Dramatische Transformationen: Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater [1. Aufl.] 9783839405123

Ist die Kategorie des Dramatischen ein ästhetisches Auslaufmodell? Warum ist das Theater ein Ort für Texte? Wie lässt si

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German Pages 386 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Dramatische Transformationen. Zur Einführung
(Post-)Dramatische Standpunkte
Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss
Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher: Zapping als Revival der Revueform?
Zersplitterungsphänomene in Ulrike Syhas Stück Autofahren in Deutschland
Polyphonie und Transformationen der dramatischen Gattung bei Sibylle Berg
Identitätsproblematiken in Fritz Katers zeit zu lieben zeit zu sterben
Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt. Einige Überlegungen zur Bildlichkeit unter gegenwärtigen Erregungsverhältnissen mit Anmerkungen zu Falk Richters System
Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch
Junge Schreibstrategien
SCHREIBEN LERNEN. Erfahrungen mit einem Studiengang
Studiengang SZENISCHES SCHREIBEN an der Universität der Künste (UDK)
Kirschen in Benzin
alter ford escort dunkelblau
Blutiges Heimat
still still meine kleine Tochter
Kastanien
Alles still
Küss mich hinter Karstadt
theater ist stottern
Medien-Sprünge und »Schreibspuren«
Intermediale Transformationen zwischen Text und Bühne
Schreibspuren: Schwarz auf Weiß
Heiner Goebbels: Zur Dramaturgie des Samplings
Die Grenzen des Darstellbaren. Der Kick auf der Bühne und auf der Leinwand
Zeit – Zeitlichkeit
Die Zeit des Textes im Theater
Zuschauen, wie die Zeit vergeht. Die Bühnenräume von Johannes Schütz
Realitätseinbrüche und Schnitträume: Theater – Bildende Kunst – Performance
Die Choreografie der Ökonomie. Tino Sehgals Diese Beschäftigung (Hamburg 2005/2006)
Schießen oder Nichtschießen? Logbuch eines dokumentarischen Theaterprojektes vor seiner Premiere
Theatralitätsengpässe, neo-dokumentarische Blenden und Stationendramen. Eine Reise mit Stefan Kaegi durch »authentische« Wissens-Spiel-Räume
Parsifals Irrfahrt nach Afrika. Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7. Eine Matthäusexpedition mit Christoph Schlingensiefs Parsifal: (Laß o Welt o Schreck laß nach) – Versuch einer Annäherung
Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text
Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann. Ulrike Maria Stuart und Das Werk in 17 Punkten und Kontrapunkten
»Alles Liebe, euch allen, Elfriede«. Performativität im zeitgenössischen Theater
Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren. Einar Schleef und das Thingspiel
Autorinnen und Autoren
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Dramatische Transformationen: Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater [1. Aufl.]
 9783839405123

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Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen

2008-01-15 15-13-44 --- Projekt: T512.lettre.tigges / Dokument: FAX ID 030c168365884072|(S.

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Theresia Birkenhauer gewidmet

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Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jon Fosse: Da kommt noch wer (Schauspielhaus Düsseldorf 2001), Regie: Jürgen Gosch, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz Herstellung: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-512-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Stefan Tigges Dramatische Transformationen. Zur Einführung 9

(Post-)Dramatische Standpunkte Peter Michalzik Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss 31 Kerstin Hausbei Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher: Zapping als Revival der Revueform? 43 Hilda Inderwildi Zersplitterungsphänomene in Ulrike Syhas Stück Autofahren in Deutschland 53 Catherine Mazellier-Grünbeck Polyphonie und Transformationen der dramatischen Gattung bei Sibylle Berg 63 Christian Klein Identitätsproblematiken in Fritz Katers zeit zu lieben zeit zu sterben 75 Philipp Soldt Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt. Einige Überlegungen zur Bildlichkeit unter gegenwärtigen Erregungsverhältnissen mit Anmerkungen zu Falk Richters System 87 Diedrich Diederichsen Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch 101

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Junge Schreibstrategien Jürgen Hofmann SCHREIBEN LERNEN. Erfahrungen mit einem Studiengang 115 Studiengang SZENISCHES SCHREIBEN an der Universität der Künste (UDK) 123 Nina Büttner Kirschen in Benzin 125 Dirk Laucke alter ford escort dunkelblau 137 Juliane Kann Blutiges Heimat 145 Nina Ender still still meine kleine Tochter 157 Magdalena Grazewicz Kastanien 169 Tina Müller Alles still 181 Anne Habermehl Küss mich hinter Karstadt 189 kathrin röggla theater ist stottern 199

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Medien-Sprünge und »Schreibspuren« Jens Roselt Intermediale Transformationen zwischen Text und Bühne 205 Heiner Goebbels Schreibspuren: Schwarz auf Weiß 215 Christopher Balme Heiner Goebbels: Zur Dramaturgie des Samplings 225 Andres Veiel Die Grenzen des Darstellbaren. Der Kick auf der Bühne und auf der Leinwand 237

Zeit – Zeitlichkeit Theresia Birkenhauer Die Zeit des Textes im Theater 247 Rita Thiele Zuschauen, wie die Zeit vergeht. Die Bühnenräume von Johannes Schütz 263

Realitätseinbrüche und Schnitträume: Theater – Bildende Kunst – Performance Katharina Pewny Die Choreografie der Ökonomie. Tino Sehgals Diese Beschäftigung (Hamburg 2005/2006) 277

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Stefan Kaegi Schießen oder Nichtschießen? Logbuch eines dokumentarischen Theaterprojektes vor seiner Premiere. 291 Stefan Tigges Theatralitätsengpässe, neo-dokumentarische Blenden und Stationendramen. Eine Reise mit Stefan Kaegi durch »authentische« Wissens-Spiel-Räume. 307 Bärbel Lücke Parsifals Irrfahrt nach Afrika. Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7. Eine Matthäusexpedition mit Christoph Schlingensiefs Parsifal: (Laß o Welt o Schreck laß nach) – Versuch einer Annäherung 323

Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text Nicole Kandioler Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann. Ulrike Maria Stuart und Das Werk in 17 Punkten und Kontrapunkten 337 Gabriele Klein »Alles Liebe, euch allen, Elfriede«. Performativität im zeitgenössischen Theater 347 Evelyn Annuß Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren. Einar Schleef und das Thingspiel 361 Autorinnen und Autoren 375

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Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung

Dramatische Transformationen. Zur Einführung Stefan Tigges

Eher interessiert mich die Abwesenheit von dramatischen Äußerungen.1 (Jürgen Gosch)

Warum soll im Kontext von gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien von dramatischen Transformationen die Rede sein, wenn sich doch längst – nicht nur in terminologischer Hinsicht – für Text und Bühne die von Hans-Thies Lehmann entwickelte flexible Arbeitsformel des postdramatischen Theaters etabliert hat? Handelt es sich nicht um einen durch den Titel motivierten Widerspruch, gegenwärtige Schreib- und Aufführungsstrategien auf ihr dramatisches Transformationsspektrum und -potential hin zu befragen, wenn dramatische Äußerungen bereits ästhetisch abgelöst wurden und mittlerweile schon als theaterhistorische Phänomene behandelt werden? Und: Was genau meint dramatische Transformationen, wenn diese nicht nur auf Theatertexte, sondern aus unbedingter (produktionsästhetischer) Notwendigkeit heraus auch auf die Aufführungspraxis bezogen werden? Bei einem Blick in die fast ausschließlich postdramatisch und performativ geprägten Untersuchungen, die sich mit der Aufführungspraxis auseinandersetzen, fallen meist drei Momente unmittelbar ins Auge: 1.

2.

Die Spielvorlage – ob dramatisch oder postdramatisch – führt letztlich eine gespenstische Schattenexistenz, womit sich die taumelnden Texte zunehmend im Spielereignis verlieren. Es tritt eine terminologische Dichte auf, aus der sich schließen lässt, dass das Vokabular vor allem performativ gelenkt wird und sich daraus eine neue Fachsprache konstituiert hat, die wiederholt durch ein (un-) produktives Textverhältnis gekennzeichnet ist bzw. zum Ausdruck

1. Vgl. Jürgen Gosch in einem Gespräch mit Nina Peters, in: Theater der Zeit 05/2006 (S. 21-26, hier: S. 26).

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Dramatische Transformationen

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bringt, dass avancierte fundierte Ansätze einer Theorie des Textes im Theater vernachlässigt werden und damit praktisch ausbleiben. Hinzu kommt noch, dass fast die gesamte Text- und Bühnenlandschaft für postdramatisch erklärt wird, sich die terminologischen Fixierungen in den einzelnen Fällen jedoch als unscharf erweisen können. Die sich entgrenzenden Theaterwissenschaften suchen und behaupten zunehmend eine Nähe zur (Theater-)Kunst, was in einigen Fällen dazu führt, dass sich diese selbst künstlerisch inszenieren, die ästhetischen Standpunkte primär über-setzen, anstatt die Künstler auch einmal selbst zu Wort kommen zu lassen bzw. mit diesen in einen wirklichen Dialog zu treten.

Dramatische Transformationen versucht die (inszenierten) Texte durch verschiedene theoretische und praktische Blickwinkel auf unterschiedlichen Ebenen in ein schärferes Licht zu rücken und sich dabei durch ein neues wissenschaftlich-künstlerisches Format produktiv von der Methodik und Rhetorik der gängigen Rezeptionspraxis abzusetzen, um einerseits – in Analogie zum Titel – (post)dramatische Ästhetiken auf ihren von der Theaterwissenschaft möglicherweise voreilig verabschiedeten dramatischen Grund- oder Restgehalt hin zu befragen bzw. die anhaltenden dramatischen Transformationsprozesse zu orten und andererseits die Aufmerksamkeit wieder stärker auf den Text bzw. die (künstlerische) Sprache zu lenken, ohne dabei in traditionelle längst überwundene Muster zurück zu fallen. So finden sich neben deutschen und französischen theoretischen Perspektiven, neun Stück-Auszügen junger TheaterautorenInnen auch Beiträge von Künstlern, die inmitten eines neuen Projektes laut darüber nachdenken (Stefan Kaegi) oder auf ihre Arbeiten zurückblicken sowie ihre medialen Grenzgänge (Film-Theater-Musik) kritisch hinterfragen (Andres Veiel und Heiner Goebbels) und dabei den Text/die Sprache nicht aus den Augen (und Ohren) verlieren. Während die Prosa-Autorin und Dramatikerin Kathrin Röggla das Theater sprach- und aufführungsästhetisch erkundet, nimmt Peter Michalzik bei seinen Stückanalysen die Perspektive eines Literatur- und Theaterkritikers ein, wogegen sich die Dramaturgin Rita Thiele der visuellen Dramaturgie von Johannes Schütz nähert. Der Beitrag von Theresia Birkenhauer, der einen zentralen Platz einnimmt, zeigt, wie fruchtbar es ist, wenn sich die dramaturgisch-künstlerischen und wissenschaftlichen Erfahrungen in einem Text verdichten und die sich wandelnde Bedeutung und Funktion von Text bzw. Sprache im Theater aus nächster Nähe – jedoch in produktiver Distanz – analysiert werden. Dementsprechend sind mit Ausnahme der sieben DramatikerInnen, 10

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Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung

deren Auszüge aus Gründen der Übersichtlichkeit und des Dialogs miteinander unter dem Kapitel Junge Schreibperspektiven versammelt wurden, die künstlerischen, dramaturgischen und wissenschaftlichen Perspektiven bewusst vermischt. Dabei folgen diese spezifischen Schwerpunktsetzungen wie Medien-Sprüngen und Schreibspuren, Zeit/Zeitlichkeit, ästhetischen Schnitträumen (Theater-Performance) oder fokussieren den bewegten und arbeitenden Text im Lese- und/oder Kunstraum. Im Sinne der Einführung, die die verschiedenen Beiträge programmatisch unchronologisch kommentiert, um damit erste mögliche Verknüpfungsansätze zwischen den sechs offenen Lektürekonstellationen anzudeuten, erweisen sich springende Lektüren als gewinnbringend. Wurde das Verhältnis von Theater und Literatur gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch als eine Konfliktgeschichte gelesen, in der das doppelte Bild des Verlustes, d.h. die Entdramatisierung von Theatertexten als auch der Bedeutungsschwund von Sprache im Theater in Form visueller Dramaturgien »dramatisch« präsent war, so zeichnet sich eine schrittweise produktive Entschärfung des Konfliktes ab, die zu einer Aufhebung der Dichotomien von Text und Theater führt, den Werkbegriff transformiert und ehemalige ästhetische Grenzziehungen zwischen den künstlerischen Gattungen und Formaten durchlässiger erscheinen lässt.2 Die zunehmend mit ihrer »Wirklichkeitswerdung« (Thomas Oberender) liebäugelnden Texte und Spielästhetiken haben sich in der postdramatischen, performativ geprägten und ereignisorientierten Theaterlandschaft nicht nur entscheidend verwandelt, sondern sich auch signifikant aus hartnäckigen Traditionen befreit. Um gegenwärtige Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater überhaupt analysieren zu können, so eine Grundannahme dieses Bandes, erweisen sich Rückblicke auf die dramatischen und ästhetischen Transformationsprozesse mit der Frage nach Traditionsentkopplungen oder -ankopplungen als unabdingbar.3 Handelt es sich im Hinblick auf zeitgenössische Theatertexte, denen nunmehr auf formaler sowie inhaltlicher Ebene fast ausnahmslos postdramatische Zersplitterungsphänomene innewohnen, grundsätzlich um 2. Vgl. Theresia Birkenhauer, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Cechov, Beckett, Müller, Vorwerk 8, Berlin 2005. Im Kontext der Ablösung der modernen Werkästhetik durch Theorien der ästhetischen Erfahrung bzw. der »Verfransung« (Adorno) der Grenzen zwischen den Kunstgattungen vgl. auch: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kunst Fortschritt Geschichte, Berlin 2006. 3. Diese Frage steht in dem von Christoph Menke und Juliane Rebentisch herausgegebenen Band deutlich im Mittelpunkt.

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Dramatische Transformationen

ästhetische Modelle, die ihre dramatische Tradition über Bord werfen, um in »authentischere« künstlerische Freihandelszonen zu treiben? Gibt es nicht gerade auch TheaterautorenInnen, die ästhetische Traditionen bewusst nicht aus den Augen verlieren, um sie mit divergierenden Strategien zu verformen und ästhetisch weiter zu schreiben? Wie treten überhaupt die postdramatischen Umformungsprozesse zwischen Text(-körper) und Bühnen(-raum) in Erscheinung? Sind es eher die postdramatischen Texte – deren postdramatische Züge jeweils exemplarisch genau markiert werden sollen – die die Bühnen zu neuen Aufführungsästhetiken veranlassen oder ist es die Aufführungspraxis, die den TheaterautorenInnen postdramatische Schreibstrategien abverlangt? Interessant ist in diesem Kontext auch das Moment der Autorschaft, das sowohl in Frage gestellt wird, vielstimmig aufgeladen werden kann, bis der ursprüngliche Text in Form von »Schreibspuren« (Heiner Goebbels) nur noch diffizil identifizierbar ist oder – wie es wiederholt der Fall ist – dass Autoren (Christoph Schlingensief, Falk Richter, René Pollesch, Fritz Kater/Armin Petras) selbst zu Performern ihrer eigenen, in einem kollektiven, jedoch intimen Arbeitsprozess entstehenden »Werke« werden und diese aus erklärlichen Motiven für Nachspiele nur bedingt aus der Hand lassen. Das Nachspielen kann sich aber noch wesentlich problematischer erweisen, wie es z.B. die Produktionen von Rimini Protokoll zeigen, die sowohl mit einer offenen Autorschaft operieren als auch fast ausschließlich mit nicht-professionellen Darstellern (»Alltagsspezialisten«) arbeiten. So gewannen Helgard Haug und Daniel Wetzel mit ihrer »In-Szene-Setzung« – der Begriff der »Dramatisierung« erweist sich hier als nicht mehr adäquat – des ersten Bandes von Karl Marx’ Das Kapital den Mühlheimer Theaterpreis 2007, einen Preis, der in seiner über 30 jährigen Geschichte stets als ein reiner Dramatiker-Preis verstanden wurde. Bernd Stegemann formuliert in seiner Laudatio genau diesen dramatischen Transformationsprozess: »Mit dem Kapital hat nun ein Text den Preis gewonnen, der unauflöslich an seine Inszenierung gebunden scheint und dessen mögliche Zweitaufführung eine zentrale Frage an den Text formuliert. Soll die Mitschrift der Aufführung des Kapitals als Grundlage einer Inszenierung dienen, oder soll der dahinterliegende Einfall, der zur Produktion dieser Texte führte, eine mögliche Inszenierung bestimmen? Spielt der Schauspieler dann den ehemals für den Text verantwortlichen Experten?«4

Der Dramaturg kommt danach noch auf ein weiteres spezifisches Merkmal 4. Bernd Stegemann: »Laudatio zum Mühlheimer Theaterpreis. Riminis Mimesis«, in: Theater heute, 08/09/2007, S. 1.

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Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung

zu sprechen, das die sich verrückenden Relationen von Text und Theater sowie deren Wirklichkeitsverhältnis genauer fasst: »Die Methode Rimini, die verblüffende Kopplung eines Themas mit seiner Theatralisierungsmöglichkeit als Geschichten von Augenzeugen und Experten, erzeugt somit einen Text, der sich radikal mimetisch zur Wirklichkeit verhält. Im klassischen Drama ergibt der Rollentext plus Schauspieler die Figur, die handelnd uns zu interessieren versucht. Bei Rimini ergibt die Erzählung des eigenen Erlebens ein theatralisches Readymade, das durch seinen Kontext, die Inszenierung einer Auswahl von Experten und die Formung ihrer Geschichten, eine mimetische Darstellung ergibt.«5

Dass sich im Fall der Dramatischen Transformationen der Blickwinkel nicht nur auf den Theatertext richten kann, über den dann zur fortschreibenden Analyse die entsprechende Aufführungspraxis geblendet wird, zeigt auch ein anderes und möglicherweise zukunftsweisendes Beispiel, auf das Gabriele Klein und Nicole Kandioler in ihren Beiträgen hinweisen. Wie lässt sich Elfriede Jelineks letztem umfangreichen Theatertext nähern, wenn Nicolas Stemann in seiner Uraufführung von Ulrike Maria Stuart auf lediglich 30 Prozent des Originals zurückgreift, gleichzeitig aber gar nicht überprüfbar ist, was von der Regie dazu geschrieben wurde, da die Autorin programmatisch nur Textauszüge auf ihrer Homepage veröffentlicht? Theresia Birkenhauer fragt grundsätzlich, ob die Texte zuerst im und dann aus dem Theater verschwinden und beschreibt die das Drama als literarische Gattung betreffenden Transformationsfolgen, um schließlich produktiv an Heiner Müllers theoretischer und praktischer Arbeit anzuknüpfen, die nach wie vor äußerst gegenwärtig erscheint.6 Bemerkte Müller 1989, dass die Zeit des Textes im Theater noch kommen werde und das Theater bis dahin noch gar nicht wirklich mit Texten gearbeitet habe, lenkt Theresia Birkenhauer in diesem Sinne die Aufmerksamkeit auf die »eigene Wirklichkeit« von Texten und erkennt in dem Theater der Gegenwart vor allem die Aufgabe, »Texte als Texte« erfahrbar zu machen. Dementsprechend stellt sich nicht die Frage, warum Texte 5. Ebd. 6. Dies zeigt sich z.B. in dessen »autodramatischem« Text (Ulrike Hass) Bildbeschreibung, der nicht nur Fragen nach der Bildlichkeit, Darstellung und Wahrnehmung stellt, sondern auch die »Unverfügbarkeit von Sprache« (Theresia Birkenhauer) bezeugt. Vgl. Ulrike Hass (Hg.): Heiner Müller. Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Theater der Zeit, Recherchen Nr. 29, Berlin 2005, (u.a. S. 93.112). Im Frühjahr 2007 entdeckte der junge französische Regisseur Laurent Chétouane Müllers »Versuchsanordnung« für das Theater neu. Studie 1 zu Bildbeschreibung von Heiner Müller erlebte seine Premiere im Pact Zollverein Essen.

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Dramatische Transformationen

Theater brauchen, sondern: »Warum ist das Theater ein Ort für Texte? Inwiefern erlaubt die Bühne eine Erfahrung der eigenen Wirklichkeit der Texte – die nur hier möglich ist?« Theresia Birkenhauer reflektiert jedoch auch die Zeitlichkeit des Textes bzw. die Zeit(-räume), die die Texte durch das Theater erhalten und entwickelt daran ihren Begriff der Inszenierung: »Inszenierungen lassen sich verstehen als Verfahren, die einen Raum organisieren, in dem die unterschiedlichen Zeiten – die Zeit des Textes, der Darsteller/der Darstellung, des Publikums – in der Gegenwart der Aufführung aufeinander treffen, in der Schwebe gehalten werden, sich brechen.« In der »Schwebe« befinden sich auch die Bühnenbilder von Johannes Schütz, die Rita Thiele als offene Spiel- bzw. experimentelle Denkräume beschreibt und in ihrem Beitrag die durch die Bühnenprozesse entstehende Zeitlich- und Räumlichkeit hervorhebt. Signifikant für die visuelle Dramaturgie von Schütz, die sich dem Text nicht unterordnet, sondern ihre eigene Logik entfaltet sowie das Publikum als Mitspieler herausfordert, so Thiele, sind ebenso die auftretenden »Effekte der Wirklichkeitswerdung«, die als Phänomene – auf unterschiedliche Weise – u.a. in den Beiträgen von Peter Michalzik, Gabriele Klein, Katharina Pewny, Stefan Kaegi und Stefan Tigges wiederholt eine Rolle spielen. Dramatische Transformationen sucht nicht nur nach neuen Ansätzen einer Theoriebildung des Textes im Theater, wobei der (Theater-)Textbegriff in den letzten Jahren erheblich expandierte, was in der Breite des theatralisierten (Spiel-)Materials zum Ausdruck kommt und durch die Mediensprünge bzw. Inter- und Transmedialität noch bestärkt wurde, sondern streift auch exemplarisch die Formen des Musiktheaters (Heiner Goebbels), des Films (Andres Veiel) und der bildenden Kunst (Tino Seghal), da hier ähnliche Diskurse verhandelt werden (Textualität, Sprache/Sprachkörper, Repräsentation, Authentizität, Fiktionalisierung des Dokumentarischen) und diese Formate wiederholt auf Techniken und Ästhetiken des Theaters/Schauspiels zurückgreifen. Hilfreich sind deswegen gerade offene Ansätze, welche die (dramatischen) Transformationsprozesse (Medientransformationen) in/zwischen den jeweiligen Künsten mit einem ausgeprägten medialen Bewusstsein zur Sprache bringen, dabei die Theaterwissenschaft aber nicht medienwissenschaftlich verwässern oder auflösen.7 7. Dieser Gefahr unterliegt z.B. Petra Maria Meyer in ihrer im Kontext der künstlerischen Transformationsforschung ansonsten grundsätzlich komplexen und erkenntnisreichen Studie zur Intermedialität des Theaters, in der sie unter Bezugnahme auf Adornos Diagnose der »Verfransung der Künste« versucht, neuere Theorien (Kristeva, Fischer-Lichte, Barthes, Derrida, Butler) im Hinblick auf Fragen der Repräsentation, der Wahrnehmung und des Zusammenspiels von Kunst (Theater) und Me-

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Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung

Der Theaterwissenschaftler und Dramatiker Jens Roselt, der in seinem Beitrag Verfahren und Möglichkeiten der medialen Transformationen im Theater am Beispiel von Frank Castorfs Inszenierung von Erniedrigte und Beleidigte (nach Dostojewski) darstellt, dabei insbesondere den (Spielpartner) Raum als entscheidenden Faktor für die Medialität der Inszenierung begreift und – in Bezug auf Denis Diderots Idee der »vierten Wand« – die von der Regie eingesetzte Projektionsfläche als »fünfte Wand« bezeichnet, weist darauf hin, dass bereits die Geburtsstunde des europäischen Theaters durch eine mediale Transformation markiert ist, indem Aischylos oder Sophokles sich aus den Epen-Materialien der Ilias oder der Odyssee bedienten und diese in eine neue Darstellungsweise über-setzten. Jens Roselt, der in der Produktion selbst für die Romantransformation bzw. Stückfassung verantwortlich war, kommt zu dem Ergebnis, dass sich Medialität gewissermaßen im Grenzgebiet von Bühne und Publikum ereignet und in diesem Sinne das Zuschauen und Zuhören als mediale Grenzerfahrungen zu verstehen sind. Heiner Goebbels, dessen »Dramaturgie des Samplings« von Christopher Balme mit Bezügen auf Brecht untersucht wird, denkt dagegen am Beispiel von Schwarz auf Weiss über »Schreibbewegungen« in seinem Musiktheater nach, in das wiederholt »Geräusche aus Romanen« eindringen und in dem »Schreibspuren« von AutorenInnen wie Gertrude Stein, Heiner Müller, Elias Canetti, Franz Kafka, Alain Robbe-Grillet oder Edgar Allan Poe zu finden sind. Interessant ist hier zum einen, warum Goebbels seine musikalische Form nicht aus primär musikalischen Überlegungen entwickelt, sondern die kompositorische Anregung vielmehr, so der Komponist und Regisseur, aus »der Struktur, der Architektur der Texte« kommt. Andererseits stellt Goebbels fest, dass es nicht für die Bühne geschriebene, d.h. nicht dramatische Texte sind, die seine Arbeit anregen, sondern eingeschobene Prosasequenzen oder Tagebuchauszüge, womit sich die Frage stellt, warum genau diese undramatischen Texte – und dies zeichnet sich ebenso in der gegenwärtigen Aufführungspraxis ab – für Theatralisierungsvorgänge oftmals ästhetisch »fruchtbarer« erscheinen. Bärbel Lücke fragt am Beispiel eines von Elfriede Jelinek für das Theater geschriebenen »hybrid-narrativen« Textes, wie dieser in eine Installation reist, der Text damit selbst zum (Zeit-)Raum bzw. zu einer Landschaft transformiert, die von Künstlern wie dem Publikum betreten und durchquert wird. Der verräumlichte Text wird somit zu einem ereignisreichen dien zu performativ geprägten Fusionen zu bewegen, um daraus – mit bewussten Rückblicken auf Avantgarden des 20. Jh. – eine »Semiotik der Überraschung« zu entwickeln. Vgl. Petra Maria Meyer: Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf 2001.

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Dramatische Transformationen

transitorischen Aufenthaltshaltraum oder Transit-Raum, der von Christoph Schlingensief in Area 7 in Form eines multimedialen »Animatographen« in Bewegung gesetzt wird. Hier stellt sich nicht nur die Frage, wie die Mythen von Elfriede Jelinek verformt werden und Parsifal als »Vermischungsfigur« oder »Figurencluster« nach Afrika reist, um dort als »Erlöserfigur« mit Nietzsches Geburt der Tragödie und Euripides Bakchen dekonstruiert zu werden, sondern auch, wie diese im Kunstraum kommuniziert bzw. von der »Leinwand in den Raum spricht«. Lücke bezeichnet die Arbeit in diesem Sinne als »Mythen-Dekonstruktions-Installation«. Die Performance von Christoph Schlingensief interessiert auch im Hinblick auf das prozessuale, serielle Moment der an den verschiedenen Orten entstehenden »Animatographen« und das Mitreisen und Fortschreiben des Textmaterials, das in Dependenz zu den divergierenden Orten und Räumen neu konfiguriert wird und immer wieder wechselnde ästhetische Konstellationen von Film, Performance, Video, Bildender Kunst und Text entstehen, die letztlich eine Art offenes/situatives »Gesamtkunstwerk« bilden. Ebenso wird hier mit den zusammenspielenden Formaten von (szenischer) Installation und Performance eine neue/alte ästhetische Schnittstelle berührt, die im gegenwärtigen (Tanz-)Theater und in der Musik an Einfluss gewinnt, womit sich jeweils die Frage nach der Transformationsleistung sowie des ästhetischen Zugewinns stellt.8 Katharina Pewny befragt am Beispiel von Tino Seghals Diese Beschäftigung die ästhetischen Schnittpunkte und Transformationsprozesse von Performance-Tanz-Theater auf ihr dramatisches Potential und lenkt dabei ähnlich wie Gabriele Klein die Aufmerksamkeit auf das mitwirkende Publikum sowie die Kategorie des Performativen, die sie durch Reflexionen, die auf körperzentrierte Aspekte der Authentizität, Liveness/Reproduzierbarkeit und Theatralität zielen, weiterentwickelt. Dabei wird deutlich, dass die Choreografie in der bildenden Kunst möglicherweise (wieder) einen neuen experimentellen (Neben-)Schauplatz gefunden hat – interessanter8. Beispiele für das choreographische Theater sind u.a. die Performance-Installationen von William Forsyth (you made me a monster, nowhere and everywhere at the same time oder das von ihm im Oktober 2007 im Festspielhaus Hellerau realisierte Ausstellungsprojekt Performance-, Raum- und Videoinstallationen) oder Sasha Waltz (insideout). Stefan Kaegi dokumentiert und choreographiert ebenso Räume, wie es sein brasilianisches künstlerisches Logbuch zeigt. Die mittlerweile aufgeführte Produktion bezeichnet er als eine interaktive Dokumentar-Installation. Heiner Goebbels entwickelte in der Spielzeit 2007/08 mit Stifters Wenige – eine performative Installation – erneut ein Format, in dem die Formen der Performance und der Installation ästhetisch zusammenspielen.

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weise taucht diese (zumindest terminologisch) aber auch in Stefan Kaegis brasilianischem »Logbuch eines dokumentarischen Theaterprojekts vor seiner Premiere« wieder auf. Diederich Diedrichsen setzt sich mit der Dramatik und den Inszenierungen René Polleschs auseinander, überprüft theoretische Texte auf ihre Anwendbarkeit im Alltag als auch auf der Bühne, unterstreicht die Bedeutung des Verhältnisses des performenden Polleschs-Kollektivs zu gesellschaftlichen Gruppen, markiert ein Theater ohne Rollen(-spiel) und bilanziert für die dem Postfordismus ausgelieferten Körper eine Authentizitäts-Falle: » Die Stimmen, die sich in Pollesch-Stücken verschiedene Körper für oft ein und dasselbe Anliegen suchen, beklagen ihre verlorene Maske, ihre erzwungene Authentizität. Unter dem Druck diversifizieren sie sich, spucken, sprechen nur in abgespaltenen Partikularjargons – aber sie können dem Fluch der Authentizität nicht entkommen.« Diedrichsen fordert, dass das Thema des Theaters darin bestehen müsse, »ein Leben, in dem man sich hinter keiner Rolle mehr verschanzen kann, von einer anderen Ordnung des (Bühnen-)Handelns aus zu beobachten« und formuliert damit einen Anspruch, den grundsätzlich auch Katharina Röggla nennt: »deswegen wünsche ich mir ein theater, das mit authentizität spielt und ihr mit höchster künstlichkeit begegnet […] ein theater, das seinen rahmen mitdenkt. seine medialität reflektiert, seinen ort als mögliche schnittstelle begreift. Und ein theater, das ein sprechen zulässt, welches sich nicht gleich ausradiert, das einen sprachkörper sichtbar werden lässt, der über die figuren hinausgeht. ein theater, das nicht so tut, als ob die sprache einzig dazu da ist, in figuren zu versickern, sondern sprache in ihrem zusammenhang versteht.«

Für den Filmregisseur Andres Veiel, der seine ästhetischen Grenzgänge zwischen Bühne und Leinwand am Beispiel von Der Kick kritisch dokumentiert, erfahren der »Sprachkörper« (einer Person) sowie die Dimension des »Authentischen« ebenso eine zentrale Bedeutung. Jedoch unterscheidet sich seine für das Theater und die »filmische Inszenierung« (Veiel) entwickelte Ästhetik des Rollenspiels elementar von den Vorstellungen Diedrich Diederichsens und (bedingt) Kathrin Rögglas, indem er entgegen des »Rollen-Turns« gerade am Rollenspiel festhält bzw. den Begriff des Authentischen an die Rolle »bindet«: »Die Bühne ist der Ort, wo alles passieren kann, was im Leben verboten ist. Damit stellt sich der Begriff des Authentischen auf den Kopf: Im Schutz der Rolle kann ein Protagonist in wahrhaftige Dimensionen vordringen, in die er sich privat nicht getrauen würde.« Für den Kontext der Authentizitäts-Diskurse heißt das, dass er sowohl im Film als auch im Theater gerade durch seine zwei Schauspieler, die in 17

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fast 20 Rollen schlüpfen, der Realität im Rahmen seines dokumentarischen Formats, das jedoch von spezifischen Fiktionalisierungsstrategien gekennzeichnet ist, extrem nahe kommt. Andres Veiel, der in beiden künstlerischen Medien weder mit realistischen Bildprojektionen vom Tatort arbeitet noch »wirkliche Menschen« auftreten lässt, erkennt die Qualität seiner Grenzüberschreitung zwischen dem Fiktionalen und dem Dokumentarischen darin, dass – und hier zitiert er die Reaktion eines Zuschauers – »die Protagonisten durch die Texte ein Gesicht bekommen« und die »Schauspieler quasi zum Medium der Protagonisten« würden. Glaubt Andres Veiel daran, dass das Theater neben den klassischen dokumentarischen Methoden wie Beobachtung und Interview eine weitere Möglichkeit sei, »über Menschen, die sich im Leben – und dazu gehört die Bühne – inszenieren, etwas Neues zu erfahren«, – hier wird nochmals der Unterschied zu der Konzeption von Pollesch bzw. Diedrichsen klar, so formuliert Stefan Kaegi einen von der Zielvorstellung ähnlichen TheaterBegriff, der sich jedoch in der ästhetischen Methode grundlegend unterscheidet: »Theater kann ein Feldstecher sein, ein Mikroskop, mehr als ein Spiegel, ein Guckkasten nach draußen. Und Theater kann ein Sockel sein für Menschen, denen wir sonst selten so sprachlich genau, so ästhetisch geschult, so zeichentheoretisch aufmerksam zuhören, wie wir das im Theater gewöhnt sind. Daraus kann eine Freiheit oder ein Prozess der Selbstreflexion in den porträtierten Figuren selbst entstehen, der oft genauso viel über sie selbst verrät, wie über die Institution Theater, die auf sie schaut.«

Stefan Kaegi, der ebenfalls mit dokumentarischen und mit Fiktionssplittern versehenen Ästhetiken operiert (vgl. den Beitrag von Stefan Tigges), setzt im Gegensatz zu Veiel auf »Experten der Wirklichkeit«, die sofort beginnen, ihre eigene Rolle zu spielen. Sind es nun die authentischen Protagonisten von Kaegis »biographischen Kunstprojekten« oder die zu »Sprachkörpern« werdenden Schauspieler Veiels, deren Sprache nicht in ihren (dargestellten) »Figuren versickert«, die die Wirklichkeit kunstvoller behandeln und nachhaltiger transformieren? Der Beitrag von Evelyn Annuß zur Historizität postdramatischer Chorfiguren, in dem sie Einar Schleefs Ästhetik mit der des Thingspiels konfrontiert, mag auf den ersten Blick aus dem (Zeit-)Rahmen fallen. Er erweist sich aber im Kontext der dramatischen Transformationen bzw. der Transformation szenischer Darstellung als mehrfach interessant, da Annuß einerseits die Aufmerksamkeit auf die Wurzeln eines Mittels (post-)dramatischer Ästhetik lenkt, dabei Brechts Lehrstück-Experimente der 20/30er Jahre berührt – hier ließe sich in Form eines Exkurses auch fragen, inwie-

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weit Kaegis und Veiels Arbeiten damit in Verbindung gebracht werden könnten – und andererseits auf einen Künstler hinweist, der wie Heiner Müller (als Autor und Regisseur) und Elfriede Jelinek mit der »Abkehr von der dramatischen Aussprache und der Entwicklung nicht-protagonistischer Auftrittsformen« entscheidend postdramatische Ästhetiken markiert hat. Philipp Soldt tanzt mit seinem psychoanalytischen Ansatz, in dem er bildwissenschaftliche Diskurse mit theoretischen Bausteinen aus der ästhetischen Erfahrung zusammen zudenken versucht, um am Beispiel von Falk Richters System aus der Perspektive des Lesers Wahrnehmungstransformationen d.h. Absturzkaskaden auf inhaltlicher und formaler Ebene zu untersuchen, produktiv aus der Reihe. Seine Frage, die er angesichts der multimedial geprägten Gesellschaft an die Kunst richtet, erweist sich zweifellos als eine grundsätzliche, die auch in anderen Beiträgen, die mediale Schnitträume oder medial durchdrungene Schreibstrategien behandeln (Jens Roselt, Kerstin Hausbei, Christopher Balme) wiederholt eine wichtige Rolle spielt: »Mehr oder weniger zugerichtet durch die audiovisuelle Dauerbestrahlung, muss doch die Lust, die Kunst versprechen kann, angesichts jederzeit medial verfügbarer Thrills einigermaßen schal erscheinen. Was treibt das fortlaufende Spiel mit dem widerspenstigen Material der Kunst an, was erhält es aufrecht?« Philipp Soldt liefert in Bezug auf Richters Electronic City mit den Begriffen der »Fläche« und der »Vielstimmigkeit« weitere Stichworte, die sich auch auf die Ästhetiken anderer behandelter AutorenInnen (Ulrike Syha, Sybille Berg, Fritz Kater) beziehen lassen: »Der Chor der Stimmen, auf die sich der Ich-Text verteilt, streut jedoch bereits diese Einfühlung. Die Zentralperspektive der konventionellen literarischen Aufmerksamkeitsökonomie ist gewissermaßen von Anfang an in die Fläche gezogen.« Während Christian Klein in der »Vielstimmigkeit« von Fritz Katers zeit zu lieben zeit zu sterben vor allem ein Spiel der Ich-Standpunkte, d.h. eine spielerische Auseinandersetzung mit (DDR-)Biographien erkennt, die Identitätszersplitterungen markieren, kommt Hilda Inderwildi am Beispiel von Autofahren in Deutschland zu dem Ergebnis, dass Ulrike Syha metadramatische Betrachtungen über die Entstehung des Dramas leistet und sich cinematographisch an der Gattung des Road-Movies orientiert. Für Catherine Mazellier besteht die Polyphonie Sybille Bergs darin, die Grenzen von Realität und Fiktion bzw. Dramatischem und Epischem zu verwischen. Damit thematisiert sie in Bezug auf Herr Mautz einen weiteren Transformationsprozess: »Das Übernehmen und Variieren der gleichen Stories oder Figuren in der Prosa und im Drama führt somit zu einer Vermehrung der Stimmen und Perspektiven, die mit einer Aushöhlung der dramatischen Kategorie einhergeht.« Handelt es sich um eine zukunfts-

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weisende Tendenz, dass reine DramatikerInnen immer grenzenloser schreiben bzw. zunehmend theaterferne (zeitgenössische) Autoren für die Bühnen interessant werden? Peter Michalzik fragt in seinem Beitrag danach, wie es dem zeitgenössischen Drama geht und befindet, dass das deutsche Drama tatsächlich keine Rolle mehr spiele, die »wesentlichen ästhetischen Impulse im Theater der letzten Jahre nicht vom Text ausgegangen« seien und dass das »Drama und Theater schon länger nicht mehr durch eine Beziehung des Belebens, der Bebilderung sowie der Umsetzung« definiert würden. Liegt die Zukunft des Dramas im Zusammenhang der darstellenden und performativen Künste darin, so Michalzik, so etwas wie die kleine E-Musik-Nische in einer großen weiten Welt des Pop zu werden? Am Beispiel der großformatige Stücke schreibenden »reinen« Dramatiker Moritz Rinke, Marius von Mayenburg, Roland Schimmelpfennig und Lukas Bärfuss diagnostiziert Michalzik einen Drang, so zu schreiben, »wie auch außerhalb eines Theaters gesprochen werden könnte« und befragt die Autoren danach, wie sie die Wirklichkeit, die sich nicht in eine Erzählung einbinden lässt, einfangen bzw. sichtbar machen. Dabei entwickelt er die These, dass es den Autoren in ihren »traditionellen neuen« Dramen primär darum geht, die »Oberflächen« zu schließen und darunter spezifische Schichten anzulegen. Kerstin Hausbei, die Roland Schimmelpfennigs Drama Vorher/Nachher speziell auf ästhetische Verfahren der Collage und des Zappings befragt – hier wird auch der Unterschied zu der von Christopher Balme behandelten Dramaturgie des Samplings deutlich –, erkennt im Zitieren von Formexperimenten des 19. und 20. Jahrhunderts – ähnlich wie Michalzik – traditionelle Züge im Text und stellt daraufhin die Hypothese auf, dass es sich um ein »Revival der Revueform« handeln könne. Gilt die Diagnose des traditionell gefärbten ästhetischen Bodensatzes auch für andere (post-)dramatische Schreibstrategien? »Kann man Schreiben lernen?« und »was speziell ist vermittelbar an Fähigkeiten des Schreibens für die Bühne?«, fragt Jürgen Hofmann. Der Leiter des Studiengangs Szenisches Schreiben der Universität der Künste Berlin ergreift unbedingt Partei für die Bedeutung der Tradition des Dramatischen, wendet sich programmatisch gegen die postdramatische Absage an Figuren, Dialoge und Handlungen und nimmt damit eine (streitbare) Position ein, die in anderen Beiträgen wiederholt hinterfragt wird. Die Hauptprobleme junger Dramatiker liegen für Hofmann vor allem darin, »Menschen gestalten zu können« als auch in der Tatsache, dass die AutorenInnen die Alltagssprache fast bedenkenlos in das poetische Schreiben übernehmen und meint damit wohl eine Tendenz, die auch Feridun Zaimoglu 20

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als Jurymitglied des Berliner Stückemarktes 2007 zum Ausdruck brachte: »Die Figuren sind Behälter für Ideen, oder viel eher für Worte, und sie torkeln als Sprachtonnen durch eine grob gesetzte Handlung.«9 Dass dies nicht immer der Fall sein muss, zeigen die sieben, ästhetisch zum Teil sehr unterschiedlichen Stückauszüge. Auffällig ist – und das geht aus allen Beispielen hervor –, dass es die AutorenInnen des Studiengangs »Szenisches Schreiben« der Universität der Künste/Berlin keineswegs aufgegeben haben, Geschichten zu erzählen, ob im kleineren oder größeren Format, im intimen oder öffentlicheren Rahmen und sie den Figuren nach wie vor Dialoge zutrauen, die »authentisch« klingen, dabei aber gleichzeitig poetische Räume öffnen können. Die Texte streifen nicht am Leben vorbei, sondern dringen unterschiedlich tief in soziale, politische oder ökonomische Realitäten vor, die mit divergierenden Strategien – hier springen sowohl literarische/dramatische Vorbilder als auch filmische Abdrücke ins Auge – ästhetisch transformiert werden, wobei sich die Frage stellt, von welchem gesellschaftlichen Utopiepotential die AutorenInnen jeweils ausgehen. Zu fragen ist auch, was engagiertes Schreiben bedeuten und wie dieses heute überhaupt funktionieren kann, ohne dass die AutorenInnen dabei in die von Zaimoglu skizzierte Falle tappen: »Wer engagiert schreibt, kann auf dem Schaum, den er sich vom Maul abwischt und der zu Boden tropft, ausrutschen.«10 Dirk Laucke wählt in seinem dramatischen road-movie alter ford escort dunkelblau als Schauplatz einen Getränkehandel im heutigen Mansfelder Land und lässt die aus verschiedenen Gründen gescheiterten drei männlichen Protagonisten während ihrer Ausbruchversuche in eine größere, freiere Welt hart auf ihre Realitäten aufprallen. So endet z.B. der grotesk anmutende Ausflug in einen märchenhaften Legolandpark aufgrund einer Autopanne abrupt in einer post-müllerschen »landschaft mit argonauten«. Flüchten die zwischen zwanzig und vierzig Jahre alten Gestrandeten vor ihrer Vergangenheit, vor sich selbst, vor ihren kaputten Beziehungen oder/und vor der sozialen Misere? Die künstlichen Paradiese, wozu auch die idealisierte route 66 gehört, werden jedenfalls erst gar nicht erreicht – statt dessen ein rauer Gegenwind, in den Laucke immer wieder HardrockFetzen sampelt, die aus den fein temperierten dialogischen Beats strömen und Analogien auf Fritz Kater (sowie im Kontext des Roadmovie-Formats auf Ulrike Syha) zulassen. 9. Vgl. Feridun Zaimoglu: »Amoklauf ist das Gebot der Stunde. Gespräch mit Jurymitgliedern des Berliner Stückmarktes«, in: Theater der Zeit, 05/2007 10. Ebd.

