 26 Platon, Theaitetos 189 e, Sophistes 263 e, 264 a. 27 Vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare: Protokolle – Gespräche – Briefe, hg. v. Medard Boss, Frankfurt am Main 1987, S. 126; Martin Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, in: Vorträge und Aufsätze, GA 7, Frankfurt am Main 2000, S. 108; Heidegger (Anm. 11), S. 147. 21 22
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gesprächs hindurchgegangen sein. »Das διαλέγεσθαι ist also ein νοεϊν im betonten Sinne.« 28 Selbstkommunikationen können stumm, mündlich oder auch im Medium der Schriftlichkeit stattfinden und in ihr sogar eine besondere Stütze finden. Anstelle des Sprechens und Hörens handelt es sich dann um ein Schreiben und Lesen, und analog könnte man sagen, das Schreiben vollziehe sich lesend und das Lesen schreibend. In diesem Sinn lassen sich Heideggers Aufzeichnungen als Selbstkommunikationen verstehen. Der erste Schritt bestand in der genauen Lektüre überlieferter Texte. Das Gelesene wurde meist mit verschiedenfarbigen Stiften gründlich durchgearbeitet und auf diese Weise angeeignet. Heideggers Unterstreichungen und Anmerkungen zielten darauf ab, die Struktur des Textes sichtbar zu machen, das Gelesene schreibend gewissermaßen zu wiederholen, zugleich aber auch fortzuschreiben. Hauptbegriffe wurde markiert, Beziehungen durch Striche quer über die Druckseite verdeutlicht; Randbemerkungen enthalten Verweise auf Parallelstellen, aber auch inhaltliche Kommentare. Um 1920 exzerpierte Heidegger ausführlich die Schriften von Aristoteles, indem er für einzelne Grundworte Zettelkonvolute anlegte. Nur im Medium der Schrift und nur, wenn man lose Blätter verwendet, ist es möglich, bei der Lektüre Auszüge zu sammeln und neu zu sortieren. Eine besonders intensive Art des Lesens war für Heidegger das Übersetzen. Bekanntlich griff er selten auf fremde Übertragungen zurück. Ihm ging es nicht nur um philologische Richtigkeit, vielmehr um eine aktualisierende Aneignung des Überlieferten. Im Manuskriptkonvolut für die Vorlesung Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles vom Sommersemester 1922 29 lässt sich verfolgen, wie viele Fassungen er benötigte, um den Anfang der aristotelischen Physik in seine eigenen philosophische Sprache zu übertragen.
Martin Heidegger, Platon: Sophistes (Wintersemester 1924/25), GA 19, Frankfurt am Main 1992, S. 409 f. 29 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik (Sommersemester 1922), GA 62, Frankfurt am Main 2004, S. 123. 28
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Aufzeichnungen zur Aristoteles-Vorlesung von 1922 30 (Foto: DLA Marbach)
Anders als im mündlichen Gespräch kann man auf dem Papier Formulierungen immer wieder korrigieren, streichen oder ergänzen. Auf den Manuskriptblättern mit seinen Vorlesungstexten hat Heidegger gewöhnlich die gesamte rechte Seite für spätere Kommentare reserviert – für Einfügungen, alternative Varianten, Worterklärungen, Parallelstellen und weiterführende (an sich selbst adressierte) Hinweise, die als »Antworten« auf den Haupttext auf der linken Seite aufgefasst werden können. Auch in der Handschrift seiner Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles: Einführung in die phänomenologische Forschung 31 vom Wintersemester 1921/1922 sind die Spuren des denkenden Selbstgesprächs deutlich zu erkennen.
Nachlass Martin Heidegger, Schuber A 3 (DLA Marbach). Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles: Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1921/22), GA 61, Frankfurt am Main 1985.
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Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Vorlesung WS 1921/22 32 (Foto: DLA Marbach)
Heidegger hat das geplante Buch über Aristoteles nie vollendet. Wie intensiv er sich lebenslang mit ihm auseinandergesetzt hatte, wurde erst nach der Veröffentlichung der Vorlesungen aus dem Nachlass sichtbar. Seit Mitte der zwanziger Jahre begann er eine ebenso eingehende wie kritische Lektüre der Schriften von Immanuel Kant. Wieder finden sich ausführliche Exzerpte in Form von Zettelkonvoluten. 33 Heidegger ging es in seinen Seminaren vor allem um textnahe Interpretationen, die sich oft im Gespräch entwickelten. Viele der erhaltenen Notizzettel zum Kant-Seminar im Wintersemester 1925/26 wurden vermutlich zwischen den Sitzungen geschrieben. 34 Einer der Studenten hatte jeweils ein Protokoll der vergangenen Seminarstunde zu erstellen und zu Beginn der folgenden vorzutragen. Die Gele32 33 34
Nachlass Martin Heidegger, Schuber A 1,2 (DLA Marbach). Nachlass Martin Heidegger, Schuber B 76 (DLA Marbach). Nachlass Martin Heidegger, Schuber B 11 (DLA Marbach).