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Nina Büttners Kirschen in Benzin kreist ebenfalls um eine Autopanne, die die Schräglage zweier um die vierzig Jahre alten Protagonisten schrittweise komisch-tragisch hervortreten lässt. Die zufällige Begegnung einer strauchelnden Frau und eines im Leben verunglückten Taxifahrers auf einer verlassenen Landstraße in einer Sylvesternacht wird jeweils zum Anlass der persönlichen Bilanz, der zu einer Annäherung führt, die für einen möglichen Befreiungsschlag steht. Am Ende des durch seinen Sprachwitz geprägten Stückes blitzt das neue Jahr durch das Morgengrauen, Zeit für ein erstes gemeinsames Frühstück. Elodie: »Die Sterne sind im Himmel verstreute Croutons, und die Sonne geht auf, wie ein blasses Spiegelei.« Anne Habermehls und Tina Müllers Protagonisten sind dagegen Mitte bis Ende zwanzig und suchen ebenso nach Lebensinhalt bzw. ringen mit brüchigen Beziehungs- oder Freundschaftsstrukturen. Alles still stellt die (Un-)Möglichkeit des Rückzugs politisch ermüdeter junger Menschen (»Die Revolte ist tot«) aus der Gesellschaft in eine zunehmend lähmende ländliche Idylle dar, in der auch die Ideale der Liebe sowie der Familiengründung tragisch zerbrechen. Tina Müller thematisiert in ihrer Dreiecksgeschichte, in der zusätzlich ein die abwesende Gesellschaft spiegelnder und kommentierender »Dandychor« auftritt, auf einer weiteren Ebene die Künstleridentität Pablos, der zwischen zwei Frauen, verschiedenen Lebensmodellen und Arbeits(markt)formen steht und am Ende die globale Weite sucht. Alex und Max aus Küss mich hinter Karstadt leben in einer »Pappschachtel« vor einem Supermarkt, unterliegen nicht den Arbeitsangeboten der »aufrichtig« um sie besorgten Filialleiterin und verkaufen Gespräche an einsame Kunden. Nachdem sich Alex in die Verkäuferin des Marktes verliebt und Max sich an einen Kunden verkauft hat, trennen sich ihre Wege. Schließlich werden Freundschaft und Liebe von einem hässlichen ökonomischen Schatten überzogen, der den Binnen(Markt)strukturen des Discounters folgt. In dem Stück, das mit einigen der aufgeworfenen Fragen (Entfremdung) an ein post-brechtsches »Dickicht« oder »Sezuan« erinnern mag, sprachlich aber noch ausbaufähig erscheint, liest Max einem Kunden eine kurze Notiz vor, die sich spiegelnd durch den ganzen Text zieht: »Alle Menschen um dich herum sehen nicht mehr aus wie Menschen und wenn du sie anschaust, wollen sie dich umbringen? Alle Menschen um dich herum sind in der Lage so etwas wie Glück zu erlangen, nur du nicht? Dir sind die Menschen fremd, du bist dir selbst fremd? Die Tiefkühlpizza lindert den Schmerz nicht mehr?« Nina Ender und Magdalena Grazewicz wählen für ihre dramatischen Texte den intimen Rahmen der Familie, deren langsame oder plötzliche Absterbensprozesse aus verschiedenen Perspektiven als Verlust- und Trau22

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ererfahrungen nuanciert erzählt werden. In still still meine kleine Tochter möchte eine junge Mutter mit ihrem pubertierenden Sohn den 17. Geburtstag ihrer totgeborenen Tochter Rosa feiern. Jan, der mit den Projektionsmechanismen seiner Mutter wenig anfangen kann, flüchtet sich stattdessen in eigene Projektionen und wartet auf seinen Vater, der sich vor einem Jahr das Leben genommen hat. Nina Ender gelingt es, die divergierenden Zeitebenen der erlebten und phantasierten Vergangenheit sowie der wahrgenommenen Gegenwart in den Perspektiven/Perspektivwechseln von Mutter und Sohn, die jeweils noch in fragmentarische Dialoge mit den Toten gestellt werden, kunstvoll miteinander als auch gegeneinander spielen zu lassen, wobei die Sprache leise aus den verletzten Seelenräumen nach außen strömt. Magdalena Grazewicz, die sich besonders für Gefühle und damit verbundenen Ver(w)irrungen interessiert, wählt dagegen den umgekehrten Weg und zieht den Leser – ähnlich wie Jon Fosse – sogartig in die Innenwelten der Familienmitglieder, die sich zusammenfinden, um gemeinsam um den verlorenen Sohn, Bruder und Geliebten – hier deutet sich bereits die Vielfalt der Perspektiven an – zu trauern. In Kastanien scheint sich die Sprache in sehr persönliche Innenräume zurückzuziehen, um dort geschützt (experimentell) zu handeln, wobei der Kontakt nach außen nicht ganz abbricht. Anders formuliert: Die versprachlichten Gedanken, die durch die scharfen Wahrnehmungsvorgänge der Beteiligten, die sich untereinander sehr genau beobachten, fast eine körperliche Dimension erlangen, rutschen bei Magdalena Grazewicz in und zwischen die Sprache(n), um sich dort in Bewegung zu setzen und subtile Sprachbilder zu erzeugen. Auffällig ist auch der Drang der Autorin zu längeren Monologpartien, die sich autonom darstellen aber auch untereinander geheimnisvoll (durch das Ungesagte/Unausgesprochene) in den Dialog kommen können. Dass die Sprache in ihren Gedankenabzweigungen und Gefühlsver(w)irrungen besondere Aufmerksamkeit erfährt und immer wieder von Krisen erschüttert wird, zeigt sich bereits in zwei sprachlichen Äußerungen »in« der Figur von Daniel. »Daniel: In meiner Familie geht das Sterben weiter, das Absterben der Worte, die Sätze stecken fest in brachem Boden und säen sich ein in das Leben unter der Haut. […]

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Ich kriege, es kommt, ich, aus meinem Mund da kommt kein Wort heraus. Da ist eine Sprache, wie die Zeit endlos In meinem Kopf tickt eine Armbanduhr.«

Juliane Kanns Stück Blutiges Heimat, hinterlässt nach der Lektüre – ähnlich wie Andres Veiels/Gesine Schmidts Der Kick – alptraumartige Bilder, die aus dem hermetisch abgeschlossenen Kosmos einer Dorfgemeinschaft, deren Erde blutdurchtränkt ist, nach außen strömen und nur schwer zu vergessen sind. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Figur von Willem, der einen Schweinemastbetrieb führt und das Dorf nach seinen Regeln regiert und (sexuell) terrorisiert. Eine Ausnahme bilden Eva, die Willem begehrt und ihre 14 jährige Tochter Katja, die wie alle anderen ungewollten Kinder eigentlich gleich nach ihrer Geburt unter der Erde hätte verschwinden sollen. Am Ende, – Katja wäre fast aus der Gewaltspirale ausgebrochen, was aber durch das Versagen ihres Freundes misslingt – tötet sie schließlich Willem, der seinerseits bereits eine Blutspur im Dorf hinterlassen hatte. Juliane Kann gelingt nicht nur das Kunststück den vielstimmigen Mikrokosmos des Dorfes mit seinen Abhängigkeitsverhältnissen subtil zu vergrößern, sondern auch, »eine Kunstsprache zu entwickeln, in der die Sätze fremd und zugleich archaisch einfach klingen« bzw. – wie es weiter treffend im Presseheft des Maxim Gorki Theaters heißt – dass der Eindruck entstehe, »als ob die Sprache eine Grenze um dieses Dorf zieht«. Ähnlich wie bei Veiel – jedoch auf einer rein fiktiven Ebene – geht es aber nicht um eine lokal verankerte Milieustudie, sondern um eine nicht zu verortende außer-zeitliche Geschichte, die deshalb dringend eines überall denkbaren Kunstraums bedarf, wie die Autorin in ihren Bühnenangaben vorschlägt. Gleichzeitig klingt in Kanns Vorstellungen eine wohl zukunftsweisende Bühnenraumkonzeption bzw. Aufführungsästhetik durch, die in der Theaterpraxis (Vgl. Rita Thieles Beitrag zu Johannes Schütz) zunehmend ihre Anwendung findet und die gewachsene performative Dimension von Raum, Zeit und Körpern zum Ausdruck bringt: »Bitte so wenig Auf- und Abgänge wie möglich. Ich möchte den Kunstraum als solchen ausnutzen. Dadurch, dass alle immer auf der Bühne sind, werden alle Aktionen von allen Figuren beobachtet […].« Suggeriert Hans-Thies Lehmanns offene Formel des postdramatischen Theaters einen nicht (mehr) dramatischen bzw. außerdramatischen Zu24

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stand, der gleichfalls die Theatertexte und die Aufführungspraxis betrifft, so geht von diesem Ansatz trotz seiner grundsätzlich hohen Bedeutung und seiner Flexibilität doch die Gefahr aus, das dramatische Material bereits terminologisch verabschiedet bzw. ausgelöscht zu haben, obwohl dessen komplexe Transformationsprozesse im reibungsvollen Spiel zwischen Tradition und Innovation gegenwärtig gerade einen wichtigen Schauplatz einnehmen. Die Aufmerksamkeit – ob in der Schreib- oder Aufführungspraxis – gilt vor allem Prozessen der Entdramatisierung sowie Formen der Re-Dramatisierung, wobei wiederholt deutlich wird – und dies zeigen u.a. auch die Beiträge von Peter Michalzik, Kerstin Hausbei oder Hilda Inderwildi und noch signifikanter die »jungen Schreibperspektiven« – dass dramatische Merkmale weiterhin präsent sind, sie sich dramatisch weiterentwickeln können bzw. Künstler während der Erzeugung von »Authentizität« die Notwendigkeit erkennen Fiktionspartikel zu integrieren (Veiel/ Kaegi) und sich damit auch dramatisch rückbesinnen, womit die dramatischen Transformationsvorgänge in den Vordergrund rücken und weniger deren ästhetisch schon festgelegtes Post-Stadium. Andererseits stellt sich auch die Frage, ob die theatrale Nutzung von Sprachmaterial als eine konsequente Loslösung vom Dramatischen zu verstehen ist oder ob hier nicht auch wieder – wenn auch nur in fragmentarischer Form – (teil-)dramatische Strategien aufgerufen werden. Es zeigt sich aber auch, dass das Modell der dramatischen Transformation(en) speziell im Falle von Mediatisierungsschüben (terminologisch) an seine Grenzen stoßen kann und daher durch bewegliche ästhetische Kategorien wie der medialen Transformation (Vgl. Jens Roselt) produktiv erweitert werden kann. Zentral für die Mehrzahl der in diesem Band verfolgten Ansätze ist einerseits, dass die sich dramatisch bewegenden und verformenden Texte mit einem ausgeprägten medialen Bewusstsein auf ihre Polyphonie und Zersplitterungsprozesse hin untersucht werden, dabei mehr Fragen aufgeworfen bzw. Tendenzen beschrieben als verbindliche Theorien geschmiedet werden. Andererseits führt die lustvolle Arbeit am Text zumeist zu einer auffälligen begrifflichen Ausdehnung desselben und nicht selten unmittelbar auf die Bühne, wodurch nicht nur die Bedeutung des Raums, der Zeit und des Publikums als Spielpartner erkannt wird, sondern auch grundsätzlich über die Bedeutung, Funktion und den Begriff von Theater, Inszenierung, Aufführung und Performativität nachgedacht wird. Dementsprechend lädt Gabriele Kleins Folgerung in ihrem Beitrag, dass die Performativität des theatralen Textes fundamental das Verhältnis von Autor und Regisseur, Literatur und Theater zugunsten des letzteren ändere, gleich dazu ein, den Blickwinkel von Theresia Birkenhauer einzunehmen, die vorschlägt, weniger vom Text in Richtung Theater(-auffüh25

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rung) zu blicken, sondern danach zu fragen, warum das Theater überhaupt Texte benötigt, um daraus Theoriebildungen zum Text und vor allem zur (künstlerischen) Sprache neu zu eröffnen. Der Band, der seinen Anfang mit einer Ende 2005 vom Herausgeber und Anne Monfort organisierten Tagung der Forschungsgruppe CR2A des Département d´Allemand der Universität Rouen nahm, um schließlich durch zahlreiche grenzenüberschreitenden Absprachen erheblich anzuwachsen und weiter zu kommunizieren, wäre ohne die Hilfe des CR2A, der Universität Rouen, des conseil scientifique/conseil régional, der deutsch-französichen Hochschule (UFA/DFH), des DAAD und ohne die umfangreiche Unterstützung der Forschungsgruppenleiterin Prof. Francoise Retif in dieser Form nicht möglich gewesen. Der Dank gilt neben Jürgen Hofmann aber auch den AutorenInnen der Universität der Künste Berlin sowie den Theaterverlagen, die dem Abdruck zustimmten, den Photographen Georg Soulek (Burgtheater Wien) und David Baltzer (Berlin), die ihre Bilder honorarfrei zur Verfügung stellten, den Erben Einar Schleefs für die Genehmigung des Abdruckes der Skizze sowie besonders Johannes Schütz, der sein privates Photoarchiv großzügig öffnete. Bedanken möchte ich mich ebenso bei Jörg Richard für dessen kritische Kommentare sowie bei Liliane und Fabienne für deren praktische Hilfe. Villeneuve Les Avignon, im Oktober 2007

Literatur Birkenhauer, Theresia: »Bild – Beschreibung. Das Auge der Sprache«, in: Ulrike Hass (Hg.), Heiner Müller. Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, Theater der Zeit Recherchen Nr. 29, Berlin 2005. Birkenhauer, Theresia: Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Cechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin 2005. Birkenhauer, Theresia: »Verrückte Relationen zwischen Szene und Sprache«, in: Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Theater der Zeit Recherchen Nr. 36, Berlin 2006. Gosch, Jürgen: Gespräch mit Nina Peters in: Theater der Zeit 05/2006 (S. 21-26). Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999.

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Stefan Tigges: Dramatische Transformationen. Zur Einführung

Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst Fortschritt Geschichte, Berlin 2006. Meyer, Petra Maria: Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf 2001. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext, München, 1997. Stegemann, Bernd: »Laudatio zum Mühlheimer Theaterpreis«, in: Theater heute 08/09/2007. Zaimoglu, Feridun: »Amoklauf ist das Gebot der Stunde. Gespräch mit Jurymitgliedern des Berliner Stückemarktes«, in: Theater der Zeit 05/ 2007.

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) T02_00 Bild.p 168349669144

Regie: Jürgen Gosch, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz (u.a. mit Markus John)

Abbildung 1: Roland Schimmelpfennig: Die Frau von früher (Schauspiel Köln 2006)

(Post-)Dramatische Standpunkte

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) vakat 030.p 168349669160

Peter Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama

Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss Peter Michalzik

Die Frage Wie geht’s dem Drama? scheint mir unsere Leitfrage zu sein. Ich will versuchen anhand einiger neuerer Stücke zur Beantwortung vor allem dieser einen Frage beizutragen. Man sollte zunächst, wenn man über die Situation des Dramas redet, betonen, dass das deutsche Drama tatsächlich keine Rolle mehr spielt. Es gibt kein neueres Stück, das in der deutschen Selbstwahrnehmung, in der öffentlichen Kommunikation, eine bedeutsame Stelle markiert hätte. Selbst die deutschen Großdramatiker Peter Handke und Botho Strauß haben in der jüngeren Vergangenheit die wichtigsten Reaktionen nicht durch Theaterstücke, sondern durch Aufsätze erreicht. Auch in der zeitungsinternen Kommunikation spielt das Drama, anders als etwa die Literatur oder die Bildende Kunst, eine vollkommen untergeordnete Rolle. Uraufführungen werden zwar besprochen, sie werden aber nicht mehr als bedeutsame Ereignisse wahrgenommen. Das ist nichts Neues für Sie, ich weiß, aber man neigt dazu, es immer wieder zu vergessen oder darüber hinwegzusehen. Auch das Theater selbst hat das Drama marginalisiert. Die feuilletonistischen Dauerstreitereien über Texttreue auf der einen und Selbstherrlichkeiten der Regisseure auf der anderen Seite gehen an der Sache vorbei. Denn Drama und Theater werden schon länger nicht mehr durch eine Beziehung des Belebens, der Bebilderung, der Umsetzung definiert. Der Regisseur ist nicht mehr selbstverständlich der erste Interpret eines Dramas. Die Theaterregie hat sich, ob zu Recht oder Unrecht, ob zu ihrem Vorteil oder Nachteil, als eigenständige künstlerische Tätigkeit etabliert; das Drama blieb dabei nicht vollkommen auf der Strecke, aber es steht nicht mehr im Zentrum des theatralen Agierens. Selbst ein stark mit dem und am Text arbeitender Regisseur wie Stephan Kimmig verändert bei Uraufführungen 31

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(Post-)Dramatische Standpunkte

kräftig, wie jüngst bei Cafe Umberto, dem neuen Stück von Moritz Rinke. Man muss also das so genannte postdramatische Theater nicht emphatisch verteidigen, man kommt aber nicht daran vorbei, dass die wesentlichen ästhetischen Impulse im Theater der letzten Jahre nicht vom Text ausgegangen sind. Wie hat das Drama auf seine – wie ich glaube unbestreitbare – Marginalisierung reagiert? Die Reaktion des Dramas auf die Übermacht der Regie war meines Erachtens zunächst eine Art Spezialisierung. Längere Zeit haben sich jüngere Dramatiker so etwas wie eine sprachliche, tonale oder milieuhafte Nische gesucht, oder sie haben Regiestile bedient. Sie haben getan, womit die letzten Textheroen in den 70er und 80er Jahren begonnen haben, sie haben sich ihre Regisseure gesucht und sie haben sie immer noch. Man konnte sich so immerhin eine Art Markenzeichen aufbauen, man bekam etwas Eigenartiges, Unverwechselbares, man konnte wenigstens auf dem subventionierten Theatermarkt eine Stelle besetzen. Zurzeit besetzen René Pollesch und Armin Petras die avanciertesten Positionen, was diese Richtung angeht, sie inszenieren ihre eigenen Texte. Ich glaube aber, dass eine Analyse ihrer Texte zeigen würde, dass es sich hier nicht mehr um Dramen handelt, sondern Sprachmaterial, das von beiden theatral genutzt wird. Auf die Frage des Dramas geben sie meines Erachtens deswegen keine Antwort. Zugegebenermaßen ist das eine problematische Feststellung. Dann ist da, in Reaktion auf die Marginalisierung, auch etwas von einem Rückzug zu spüren, manchmal geht das bis ins Putzige, schon Stücke von Tankred Dorst – um den ersten Exponenten dieser Richtung zu nennen – haben diesen Hang. Man richtet sich in seinem Winkel ein. Blickt man auf die deutsche dramatische Produktion und vergleicht diese mit den konkurrierenden Genres, TV, Kino, Comedy, Kabarett, Oper, dann kommt man insgesamt schwer am Eindruck des Versponnenen, Rätselhaften und manchmal auch bewusst Marginalen im Drama vorbei. Das Drama ist im Zusammenhang der darstellenden oder performativen Künste dabei, so etwas wie die kleine E-Musik-Nische in einer großen weiten Welt des Pop zu werden. Seit einigen Jahren gibt es hier eine – tastende, sich nicht als solche darstellende oder gar auftrumpfende – Gegenbewegung, die sich allerdings auch nicht auf den Winkel beschränkt. Man könnte andere Autoren nehmen, als die von mir genannten Moritz Rinke, Marius von Mayenburg, Roland Schimmelpfennig und Lukas Bärfuss. Diese vier Autoren haben direkt auch nichts oder wenig miteinander zu tun, sie vertreten andere Positionen

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und Schreibweisen, aber ich glaube, es gibt hier doch einen Zusammenhang, der sich, wenn man auf das Drama insgesamt schaut, aufdrängt. Alle vier wollen Szenen schreiben, die auch außerhalb eines Theaters gesprochen werden könnten. Man könnte sie deshalb als Exponenten – sie sind nicht die einzigen – eines neuen Realismus begreifen. Nun Realismus – das ist seit langem einerseits ein magisches Wort, es verheißt Kraft, weil es um »die Wirklichkeit«, um »Gegenwart«, »das Leben« geht, andererseits ist es eine gedankenlos verwendete, Bedeutung suggerierende Worthülse, die gebraucht wird, als wüsste man, was darunter zu verstehen ist. Trotzdem will ich jetzt nicht in die vielen Realismusdiskussionen und Begriffsdefinitionen einsteigen. Und vergesse das Wort von den Exponenten des Realismus gleich wieder. Was mir als Gemeinsamkeit zwischen den Autoren zunächst noch wichtiger erscheint: Alle vier sind echte Dramatiker, keine Gelegenheitsdramatiker, wie fast alle Schriftsteller, die heute Dramen schreiben, auch bei Handke, Strauß und Jelinek, den berühmtesten lebenden deutschsprachigen Theaterschriftstellern, kann man nicht von reinen Dramatikern sprechen. Aus dieser Entscheidung für eine Gattung – man sollte davon ausgehen, dass alle das Zeug hätten, auch anderes zu schreiben – erscheint mir ein neues Selbstbewusstsein zu sprechen. Sie wollen offenbar Dramatiker sein. Mit diesen ersten beiden Punkten, Realismus und reine Dramatik, hängt der dritte zusammen: Alle vier schreiben großformatige Stücke, keine Experimente für die Werkstattbühne, sondern aufs Ganze zielende Weltentwürfe, Breitwandtheater sozusagen. Es ist bei allen vieren ein Bemühen um Wirklichkeit, Zeitgenossenschaft, Bedeutsamkeit und Allgemeingültigkeit zu spüren. So schlecht scheint es also um das Selbstbewusstsein des Dramas nicht bestellt. Ich werde nun versuchen, zentrale Strategien der vier Autoren in den Blick zu bekommen, um dann auf die Eingangsfrage, wie geht’s dem Drama, eine Antwort zu finden. Ich möchte mit Moritz Rinke und einer etwas ketzerischen Frage beginnen. Warum erscheint Moritz Rinke von den vier genannten Autoren, wie ich glaube, als der schwächste? Ich nehme mir dazu sein vielleicht stärkstes Stück vor, Republik Vineta, 2001 zum Stück des Jahres gewählt. Republik Vineta erzählt von einer abgeschieden in den neuen Bundesländern stattfindenden Planungskonferenz, die auf einer unbewohnten Insel die Republik Vineta errichten will, ein neues Menschheitsparadies. Mit Beginn des Stücks erscheint ein neuer Mitarbeiter, man streitet sich über Post- und Gegenmoderne, und es beginnt ein böses Intrigenspiel um

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Macht und Verrat. Rinke auf der Höhe seiner Kunst: Gegenwartsströmungen pointiert liebevoll auf die Schippe nehmen. Am Ende kommt dann eine überraschende Wendung: Alles war nur Fake, der vermeintliche Projektleiter ist ein Arzt, outgesourcte Manager sollen mit psychodramatischen Tricks auf den harten Aufprall mit der Realität vorbereitet werden. Ein typischer Theatertrick also, das Leben eine Bühne, die Welt ein Traum, in diesem Fall so ähnlich wie bei Dürrenmatts Physikern. Aber auch Urs Widmers Dauerbrenner Top Dogs, wo die Szene zwar nicht als Anstalt aber als Beschäftigungstherapie für arbeitslose Führungskräfte entlarvt wird, bedient sich eines verwandten Kniffs. Eine Schwäche von Rinkes Dramen ist, dass sie durch Wiedergabe ihres Inhalts weitgehend zu erfassen sind. Das Personal, das zu einem solchen Plot passen könnte, erscheint quasi von selbst vor dem geistigen Auge. Wir wissen, dass Moritz Rinke ein sehr witziger, geistreicher Autor sein kann, der auf diesem Gebiet vielleicht gewandteste, den es zurzeit gibt. Auch die Dialoge von Republik Vineta verraten diesen Witz, trotzdem stellt sich die Frage: Warum zünden Rinkes Pointen in seinen Essays und Reportagen besser als in seinen Stücken, wo sie immer ein ganz klein wenig abgestanden und ein ganz klein wenig künstlich wirken? Ich glaube, die Antwort ist einfach: Die Pointen sind die gleichen, aber es sind – wie in der Republik Vineta – die alten Pointen des Theaters, die Rinke verwendet, und die er auf die Essays übertragen hat, wo sie deswegen frisch und ungewohnt wirken. Was in diesen Pointen zum Ausdruck kommt und den Witz ausmacht, den Rinke oft mit einem einzigen Satz herstellen kann, ist das Wissen, dass man die Dinge immer von einer anderen Seite sehen kann und dass sie dann ganz anders aussehen. Es sind immer wieder Variationen des einen großen Theatergedankens, dass die Welt eine Bühne ist. Deswegen unterliegen seine Dramen einer vergleichsweise schlichten Wirklichkeitsdialektik: Indem sie die Wirklichkeit immer wieder in Gänze aufheben, wie in Republik Vineta, bestätigen sie sie auch gleichzeitig in Gänze. Die Kippfigur, die die Wirklichkeit in Gänze aufhebt, etabliert ja sofort eine andere Wirklichkeit als die verbindliche. Das gibt diesen Dramen etwas Schlichtes, sie haben etwas von einem Zaubertrick, den man entweder durchschaut oder nicht. Der Wirklichkeitsbegriff oder vielleicht besser die Wirklichkeitsvorstellung, die aus den Dramen von Marius von Mayenburg spricht, ist dagegen in sich gebrochener. Obwohl dramaturgisch gar nicht so weit von Rinkes Traditionalismus entfernt, zeichnet sich in ihnen doch viel deutlicher das ab, was sich als »zersplitterndes Drama« bezeichnen lässt. Zunächst erzählt Mayenburg in seinen Dramen immer die gleiche Ge34

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schichte, es ist die vom verratenen, zerstörten, verkauften, getöteten Kind. Eldorado war ein merkwürdiger Zwitter. Das Stück erzählt die Geschichte einer Aufsteigerehe, es kann sich dabei aber offensichtlich nicht für das Genre entscheiden, in dem es ablaufen möchte. Es trägt Züge der Komödie, der Tragödie, der Gesellschaftssatire, der Farce, des Märchens. Außerdem kann man in dem Stück unzählige Vorbilder von Ibsen über Ionesco bis Rinke finden. Natürlich bekommt das Stück dadurch etwas höchst Epigonales. Trotzdem ist das nicht alles. Gleichzeitig scheint Mayenburg die Vorlagen als Schichten zu begreifen, die er in seinem Stück aufeinander ablagert, von Sampling will ich nicht reden. Denn interessant ist dabei, dass Mayenburg versucht, aus den verschiedensten Genres und Vorlagen ein Stück aus einem Guss zu machen. Das ist in diesem Fall nicht geglückt, deshalb der vorherrschende Eindruck des Epigonalen, trotzdem sollte man nicht übersehen, welches Bemühen dahinter steht. Mayenburg baut an einem Drama, das sich zu einer Einheit fügt, in dem aber trotzdem vielfältige Bedeutungsebenen aufgehoben sind, Schichten, die man wahrnehmen kann oder nicht, die man zum Verständnis der Oberfläche aber nicht braucht, Schichten, die das Stück bereichern, die es aber nicht konstituieren. Tradition, die gleichzeitig anwesend ist und verschwindet. Turista, das vorletzte Stück Mayenburgs, ist ein zweihundert Seiten starkes, noch viel offensichtlicher durch mehrere Schichten und Nationalitäten bzw. Sprachen reichendes Stück, es eröffnet ein europaweites Panorama. Auf der Oberfläche funktioniert Turista weitaus besser als Eldorado. Da ist das Drama eine Art soziale Skulptur geworden, Mayenburg zeigt auf einem Campingplatz einen ziemlich abstoßenden Menschenpark mittelwesteuropäischer Durchschnittsindividuen. In der Konstruktion ist das Stück offener als Eldorado. Sechsmal erzählt Mayenburg die gleiche Geschichte, sechs Mal wird das gleiche Kind umgebracht, tot im Wasser gefunden aber jedes Mal scheint es auf andere Weise zu Tode gekommen oder umgebracht worden zu sein. War es ein Pädophiler? War es der eigene Vater? Waren es andere Kinder beim Indianerspielen, waren es einheimische Jäger, waren es Psychatriepatienten? Alle Varianten scheinen möglich. Jeder könnte es gewesen sein, sagt der Aufbau des Dramas, gleichzeitig sagt er aber auch: Wirklichkeit hat viele Gesichter, Wirklichkeit ist nicht nur konstruiert, sondern sie hat tatsächlich verschiedene Erscheinungsweisen, sie ist nicht in einer Erzählung – und mag sie noch so komplex, noch so vielschichtig sein – einzufangen. Turista widerspricht sozusagen der Krimiwirklichkeit fundamental, die das weit verbreitete Verständnis von Realismus auf den Punkt bringt, das gerade darin besteht, dass der eine wirkliche Mörder wirklich gefunden werden kann. Man könnte dem Stück trotzdem den gleichen Vorwurf machen wie Eldorado: Mayenburg macht – bewusst oder unbewusst – alle möglichen 35

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Anleihen. Das Stück weitet sich genremäßig in viele Richtungen, vom Märchen über das Volksstück zum Psychodrama. Aber – wieder bewusst oder unbewusst – dieser Anspielungsreichtum wird hier ebenfalls als eine Methode sichtbar, er gehört zum Konzept genauso wie das nationale Panorama, das hier geöffnet wird. »Die Ebene von Waterloo hinter dem Teutoburger Wald an der Marne« ist die Ortsangabe, wo einfach »ein Campingplatz« hätte stehen können, es ist also der Horizont europäischer, kriegerischer Geschichte, der geöffnet werden soll, die Ortsangabe zeigt, wo die Reise hingehen soll. Mayenburg reißt in mehrfacher Hinsicht einen riesigen Raum, sozial, national, geographisch, sprachlich, vom Genre her, auf und so ist es nur konsequent, wenn auch auf der handlungs- und psychologischen Ebene dem Stück ein doppelter Boden eingezogen und ihm ein offener Horizont gegeben wird. Dass er sich dabei auch hier nicht damit zufrieden gibt, Wirklichkeitsfragmente, Splitter nebeneinander zu stellen, das Verschiedene nicht schlicht nebeneinander stehen lassen, sondern durch die Endlosschleife der Wiederholung in eine strenge Form gießen möchte, dass er ihm etwas Zwingendes gibt, scheint mir ein Indiz für das Bemühen, den Dramen eine geschlossene Oberfläche zu geben, eine stringente Form, klare einfache Strukturen über komplexe Verhältnisse zu schaffen. Um diese Tendenz vor allem geht es mir. Damit korrespondiert die Sprache des Stücks. Der Prolog scheint mir in seiner Mischung aus Alltäglichkeit und Bedeutsamkeit in diesem Zusammenhang typisch. Das Drama beginnt so: »Sonja: Wo sind wir Hermann: Ist das – Sonja: Kannst Du was erkennen? Hermann: Irgendwo muss – Sonja: Seh nichts. Hermann: Das Schild hat – Sonja: Vor einer halben Stunde müsste längst – Hermann: Fünf Kilometer in der Beschreibung – Zwei Personen nachts im Auto, auf Urlaubsreise und sie haben sich verfahren. Eine Situation, die sich Jahr für Jahr millionenfach wiederholt, so oder ähnlich sprachlich begleitet, ein Dialog ganz an der Oberfläche. Gleichzeitig ist die Orientierungslosigkeit der Ausgangspunkt der besonderen dramatischen Konstruktion, wo, bitte, geht’s zur Wirklichkeit? Diese Konstruktion verweist ins Unendliche. *** Die Frau: Die Glühbirne ist kaputt.