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genheit zur Korrektur nutzte Heidegger manchmal so ausgiebig, dass das Gespräch über das Protokoll fast die gesamte Sitzung in Anspruch nahm. Anders als im Seminar entwickelte er in seiner Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft im Wintersemester 1927/28 35 eine zusammenfassende, in sich konsistente Auslegung. In diesem Zusammenhang charakterisierte er seine Methode der Lektüre als »Überhellung«: Wir lassen Kant nicht nur sagen, was er hat sagen wollen, wir lassen ihn sogar mehr sagen, mag dieses »mehr« auch nur auf philosophischer Interpretation beruhen. Das nachträgliche Zurücknehmen des Zuviel ist dann auf dem Boden des gewonnenen philosophischen Verständnisses leicht zu bewerkstelligen. 36
Das angestrebte tiefere, umfassendere Verständnis sollte das gewöhnliche Textverständnis nicht einfach ersetzen, sondern es als oberflächlich durchschaubar machen und so »destruieren«. In seiner Abhandlung Kant und das Problem der Metaphysik, die 1929 erschien, entfernte er sich noch erheblich weiter vom überlieferten Text. Nicht umsonst empfahl er im Vorwort, diese Schrift im Zusammenhang mit seinem kurz zuvor erschienenen Buch Sein und Zeit (1927) zu lesen, denn er verstand sie als eine Art Fortsetzung. Zwar erwähnte er, dass er sich auf eine Vorlesung stützte, doch der publizierten Abhandlung war kaum noch zu entnehmen, wie genau er Kants Texte zuvor durchgearbeitet hatte. Heidegger legte seine eigenen Manuskripte niemals ad acta, sondern las und überarbeitete sie immer wieder von neuem. Dabei spielten farbige Unterstreichungen eine wichtige Rolle. Gewöhnlich benutzte er drei Farbstifte. Zu welchem Zweck? Denkbar wäre, dass er für jeden neuen Durchgang eine andere Farbe wählte, um die Lektüren voneinander trennen zu können. Dann wäre es allerdings schwer erklärbar, warum es fast immer die drei Farben rot, grün und gelb sind. Eher ist anzunehmen, dass er mit drei Stiften zugleich las und jeder Farbe eine eigene Bedeutung zukam. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (Wintersemester 1927/28), GA 25, Frankfurt am Main 1977, S. 1. 36 Ebd., S. 93. – Heidegger erläutert den Begriff »Überhellung« bereits 1922 im »Natorp-Bericht«: »Ein immer nur im Halbdunkel gesehener Gegenstand wird erst im Durchgang durch eine Überhellung gerade in seiner halbdunklen Gegebenheit faßbar.« (Heidegger (Anm. 29), S. 372.) 35
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Vieles spricht dafür, dass rote Unterstreichungen sinntragende Passagen kennzeichnen. Grün dagegen wurden Textstellen hervorgehoben, die ihm irgendwie, oft auch in sprachlicher Hinsicht, der weiteren Erläuterung, Begründung oder Prüfung zu bedürfen schienen.
Hölderlin-Vorlesung, Wintersemester 1934/35 37 (Foto: DLA Marbach)
Betrachten wir beispielsweise eine Passage im Manuskript zur Vorlesung Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« aus dem Wintersemester 1934/35. Grün unterstrichen ist die Behauptung, im Gedicht Germanien handele es sich um eine »maßgeblich gestaltete« Dichtung oder die Aufteilung des Gedichts Der Rhein werde »aus der Dichtung verständlich«. Diese Thesen waren noch zu belegen. (Vermutlich weil sie noch verifiziert werden sollte, ist an einer Stelle die Seitenzahl in einer Quellenangabe grün unterstrichen.) Gelb unterstrich Heidegger kritikwürdige Passagen. Dabei handelte es sich allerdings kaum um eine nachträgliche Selbstkritik, viel»Der Rhein || Das Gedicht ist in demselben Jahr 1801 wie »Germanien« entstanden u. gehört in | den Umkreis der in »G.« maßgebend gestalteten Dichtung. Gleichwohl müssen wir das | Gedicht ganz aus ihm selbst zu verstehen suchen. Schon die eigentümliche Vielfältigkeit | um nicht zu sagen Verworrenheit seines Gehaltes zwingt dazu. Allerdings ist dieser erste | Eindruck der Unfaßlichkeit u. des Fehlens einer einheitlichen Baulinie nur Schein. | Von außen gesehen besteht das Gedicht aus 15 Strophen. Für die Auslegung des Ganzen kann uns | die folgende Gliederung helfen: 1.) Str. I; 2.) Str. II-IX; 3.) Str. X-XIII; 4.) Str. XIV; 5.) Str. XV. | Diese äußerliche Aufteilung des Gedichts wird erst aus der Dichtung verständlich u. kann daher auch erst durch | die Auslegung ihre Rechtfertigung finden.« Nachlass Martin Heidegger, Schuber A 28 a (DLA Marbach); vgl. Martin Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (Wintersemester 1934/35), GA 39, Frankfurt am Main 1980, S. 162.
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mehr führte er sich die interne Argumentationsstruktur des Textes vor Augen, indem er markierte, wo zur Verdeutlichung des Gesagten eine gegenteilige Meinung erwähnt wird. So widerspricht im Vorlesungstext über Hölderlins Gedicht Der Rhein die (rot unterstrichene) positive Kennzeichnung »eigentümliche Vielfältigkeit« dem entgegenstehenden (gelb markierten) Vorurteil der »Verworrenheit seines Gehalts«. Gelb unterstrichen ist auch das Wort »äußerlich« als das Gegenteil von dem, was die Interpretation des Gedichts zu sein beabsichtigt. Diese Art, den eigenen Text zu lesen, entspricht der phänomenologischen Vorgehensweise, wie sie Heidegger an mehreren Stellen beschrieben hat. 38 Grüne Markierungen weisen auf die Notwendigkeit hin, Behauptungen zu fundieren und auszuweisen. Die gelben Unterstreichungen erinnern an die kritische Methode der »Destruktion«: Unzutreffende Vorurteile werden nicht einfach ignoriert, vielmehr soll genauer gezeigt werden, worauf sie gründen und warum ihr Geltungsanspruch begrenzt ist. In diesem Sinn bezeichnete Heidegger das »phänomenologisch-philosophische Verstehen« als ein »Ursprungsverstehen«, das stets »in eigenartiger Weise mit Negationen« arbeite. 