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Der Mann: Hm? Die Frau: Die Deckenlampe, die Lampe an der Decke, die geht nicht. Der Mann: Ach ja? Zeig mal. Die Frau: Was heißt den ›Zeig mal‹. Der Mann: schraubt die Glühbirne aus der Fassung, schüttelt sie. Der Mann: Tatsächlich Die Frau: Ach was.«

Der Mann und die Frau könnten Hermann und Sonja aus Turista sein, nachdem sie ihren Bestimmungsort gefunden haben oder sich ein Hotelzimmer für die eine Nacht genommen haben, weil sie nicht mehr weiter kommen. Mann und Frau stammen aber aus Roland Schimmelpfennigs Drama Vorher/Nachher. Wieder die Alltäglichkeit des Dialogs, Sätze die schon hunderte Male gesagt wurde, Situationen, die jeder erlebt hat. Gleichzeitig scheint ein metaphysischer Raum, eine Sphäre, in der sich die Frage der Sichtbarkeit der Welt ganz grundsätzlich stellt, zwischen oder in – auch eine interessante Frage – diesen Zeilen auf. Roland Schimmelpfennig ist im vorliegenden Kontext der Autor, der in seinen Stücken die größte Komplexität sichtbar werden lässt. Schimmelpfennig ist alles andere als ein Realist oder ein Rationalist. Im Gegenteil, man könnte in ihm den Poeten unter den heutigen Dramatikern sehen. Kennzeichen der Poeten ist das Übergewicht an Metaphorik über das Spiel, der Aufbau der Stücke erinnert mehr an Musik als dass er mit Gesetzen der Narration zu tun hätte, das Auftreten von Engeln und Teufeln und andere Übernatürlichkeiten bereiten nur geringe Schwierigkeiten. Und doch bereitet es Schimmelpfennig seit Die Arabische Nacht, uraufgeführt 2001, ebenfalls keine Schwierigkeiten mehr, die Poesie in eine geschlossene Handlung zu integrieren. Ohne dass er seinen poetischen Weltzugang aufgeben würde. Die Poesie ist hier eingebunden in die größte aller Illusionen, die gemeinhin Realität genannt wird, das Metaphorische und das Reale sind sorgfältig austariert. Auch Schimmelpfennig, der Poet, arbeitet also an geschlossenen Oberflächen. Sie sehen, ich halte die geschlossene Oberfläche für ein wesentliches Merkmal neuerer dramatischer Produktion. Und ich halte sie für das Kernmerkmal dessen, was gemeinhin als Realismus erachtet wird. Dabei ergibt sich ein meines Erachtens merkwürdiger Effekt. Diese Stücke sind Gegenwart nicht durch Details, nicht durch Realitätspartikel, auch wenn sie die reichlich, sogar überreichlich, haben, sondern durch ihre Komplexität, durch die Verknüpfung, die einen Kosmos aufmacht, der größer als die reale Welt wirkt. Schimmelpfennig nimmt auf dem Weg, den Mayenburg mit Turista beschreitet, eine ganz andere Abzweigung.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Man muss sich daraufhin nur Vorher/Nachher oder Für eine bessere Welt ansehen. Im letztgenannten Stück ist der Krieg abgründiger, ferner, wüster, phantastischer, mit einem Wort mythischer als die Kriege, die sonst heute im Theater oder Kino entfesselt werden. Gleichzeitig ist er mit einer Unzahl an Alltagserscheinungen verwoben, die ebenfalls eine mythische Dimension bekommen, angefangen mit dem Getränk auf Espressobasis (man spürt welche Freude Schimmelpfennig an solchen Dingen hat), für das eine Frau mit einer Dose zwischen ihren Brüsten wirbt. So gelingt es Schimmelpfennig seit einiger Zeit mehr Wirklichkeit einzufangen, als mancher Naturalist oder Aufklärer sich träumen lässt. Zwar bekommt die Wirklichkeit bei ihm etwas Schmetterlingshaftes, aber sie ist doch da, spürbar, sichtbar, hörbar, vor allem aber fühlbar und ahnbar auf der Bühne. Was in Die Arabische Nacht zwischen Wohnblocktristesse und Tausendundeiner Schwärmerei an jenen Schattenfiguren, die bis vor kurzem zwischen Orient und Okzident hin und her wanderten, dingfest gemacht wurde, übersteigt die Möglichkeiten der Sozialkritik bei weitem. Es ist keine realistische Oberfläche, es ist ein gegenwärtiger Raum, den Schimmelpfennig eröffnet, Gegenwart ist dabei nicht das, was alle kennen, sondern das, was allen ein Rätsel ist. Eines der zentralen Themen Schimmelpfennigs ist die Sichtbarkeit, wie es schon in dem kleinen Glühbirnendialog anklang, etwa in Vorher/ Nachher, das das bisher komplexeste Stück des Autors ist. Das Stück versammelt Fragmente, die in einer kaum aufzulösenden Weise zusammenhängen, würde man es grafisch darstellen wollen, hätte man mit Sicherheit mindestens eines der unübersichtlichen Gebilde, wie sie Joseph Beuys einst gezeichnet hat: Eine Frau erschrickt über sich im Spiegel. Zwei Handwerker tauschen eine Glühbirne aus. Ein Mann betrachtet die Glühbirne als Wunderwerk. Zwei Tänzer schweigen am Ende einer Tournee im Hotelzimmer. Ein Mann verschwindet in einem Bild, das an einer Hotelwand hängt. Und ein Jäger verschwindet in einem gigantischen Organismus, der die Welt bedroht. Der Organismus verschwindet in sich selbst. Um die vierzig Personen treffen in Vorher/Nachher aufeinander, werden kurz sichtbar, verschwinden, tauchen in fünfzig und einer Szene wieder auf. Sichtbarkeit ist bei Schimmelpfennig ein ebenso klares wie kompliziertes, einfaches wie vertracktes Phänomen. Hier müsste meines Erachtens eine grundsätzliche Neuformulierung des Realismusproblems beginnen, auf einer Oberfläche, die sich selbst verschlucken kann, in der Diskussion zwischen Fläche und Raum. »Möglicherweise«, sagt Schimmelpfennig höchst vorsichtig, »sagen meine Stücke etwas über das Klima der Umstände, in denen wir gerade leben.« Realismus ist hier ein höchst komplexes, flüchtiges Ding geworden, das Fragment geht in einem größeren Zusammenhang auf, den das 38

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Theater aus sich selbst entwirft. Es gibt kein anderes Medium, in dem eine Vorher/Nachher vergleichbare Welt entworfen werden könnte. *** Lukas Bärfuss treibt das Drama nicht in dieser Richtung aber in einer anderen weiter, die ich für genauso bedeutsam halte. Sein Stück Der Bus. Das Zeug einer Heiligen, wie Rinkes Republik Vineta zum Stück des Jahres gewählt und mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet, lebt von der Diskrepanz zwischen der Banalität der Ereignisse und der Suche nach Gott, zwischen Kommerz, durch Massen verdreckten Plätzen wie in Köln nach dem Papstbesuch, und den Überzeugungen des Einzelnen, dem Glauben, der von einer anderen Person nicht in Frage gestellt werden kann. Es lebt zwischen Betrug und Erleuchtung. In dieser Spannung verhandelt Bärfuss den Komplex des Religiösen und man hat – was selten vorkommt – dabei den Eindruck, dass er den Punkt trifft. Mich interessiert aber etwas anderes an dem Drama als die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Religiosität. In den ersten Szenen zwischen Erika und Hermann – nein die Frau heißt nicht Sonja, und dass der Mann wieder Hermann heißt, ist ein Zufall, wenn auch vielleicht kein zufälliger, denn der Name ist so alltäglich wie metaphorisch für »das Männliche« zu verstehen – entwickelt Bärfuss eine raffinierte Dialogtechnik, der ich kurz nachgehen möchte. Sie sind ausgestiegen, es ist nachts, sie stehen neben der Straße, um sie herum Wald. Erika hat geschlafen und stellt jetzt fest, dass sie im falschen Bus sitzt, sie will auf höheres Geheiß hin eine Pilgerreise zur Heiligen Madonna von Tschenstochau machen, Herrmann sieht in ihr die schlichte Schwarzfahrerin. So treffen zwei Interessenlagen aufeinander, die bereits die eingangs angesprochene Spannung zwischen Banalität und Religiosität markieren. Damit beginnt das Stück. Über die ersten dreizehn Seiten scheint sich der Dialog zwischen Erika und Hermann kontinuierlich zu entwickeln, dann kommen für die nächsten 22 Seiten zeitweise aus dem Bus aussteigende weitere Personen hinzu, die aber bis auf Karl, den Erika von früher her zu kennen scheint, eher Staffage bleiben. Im Kern handelt es sich um ein klassisches Zweipersonenstück mit stringenter Dialogführung, so sieht es aus. Und so ist es bisher auch inszeniert worden. Tatsächlich setzt sich dieser erste lange Akt aus 40 kleinen Szenen zusammen, die zwar in einem chronologischen und logischen Zusammenhang stehen, die aber auch nicht ganz zusammenpassen, die nicht notwendig aufeinander folgen. Nachdem die erste Szene mit Hermanns vorwurfsvoller Feststellung endete, dass sie sich offensichtlich in einem Wald 39

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befinden, beginnt die zweite mit Erikas Frage, ob es die vergangenen acht Stunden wenigstens Richtung Tschenstochau ging. Diese Frage könnte direkt anschließen, es könnten aber auch viele andere Sätze dazwischen liegen. Die zweite Szene hat Hermanns erste Vorwürfe zum Inhalt: Er hält Erika für einen blinden Passagier und eine Drogendealerin, nicht Opfer sondern Täter. Hermann zum Schluss: »Pech gehabt, Mädchen. Das hier ist keine Polenfahrt. Wir fahren in die Berge. Hier gibt es keine Drogen.« Hermann: »Aber ich bin nicht so.//Erika: Wie.//Hermann: Ich bin nicht schlecht.« So beginnt die nächste Szene. Das passt schon weniger zum Ende der vorhergehenden. Hermann, bisher eine in ihrer Skepsis und ihrem Vorwurf absolut nachvollziehbare Figur, wird hier das erste Mal als das unberechenbare Monster sichtbar, das er später – zeitweise sein wird. »Bin ich schlecht. Vielleicht, vielleicht bin ich schlecht.« In der nächsten Szene geht es um eine Frau, die Hermann gekannt hat und die ihn »abgezogen« hat, wie er sagt, er meint wohl abgezockt. Dann folgt eine Szene, in der er andeutet, Erika nach Tschenstochau bringen zu wollen. Der Zuschauer oder Leser erlebt bereits hier eine ziemliche Verunsicherung. Bärfuss erreicht das, indem Szenen, die jeweils ein unterschiedliches Fenster öffnen, die sich zum Teil widersprechen, ähnlich wie bei Mayenburgs Turista, in einen Zusammenhang gebracht werden, der sie als Bilder einer Wirklichkeit erscheinen lässt, diesen als kohärente Oberfläche erscheinen lassen. Er lässt das Kohärenzbedürfnis des Zuschauers den Zusammenhang herstellen, der nicht da ist, und der, zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Vertrauen und Misstrauen, das Unheimliche schafft, das hier eine ganz neue Dimension der Frage nach dem Religiösen öffnet. Die Perspektive, aus der das Verhältnis Hermann-Erika gesehen wird, ändert sich ständig, damit ändert sich auch die Beurteilung religiöser Fragen. Man könnte, was in der Theaterwissenschaft »Sympathielenkung« heißt, auf diese Schreibweise anwenden und von »Wirklichkeitslenkung« sprechen. Bärfuss arbeitet mit den Elementen des offenen, zersplitterten Dramas, er setzt die Splitter gleichzeitig aber so geschickt aneinander, dass sie mindestens zeitweise wie eine unzerbrochene Scheibe oder ein unzerbrochener Krug wirken. Hier ist am deutlichsten eine Bewegung der Schließung zu beobachten, er drängt zu einer geschlossenen zusammenhängenden Dramenwelt, die Moritz Rinke ohne den Preis der Öffnung erreichen zu können glaubt, die auch bei Mayenburg in der Wiederholung festzustellen ist, zu der Schimmelpfennig ein spielerisches Verhältnis hat, er spielt mit dem Wechsel von Offen- und Geschlossenheit, und die bei Bärfuss zum 40

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ersten Mal zu irritierenden kaleidoskopartigen Effekten führt, weil er beide engführt. Vielleicht lässt sich diese Schließung sinnvollerweise mit Derrida als »clôture« ins Französische übersetzen. Mit Sicherheit gibt es eine fundamentale Verwandtschaft zwischen Bärfuss und Derrida in der Aufgabe eines Orientierungspunktes, man könnte es dramatische Dekonstruktion nennen, was Bärfuss macht. Traditionelle Sichtweisen kommen vor, aber sie sind entwertet in Hinsicht auf ihre Verbindlichkeit, sie sind Material einer eigenen Bewegung geworden, die ihren Standort selbst bestimmt, Teil eines Spiels, das seine Grundlagen miteinbezieht. Derrida verwirft in seinem alten Aufsatz Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen die Möglichkeit einer mythographischen Totalität. Können Mythen eine vollständige Wirklichkeit herstellen? Er schließt das aus. »Es gibt zu Vieles und immer mehr, als man zu sagen vermag«, sagt Derrida einerseits. Aber darauf kommt es ihm nicht an. Andererseits, sagt er weiter, schließe die Sprache selbst die Totalität aus: Es ist, wie wir wissen, eine Sprache, die er als Spiel begreift. »Dieses Feld«, sagt er und meint damit die Sprache, »ist in der Tat das eines Spiels, das heißt unendlicher Substitutionen in der Abgeschlossenheit«, er verwendet hier das Wort clôture, »eines begrenzten Ganzen.« Eines wird durchs andere ersetzt, diese Bewegung machen die Bärfusschen Szenen, theatrale Syntagmen, vor. Gleichzeitig arbeiten sie an der Abgeschlossenheit, die den Wirklichkeitseffekt hervorruft. Schwebende, spielerische Abgeschlossenheit dramatischer Sprache scheint mir bei Bärfuss augenblicklich am deutlichsten erreicht, aber auch andere Dramatiker streben in diese Richtung. Davon hängt, da hier die Regeln des Spiels deutlich zutage treten, da sie sich selbst thematisieren, da sie zum Einsatz gehören, deutlich ein gesteigertes Vergnügen an dramatischen Gegenständen ab. Was hier, bei dieser Bewegung, am Ende steht, ist nicht graue Theorie, sondern eine Wiedergewinnung des Spiels. Bekommt der Autor es hin, die Splitter zu einem überzeugenden Ganzen zusammenzubringen? Es sah in den vergangenen Jahren so aus, als würde dem Theater Schritt für Schritt die Wirklichkeit abhanden kommen, wie mir auf einen Schlag mein Vortrag und mein Computer, als würde ihm die Wirklichkeit von anderen Medien gestohlen. Medien verhalten sich, wir wissen es, vampiristisch. Das Theater schien das Opfer. Theater wirkte und wirkt oft nur noch wie ein Kommentar zu anderen Medien, die Wirklichkeit konstituieren. Indem das Theater sich eigenen Spielregeln anvertraut, diese Spielregeln als Einsatz gibt, kann es, so glaube ich, Autonomie, Wirklichkeit und Bedeutung zurückgewinnen. Dann wird auch sofort seine besondere Qualität sichtbar, die in den 41

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vergangenen Jahren, als die Splitterwelt des Dramas etwas furchtbar Randständiges hatte, wie eine Schwäche erschien: Tatsächlich ist das Theater das einzige Medium, neben dem Roman, das die Wirklichkeit in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit darzustellen und zu fassen vermag. Das Theater kann die Realität auf verschiedenen Ebenen auftreten lassen. Aber es kann offenbar nicht dabei stehen bleiben. Zum Abschluss nun Szene sechs aus Bärfuss’ Bus: Erika und Hermann haben über die Schwarze Madonna von Tschenstochau geredet, darüber ob es sich – wegen des Namens – um eine Negermadonna handelt, dass sie eine geschnitzte Holzfigur ist. Hermann schnitzt eine Figur, schmückt sie mit Erikas Haaren, fragt, wem sie ähnlich sieht, die verängstigte Erika weicht aus, er sagt, dass das doch offensichtlich sei, dass sie ihm ähnlich sehe: »Das ist Hermann.« Mit verstellter Stimme sagt er »Guten Tag Erika.« Sie schweigt, er redet weiter mit verstellter Stimme, dass der liebste Hermann ihr helfen werde. Sie antwortet: »Freut mich.« Damit endet Szene fünf, es folgt Szene sechs. »Hermann: Spinnst du. Warum antwortest du einem Stück Holz. Erika: Ich dachte. Hermann: Gibt das Mädchen einem toten Ast Antwort. Bist du blöd. Erika: Ich spielte doch auch. Hermann: Erzähl mir nichts. Du hast geglaubt, der Ast sei lebendig. Erika: Bestimmt nicht. Hermann: Lüg nicht. Erika: Ich lüge nicht. Hermann: Ich habe es Dir gesagt. Wenn du mich belügst, werde ich ungemütlich. Ein anderer. Meine Stimme verändert sich, sie wird tiefer. Und ganz leise. Er spricht tief und leise. Warum belügst du mich, Erika. Erika: Ehrlich, ich lüge nicht. Hermann: Was habe ich Dir getan. Erika: Ruhig. Hermann: Lacht. Himmel, was bist du blöd. Das war nur gespielt. Ich weiß doch, dass du nicht gelogen hast. Habe ich doch gesagt. Hast Dir aus Angst beinah in die Hosen gemacht. Erika: Sie haben aber auch einen Humor.«

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Kerstin Hausbei: Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher

Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher: Zapping als Revival der Revueform? Kerstin Hausbei

Die von dem Herausgeber dieses Bandes aufgeworfenen Fragen, ob und wie zeitgenössische Dramaturgie auf veränderte gesellschaftliche Realitäten reagiert und ob und wie dabei postdramatisches Neuland beschritten wird oder doch nur alte Dramenmuster dem Zeitgeschmack angepasst werden, möchte ich anhand eines konkreten Beispiels nachgehen: es handelt sich um Roland Schimmelpfennigs Stück Vorher/Nachher, das 2001 als Auftragsarbeit im Rahmen der Frankfurter Positionen entstand. Das Stück, das derzeit – übrigens auch außerhalb des deutschen Sprachraums – große Bühnenerfolge feiert und auch fast unbearbeitet als Hörbuch kommerzialisiert wird – was in unserem Zusammenhang interessant ist –, gilt der Theaterpraxis und häufig auch der Presse als ein »Gesellschaftspanorama«, das sich durch seine Komplexität von den »WellMade-Plays« des »Vielschreibers« Schimmelpfennig abhebt. Bei aller bewussten und nur selten durchbrochenen thematischen und sprachlichen Banalität scheint es in der Tat recht radikal mit hergebrachten Dramenmustern aufzuräumen. Denn anders als in seinen übrigen Stücken, in denen der Autor sich meist klar auf freilich je verschiedene Formmodelle bezieht, zitiert er in Vorher/Nachher eine Vielzahl von Formexperimenten des 19. und 20. Jahrhunderts herbei – das geht von der fragmentarischen Woyzeck-Dramaturgie über das epische Theater und moderne Volksstück bis zum absurden Konversationsstück und der visuellen Dramaturgie –, scheinbar ohne sich letztlich zwischen diesen Modellen zu entscheiden. Die so erreichte Heterogenität von sich zum Teil widersprechenden formalen Tendenzen, der eine Heterogenität auf der Ebene der Themen und des Realitätsbezugs entspricht, auf die ich später wieder zurückkommen werde, wird jedoch dadurch abgeschwächt, dass der Autor durch die Verwendung einer Einheitssprache, die Einführung einer epischen Instanz 43

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und von Leitmotiven, sowie vor allem durch das Weiterspinnen von Handlungsfäden einen Kitt herstellt, der das Ganze dann doch wieder zusammenbindet. So ist Robin Detje letztlich Recht zu geben, der in einer Kritik der Hamburger Uraufführung unter der Regie Jürgen Goschs in der Zeit darauf hinwies, dass die offene Form hier hauptsächlich dazu dient, es dem Autor zu ermöglichen, »sich nicht zwischen dem Geschichtenerzählen und der Dekonstruktion von Geschichten zu entscheiden«1. Detje schließt daraus, dass »Modernität« über die »Struktur des Textes« nur simuliert werde. Denkbar wäre aber natürlich auch, dass Schimmelpfennig bewusst an hybride Formen innerhalb und außerhalb der Theatertradition anschließt oder diese mischt. Um dieser Frage nachzugehen, soll im Folgenden die Form des Stücks mit drei Modellen heterogener Fügung in Verbindung gebracht werden, die zwar aufgrund der Fragmentarisierungstendenzen, die ihnen innewohnen, keine »ganze« Geschichte in einer organisch sich entwickelten Handlung mehr erzählen, aber dennoch Geschichten und auch Handlung als Material verwerten: es handelt sich dabei erstens um die vom Fernsehen inspirierte aktuelle Zapping-Ästhetik, die seit längerem auch aus dem heimischen Wohnzimmer in die Kunst – z.B. ins Tanztheater – exportiert wurde, zweitens um die Revueform, wie sie im Rahmen der Kleinkunstbewegung am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wurde, und drittens um das schon erwähnte Woyzeck-Modell, wie es namentlich Volker Klotz in Geschlossene und offene Form im Drama2 analysiert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Modelle werden noch aufzuzeigen sein. Es soll zunächst genügen, dass sie in verschiedenem Grade den Einzelsequenzen Autonomie zusprechen: diese Autonomie ist am größten beim Zufallsprinzip des Zappings, weniger ausgeprägt in der Collage der Revueform und am geringsten in der Montage des Woyzeck-Modells. Was soll nun unter Zapping-Ästhetik gefasst werden und inwiefern entspricht das Stück diesem Modell? Es sei zunächst mit Hartmut Winkler, auf dessen Analyse des Zapping-Phänomens ich mich immer wieder beziehen werde3, daran erinnert, dass das Zuschauerverhalten, das man als 1. Robin Detje: »Bericht zur Lage der Theaterjugend. Uraufführungen in Berlin und Hamburg, dazu ein Kulturkampf in der Hansestadt: Darf man in der Krise auf der Bühne Kind bleiben?«, in Die Zeit, 51/2002. 2. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960. 3. Ich zitiere im Folgenden aus einer thesenartigen Kurzanalyse des Autors in Aufsatzform: Hartmut Winkler, Zapping. Ein Verfahren gegen den Kontext, wwwcs. uni-paderborn.de/~winkler/zapping.html, 21.03.2007. Vgl. für eine ausführliche Anlayse: Hartmut Winkler: Switching/Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallellaufendes Unterhaltungsprogramm, Häußer, 1991.

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Kerstin Hausbei: Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher

Zapping bezeichnet, die »Sinneinheiten, die das Fernsehen bietet, in eine Unzahl kürzerer bis sekunden [sic!] kurzer Sequenzen [zerfleddert]«4. Es geht also um das Zerstören von Kontinuität durch Fragmentarisierung und um die parataktische Reihung von Fragmenten aus voneinander zunächst unabhängigen Sinneinheiten. Eine Zapping-Dramaturgie, sofern sie nicht interaktiv vom Zuschauer beeinflussbar ist, was in Vorher/Nachher nicht der Fall ist, kann natürlich nur diese Wirkung des Zappings imitieren, nicht aber den Zuschauer zum Akteur machen. Zapping-Ästhetik heißt also in diesem eingeschränkten Sinne, dass der Autor das Produkt des Zappings abbildet und dadurch offensiv das Theater den Zuschauergewohnheiten und der Ästhetik des Medienalltags öffnet, wobei der Zweck einer solchen Öffnung noch zu hinterfragen ist. Bemerkenswert ist im Fall von Vorher/Nachher, dass Schimmelpfennig sich auf strukturelle Veränderungen am Dramentext beschränkt und auf die materielle Einbeziehung von Medien wie Film, Video und Fernsehen völlig verzichtet. Er geht sogar so weit, sich im wörtlichen Sinne zum »Tonspurlieferanten« zu machen. Der Text enthält in der Tat nur eine einzige Bühnenanweisung, die durch Kursivdruck visuell von im Sprechtext auftauchenden beschreibenden Textpassagen abgehoben wird. Schimmelpfennig überlässt also die visuelle Umsetzung seines Stücks fast völlig der Theaterpraxis. Daraus zu schließen, dass man auf eine solche visuelle Umsetzung völlig verzichten könne, wie es in der Hörspielversion des Stücks geschieht, halte ich für eine Fehlinterpretation, denn die visuelle Umsetzung trägt entscheidend zur Bedeutungsproduktion bei, was ich später an einigen Inszenierungen verdeutlichen möchte. Doch zurück zur ZappingÄsthetik. Ihr auffälligstes Merkmal ist, wie Winkler zu Recht betont, ein veränderter Rhythmus, der durch die Fragmentarisierung von ursprünglich längeren, autonomen Sinneinheiten entsteht. Genau das ist in Vorher/Nachher offensichtlich der Fall, denn das Stück besteht aus einer parataktischen Reihung von insgesamt 51 durchnummerierten Kurz- und Kürzestszenen, auf die bei der Hamburger Uraufführung mit einer Spieldauer von insgesamt zweieinviertel Stunden jeweils durchschnittlich zweieinhalb Minuten entfielen, wobei die Szenenlänge allerdings in Wirklichkeit sehr unterschiedlich ausfiel, denn in der Druckfassung variieren die Szenen zwischen einer Länge von sechs Zeilen bis zu mehreren Seiten. Viele dieser Kurzszenen bilden nun tatsächlich längere Sinneinheiten in Form von neun Handlungssträngen, die zwischen drei und elf Sequenzen umfassen. Daneben stehen isolierte Szenen, die sich keinem solchen Handlungsablauf zuord4. Vgl. ebd.

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nen lassen. Die insgesamt 32 Figuren des Stücks lassen sich dem entsprechend in zwei Gruppen einteilen: auf der einen Seite jene, die völlig episodisch bleiben und nur einmal auftreten, auf der anderen Seite jene, die in einem ihnen zugeordneten Handlungsstrang immer wieder auftauchen. Anders als in anderen Stücken des Autors sind die Handlungsstränge strikt voneinander isoliert, anders gesagt, das Personal eines Handlungsstrangs begegnet nie dem eines anderen. Durch die Collageform werden die Handlungsstränge immer wieder durch einen anderen Handlungsstrang oder auch eine isolierte Szene unterbrochen, was die Zapping-Wirkung des Hinund Herschaltens zwischen fragmentierten autonomen Sinneinheiten erzeugt. Zapping zeichnet sich weiter dadurch aus, »daß der Zappende nicht weiß, wohin er springt, so daß am Punkt des Umschaltens eine spezifische Struktur der Überraschung entsteht«5. Winkler beschreibt diese zum einen als ästhetischen Schock, der beim Zusammenprall sehr heterogener Materialien entsteht, zum anderen als ein plötzliches Hochschnellen des Informationsgehalts, das sich aus der beim Umschalten sich vollziehenden Dekontextualisierung von Bild und – so möchte ich hinzufügen – von Sprechtext ergibt: »Die Informationstheorie, die versucht, Bildinformationen zu quantifizieren, und die den Informationsgehalt bewegter Bilder primär von der Wahrscheinlichkeit abhängig macht, mit der das einzelne Bild im gegebenen Kontext zu erwarten ist, würde am Punkt des Umschaltens ein absolutes Maximum der Bildinformation konstatieren, danach ein Zurückschwingen bis hinunter auf das Niveau, das der Regisseur seinem Publikum glaubte zumuten zu können.«6

Beide Phänomene, das Hochschnellen des Informationsgehalts und der ästhetische Schock, hängen von der Heterogenität des Materials ab und nutzen sich durch den Wiedererkennungseffekt ab, der sowohl beim Verweilen bei einem Material wie bei mehrmaligem Zurückschalten auf schon Gesehenes entsteht und den man, entsprechend Winklers Analyse, als eine Rekontextualisierung beschreiben könnte. Auch die schon erwähnte und nun näher zu beschreibende Heterogenität der Themen, Formen und des Realitätsbezugs in Vorher/Nachher weisen also durchaus in Richtung Zapping-Ästhetik. Auf thematischer Ebene werden von Schimmelpfennig vier Komplexe aufgebaut: 1.

die moderne Paarbeziehung und die ihr inhärenten Schwierigkeiten 5. Vgl. ebd. 6. Vgl. ebd.

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Kerstin Hausbei: Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher

2.

3. 4.

– Motive sind hier Verführung, Seitensprung, Trennung, Schwierigkeiten im Umgang mit dem Unterschied zwischen privatem und beruflichem Auftreten des Partners usw. Identitätsprobleme im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung (Aufeinandertreffen von verschiedenen kulturellen Identitäten oder von verschiedenen Betriebsformen, etwa dem Familienbetrieb und dem internationalen Großkonzern). Stillstand und Veränderung, Altern und Erinnerung. das Themenfeld des Außermenschlichen (biologische und klimatische Veränderungen, Weltraum und außerirdisches Leben).

Diese Themen werden sehr anekdotisch behandelt. Sie können auch miteinander verschränkt auftreten. Die beschränkte Anzahl von Themen führt, ebenso wie die Verwendung von Handlungssträngen, recht bald zu einem Wiedererkennungseffekt, so dass der Überraschungseffekt hauptsächlich auf den Anfang des Stücks beschränkt bleibt. Der Eindruck der Heterogenität entsteht denn auch weniger durch die Themen als durch deren Behandlung. Es kommt in diesem Zusammenhang zu drei Arten des Realitätsbezugs, wobei auch hier die Übergänge fließend sein können: 1. 2.

3.

zunächst der Mittelwert einer realitätsnahen, meist recht banalen Fiktion aus dem privaten oder beruflichen Alltag; dann auf der Seite der größeren Realitätsferne das fantastische oder auch das Science-Fiction-Register, in denen ein Mann in einem Bild verschwinden, eine Frau mehrmals täglich ihre Identität wechseln oder ein »bis zu diesem Moment auf der Erde unbekannter« tödlicher Organismus auftauchen kann, von dem sich sein »Jäger« zu wissenschaftlichen Zwecken verschlucken und dann zerstören lässt; und schließlich auf der Seite der größeren Realitätsnähe die Scheindokumentation: sie kann die Form einer reportageartigen Beschreibung annehmen oder durch Figurenmonologe vermittelt werden. Davon gibt es zwei Arten. Zum einen die meist dekontextualiserten subjektiven Selbstaussagen ohne Analysewert, wie man sie im Tanztheater, aber auch in problemorientierten Fernsehshows oder in den Isolierzellen findet, wo sich die Kandidaten der Reality-Shows allein im Angesicht der Kamera befinden, um in dieser Pseudointimität öffentlich einen Seelenstriptease zu vollziehen. Zum anderen Monologe, die einer Figur mit Requisit (die Frau mit der Zeitung, der Mann mit dem Insektenglas usw.) zugeordnet sind und die somit neben dem dominanten Sprechtext ein visuelles Moment enthalten, das den Kontext zum Teil wieder herstellt. Es handelt sich dabei um Informationsquellen wie Insektenglas, Zeitung, Sternenkarte oder 47

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(Post-)Dramatische Standpunkte

ein Manuskript, die durch ihren Objektcharakter den Anschein von Objektivität erwecken und kommentiert oder gar nur verlesen werden. Diese isolierten Requisiten lassen z.B. an die Art denken, wie das Fernsehen in Reportagen oder auch in der Werbung das Autoritätsargument der beruflichen Identität visuell inszeniert. Man kann aber natürlich auch an die skurrile Ästhetik mancher visueller Dramaturgien denken, in denen bestimmte Figuren immer mit einem bestimmten Objekt auftauchen. Je nach Inszenierung kann die visuelle Umsetzung (ebenso wie Stimme und Tonfall) demnach ebenso zur Beglaubigung des Dokumentarcharakters wie zu dessen Verfremdung oder Desavouierung dienen. Man könnte also sagen, dass das Stück ein Zapping zwischen Fiktion, Science Fiction, reality soap und Dokumentarreportage imitiert. Das Wechseln zwischen den Realitätsbezügen sorgt jedenfalls dafür, dass Vorher/ Nachher nicht auf Lindenstraßenformat zusammenschrumpft. Denn die Montage von fragmentierten Handlungssträngen in einer realitätsnahen Fiktion mit relativer Themenvielfalt ist als zapping-freundliches Format natürlich die Antwort, die das Fernsehen selbst auf das neue Zuschauerverhalten gefunden hat. Ebenso wie das Wechseln zwischen den verschiedenen Realitätsbezügen trägt, wie es zum Teil schon deutlich wurde, aber auch die Wahl der Szenen-Formen dazu bei, die Lindenstraßenfalle zu vermeiden. Wichtig ist dabei vor allem, dass es in keiner Szene Mimesis von Handlung gibt. Diese wird schon durch die im Titel angedeutete Vorher-Nachher-Fokussierung ausgeblendet oder ins Off verbannt. Konsequent wird Handlung durch Perspektiven gebrochen und in Narration überführt: entweder geben die Figuren selbst in den schon beschriebenen Monologdispositiven subjektiv über sich selbst, ihre Situation und ihre Gefühle, sowie über ihre Handlungsmotive Auskunft oder es taucht eine Erzählerinstanz auf, die übrigens nicht in der Figurenliste verzeichnet ist. Diese Erzählerstimme übernimmt manche Szenen allein: sie beschreibt dann aus der Außenperspektive statische Situationen oder Detailhandlungen, für die die Regie entscheiden muss, ob sie auf der Bühne sichtbar gemacht werden. Ein Indiz des Autors mag sein, dass die in diesen Sequenzen beschriebenen Figuren, denen keinerlei Sprechtext zugeordnet ist, in der Figurenliste auftauchen. Manche Szenen, die ich schon als reportageartige Beschreibungen eingeführt habe, beschränken sich also auf solche Zustandsbeschreibungen. Im Zusammenhang der Handlungsstränge werden uns hingegen auch das Innenleben einer Figur oder Teile eines Dialogs mitgeteilt. Dadurch unterscheiden sich diese Erzählungen von reinen Bühnenanweisungen, denen sie den48

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Kerstin Hausbei: Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher

noch, besonders in jenen Szenen ähneln, in denen die Figuren neben – ich möchte fast sagen über – die beteiligten Figuren tritt, sich von ihnen unbemerkt an den Zuschauer wendet und dann die Figuren selbst kurz zu Wort kommen lässt. In dieser Überführung von visuellen Szenen in narrativen Sprechtext besteht vielleicht die größte Originalität des Textes, die in der Hörspielvariante natürlich völlig verloren geht. Aber auch die wenigen unvermittelten Dialoge entsprechen mit Ausnahme einer Szene, die eine Polizeiermittlung darstellt, die allerdings auch zu keinem Ergebnis führt, keinen Handlungssequenzen. Sie bewegen sich vielmehr auf der Ebene der Zustandsillustration und gehören ins Register der Konversationsstücke. Sie sind ausschließlich zwei Paaren zugeordnet: Philipp und Susanne, zwei Mittdreißigern, die sich nach einer Party in mehreren Sequenzen streiten, und Isabel und Georg, deren Diskussionen sich immer an einer banalen Feststellung entzünden (»Langer Tag«, »Carrie ist jetzt Autorin, wusstest du das?«, »Die haben immer lecker gesagt«, »Sieh mal an, ein graues Haar«) und sich dann ähnlich wie im absurden Theater oder bei Nathalie Sarraute tautologisch auf eine Binsenweisheit hin entwickeln. Thematisierung der Sprachkrise also, die oft der Komik nicht entbehrt, vor allem wenn in einer Kontrastmontage Motive wie Krawatte und Tod oder Drink und Tod aufeinanderprallen und über philosophisch eigentlich relevante Themen auf höchst banale Art geschwätzt wird. Wir sind dementsprechend auch hier nicht weit von Reality-Shows wie Big Brother entfernt, wobei die Absicht aber wohl eher der kritischen »Entlarvung des Bewusstseins« durch Figurenrede entspricht, wie sie im Volkstheater eines Horvath oder Kroetz vorgenommen wird. Die einzige Szene ohne Worte, die am Kursivdruck erkennbare einzige Bühnenanweisung des Stücks, betont durch ihre Existenz den Status als Sprechtext der eben erwähnten Beschreibungen. Interessanterweise bestätigt sie aber als Autorentext den in den narrativen Szenen immer wieder beschriebenen Fiktionsraum – ein realistisch gestaltetes Hotelzimmer – als Bühnenraum. Für die Bühne bedeutet diese Besonderheit, dass sie entweder tautologisch das Beschriebene als visuelle Information wiederholt und dadurch die Fiktionsebene auf epische Distanz rückt (so in der Düsseldorfer Inszenierung von Peter Wittenberg) oder aber die Erzählung als Sprechhandlung auf einer mehr oder weniger leeren Bühne ansiedelt, die jedenfalls kein Hotelzimmer darstellt, was die meisten Inszenierungen bevorzugen. Die Karlsruher Inszenierung von Donald Berkenhoff kommt dabei meiner bisherigen Einordnung des Stücks in die Zapping-Ästhetik entgegen, indem sie als Bühnenraum ein Fernsehplateau wählt. Die Hypothese der Zapping-Ästhetik scheint nach dem bisher Gesagten also recht plausibel, findet aber natürlich genau dort ihre Grenzen, wo 49

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Schimmelpfennig explizit zu erkennen gibt, dass zwischen den Szenen andere als nur zufällige Interferenzen bestehen. Die Interferenzen sind in der Tat sehr zahlreich, zweifelsohne zu zahlreich, um dem Rezipienten nicht als Organisationsprinzip ins Auge zu fallen. Dieses wird natürlich noch besonders durch die epische Instanz betont. Ähnlich wie ein Conférencier in der Revue führt die Erzählinstanz durch das Stück Vorher/ Nachher und stellt so einen Zusammenhang zwischen den heterogenen Szenenformen her, ist aber auch Meister der Zeit, indem er im Haupthandlungsstrang dieselben Ereignisse aus jeweils zwei oder mehr Perspektiven erzählt und die Zeit entsprechend mehrmals zurückdreht. Auch der immer wieder auftauchende Rahmen des Hotelzimmers hat eine ähnliche, wenn auch schwächere Klammerfunktion. Allein die Tatsache, dass viele Szenen im gleichen Raum angesiedelt sind, auch wenn dieser ein Standardraum ohne besondere Kennzeichen ist, hebt natürlich die bisher behauptete Isolierung der Handlungsstränge auf. Denn gerade die Anonymität des halb öffentlichen halb privaten Raums macht das Nebeneinander der isolierten Handlungsstränge plausibel. Das kann zwar nicht oder nur mit Einschränkungen für die fantastischen Szenen gelten, aber an die Stelle der Willkür des Zappens tritt so dennoch die Zufälligkeit der räumlichen Nähe, die im Gegensatz zur ersteren vom Rezipienten auf der Ebene der Fiktion angesiedelt oder als bewusste Erzeugung nur scheinbarer Zufälligkeit dem Erzähler – letztlich natürlich dem Autor – als Organisator der möglichen Welt zugeschrieben werden muss. Ähnliches gilt auch für die Auswahl der Handlungssequenzen in den Handlungssträngen. Sie zeigen stets prägnante Momente vor und nach einem einschneidenden Ereignis – wie dem ersten Seitensprung oder dem Verkauf der väterlichen Firma an einen Großkonzern – und desavouieren so ebenfalls das Zufallsprinzip des Zappings. Es ist also insgesamt davon auszugehen, dass Schimmelpfennig die »semantische Offenheit der dekontextuierten Bilder« und die »unvermuteten Konfrontationen und Interferenzen«, die Hartmut Winkler dem Zapping zuspricht und die ich auch für das Stück Vorher/Nachher aufgezeigt habe, durch bewusste und für den Rezipienten sichtbare Dispositive erheblich einschränkt. Vorher/Nachher steht insofern als dem Zuschauer explizit vorgeführtes Gesellschaftspanorama der Revueform näher als dem Zapping, dessen Bedeutung Hartmut Winkler darin sieht, dass es das fest gefügte Gerüst der intersubjektiv etablierten Bedeutungen durch ein weniger strukturiertes Feld [ersetzt], das eigene spielerische Entdeckungen möglich macht und das, anders als avanciertere ästhetische Erfahrungen das Loslassen der etablierten Ordnung nicht unmittelbar mit Orientierungsängsten bestraft«7. 7. Vgl. ebd.

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Kerstin Hausbei: Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher

Vorher/Nachher will natürlich als Sinneinheit verstanden werden und mutet dabei dem Zuschauer vor allem durch das Nebeneinanderstellen verschiedener Wirklichkeitsebenen einige Denkarbeit zu. Abschließend möchte ich nun noch die Frage aufwerfen, ob Vorher/Nachher nicht sogar dem Woyzeck-Modell näher steht als dem Zapping. Das Woyzeck-Modell beruht, anders als die Revue, auf einer argumentativen Montage, in der die formal und thematisch heterogenen Szenen sich in einen klar strukturierten Diskurs einfügen. Das Szenenmaterial gruppiert sich dabei als erläuternde Zustandsbeschreibung, die auch ins Kollektive abschweifen kann und aufgrund der sozialen Thematik sogar muss, um einen dynamischen Haupthandlungsstrang. Ein solcher existiert natürlich in Vorher/Nachher in Form des mit elf Handlungssequenzen längsten und dadurch von den übrigen Handlungssträngen klar abgehobenen Handlungsstrangs. Er beginnt mit dem ersten Seitensprung der Frau um die Dreißig und führt über den Folgeseitensprung ihres Freundes, die Trennung des Paares, den Auszug der Frau aus der gemeinsamen Wohnung, die Abnutzungserscheinungen in der neuen Partnerschaft, die Trennung vom neuen Partner und den erneuten Sexualakt mit dem Exfreund bis zur Erkenntnis der Endgültigkeit der Trennung. Können nun alle anderen Szenen und Szenenfolgen dieser Haupthandlung als Varianten, Kontrastszenen oder Kommentare zugeordnet werden? Bei vielen Szenen ist das sicher möglich. So bei allen Varianten der Paarbeziehungen, sowie bei den fantastischen Szenen und utopischen und apokalyptischen Diskursen der Figuren mit Requisit. Sie können als Metaphern des Wunsches nach Veränderung, des Ausbruchs aus dem Alltag und den manchmal selbstzerstörerischen Konsequenzen dieser Handlungsweise, beziehungsweise als verallgemeinernde, überhöhende Pseudophilosophie gelesen werden, worin sie den Buden/Lichter/Volk-Szenen im Woyzeck nicht unähnlich sind. Schwieriger ist der Zusammenhang mit den beruflichen Motiven aus dem Themenkreis der Globalisierung herzustellen, auch wenn dieser Themenkomplex dadurch in der Haupthandlungssequenz angesprochen wird, dass der neue Partner ein Berufskollege aus einer anderen Stadt ist, was zumindest das Motiv der beruflichen Mobilität ins Spiel bringt. Es scheint also nicht unmöglich, die notwendigen Zusammenhänge zwischen den Szenen aufzuzeigen, um von einer Montage zu sprechen. Jedoch ergibt sich aus dieser Montage aufgrund der Banalität der Themen und der Neutralität ihrer Behandlung keine klare Argumentation, keine These, ja letztlich nicht einmal eine Frage. Zwischen der Zapping-Ästhetik, in deren »Bildernebel« nach Hartmut Winkler »die Vorstellung [zergeht], das gutwillige Gerede der ›talking heads‹ könne die Welt noch einmal zu51

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(Post-)Dramatische Standpunkte

sammensetzen«8, und der engagierten, satirischen Plädoyerstruktur des Woyzeck-Modells, wählt Schimmelpfennig offensichtlich den Mittelweg des unterhaltsamen Gesellschaftspanoramas, das nirgendwo aneckt. Im Titel habe ich eine Frage aufgeworfen: »Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher: Zapping als Revival der Revueform?« Ich möchte dieser Frage nun abschließend folgende Hypothese als Antwort zuordnen: Statt radikaler diskursauflösender Zapping-Ästhetik feiert Schimmelpfennig in Vorher/Nachher ein Revival der Revueform.

Literatur Detje, Robin: »Bericht zur Lage der Theaterjugend. Uraufführungen in Berlin und Hamburg, dazu ein Kulturkampf in der Hansestadt. Darf man in der Krise auf der Bühne Kind bleiben?«, Die Zeit Nr. 51 (2002). Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form des Dramas, München 1960. Winkler, Hartmut:Zapping ein Verfahren gegen den Kontext, Häußer 1991.

8. Vgl. ebd.

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Hilda Inderwildi: Zersplitterungsphänomene bei Ulrike Syha

Zersplitterungsphänomene in Ulrike Syhas Stück Autofahren in Deutschland Hilda Inderwildi

»Es gibt keinen akzeptablen Grund, von A nach B zu gehen«. Das sagt Hugo, der Hauptprotagonist von Autofahren in Deutschland schon in seinem Anfangsmonolog, in dem er sich trotzdem zu seiner Freude am Autofahren bekennt. So werden die Prinzipien der Linearität und der Kausalität im Stück Ulrike Syhas1 von vornherein außer Kraft gesetzt. Orte und Ziele scheinen weder eine Geschichte noch eine andere, besondere Relevanz zu besitzen. Sie existieren lediglich, um zu ermöglichen, was sich uns meistens mehr als bloßes Herumfahren denn als Reise darstellt, um das dramatische Geschehen voranzubringen und die Begegnungen zwischen den Charakteren herbeizuführen. Die folgenden Szenen führen uns Orte vor wie die Autobahn, ein Autobahnkreuz, eine Tankstelle und eine Autobahntoilette. Das sind allesamt Orte der Durchreise, als Hintergrund eines Geschehens, das mit der apokalyptischen Vision einer Autobahnruine schließt. Die anderen Orte: ein Waschsalon, eine Kneipe, ein Hotel, die Stadt Amsterdam, stellen ebenfalls ein entmenschlichtes Nirgendwo dar, wo man sich lediglich auf der Durchreise aufhält, welche der Subjektivität der Figur nur wenig Raum zu ihrer Entfaltung zu bieten scheint. Nun ist gerade das Nirgendwo, von seiner unverkennbaren plastischen und ästhetischen Dimension ganz zu schweigen, das Element, welches überhaupt das Umherschweifen rechtfertigt, der Figur vielfache Bewegungsmöglichkeiten eröffnet, ihr alle möglichen Wege erschließt, und ihr somit zur Herausbildung ihrer Einzigartigkeit verhilft. Paradoxerweise bildet eben der Raum, bei aller Zersplitterung, das wichtigste dynamische Element des Stückes. Dieses verläuft keineswegs linear, es erzählt keine Geschichte im herkömmlichen Sinne: Es setzt sich aus 28 Bildern zusammen, die dem Zuschauer bei der Inszenierung der Irrfahrt der Figuren Einblicke in 1. UA Hamburger Thalia-Theater, 1. 12. 2002.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Aspekte der modernen Gesellschaft verschaffen. Auf diese Weise werden sowohl das umherirrende Individuum als auch die Entwicklung der Kultur oder die Formen der Kulturlosigkeit ins Zentrum des kritischen Interesses gerückt. Hugos Fahrt lässt sich, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht als Initiationsweg deuten. Es klafft in seinem Parcours eine bedeutende Lücke: Wenn auch das eifrig verfolgte Ziel Hugos der Anblick eines Ionenbeschleunigers ist, in dessen Nähe, wie er es zu wissen vorgibt, »der Himmel derselbe ist wie woanders auch«2, so verkündet er dennoch mehrfach, und zwar geradezu leitmotivisch, dass er »irgendwohin« fährt. Wie die meisten umherirrenden Individuen in Ulrike Syhas Werk befindet sich Hugo eigentlich auf der Flucht. Ihn treibt kein Ziel an, das vor ihm läge und das er zu erreichen trachtete. Er ist im Gegenteil danach bestrebt, einer Bedrohung zu entkommen, die ihn von hinten ereilt und zugleich aus dem Inneren seiner selbst hervorgeht. »Ich fahre Auto in Deutschland, um dem Anspruchsdenken zu entkommen. Meinem. Und damit dem von anderen Leuten.«3

In seinem Verfolgungswahn glaubt Hugo tatsächlich, er sei Opfer einer Verschwörung seines besten Freundes Lorenz, der nebenbei auch sein Finanzberater und der Liebhaber seiner Lebensgefährtin Martha ist. Im Laufe des Stückes malt er sich die tollsten Geschichten aus: Beamte des Finanzamtes durchsuchen sein Haus und vergreifen sich an Martha, während Lorenz seine Computerdateien kopiert, um seine dreidimensionalen Mammutmodelle an Kunden aus dem Silicon Valley zu verhökern. Sein Verfolgungswahn spiegelt den Wahn einer kopflosen Gesellschaft wider, welche die Organe der Verkehrstoten an das FBI verkauft oder mit Handgranaten und Bomben spielt, die ihr schließlich in den Händen zerplatzen.4 Mehr noch als einer von ihm selbst festgelegten Route folgt Hugo einer Bahn, auf deren Verlauf er keinen Einfluss hat, den Partikelchen vergleichbar, die es auch nur mit Hilfe des Ionenbeschleunigers vermögen, sich mit 2. Ulrike Syha: Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne. Traduction de Silvia Berutti-Ronelt avec la collaboration de Pauline Sales. Préface de Hilda Inderwildi et Catherine Mazellier-Grünbeck. Toulouse 2005, S. 74. 3. Vgl. ebd. 4. Siehe Bilder 15, 18, 23 »In Dobris Getränkekeller kann man auf Relikte der deutschen Geschichte stoßen« (S. 102ff.), »Aufnahme alkoholischer Erfrischungsgetränke Teil I« (S. 126ff.), »Aufnahme alkoholischer Erfrischungsgetränke Teil II« (S. 158ff.).

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Hilda Inderwildi: Zersplitterungsphänomene bei Ulrike Syha

Energie aufzuladen. Es ist daher keineswegs erstaunlich, wenn sich gerade in diesem Zusammenhang vermehrt die Vorstellung einer Pseudo-Bewegung oder einer kreisförmigen Bewegung immer häufiger einstellt. Sie macht die Illusion einer Freiheit oder eines Ausbruchs, die durch das Herumreisen vermittelt wird, zunichte und wirkt wie ein groteskes Aufder-Stelle-Treten. Ulrike Syhas theatralischer Road-Movie bietet also die Gelegenheit zu einem kritischen Diskurs über die reale Welt, wodurch freilich das Erzählte mehr als das dramatische Geschehen selbst in den Vordergrund gerückt wird. Die Titel, die den Bildern vorangehen, zeigen dies. Der Titel des siebten Bildes lässt zum Beispiel die tiefgründige Ironie der Autorin erahnen: »Hugo kann sich nicht verfahren. Weil er nicht weiß, wo er hin will. Die Kreisbewegung kommt der Perfektion immer noch am nächsten.«5

Auf die Tautologie folgt ein Kommentar, mit dessen Allgemeinheit und Banalität nur noch das Ausmaß der enttäuschten Erwartungen mithält. Wer vermag es in der Tat, sich vorzustellen, dass das Gefangensein in einem räumlich-zeitlichen Kreislauf und das drohende Verdammtsein zur ewigen Wiederkehr des Gleichen für den Protagonisten Gründe zu seiner Befriedigung bieten könnten? Dennoch wirken die Äußerungen im Titel des siebten Bildes verwirrend und entziehen sich jeder eindeutigen Interpretation. Hugos Umherschweifen ist mindestens im gleichen Maße eine Flucht und ein Abdriften wie auch ein Trachten nach Freiheit. Seine extreme Mobilität scheint auf eine pathologische Gemütsverfassung zurückzuführen sein und die Bewegung gleicht sowohl bei ihm als auch bei allen weiteren Figuren immer mehr einem Leerlauf: Die Bewegung schafft weder Ordnung in ihren Gedanken noch vermag sie, ihren Begierden eine Richtung zu geben. Dabei sind weder Bewegung noch Bewegungslosigkeit imstande, Positives oder Konstruktives zu erzeugen, denn die Momente, in denen das Augenmerk auf den Anderen gerichtet ist, anstatt die Existenz der Menschen und Dinge als geordnetes Miteinander zu fassen, beschwören letztendlich doch nur bloße Angst und den Gedanken an den Tod herauf. Der Blick der Gestalten ist zumeist leer und kalt, symbolisch mit einer Waffe zu vergleichen, die man nur zückt, um damit zu drohen: Cleo, Lorenz’ Ex-Frau, die das plötzliche Hereinplatzen der Vergangenheit in die Gegenwart verkörpert, geht mit einer entsicherten Pistole umher; ihr Anblick löst Unbehagen und Panik aus, wie etwa an der Stelle, wo sie in Lorenz’ Beisein ihr Blut auftupft und dieser sie nicht mehr ansehen kann.6 5. Ulrike Syha: Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne, S. 56. 6. Vgl. ebd., S. 150.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Was Ulrike Syha zeigt, ist die Unmöglichkeit eines Blickes oder einer Bewegung, die dazu fähig wären, eine echte Beziehung zu einem Gegenstand oder einer Person herzustellen. Die Gattung des Road-Movies erlaubt es der Autorin, das Problem der Existenz von Grenzen sowie des Übergangs in andere Dimensionen anzusprechen. »Das Autofahren in Deutschland macht es möglich, dass zu Hause Parallelwelten auf einen warten können. Es schafft den nötigen Platz dafür.«7

Das Theater-Road-Movie bedingt die Öffnung eines virtuellen und literarischen Raums, in dem sich angstvolle Emotionen und Intuitionen ungehindert entfalten können. Dort liegt auch der Grund, weshalb in der Inszenierung von Monika Gintersdorfer im Dezember 20028 Elemente vermengt wurden, die aus der Realität des Autofahrens, des Straßenalltags stammen, nämlich eine Michelinpuppe, TV-Symbole aus den 70er Jahren, wie z.B. das sterile Innere eines Raumschiffs ganz nach dem Vorbild aus der Serie Raumschiff Enterprise, die sowohl an eine Tunnelröhre, an die Trommel einer Waschmaschine als auch an eine Schleuse erinnern, die sich zu einem anderen Bewusstseinszustand hin öffnen. Das Thema der Parallelwelten ist in Ulrike Syhas Werk allgegenwärtig. Martha versucht die Bedingungen für »eine Versuchsanordnung im Nullraum« zu erfüllen.9 Somit macht sie deutlich, in welchem Ausmaß die Zergliederung des Raumes die Tore zu einer Vielzahl weiterer Räume und Welten aufstößt. Die allen unterschiedlichen Charakteren gemeinsame Problematik ist die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen dem Umherschweifen und einer bestimmten Auffassung des Realen sowie dessen ständiges Infragestellen. Diese Problematik rückt Ulrike Syhas Stück in die Nähe eines Genres, das gewöhnlich nur schwer mit der Theaterbühne in Einklang zu bringen ist, nämlich der Science-Fiction. Die Autorin bekennt sich zu diesem Einfluss, indem sie in parodistischer Manier gleich zu Beginn des Stücks die Vorstellung äußert, wonach in der Zeitung eine »Checkliste für das korrekte Identifizieren von Ufos«10 erschiene. Wenn Autofahren gefährlich ist, dann nicht bloß, weil man beim Überholen aus der Kurve geschleudert werden kann, sondern auch weil, rein statistisch betrachtet, 35 Prozent aller Entführungen durch Außerirdische auf den Straßen stattfin7. ebd., S. 36. 8. Siehe Fußnote 1. 9. Ulrike Syha: Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne, S. 100. 10. Ebd., S. 64.

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den. Die Figuren Ulrike Syhas sind dem Agenten Mulder aus X-Files verwandt, der die Aufdeckung der großen Verschwörung immer nur um ein Haar verfehlt. Sie bilden mit ihm zusammen ein Netz aus Denkern der Verschwörung, ein Paradigma des Menschen. Der Verfolgungswahn, der die Personen kennzeichnet, geht dabei mit dem Konsum von Drogen und Halluzinogenen einher, um den Übergang in eine Science-Fiction-Welt zu gewährleisten. Zu den Parallelwelten gehören auch virtuelle Geschöpfe. Hugos Mammuts sind keineswegs die einzigen dieser Zunft. Zwei Bulgaren, die auf der Figurenliste nicht verzeichnet sind und sich immer wieder in Luft auflösen, übernehmen gleich mehrere Rollen. Sie sind unheimlicher Verwandlungen fähig, erscheinen auf dem Rastplatz, im Waschsalon sowie in Dobris Kneipe und verkörpern auch die Finanzbeamten aus Hugos Schreckensvorstellungen. Sie sind die fantastischen Wunschgestalten bizarrer Rollenspiele, die sich in den Köpfen der anderen Protagonisten abspielen. Der Facettenreichtum dieser Figuren macht es möglich, nicht bloß den Verfolgungswahn und die Verwischung der Identität zu inszenieren, sondern ebenso die Einführung des Fantastischen in den Bühnenraum zu erwirken und dramatische Spannung zu erzeugen. Sie erlaubt auch eine »mise en abyme« der theatralischen Illusion durch Rückgriffe auf Rollenspiele. Gewisse Elemente in Autofahren in Deutschland legen die Vermutung nahe, dass die Autorin zum Mittel des fantastischen Rollenspiels gegriffen hat, um eine vielfältige, mehrfache Bühnenillusion herbeizuführen: die Verwischung der Zeit-Räume und der Identität, die Banalisierung der Gewalt, die Idee »ein[es] groß[en] Konzeptioner[s]«11 sind für Rollenspiele kennzeichnend und im Stück allgegenwärtig. Eben diese Vorgänge sind auch der Grund, weshalb Ulrike Syha sich dazu veranlasst sieht, für die Bühne Mittel zu verwenden, die gewöhnlich im Film ihre Anwendung finden. Ihr Stück erinnert stark an Mullholland drive, selbst wenn die Autorin während der Niederschrift von diesem Film noch keine Kenntnis hatte und nach eigener Aussage ohnehin nur selten ins Kino geht. Wie im Film von David Lynch spielt sich Hugos »Reise« sowohl auf räumlicher als auch auf zeitlicher Ebene ab. Genauso wie David Lynch wendet sich die Autorin von klar und deutlich umrissenen Zeiteinheiten ab, was bekanntlich eins der wichtigsten Charakteristika der postdramatischen Ästhetik12 ist. Bei Ulrike Syha bleibt die Zeit des dramatischen Geschehens im Unklaren. Zu Beginn des Stücks erfährt man lediglich, dass

11. Ebd., S. 194. 12. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Darin insbesondere S. 309-353.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

»Dienstag« ist.13 Später ist von einem Sonntagsausflug im Cabrio die Rede und von einer Verabredung zwischen Hugo und Lorenz für den folgenden Montag. Die allerletzte Szene spielt an »ein[em] kalt[em] Novembermorgen«.14 Doch helfen uns diese Angaben nur wenig weiter und sie dienen vor allem dazu, den Kontrast zwischen dem äußerlichen Zeitrahmen, der Zeit der Autofahrt, und der Ausbreitung der Zeitebenen in den Parallelwelten, einer sozusagen verinnerlichten Zeit, hervorzuheben. Die Handhabung der Zeit schwebt ständig zwischen Zusammenraffung und Ausdehnung. Die Zusammenraffung der Zeit ist vor allem am Ende des Stücks spürbar, durch die Verjüngung Marthas und den Anblick der Autobahnruine, die ebenso als Rückkehr zu einer vorzivilisatorischen Welt, wie auch als Versetzung in eine Zukunft jenseits der Apokalypse gedeutet werden kann. Andererseits kann durch die Ausdehnung der Fahrt eine zugleich zersplitterte und wild wuchernde virtuelle Realität dargestellt werden, in der die Zeit der Erinnerung die Gegenwart dehnt, in der eine Bombe eine Ewigkeit benötigt, um endlich zu explodieren. Letzten Endes verschränkt Ulrike Syha Vergangenheit, Gegenwart und Fantasien zu beinahe vertauschbaren Bildern, die zum Zwecke der Herausbildung eines Gesamtsinns nur schwer miteinander zu vereinen sind. Nicht zufällig befindet sich Hugo am Ende des Stücks »in einem Zeitloch« und behauptet, dass »wir nicht mehr in der Lage sind, die Dinge zu einem großen Ganzen zusammenzufügen«.15 Dies schlägt sich auch in der Technik der Verwirrung der verschiedenen Stimmen nieder, die sowohl im Nebentext als auch im Diskurs der Gestalten festzustellen ist und nicht zuletzt auch die Originalität von Ulrike Syhas Stil ausmacht. Betrachtet man den Nebentext, bzw. alle Textelemente, die den eigentlichen Text begleiten und ihm einen Rahmen bieten (Personenregister, Titel, Bühnenanweisungen), fallen einem ganz besonders die Titel der verschiedenen Bilder auf, die sich als Meso-Didaskalien oder dynamische Bühnenanweisungen16 bezeichnen lassen. Im Unterschied zu den Makro-Didaskalien, die sich auf den Gesamttext beziehen, beziehen 13. Ulrike Syha: Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne, S. 30. 14. ebd., S. 194. 15. ebd. 16. Vgl. Sanda Golopentia: »économie des didascalies«, in: Sanda Golopentia/Monique Martinez Thomas, Voir les didascalies, CRIC-Ophrys, 1994. Dazu auch Catherine Mazellier-Grünbeck:"Une esthétique de la désorientation«, in: Hilda Inderwildi/Catherine Mazellier-Grünbeck, Depuis que les hommes ne chassent plus le mammouth. Ulrike Syha et la quête du sens Vorwort zu Ulrike Syha, Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne.

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sich die Meso-Didaskalien auf präzise Teile des Textes. Auffallend ist, dass in Autofahren in Deutschland die dynamischen Bühnenanweisungen weit mehr als nur den Zweck der reinen Vermittlung von Informationen erfüllen. Wenn sie auch Hinweise über Ort, Zeit, Geschehen und Figuren enthalten, so lässt sich doch in dem epischen Charakter, der sie kennzeichnet, die Stimme eines Erzählers und hinter ihm die der Autorin vermuten. Sie lässt ihrem amüsierten Blick auf die Welt und ihrem Spiel mit den Klischees aus der deutschtypischen Wirklichkeit freien Lauf, wie zum Beispiel im dritten Bild »Car-Sharing ist was für Menschen, die in Ökofonds investieren. Hugo lehnt Car-Sharing ab. Aber nicht deswegen.«17 Hier mischt sich eine erzählende Instanz ein, die betont, dass der Hauptprotagonist Hugo, ein begeisterter Autofahrer, keinerlei Sympathie für das umweltfreundlichere billigere Mitfahrprinzip hat, obwohl er, wie wir wissen, keinen typischen ADAC-Deutschen verkörpert. Weitere Titel sind »Wut haben heißt überholen kurz vor dem Autobahnkreuz«, »Eigenartigerweise gibt es noch Orte, zu denen Kreditkarten keinen Zutritt haben«, »Samuraikrieger investieren nicht in Pazifik-Fonds. Aber die Krieger von damals sind heute zu Zivilbeamten geworden«… Im Laufe des Stücks wird die erzählerische Dimension dieser Titel immer deutlicher. Die durch die Titel vermittelte kritische Haltung ist kaum zu trennen von dem Humor, der sich durch das gesamte Stück zieht. Die Beispiele lassen erkennen, dass die Titel als dynamische Bühnenanweisungen einen eigenständigen Teil innerhalb des Theatertextes bilden, der bei der Inszenierung berücksichtigt werden sollte, sei es als Off-Stimmen oder als projizierte Übertitel. Während die Titel der Bilder ihre Funktion als Bühnenanweisung verlieren, fungieren gewisse Textsequenzen, die die Gestalten in ihre Rede einflechten und die, nach ihrem Inhalt zu urteilen, einem Kommentar oder einem inneren Monolog entsprechen, als Bühnenanweisungen im eigentlichen Sinne. Dies ist bereits ab dem zweiten Bild der Fall und dann in allen Bildern, die einen Dialog enthalten. Ein treffendes Beispiel dafür findet man an der Schlüsselstelle des Bildes »Aufnahme alkoholischer Erfrischungsgetränke Teil II«. Im 15. Bild sind Hugo und Dobri in Dobris Getränkekeller auf »Relikte der deutschen Geschichte« gestoßen, auf eine alte Handgranate und einen »Sprengkörper«; die Bombe wollen sie zunächst loswerden, dann entschärfen lassen; am Ende des Stücks sitzen aber die betrunkenen Männer im Kreis um ihr neues Spielzeug herum und streiten:

17. Ulrike Syha: Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne, S. 36.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

»Hugo: Fass es nicht an. Es ist meine Bombe. Ich glaube Marthe kein Wort. Egal was sie gemacht hat, Lorenz war unter Garantie dabei, leger an die Tür seines Cabriolets gelehnt. Der Bulgare: Es ist jetzt seine Bombe. Hugo hat beschlossen, dass er sie beerdigen möchte, und seitdem ist es SEINE Bombe. Marthe: Seit die Männer aufgehört haben, Mammuts zu jagen, läuft irgendwas falsch. Genau seitdem. Seitdem hat niemand mehr eine reelle Beschäftigung gefunden. Lass uns bitte nach Hause gehen, Hugo. Bitte. Hugo: Wieso? Hat Lorenz keine Zeit für mich? FASS SIE NICHT AN. Marthe: Du kannst mich mal am Arsch lecken. Marthe ist zu Dobri hinter den Tresen gegangen. Sie flüstern miteinander. Ich wusste immer schon, dass es eine Verschwörung gibt.«18

Man sieht, wie Hugo zum Erzähler mutiert, indem seine inneren Monologe zunehmend mit erzählenden Bühnenanweisungen gleichzusetzen sind, die das Unheimliche an der erlebten Wirklichkeit und die daraus entstehenden paranoiden Projektionen untermalen. Auf Grund der Funktion des inneren Monologs als erzählender Bühnenanweisung kann sich die Autorin darüber hinaus sehr gut vorstellen, dass die Inszenierung auf solche zusätzlichen Einschübe und Parallelstimmen verzichtet19. Denn Ulrike Syhas Schreibart stellt letztendlich die Frage nach der Beziehung zwischen dem Dialog und dem Monolog im Theatertext. In ihrem Werk wird einerseits der Dialogcharakter des inneren Monologs, andererseits der Monologcharakter des Dialogs20 augenfällig. Diese paradoxen Formen entsprechen ganz der Kommunikationslosig-

18. Ebd., S. 162. 19. So die Autorin in einem Gespräch im Rahmen ihrer Writer’s residence in Toulouse (9.-19. Mai 2005) 20. Etwa als der durch das selbstzerstörerische Verhalten Cleos gänzlich verwirrte Lorenz fragt: »Es gibt irgend etwas, das ich wissen müsste und das ich nicht weiß. Sehe ich das richtig?/Was genau ist es, das ich wissen müsste, um das alles zu verstehen?/Wann genau habe ich wieder mal nicht richtig zugehört?« (S. 136) Die Fragen, die die Gestalt sich selbst stellt und unbeantwortet bleiben, täuschen nicht über den Monologcharakter des Dialogs hinweg: Die Kunst des Zuhörens als Grundlage der menschlichen Kommunikation ist verloren gegangen, was in der interpersonellen Kommunikation zu Missverständnissen, unwürdigendem Umgang und Paranoia führt.

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keit zwischen den verschiedenen Sprechern und werden der Zersplitterung ihrer Identität gerecht: Ulrike Syhas Schreibweise spiegelt das Gespaltensein einer jeden Person so wider, wie sie sich in der Lücke äußert, die zwischen dem Gedanken und dem Sprechakt klafft; sie weist auf ihre radikale Einsamkeit hin; sie setzt voraus, dass der Andere erst dann existiert, wenn er im Spiegel eines subjektiven Gegenübers erscheint; das Geschehen, auch die fiktiven Vorgänge, entspringen der Fantasiekraft der Figuren, die sich aber erst durch den performativen Aspekt des Textes wirklich entfalten und Gestalt annehmen können. Gewiss will Ulrike Syha kein klinisches Abbild der paranoiden Ängste ihrer Figuren liefern. Die Hypothese der Verschwörung erscheint vielmehr als ein Symptom ihrer Orientierungslosigkeit, aber wiederum auch als ein Versuch, Sinn dort ausfindig zu machen, wo es gar keinen gibt. Die Auftritte der Bulgaren, als Restaurantbetreiber, FBI-Agenten oder drohende Polizisten, sind die Verkörperung dieser Hypothese, die somit dazu beiträgt, dass die Figuren, die aus den Hirngespinsten eines Spezialisten der Computermodellzeichnung, also des Virtuellen, entstehen, sich vervielfältigen. Das Stück lässt sich schließlich als eine metadramatische Betrachtung über die Entstehung des Dramas interpretieren, insofern als Letzteres auf eine Projektion des sprechenden Subjekts und deren Verkörperung auf der Bühne zurückzuführen ist. In Autofahren in Deutschland erscheinen sowohl das Fehlen oder die Unklarheit der zeitlichen und räumlichen Orientierungspunkte als auch die Zersplitterung und Störung allen Sinnes wie dazu geschaffen, den Zuschauer in die Irre zu führen. Der Text weist auf eine Welt hin, in der alle Zeichen mit Feindseligkeit assoziiert werden, in der die alltäglichsten Gegenstände ein Verwirrspiel zu spielen scheinen und somit die Gedanken und die Entscheidungen der Personen hemmen oder stören. Dem schon im ersten Bild personifizierten Radio wird so eine Unheil bringende Kraft zugewiesen: »Das Radio ist schlecht. Das Radio unterläuft böswillig Entscheidungen, die ich schon längst getroffen habe. Es ruft mich. Es sendet verschlüsselte Botschaften an Orte, die ich niemals heimsuchen werde. Es ruft mich. Zurück.«21

Der Schluss des Stücks legt aber eine Neuinterpretation nahe, da Hugo die

21. Ulrike Syha: Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne, S. 30

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(Post-)Dramatische Standpunkte

symbolische Tat begeht, sein Autoradio abzumontieren und sein Handy ins Leere klingeln zu lassen und sich dadurch von seiner Entfremdung zu befreien versucht22. Über die Forderung nach Sinnstiftung in einer zersplitterten Wirklichkeit hinaus liegt aber der besondere Reiz des Stücks nicht zuletzt in der Auflösung des Realen ins Virtuelle, in den überaus real wirkenden und poetischen Parallelwelten, die die Autorin zu erzeugen weiß.

Literatur Syha Ulrike: Autofahren in Deutschland – Conduire en Allemagne. Traduction de Silvia Berutti-Ronelt avec la collaboration de Pauline Sales. Préface de Hilda Inderwildi et Catherine Mazellier-Grünbeck. Presses Universitaires du Mirail et Théâtre de La Digue: Nouvelles Scènes – Allemand, Toulouse 2005. Lehmann Hans-Thies, Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999. Golopentia Sandra: »économie des didascalies«, in: Sandra Golopentia/ Monique Martinez Thomas, Voir les didascalies, CRIC-Ophrys, 1994.

22. Vgl. ebd. S. 194

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Catherine Mazellier-Grünbeck: Polyphonie und Transformationen

Polyphonie und Transformationen der dramatischen Gattung bei Sibylle Berg Catherine Mazellier-Grünbeck

»Je sortirai car j’ai à faire: un insecte m’attend pour traiter« (Saint-John Perse)

»Erzähler: So, da wären wir. Kakerlake 1: Sehr schön. Ich liebe diese feuchte Umgebung. Kakerlake 2: Also, Herr Schnitter, wo ist der Patient? Erzähler: Er wird gleich eintreffen. Gott, ist das eine Hitze. Gott: Ja, die ist mir gelungen. Erzähler: Machen Sie es sich bequem, meine Herren. Herr Mautz muss jede Minute hier erscheinen.« (M 28)1

So fängt das Drama Herr Mautz an, das im Folgenden analysiert werden soll, auch wenn das Stück selbst vor der Versuchung der Exegese und Hermeneutik warnt. Denn würde man nicht schließlich selbst Gefahr laufen, der Figur des Erzählers zu ähneln, der Mautz’ Aussagen immer wieder überbieten muss, indem er das Auf-der-Hand-Liegende kommentiert? »Mautz: Das war der Moment, an dem ich mir vornahm, alle meine Gefühle zu beherrschen. Erzähler: Wenn ich hier kurz erklären darf: Das Thema der Gefühlskontrolle ist zentral in Mautzs [sic!] Leben.« (M 38)

1. Alle Zitate aus Herr Mautz entstammen der zweisprachigen Ausgabe: Sibylle Berg: Herr Mautz/Monsieur M., übers. Silvia Berutti-Ronelt und Laurent Hatat, PUM (›Nouvelles Scènes – Allemand‹), Toulouse 2004. Der Titel des Stücks wird abgekürzt als M zitiert, gefolgt von der Seitenzahl.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Und dennoch ist es lohnenswert, im Hinblick auf den Titel des Bandes – Dramatische Transformationen – Herr Mautz als besonders charakteristisches corpus delicti für Sibylle Bergs spielerischen Umgang mit dramaturgischen Konventionen unter die Lupe zu nehmen, obwohl das Stück auf den ersten Blick recht konventionell erscheint. Schon der ironische Untertitel ein angenehmes Stück von Frau Berg lässt eine distanziert kritische Einstellung zur eigenen dramatischen Produktion vermuten, die sich bei der Lektüre des Personenregisters bestätigt: »Herr Mautz Der Erzähler 3 Kakerlaken Alle weiteren Darsteller müssen am Ende des Stückes mal durchgezählt werden, sie sollten sich aber möglichst oft verkleiden, damit man nicht so viele benötigt und die Kosten im Rahmen hält.« (M 26)

Soll die bewusst betonte Lässigkeit in diesem Hinweis als übermütige Pose verstanden werden, oder eher als Ansatz zu einer Reflexion über den Kristallisationsprozess im Entstehen der dramatischen Figur sowie über ihre Funktion überhaupt? Auch der Titel soll offensichtlich desorientierend wirken, wenn bereits an dieser exponierten Stelle die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt werden: Sibylle Berg hat ihn als Hommage an den Schauspieler Rudolf Mautz2 konzipiert, ähnlich wie Thomas Bernhard mit Bernhard Minetti, Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss3. Die erzeugte Desorientierung erfolgt in dreifacher Hinsicht, nämlich durch das Aufheben der Grenzen zwischen den Gattungen, durch das kritische Spiel mit den dramatischen Konventionen sowie durch ein implizites Hinterfragen des schöpferischen ›Genies‹.

2. Zu Rudolf Mautz, der schon in Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot eine Rolle spielte, vgl. Theater heute 4/2002, S. 57-61. Rudolf Mautz selbst spielte die Hauptrolle in der Uraufführung von Herr Mautz am Theater Oberhausen, in der Regie von Klaus Weise (März 2002). 3. Vgl. Thomas Bernhard: »Ritter, Dene, Voss«, Frankfurt a.M. 1984 und »Minetti«, in: Thomas Bernhard: Stücke 2, Frankfurt a.M. 1988.

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Catherine Mazellier-Grünbeck: Polyphonie und Transformationen

Dramatische Gattung und narrative Prosa Von vornherein sorgt die Figur des Erzählers in diesem Stück für ein Durchbrechen der dramatischen Struktur. Sie erläutert, kommentiert, fasst zusammen und liefert den Plot von Herr Mautz: »Erzähler: Er ist aus Europa geflohen. Vor den unendlichen Tagen, Nächten, dem Ticken der Uhr, dem Geruch, dem Warten, dass noch Wunder geschähen, so erreicht Herr Mautz Asien. Und steht in der Hitze, gekleidet in einen weißen Tropenanzug, im Koffer die dürftigen Ersparnisse eines in dieser Beziehung nachlässig verbrachten Lebens, steht sehr lange auf dem Platz vor dem Flughafen und sieht in die durch Feuchtigkeit verschwommene Sonne. Er ist verwirrt, denn was er wahrnimmt, unterscheidet sich maßgeblich von den Bildern, die er sich, noch zu Hause, von seiner Reise gemacht hatte. Die waren bunt und sanft gewesen, hatten mit nackten Frauen, Blumenketten und mit teakholzverkleideten Zimmern zu tun, in denen Mautz, in einen weißen Tropenanzug gekleidet, Whiskey trank und sich Notizen machte.« (M 28)

Mautz flieht nach Asien, landet in einem schäbigen Hotel, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, der sich natürlich nicht einstellen will – stattdessen aber überfällt ihn die Malaria. Drei Kakerlaken und ein Erzähler, der auch »Herr Schnitter« (M 28) genannt wird, sehen ihm »bei den letzten Verrichtungen« zu. Im Sterben liegend lässt Herr Mautz Episoden seines Lebens Revue passieren und bekommt von den zuschauenden Kakerlaken eine sonderliche Maschine zum Aufbauen, die mit einem roten Hebel versehen ist: er soll in seinen Erinnerungen nach einem wertvollen Moment suchen und, sobald er ihn gefunden hat, den roten Hebel an der Maschine ziehen, damit der Moment »sehr ewig« dauert (M 34). Auffallend ist der sachliche Ton bei den Kakerlaken und dem Erzähler, die den Protagonisten als ›Patienten‹ behandeln, als gehe es auf der Bühne um ein wissenschaftliches Experiment, um den ›Fall‹ Mautz. Der protokollarische Stil erinnert an das Stück Biografie von Max Frisch, in dem ein gewisser »Registrator« dem alternden Professor Kürmann die Hauptetappen seines Lebens aus einer Akte vorliest und ihm anbietet, genau da noch einmal anzufangen, wo es ihm beliebt, insbesondere bei der Wahl seiner Frau4. 4. Max Frisch: Biografie. Ein Spiel, Frankfurt a.M. 1967, S 29. Der Untertitel verweist sowohl auf die dramatische Gattung als auf das Experiment im Stück. Auch könnte man auf Becketts Einakter Das letzte Band (1959) hinweisen, in dem der alte Krapp ein Tonbandgerät als fiktiven Dialopartner benutzt und sich das Band anhört, das Momente seines 39. Lebensjahres festhält. Während hier aber der Monolog zu

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Während aber der Registrator bei Max Frisch noch als dramatische Figur und Dialogpartner fungiert, werden der Erzähler und die Kakerlaken von Mautz nicht wahrgenommen: sie stehen abseits und tragen zur Episierung bei, einer Episierung allerdings, die sich nicht nach dem Brechtschen Modell definieren lässt, sondern als ein spielerisches Schwanken und Verwischen der Grenzen zwischen dem Dramatischen und dem Epischen erscheint. Es entsteht ein Hin und Her zwischen der Ich-Form in den Monologen von Mautz, der seine Erinnerungen im doppelten Sinne des Wortes ›reflektiert‹, und der diegetischen Perspektive eines auktorialen Erzählers, der aber gleichzeitig in seinem Umgang mit den Kakerlaken als dramatische Figur auf der Bühne steht. Diese unterschiedlichen Stimmen, und sogar die Off-Stimme Gottes5 am Anfang und am Ende des Stückes bilden eine Polyphonie, die aufgrund der ambivalenten Identität des Erzählers komplexer wirkt. Denn als »Herr Schnitter« ist hier der Tod zu erkennen und hat, so das bekannte Volkslied, »G’walt vom großen Gott«6. Andererseits verkörpert der Erzähler den epischen Autor, der Figuren ins Leben ruft und ihre Entwicklung verfolgt. Der Text schwankt also zwischen einem autobiographischen Duktus, der durch die Pseudo-Bekenntnisse des Herrn Mautz parodiert wird – »ich glaube, ich hatte eine Kindheit« (M 36) – und der Gattung des Bildungsromans mit auktorialem Erzähler, der hier aber zunehmend unsicherer wirkt und schließlich durch die Kakerlaken in die Enge getrieben wird. Es zeigt sich grundsätzlich, dass die Dramatikerin Sibylle Berg immer wieder mit der narrativen Prosa kokettiert. Oder die Romanautorin greift auf Strategien der dramatischen Gattung zurück. So lehnt sich das Stück Hund, Frau, Mann [2001] an Yael Hedayas Novelle Liebe pur an und gibt die Betrachtungen eines Hundes zur Misere der Mann-Frau-Beziehungen wieder. Aus dem 1997 erschienenen Roman Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot entstand eine Bühnenfassung, die im Juli 1999 in Stuttgart (Theater Rampe) uraufgeführt wurde, und schließlich auch eine Hörspielfassung. einem fiktiven Dialog wird, handelt es sich bei Mautz um die Monologisierung einer dialogischen Form. Vgl. Samuel Beckett: Das letztze Band. Krapp’s Last Tape. La dernière bande, übers. Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt a.M. 1974. 5. Ähnlich eröffnet eine »Frau Gott« das Stück Helges Leben (abgedruckt in Theater heute 12/2000). 6. »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,/Hat G’walt vom großen Gott;/Heut wetzt er das Messer,/Es geht schon viel besser,/Bald wird er drein schneiden,/Wir müssen’s nur leiden./Hüt dich, schöns Blümelein! […]«: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano [1806], Frankfurt a.M. 1974, S. 63.

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Catherine Mazellier-Grünbeck: Polyphonie und Transformationen

Ebenso bestehen enge Parallelen zwischen Herr Mautz und den ein Jahr früher veröffentlichten Novellen Das Unerfreuliche zuerst7. Darunter fungiert die Novelle Experiment eindeutig als Vorlage für Herr Mautz: beide männlichen Protagonisten haben ihre Gefühle »bereits erforscht«, die »abrufbar in [ihrem] inneren Kleiderschrank« liegen, und nehmen sich vor, noch »die willkürliche Liebe zu einem Menschen, mit dem man sich sexuell vereinigen möchte«, zu untersuchen8. Die sachliche Beschreibung dieses Experimentierens mit der Liebe wird stellenweise Wort für Wort in Herr Mautz übernommen. Auch in drei weiteren Novellen – Ich geh dann ; Zwei Uhr, vierzig Grad, nachts und Von Wölfen und Herren – geht es um Männer, die Mautz ähneln, insofern sie aus einer eintönigen Existenz in eine exotische Ferne fliehen wollen, »den Wolf in sich« entdecken möchten und dabei scheitern, da überall alles gleichbedeutend sei. Umgekehrt finden die Figuren der Kakerlaken aus Herr Mautz ein Echo in Sibylle Bergs Roman Ende Gut, da sie am Ende des ersten Kapitels das Erzählte im »O-Ton«, also gleichsam in der Form einer dramatischen Konstellation kurz kommentieren9. Das Übernehmen und Variieren der gleichen ›Stories‹ oder Figuren in der Prosa und im Drama führt somit zu einer Vermehrung der Stimmen und Perspektiven, die mit einer Aushöhlung der dramatischen Kategorien einhergeht.

Theater und Drama am Beispiel von Herr Mautz: eine Entfremdung?10 So wie Herr Mautz die Etappen in seinem Leben Revue passieren lässt, lassen sich die traditionellen Grundelemente des Dramas nacheinander betrachten und als Blinkwinkel für die Analyse mobilisieren. Der Plot zeigt bereits, dass die Dramatikerin weder völlig auf Fabel noch auf Handlung verzichtet. Jedoch ist die Handlung auf der Bühne im Vergleich zum erzählten Stoff, der aus Mautz’ Lebensabschnitten gewoben ist, auffallend begrenzt. Damit gibt das Stück zu erkennen, dass Theater stets an der Grenze zwischen Erleben und Erinnern steht, denn Mautz verbindet durch seine physische Präsenz auf der Bühne die Gegenwart mit dem Substrat an reflektierten Erinnerungen, ein Vorgang, der auch vom 7. Sibylle Berg: Das Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten, Köln 2001. 8. Ebd., S. 82-83. 9. Sibylle Berg: Ende gut, Köln 2004, S. 22. 10. Zu dieser Entfremdung als Zeichen des Postdramatischen, vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 41f.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Zuschauer vollzogen werden kann und bei dem unterschiedliche Zeitebenen miteinander kollidieren. Auch ist Suspense als dramatisches Moment vorhanden: spannend ist die Frage, wie der »schönste Moment« in diesem öden Leben aussehen wird. Allerdings erlebt der Zuschauer eine doppelte Enttäuschung: einerseits, weil Mautz den wachgerufenen Stationen seines Lebens keinen einzigen wertvollen Moment abringen kann, andererseits, weil der schließlich doch noch ausgesuchte Augenblick dem blinden Zufall entspricht und sich als äußerst banal erweist: »sehr ewig« soll der Augenblick dauern, in dem er sich in ein asiatisches Café am Straßenrand setzt und wartet, »dass ein Wunder geschieht« (M 70). Dieses sinnentleerte, groteske Warten wurde in der französischen Inszenierung von Laurent Hatat (Comédie de Valence 200311) durch einen wirkungsvollen Einfall wiedergegeben: Mautz wurde nämlich auf eine Klobrille gesetzt, in die zugleich der verhängnisvolle Hebel zur Verewigung des schönsten Augenblicks eingebaut war. Als Korrelat des Narrativen herrscht die monologische Form vor. Dialog entsteht, wenn überhaupt, in erster Linie zwischen den Kakerlaken und dem Erzähler. Ansonsten ist er dreifach pervertiert: • Erstens durch die eingeschobenen Flashback-Szenen: die Personen, zu denen Mautz Kontakt hatte, und die alle Selbstmord begingen – die Eltern, das erste Mädchen, das er verführte, das Mädchen, mit dem er Liebe experimentieren wollte usw. –, treten inmitten von Mautz’ Erzählung als Widergänger auf und legen wie vor einem Gericht Zeugnis ab, ohne dass ein Dialog entstehen kann, der die verpassten Chancen einer Kommunikation nachholen würde. Oder es wird ein fiktiver, ad absurdum geführter Dialog eingeblendet, z.B. wenn Mautz den Laden evoziert, an dem er jeden Tag zur selben Zeit vorbeiging und in dessen Schaufenster ein Mädchen saß.

»Mautz: […] Vielleicht war er eine Stunde später rappelvoll mit bosnischen Bauarbeitern, die Kaffee tranken und sich Gedichtbände schenkten. Bosnische Bauarbeiter 1: Darf ich dir, Jadomir, diesen Gedichtband schenken? 2: Da sag ich nicht nein. 1: Ich habe früher auch gedichtet. 11. Vgl. Jean-Louis Perrier:"Scènes contemporaines sur la place du village«, in: Le Monde vom 17.04.2003.