39 Tatsächlich fällt bei der Lektüre seiner Schriften auf, wie oft er erläutert, was er nicht beabsichtigt, vermeiden und überwinden will (in Sein und Zeit etwa »Anthropologie« oder »Psychologie«). Der Begriff »Destruktion« steht für die »Auflockerung der verhärteten Tradition« und die »Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen«, welche die in den überlieferten Texten enthaltenen »ursprünglichen Erfahrungen« 40 zutage fördern sollte. Heideggers ständige Arbeit an seinen Texten ließe sich in diesem Sinn durchaus als Selbst-Destruktion begreifen, als Versuch, sich selbst immer noch besser, noch ursprünglicher zu verstehen und die eigenen Vorurteile permanent als solche zu begreifen und abzubauen. Diese Selbst-Destruktion im Medium der Schrift erinnert nicht zufällig an jene in Sein und Zeit beschriebene Entwicklungsgeschichte des »Daseins«, das zunächst dem »Man« und dem »Gerede« verfallen ist und sich erst, wenn es dies erkennt, zu seiner »Eigentlichkeit« Vgl. u. a. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (Wintersemester 1919/20), GA 58, Frankfurt am Main 1992; Martin Heidegger, § 7. Die phänomenologische Methode der Untersuchung, in: Heidegger (Anm. 6), S. 36–52. 39 Grundprobleme der Phänomenologie (Wintersemester 1919/20), GA 58, Frankfurt am Main 1992, S. 137. 40 Heidegger (Anm. 6), S. 30. 38
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erheben kann. Offenbar gibt es eine Entsprechung zwischen Heideggers Umgang mit Texten und seiner Fundamentalontologie. Heidegger wies selbst darauf hin, dass das Nächstliegende zumeist übersehen wird. Doch was lag für ihn die meiste Zeit seines Lebens näher als ein Buch oder ein Blatt Papier? Seine täglichen Erfahrungen beim Schreiben und beim Lesen des Geschriebenen finden sich in seiner philosophischen Begrifflichkeit wieder, allerdings in verallgemeinerter Form und bezogen auf das menschliche Dasein überhaupt. Der Terminus »Hermeneutik« meinte zunächst die Auslegung von Texten, vor allem der Heiligen Schrift. Heidegger erweiterte den Bedeutungsumfang des Wortes, indem er mit ihm jegliche Welt- und Selbstaneignung bezeichnete. Auch andere Begriffe aus seiner »Daseinsanalytik« könnten ihren Ursprung durchaus in der Arbeit am Text haben. Wenn er die Zukunftsgerichtetheit des Daseins mit dem Begriff »Entwurf« fasste, standen ihm womöglich seine Erfahrungen beim Entwerfen eines Textes vor Augen. Der Schreibende befindet sich in der Welt des Textes und der Sprache, diese ist ihm als brauchbare oder unbrauchbare »zuhanden« oder auch, je nach Einstellung, lediglich »vorhanden«. 41 In jedem Fall lernt er sich bei der Niederschrift seines Textes selbst besser verstehen. Wesentlich leichter als im Leben kann man in einem schriftlichen Text nach Belieben zurückgehen oder auch »vorlaufen« zum antizipierten Ende. Und zweifellos kann der Schreibende sich durch das Gewissen aufgerufen fühlen, seinen Text zu ändern, um das »eigentlich« zu Sagende durch fortlaufende Selbstkorrekturen klarer herauszuarbeiten. Auf diese und ähnliche Weise lassen sich zentrale Begriffe, mit denen Heidegger in Sein und Zeit das Wesen des Menschen bestimmte, ohne Schwierigkeiten auf die Situation des Schreibenden anwenden – oder eben zurückführen. Doch ich widerstehe der Versuchung, dieses Thema, das gewiss einer ausführlicheren Behandlung wert wäre, weiter zu verfolgen und komme auf Heideggers Manuskripte zurück, die insgesamt – jedenfalls das scheint schwer bestreitbar – eine intensive Selbstreflexion dokumentieren. Die Druckvorlage für Sein und Zeit enthält so gut wie keine Korrekturen. Offenbar handelt es sich um eine für den Setzer be»Die in der Schrift lesbare Sprache wandelt auch das Gesprochene und Gesagte – das Seiende. Das Geschriebene als Vorhandenes – Zuhandenes.« In: Heidegger (Anm. 11), S. 112.
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Druckvorlage für Sein und Zeit (Foto: DLA Marbach)
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stimmte Reinschrift. Die Widmung an Husserl, die aufgrund seiner jüdischen Herkunft in der 5. Auflage 1941 weggelassen wurde, findet sich auf einem separaten Blatt. Auch nach ihrer Publikation blieben seine Schriften, die er bekanntlich nicht als Werke, sondern als Wege betrachtete, für Heidegger Gegenstand weiterführender Selbstkorrekturen. An Elisabeth Blochmann schrieb er 1932: »Vorläufig studiere ich meine Manuskripte, d. h. ich lese mich selbst u. muß sagen, daß es im Positiven wie Negativen viel fruchtbarer ist als sonstige Lektüre, zu der ich ohnehin wenig Lust u. Gelegenheit habe.« 42 Mit übermäßiger Eitelkeit hat dies wenig zu tun, dagegen spricht vor allem die Radikalität seiner Selbstkritik. Die intensive Auseinandersetzung mit Sein und Zeit und die Berufung nach Freiburg im Jahr 1928 markieren den Beginn einer zweiten Phase in Heideggers Schreiben. Der Dialog mit anderen trat in den Hintergrund. Das mag auch damit zu tun haben, dass die erste Generation seiner Marburger Schüler – wie Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger und Karl Löwith – ihre eigenen Wege gegangen waren und, zumal nach Heideggers Rektoratsrede von 1933, als ständige Gesprächspartner nicht mehr zur Verfügung stand. Heideggers Neigung, sich vorzugsweise mit den eigenen Schriften zu befassen, kann auch als Symptom einer gewissen Isolierung betrachtet werden. Für seine Selbstkommentare benutzte er gleich mehrere Exemplare von Sein und Zeit, unter anderem den Erstdruck im 8. Band von Edmund Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. 43 Fast auf jeder Seite finden sich Berichtigungen von Druckfehlern, Querverweise, Einschübe oder alternative Formulierungen. Eingelegte Zettel enthalten Notizen zu Begriffen wie »Realität«, »Wesen der Wahrheit« oder »Entschlossenheit« und »Liebe«. Besonders stark hat Heidegger die Vorbemerkung überarbeitet. Dachte er daran, sie für eine spätere Neu-Ausgabe umzuschreiben? Eher handelte es sich wohl um eine private Selbstkritik, denn im Gegensatz zum selbstsicheren Drucktext betonte er in den Randbemerkungen schonungslos das »Übergängliche der Fundamentalontologie« und bezeichnete sie als lediglich »vorläufig für Umschwung und Einsprung«. Diese Martin Heidegger an Elisabeth Blochmann, Brief vom 18. 9. 32, in: Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann. Briefwechsel. 1918–1969, Marbach 1990, S. 53. 43 Nachlass Martin Heidegger (Arbeitsbibliothek, Freiburg). 42
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Handexemplar von Sein und Zeit (Foto: DLA Marbach)
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Formulierungen sind vermutlich um 1936, also zur Zeit seiner »Kehre« entstanden; einige finden sich wörtlich in seinen Beiträgen zur Philosophie wieder. 44 Die gründliche Auseinandersetzung mit Sein und Zeit war für Heidegger die Voraussetzung für die Entfaltung seines komplexen Spätwerks. Neben den Randbemerkungen in den Handexemplaren – eines befand sich immer in der »Hütte« und hieß daher »Hüttenexemplar« – füllte der Autor hunderte Zettel mit Ergänzungen und Berichtigungen. Diese Konvolute, die er sorgsam aufbewahrte, nannte er »Laufende Anmerkungen zu Sein und Zeit«. 45 Darin äußert er etwa zum berühmten § 34 (Da-sein und Rede. Die Sprache) eine radikale Kritik, die erneut zeigt, dass er noch einmal ganz von vorn beginnen wollte: »Wie fassen wir überhaupt die Sprache? Wie fragen wir bei ihr an? Wie sind wir schon bei ihr?«
IV. Veröffentlichen oder Verschweigen Ohne die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit lassen sich bestimmte Eigenarten der Papiere von Martin Heidegger kaum erklären. Auf dem Titelblatt der Anmerkungen zu Sein und Zeit notierte er: Für das rechte Verstehen dieser Selbstkritik ist das Zeitalter noch nicht reif. – Es wird aus ihr nur herauslesen, daß eben die bisherigen »Kritiker« doch »recht« behalten – während sie erst eigentlich ins Unrecht gesetzt werden, da sie von der ernsthaft fragenden Selbstüberwindung nichts wissen, sondern immer nur »recht« behalten wollen. 46
Die vieldiskutierte »Kehre« Heideggers vollzog sich nicht zuletzt als Abkehr vom Publikum. Unter seinen späten Aufzeichnungen findet sich ein Blatt mit der Notiz: Wie Gedachtes, im Denken Gesagtes, als Geschriebenes und Veröffentlichtes sein wird, lässt Platon in seinem Dialog »Phaidros« den Sokrates sagen: Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938), GA 65, Frankfurt am Main 1989, S. 305. 45 Nachlass Martin Heidegger, Schuber B 37 (DLA Marbach). 46 Vgl. die ähnlichen Formulierungen in: Martin Heidegger, Beilage zu Wunsch und Wille, in: Besinnung (1938/39), GA 66, Frankfurt am Main 1997, S. 425; vgl. dazu auch Ulrich von Bülow, Martin Heidegger: »Laufende Anmerkungen zu ›Sein und Zeit‹«, in: Ordnung. Eine unendliche Geschichte, Marbach 2007, S. 52 f. 44
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Ist es aber einmal geschrieben, so schweift nach überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen und unter denen, für die sie nicht gehört; und sie weiß nicht, zu wem sie sprechen soll und zu wem nicht.« (Schleiermacher) 47
Die Differenz zwischen Mündlichem und Schriftlichem ist nicht identisch mit der zwischen privat und öffentlich, aber beides hat miteinander zu tun. Auch bei mündlichen Vorlesungen und Vorträgen konnte Heidegger nicht genau wissen, wer ihm zuhörte und schon gar nicht, wie er verstanden wurde; Mitschriften, die ohne sein Wissen kursierten, pflegte er »trübe Quellen« zu nennen. Da er spätestens seit der Veröffentlichung von Sein und Zeit zu einer öffentlichen Person geworden war, wurden selbst private mündliche Gespräche kolportiert. Die einzige Möglichkeit, die Öffentlichkeit von seinem Denken auszuschließen, bestand darin, das Gedachte zu verschweigen und das Geschriebene zu verschließen. (Es ist bemerkenswert, dass er bereits in Sein und Zeit »Schweigen« weitgehend als »Verschweigen« verstand.) 48 Ohne unmittelbare Veröffentlichungsabsichten schrieb er nicht nur ungezählte Notizzettel und jene Denktagebücher, die er »Schwarze Hefte« nannte, sondern auch sein zweites Hauptwerk, die Beiträge zur Philosophie. Das umfangreiche Manuskript lag seit Ende der dreißiger Jahre vollkommen druckfertig vor, wurde jedoch, seinem Willen folgend, erst nach seinem Tod, mehr als 50 Jahre nach der Niederschrift, veröffentlicht. 49 Sein »Versuch«, dem »Er-eignis übereignet zu werden«, entzog sich nach Heideggers Einschätzung nicht nur dem öffentlich Sagbaren, sondern der gewöhnlichen Sprache überhaupt. Gleichwohl finden sich in seinen Publikationen seit dieser Zeit vielfach Anspielungen auf Gedankengänge in seinem unpublizierten Hauptwerk, deren Zusammenhänge Leser bestenfalls ahnen konnten. Die veröffentlichten Texte Nachlass Martin Heidegger, Zugang 2006, Schuber II (DLA Marbach), vgl. Platon, Phaidros 275. 48 Vgl. Heidegger (Anm. 6), S. 218 f. – In diesem Sinn antwortete er auf den letzten Satz in Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«: »Darüber kann man auch nicht schweigen. Schweigen kann nur wer etwas zu sagen hat, wovon er sprechen kann.« (Martin Heidegger, handschriftliche Anmerkung in: Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, London: Routledge & Kegan Paul Ltd. 1951, S. 188, Arbeitsbibliothek Heidegger, DLA Marbach). 49 Vgl. Heidegger (Anm. 44). 47
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verhielten sich zum verschwiegenen wie die Oberfläche zu einer verborgenen Grundstruktur. Diese Relation von Bekanntem und Unbekanntem auf der Ebene der Texte entspricht in gewisser Weise dem von Heidegger oft erläuterten Unterschied zwischen Verbergen und Entbergen, aber auch der ontologischen Differenz beziehungsweise dem »Unter-Schied« zwischen dem »Seienden« und dem»Seyn«.
Zettelkonvolute zum Thema »Sprache« 50 (Foto: DLA Marbach)
Nachlass Martin Heidegger, Schuber C, vgl. auch B 27, 45, 46, 48, 49 (DLA Marbach).