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Catherine Mazellier-Grünbeck: Polyphonie und Transformationen

2: Lass hören. 1: Die Mutter, eine alte Sau, ich haue ihr die Augen blau. Der Vater hurt fast täglich rum. Ich bring ihn mit dem Hammer um. 2: Ich liebe dich, Jadomir.« (M 50-52)

Der eingeschobene Dialog wird hier eindeutig weder zur Kommunikation zwischen den Figuren auf der Bühne noch zur Entwicklung irgendeiner Handlung eingesetzt, sondern fungiert bloß als groteske Einlage. • Zweitens wird der Dialog durch einen Diskurs verdrängt, eine Tendenz, die Andrzej Wirth schon 1980 bei den Brecht-Nachgeborenen Peter Weiss, Heiner Müller, Peter Handke oder Robert Wilson verzeichnete12. In Mautz’ Bericht ist ein Diskurs über den Menschen in seiner »Eindimensionalität«13, seine Angst vor dem Tod, sowie über den Verlust aller Illusionen zu hören. Aber dieser überindividuelle Diskurs selbst wird disqualifiziert, einerseits durch die zyklische Struktur des Stückes, andererseits durch den Gestus des Sicht-nicht-Ernst-Nehmens. • Drittens wird das Willkürliche der Sprache als Konstrukt durch Gottes Stimme aus dem Off betont, insofern Gott am Anfang des Stückes in einem parodierten »Prolog im Himmel« dank der Belebung der Floskel »Gott, ist das eine Hitze« zur Figur wird und das Wort ergreift: »Ja, die ist mir gelungen« (M 28). Und das Wort ward Fleisch. Der grundsätzliche Egoismus der Hauptfigur lässt keinen Dialog zu und kann sich nur im Selbstgespräch äußern. Damit wird auch die Überlegenheit des Menschen gegenüber anderen Wesen in Frage gestellt, was bereits im Personenverzeichnis angedeutet ist. Denn zu den ›dramatis personae‹ zählen Tiere, darunter nicht nur die Kakerlaken, sondern auch der Hund, den Mautz als Kind besaß und misshandelte, was ihm der Hund rückblickend übel nimmt: 12. Andrzej Wirth: »Vom Dialog zum Diskurs«, in: Theater heute 1/1980, S. 19: »Dialoghermeneutik (Dialoggestaltung und Dialogverstehen) ist nicht mehr der Schlüssel zum Begreifen der Bezeichnungsstrukturen des neuen Theaters. […] Und es scheint nur so, daß die Bühnenfiguren in diesem dialoglosen Theater sprechen. Es wäre richtiger, zu sagen, daß sie von dem Urheber der Spielvorlage gesprochen werden oder daß das Publikum ihnen seine innere Stimme verleiht.« 13. Die Erwähnung der »menschlichen Eindimensionalität« (M 48) ist wohl eine beiläufige Anspielung auf Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt a.M. 1967.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

»Hund: […] Auch fand ich es nicht sehr förderlich für unsere Beziehung, dass er mir wiederholt Wunden zufügte, um deren Heilungsprozess zu beobachten, oder mich heilte, um danach eine Art hündische Liebe herzustellen. Nein, ich muss sagen, ich habe mich mit ihm nie sehr gut verstanden.« (M 38)

Diese Umkehrung der Perspektive birgt dasselbe satirische Potential wie Nietzsches Urteil aus der »Fröhlichen Wissenschaft« (§ 224): »Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat […]«14. Die Umwertung aller menschlichen, bzw. tierischen Werte betreibt Sibylle Berg systematischer in früheren Stücken, wie in Hund Frau Mann (UA Theater Rampe Stuttgart, September 2001) und in Helges Leben (UA Schauspielhaus Bochum, Oktober 2000), wo zwei Tiere, ein Herr Tapir und dessen Frau Reh, zur Unterhaltung einem gewöhnlichen Menschenleben zuschauen und dabei Froschlaichcrackers knabbern, sich langweilen, skurrile Sketches spielen oder die menschlichen Illusionen ins Lächerliche ziehen, denn die Tiere stellen hier eine höhere Entwicklungsstufe dar: das Wort ›Liebe‹ kommt in ihrem Wortschatz nicht vor. Franz Wille nennt das »posthumanes Theater«15. Problematisch beim Menschen sei eben der unangemessene Anspruch ans Leben, so die Tiere. Aber entsprechen Mautz’ Warten am Café-Tisch und seine Hoffnung, es geschehe etwas Außerordentliches nicht den Erwartungen der Theaterbesucher, die hier eine Fabel erhoffen, einen Höhe- oder Wendepunkt vielleicht, bei dem sie – metaphorisch gesprochen – den roten Hebel ziehen könnten?

Das Prinzip Variation oder »Alles ist möglich, aber es ist auch egal« Dass Situationen und Themen von einer Textgattung in die andere »wandern« und variiert werden, wurde bereits festgestellt. Die Variation erscheint aber auch grundsätzlich als dramaturgisches Struktur-Prinzip bei Sibylle Berg16. 14. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Bd V, Stuttgart 1965, S. 169. Nietzsche sowie Schopenhauers Pudel tauchen im Gespräch der Kakerlaken auf (M 44). 15. Franz Wille: »Sibylle Bergs posthumanes Theater«, in: Theater heute 12/ 2000, S. 12. Die Überwindung des Bedürfnisses nach Liebe ist auch das Thema von Sibylle Bergs Stück Das wird schon. 16. Vgl. Catherine Grünbeck/Hilda Inderwildi: »La mort, mode d’emploi ou les anti-héros de Madame Berg«, Vorwort zu S. Berg: Herr Mautz/ Monsieur M., S. 9-20.

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Catherine Mazellier-Grünbeck: Polyphonie und Transformationen

Da Mautz unfähig ist, ein herausragendes Erlebnis in seinem Leben zu finden, bieten ihm die Kakerlaken eine zweite Chance an. Dies ist an sich kein Novum in der Theatergeschichte. Die Vorstellung, alles noch einmal neu anfangen zu dürfen, von der Oberst Versinin im ersten Akt von Cechovs Drei Schwestern träumt, bildete den Ausgangspunkt für das bereits erwähnte Stück Biografie, in welchem der Registrator dem Professor Kürmann genehmigt, die Weichen für ein anderes Leben zu stellen, »aber mit der Intelligenz, die Sie nun einmal haben«17. Mautz wie Kürmann schaffen es nicht, aus ihrer Haut zu kommen, so dass es jedes Mal, mutatis mutandis, die gleiche Geschichte wird. Eine »Korrektur der Korrektur« (Thomas Bernhard) ist nicht möglich. Oder mit Frau Rehs Worten in Helges Leben: »Es kommt ja sowieso, was immer kommt«18. Mautz variiert diese Formel in dem Satz »Alles ist möglich, aber es ist auch egal« (M 56) und meint damit, das Erlebte sei immer die Variation eines Grundschemas. Daher wird alles Psychologische letztendlich sekundär. Wie sämtliche Figuren bei Sibylle Berg, die eben nicht als Protagonisten gelten können, ist Mautz ein »Mann ohne Eigenschaften«, ein anonymer »Monsieur M.«, wie ihn die französische Übersetzung nennt. Mautz bekennt: »Mich interessierten, wenn überhaupt, Menschen, die ohne jede Eigenschaft schienen.« (M 52) Genauso wenig lässt Frau Berg ein psychologisches Theater gelten, dem sie über ihr dramatisches Sprachrohr eine Absage erteilt: »Wie gesagt, ich dachte nie darüber nach, was andere Menschen für Motive für ihr Handeln haben« (M 64). Wozu also noch Theater schreiben und spielen, wenn alles ›egal‹ ist, wie im Stück nahe gelegt wird? Ist der Autor ein ›Schöpfer‹? Der Anfangssatz »So, da wären wir« ist eine geläufige Redensart, zugleich aber wird der deiktische Gestus des Hier und Jetzt durch den Gebrauch des Konjunktivs, des Potentiellen also, des Experimentierens mit Menschen und mit Texten ironisiert. Der Status des Autors – bzw. hier der Autorin – ist fragwürdig: er schafft und manipuliert einen Erzähler, der selbst wie ein Puppenspieler – Sibylle Bergs erster Beruf – Figuren manipuliert, Geschichten ausprobiert, aber seine Autorität wird von den Kakerlaken immer heftiger bestritten, da der Patient nur Banales zu berichten hat. Es fehlt ein Bewusstsein, ^

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17. Max Frisch: Biografie, S. 30. Diese Problematik ist schon in Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein zu finden, Frankfurt a.M. 1964, z.B. S. 23: »Ich probiere Geschichten an wie Kleider!«, oder S. 54: »Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, sage ich, oder eine ganze Reihe von Geschichten«. Ein Ausprobieren der Alternativen und ihrer Konsequenzen bildet Sibylle Bergs Novelle Zweimal in: S. Berg: Das Unerfreuliche zuerst, S. 155-168. 18. Theater heute 12/2000, S. 61.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

das die verschiedenen Erfahrungen zu einem einheitlichen Ganzen verbinden würde19. Das Publikum hat es hier mit einem Experimentator zu tun, der denselben Stoff vielfach variiert und die potentiellen Schicksale auf der Bühne zu Fleisch werden lässt. Von einem ›sprachlosen Drama‹ kann also bei Sibylle Berg nicht die Rede sein. Im Gegenteil ist Herr Mautz ein beredtes, ja zuweilen geschwätziges Drama, das hinter der Überfülle der Worte die Leere ahnen lässt. Die Subversion der überkommenen dramatischen Kategorien, zu dem die Anwesenheit des Erzählers beiträgt, erfährt selbst eine Transformation, insofern dieser Erzähler eben durch das Scheitern seiner erschaffenen Figur Mautz dem Untergang geweiht ist. Das Prinzip der Variation durchzieht Herr Mautz sowie die übrigen Texte von Sibylle Berg, in denen das Leben als ewige Wiederkehr des Gleichen verstanden werden kann. Das gehört wohl zur »Plaisir du texte«, einer Lust, die, so Roland Barthes20, auf Wiederholung der immer wieder gleichen und doch differenten Themen und Ideen beruht. Es wäre dann auch eine mögliche Antwort auf die gestellte Frage »Wozu Theater, wenn alles ›egal‹ ist?« Über den lustigen oder irritierenden Zynismus hinaus zeigt Herr Mautz, dass Theater ein Experimentieren mit Tod und Leben ist, sowie die Möglichkeit, sein Leben neu zu spielen – »und das Warten, dass noch Wunder geschähen« (M 28). Schreiben und Theater spielen sind eine Art, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, davon abzulenken, oder wie es die Kakerlaken zu Wort bringen: »Die schweifen doch immer ab./Zeit-Schinden ist das!« (M 48).

Literatur Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974. Beckett, Samuel: Das letzte Band. Krapp’s Last Tape. La dernière bande, Übers. Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt a.M. 1974. Berg, Sibylle: Ende gut, Köln 2004. Berg, S.: Helges Leben, in: Theater heute 12/2000. Berg, S.: Herr Mautz/Monsieur M., übers. Silvia Berutti-Ronelt und Laurent Hatat, PUM (›Nouvelles Scènes – Allemand‹), Toulouse 2004. Berg, S.: Das Unerfreuliche zuerst. Herrengeschichten, Köln 2001. Bernhard, Thomas: Ritter, Dene, Voss, Frankfurt a.M. 1984. 19. Vgl. dazu im vorliegenden Band Kerstin Hausbei: »Vorher/Nachher: Zapping als Revival der Revueform«. 20. Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974.

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Catherine Mazellier-Grünbeck: Polyphonie und Transformationen

Frisch, Max: Biografie: Ein Spiel, Frankfurt a.M. 1967. Frisch, Max.: Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt a.M. 1964. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt a.M. 1967. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. V, Stuttgart 1965. Perrier, Jean-Louis: »Scènes contemporaines sur la place du village«, in: Le Monde vom 17.04.2003. Wille, Franz: »Sibylle Bergs posthumanes Theater«, in: Theater heute 12/ 2000, S. 12. Wirth, Andrzej: »Vom Dialog zum Diskurs«, in: Theater heute 1/1980, S. 16-19.

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Christian Klein: Identitätsproblematiken bei Fritz Kater

Identitätsproblematiken in Fritz Katers zeit zu lieben zeit zu sterben Christian Klein

Im Programmheft des Nationaltheaters in Weimar zu der Aufführung von zeit zu leben zeit zu sterben (Pr. 30. 04. 2004, Regie Olaf Hilliger) heißt es: »Fritz Kater Geboren 1966 in Bad Kleinen (Mecklenburg-Vorpommern). Umzug nach Ost-Berlin, dort Schule (Abitur), anschließend Wehrdienst in der NVA. Lehre als Fernsehmechaniker abgeschlossen. Arbeit mit freien Theatergruppen im kirchlichen Bereich. 1987 Ausreise in die BRD. Gelegenheitsarbeiten als Kellner, Regieassistent, Taxifahrer in Bayern. Erste Schreibversuche. 1990 Rückkehr nach Berlin. Ständiger Mitarbeiter einer Firma für Design-Controlling in Berlin-Moabit. Seit 1990 schreibt Fritz Kater Stücke. Verheiratet, drei Kinder.«

Wer sich mit dem Dramatiker Fritz Kater beschäftigt, bekommt meistens diese Biographie zu lesen. Diese Identität ist aber erfunden. Fritz Kater ist ein Pseudonym für den Schriftsteller Armin Petras. Die Biographie des Schriftstellers Armin Petras weicht von der Fritz Katers ab. Armin Petras wurde 1965 in Meschede im Hochsauerlandkreis – d.h. im Westen und nicht im Osten – geboren. 1969 zog er mit den Eltern in die DDR. Seine Ausbildung am Regieinstitut »Ernst Busch« in Berlin wurde durch seinen Wunsch, in die BRD auszureisen, unterbrochen. Trotzdem inszenierte er 1987 noch die Uraufführung von Heiner Müllers Wolokolamsker Chaussee am Kleist-Theater in Nordhausen. 1988 zog er in den Westen um. In den folgenden Jahren schien Petras überall zu sein: er inszenierte im Frankfurter Theater am Turm, an den Münchner Kammerspielen. Von 1997 bis 1999 war er Schauspieldirektor in Nordhausen. Ab 75

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(Post-)Dramatische Standpunkte

1999 am Staatstheater in Kassel, dann in Hannover und Hamburg. Seit der letzten Spielzeit leitet Petras das Maxim Gorki Theater in Berlin. Seine Klassiker-Inszenierungen (Schiller, Lessing, Kleist) endeten oft mit einem Skandal: Türenschlagende Zuschauer und erboste Kulturdezernenten, Abo-Kündigungen. Alle zwei Jahre musste er die Stadt wechseln. Zwei Biographien also für denselben Mann. Man denkt an die Worte einer männlichen Ich-Instanz in dem Stück von Heiner Müller – einen Autor, den Petras gut kennt: »Soll ich von mir reden Ich wer Von wem ist die Rede wenn Von mir die Rede geht Ich wer ist das«1

Von 2001 bis 2003 schreibt er eine Trilogie, die er am Thalia Theater Hamburg aufführte: Vineta (2000)2 wurde 2002 zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen, zeit zu lieben zeit zu sterben (2001)3 bekommt 2003 den Mühlheimer Dramatikerpreis, WE ARE CAMERA/Jasonmaterial (2002). Seine Stücke konzentrieren den Blick auf den Osten Deutschlands, auf die »Verlierer« der Geschichte. Sie berichten über Identitätsschwierigkeiten, über Scheitern und Verletzungen, über schwierige Liebesgeschichten und Familiendramen, Stücke die auch einen Lebenshunger unverkennbar durchblicken lassen. Als Autor und als Regisseur ist Armin Petras/Fritz Kater heute einer der produktivsten und stilbildenden Theatermacher. Für mich, erklärte er in einem Gespräch, bedeutet Theater, »die Chance, Haltungen permanent zu wechseln, so dass immer wieder Brechungen entstehen.«4 Das 2. Stück der Trilogie zeit zu lieben zeit zu sterben wurde im September 2002 von Armin Petras am Hamburger Thalia Theater uraufgeführt. Dargestellt wird eine ›lost generation‹ in der DDR der 70er und 80er Jahre. Das dreiteilige Stück beginnt mit einer ›Monologie‹ aus 19 lakonischen ›Bildern‹, die im gedruckten Text wie Notate aus einem Tagebuch klingen. Als der Vorhang hochgeht, steht die Bühne in Rauch und Nebel gehüllt. 1. Heiner Müller: »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«, in: ders.: Herzstück, Berlin 1983, S. 98. 2. Ring-Uraufführung 18. 5. 2001, Schauspiel Leipzig, Regie Markus Dietz. 3. Uraufführung 19. 9. 2002 Thalia Theater Hamburg, Regie Armin Petras. 4. »Das Glück ist doch wahrlich nicht immer lustig«, Armin Petras im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt: Neues Deutschland vom 03.05. 2001, S. 10.

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Christian Klein: Identitätsproblematiken bei Fritz Kater

Während der Nebel sich verzieht, tauchen sieben Figuren aus den Schwaden der Vergangenheit auf, im Kreis sitzend, wie Gestalten aus ferner Zeit. Sie kichern, quatschen, brüllen, reden. Junge Menschen zwischen 16 und 18 Jahren, die eine Jugend heraufbeschwören. »wir treffen uns zu meinem geburtstag bei mario der schon eine eigene wohnung hat yvette kotzt ins waschbecken neben ihr steht eine leere flasche johnnie walker eigentlich wollte sie die mir schenken aber aus trauer über den tod von bob marley hat sie die flasche geköpft mario sagt no woman no cry und ich frage wolf bedeutet das daß man einer frau sagt weine nicht oder daß es eher heißt keine frau – keine scherereien.«5

Das Theater von Kater wird zu dem Ort einer Narration, wo die persönliche Erinnerung einer kaum identifizierten Figur, hier eine männliche Ichperson »zur Hauptsache wird«6. Hier liegt keine Episierung fiktionaler Vorgänge vor, sondern die »Mitteilung einer persönlichen Erfahrung«.7 Fehlendes Personenverzeichnis und fehlende Rollenzuweisung und die chorische Darbietung der Einzelbilder heben jedoch die autobiographische Dimension auf und bilden ein Kollektiv mit wechselnden Stimmen: die Ichperspektive verbindet die verschiedenen Episoden, um ein Panorama der DDR-Jugend zu gestalten. »wolf und ich sitzen im wernesgrüner keller wir trainieren trinken wolf hat einen taschenrechner besorgt wir tippen erst die anzahl der biere ein dann wie viele davon wir auf ex getrunken haben an unserem tisch sitzt ein ausländer mit einem nadelstreifenjackett das an der schulter mit rotem bindfaden gestopft ist er sagt daß er chilene ist und in holland flöte studiert er will auch hier mit dem flötenspiel bezahlen das geht überall in der welt hier geht es nicht sagt wolf er bekommt ärger und wir bezahlen sein bier« (58)

Die knappen Aufzeichnungen knüpfen an die Tradition der Anekdote an. Bei den Griechen warf Prokop in seinen »Anecdota« einen Blick hinter die Kulisse der offiziellen Geschichtsschreibung und gab die Geheimgeschichte des dekadenten und frivolen Hofs Justinians heraus. Die so genannte 5. Das Stück erschien mit anderen Texten als Buchpublikation in der Reihe Dialog, Fritz Kater: Ejakulat aus Stacheldraht, Theater der Zeit, 2003, S. 205-238. Zitiert wird jedoch im Folgenden aus der Erstveröffentlichung in:Theater Heute 2002/ 12, S. 57-64. 6. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 196. 7. Vgl. ebd. S. 197.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

»antike Anekdote« zeigt in einer kurzen Geschichte, die Menschen »in einer bestimmten Situation, die auf eine geschlossene Äußerung hinausläuft«.8 Die Anekdote gibt das Gewichtige, Grundsätzliche, Repräsentative auf und schildert detailfreudig das Private, Triviale, Unverbindliche.9 Im postdramatischen Theater von Fritz Kater wird das Theater »als Situation akzentuiert – nicht als Fiktion«10. Der darstellende Aspekt und die dramatische Handlung treten zurück. Die Konfrontation eines Individuums mit einem Kollektiv, wie Volker Klotz die »offene Form« des Dramas definierte, findet hier nicht mehr statt und das Wechselverhältnis Individuum/Kollektiv wird einfach vergessen. »Ich stand zwischen marion und anja an der absperrung strausberger platz die großen limousinen tschaikas und tatras waren noch nicht in sicht beide hatten sie sich bei mir eingehakt untergehakt ich hatte extra meinen grünen kordanzug angezogen du wirst mal ein schöner mann werden wenn du erwachsen bist sagte anja […]« (57)

Mit dem historischen Kolorit wird ein Rahmen gegeben: die Welt der Erwachsenen, der politischen Prominenz, fährt an ihnen vorbei, der junge Icherzähler trägt statt der Uniform der Pioniere einen »kordanzug«. Als der Zug der Persönlichkeiten der Politik und der Wirtschaft vorbei ist, steht er da in seinem durchnässten neuen Anzug: »[…] und klatsch machte ein nachzügler mz motorrad durch eine pfütze und mein neuer anzug war hin«

Am Boden liegen »die papierfähnchen«, vergessene und zertretene Spuren eines entfremdeten Regimes. Die ostdeutsche Jugend, an diesen Jugendlichen exemplifiziert, schaut unbeteiligt zu und wendet sich wieder ihren Alltagssorgen zu. In Zeit zu lieben Zeit zu sterben sprechen die anwesenden Figuren zum Teil im Turnus, oft im Chor. Ihre Themen sind die Themen aller Jugendlichen: Schule, Sex, Bier, Fußball, Ferien im Ausland. Die Eltern sind an dem Wochenende weg, oder die Väter sind in den Westen »abgehauen«11. In Anlehnung an frühere Stücke mit einer ähnlichen Problematik, wie 8. W. Grenzmann: Anekdote, in: Reallexikon der dt. Literaturgeschichte, 1958, Bd 1, S. 62-67. 9. Rudolf Schäfer: Die Anekdote. Theorie-Analyse-Didaktik, 1982, zit. in Heinz Grothe: »Anekdote«, Stuttgart 1971/1984, S. 8. 10. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 230. 11. Das Stück ist »Jimmi dean und den anderen ohne vater« gewidmet.

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Christian Klein: Identitätsproblematiken bei Fritz Kater

Wedekinds Frühlingserwachen oder Fegefeuer in Ingolstadt von M.-L. Fleißer, gibt es eigentlich keinen offenen Generationskonflikt: die Jugendlichen sind mit ihren Wünschen, Fragen und Ängsten auf sich gestellt. So bietet der Autor eine Vielzahl von Figuren auf, ohne dass sich Einzelfiguren entwickeln können: Einzelschicksale treten blitzartig auf und ab. Der Text setzt im epischen Präteritum ein und geht dann ins Präsens über, um Jugenderinnerungen zu ver-gegenwärtigen. Eine junge männliche Figur fokussiert dieses mosaikartige Panorama: die vielen Mädchenfiguren werden wie Puppen von ihm bestellt, er schildert sie rein anatomisch: kathrin »ist klein und hat kleine Brüste«, eine andere »hatte Brüste die grösser waren als die aller anderen«, oder »sehr hübsche Sommersprossen«. Nur die Mädchen scheinen Gefühle zu haben. Es wird wenig geliebt und viel geschlafen: der Sexualverkehr kommt einer männlichen Bewährung gleich. Der Chor verknüpft als Kollektiv die verschiedenen Bilder zu dem Gesamtbild »einer Jugend«. Eine Welt entsteht mit dem Bier als Maß oder Währung, als Bewährung für Männlichkeit, als Herausforderung, als Identitätsnachweis. Auch die Musik hat eine starke identitätsstiftende Rolle: die Figuren entwickeln eine Gegenkultur in einem Staat, wo Jazz, Rock und Pop als die Musik der westlichen Dekadenz verboten blieben.12 Ausgerechnet diese verpönte Musik wird in dem Stück von diesen jungen Menschen gesucht und geliebt: man tanzt zu einer Platte der Doors, oder zu »sweet child [in] time« von Deep Purple, Wolf hat sein eigenes Rocklexikon geschrieben. Man trifft sich nach einem »rockkonzert«, und trauert um den Tod von Bob Marley. Der kundige Zuschauer kann an den angeführten Songs ein unterschwelliges Zeitmaß rekonstruieren: auf »sweet child [in] time« (1972), folgt der Tod von Bob Marley (1981). Aber die evozierten Lieder entsprechen dem Lebensgefühl der Beteiligten. Liest man die Texte, die nur lakonisch mit ihrem Titel erscheinen, nach, erscheint deutlich das Bild einer Gesellschaft, die in Gute und Böse, in Heuchler und ehrliche Leute gespalten ist. Außer diesen englischen Songs wird auch Christian Morgenstern vertont. Obwohl Morgenstern im Mainstream der DDR-Kultur angesiedelt war, bleibt er also eine Alternative zur Vorherrschaft einer politisch besetzten Songbewegung. Wie stark Identität durch Musik bestimmt wird, zeigt sich auch an dem 12. Volker Brauns Gedicht »Jazz« (1965) passte absolut nicht in die offizielle Kulturpolitk. Hans Koch attackierte öffentlich Brauns Metaphorik über die Jazzimprovisation, wo »das Klavier den Kadaver Gehorsam« seziert, und das »Saxophon die Fessel Partitur« zersprengt, und wo dadurch neue Freiheitsräume geschafft werden, indem »jeder sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema« spielt. Ein solches Selbstgefühl erschien der politischen Macht als maßlos und übersteigert. Vgl. Volker Braun: Provokation für mich, Halle 1967, S. 18.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Beispiel eines Vaters, der ein depressiver Hornist ist und zu Hause nur »peter alexander hört«. Die westdeutsche Schnulze desavouiert eine ganze Vätergeneration.

Zeit zu lieben … 2+3 In dem zweiten Teil finden ein Personen-, ein Themen- und ein radikaler Stilwechsel statt. Die Ichperspektive ist verschwunden. Dieser Teil besteht aus 19 Sequenzen. Es sind vorwiegend dialogische Szenen, die von kurzen epischen Prosasegmenten ergänzt werden. Die zeitliche und räumliche Verortung bleibt unbestimmt, aber einige Indizien lassen vermuten, dass sich das Geschehen von 1968 bis 1987 in der DDR mit teils starken Zeitraffungen (12 oder 7 Jahre) abspielt, so dass die 19 ›Bilder‹ den Verlauf von genau 19 Jahren bis kurz vor der Öffnung der Grenze umfassen, was auch die Zeit des Heranreifens/-wachsens eines Menschen darstellt, der zu Beginn 5 Jahre und am Ende 25 Jahre alt ist. Interessant erscheint, dass diese Eckdaten biographischen Wendejahren von Armin Petras entsprechen: 1969 geschah das ungewöhnliche Faktum, dass die Eltern von Armin Petras mit ihren Kindern aus dem Westen in die DDR übersiedelten. 1987 stellte der 23 Jahre alte Petras/Kater einen Ausreiseantrag und zog in die BRD. Immer wieder erweist es sich, dass entgegen einem ersten Eindruck der chaotischen Anordnung des Textes ein starker Formwille vorhanden ist, der zum Teil von einem symbolischen Denken getragen wird. Dazu kommt die Zahlensymbolik: 19 Sequenzen decken 19 Jahre, die verlassene Mutter bekam »vor sieben Jahren« eine Karte von ihrem Mann aus Australien, oder »sieben Jahre« verstreichen zwischen der vorletzten und der letzten Szenen. Dieser Teil des Stückes steht ganz unter dem Zeichen der Familie. Heißt es im Familiengesetzbuch der DDR (1965), dass die Familie »die kleinste Zelle der sozialistischen Gesellschaft« sei und die Familie als Vermittlerin der Werte der sozialistischen Moral, wie Ordnung, Verantwortungsbewusstsein, Solidaritätssinn usw. agieren solle, zerbricht diese ausgerechnet zu Beginn des neuen Teils: »im radio hört man rockmusik der sechziger Jahre und einen englischen sprecher mitunter ist von panzern die rede einmal fällt der namen eines mannes der getötet wurde die eltern streiten sich unten wartet onkel breuer im auto es ist mal wieder weihnachten gewesen irgendwo liegen zerfetzte geschenkpapiere aber papa wäre ihnen lieber Vater: ich nehme ralf mit Mutter schreit zurück: niemals

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vater rennt zur tür kommt zurück die kinder stehen im flur die frotteeschlafanzüge sind schon wieder zu klein sie sind müde peter hält sich an ralfs hand fest er ist ja erst 5 vater küßt beide jungs und mutter weint gleich geht das auto onkel breuer hupt und hupt vater muß sich beeilen er weint jetzt auch aber das hilft nichts vater läuft runter vors haus und ruft: ich hole euch nach hunde die hinter autos herlaufen« (60)

Kater verbindet hier in einem Atemzug – und mit verblüffender Lakonik – politische und private Konflikte, die Panzer in Prag und das Wohnzimmer irgendwo in Ostdeutschland. Die Eheszene enthält durch den bewaffneten Konflikt in Prag, bei der es Tote gibt, eine besondere Resonanz. Privates findet im öffentlichen, politischen Raum statt. Die Szene protokolliert einen »Strom« von Erlebnissen aus der Perspektive eines fünfjährigen Kindes. Die Interpunktionslosigkeit schafft eine atemlose Aneinanderreihung von Bewusstseinsinhalten, die Aktionen, Beobachtungen, Empfindungen gleichsetzt und die Unterschiede zwischen Dialog, Erzählerbericht, Beschreibung und Wunschbildern aufhebt. Dieses Verfahren verweist auf die filmische Technik der Montage disparater Sequenzen.13 Der Schluss-Satz »hunde die hinter autos herlaufen« blendet eine Filmszene ein, die auf eine Leinwand hinter oder neben der Bühne projiziert werden soll. Diese visuelle Dramaturgie14 ist dem Text nicht untergeordnet, sondern löst den narrativen Diskurs ab und schafft einen Verdichtungspunkt der Wahrnehmung jenseits jeder Syntax und jeder narrativen Logik. Wie im Traum findet eine visuelle Ausdrucksverschiebung statt. Der Zuschauer soll hier die Melancholie eines (anonymen) Subjektes nachempfinden. Der ›Plot‹ des zweiten Teils von zeit zu lieben zeit zu sterben lässt sich so zusammenfassen: »Eine Jugend- und Familiengeschichte irgendwo im Osten vor der Wende Der Vater muß fliehen, die Mutter bleibt mit den zwei Söhnen alleine zurück. Bis Onkel Breuer, der Fluchthelfer des Vaters aus dem Knast kommt und den Ersatzvater spielt. Ralf, der ältere Bruder, träumt von einem Medizinstudium; Peter, der jüngere, ist schüchtern,

13. Diese medial geprägte Ästhetik Katers (siehe Filmtitel we are camera) findet man auch bei Ulrike Syha (Vgl. den Beitrag von Hilda Inderwildi Beitrag über die »Roadmovie«-Blenden) oder in der Zapping-Ästhetik von Roland Schimmelpfennigs Vorher/Nachher (Vgl. den Beitrag von Kerstin Hausbei). 14. H.-Th. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 158ff.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

und verpaßt deshalb seine Chance bei der koketten Adriana. Als Adriana sich dann mit Ralf einläßt, muß Peter furchtbar leiden.«15

Bei genauerem Hinsehen verliert die ereignisarme Familiengeschichte ihre Banalität. Der Onkel hatte dem Vater bei der Republikflucht geholfen, er wurde aber verhaftet und kommt genau… zwölf Jahre später zurück. Der ehemalige Fluchthelfer des Vaters nimmt den frei gelassenen Platz bei der Mutter ein, was an die Hamlet-Konstellation erinnert: die Aufspaltung der Vaterfigur in dem Stück von Shakespeare, wo der (geliebte) Vater vom eigenen Bruder ermordet und im Bett der Witwe abgelöst wird, wirkt hier – allerdings ohne den Mord – weiter. Die dramatische Kollision mit dem Rachedrama im elisabethanischen Zeitalter findet bei Kater jedoch nicht statt. Beide Figuren, Vater und »Onkel« Breuer, haben bei Kater das gleiche Schicksal: Rebellion, politische Verfolgung, längere geographische Entfernung, Liebe zu der gleichen Frau. Die Differenzmerkmale fallen umso deutlicher auf: der Vater verließ die Republik illegal und hinterlässt eine zerrissene Familie, die Rückkehr ist für ihn ausgeschlossen. Der »Onkel« (Bruder oder enger Freund) blieb in der DDR und wurde verhaftet. Nach der Freilassung meldet er sich und kittet die zerrissene Familie neu. Er wird von den Jungs akzeptiert unter der Bedingung des Jüngeren, dass »er sich nicht einmischt«, dass der Sohn rauchen und Mädchen mitbringen darf, und in der Hoffnung des Älteren, dass er nun eine neue Chance bei der Aufnahmeprüfung für ein Medizinstudium bekommt. Fliehen oder bleiben: der eine verschwindet, der andere bleibt. Der eine verlässt Ehepartner und Kinder, der andere übernimmt die Unterhaltspflicht. Der eine überlässt die Familie dem strafenden Staat, der andere sorgt für die Wiederaufnahme der Familie in die Gesellschaft. In seinem »Psychogramm der DDR« untersuchte der Chefarzt der psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle, HansJoachim Maaz, das »Ausreisesyndrom«. Wenn Maaz viele Gründe erkennt, dieses Land zu verlassen, wie »Kränkungen und Demütigungen« und politische und weltanschauliche Verfolgung aller Art, meint er doch, dass privates Unbehagen, Schuldgefühle für Unbehagen, Stagnation, Konflikte dem Gesellschaftssystem angelastet wurden, um die eigenen Probleme abzuwehren. Die Beziehungsstörungen, fügt dann Maaz hinzu, blieben »nicht selten« eine »entscheidende Ursache«. Hinter der Fassade kamen

15. Christine Dössel über die Uraufführung von zeit zu lieben zeit zu sterben durch Armin Petras am Hamburger Thalia Theater, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.9.2002.

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»Rachegedanken wegen ungenügend erfüllter Annahme und Bestätigung und Fluchtwünsche vor notwendiger Auseinandersetzung zum Vorschein, die aber wegen der Angst und Gehemmtheit nicht auf direkte Weise auszutragen gewagt wurden. Die Ehepartner wurden so Opfer unbewältigter innerseelischer Probleme, die ehemals mit Vater und Mutter zu tun hatten und jetzt auf diese tragische Weise ausagiert wurden.«16

Andererseits, diejenigen, die bleiben wollten, »konnten andere Gründe im Durchhalten verbergen«: »Der Edelmut und die Selbstverständlichkeit, mit der manche unbedingt in der DDR bleiben wollten und eine Fluchttendenz kategorisch verneinten, war auffällig. Dabei drückte das Hierbleiben mitunter auch eine Scheu vor dem Risiko, vor dem Unbekannten und vor Veränderungen aus. In der familiären Situation der Ausharrenden waren Trennung, Abschiede und häufig sogar Reisen mit angstvollen Reaktionen verbunden, in denen sich häufig sehr frühe Verlassenheitserfahrungen phobisch artikulierten.«17

Die zwei Schicksale des »Republikflüchtigen« (Vaters) und des Durchhaltenden (Onkels) exemplifizieren zwei Alternativen. Beide rebellierten und mussten die Konsequenzen tragen. Nach zwölf Jahren »Reinigung« im Gefängnis (so Onkel Breuer) predigt der gerade entlassene Onkel nun dem Halbwüchsigen Peter die Resignation und die Anpassung. Er gibt ihm folgenden Rat: »ich hab nur ein einziges mal die fresse aufgemacht nur ein einziges mal wollte ich sagen daß ich eine andere idee vom leben habe aber es bringt nichts… du mußt einverstanden sein mit der welt in der du lebst… sonst ist sie mit dir nicht einverstanden hast du das verstanden… versuche die dinge zu akzeptieren in der liebe wie im leben«. (61)

Wenn man bedenkt, dass dieses Gespräch in der 10. Szene, d.h. genau an zentraler Stelle stattfindet, und dass Adriana – namensgleich mit der Figur aus der Komödie der Irrungen von Shakespeare mit Zwillingen und Verwechslungen – die von Peter begehrt wurde ihn und öffentlich verschmähte, eine Liebesbeziehung zu Peters Bruder in der gleichen Szene beginnt, wird deutlich, dass diese zweite Figurenkonstellation der Jugendlichen mutatis mutandis die erste Konstellation der Erwachsenen reproduziert. Die Jugendlichen wollten im ersten Teil des Stückes auch »anders leben« – mit westlicher Musik, freier Liebe, Alkohol und Partys – aber bevor dieses 16. Hans-Joachim Maaz: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1992, S. 123-132, (S. 129). 17. Vgl. ebd. S. 130.ss

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(Post-)Dramatische Standpunkte

»Andersleben« ausgelebt werden kann, wird es durch das Beispiel des Onkels unterbunden. Die Identitätssuche, die Selbstbehauptung des Individuums verstößt gegen Regeln der Gesellschaft. Und es gibt keinen Ausweg: »aber weglaufen hilft auch nicht da wo du hinwillst haben sie schon die regeln vorgeschickt (Onkel Breuer)«. (61)

Und die Frauen? »die können wir nicht verstehen«, meint Onkel Breuer. Wenn die Entlassung des Onkels aus dem Knast einen heimlichen Wunsch nach der Rückkehr des vermissten Vaters erfüllt hatte, so setzt nun die Resignation des B(e)reuers jeder Hoffnung auf eine Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ein brutales Ende. Der zentrale Platz der Szene hat nichts mit einem pyramidalen Bauschema wie in der aristotelischen Dramatik zu tun. Es bedeutet kein Umschlagen der Handlung in ihr Gegenteil (Peripetie), sondern eher den Tiefpunkt einer Dramaturgie des Stillstands. Die Szene ist wie ein Kristallisationspunkt, von dieser Kernposition aus kontaminiert sie das ganze Geschehen. Fritz Kater stellt eine Konstellation der Väter her, die keine Vorbilder sein können. Der Mann der neuen Klassenlehrerin wird von seiner autoritären und linientreuen Frau … in seinem Zimmer eingesperrt. Er muss versprechen, dass er nie wieder … über die Landkarte der UdSSR auf dem Globus mit seinen Tränen »tropfen« wird, was als Blasphemie gilt. Die groteske Nebenhandlung zeigt einen zusammengebrochenen Mann, der kaum ein kathartisches Mitleid erregen kann. Der einzige Einzelgänger, der Schulfreund Dirk, der es mit den Mädchen »schafft«, und die Schulleitung unverfroren provoziert, simuliert in der vorletzten Szene einen Ausbruch mit Peter und Adriana in einer filmartigen Sequenz, wo sie mit Auto durch eine Theaterlandschaft »in unerhörte[n] Richtungen« fahren, nackt baden usw. Die »Flucht« erfolgt auf der Bühne der Phantasie. Der dritte Teil von zeit zu lieben zeit zu sterben schafft einen neuen Personal- und Perspektivenwechsel: ein längerer Prosatext als Er-Erzählung konzentriert sich auf eine unglückliche Ich-Du-Beziehung nach der Wende, im Westen, »600 kilometer von zuhause«. Er trägt den Titel eine liebe/ zwei menschen und den desillusionierten Untertitel gruppe; chor sind verschwunden oder können nicht mehr. Eine männliche Figur verliebt sich leidenschaftlich in eine Frau, die »halb deutsch halb ausländisch« ist und mit »ausländischen Kellnern ausländisch sprach«. Sie ist und bleibt das Fremde. Diese Geschichte ist von Anfang an durch die Perspektive des Verlustes geprägt. Im Auto versucht 84

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Christian Klein: Identitätsproblematiken bei Fritz Kater

der Mann die Frau im Rückspiegel zu sehen, es kommt zu einem Streit und zu einem Unfall: »sie schlug ihn auf die schulter der wagen kam ins schleudern und schlug auf eine mauer der mond war voll sie ließen alles so wie es war«. (64)

Da er sie anschaute, rannte er gegen die Wand, als wolle er – metaphorisch gesprochen – mit dem Kopf durch die Wand und Unmögliches schaffen. Mit dem Auto zerschellt die erste Schutzhülle, der »Panzer« (W. Reich18). Von da an ist er schutzlos dieser femme fatale ausgeliefert. Die Annäherungsversuche in dieser Liebesgeschichte sind immer verbunden mit physischen, sogar sexuellen Verletzungen. Die seelischen Verletzungen sind Erniedrigungen in Bezug auf seine Männlichkeit. Die »Windrose«, die sie ihm lachend mit Scherben in den Rücken einschnitzt, ist wie ein Brandmal. Die Geliebte trägt selber die gleiche Tätowierung, die die Orientierungslosigkeit, die Außerkraftsetzung aller Bindungen und aller Verortung in der Liebe symbolisiert: einmal hier, einmal dort, wie ein heimatloser Matrose. Ihr gemeinsames Schicksal ist das Wegsein, nicht das Dasein. Die männliche Figur hat eine Frau und ein Kind verlassen: »er besuchte sein kind und seine frau […] er erinnerte sich wie er bei der geburt gewartet hatte und dann diese augen die zum ersten mal diese welt sahen und dann wie aus schrecken daß man jetzt wirklich selber anfangen mußte mit dem leben« (64).

Die Familie hätte die Eingliederung in die Gesellschaft bedeuten können. Er verwirft diese Anforderung an ihn: die Rolle als Familienvater überfordert ihn. Aber auch die Beziehung zu der »fremden« Frau scheitert tragisch. Die Liebenden finden nicht den Weg zueinander. Die Geliebte weist ihn zurück und verabschiedet sich von ihm mit den Worten: »sie sagte […] ich weiß ich bin nicht normal aber du bist es auch nicht […] es hätte klappen können zwischen uns es gab schöne Momente/du bist nur ein bild das du nachahmst du brauchst immer jemand für den du leben kannst ein zweites gesicht brauchst du um dich zu beleuchten aber du mußt im dunkel leben lernen« (64).