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Heideggers unablässiges Nachdenken über die Sprache hat sich in einer Überfülle von Zetteln im DIN A 6 Format niedergeschlagen. Oft verwendete er die Rückseiten zerschnittener Briefe, Typoskripte oder Seminarscheine. Es ist nicht einfach, diese Aufzeichnungen zu interpretieren. Meist sind die Papiere, die als Überschrift gewöhnlich ein Stichwort enthalten, zu kleinen, thematisch beschrifteten Konvoluten zusammengefasst. Da sie undatiert sind, lässt sich eine zeitliche Reihenfolge kaum bestimmen. Nach den Papierqualitäten zu urteilen, wurden vielfach Notate aus verschiedenen Jahrzehnten zusammengeordnet. Dabei fällt auf, dass sich Themen und Gedanken oft wiederholen. In seinen späten Erörterungen zur Sprache vertrat Heidegger die Ansicht, dass im Modus der Eigentlichkeit nicht der Mensch, sondern die Sprache selbst spricht, ihr gegenüber sei der Mensch ein Hörender. Seine Zettelkonvolute zeigen, wie sehr sich auch dieses Hören auf die Sprache im Medium der Schriftlichkeit vollzog. Die einzelnen kurzen Niederschriften wurden kaum korrigiert oder im strengen Sinn aufeinander bezogen, vielmehr scheinen sich aus der unübersehbaren Menge der Gedankenprotokolle durch unablässige Wiederholung im Lauf der Zeit gewissen Grundmuster und Wortfindungen sozusagen ergeben zu haben. Dabei nutzte Heidegger nahezu alle Möglichkeiten, die das Papier bietet, ohne Rücksicht darauf, ob es auch im mündlichen Vortrag aussprechbar wäre. Man kann ja schlecht hören, ob das Sein mit »i« oder »y« geschrieben oder durchgekreuzt ist, ob das Da-sein einen Bindestrich enthält oder nicht, ganz zu schweigen von Symbolen, Diagrammen, Abkürzungen oder graphische Darstellungen von Relationen. Heideggers Ereignis-Denken bewegte sich am Rand der Sagbarkeit. Um dies auszudrücken, setzte er das Wort »Lichtung« auf dem Umschlag einer Zettelsammlung in Anführungszeichen und fügte ein runenähnliches Symbol hinzu, das das Gemeinte wohl veranschaulichen sollte. Auf einem der Zettel versammelte er Worte um den Begriff des »Raums«, die in der einen Richtung über die Substantive »Ort«, »Versammlung«, »Eignung« bis hin zum »Ereignis« reichten, dessen Unbegrifflichkeit durch ein eigenartig geformtes großes »E« dargestellt wurde. In der anderen Richtung liest man die Reihung »Leere«, »Behältnis«, »Anwesendes«.
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Späte Notate zum Stichwort »Lichtung« 51 (Foto: DLA Marbach)
Betrachtet man die hinterlassenen Papiere, könnte man Heideggers intellektuelle Biographie nach den jeweils vorherrschenden Kommunikationsformen in drei Phasen unterteilen. In der Zeit vor 1927/28 dominierte das mündliche Lehren, dem sich fast alle Aufzeichnungen zuordnen lassen. Nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit begann daneben die schriftliche, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Selbstauseinandersetzung. Diese überwog dann in der Zeit nach 1945, als die öffentlichen Auftritte seltener wurden. Gerade aus dieser dritten Lebensphase sind besonders viele Aufzeichnungen er-
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Nachlass Martin Heidegger, Schuber D 2 (DLA Marbach).
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halten. Für sie dürfte in Heideggers Augen gegolten haben, was er in Bezug auf Nietzsches späte Fragmente schrieb: Es handele sich nicht um Teile eines »für die ›Öffentlichkeit‹ bestimmten Buches«, sondern um das »Selbstgespräch des Denkers«. Dieser allerdings spreche – so Heidegger – »nicht mit seinem ›Ich‹ und seiner ›Person‹, er spricht mit dem Sein des Seienden im Ganzen«. 52
V.
Der Denker als Hüter seiner Schriften
Zu allen Zeiten hat Heidegger seine Papiere, die er zum Arbeiten benötigte, sorgfältig aufbewahrt. Als er während der Sudetenkrise Ende September 1938 in Freiburg einen französischen Angriff befürchtete, brachte er sein Archiv sicherheitshalber zu seinem Bruder Fritz nach Meßkirch. 53 Auf seinen Wunsch hin begann der Bruder, die Manuskripte, zunächst die der Beiträge, mit der Schreibmaschine abzuschreiben und Durchschläge an vertrauenswürdige Personen zu verteilen, um im Notfall die Überlieferungschancen zu erhöhen. Die Originale lagerten in Eisenkisten zunächst in einem Meßkircher Bierkeller, seit dem 12. September 1944 zeitweise auch im Kirchturm des Nachbardorfes Bietingen. Einige besonders wertvolle Handschriften wurden im Panzerschrank der Meßkircher Sparkasse untergebracht. Als das Gebäude am 22. Februar 1945 von Bomben zerstört wurde, konnten die Manuskripte glücklicherweise gerettet werden. 54 Im April 1945 befanden sich die Papiere in einer Felsenhöhle am Donauufer bei Beuron nahe der Burg Wildenstein, wo die Freiburger Philosophische Fakultät Zuflucht gefunden hatte. Es erschien Heidegger symbolträchtig, dass seine Handschriften dort zeitweise neben denen des Stuttgarter Hölderlin-Archivs liegen sollten. 55 Nach dem Krieg bewahrte Heidegger die Schuber mit seinen Papieren wieder in seinem Arbeitszimmer unmittelbar neben seinem Schreibtisch auf. Im April 1969 plante das Ehepaar Heidegger den Bau eines altersgerechten Hauses. Auf der Suche nach FinanzierungsmöglichkeiMartin Heidegger, Nietzsche II, GA 6.2, Frankfurt am Main 1997, S. 67. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Hans Dieter Zimmermann, Martin und Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht, München 2005, S. 96 f. 54 Ebd., S. 99. 55 Martin Heidegger an Elfride Heidegger, Brief vom 15. 4. 45, in: »Mein liebes Seelchen!« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915–1970, München 2005, S. 236. 52 53
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Heideggers Arbeitsplatz, Juni 1968 (Foto: bpk / Digne Meller Marcovicz)
ten fragte Elfride Heidegger bei Hannah Arendt in New York City an, ob sie wüsste, wer daran interessiert sein könnte, das Manuskript zu Sein und Zeit zu kaufen. 56 Hannah Arendt antwortete, den »höchsten Preis« könne man vermutlich in Texas erzielen, nannte aber an erster Stelle das Literaturarchiv in Marbach. 57 Am 5. Juni 1969 schrieb Heidegger an Archivdirektor Bernhard Zeller, das Hochstift in Frankfurt habe zwar »schon wiederholt deswegen angefragt, aber falls das Schiller-Nationalmuseum in Marbach (im heimatlichen Schwaben) Wert auf meinen Nachlass legte, würde ich es vorziehen, ihn einmal dort zu wissen.« 58 Am 28. Juli 1969 reiste Zeller zu einem ersten Besuch nach Freiburg. Nach seiner Rückkehr notierte er beeindruckt: »Sein ganzes Arbeitszimmer glich einer wohlorganisierten, disziplinierten und kon-
Elfride Heidegger an Hannah Arendt, Brief vom 20. 4. 1969, in: Hannah Arendt / Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, Frankfurt am Main 1998, S. 170. 57 Hannah Arendt an Elfride Heidegger, Brief vom 17. 5. 1969, in: ebd., S. 174. 58 Martin Heidegger an Bernhard Zeller, Brief vom 5. 6. 1969 (Nachlass Bernhard Zeller, DLA Marbach). 56
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Heideggers Arbeitsplatz, September 1966 (Foto: bpk / Digne Meller Marcovicz)
zentrierten Registratur des Geistes.« 59 Ende 1969 wurden die Handschrift von Sein und Zeit und »zahlreiche Manuskripte der philosophischen Werke« ins Literaturarchiv gebracht. 60 Im Februar 1970 einigte man sich auf einen Vertrag über die »bisher im Druck erschienenen Werke einschließlich der Entwürfe und Manuskripte« mit einem Vorkaufsrecht für den späteren »wissenschaftlich-literarischen Nachlass«. 61 Die Nachricht von dieser Erwerbung verbreitete sich rasch und wurde auch im Spiegel gemeldet. 62 Am Tag der Eröffnung der großen Ausstellung zu Hölderlins 200. Geburtstag erlebten die Marbacher Mitarbeiter am 20. März 1970 morgens eine böse Überraschung, die Zeller in seinen Memorabilien folgendermaßen schilderte: Auf dem großen Bauzaun, der sich vor dem Neubau Literaturarchiv vom Museum bis zur Straße hinzog, war in der Nacht mit dicker schwarzer Ölfarbe hingepinselt worden: ›Wer Heidegger konserviert, konserviert Fa-
Bernhard Zeller, Marbacher Memorabilien. Vom Schiller-Nationalmuseum zum Deutschen Literaturarchiv 1953–1973, Marbach 1995, S. 480. 60 Ebd., S. 482. 61 Martin Heidegger / Deutsche Schillergesellschaft, Vertrag vom 25. und 27. 2. 1970, DLA Marbach. 62 Endsumme offen, in: Spiegel 14/1970, Ausgabe vom 30. März, S. 212 f. 59
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schismus, Schiller-Nationalmuseum reaktionär, national nationalistisch nationalsozialistisch. ›Rotz [Rote Zelle] Germanistik‹ Dazu dreimal die Embleme Hammer und Sichel. 63
Um einen Skandal zu vermeiden, wurden kurzerhand Bretter über den Spruch genagelt. Trotz seines Interesses für Hölderlin nahm Heidegger an der Ausstellungseröffnung nicht teil. Seinen Dank für die Einladung verband er auf einer Karte an Bernhard Zeller mit der Bitte, einige ihm bekannte Teilnehmer der Hölderlin-Tagung, die in Stuttgart stattfand, »herzlich zu grüßen«, unter anderen Paul Celan, der – inkognito und kurz vor seinem Freitod – auch die Marbacher Ausstellungseröffnung besuchte. 64 Im Hinblick auf die vereinbarte weitere Übergabe ordnete Heidegger seit 1970 intensiv seine Papiere. In Briefen schrieb er ironisch, er habe »die eigentliche Denkarbeit eingeschränkt«, 65 stattdessen sei er »mit Ordnen und Sieben der Manuskripte beschäftigt«. 66 1975 erschien der erste Band der Gesamtausgabe. Am 6. Mai wurde der letzte größere Teil der Manuskripte nach Marbach transportiert. Dieses Ereignis war für Heidegger ein durchaus bewegender Moment. Seine Gefühle und Gedanken hielt er in einem Gedicht fest, das sich in seinem Nachlass fand: 67 Vom 5. zum 6. Mai 1975 Abschied von den Manuskripten Unsäglicher Beistand, Der Deine, den Schritten zum Wegland des Denkens. Ahnend wir beide das Eine: Rettung ist Sterblichen nur die heilige Spur. Zeller (Anm. 59), S. 484. Martin Heidegger an Bernhard Zeller, Karte vom 17. 3. 1970 (Nachlass Bernhard Zeller, DLA Marbach), vgl. Zeller (Anm. 59), S. 432. 65 Martin Heidegger an Medard Boss, Brief vom 8. 9. 1970, in: Martin Heidegger, Zollikoner Seminare: Protokolle – Gespräche – Briefe, Frankfurt am Main 2006, S. 360. 66 Martin Heidegger an Hannah Arendt, Brief vom 4. 8. 1971, in: Arendt / Heidegger (Anm. 56), S. 218. 67 Nachlass Martin Heidegger, Zugang 2006, Schuber II (DLA Marbach), vgl. Martin Heidegger, Gedachtes, GA 81, Frankfurt am Main 2007, S. 355. 63 64
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Wer ist es, dessen Beistand Heidegger hier rühmt? Vermutlich dachte er an seine Frau, der er mit ähnlichen Worten seine Gesamtausgabe widmete. 68 Aber womöglich erschien ihm einen Augenblick lang auch sein Handschriften-Archiv als ein lebenslanger, lebensnotwendiger Gesprächspartner, von dem er nun Abschied nehmen musste. Denn in der Tat: Ohne die Möglichkeit, zu schreiben und das selbst Geschriebene immer wieder zu lesen und zu korrigieren, wäre Heidegger nicht der Philosoph geworden, der er war.
»Die Gesamtausgabe ist meiner Frau Elfride geb. Petri gewidmet | Ihr inständiger Beistand | auf dem langen Weg | war die Hilfe, | deren ich bedurfte« (Martin Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. V).