Wie schließt Fritz Kater dieses Theaterstück ab? Das Stück zeit zu lieben zeit zu sterben weist eine spiralartige Gesamtkonzeption auf, bei wachsender Verengung der Perspektive. Am Ende des ersten Teils geht eine Gruppe von Jugendlichen auseinander. Im zweiten Teil zeigt der Schluss eine auseinander gebrochene und notdürftig gekitte18. Vgl. Wilhelm Reich: Charakteranalyse, Köln 1971, S. 424ff.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

tete Familie. Im dritten Teil gelangt eine unglückliche Liebesgeschichte an ihren Endpunkt. Dies sind jeweils die Endpunkte eines Kaleidoskops des Lebens und der Liebe. Der letzte Satz lautet zwar: »der Planet ist erloschen…« aber Katers Theater besitzt solch eine sprachlich in Lakonik gebändigte Kraft, dass sich sagen ließe eppur si muove, und er bewegt sich doch!

Literatur Braun, Volker: Provokation für mich, Halle/Saal, 3. Aufl. 1967, Grothe, Heinz: »Anekdote«, Stuttgart 1971/1984. Fritz Kater »zeit zu lieben zeit zu sterben« in: Theater heute, 2002/12, S. 57-64. Fritz Kater: »Ejakulat aus Stacheldraht« in: Theater der Zeit, 2003, S. 205238. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999. Maaz, Hans-Joachim: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1992. Müller, Heiner: »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«, in: ders.: Herzstück, Berlin 1983. Reallexikon der dt. Literaturgeschichte, 1958, Bd. 1. Reich, Wilhelm: Charakteranalyse, Köln 1971.

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Philipp Soldt: Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt

Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt. Einige Überlegungen zur Bildlichkeit unter gegenwärtigen Erregungsverhältnissen mit Anmerkungen zu Falk Richters System Philipp Soldt

1. Erregung statt Bedeutung – Die Transformation von Bildern zu Dingen Bilder sind unwiderstehlich geworden. Vor allem die technische Mobilität und Ortlosigkeit allgegenwärtiger audiovisueller Bilder erzeugt in unser aller Lebenswelten und Wahrnehmungsumgebungen einen Sog, dem sich zu entziehen schwer geworden ist. Der damit einher gehende Wandel der Erfahrungsgrundlage reflektiert sich nicht zuletzt im gegenwärtig in beachtlicher Rasanz sich entwickelnden interdisziplinären Projekt einer Bildwissenschaft, die sich angesichts jenes proklamierten Endes der Gutenberg-Galaxis dessen vergewissern will, was die Bilder ihrer Natur nach sind. Die modisch gewordene Rede vom iconic turn im Munde, ermangelt es diesem Projekt bisher leider weitgehend an einer Gesellschaftstheorie, die die allenthalben konstatierte Bilderflut mit dem gegenwärtigen Stand sozialer Prozesse und den derzeitigen Verhältnissen des Subjekts in Verbindung zu bringen wüsste. In seiner Philosophie der Sensation1 geht Christoph Türcke klug der 1. Christoph Türcke: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, München 2002.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Umwälzung der menschlichen Erfahrung nach, die die elektronische Revolution im Schlepptau hat. Unter der Bedingung des verschärften Kampfes um mediale Aufmerksamkeit finde eine Art physiologische Regression statt: Unser fein ziseliertes Nervensystem, menschheitsgeschichtlich langwierig eingerichtet zur Bewältigung traumatischer Reizgrößen, befinde sich unter Dauerbeschuss. Türckes Überlegungen über innere und äußere Bilder sind für die Frage nach der ästhetischen Erfahrung von großer Bedeutung, sie geben die Bedingung an, unter der ästhetische Erfahrung heute steht. Ihm zufolge sind mentale Vorstellungen gattungsgeschichtlich bereits Vorstellungen zweiten Grades: Das, was zunächst aus einer ungezügelten Welt auf den Mensch einwirkte, in ihn eindrang und nichts weniger als traumatisierend wirkte »ist durch rituelle Wiederholung bereits so weit heruntergespielt, in neuronalen Netzen so weit kanalisiert, dass es nicht mehr um jeden Preis aufgeführt werden muss. Es kann angedeutet, bedeutet, imaginiert werden. Die äußere theatrale Vorstellung verinnerlicht sich zu mentalen Vorstellungsbildern«.2

Innere Bilder begreift Türcke als lebendige Erregungsmasse in relativ fest vernetztem Zustand, eine Art wächsernes Fluidum, das noch jedes Denken unterfüttert und eine Art Schweif hinter jedem Gedanken herzieht. Intensive Reizgrößen sind durch die bildliche Vorstellungstätigkeit abgepuffert, schaffen damit den Boden, in dem Erregung zu Erfahrung sich wandeln kann. Mit der Revolution der technischen Produktion, Reproduktion, Distribution und Präsentation von Bildern werde dieser geistige Prozess gleichsam unter Starkstrom kurzgeschlossen. Bilder werden technisch isoliert, zugerichtet zu Anordnungen von Pixel, die dann jederzeit als Geschosse auf die Betrachter abgeschossen werden können. Türckes Rede von Bildschocks erinnert hier nicht zufällig an Walter Benjamin: »Die inneren, nicht festgestellten, gleichsam impressionistisch-flüchtigen Vorstellungsbilder werden von äußeren, festgestellten, scharf konturierten, knalligen derart dauerhaft überblendet und durchschossen, dass sie schließlich bleich und hinfällig werden – so abstrakt, dass sie sich nicht mehr selbst halten können und der äußeren als Stütze bedürfen. So gestalten die äußeren die inneren ›sich zum Bilde‹, wie der alttestamentliche Gott den Menschen«.3

2. Vgl. ebd., S. 289. 3. Vgl. ebd., S. 291.

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Philipp Soldt: Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt

Innere Bilder als subjektive Darstellungen geronnener Erfahrung muss sich das Subjekt machen, die äußeren Bilder, die mit Macht aufs Sensorium zielen, erzeugen in einem ganz wörtlichen Sinn eine Verdrängung. Und die Begriffe, die sich nur aus dem inneren Bilderfundus erheben können und gleichzeitig der Verbilderung notwendig bedürfen, werden bodenlos, bezuglos und kalt: »Sie halten es bei sich selbst nicht mehr aus und fliegen der geballten äußeren Bildmacht zu wie die Motten dem Licht«.4 Was Türcke konstatiert, ist – hier freilich nun ganz gegen den seltsamen Optimismus Walter Benjamins – eine Erosion der gattungs- und lebensgeschichtlich errungenen Erfahrungsschicht durch ein audiovisuelles Trommelfeuer. Jeder einzelne Sinn für sich wird separat stimuliert, und im Cyberspace sollen die ausgerechneten Einzelempfindungen wie zu einem ganzen Erleben wieder zusammentreten. Genau das Gegenteil ist aber der Fall: Wir haben es mit eingehenden Reizen, feuernden Neuronen, mehr oder weniger heftigen Empfindungen und reflexartigen Reaktionen zu tun. Der simultane multimediale Beschuss facht ein Strohfeuer an, und die Sinne werden zunehmend zu konditionierten Reflexen zurückgebildet: Sie verlernen gleichsam, ihre Empfindungen so zu bündeln, dass sie innere Vorstellungsbilder davon behalten. Die einzelne Empfindung hat nicht mehr das Bett, um sich darin niederzulassen, allererst leidenschaftlich zu werden und sich zur Erfahrung zu vereinigen – sie verpufft vielmehr zu einer Art diffus streunender und unzusammenhängender Erregung. Im Zuge der gewaltigen allgemeinen Transformation der Wahrnehmung zur Sensation, so Türcke, wird die kulturelle Rindenschicht unseres Nervensystems abgetragen, worin die Reize allererst sich zu inneren Bildern verwachsen und verweben konnten. Dies ist zunächst einmal eine Art Neurophilosophie des mentalen Bildes in historischer Perspektive, der eine entsprechende Tiefenpsychologie erst noch zur Seite zu stellen wäre. Das wäre möglicherweise das Zukunftsprojekt der Psychoanalyse. Aber klar ist vorher schon, dass jede kritische Medientheorie ihr sinnvolles Pendant in einer Theorie der Imagination haben muss: Was macht den von Türcke beschriebenen Bildschock genauer aus, was bewirken die äußeren an den inneren Bildern, wenn die »Gesellschaft des Spektakels« in unsere Tagträume dringt? Guy Debord spricht in seinem gleichnamigen Buch schon in den Sechzigerjahren eine äußerst wichtige Dialektik aus: »Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens«.5 An anderer Stelle heißt es ganz ähnlich: »Die Spezialisierung der Bilder der Welt 4. Vgl. ebd., S. 291f. 5. Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1967/1996, S. 19.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

findet sich vollendet in der autonom gewordenen Welt des Bildes wieder«.6 Das Problem der Bilder besteht nicht in deren ›Flut‹, wie es immer wieder heißt, wir haben es nicht mit einem Zuviel an Bildern zu tun, der Mensch ist von jeher ein Bilderzeuger, ein Homo Piktor. Diese Epoche zeichnet sich vielmehr durch eine Umwälzung der strukturellen Qualität der überwältigen Mehrheit der von ihr hervorgebrachten Bilder aus. Ihrer Natur nach sind Bilder ontologische Zwitterwesen: Sie sind Zeichen, verweisen damit auf etwas, was sie selbst nicht sind, auf etwas Abwesendes. Zugleich sind sie aber in der Tat dieses Abwesende immer auch selbst, sie sind sozusagen die anwesende Sichtbarkeit dieses Abwesenden. Auf das Abwesende wird verwiesen, es wird vorgestellt – im doppelten Sinn des Wortes. Gleichzeitig ist dieses Abwesende jedoch auch durch die sinnliche Schicht des Bildes hindurch präsent, kann augenscheinlich erlebt werden. In diesen Spalt von gleichzeitiger Ab- und Anwesenheit dringt die Imagination, die das Verlorene nach eigenen Belangen präsentiert, d.h. ja: präsent macht. Was nun, wenn Bilder unter der beschriebenen Ausgangslage aber diese wesensmäßige Zwieschlächtigkeit einbüßen, weil sie nämlich zunehmend ihres Zeichen- oder Verweischarakters verlustig gehen? Wir werden auf zermürbende Weise in unserem Wahrnehmungsfeld mit Präsentationen konfrontiert, die als Bilder erscheinen, es aber zunehmend nicht mehr sind. Das Darstellende, das ja im Fall des Bildes immer zugleich auch das Dargestellte selbst ist, ist nicht mehr eingewoben in ein Netz aus ikonischen Zeichen, mit deren Hilfe eine etwaige Bedeutungstiefe erst ausgelotet werden müsste/könnte. Aus Bildsymbolen werden Bildsignale. Diese Phänomene, die großflächig, hochglänzend und schnell geschnitten daher kommen, repräsentieren immer weniger, sie werden zu Quasi-Objekten der Befriedigung oder der Angst, sie verleugnen, dass sie nur Vorschein sein können. Dieser zu konstatierende Verlust des Zeichenstatus von Bildern lässt sich psychologisch als Nivellierung des hierarchischen Gefüges der psychischen Repräsentanzen darstellen. Die Vorstellungen sind tendenziell nur mehr noch auf einer Ebene miteinander vernetzt, der intentionale Zugriff von einem Oberhalb wird nicht mehr möglich. Damit wird Verhalten wesentlich affektgeleitet, bzw. primärprozesshaft. Das war nun eigentlich das typische Schicksal des Erlebens im Fall der Neurose: Punktuell zerbrechen unter einem tief aus dem Innern kommenden Konfliktdruck die Symbole des Subjekts, so dass bei bestimmten Triggern Verhalten nurmehr reflexhaft ausgelöst wird. Hier, unter der Bedingung einer gleichsam schockhaften postindustriellen Bildlichkeit, die Tür6. Vgl. ebd., S. 13.

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Philipp Soldt: Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt

cke treffend auch als Injektion charakterisiert, wird nun ganz Ähnliches von außen bewirkt. Auf diese strukturelle Entsprechung von Innen und Außen war schon vor über hundert Jahren Sigmund Freud gestoßen: Lange vor dem heute erreichten Ausmaß kulturindustrieller Befeuerung formulierte er seine Theorie der Traumatischen Neurose, die im heutigen medialen Alltag, in freilich milder Form, auf Dauer gestellt ist. Ein beständig überwertiges Erregungspotential suspendiert und zersetzt das in hierarchischen Stufen organisierte semantische Gefüge des Subjekts.

2. Die Ästhetische Erfahrung als Statthalterin der ikonischen Differenz Türcke selbst kommt am Ende seines Buches auf die Stellung der Kunst in dieser Lage zu sprechen, auf die Möglichkeit und Notwendigkeit avancierter Ästhetik unter der Bedingung einer fortgeschrittenen Ausbeutung des menschlichen Sensoriums. Er propagiert den »Griff nach der Notbremse«, »Notwehr gegen Reizflut« (ebd., S. 312), die heutzutage natürlich nicht Medienabstinenz sein könne, sondern vielmehr eine Art Impfung.7 Seit den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts verordnet sich Kunst Askesen gegen ausgeleierte Sinnlichkeit, leistet ästhetischen Widerstand gegen all-präsente Anschauungsformen, die bald keine mehr sind: »Längst ist sie [die Avantgarde, P.S.] von weiteren Kunstströmungen überspült worden, und doch kommen die Nachfolgegenerationen nicht von ihr los. Ihr Skandal ist nicht mehr ihr Inhalt, sondern dass sie nicht aufhört, Markstein zu sein. Wie heterogen sich Kunst um die gegenwärtige Jahrhundertwende auch artikuliert: sie hat einen gemeinsamen Nenner. […] Nahezu allen Künstlern ist es darum zu tun, eingeschliffene, ausgelaugte Wahrnehmungsweisen zu durchbrechen, alle kämpfen gegen den schalen Genuss vordergründiger Reize im Dienste eines andern Genusses«.8

Türcke plädiert für Verlangsamung, Detaillierung, Verfremdung, Dislozierung, De-Kontextualisierung, um so für die Reflexion wieder jenen SpielRaum zu gewinnen, den der Schock ihr beständig streitig macht. Ein faszinierender Strang zeitgenössischer Ästhetik arbeitet intensiv mit dem Konzept des Spiels und greift dazu auf die Ästhetiken von Kant9 7. Vgl. Christoph Türcke: Erregte Gesellschaft, S. 308, 312. 8. Vgl. ebd., S. 312. 9. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werke. Bd. X, Frankfurt a.M. 1957.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

und Schiller10 zurück. Ruth Sonderegger zufolge ist der Spielbegriff jedenfalls aktuell »wenn nicht ins Zentrum, so zumindest an die interessantesten Ränder gegenwärtiger Theorien des Ästhetischen gerückt«.11 Sind es bei Kant jedoch noch die Erkenntnisvermögen als solche, d.h. Anschauung und Verstand, die im Akt der ästhetischen Wahrnehmung in ein freies Spiel gesetzt werden, so argumentiert Andrea Kern dafür, dass es jeweils konkrete und alternative Verstehensakte sind, die miteinander in ein nicht mit Gründen beendbares Spiel geraten.12 Kern spricht an dieser Stelle von einer inneren syntaktischen Widersprüchlichkeit, die jede künstlerische Darstellung allererst konstituiert, von einer strukturellen Unmöglichkeit, zu entscheiden, worum es sich beim Ganzen oder bei Teilen des Ganzen eigentlich handelt. Ihr zufolge ergeben sich für den Rezipienten stets (mindestens) zwei konkurrierende Möglichkeiten, das ästhetische Material zu verstehen. Anhand von Cézannes Stillleben lässt sich diese Überlegung veranschaulichen. Hält man sich seine berühmten Schalen mit Äpfeln vor Augen, dann erinnert man sich wohl sogleich, wie hier auf eine Weise mit der Perspektive und unseren entsprechenden Sehgewohnheiten gespielt wird, dass das Auge sich nicht zwischen Raumtiefe und Flachheit zu entscheiden vermag: Befinden sich die Dinge, die wir sehen, in einem euklidischen Raum, oder liegen sie vielmehr flach auf einem Plan? Der Psychoanalytiker Joseph Weiss13 hat darauf hingewiesen, dass dieses Spiel mit der Wahrnehmung mitnichten eine harmlose Wahrnehmungsspielerei ist. Im einen Fall steckt ja das Messer im Apfel, über dessen erotische Bedeutung bei Cézanne man nicht lange mutmaßen muss; im anderen Fall liegt es dahinter. Ängstigung und Beruhigung liegen nicht nur dicht beieinander, sie liegen im Bild gleichsam ineinander. Wir können selber, aktiv von einer Lösung in die andere gleiten, unser eigenes Unbewusstes, das sich ja aus verpönten Wünschen und deren Abwehr speist, mit dem Material spielen lassen. Und nicht zuletzt spielend erfahren wir, dass es sich um ein Bild han-

10. Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Käte Hamburger (Hg.), Werke in drei Bänden. Bd 2, Stuttgart 1965, S. 445ff. 11. Vgl. Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a.M. 2000, S. 8. 12. Vgl. Andrea Kern: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt a.M. 2000. 13. Vgl. Joseph Weiss: »Cézanne’s Technique and Scoptophilia«, in: Psychoanalytic Quarterly 22 (1953), S. 413-418.

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delt, das uns – wenn es denn glückt – eine bewusste Transformation erlaubt, eine Schwellenerfahrung, wie Fischer-Lichte das nennt.14 Natürlich ist auch die Cézannesche Unschärfe zwischen zweiter und dritter Dimension eine Spielart des Motivs des Bruchs, das in so vielen ästhetischen Theorien des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt. Ob nun Montage, Fragment, Dissonanz, Schock, Allegorie – die Kategorien moderner Ästhetik künden von einer tiefen Verunsicherung des anschauenden Subjekts. Kunstwerke sind keine Fenster mehr auf eine sei es utopisch, sei es kritisch dargestellte Welt, die immer aber ein beruhigendes Gravitationszentrum hat, sondern – mit einem Wort Adornos: Prismen, die nur mehr noch einen gebrochenen Schein hervorzubringen vermögen. Christoph Menke kann nun überzeugend aus dieser statischen Figur des Prismas die dynamische des Kaleidoskops entwickeln, und so der Prozessualität der ästhetischen Erfahrung ein klares Bild geben: »Während das Prisma eine zeitlose Vorrichtung ist, fügt die Drehung des Kaleidoskops ihm die Dimension des Verlaufs hinzu. Er besteht in dem Zerfall eines ersten Prismas, der zugleich Bildung eines zweiten ist«.15 Eine jede Lesart, die aspekthaft in der Wahrnehmung entsteht, wird durch eine andere, gleichmögliche negiert, zerstört. Anders als Kern geht Menke also nicht von zwei distinkten, sondern von tendenziell unendlich vielen, unablässig aufgeschichteten Lesarten aus. Kontexte entstehen beständig und zerfallen wieder. Die Akzentuierungen dieser Entwürfe mögen unterschiedlich sein, ähnlich ist jedoch die jeweilige Konsequenz: In Anbetracht der miteinander konkurrierenden Entzifferungen des Ganzen ist eine Entscheidung über die Geltung des Wahrgenommenen unvermeidlich und doch gleichzeitig unmöglich, eine Situation, auf die das Subjekt mit dem Eintritt in ein ästhetisches Spiel mit den Möglichkeiten des Dargebotenen reagiert. Türckes Rezept der Notbremse lässt sich also durchaus im Rekurs auf die Theorien der prozessualen ästhetischen Erfahrung konkretisieren. Wenn es heißt, die Strategie gegen den Bildschock müsse es sein, deren Medien gegen sich selbst zu kehren, dann kann diese Kehre nicht anders als vom Betrachter selbst vollzogen werden. In den jeweiligen Verstehensspalt, den ein Kunstwerk im Sinn einer produktiven Möglichkeit aufsperrt, spielt im wahrsten Sinn des Wortes das Subjekt hinein, es imaginiert (sich) fortlaufend (als) ein Ganzes, wo es Zerbrochenes findet und kann damit 14. Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M. 2003, S. 138-161. 15. Vgl. Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M. 1991, S. 142.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

immer nur momentweise Erfolg haben. Dabei entstehen innere Bilder, sie müssen dort subjektiv erzeugt werden, wo das Subjekt in eine stets ambivalente, prekäre Wahrnehmungssituation geführt wird, die kein konsistentes äußeres Bild ergibt. Die allenthalben eilfertig offerierte Befriedigung bzw. reale Stimulation ist unterbrochen, über die innere Widersprüchlichkeit verweigert sich die Darbietung als Pseudo-Realität und rückt sich wieder als das ins Blickfeld, was es ist: als Bild. Der ästhetischen Erfahrung kommt in unserem Zusammenhang und unter den skizzierten Bedingungen nicht zuletzt die Aufgabe zu, die ikonische Differenz zu behaupten: den Bildstatus von visuellen Präsentationen, der allererst die Reflexion und das Begreifen des Präsentierten erlaubt.

3. Abstürze – Schock und Erfahrung in der elektronischen Stadt Nach den oben stehenden Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung bleibt eine Frage offen, die sich angesichts der Türckeschen Zeitdiagnose umso dringlicher stellt: Warum nehmen Subjekte die oben beschriebene ästhetische ›Arbeit‹ des Hin und Her und die Frustrationen eines notorisch misslingenden Verstehens überhaupt auf sich? Mehr oder weniger zugerichtet durch die audiovisuelle Dauerbestrahlung, muss doch die Lust, die Kunst versprechen kann, angesichts jederzeit medial verfügbarer Thrills einigermaßen schal erscheinen. Was treibt das fortdauernde Spiel mit dem widerspenstigen Material der Kunst an, was erhält es aufrecht? Im Folgenden will ich die Dynamik und den Stellenwert ästhetischer Erfahrungen innerhalb des skizzierten Gefüges von Rezeptionslagen exemplarisch als Wirkungsanalyse des Stückes Electronic City von Falk Richter untersuchen.16 Dabei ist zunächst auszugehen von grundlegenden Ambivalenzen und Spannungsverhältnissen in der Anlage dieses Textes, die sich als unabweisbares und unauflösbares Auseinandersetzungsangebot verstehen lassen. Ich rekonstruiere anhand einiger markanter Passagen bzw. Konstellationen typische Wirkungen und Verstrickungen in dem Text, die ich exemplarisch plausibel zu machen versuche. Electronic City thematisiert durchweg eine ganze Kaskade von Abstürzen: Systeme, Flugzeuge, Kommunikationsverbindungen, Kontaktversuche kollabieren, scheitern, brechen zusammen; die basale Orientierung des/der Protagonisten in Raum und Zeit läuft im vollen Wortsinn aus dem Ruder,

16. Vgl. Falk Richter: »Electronic City«, in: Theater Theater. Aktuelle Stücke 13, hg. von Uwe B. Carstensen/Stefanie von Lieven, Frankfurt a.M. 2004, S. 329-363.

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die personale Identität diffundiert. Als empathischer Leser erlebe ich diesen Schrecken zunächst identifikatorisch mit. Gleichzeitig liegt jedoch in diesem Horror der äußeren und inneren Ort- und Perspektivlosigkeit auch eine Art Rausch des Schwindels und Taumels. Der Text produziert unablässig Bilder, eine audiovisuelle Stimulation, die eine faszinierende Sogwirkung entfaltet. Auf irritierende Weise gerate ich über die szenischen Gestaltungen dieser sterilen Technowelt in eine berauschende Teilhabe, die man mit Günter Anders als prometheischem Stolz fassen könnte.17 Z.B. in der (mehr oder weniger bewusst werdenden) Erlebnisfigur: »Ich will auch so maschinengleich sein, so reibungslos und unwiderstehlich gleitend auf Oberflächen aus Glas und Metall, ein perfektes Funktionsteilchen innerhalb dieses wunderschönen kalten Systems«. Tom, der Manager (in) einer gänzlich neoliberalisierten Geschäfts- und Weltordnung, ist am Ende, er weiß kaum mehr, wo er sich befindet. Seine panische Innenwelt ist auf ein ganzes Team von Stimmen aufgeteilt, und der Text lässt zunächst unklar, ob es nun seine Gedanken sind, die wir hören, oder die realistische Akustik psychotischer Stimmen. Der Held erscheint als nackte Kreatur, die sich und ihren Körper auf extreme Weise instrumentalisiert, wenn Tom etwa sein eigenes Denken als »Scheißteil Gehirn« und »Drecks-Gehirncomputer«, der endlich funktionieren soll, anruft. Gleichzeitig vermögen seine Äußerungen im Moment des Verschwindens, wie er bewusstlos um die Welt rast, in den Bann zu ziehen. Toms professionelle Psychose ist Subjektvernichtung und Mimesis an den totalisierten, grandiosen Betrieb ineins. Beides, was zusammen erst den Thrill dieser Konstellation ausmacht, ist auf der Höhe aktueller Befindlichkeit, nimmt mich deshalb als Leser mit, weil sowohl der Sog der Faszination als auch der Schrecken der Selbstverdinglichung auch mein Leben längst erfasst hat. Tom bleibt nichts Anderes: Nach dem beruflichen und privaten Scheitern als selbstmächtiges Subjekt und dem Unwirksamwerden der Befriedigungssurrogate seines Jobs bleibt ihm nur noch, sich mit dem System zu identifizieren und auf diese Weise unter Selbstpreisgabe an dessen omnipotenter Gewalt teilzuhaben. Das mag in diesen Text hineinziehen, sein initiales Potential an Beteiligung ausmachen –ästhetische Erfahrung ist so freilich noch nicht konstituiert, da solche Lagen durchaus als ubiquitär aufzufassen sind: Auch in Blockbustern oder in Werbespots sind Wirkungsstrategien vorbereitet;

17. Vgl. Günter Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1983.

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(Post-)Dramatische Standpunkte

auch in den durchgestylten Umwelten der Eventkultur gleite ich durch riskante Subjektpositionen, die dort freilich immer ein für allemal schließlich aufgelöst werden. Zu fragen ist folglich nach einem sich öffnenden Fenster der Reflexion. Angesichts von Kunst – so wusste der Psychoanalytiker und Kunsthistoriker Ernst Kris18 – werden wir nicht von einem dramatischen Höhepunkt zum nächsten gehetzt. Der sich anbahnende Erregungsstrom muss also irgendwo gestaut, das eingeschliffene Wahrnehmungsmuster muss irritiert werden, wenn Wahrnehmung selbstbezüglich werden können soll. Bisher bestand das Angebot des Textes in einer wenn auch prekären Einfühlung: Wir erleben mit, wie Tom ein Lied singt, wie er versucht, sich an seine Freundin Joy zu erinnern, an früher und an sich selbst – und dabei scheitert. Der Chor der Stimmen, auf die sich der Ich-Text verteilt, streut jedoch bereits diese Einfühlung. Die Zentralperspektive der konventionellen literarischen Aufmerksamkeitsökonomie ist gewissermaßen von Anfang an in die Fläche gezogen. Aus dem Off des scheinbaren inneren Monologs wird der Bruch des bisherigen Geschehens beigesteuert, der als Bruch der betretenen Realitätsebene beschrieben werden kann. Indem es heißt, »Welches Genre haben wir hier eigentlich? Haben wir das schon entschieden?« wird der zuvor noch psychologisch ausdeutbare Stimmenchor Teil einer anderen Realistik: Er intoniert ein Fernsehteam bei der Arbeit. Die Betrachtungsebene verändert sich, das Format des Geschehens und auch mein Format als Rezipient verändern sich, mit emotionaler Wirkung: Das vorher erschreckende Geschehen erscheint kurzzeitig im Licht einer beruhigenden Virtualität: Wo ich gerade dabei bin, das ist kein Sturz aus einem individuell-realistischen Leben, sondern bloß ein Dreh. Wenig später wird Joy sagen: »Fernsehteams haben etwas sehr Beruhigendes, es hilft immer, mir vorzustellen, all das hier sei nur die Episode in einer Fernsehserie […]«. Beruhigend ist diese Brechung einerseits, aber für den Leser/Zuschauer sind gleichzeitig Tempo und Unmittelbarkeit des bisherigen Geschehens zurückgenommen; eine Störung ist aufgetreten, die zwischen Einfühlung und Ausfühlung vermittelt. Diese Störung der bisherigen empathischen Position bringt eine neue Position der Einfühlung hervor. Denn schlagartig fällt ja ein anderes Licht auf den pluralen Erzähler: Die vermutete Selbstreflexion, Beschreibung, Kommentierung entlarvt sich auf einmal als Anweisung: Die verlorene Figur Tom wird gar nicht in ihrer Verlorenheit beobachtet oder präsentiert, sondern allererst erzeugt: Sie soll so sein! Aus der Erleichterung über eine bloß gespielte Ausbeutung wird der Verdacht einer sogar noch gesteigerten Ausbeutung: »– Tom, schrei doch 18. Vgl. Ernst Kris: Psychoanalytic Explorations in Art. London 1953.

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mal/TOM Nein, ich kann nicht/– Versuch es doch mal/TOM Nein, ich kann nicht, bitte, ich kann nicht«. Durch den Sadismus/Voyeurismus des Teams, das die Panik auch noch kameragerecht einfangen will, kommt es zu einer Konfrontation mit meinen eigenen Sensationsbedürfnissen, der ich mehr und mehr als TV-User adressiert werde. Bis hierhin wäre (unter Auslassung mehrerer Passagen, die iterativ die Motive des Selbstverlustes und einer scheinbaren Beruhigung wiederholen und steigern) Folgendes festzuhalten: Es regiert das ästhetische Prinzip des Schocks, bzw. der Schockhaften Erregung, das den Leser/Zuschauer als Konsumenten von Reiz-Bildern adressiert. Formal bestimmend ist die rasante, mediale und sprachliche Produktion von Bildern nach Art von Videoclips, die im Rezipienten einen beschleunigten Wechsel von Angstlust und Entspannung evozieren. Die voyeuristische eins-zu-eins Teilhabe am Schicksal des Gehetzten wird jedoch immer wieder durch die Montage der Perspektive des Filmteams gebrochen, die gleichsam das je eigene Zuschauer-Beteiligtsein an dieser inszenierten Personvernichtung bewusst machen kann. Einmal sind wir mehr oder weniger unmittelbar Teilnehmende an Rausch und Agonie des Helden, erleben einfühlend seine Angst mit; und dann sind wir die Fernsehgucker, die sensationslüstern den Verlorenen sich selbst verlieren sehen wollen. Thomas Oberender nennt Wahrnehmungskomplikationen solcher Art einen »Konflikt der Gleichzeitigkeit«, die »disparate Dramaturgie gleichzeitiger Möglichkeiten«.19 Die Perspektiven und die Gefühle sind so zueinander gestellt, dass die Bilder gerade nicht mehr blindlings eingängig sind und etwa genossen werden könnten. Wenn im weiteren Verlauf klar wird, dass es sich um eine Doku-Soap handelt, erfährt das Gefüge von Realität und Virtualität eine weitere Drehung. Das Format schließt bekanntlich Spiel und Gespieltes kurz, lässt beides auf eigentümliche Weise ineinander laufen: Die Spieler Tom und Joy sind anscheinend gezwungen, ihr eigenes Leben zu spielen. Als Leser nehme ich dann nicht mehr Anteil an zwei Protagonisten, die ihre Arbeitskraft selbstausbeuten, sondern an zwei Darstellern, die ihr eigenes sichtbares Leben und ihre Gefühle zu Markte tragen. Von hier aus kommt die Reflexion wieder auf der Ebene des Realen an, die die des Symbolischen strategisch unterläuft; lesend bin ich bei den Akteuren auf und hinter der Theaterbühne, deren Handeln in diesem Rahmen selbstreflexiv wird. Wir werden also in der Tat nicht von einem zum nächsten Höhepunkt gehetzt, wie es die Anlage des Stückes zunächst suggerierte. Vielmehr legen sich hier mehrere Schichten übereinander, die mit dem Motiv des 19. Vgl. Thomas Oberender: »Analyse der Störungen. Theater als das Drama der Wahrnehmung«, in: Theater der Zeit, Recherche 17 (2004), S. 27-39, hier S. 37f.

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Spiels und des Gespielten spielen. Das Hin-und-Her-Spiel der ästhetischen Erfahrung bewegt sich zwischen den verschiedenen Realitätsebenen, zwischen der gezeigten Welt Electronic City, dem professionellen Spiel innerhalb eines Drehs und der wiederum ›privaten‹ Welt der Akteure der Doku-Soap Joy’s World. Die Dimension des Spiels im Spiel scheint zunächst einen Freiraum zu markieren und erlaubt die scheinbare Möglichkeit einer zeitweisen Suspension des Horrors des Realen. Dass freilich das formatierte Spiel nur als Teil desselben Systems zu begreifen ist, schiebt sich als neuerlicher Schock zwischen mich und meine identifikatorisch versuchte Wahrnehmung. Das Spiel ist der mediale Ort, an dem der einzelne als Gefühlsarbeiter ins Ganze integriert wird über die Produktion einer fiktionalen Realen – Selbstperformance. Für die Erfahrung des Textes bedeutet diese Konstruktion, dass ein Ausweichen auf die reflektierte Ebene des Spiels und der Virtualität zunehmend kein sicheres Terrain mehr erreichen kann und die ästhetische Illusion zunehmend prekär wird. Diese Bewegung kann in der Tat in einem doppelten Sinn als dramatische Transformation angesehen werden, im Zuge derer folgenreich bedeutungsgenerierende Differenz in eine erregungsgenerierende Identität aufgelöst. bzw. rückgeführt wird. Solches Erleben wiederum reflexiv in Erkenntnis zu übersetzen, bietet die Chance einer entgegengesetzten Transformation. Deutlich sollte geworden sein, wie Electronic City Leser wie Zuschauer an dem Punkt aufliest und anschließt, der oben als derzeitiger Stand einer ›déformation sensuelle‹ skizziert worden war. Die rekonstruierte schematische Lektüreerfahrung war zunächst überwiegend eine von Thrills, changierend zwischen Angst und Lust. Als Einsatzstelle der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung als gestaltete Negation jener mit Türcke so zu nennenden Position des Bildschocks hatte ich die Durchkreuzung disparater Zuschauer-/Teilnehmerperspektiven markiert, die ein unabweisbares Gegeneinander von Wirklichkeitsebenen provoziert und Feedback-Schleifen zwischen Text und Leser erzeugt. Die mit solchen Rück-Wirkungen errungene Distanz zur visuellen Erregung ist aber die Bedingung der Möglichkeit der ikonischen Differenz, die aus den naturwüchsig sich unseres Sensoriums bemächtigenden Reizen wieder Bilder macht, und das heißt ja immer auch: Gemachtes, das eben so oder anders gemacht werden kann.

Literatur Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1983. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996.

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Philipp Soldt: Ästhetische Erfahrungen in der elektronischen Stadt

Fischer-Lichte, Erika: »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«. In: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M. 2003, S. 138-161. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werke. Bd. X, Frankfurt a.M. 1957. Kern, Andrea: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt a.M. 2000. Kris, Ernst: Psychoanalytic Explorations in Art. London 1953. Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a.M. 1991. Oberender, Thomas: »Analyse der Störungen. Theater als das Drama der Wahrnehmung«, in: Theater der Zeit, Recherchen 17 (2004), S. 27-39. Richter, Falk: »Electronic City«, in: Uwe B. Carstensen/Stefanie von Lieven (Hg.), Theater Theater. Aktuelle Stücke 13, Frankfurt a.M. 2004, S. 329-363. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Käte Hamburger (Hg.), Werke in drei Bänden. Bd. 2, Stuttgart 1965, S. 445ff. Sonderegger, Ruth: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a.M. 2000. Türcke, Christoph: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation. München 2002. Weiss, Joseph: »Cézanne’s Technique and Scoptophilia«, in: Psychoanalytic Quarterly 22 (1953), S. 413-418.

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Diedrich Diederichsen: Maggies Agentur

Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch Diedrich Diederichsen

I try my best to be just like them, But everybody wants me to be who I am. (postfordistisch invertierter Bob Dylan, aus »Maggie’s Farm«)

Anders als man häufiger zu hören bekommt stimmt es nicht, dass wir alle Theater spielen, wie es der deutsche Titel eines in den letzten Jahren heftig wieder entdeckten, klassischen Buches der Soziologie nicht müde wird, zu behaupten. Schön wäre es. Wir könnten ja anschließend nach Feierabend entspannen und uns am Künstlerstammtisch wohl sein lassen, ganz bei uns selbst. Denn wenn wir tatsächlich im Leben immerzu Theater spielten, also uns verstellten und nur eine Rolle einnähmen, dann müssten wir auch über die ebenso segensreiche wie stumpfsinnige Fähigkeit verfügen, unterscheiden zu können, zwischen einer Rolle und dem wahren Selbst. Das aber gelingt uns nicht. Als Erving Goffman die fragliche Beobachtung machte, galten noch andere Paradigmen. Die Leute empfanden sich als naturgegebene, irgendwie reiche Selbste, deren Vitalität ständig durch die disziplinierenden Vorgaben der Institutionen der Ausbildung, des Arbeitslebens und gesellschaftlicher Regeln eingeschränkt wurde. Die Vermittlung der überschüssigen Energie und der unterdrückten Vitalität mit dem Selbstverständnis übernahm vulgärbegrifflich das Gefühl, dass mein Alltagsleben ein anderes und vor allem kleineres Ich hervorbringt, das mit Verboten und Repression umgehen kann. Dieses andere Ich war die Rolle. In diesem Modell war die Rolle eine Verarmung, eine Einschränkung auf die Selektion aus einer bestimmten Menge der vom Skript vorgesehenen Verhaltensweisen. Je mehr die aber klar war, desto mehr konnte der Feierabend als authentisches Erlebnis eines potenziell unbegrenzten Selbst glücklich vertrunken werden. Hobby- und Partykeller gediehen. 101

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Je mehr im Verlauf der Moderne, Konformität und Gehorsam sich nicht nur am Effekt der Arbeitsleistung, sondern auch an deren Repräsentation maßen, je mehr Leute den blauen gegen den weißen Kragen eintauschten, desto wichtiger wurde es sich am Riemen zu reißen und Vitalität zu maßregeln. In den 16-Stunden-Jobs früherer Jahrhunderte kümmerte sich die körperliche Auszehrung um die Ruhigstellung. Erst der Angestellte empfindet sich als eigentlich unendlich reich, aber leider zu einer Rolle gezwungen. Die heutige Begeisterung für den Goffman-Klassiker in Film- und Theaterkreisen leitet aus der vermeintlichen Wahrheit seiner Beobachtung gerne ab, dass daher das Theater oder die anderen Rollen vorführenden, darstellenden Künste, besonders aktuell seien. Denn sie täten ja dasselbe. Es ist aber umgekehrt. Dass Theater ist nämlich nicht in dem Maße aktuell, wie es dasselbe tut, was wir auch sonst tun, sondern in dem Maße, indem es auf das, was wir auch sonst tun von dem Blick eines anderen Handelns aus schaut. In der Zeit also, als Goffmans Beobachtung zutreffend gewesen sein mag und die Menschen sich zwischen der Vorderbühne ihrer öffentlichen Darstellung und der Hinterbühne der Intimität tatsächlich tief greifenden Transformationen unterzogen und dies unter gesellschaftlichen Druck, entstand ein Theater, das nicht – diesem Befund analog – Reichtum des Selbst gegen Beschränktheit der Rolle setzte, sondern es entstand – u.a. – die Performance Art: Theater ohne Rolle. Mithin eine darstellende Kunst, die nicht von dem handelt, was wir auch sonst machen, (Rollen spielen) sondern im Gegenteil davon, woran uns die Verhältnisse hindern (stark vereinfacht gesagt). Oder besser: Davon wie wir einen verstehenden Blick auf die Verhältnisse werfen können, indem wir etwas anderes, ja genau das Andere machen, das wir sonst nicht tun können – und das ist ja nicht einfach eine Kompensation (das wäre unser Feierabend), sondern dasjenige Handeln, das uns ermöglicht auf die ganze Konstellation aus Rolle und Authentizität einen kritischen Blick zu werfen. Denn falsch sind sie ja beide. So war das – im besten Falle, wenn alles klappte – damals. Heute ist vieles anders. So wird von uns nicht mehr verlangt eine Rolle zu spielen, sondern wir müssen gerade im Umgang mit den Institutionen und im Angesicht der Vergesellschaftung wir selbst sein. Die Rolle wäre zu wenig. Die Rolle ist ja eine Verknappung unserer Person und unserer Vitalität, die Company will aber alles, was wir haben. Es ist also vor allem bei anspruchsvolleren Jobs ein ungeeignetes Modell, dass sich Angestellte »anpassen« und eine Rolle spielen. Als Modell gilt das für die ganze Service-Industry und jede Werbeagentur. So gibt es kaum noch jemanden, der eine Rolle spielt, sondern nur noch Leute, die sich mit ihrem Job identifizieren, erst recht dann, wenn sie gar keine Jobs mehr machen, sondern als Sub-Unternehmer alle Risiken ihrer Verwertung selbst tragen. 102

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Diedrich Diederichsen: Maggies Agentur

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet natürlich: Was macht das Theater, wenn wir uns alle fortgesetzt und unter ökonomischen Druck selbstverwirklichen müssen? Wenn wir also im so genannten Leben und im Alltag unausgesetzt keine Rolle spielen und quasi permanent Performance Art produzieren – nicht um aus freien Stücken das Verhältnis zwischen Körper und Selbst zu erproben, sondern weil wir davon leben? Sollte es sich vielleicht mit den Möglichkeiten der Rolle beschäftigen: die Rolle als Chance? Kaum kann damit ein Zurück zu konventionellen Theaterformen gemeint sein, sondern ein Blick von den postdramatischen Errungenschaften auf die Rolle im Leben, die unter dem Druck steht, sich zugunsten der Performance zu entgrenzen. Das Thema des Theaters müsste sein, ein Leben, indem man sich hinter keiner Rolle mehr verschanzen kann, von einer anderen Ordnung des (Bühnen-)Handelns aus zu beobachten. Das tut, so weit ich sehen kann, niemand außer René Pollesch. Das Theater von Pollesch will ich anhand von diesen drei Auffälligkeiten diskutieren: 1. 2.