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Die Autorinnen und Autoren
Damir Barbarić wurde 1952 in Zagreb geboren. Studium der Philosophie, Soziologie, Politologie und Altphilologie an der Universität Zagreb. 1982 Promotion in Philosophie. Seit 1979 tätig am Institut für Philosophie in Zagreb. Gastprofessor bzw. -forscher an den Universitäten Wien, Tübingen, Freiburg, Berlin (Humboldt-Universität) und an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Zahlreiche Publikationen in Kroatien und im Ausland. Zu Heidegger auf Deutsch: Aneignung der Welt. Heidegger – Gadamer – Fink, Frankfurt am Main 2007; Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert (Hrsg.), Würzburg 2007; Zum anderen Anfang. Studien zum Spätdenken Heideggers, Freiburg/München 2016. Neuere Publikationen auf Deutsch: Chora. Über das zweite Prinzip Platons, Tübingen 2015; Wiederholungen. Philosophiegeschichtliche Studien, Tübingen 2015. Dr. Ulrich von Bülow, geb. 1963, nach dem Germanistik-Studium in Leipzig Lektor im Hinstorff Verlag Rostock, seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Literaturarchiv Marbach, seit 2006 Leiter der Abteilung Archiv. Autor von Aufsätzen und Büchern u. a. über Franz Fühmann, Arthur Schnitzler, W. G. Sebald, Peter Handke und Hannah Arendt. Herausgeber von Texten u. a. von Rainer Maria Rilke, Erich Kästner, Karl Löwith, Martin Heidegger, Joachim Ritter und Hans Blumenberg. [email protected] Francesco Cattaneo ist als Forscher an der Universität Bologna tätig, wo er »Ästhetik« lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, Phänomenologie und Hermeneutik. Unter seinen Hauptveröffentlichungen sind zu nennen: Luogotenente del nulla. Heidegger, Nietzsche e la questione della singolarità (2009); La potenza del negativo. Saggi sulla storicità dell’esperienza (2010); Nietzsche nella Rivoluzione conservatrice (2015, hrsg. mit S. Marino und C. Gentili); I sentieri di Zarathustra (2009, hrsg. mit S. Marino); Domandare con Gadamer. Cinquant’anni di verità e me-
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Die Autorinnen und Autoren
todo (2011, hrsg. mit S. Marino und C. Gentili); Da quando siamo un colloquio. Percorsi ermeneutici nell’eredità nietzschiana (2011, hrsg. mit S. Marino); Terrence Malick. Mitografie della modernità (2006). PD Dr. Alfred Dunshirn, geb. 1977. Klassischer Philologe und Philosoph. Arbeitsschwerpunkt: Philosophie der Antike. Publikationen u. a. zum homerischen Epos, zu Platon und zu Heideggers Interpretationen zur Antike. Letzte Buchveröffentlichungen: Logos bei Platon als Spiel und Ereignis. Würzburg 2010. Griechisch für das Philosophiestudium. 2. Aufl. Wien 2013. Hans-Christian Günther ist akad. ORat und apl. Professor für klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Neben der klassischen Philologie gilt sein Interesse auch der Neogräzistik, vergleichenden Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Philosophie und Politik. Er ist Verfasser zahlreicher Versübersetzungen aus verschiedenen Sprachen. István M. Fehér ist Professor für Philosophie an der Eötvös-Universität Budapest und an der Andrássy Deutschsprachigen Universität Budapest. Er ist Mitglied in wissenschaftlichen Beiräten internationaler philosophischer Gesellschaften und Fachzeitschriften. Stipendien bzw. längere Forschungsaufenthalte in Italien, Deutschland und den Vereinigten Staaten. – Buchpublikationen (u. a.): Jean-Paul Sartre (Budapest 1980); Martin Heidegger (Budapest 1984, 2. stark erw. Aufl. 1992); Heidegger und der Skeptizismus (Budapest 1998); Hermeneutische Studien (Budapest 2001); Schelling – Humboldt: Idealismus und Universität. Mit Ausblicken auf Heidegger und die Hermeneutik (Frankfurt/Main – New York 2007). Hrsg. (u. a.): Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk (Berlin 1991); Kunst, Hermeneutik, Philosophie: Das Denken Hans-Georg Gadamers im Zusammenhang des 20. Jahrhunderts (Heidelberg 2003); (Mithrsg.) Philosophie und Gestalt der europäischen Universität (Schellingiana, Bd. 18, Stuttgart 2008). – Email: [email protected] Dietmar Koch. Studium der Philosophie, Germanistik und Altphilologie in Tübingen; seit 1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen; dort seit 1990 Lehrtätigkeit als Dozent (Lehr- und Verwaltungstätigkeit dort seit 1993); seit 1990 Vorsitzender der »Tübinger Gesellschaft für Phänomenologische Phi-
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Die Autorinnen und Autoren
losophie«; seit 2006 Wissenschaftliches Mitglied im Vorstand der »Martin-Heidegger-Gesellschaft«; Herausgeber der Publikationsreihen »Phainomena«, »Tübinger Phänomenologische Bibliothek« und anderer Reihen im Attempto Verlag Tübingen; Arbeitsgebiete: Antike Philosophie, Deutscher Idealismus, Hermeneutik, Phänomenologie, Geschichte der Philosophie, Philosophie der Kunst Rosa Maria Marafioti (Taurianova, 1979) studierte in Messina, Freiburg, Tübingen, Fribourg, Budapest. Sie ist promoviert in Methodologie der Philosophie und besitzt die akademische Lehrerlaubnis als Privatdozentin (ASN DD n. 222/2012). Sie arbeitet mit dem Philosophischen Seminar der Universität Messina und mit dem Institut für Religionswissenschaft von Reggio Calabria zusammen. Sie ist Mitglied des Editorial Advisory Board der »Heidegger-Studien« und hat die Übersetzung von M. Heidegger, Oltre l’estetica. Scritti sull’arte (2010) herausgegeben. Unter ihre Veröffentlichungen fallen auch die Monographien La questione dell’arte in Heidegger (2008), Il ritorno a Kant di Heidegger. La questione dell’essere e dell’uomo (2011), Gli Schwarze Hefte di Heidegger. Un ›passaggio‹ del pensiero dell’essere (2016). Reinhard Mehring, Prof. Dr., Studium der Philosophie, Germanistik, Politikwissenschaft; Diss. 1988 Politikwissenschaft (Freiburg); Habilitation 2000 Philosophie (HU-Berlin); seit 2007 Prof. für Politikwissenschaft PH-Heidelberg; zahlreiche Publikationen: u. a.: Heideggers Überlieferungsgeschick. Eine dionysische Selbstinszenierung, Würzburg 1992; Carl Schmitt zur Einführung, 1992, Hamburg 5. Aufl. 2017; Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001; Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt, Tübingen 2014; (Hg.) Ethik nach Theresienstadt. Späte Texte des Prager Philosophen Emil Utitz (1883– 1956), Würzburg 2015; Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Tübingen 2016; Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg 2017. Dr. Klaus Neugebauer studierte Philosophie und Germanistik in Köln, Freiburg im Breisgau und Münster. Seine wichtigsten philosophischen Lehrer waren (in zeitlicher Reihenfolge) Ingeborg Schüßler, Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Fr.