3.

Das Thema der verlorenen Rolle. Die Idee des dritten Textes, des ganz künstlichen Textes, der sich zwischen die alte erzwungene Rolle und die neue erzwungene Authentizität schiebt. Der theoretische Text. Schließlich die Frage der Produktion: Wer spricht und was wird zum Sprechen gebracht, welches Verhältnis besteht zwischen den auf eine Gruppe von Darstellern verteilte Subjektposition und –positionen und empirischen zeitgenössischen Subjekten?

1.) Vielleicht ist uns mit unseren erzwungen Rollen im Leben etwas verloren gegangen. Wir haben mit ihnen auch die Hinterbühne verloren. Die innere Küche, in die das Personal sich zurückziehen und konspirieren kann. Abhängige, Zimmermädchen, Prostituierte, Bell-Boys – also das Küchen- und Hinterbühnenpersonal spielt in der Dramatik von René Pollesch eine große Rolle. Es hat einen Vorteil gegenüber denen, die ganz auf der Vorderbühne leben müssen. Dadurch, dass sie das Repräsentieren als von ihrer Person getrennten Job gelernt haben, verfügen sie über ein Rückzugsgebiet, von dem aus sie taktische Operationen – Diebstähle von Objekten und Gefühlen – zu ihrem Vorteil planen können. Zum anderen lautet aber die Bedingung für die Verfügung über diese taktischen Ressourcen die Ausgeschlossenheit von jeder Emanzipation als ganze, souveräne Personen. Sie sind ganz ohne Hoffnung. Doch diese Souveränität wird auch und gerade in der höheren Etage nicht wirklich gewährt. Hier gibt es auch keine ganzen Menschen, sondern nur Stimmen, aus früheren klassischen 103

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Subjektpositionen herausgebrochen, und jetzt um eine vereinigende Klammer gebracht. Unter dem postfordistischen Druck stets ganz Du selbst zu sein, alle Emotionen und Geheimnisse unmittelbar in die Verwertungsöfen hineinzuschaufeln, sind die Ego-Gefäße zusammengebrochen. Ganzheit und Geschlossenheit ist der unausweichlichste Zustand von allen, ein Gefängnis. Vollgesogen von Verantwortung und existenzieller Dringlichkeit. Die Stimmen, die sich in Pollesch-Stücken verschiedene Körper für oft ein und dasselbe Anliegen suchen, beklagen ihre verlorene Maske, ihre erzwungene Authentizität. Unter dem Druck diversifizieren sie sich, spuken, sprechen nur noch in abgespaltenen Partikularjargons – aber sie können dem Fluch der Authentizität nicht entrinnen. So sehr der Subalterne vom Fluchtraum der Hinterbühne tröstend eine Authentizität und deren Geheimnis um den Preis absoluter Machtlosigkeit sich halten darf, sind der Angestellte und erst Recht die Kulturarbeiter zum Authentizismus gezwungen. Auch die abgespaltenen Fragmente sind alle echt, ja noch viel echter als sie es als Bestandteile komplex organisierter Personen waren. Aber je echter meine Stimme, desto weniger ist sie meine, desto weniger verfüge ich über sie. Ist Hoffnung also am ehesten in der Entfremdung zu finden? Gib mir einen Job, der klar als solcher definiert ist, lass mich eine Broschüre texten, befrei mich von dem Zwang poetisch für Geld zu sein! Der Kapitalismus lebt davon, dass er Gegenden der Welt, der Kultur und der Seele als außerökonomisch definiert, um sie anschließend ökonomisieren zu können. Dies, so wird ihm von Krisentheoretikern seit langer Zeit schon gesagt, geht nicht ewig so weiter. Der Tag wird kommen, an dem man keine natürliche Ressource und romantische Waldgegend mehr abholzen und verwerten können wird, dann ist Schluss mit dem lustigen Wachstum. Im Feld der Kultur, der Kunst und der Religion ist das ähnlich, aber etwas anderes. Immer wieder fliehen Einzelne in extraökonomische Welten, die dies natürlich nicht überprüfbar wirklich sind, aber für die Subjektivität ihrer Bewohner schon. Und daher kann man diese Subjektivität im Prinzip endlos immer wieder neu kolonisieren. Denn Definieren und Fühlen lässt sich auch, was gar nicht da ist. Doch auch dieser Prozess scheint ins Stocken zu kommen. Noch mehr Alltag und Lebenswelt, noch mehr kommerzialisierter Underground und verkaufte Freiheit ist auch nicht mehr aufzutreiben und auch das Publikum scheint davon langsam genug zu haben. In dieser so entstandenen Enge ergreift alle eine große Unsicherheit und beide Ziele, die zwei Horizonte des bürgerlichen Kulturarbeiters geraten ins Zwielicht – sich von der künstlerischen Arbeit zu ernähren, sie verwertbar zu halten und sie dennoch jenseits der Verwertung anzusiedeln. 104

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Es ist nicht mehr leicht, bei diesem unklaren Licht den Überblick zu behalten. Wenn ich behaupte, dass meine Kunst, meine Lebendigkeit, mein Körper ganz meines und unverkäuflich sind, tue ich das, um wenigstens das noch verkaufen zu können? Muss ich aus Verwertungsgründen unverwertbar sein? Damit ich erobert werden kann? Da lernen es einige, Entfremdungsgewinne zu machen. Mae West und andere Vorbilder markierten – also immer schon als nicht selbstverständlich und normal erfahrbaren – Lebens, Schwule und Lesben, insbesondere schwule und lesbische aber auch andere Sexarbeiter haben ein altes Wissen über eine doppelte Buchführung, die über die radikale Fremdheit und die radikale Skripthaftigkeit eines erzwungenermaßen markierten Lebens von sich aus Techniken entwickelt haben »fremd« und »selbst« neu zu setzen. Vorsicht, dies ist nicht einfach die Umdrehung der Verklärung der ehrlichen Hure bürgerlicher Romantik und sie tragender Gewaltverhältnisse zur Verklärung der strategisch unehrlichen Hure postmoderner Romantik: es geht um harte und unangenehme Arbeit, die man lieber nicht machen würde, aber die beispielhaft zeigt, was und wie markiertes Leben und markierter Alltag einen Überblick verschaffen können, über die unmarkierten und unbewussten Manöver mit denen die gerade noch normal unmarkiert lebenden Kulturarbeiter, sich Unterschiede zwischen ihrem eigentlichem Leben und ihrem gekauften Leben ertasten. 2.) Es gibt zwischen der (entweder taktisch oder gesellschaftlich) notwendig verlogenen Sprache des Subalternen und der erzwungen geständnisfrohen, ehrlichkeitsekstatischen Angestelltensprache nur ein Drittes, zu dem die Pollesch-Sprecher fliehen können, das ihnen die Perspektive auf ihr eigenes Sprechen, auf die Beschreibung ihrer Katastrophen und die Unmöglichkeit sie in den Begriffen ihrer Erfahrung zu verstehen, ermöglicht: die ganz fremde und ganz künstliche Sprache akademischer Texte. Freilich handelt es sich nicht um den Gag, ganz und gar beziehungslose und spröde Texte auf Situationen unverstandener, aber immer eloquent artikulierter emotionaler Dichte und Heftigkeit prallen zu lassen, die die Pollesch-Stücke ausmachen. Das wäre eben nur ein Gag. Es sind stattdessen Texte, die in einem Milieu gelesen werden, das man gerne das avanciertere innerhalb den in Pollesch-Stücken aufgerufenen größeren gesellschaftlichen Schicht nennen kann, der Schicht der kulturellen, Symbole verarbeitenden westlichen Mittelklasse und ihren Randgebieten, Neben- und Subkulturen. Diese in Studenten- und Aktivistenkreisen gelesenen theoretischen Texte haben ja einen gewissen Ruhm besonderer Art. Sie sind ganz offensichtlich nicht allein deswegen bekannt, weil sie auf irgendwelchen Seminarplänen stehen, sondern weil sie von den Betreffenden auch gelesen werden, um eigene Probleme und Fragen des Selbstbil105

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(Post-)Dramatische Standpunkte

des zu lösen oder formulieren zu können. Dieser Umstand wird aber in der Diskussion und Rezeption meist außer Acht gelassen. Die Antworten und Rezeptionstexte bemühen sich darum, die akademischen Gepflogenheiten und die Distanzierungsregeln der Sachlichkeit einzuhalten. Das ist auch durchaus richtig, die erwünschte Diskussion wäre sonst nicht möglich und wir sind ja hier nicht in der Herrmann-Hesse-Lesegruppe. Doch der »Glutkern«, wie man heute sagt, dieser Texte ist nicht allein ihr Gegenstand innerhalb der akademischen Disziplin, sondern die Tatsache, dass sie im Bezug auf das Zwielicht der psychischen Nöte um die Ununterscheidbarkeit von Selbstverwirklichung und Selbstverwertung zum Einsatz kommen, dass sie Licht auf individuelle Nöte werfen. Wegen dieses Missverhältnisses zwischen einer individuellen Lektüre und einer argumentativen und oft sehr abstrakten Sprache können diese Texte auch so leicht lächerlich gemacht werden. Das hat man im Intellektuellenland nicht so gerne, wenn Theorie einen Gebrauchswert erhält. Auch wenn natürlich einige der Texte, die in der beschriebenen Weise gelesen werden auch wirklich fragwürdig sind. Zwischen der erzwungenen Authentizität und ihrer Ideologien (von Rock-Musik bis Big Brother) und der Nicht-Authentizität der Entfremdung gibt es weder den Rückweg zur »wahren« Authentizität, noch kann man sich dauerhaft auf Entfremdungsgewinne verlassen, die durch den gezielten taktischen Umgang mit einem markierten und unterworfenen Leben und seiner erzwungenen Förderung einer (schönen) Virtuosität des Lügens auch für eigene Zwecke eingesetzt werden können. Wir alle wissen, wenn wir verarscht werden (Selbstverwertung), aber keiner weiß mehr so genau, wo das Gegenteil davon zu suchen wäre (Selbstverwirklichung), schon weil keiner weiß, was ein Selbst ist. Die Lektüre von zeitgenössischer Theorie unter einer strikten und hemmungslosen Gebrauchswertmaxime beantwortet nicht einfach diese Frage. Sie schaltet eine extrem künstliche und legitimationsbedürftige Sprache vor all die natürlichen und erzwungen natürlichen und gefaket natürlichen Sprachen. Diese künstliche Sprache wird nun aber auf der Pollesch-Bühne eben gerade nicht verwendet, um das zu tun, was Sprechern solcher Sprachen gerne vorgehalten wird: um sich zu unterscheiden, die berüchtigten Distinktionsgewinne einzufahren. Nein, um Distinktionsgewinne einzufahren, muss man, folgt man Bourdieu, dem wir den Begriff verdanken, im Modus der ästhetischen Einstellung verharren, also gerade den Nutzwert der Kunst als vulgäre Erwartung ans Ästhetische diskreditieren und ihre Nutzlosigkeit verehren – wobei es dann wieder ein ästhetisches Ressentiment vieler Bourdieuaner ist, dass eine abstrakte und formenstrenge Kunst eine in diesem Sinne nutzlose sei. Auf die Anwendbarkeit theoretischer

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Modelle im Alltag zu insistieren, ist jedenfalls so unfein wie brillant und macht einen Kern der Pollesch-Dramatik aus. Das Missverständnis, es handele sich um Parodien eines Theorie-Jargons, kann nur denen passieren, die sich in ihrem unmarkiert gewachsenen Schnabel sicher glauben und meinen, keinen Jargon zu sprechen. Natürlich ist es komisch, wenn in sehr spezifischer abstrakter philosophischer Terminologie die Sackgassen einer Liebesgeschichte oder das Dämmerlicht einer Depression gestaltet werden sollen: aber dieser Abgrund ist präzise das Maß der Selbstverfehlung, um das es geht. Diese Distanz ist die andere Seite der Fremdheit, in der man als Subalterner zu leben gezwungen ist. Sie erlaubt auch nur einen Blick und sie ist wie die anderen durch Entfremdungsgewinne ermöglichten Distanzen und Pausen keine Lösung. Man kann auch diese Sprache nicht leben, aber man kann sie wenigstens sprechen. 3.) Rene Polleschs Theater ist gewissermaßen ein neues Genre. Die Darsteller repräsentieren hier keine erdachten Figuren, aber sie treten auch nicht einfach im eigenen Namen auf wie bei der Performancekunst. Sie sind auch nicht einfach Schauspieler, die distanzierend und ironisch auf ihre eigene Arbeit verweisen, um etwaige Illusionen zu zerstören – wie in der Tradition des Brecht-Theaters. Ihre ontologische Position ist durchaus verwandt mit der eines Pop-Musik-Performers: die Darsteller befinden sich erkennbar nicht in einem alltäglichen Modus der Selbst-Identität, doch ihre Präsenz ist auch überhaupt nicht vom Begriff des Schauspiels gedeckt. Sie sind konstitutiv nicht ganz sie selbst wie sie auch nicht jemand anders sind. Der erste auffällige Unterschied zum Pop-Performer ist aber der, dass der Rahmen, in dem die konstitutive Ungeklärtheit des Bezugs der Darstellung oszilliert, bei Pollesch nicht musikalisch gegeben ist, sondern durch eine Bühne, die Bühne im konventionellen Theater-Sinne ist. Gemein ist beiden nur, dass bei der Wahl dieses Rahmens eine relativ strukturschwache und daher flexible Konvention ausgesucht wurde. Song wie Bühne bedürfen keiner Einführung, ihre Funktion ist so bekannt, dass alles andere leichter anders sein kann. Ein weiterer, vielleicht wichtigerer Unterschied ist die Art, in der die Bezugsgröße »wirkliche Person« gegeben ist. Die ist bei der Pop-Figur ja immer auch als herausgehobene Person bekannt. Pollesch-Gruppen haben zwar auch oft exponiertere, Star-artigere Mitglieder gleichen insgesamt aber eher einer Band, ja einer backing Band, in der es nicht (oder nur punktuell und in einigen Stücken mehr als in anderen) um die Spannung zwischen individueller Identität und Rolle geht, sondern um das Verhältnis des perfomenden Kollektivs zu einer gesellschaftlichen Gruppe. Es ist klar,

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(Post-)Dramatische Standpunkte

dass sie niemanden vertreten wollen oder können und doch wollen und können sie natürlich nicht ohne die Schnur zwischen Darstellungsidee und gesellschaftlicher Diagnose auskommen. Doch werden natürlich nicht vorher ermittelte und den Darstellern präsentierte soziologische Daten performt. Es geht schon um eine Band, die von sich spricht und in Bezug auf ihr eigenes Leben und ihren Beruf – Schauspieler – die Fragen inszeniert, die die Produktion, Analyse und Konsumption von Stimulanz und von Symbolen generell betreffen. Wenn sich – marxistisch gesprochen – die Sphäre der Reproduktion verselbstständigt hat und zu einem primären Sektor geworden ist, was ist dann die Reproduktion der Reproduktionsarbeiter? Wenn Ideologie, Stimulanz, Sex und Drogen nicht mehr produziert und konsumiert werden, um einen acht Stunden Tag auszuhalten, sondern einen, wenn nicht den zentralen Produktionssektor darstellen – wie erholt man sich davon? Doch wohl nicht im Bergwerk? Diese Fragen, das wäre aber der dritte zentrale Einsatz im PolleschTheater, lassen sich nicht anhand von Einzelschicksalen aufwerfen. Sie können nur gezeigt und gestaltet werden, wenn sie ein Kollektiv betreffen. Zugleich ist dieses Kollektiv – und das ist sein entscheidender Fortschritt gegenüber der Pop-Musik, insbesondere ihrer aktuellen Rettungsversuche des Formats Rock-Band – keines aus fixen Einzelnen, deren Position im Verhältnis zu den anderen Mitgliedern ausgehandelt und als nunmehr fixes Stereotyp im Beatles-Boygroup-Sinne fungiert. Es ist oft überhaupt kein Kollektiv aus Personen, sondern aus Stimmen, die oft nur einer empirischen Person gehören. Das Viele-Sein Einzelner korrespondiert dabei mit sehr verschiedenen Vorstellungen: dem erzwungenen Zusammenbruch kohärenter Selbstmodelle ebenso wie mit der erwünschten Relativierung des Modells eines souveränen Subjekts, aber eben auch mit der von Proust in die Welt gesetzten Idee verschiedener, zugleich eine Person bevölkernden sexuellen Positionen und Orientierungen. Schwule Männer stecken in lesbischen Frauen ebenso wie Hetero-Frauen in Hetero-Männern. Nur die nichtmarkierte männliche Heterosexualität, die eben genau dem Jargon entspricht, der nicht weiß, dass er auch ein Jargon ist und nicht die natürliche Sprache, ist der einzige sexuelle Dialekt, der nicht zu Wort kommt. Wohl weniger deswegen, weil er der hegemoniale ist, sondern weil seine Sätze die Gefahr bergen als nichtmarkierte, als normale Sätze gelesen zu werden. Und das würde dieses Theater tatsächlich nicht zulassen: den Satz, der das Recht der unbekümmerten Alltäglichkeit und ihrer Ideologie einklagt. Denn das kann sich ein Theater nicht leisten, dessen Anspruch ja gerade darin besteht, den Alltag seiner Produzenten zum Thema zu machen: dass da ein anderer Alltag dazwischen kommt und sagt, ich kann und brauche nicht Thema zu sein, ich bin das Unmarkierte, der wahre Alltag. 108

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Die Gruppen, die Pollesch-Stücke aufführen, bestehen wie Rock-Bands meist aus vier oder fünf Personen. Anders als bei Rockbands sind es aber keine stabilen Formationen, sondern Gruppierungen, die aus einem bestimmten, größeren und flexiblen Pool zusammengestellt werden oder auch an einem neuen Ort neu zusammengestellt werden können. Sie gleichen damit eher Jazz-Combos. Auch das Verhältnis von Komposition und Interpretation ist eher das eines Jazz-Stückes. Komponist und Interpret sind – anders als in der Pop-Musik – nicht in der Regel identisch. Der Selbstbezug auf das eigene Leben geschieht nicht in einer expressiven Darstellung einer konkreten Person, sondern in der Zustimmung oder Ablehnung von vorgefundenen Beschreibungen durch den Komponisten oder Autor. Wie stimmig finde ich das, wenn ich das artikuliere? Will ich da noch etwas drauf setzen, Intensität zum Beispiel, oder will ich hier vielleicht lieber fast forward sprechen? Dem ist natürlich eine Diskussion vorgeschaltet, die man nicht mit den unmittelbarkeitsbegeisterten, boheme-existenzialistischen Ritualen verwechseln darf, die man in dem Film, der nach Stadt als Beute gedreht wurde, sehen kann, wo der Eindruck erweckt wird, die Schauspieler müssten sich einen bestimmten Grad von Berliner Nachtlebenschärfe erarbeiten, um fit fürs Pollesch-Theater zu sein. Es geht eher darum, dass die Schauspieler verstehen und plausibel finden müssen, was herauskommt, wenn man zum Beispiel einen Agamben-Text auf ihre Arbeit bezieht. *** Alles bis hier Gesagte hat seine Richtigkeit für das Gros der in seiner Prater-Zeit produzierten Stücke. Die Besonderheit der letzten Serien besteht in zwei Abweichungen. Zum einen gibt es Narrationen, die verbindlicher verfolgt werden als die Motivverklumpungen in früheren Stücken. Und es gibt Figuren, die sie erleben. Insbesondere in der zu diesem Zeitpunkt letzten Aufführung L’Affaire Martin… spielen die Darsteller eine während des Stückes konstant bleibende Rolle. Zum anderen sind die Protagonisten, die abgespaltenen Subjektpositionen und die um die Kohärenz ihrer Selbstbeschreibungen kämpfenden Restcharaktere, nicht mehr eindeutig als europäisch und urban klassifiziert, sondern über den ganzen Globus. Insbesondere Orte in Südamerika und Afrika liefern neues Material. Schließlich sind sie oft einem konkreten, benachbarten kulturellen Milieu zugeordnet: Fernsehserien, Erfolgsprodukte des deutschen Films, Träger dominanter kultureller Ideologie: von dem Film Das Leben der Anderen bis zu Breloers Speer und er. Meist aber sind die grundsätzlichen Positionen des Pollesch-Theaters davon nicht betroffen. Die grundsätzliche Krise, dass die Alternative zur 109

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(Post-)Dramatische Standpunkte

Entfremdung nicht Verselbstung sein kann und sein sollte, aber gefordert wird, aber auch nicht die Umkehrung der Lage, ist ja in der Analyse von René Pollesch ein grundsätzliches Phänomen. Es trifft diejenigen, die es in der dritten Welt auf eine Titelseite eines Videomagazins schaffen oder die in Lateinamerika von Hausangestellten erwarten, dass sie ihre Subjektivität reparieren, genauso wie die Berliner und Gesamtwestler in früheren Stücken. Diese Diagnose hat ja gerade einen universalen Anspruch, indem sie eine Matrix aus den vier Elementen Entfremdung, Authentizismus, Markierung und Nichtmarkierung entwirft, die in allen kapitalistischen Gesellschaften funktionieren soll. Dennoch werden nun nicht einfach Thesen überprüft und bestätigt, sondern die Ausweitung auf Narratiönchen und Personal erschließt vor allem weitere Darstellungsmöglichkeiten. Subjekt-Krisen und Selbst-Verluste müssen nicht nur als Effekte einer externen Logik des Neoliberalismus im Inneren des Theaters, das ja selbst ein Haus/Subjekt ist wie die vielen anderen Häuser und Hütten, die bei Pollesch Persönlichkeitsmetaphern liefern, dargestellt werden. Es ist nun auch möglich sie in – naturgemäß groteske – Erzählungen einzubetten, die die globalen Kapitalbewegungen und ihre Effekte in die Poesie der Geistergeschichte und der Voodoo-Legende eintragen. Die verrückte Psychologie des Kapitals gibt schließlich einen guten zusätzlichen Akteur ab, mit dem man ebenso gut über alles reden kann wie mit den anderen Vätern, Familienchefinnen, Porno-Regisseuren und Machtanmaßern, die in den letzten Stücken so oft, und ebenfalls von außen an die kleine Combo herangetreten sind. Dabei werden jetzt der politischen Psychologie immer eine jeweilige kulturelle Produktionsform und die von ihr hervorgebrachten Genres, in letzter Zeit sogar konkrete Arbeiten zugeordnet. Natürlich würde das nicht funktionieren, wenn nach der Art eines psychologischen Dramas die Defekte der Personen seriös als Effekte ihrer kulturellen Tätigkeiten aufgeführt würden. Vielmehr besteht der Witz dieser Konkretisierungen gerade darin, dass die Behauptung psychologisch mit der eigenen Arbeit verbunden zu sein, sie hervorzubringen und von ihr erfüllt zu sein scheint als der zentrale Witz zum Lachen freigegeben wird. Der Witz, an dessen bitteren Ernst zu glauben, die Voraussetzung dafür ist, die kulturellen Produkte hervorzubringen, über die sich René Polleschs Theater amüsiert.

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) vakat 111.p 168349669336

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) T03_00 Bild.p 168349669344

Regie: Jürgen Gosch, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz (Ensemble)

Abbildung 2: Maxim Gorki: Nachtasyl (Deutsches Schauspielhaus Hamburg 2006)

Junge Schreibstrategien

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) T03_00 Respekt.p 168349669368

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) vakat 114.p 168349669376

Jürgen Hofmann: SCHREIBEN LERNEN. Erfahrungen mit einem Studiengang

SCHREIBEN LERNEN Erfahrungen mit einem Studiengang Jürgen Hofmann

Kann man Schreiben lernen? Solange unser Studiengang Szenisches Schreiben an der damaligen Hochschule der Künste Berlin neu war, hörte man diese Frage – natürlich bezogen auf Kunst – jeden Tag (sogar von Leuten, die selbst Künstler einer anderen Gattung waren). Seit sich Erfolg eingestellt hat, ist die Skepsis verstummt. Längst gibt es ein paar Schreib-Studiengänge in Deutschland, weitere im übrigen Europa; in den USA sind akademische Kurse zum creative writing zu Hunderten verbreitet. Dabei bleibt für mich die Frage durchaus offen. Im Hinblick auf den Studiengang lautet meine pragmatische, zugegebenermaßen auch sibyllinische Faustregel: Schreiben kann man nicht lernen – aber wer es kann, dem können wir noch einiges beibringen. Das ist zugleich ernst und augenzwinkernd gemeint. Natürlich ist evident, dass man für einen organisierten langwierigen Lernprozess die Begabung zum Schreiben, Talent, Lust, ja inneren Zwang dazu voraussetzen muss. Nur, was heißt dann »es schon können«, was macht »Talent« aus und was lässt sich wirklich »beibringen«? Was kann jemand besser, wenn er unseren Studiengang nach vier Jahren verlässt – besser als zuvor und besser als jemand, der in derselben Zeit das Lernen ohne institutionelle Anleitung autodidaktisch weitergetrieben hat? Und was speziell ist vermittelbar an Fähigkeiten des Schreibens für die Bühne? Über diese Fragen soll hier reflektiert werden. Eher unsystematisch – daher auch durchnumeriert – will ich Erfahrungen, Überlegungen, Bedenken und Forderungen skizzieren, die das Problemfeld vielleicht besser beschreiben als eine strukturelle Analyse. 115

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Junge Schreibstrategien

1 Die Wahrheit ist konkret. Jedem Jahrgang, der bei uns zu studieren beginnt, schreibe ich diese schillernde Sentenz von Hegel an die Tafel. Ich bin überzeugt, dass sie die wichtigste Maxime für einen Schriftsteller auf den Punkt bringt. Dieser vieldeutig-eindeutige Satz liegt unserem ganzen Studiengang zugrunde, jedenfalls soweit ich für seine Konzeption und seine Praxis verantwortlich bin. An der Dialektik, seiner abstrakten Proklamation kann man sich die Zähne ausbeißen. Die Wahrheit ist konkret.

2 Sprache ist das A und O des Schreibens. Lust an Sprache und die Plage mit ihr, schöpferische Bewegung in ihr, durch und gegen sie gehört ebenso elementar zum Schriftsteller wie Formulierungszwang und Wortspiel. Wer über kein Sprachgefühl verfügt, kein Sprachempfinden, der sollte zumindest beruflich die Finger von diesem Medium lassen. Seit langem aber beobachte ich die zunehmende öffentliche Verlotterung von Sprache (die angesichts der Ubiquität anästhetisierter Medien nichts mit der permanenten Selbsterneuerung von Sprache zu tun hat). Sichtlich mit dieser Verschlampung einher geht das Nachlassen von sprachlicher Sorgsamkeit, Sensibilität selbst bei jenen, die sich der Sprache künstlerisch verschrieben haben. Das gilt auch und gerade für unsere Bewerber. Mir erscheint fast paradox, dass wir den schließlich ausgelesenen KandidatenInnen erst jene Aufmerksamkeit für Sprache vermitteln müssen, die doch mindestens ein Grund für ihre Wahl des Metiers sein sollte. Wenn ich beispielsweise anlässlich des Lektorats eines Stückentwurfs die Autorin mit Blick auf einen ihrer Sätze frage, was der Unterschied ist zwischen »mehrfach« und »mehrmals« oder was falsch ist an der Formulierung »Einreiseverbot nach Kuba«, an der Redensart von »zwischenmenschlichen Beziehungen«, dann blicke ich in ein ratloses Gesicht. Mit ausholenden Gebärden suchen werdende Schriftsteller familiäre Konflikte darzustellen, gesellschaftliche Konflikte vom Klonen bis zur Bedrohung durch virtuelle Welten zur Sprache zu bringen – was schert sie dabei die Nuance im Sprachgebrauch, die grammatische Logik im Kleinen, der von Medien kolportierte Unsinn des stilistischen Fertigteils ! (Man könnte Hegels Satz auch mit einem Aperçu von Kracauer kommentieren: Bei Generalisierungen kommen die Details beschädigt an.)

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Jürgen Hofmann: SCHREIBEN LERNEN. Erfahrungen mit einem Studiengang

3 Die Gattungen auf die szenisches Schreiben sich bezieht, erschweren den sprachkritischen Lernprozess. Aller »postdramatischen« Abschaffung von »dramatis personae« zutrotz bestehen die in diesem Studium entstehenden Werke immer noch fast gänzlich aus der direkten Rede fingierter Figuren. Und während man einen Prosaautor über weite Strecken seines Werks für die stilistische Qualität seiner Sätze unmittelbar verantwortlich machen kann, ist da im Drama stets erst einmal eine erdachte Person, die so spricht wie sie spricht. Wenn sie schlampig formuliert oder unanschaulich, wenn sie die Klischees des »Szene«-Jargons benützt oder papieren daherredet – nie kann ich ausschließen, dass diese Schwächen Ausdruck der erfundenen Person sind oder dessen, was sozusagen inhaltlich verhandelt wird. Als Lektor bleibt mir letztlich nichts anderes übrig als darauf zu bestehen, dass auch Schludrigkeit, Unsinnlichkeit, Klischeehaftigkeit usw. stilistisch »gesetzt« sein müsse, vom Autor gewollt, also zumindest dem analytischen Blick auch als gewollt erkennbar.

4 Ein Grenzgebiet zwischen Sprache und Ästhetik des Dramas betrifft die anscheinend unausrottbare Neigung gerade Jüngerer zu einer offenbar meist als unproblematisch empfundenen freundlichen Übernahme von Alltagssprache in ihr poetisches Schreiben (ein Vorgang, der gerne auch mit dem schiefen Bild der »Eins-zu-eins-Abbildung« bezeichnet wird). Wesentliche Impulse unseres Lehrens/Lernens richten sich auf die Vermittlung der Einsicht, dass Sprache im Drama etwas Künstliches ist, etwas Gemachtes zu sein habe. Einigermaßen gut demonstrieren lässt sich das an einem einfachen Arbeitsvorgang: dem Rausschmeißen aller Redundanzen aus den Sätzen, der Entfernung aller umgangssprachlichen Schmierstoffe (ja, doch, noch, eigentlich, also, mal usw.) aus dem Dialog. Hilfsweise tritt als Erklärung dazu, dass die Glutamine solcher Partikel schon deswegen überflüssig sind, weil sie den Gestus des Schauspielers tautologisch machen: er spielt das, was bereits im Wort enthalten ist. Sinngemäß gilt das natürlich auch für ganze Sätze, die nur bereits Gesagtes variieren. Damit kommt man auf ein verwandtes Gebiet von grundsätzlicher Bedeutung: den Subtext. Auch die schnell zur Gewohnheit werdende Neigung, Stückfiguren alles aussprechen zu lassen (was sie meinen, fühlen, unbewusst wollen), ist stark und verbreitet. Nach meiner, unserer Einstellung und Erfahrung aber macht meist den Dichter u.a. gerade die Fähigkeit 117

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Junge Schreibstrategien

aus, den Worten, den Wörtern einer Figur ihre Tiefe, ihre Rätselhaftigkeit, ihre Stärke und Ambivalenz ungesagt anzuvertrauen! Hier stößt man an eine der Grenzen des »Beibringens«: das an der gewöhnlichen Sprache entwickelte Misstrauen, das mit dem Vertrauen auf die Kraft der Poesie, die Potenz des Schweigens einhergeht. (Damit aber kein Missverständnis entsteht: Subtext lässt sich natürlich keineswegs durch bloße Verknappung gewinnen; gerade in letzter Zeit gibt es im Drama auch eine Mode des nichts sagenden Minimalismus!)

5 Die Behauptung, Sprache sei das A und O des Schreibens, muss man – mindestens im Hinblick auf szenisches Schreiben – eigentlich sofort mit einem Bildbruch modifizieren: Wenn Sprache das A, so ist die Figur das O der Gattung! Dabei bedeutet Figur, sieht man einmal von Gattungen wie Drehbuch oder Hörspiel ab (die bei uns auch behandelt werden), schlicht Bühnenfigur, Rolle. Schreiben für die Bühne aber erfordert ein Mindestmaß an Kenntnissen dieses Mediums, Erfahrung mit ihm und seinen besonderen Kapazitäten bzw. Wirkungen. Das wiederum betrifft nur die eine, vielleicht erlernbare Seite. Die radikale Forderung, die in dieser Eigenschaft lauert, heißt in Wirklichkeit: schreibe Menschen! Wer für die Bühne schreibt, braucht Menschenkenntnis, ein Sensorium für das, was sich abspielt zwischen ihnen, hochentwickeltes Wahrnehmungsvermögen für konkrete gesellschaftliche Situationen – und natürlich die Fähigkeit, all das sprachlich, szenisch auszudrücken. Mittlerweile werden Jahr für Jahr an den rund 150 deutschen Stadtund Staatstheatern, an Landesbühnen und andernorts bestimmt an die hundert deutschsprachige Dramen uraufgeführt. Viele davon muss ich lesen. Nicht selten handelt es sich um Werke von Autoren, die sich bei uns beworben haben oder Produkte unserer AbsolventenInnen. Unter ihnen muss man Stücke mit Menschen mit der Lupe suchen. Die Fähigkeit von (jungen) DramatikerInnen, Menschen zu gestalten, bleibt das Hauptproblem unseres Studiengangs. In meinen Augen spiegelt dieses Defizit ein Grundproblem des zeitgenössischen Dramas, das durch postmoderne Montagen, mediale Formexperimente oder das drastische Spiel mit Blut und Sex nur vorübergehend zu verdecken ist. Wie oft ziehe ich einem Abend in unserem ausgelaugten Theater die Lektüre eines zeitgenössischen Romans vor, in dem ich all jene geforderten Eigenschaften häufig vereinigt finde! Im Gegenwartsdrama begegne ich Ihnen fast nie.

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Jürgen Hofmann: SCHREIBEN LERNEN. Erfahrungen mit einem Studiengang

6 Praktische Erfahrungen mit dem Medium Theater sind eher einfach zu organisieren. Jeder unserer Studierenden muss im Grundstudium ein Theaterpraktikum absolvieren. Für viele Stückeschreiber bleibt es bei dieser eher peripheren Berührung mit der Bühne. Andere, wenige, suchen den praktischen Kontakt ständig. Das Risiko einer zu großen Nähe mit der Gefahr des allzu einverstandenen Eingehens auf die Konventionen und Funktionen der institutionalisierten Gattung scheint mir im Deutschen nicht sonderlich groß. Die einigermaßen breite Skala ästhetischer Richtungen bei (auch) theaterpraktisch orientierten Dramatikern wie Franz Xaver Kroetz, Heiner Müller, Botho Strauß oder Peter Handke dürfte zeigen, dass die Anpassungsfolgen einer solchen Bühnennähe sich durchaus in Grenzen halten. Übrigens: merkwürdig bleibt eine auffällige Lücke, die Theaternähe doch vielleicht schließen helfen könnte: wo bleibt die gut gemachte Unterhaltung?

7 Wie aber steht es um die Erfahrungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, um Kenntnisse von Menschen und Milieus, um Wissen über unsere Gegenwart und Realität, um Fähigkeiten zur Beobachtung der täglichen Umwelt – kurzum: wie viel Welt- und Lebenserfahrung hat der Schreibende zur Verfügung? Das ist ein kritischer, vielleicht der kritische Punkt. Weder muss ein Sechzigjähriger aufgrund seines Alters das Leben kennen, noch fehlt diese Kenntnis zwangsläufig dem Teenager. Aber oft stehen doch Lust und Fähigkeit zu schreiben bei Jüngeren – und die meisten unserer Studierenden sind anfangs gerade mal zwanzig – in einem Missverhältnis zu der Befähigung, auch etwas zu sagen zu haben. Über die Altersfrage hinaus hat das meines Ermessens mit generationenspezifischen Tendenzen zu tun, beispielsweise mit einem merkwürdigen Wechselspiel von retardierter und Früh-Reife, mit dem Widerspruch von idealistischem Engagement und einem vielleicht mehr denn je verbreiteten politischen Defaitismus, darüber hinaus mit eigenartigen Neigungen zu schneller Selbstzufriedenheit (auch in Bezug auf Texte). Im Prinzip kann kein Studium diese gesellschaftlich bedingten Defizite beseitigen – im Detail und exemplarisch kann man ein bisschen was dagegen tun. So gehören z.B. seit einiger Zeit Grundkurse in Philosophie, Psychologie und Soziologie zum Studium. Der beschriebene grundsätzliche Mangel bleibt ein Problem.

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8 Ungeachtet dessen schreien die Theater nach den »jungen Stücken«. Als 1990 der Studiengang eingerichtet wurde, sangen wir noch im Chor die Klagelieder von der Vernachlässigung der Nachwuchsautoren durch die Bühnen, ihr (bestenfalls) Giepern nach einer Uraufführung und ihre Unfähigkeit, einen Autor, gar eine Autorin zu »pflegen«. Inzwischen ist es keine Seltenheit mehr, dass Studierende bereits während des Grundstudiums eine Uraufführung am Stadttheater haben. Frauen unter den Dramatikern sind fraglos durchgesetzt. Und landauf landab gibt es workshops mit jungen AutorenInnen, Wochenenden mit junger Dramatik, Stückemärkte für »unter dreißig« oder szenische Lesungen von Anfängerstücken. Die Dramaturgen und Regisseure jedoch, die genau lesen gelernt haben bzw. sich nicht auf der Bühne selbst inszenieren, die ästhetische Ansprüche begründen und dem jungen Dramatiker die Schwächen seines Stücks erklären können, sind eher seltener geworden. Dem entspricht die Abwesenheit kompetenter Lektoren in vielen Verlagen. Manche Bühnenvertriebe schicken Stücke herum, die in dieser schlampigen Halbfertigkeit bei uns keine Seminarstunde überstanden hätten. Schwächere Talente bestärkt das – ebenso wie die häufige Uraufführung von »Petitessen« – in ihrer Neigung zur Selbstgenügsamkeit, der Unlust an Selbstkritik. Auf die Bühne hin gesehen scheint sich mir die »junge Dramatik« in einer eigenartigen Lage zu befinden, die nicht selten zu janusköpfigen Auftritten von Erfolg und Dürftigkeit führt.

9 Die Proklamierung des so genannten postdramatischen Theaters bzw. Dramas ist mitverantwortlich für den in meinen Augen erheblichen Niveauverlust von zeitgenössischen deutschsprachigen Stücken und (deren) Inszenierungen. Es gibt plausible Gründe für die punktuelle und partielle Negierung des (aus Sicht der selbsternannten Avantgarde) »dramatischen« Dramas. Aber die Ausrufung des »postdramatischen« Theaters zu der alternativlos zeitgenössischen Form verdankt sich meiner Meinung nach vor allem einer Erfindung der Theaterwissenschaft. Und so wie diese akademische Disziplin nur in der deutschsprachigen Kultur derartig grotesk wuchert, dass sie weit über tausend Studierende anzieht, so findet postdramatisches Theater meines Wissens auch hierzulande seine glühendsten Anhänger. Postdramatik – man muss betonen: ein schwammiger Sammelbegriff – 120

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mag bemerkenswerte Produkte hervorgebracht haben. Als selbsternannte Stilrichtung der Avantgarde bietet sie meiner Erfahrung nach einen idealen Tummelplatz für Hochstapler, Möchtegernkünstler und Epigonen aller Couleur. Wenn distinkte (gar sich entwickelnde) Figuren, wenn Handlungen (möglicherweise durch Motivverknüpfungen grundierte), wenn Dialoge (obendrein vielleicht diskursive) – wenn alle tradierten Parameter des Dramenschreibens für überholt erklärt werden, darf man sich über das lawinenhafte Anschwellen von Dilettantismus nicht wundern. Unser Studiengang dient erklärtermaßen dem szenischen Schreiben. Längst aber bekommen wir zur Bewerbung nicht selten reine Prosatexte, tagebuchartige Notizen, Montagen beliebiger Zettelkasten-Materialien usw., bei denen man den Eindruck hat, sie seien Teil einer von Spaßvögeln ausgehenden Probe auf die Aktualität des Andersen-Märchens von »Des Kaisers neuen Kleidern«.