-W. von Herrmann und überhaupt die Freiburger Phänomenologie. Nach der Promotion über Adalbert Stifter 30 Jahre Tätigkeit in der eigenen Agentur für Öffentlichkeitsarbeit. Danach
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Die Autorinnen und Autoren
Bücher über den Wahrheitsbegriff bei Heidegger und Husserl, über Pablo Picasso, über die Medialität der Medien. Mitglied in der Martin-Heidegger-Gesellschaft seit 1987, seit 2015 deren 2. Vorsitzender. Lehrbeauftragter an den Universitäten Dresden, Köln, Stuttgart. [email protected] Alina Noveanu. geb.1978, ist seit 2004 Dozentin für Philosophie an der Babeș-Bolyai Universität in Cluj. Seit 2011 Gastdozenturen an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Promotion 2003 über die Philosophie Hans-Georg Gadamers. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik, Phänomenologie, Antike Philosophie. Bücher: »Platon, Triumful întrebării« (2008) und »Arta interpretării« (2010). Übersetzungen vom Deutschen ins Rumänische (Julius Stenzel, Werner Jaeger). Mitherausgeberin (zusammen mit Dietmar Koch) der Reihe Poiesis: Philosophie, Dichtung, Bild. Dr. med. Hanspeter Padrutt, geb. 1939, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Praxis seit 1971 in Zürich, verheiratet mit Dr. med. Ania Padrutt. Teilnahme an letzten Seminaren von Martin Heidegger bei Medard Boss in Zollikon. Zahlreiche Vorträge, Aufsätze und Seminare mit psychotherapeutischer, philosophischer und ökologischer Thematik. Der epochale Winter. Zeitgemäße Betrachtungen (Diogenes Zürich 1984 / TB 1990/97). 1986–1994 Blumen im Winter? Aufführungen (Schweiz, Deutschland, Österreich, Ungarn) mit Liedern aus der Winterreise von Franz Schubert und Wilhelm Müller (Sänger und Pianistin), Lichtbildern und Texten (A. Padrutt), Ausschnitten aus dem Epochalen Winter (H. Padrutt). Und sie bewegt sich doch nicht. Parmenides im epochalen Winter (Diogenes Zürich 1992), mit Neuübersetzung der Parmenides-Fragmente. [email protected] Günther Pöltner, Professor für Philosophie an der Universität Wien. Klavierstudium an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien; Studium der Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der Universität Wien und in Freiburg. Veröffentlichungen zu Themen insbesondere der Metaphysik, Anthropologie, Medizinethik. Zuletzt: Menschennatur und Speziesismus, in: Rothhaar, M./Hähnel, M. (Hg.), Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft? Berlin/Boston 2015, 251–267. Vernunft und Offenbarung nach Thomas von Aquin, in: Fischer, N./Sirovatka, J. (Hg.), Vernunftreligion und Offenbarungsglaube. Freiburg u. a. 2015, 119–135. Die zeitliche Struktur der Leiblich-
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Die Autorinnen und Autoren
keit, in: Esterbauer, R./Paletta, A./Schmidt, Ph./Duncan D. (Hg.), Bodytime. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg 2016, 17–33. Privatio boni. Thomas von Aquin über das Böse, in: Theologie und Philosophie 92 (2017) 58–77. Dr. med. Hansjörg Reck. Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse. Lehr- und Kontrollanalytiker f. d. Bereich Psychoanalyse im Weiterbildungskreis f. Psychotherapie, Konstanz-Reichenau, am Österreichischen Daseinsanalytischen Institut für Psychotherapie, Psychosomatik und Grundlagenforschung, Wien sowie im Daseinsanalytischen Seminar, Zürich. Veröffentlichungen: zahlreiche Beiträge in der Zeitschrift und im Jahrbuch Daseinsanalyse ab 1984; Anspruch und Entsprechen von Kunst, Gemüt und Religion – Besinnung aus daseinsanalytischer, ärztlicher Sicht, Wien, 2016. Praxis: D-78462 Konstanz, Tulengasse 1. E-mail: [email protected] Ingeborg Schüßler. Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie an der Universität zu Köln und Sorbonne/Paris. 1964/5 Staatsexamen in Romanistik, Germanistik und Philosophie, 1969 Doktorat und 1978 Habilitation in Philosophie an der Universität zu Köln. Seit 1981 ord. Prof. an der Universität Lausanne (Schweiz) und daselbst seit 2004 ›prof. honoraire‹. Gastprofessuren (Schweiz, Deutschland, Mexiko). Internationale Vortragstätigkeit. Mitarbeit an der Martin-HeideggerGesamtausgabe. ›Vice-présidente‹ der ›Société d’études kantiennes de langue française‹. Schwerpunkte: griech.-antike und neuzeitl. Philosophie (Kant, Dt. Idealismus, Postidealismus), Gegenwartsphilosophie (Phänomenologie, Heidegger). Zahlreiche Veröffentlichungen. Internationale Vortragstätigkeit. Rainer Thurnher, Univ.Prof. i. R., lehrte als Professor am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, studierte in Innsbruck Philosophie und Klassische Philologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der Philosophie (insb. Platon, Kierkegaard, Heidegger, Jaspers, Französischer Existenzialismus), Phänomenologie, Hermeneutik, Existenzialontologie, Geschichtsphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Geschichte der Philosophie (ed. W. Röd) Bd. XIII (gemeinsam mit W. Röd und H. Schmidinger), München (Beck) 2002; Wandlungen der Seinsfrage. Zur Krisis im Denken Heideggers nach ›Sein und Zeit‹, Tübingen (Attempto) 1997. Homepage (mit Publikationsverzeichnis): http://www. uibk.ac.at/c/c6/c602/Thurnher.html. E-mail: [email protected]
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