10 Schriftsteller sind, entgegen einer deutschen Tradition des moralisch, politisch, sozialkritisch engagierten Poeten, keine per se besseren, besser durchblickenden Menschen. Auch kommen Eitelkeit, Geltungsbedürfnis, Neid oder Schwindel nicht nur beiläufig in diesem Beruf vor, scheinen vielmehr zu ihm zu gehören. Wir leben, das ist kein Geheimnis, in einer Zeit und Gesellschaft ohne kühnes Zukunftsdenken, die fundamentale Fragen von Ökologie, von schreiender sozialer Ungerechtigkeit und von ethischen Risiken der Technologie aus Profitgründen verdrängt. Während in den elektronischen Medien die Ausstellung von ärmlichen Egos der Reichen, Schönen und Berühmten bereits den Charakter einer obszönen Parallelwelt angenommen hat, dringt auch ins Theater die Dominanz des um jeden Preis Spektakulären ein. Ich bin überzeugt, dass man in einem Studiengang zum Lernen des künstlerischen Schreibens unter solchen Bedingungen an seine Studierenden besonders hohe Anforderungen im Hinblick auf Seriosität und Solidität stellen muss. Sie aber sind nicht im Verfolgen konzeptioneller Programme oder stilistischer Programme enthalten – ihre Wahrheit erweist sich im Konkreten.

11 Wer szenisch schreibt, Dramatikerin wird, reiht sich nolens volens ein in die Zunft. Immer noch lohnt es sich, die Großen der dramatischen Weltliteratur in ihrer unendlichen Vielfalt zu studieren: ihre Unbedingtheit, ihr 121

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Arbeitsethos, ihren Fleiß, ihre Menschenkenntnis, ihre Lernprozesse, ihr Mitleiden als Menschen und ihre Kälte in der Kunst. Als Anfänger darf man sich als Genie aus eigener Hand fühlen, vielleicht muss man es sogar ; als Lernender muss man mit Respekt und neugieriger Genauigkeit denen auf die Finger schauen, die seit Jahrhunderten, Jahrzehnten oder auch nur seit Jahren mit ihren Stücken Menschen bewegen, sie zum Weinen, Lachen und Nachdenken gebracht haben. Das Kennenlernen, mehr : das sorgfältige Untersuchen von möglichst vielen Dramen des Repertoires, ihrer Bauart und Wirkungsweise, ihrer Motivierung und Figurenführung, der Dialoge und der szenischen Kunstgriffe – all das ist unentbehrlicher Bestandteil unseres Studiums.

12 AbsolventenInnen des Studiengangs Szenisches Schreiben – es sind im Lauf von gut anderthalb Jahrzehnten mittlerweile rund fünfzig – heben als Qualitäten des Lernprozesses, an dem sie vier Jahre teilhatten, fast durchwegs zwei Erfahrungen hervor. Das eine betrifft die Praxis der Auseinandersetzung untereinander, also die permanente, zurzeit auch schonungslose Kritik von Studierenden, die sich im gleichen Stadium befinden. Eine solche sozusagen gleichrangige Kritik ist natürlich weder bei Verlagslektoren, Dramaturgen oder Regisseuren zu finden noch gar dann, wenn man irgendwo alleine vor sich hin schreibt und die Resultate allenfalls Freunden vorträgt. Noch mehr gewürdigt wird die intensive Begegnung mit einer Reihe von schriftstellerischen Individualitäten. Das bezieht sich auf den Umstand, dass das Gastdozenten-Prinzip seit der Begründung des Studiengangs zu seinen Fundamenten gehört und mittlerweile dergestalt installiert ist, dass jeder Studierende pro Semester in längeren Arbeitsprozessen durchschnittlich vier Gäste erlebt, von denen die meisten beruflich schreiben, meistens vor allem fürs Theater. Bis zum Abschluss hat man also schätzungsweise zwanzig Dichter im Seminar kennen gelernt. Jeder schreibt – und keiner kann ein Rezept dafür weitergeben, vielleicht noch nicht einmal Tricks verraten. Unser Studium begreift Schreiben auch als lebenslangen Such- und Ausdrucksprozess, spielt sich fern ab von US-amerikanischen Anleitungs-Kompendien des »creative writing«. An ihre Stelle tritt die schöpferische Auseinandersetzung mit Menschen, die ihren Stil gefunden haben und ihn weiter suchen. Nur in diesem Sinn kann man Schreiben lernen.

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Studiengang SZENISCHES SCHREIBEN an der Universität der Künste (UDK)

Studiengang SZENISCHES SCHREIBEN an der Universität der Künste (UDK) Leitung: Prof. Dr. Jürgen Hofmann

Der 1990 gegründete Studiengang gehört – wie u.a. Schauspiel, Musical, Bühnenbild – zur Fakultät Darstellende Kunst (einer von vier bzw. fünf Gliederungen der UDK). Er besteht aus jeweils zwei Jahrgängen von Studierenden, die sich stets aus weniger als zehn TeilnehmerInnen zusammensetzen; zurzeit studieren der achte Jahrgang (Abschluss WS 2008) und der neunte (der 2006 aufgenommen wurde). Es gibt drei Positionen von fester beschäftigten Lehrenden: Tankred Dorst (als Teil-Zeit-Gastprofessor, der nur einmal im Jahr präsent ist), Jürgen Hofmann (als Studiengangsleiter) und Oliver Bukowski (als Autor »vor Ort«). Das Studium ist in ein je viersemestriges Grund- bzw. Hauptstudium gegliedert; zwischen beiden liegt eine Zwischenprüfung. Der Studienbetrieb läuft von Montag bis Donnerstag vor- und nachmittags. Jeder Jahrgang hat pro Semester vier GastprofessorenInnen, überwiegend (Bühnen-)SchriftstellerInnen, aber auch Regisseure sowie Theoretiker. Bis zum Ende des Grundstudiums sind außerdem pro Semester mehrere Seminare bei Jürgen Hofmann und Oliver Bukowski obligat. Im Hauptstudium finden jeweils zweisemestrige Kurse zu Hörspiel und Drehbuch statt. Gegenstände des Studiums sind vor allem das Schreiben selbst (samt Lektorat), die Bühnenpräsenz der Texte und die Dramaturgie. Die Arbeit auf diesem Gebiet wird vor allem von Jürgen Hofmann und Oliver Bukowski sowie den wechselnden Gast-ProfessorenInnen versehen. Daneben gibt es Bausteine der Theater- bzw. Dramengeschichte (wie antikes Polis-Theater oder Shakespeare) und kursartige Veranstaltungen zu Philosophie, Psychologie und Soziologie. 123

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Aufgenommen wird alle zwei Jahre zum Sommersemester. Nach vier Jahren schließt das Studium mit einer einfachen Prüfung ab. Unter den 40 bisherigen AbsolventenInnen sind u.a. Silvio Huonder, Dea Loher, Katharina Gericke, Thomas Oberender, David Gieselmann, Marius von Mayenburg, Katharina Schlender, Melanie Gieschen, Rebekka Kricheldorf, Bernhard Studlar, Andreas Sauter und Tine Rahel Völcker, Anja Hilling, Thomas Freyer und Johanna Kaptein. Unter bislang rund 50 GastprofessorenInnen haben am Studiengang u.a. gewirkt: Alfred Behrens, Paul Binnerts, John von Düffel, István Eörsi, Wolfram Fleischhauer, Hans-Joachim Frank, Werner Fritsch, Rainald Goetz, Maik Hamburger, Christoph Hein, Jutta Heinrich, Richard Hey, Lutz Hübner, Thomas Jonigk, Rainer Kirsch, Ursula Krechel, Volker Ludwig, Manfred Mixner, Petra Morsbach, Harald Müller, Margareth Oberexer, Armin Petras, Klaus Pohl, Ulrich Plenzdorf, René Pollesch, Gerlind Reinshagen, Alexej Schipenko, Barbara Schneider, Simone Schneider, FrankPatrick Steckel und Hansjörg Utzerath. Im kommenden Sommer werden dazu u.a. Kathrin Röggla, Gerd Heidenreich, Samir Nasr und Avishai Milstein treten.

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Nina Büttner: Kirschen in Benzin

Kirschen in Benzin Nina Büttner

Personen Nick: Ende vierzig, Taxifahrer Elodie: Mitte vierzig, »Fahrgast« Anmerkung zum Stück: Berliner Mundart kann je nach Region verändert werden.

Ausschnitt: 1. Szene Silvesternacht. Landstraße, Feld mit Neuschnee. Ein Taxifahrer Nick schraubt an seinem liegen gebliebenen Wagen, eine Thermoskanne daneben. Eine nicht mehr junge Frau, Elodie tritt auf. Nick will sich eine Zigarette anzünden, findet kein Feuer. Sieht im Innersten des Taxis nach. Elodie nähert sich wieder, ziemlich dicht, wie um ihn anzusprechen. Nick, der sie vorher nicht bemerkt hat schreckt hoch, bedroht Sie mit einem Werkzeug. Elodie tritt ein paar Schritte zurück. Als Nick seinen Irrtum bemerkt lässt er das Werkzeug sinken. Nick: Junge. Da bleibt eim ja det Herz stehen. Schleichen Se sich immer so ran, von hinten? Elodie: Sie prügeln sich wohl gern. Nick: Dachte, Sie wär ’n Kerl. Elodie: Kein Feuer oder Ornament? (deutet auf die Kippe in Nicks Mund) Nick: Untern Sitz jerutscht.

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Elodie dreht am Feuerzeug, eine kleine Flamme, dann wirft sie das Feuerzeug weg. Lacht. Nick: Ihr Humor, ja ? Elodie: Fahren Sie mich? Nick: Verschonen Se mich mit ihrer Komik ja. Wenn ick lachen will geh ick innen Zirkus. Elodie: Nehmen Sie sich frei. Nick: Frei! Lady. Machen Se ma bitte nich kirre. Elodie (stichelnd): Man muss aufpassen. Die Straßen sind vereist. Nick: Ick empfehl Ihnen flache Schuhe. Elodie: Bin praktisch auf Pumps aus dem Mutterleib geflutscht. Daran erkennt man – Grandezza! Nick: Diätmarjarine? Elodie: Grandezza bedeutet, Leichtigkeit bewahren, wo andere sich am Boden wälzen. Das hat Frau, oder hat es nicht. Nick: Will nich wissen, was Se sonst noch so im Kühlschrank haben. – Und steh ma nich im Weg rum! Elodie: Wie kommen Sie dazu mich zu duzen. Nick: Ick duze dir nich. _… Nick: Wat jibts zu glotzen? Elodie: Sie haben schöne Arme, an den groben Pfoten. Nick: Bestaunen Se die Landschaft. Elodie: Das wird wohl noch lange dauern. Nick: Jeduld müssen Se schon haben Lady. Ick mach hier keene Ferien. Elodie: Sie könnten bei ihrer Familie sein. Nick: Wäre ick schön blöde. So viel wie heut verdien ick innem Monat nicht. Elodie: Kinder? Nick: Setzen Se sich irjendwo hin. Elodie: Verdient man gut, heutzutage, als Taxifahrer? Sie können davon leben. Nick: Körpertemperatur 37 Grad, 70 er Ruhepuls, Pupillenreflex normal. Atem regelmäßig. Elodie: Die Taxiprüfung soll ein hartes Stück Arbeit sein. Nick: Allet ne Sache der Übung. Elodie: Man muss überall hin finden, den kürzesten Weg. Wie eine Katze: Innere Landkarte. Eine Katze kommt zurück, egal wo man sie aussetzt. Nick: Wer is so unmenschlich ne Katze auszusetzen! Ner Katze bricht ma det Jenick. Elodie: Unglücklich? 126

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Nick: Lady. Ick muss mir hier konzentrieren. Wenn det Ding läuft können Se mir allet erzählen, Jedichte uffsagen, ick schreib och in Ihr Poesiealbum, aber bitte zehn Minuten… Pschschtt!!! Elodie setzt sich auf eine Leitplanke, breitet vorher ein Taschentuch darüber, oder putzt die Leitplanke vorher ab. Elodie: Nass. (Sitzt, beobachtet.) Elodie: Die Falten in ihrem Gesicht, woher kommen die? Nick: Schlafe aufm Bauch. Kopfkissen. Elodie: Haben Sie Träume? Nick: Im Moment träum ick von nem fünf Meter tiefen Schlagloch, wo Sie gerade stehen. Elodie: Es heißt, Träume gehen in Erfüllung. Die Sirupflasche: Erst kommt lange Zeit gar nichts, und dann kommt alles auf ein Mal: die Hauptspeise ist verpfuscht. Nick: Hat ihre Mutter ihnen ma wat Falsches innen Pudding jemischt. Oder sonst wat Traumatischet? Elodie schaut Nick zu. Elodie: Ich mache mir nichts aus Festtagen. Klebst einen Stern ans Fenster, und bildest dir ein, dass sich was verändert. Geht das Radio? Nick: Warum? Elodie: Hier fehlt die Stimmung. Mir ist gerade so nach Tanzen. Nick: Tanzen. Wennse Tanzen wollen fassen Se inne Steckdose. Elodie: Ich weiß nicht, was ich Ihnen getan habe. Nick: Ick unterstell Ihnen keene böse Absicht, aber so eene, wie Sie, kannen Grund sein, warum n Mann ins Kloster jeht. Elodie will abrupt gehen. Nick: Warn Witz! Setzen Se sich wieder hin und machen Se ma nich nervös. Elodie setzt sich wieder. Nick: Hamse doch was übrig,… für Witze. – Sie sollten hier jar nich alleene rumloofen, Lady. Elodie: Verirrt. Nick repariert weiter. 127

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Nick: Sieht nach happigem Wetter aus. Elodie: Wie wäre es mit Pannenservice? Nick: Denken se man, bin ick ooch schon druff jekommen. Elodie: Und? Nick: Netz überlastet. Elodie: Wie weit ist es bis zur nächsten Ortschaft? Nick: Gleich hab ick’s. – Ick küss det Ding wach wie Dornröschen. Elodie: Da kommt ein Auto! Nick (unwohl): Wat? Wo denn? Elodie: Da sind Scheinwerfer. Nick: Ick sehe keene Scheinwerfer. Elodie: Jetzt sind sie verschwunden. …– Vielleicht nur ein Waldstück – . Nein. Nichts mehr. Nick: Warn sowieso zu weit weg. Elodie und Nick sehen sich erleichtert an. Nick schenkt sich was aus der Thermoskanne in die Tasse. Elodie: Rauchpause? Nick: Sie ham ja noch n Zweites? Elodie: Ich lasse mich ungern mit nem Schraubenschlüssel vermöbeln. Nick: Erste Reaktion. Wat Warmet? Elodie: Vielleicht später. Elodie zündet für Nick eine Zigarette an, steckt sie zwischen seine Lippen. Nick: Wollte damit uffhören. Elodie: Können Sie auch morgen noch. Nick zieht, hustet, nimmt mit spitzen Fingern die Zigarette raus. Elodie: Was ist denn? Nick: Wenn ick was aufn Tod nich ausstehen kann, dann isses Lippenstift am Filter. Nimmt noch einen Zug, will die Zigarette wegspucken, Sie fällt auf seinen Ärmel, er schüttet aus einer fahrigen Bewegung Tee über Elodies Mantel. Nick: Scheiße! Elodie (Schaut an sich runter): Früchtetee.

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Nick: Geben Se her. Det jeht wieder raus. Elodie (riecht): Hagebutte, Vanille. Beutel oder lose? Nick nimmt den Mantel. Reibt mit dem Taschentuch, das für Leitplanke und Wunde herhalten musste an dem Fleck rum. Elodie: Wundert mich. Dachte Sie wären mehr son Typ für Pfefferminze. Nick: Nagen Se mir keen Ohr ab. Ick hab andre Sorgen als Typbestimmung über Teesorten. Elodie: Die ganz große Oper? Nick: Der Fummel is so pickfein, den musste nur schräg angucken, dann hat dern Fleck. Elodie: Geben Sie her! – Wir sind hier nicht in der Karibik. Als sie den Mantel wieder anhat. Nick: Jewinnt. Wirkt jetzt irjendwo frischer. Elodie: Merci mon Provinzlagerfeldt! Nick: Natürlich werde ick’s bezahlen… Elodie: Ich hänge nicht daran. Wollte ihn schon den Motten vermachen. Oder in die Altkleider. Nick: …die Reinjungskosten. Elodie: Wovon ? Ihren Werkzeugkasten verkloppen? Nick: Ick habe was ick brauche. Det hier is Zeitvertreib. Elodie: Und halten die Karre mit Packetschnur zusammen. Nick: Ick sach ma so. Ick bin nich eitel. Elodie: Plattenbau. Ein Kaktus, den man durchpäppelt, weil er zuhören kann. Ausblick auf einen angelegten Sandkasten, kein Kind. Oder: Kellerwohnung. – Und? Nick (knurrt): Hat ma Ruhe. Elodie: Schlaf ich lieber unter freiem Himmel ein, gekuschelt an einen Brückenpfeiler, Bettdecke aus Laub. Warum sich die Mühe machen in ein Kaufhaus zu gehen, die Leute werfen so tolle Dinge weg. In den Armenküchen soll die Suppe ja besser sein als im Ritz. Ehrliches Essen. Nick: Halten Se mich fürn Penner? Elodie: Ein aufregendes Leben. Jede Mülltonne ein kleines Abenteuer. Sie geht zu einem Mülleimer, öffnet den Deckel, es stinkt. Elodie: Ihr täglich Brot! (Sie beugt sich in die Tonne und stöbert) Nick: Langsam hab icks dicke! Lassen Se die Finger vonen Abfällen. Für ne 129

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Lady, die morgens mit Desinfektionsmittel gurgelt kann det tödlich sein. Elodie: Interessant, dass Sie das erwähnen. Ein Glückskeks. Sogar noch verpackt. Das ist kein Zufall! (Haut mit der Hand auf die Tonne) Angebot! Nick: Verzichte! Elodie: Würde ich mir an ihrer Stelle noch Mal überlegen. Elodie steckt den Keks ein, holt Geldscheine aus der Tasche, klemmt Sie unter die Windschutzscheibe. Elodie: Ich hab noch mehr zu bieten! Nick: Wat is dette? Elodie: Man nennst es »Geld«. Is lange her wie? Ich schenke es Ihnen. Nick: Stecken Ses man hübsch wieder weg. Elodie: Von meinem Liebhaber. Ich soll mir was Schönes davon kaufen. Nick: Passen Se ma uff, Lady. Ick bin nich käuflich! Elodie: Nein? – Zählen Sie ’s! Nick: Stecken Se ’s wieder ein! – Und zwar ’n bisschen plötzlich. Elodie: Misstrauisch? Ihre Familie kann sich freuen. Sie sind einer, auf den man sich verlassen kann. Nick sammelt das Geld selbst ab. Will es Elodie wütend geben, entschließt sich es zu zählen. Nick: Echt!? Elodie: Wie ihr Motorschaden. Es gehört ihnen. Nick: Keener, der se beieinander hat, verschenkt dreißigtausend Euro. Einfach so! Elodie: Greifen Sie zu. Ich bin die Glücksfee…Gut. Ich bin eine etwas abgetakelte Glücksfee. Sehen Sie mich als einen Spielautomat, Betriebsschaden auf drei Mal Kleeblatt. Ich spucke Kleingeld, bis die Schrauben glühen. Nick zögert. Elodie: Muss ich ihnen erst drei Wünsche frei stellen, oder aus n’er Bierdose kriechen! Glauben Sie mir dann? Nick (Legt das Bündel Geldscheine auf die Motorhaube): Wo is der Haken? Elodie: Sie zählen zu dem Schlag Mensch, der als Junge den Fliegen die Beine mit Pinzette ausgerissen hat. Sie sehen eine Taube angebraten lieber als in den Ästen eines Kirschbaums. 130

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Nick: Jenau. Praktizierte Tierliebe. Worauf wollen Se raus? Elodie: Können Sie eine Leiche vertragen? Nick: Wenn se taubstumm is. Elodie: Verdienen Sie sich was dazu. Mit mir hätten Sie eine schicke Verblichene. Nick: Übertreiben Se nich. Für erste täts schon reichen, wenn Se zwischen den Worten tief durchatmen. Elodie: Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden. Ich habe nicht vor den Neujahrstag zu erleben. Und sie sind dabei. Praktizierte Sterbebegleitung! Unterhalten sie mich, bis es soweit ist! Nick: Wat?!?!?!?!?!?! Elodie: Ersparen Sie mir den »das Leben ist schön« Müll. Nick: Dat Geld, gegen…ihrn erlesenen Freitod, ja? Elodie: Ich habe eine Entscheidung getroffen. Stellen Sie meinen Entschluss gefälligst nicht in Frage. Kapiert Cowboy? Nick: Ne Lady wie Sie glaubt an nischt mehr? Elodie: Schönes hat ein Verfallsdatum. Ist schneller abgelaufen als Rohmilchkäse. Nick: Sie ham also beschlossen den Löffel abzujeben Ja, Lady Elodie: Sie treffen den Löffel auf den Kopf. Ich habe es nicht vor: heißt, nicht nur große Klappe sondern Taten! Das einzige, was ich von ihnen erwarte: Ziehen Sie hier keine Show als der große Retter ab! Nick: Mhm. – Eins versteh ick nich. Wenn Sie nicht scharf druff sind, dass ihnen eener reinquatscht. Warum erledigen Se det nich privat? Elodie: Mit dem Sterben ist es wie mit dem Essen. In Gesellschaft ist es gemütlicher. Nick: Seh ick ein. – Und wie hamse sich det so jedacht? Elodie: Als Nächstliegendes dachte ich: Die Backröhre. Die Frau mit dem Kopf im Ofen. Zu literarisch. Mit dem Lesen hatte ich es noch nie, ich schlafe dabei so leicht ein. – Erhängen: Er fordert zu viel Technik, das ganze Geknote. Man spaziert ja nicht einfach zu Obi und sagt: empfehlen Sie mir mal nen Strick, für mein Gewicht. Pulsadern: Kann kein Blut sehen. Springen: Höhenangst. Und da blieb mir nur noch -… Gift! – Effizient, sauber, tragisch. Was sagen Sie dazu? Nick: Is det hier vasteckte Kamera? Elodie: Ein hartes Stück Arbeit da ranzukommen. Dem Herrn vom Chemielabor hab ich erzählt, ich hätte Marder auf dem Dachboden. Erst habe ich mich ganz interessiert gegeben, an seiner Person interessiert natürlich, habe ihn denken lassen, seine Giftwässerchen wären nur ein Vorwand. Er wollte mich besuchen. Dabei habe ich gar kein Haus. Und das Ärgste, was zwischen meinen Tapeten herumkriecht sind Sil131

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berfischchen. Letzen Endes habe ich ihn dann besucht. Er hat Kammerjäger vorgeschlagen. Ich habe auf Püppchen und traumatischen Trallala Zustand gemacht, und behauptet, ich lasse ungern Fremde ins Haus… Aber das Zyankali, das hat er nicht rausrücken wollen. Das Arschloch. Geizt da mit seinem Gift, als ob wir nicht eh schon Überbevölkerung hätten… – Hab ich’ s einfach mitgehen lassen. Sie kriegen es gar nicht mit, das wirkt so schnell. – Zerren Sie mich an den Straßenrand, damit es keine Sauerei gibt, falls hier einer die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht einhält. Und sorgen Sie dafür, dass meine Augen zu sind. Ich habe nicht vor, einen Blick zurück zu werfen. Nick rutscht mit einem Gegenstand ab, weil er nervös ist, verletzt sich an der Hand. Flucht. Blutet ein bisschen. Hält sich die Hand. Nick: Ma ’n Taschentuch! Elodie (fummelt in der Handtasche): Ich hatte doch gerade noch… Nick: Machen Se hinne Lady. Bis nächstet Weihnachten kann ick nich warten. Elodie: Jaja, ich find’s ja gleich. . immer, wenn man was sucht… und wenn es schnell gehen muss…, wo ich doch kein Blut…(Schüttet den Tascheninhalt auf den Boden. Sucht zwischen den Sachen) … die Zahnseide. Gibt’s das! Such ich seit Wochen! …. (Fängt an in den Manteltaschen zu suchen, findet das Nasse.) Nur das benutze Nick: Jeben Se mir dette! Elodie: Sind sie spitz auf eine Blutvergiftung? Kommt nicht in Frage, dass Sie vor mir abtreten. Nick: Nur ’n Kratzer! Elodie: Die saubere Seite! Nick: Drücken Se ’s irjendwie druff! Au!!!! Jott! Elodie: Lassen Sie Gott aus dem Spiel! Der is für Wichtigeres. Nick: Loslassen! Elodie lässt los: Warn bisschen fest? Nick: Mensch. Ick hab jesagt drücken, nich amputieren! Elodie: Stellen Sie sich vor, was Sie mit dem Geld anstellen könnten. Die Fantasie ist grenzenlos. Nick: Fantasie beißt sich mit Schulden, Lady. Elodie: Und Geld ist das Aspirin gegen Schulden. Spielen Se doch mal n’bisschen mit den Muskeln ihrer Vorstellungskraft. Der Affe, der sich den Ast nicht vorstellen kann, auf den er springt, ist bald ein toter Affe. Nick: Bedenkzeit? 132

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Nina Büttner: Kirschen in Benzin

Elodie:(Sie Schaut auf die Uhr) Ich gebe ihnen eine Minute, dreißig. Elodie kniet sich zu dem verstreuten Inhalt ihrer Tasche. Räumt ein: Kann nicht schaden hier mal Ordnung reinzubringen. (Hebt ein Parfumpröbchen auf) – Mein Parfum. (Prüft den Verschluss, steckt es in ihren Ausschnitt) Nick: Soll ick ihnen det hinterher ooch noch drüberkippen? Der letzte Acker ne Blumenwiese, wa! Elodie: Kaugummi? Nick: Danke. Nein. Elodie(Steckt sich selbst einen in den Mund): Würde ihnen nicht schaden. Nick: Det Stinkt det Zeug. Ihr O dö Toalät, wie der Franzose sagt. Elodie: Kirschen in Benzin. Riecht nach ihnen. Ein bisschen süß, ein bisschen ätzend, insgesamt tödlich. Nick: Jetzte man langsam Lady. Ick sehe, dasse verzweifelt sind. Aber erwarten Se von mir nich, dass ick mir die Pfoten verbrenne. Elodie: Das ist ein Missverständnis. Ich bin nicht verzweifelt. Ich habe nur keine Lust mehr zu leben. Nick: Über so wat macht ma keene Witze! Elodie: Da bin ich ganz ihrer Meinung. Nick: Wie wärs wennde ma n Therapeuten wechselst? Elodie: Sind wir jetzt wieder beim Sie, oder beim Du? Nick: Am Arsch sind wa, am Arsch der Welt! Elodie: Romantisch. Nick: Ziemlich vergnügt für ne Lebensmüde. Elodie: Ich habe nichts mehr zu verlieren. Das ist die Windstille mitten im Tornado. Nick: Wenn dette die Stille is, möchte ick den Tornado nich erleben. Sie sind nich alt JENUG, um zu sterben. Elodie: Ich habe mich gut gehalten für ein Mädchen in meinem Alter. – (demonstriert, indem Sie über ihren Körper streift) Alles fest! Da kann manche Zwanzigjährige nicht mithalten. Nick (winkt ab): Längst rejistriert. Reflexe funktioniern noch. Elodie: Na dann fassen Sie mal an! Hier! Nick: Nich Lady! Ick bin ’n Gentleman. Elodie: Ha! Gentleman! Wenn eine Dame Sie zu etwas auffordert, haben Sie sich dem zu fügen! Klar! – Langen Sie mir endlich an den Arsch! Nick legt vorsichtig eine Hand an ihren Hintern. Elodie: Nicht so zimperlich! Elodie: Und? Nick: Hm. 133

2008-01-15 10-43-37 --- Projekt: T512.lettre.tigges / Dokument: FAX ID 02fa168349669072|(S. 125-135) T03_03 büttner.p 168349669400

Junge Schreibstrategien

Elodie: Was hm? Nick: Mhm. Elodie: Sag ich doch! Und jetzt Pfoten weg kapiert! Nick: Is ja jut!!! Elodie: Eins dreißig sind um. Entscheidung! Nick: Ick nehme an. Elodie: Kluger Junge. Nick nimmt das Geld. Steckt es ein. Elodie: Sie kennen die Bedingungen. – Lassen Sie sich von mir nicht stören. Nick: Mach mir inzwischen mal an den Reifen. Elodie: Haben Sie was zum Blättern? Nick: Zeitung. Im Handschuhfach. Elodie geht zum Auto, beugt sich rein. Nick: Finden Sies? Elodie: Ja ja. Elodie setzt sich ins Auto. Prüft ihr Gesicht im Rückspiegel. Holt Zahnseide raus. Elodie: Schauen Sie mir nicht dabei zu! Sie schauen ja doch! Elodie packt Zahnseide weg, nimmt Zeitung, blättert. Nick setzt den Wagenheber an. Elodie: Huch! Nick: Besser als Himmelfahrt, Lady! Elodie (liest weiter): Wird sich rausstellen. Nick: Jibt wat Neuet. Wat Spektakuläret? Elodie: Das Übliche. Hier. Ein 55 jähriger Mann. Von Krebs geheilt. – Bedauernswert. (Liest weiter): Haben Sie das gewusst? Das Herz, ist das einzige Organ, dem der Krebs nichts anhaben kann. Er schafft es nicht, den Hauptstecker rauszuziehen und muss im Umkreis sabotieren. Nick: Jeder Zugfahrer überfährt mindestens een Mal in seim Berufsleben nen Menschen. Is ooch n Artikel drin. 134

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Nina Büttner: Kirschen in Benzin

Elodie: Statistisch gesehen stirbt ja auch jeder mindestens ein Mal. Nick: Deshalb so uffjebrezelt? Elodie: Besser schön im Sarg, als hässlich im Leben. Was ist bei Ihnen so los? Nick: Verleih. Kostüme. Elodie: Verkleidung! Nick: Kostüme. Maßanfertijung, und so. Elodie: Sie machen hier einen auf ölbeschmierten Rambo, und träumen in Operette? Nick: War mal n’ Renner, der Laden. Elodie: Jaja, die Wirtschaft. Nick: Hab mir’ n bisschen verkalkuliert. Is aber schon so jut wie ausjebügelt. Elodie: Welche Summe? Das bisschen, das sie verkalkuliert haben. Nick: Fünfzehn. – Fünfzehntausend. Wenn ick mir wieder berappelt habe, nehm ick mir wat Kleines, mit Blick auf Sonnenuntergang. Elodie: Ich hab alles verkauft, was ich hatte. Die Wohnung gekündigt. Das Handy, den Katzenkorb. Nick: Wat macht Sie so unglücklich Lady? Elodie: Man bekommt Kopfschmerzen, von alle Tage Regenbogenfarben. Nick: Wissen Se, wat ihr Problem is! Ihnen jehts zu jut Elodie: Sie haben Recht. Das hier, wird der letzte Budenzauber, mir zur Feier. Mein Silber zerhäcksle ich zu Lametta. Das Gold wird umgeschmolzen zu Patronen. Ich fackle den Pelz ab, zu einem gigantischen Feuerwerk Meine Handtaschen stopfe ich alten Kanonen ins Maul, und beschieße die Stadt. Ich tätowiere der Welt einen goldenen Kuss in die Arschbacken. Nick: Ham Se sich ja tüchtig wat vorjenommen oder muss ick sagen: einjenommen? Elodie: Sie haben kein Wort verstanden, richtig? Nick: Sie hocken zu viel vorm Fernseher! Elodie: Pfuschen Sie mir nicht in meine Depression! Nick: Würde ick nich wagen. Wo Se doch so knorke sind dabei. Elodie: Freut mich, dass ich Sie amüsiere. Nick: Ick verleg ma druff, Sie mehr so auf ne zoologische Art zu betrachten. Wissenschaftlich. Vielleicht nützen Se mir mal war fürn Kreuzworträtsel. Elodie: Ich warne Sie. Das Feld der Wissenschaft ist weiter als der Rübenacker vor ihrer Nase.

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) vakat 136.p 168349669408

Dirk Laucke: alter ford escort dunkelblau

alter ford escort dunkelblau Dirk Laucke

(Vertrieb: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH)

Personen Paul (22) Schorse (42) Boxer (28) Karin (38)

Ort und Zeit Mansfelder Land Hochsommer Anmerkung zum Stück: Schrägstriche (/) im Text bedeuten vorzeitigen oder direkt anschließenden Sprecheinsatz des nächsten Sprechers ca. von da ab. Einzige Ausnahme: »ac/dc«

Auschnitte: 7. Szene, 11. und 12. (letzte) Szene 7. highway to hell Schorse: angus young. phillip hörste junge. angus young. das war auf som steg steg ins publikum rein angus kommt angestampft. geiles solo bei jailbreak zehn minuten lang un zwischendurch schaffts angus un schießt mir die hand hin. so. Boxer: kurve. pass ma n bisschen auf schorse. 137

2008-01-15 10-43-38 --- Projekt: T512.lettre.tigges / Dokument: FAX ID 02fa168349669072|(S. 137-143) T03_04 laucke.p 168349669416

Junge Schreibstrategien

Schorse: angus hand. ungelogen. Boxer: guck ma untern sitz paul. Paul: ich kuck unter schorses sitz. ordentlich nebeneinander, vier fünf flaschen verschiedene sorten. haste die mitgehen lassen. Boxer: nu gib schon her. schorses augen. jede volle pulle die zurück kommt. innem kasten oder ner ganzen palette. die sieht er. un ich hab nur augen für oettinger schildchen. Schorse: karin. ju schuck mi allneit long. will ich aber auch n schluck. Paul: aber nich viel ja, nich so viel nich so viel spinnst du. die können hier überall stehen. Boxer: als hätt er keinen kehlkopf. will dein kleiner auch. Schorse: spinnst wo. Paul: du schluckst wie der salzige see, schorse. Schorse: weißtn du von dem. ich hab noch drinne gebadet, du kennstn wenn doch nur als pfütze. wischter auch noch die pulle ab. Paul: erst ekelts mich, dann isses egal. solange das da draußen, windräder, äcker, tankstellen mansfelder land vorbei rauscht. langsam vorbei. wohnhaussiedlungen mit bisschen wiese davor und ner plastikrutsche knallrot für die kinder. und plastikschaufeln und plastikharken in kleinen sandkästen mit zaun drum. und noch n zaun um den zaun. nur die ex-häuser die ohne scheiben in den zu kleinen fenstern wern nicht mehr eingesperrt. zwei stockwerke höchstens. der putz is grau und die dächer. kann mich noch erinnern, als kind mit meim vater ma ne fahrt richtung bitterfeld gemacht. grün oder schwarz warn die frührer die dächer. auch wenn keiner mehr drin sitzt gardinen gibs noch. zu nichts zu gebrauchen. außer ins schwarze da rein kucken. sperrangelweit auf. wie wenn einer zu schreien versucht hat, stirbt und bleibt so. es reicht wenn ich einen tag hinter mir hab und stolz bin am leben zu sein. Boxer: (rülpst) adel verpflichtet. (Paul hebt müde die Hand zum Pioniergruß) Schorse: einen traum hab ich. sprichste eigentlich englisch paul. kannst doch englisch sprechen. Paul: ja. Schorse: warste schon mal in staaten. Paul: in london war ich mal auf klassenfahrt. england. Schorse: kannste richtig gut. ich meine kannste dich so richtig unterhaltn in englisch. 138

2008-01-15 10-43-38 --- Projekt: T512.lettre.tigges / Dokument: FAX ID 02fa168349669072|(S. 137-143) T03_04 laucke.p 168349669416

Dirk Laucke: alter ford escort dunkelblau

Paul: geht schon. Schorse: weil einen traum hab ich paul. sone fahrt wie hier. noch weiter. route 66. einmal durch amerika. einmal von norden nach süden quer durch fahren. von den bergen in die wüste. von der wüste ans meer. las vegas. pazifik. alles geld aufn kopp hauen. ich dachte nur. ich hab mir so gedacht. wenn du englisch kannst. hab ich gedacht. kommste mit. also. du als dolmetscher. wir fahren mit ner breiten karre, mietwagen oder so, wo ma drin penn kann. oder manchmal im motel mit nem fernseher der schon läuft wenn ma rein kommt. un leuchtreklame vorm fenster. und der typ der uns die schlüssel gibt trieft vor schweiß. aber das interessiert uns alles nich mehr. sollen alle machen wasse wolln. wir fahren da einfach durch. wär doch was, oder. (Pause.) Paul: mit wasn fürn geld. (Pause.) Schorse: ich will mich nich mehr bescheißen lassen. wennde mich fragst es/gibt nur einen Paul: weißt nich wohin mit dem holzding kleiner. machs fenster auf. trau dich. raus damit. frag papa. Schorse: was. Paul: frag papa, geht in ordnung. schorse sag deim jungen, dasser den eisstiel/ausm fenster Schorse: jaja, schmeiß nur, hau raus den mist. wennde mich fragst. es gibt nur beschiss wennde dich bescheißen lässt. du bescheißt dich selber. ich fahr weg. Paul: ändert nichts. Boxer: sich aufregen. Schorse: /was. Paul: was. Boxer: mal so richtig aufregen. ich mein nich meckern. bei meckern bleibste auf der couch hocken. die botten aufm halbleern kasten. sich aufregen is. aufregen is irgendwie. aufregend. verstehste. dann gehts los. Paul: barrikaden. Boxer: oder nich vom agenturtisch abtreten wennde weggeschickt wirst. was ich mein is. in die augen kucken. jedem. Paul: hier gibs keine augen. Boxer: ach nee. 139

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Junge Schreibstrategien

Schorse: for soos äbaut se rock wi säluut juu. Boxer: schorses augen, meine augen sin dir wohl nich genug. Paul: is doch was anderes. Boxer: einmal was zurück holen. und wenns legoland is, für den hier. grinster. kennt ihr nun die geschichte von joseph neumann. Paul: hörste eigentlich nur ac/dc. menge gruppen die sin mindestens genauso gut. kennste kennste zum beispiel beastie boys. Paul: was. Schorse: beastie boys. Paul: hab ich schon verstanden. das hörste dir auch an. Schorse: kommt alles von derselben richtung. Boxer: typen mit fußballermatte. Schorse: hab ich ne matte. Boxer: hat auch keiner gesagt. Schorse: ihr ihr kapiert das nich. ihr kapiert nich was ac/dc heißt. Boxer: gleichstrom wechselstrom. Paul: bisexuell. ehrlich das is wahr. Schorse: arschloch. wofür sie stehn. Boxer: head-banging. Paul: frührentner mit bierbauch. Schorse: ac/dc sin. seit über zwanzig jahrn sin die jungs der inbegriff von freiheit. Boxer: haste doch noch nie gesehn. Schorse: ich hab/angus diese Boxer: die freiheit. Schorse: die freiheit. ihr kotzt mich sowas von an. fliegt gleich raus. blöden kleinen arschgesichter ihr. Boxer: pass auf was du sagst. Schorse: ich meins toternst. hab mich noch nie von so kleinen natursektschlürfern wie euch anpissen lassen. Paul: dein junge. mann schorse. drehste jetzt frei oder was. Schorse: wenn ich das höre. Boxer: siehste nich der flennt schon wieder. Schorse: ac/dc sin. freiheit. vereinigte staaten. die sin verdammt noch mal ehrlich. und rock n roll. highway to hell is der himmel auf erden. Boxer: sagt keiner mehr was. schorse das ist deim jungen alles n bisschen viel. Paul: staaten. Boxer: fahr runter mann. Paul: ac/dc sind australier. hätt ich nich sagen sollen. schorse bremst scharf. fährt an den seiten140

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Dirk Laucke: alter ford escort dunkelblau

streifen. steigt aus. geht rüber zum beifahrersitz. holt seinen wimmernden sohn raus. führt ihn hinters auto. redet irgendwas mit ihm. der junge nickt und fängt an zu grinsen. schorse machtn kofferraum auf, steckt den kleinen rein. klappe zu. kommt wieder vor und fährt weiter. Boxer: was solln das jetzt. das ist doch kein vieh. Schorse: siehste mal dass du keine ahnung hast. das macht der junge gern. spielt er james bond. in ner halben stunde holn wirn wieder raus. Boxer: james bond. dir fehln n paar schrauben hier oben. Paul: schorse, das is. wenn die uns anhalten. musst du wien besenkter fahrn. Schorse: vielleicht hab ich keine ahnung von den meisten sachen. Boxer: das kannste nich bringen. Schorse: aber von ac/dc hab ich ahnung. Paul: der junge, die fahne. Schorse: un wenn ihr mir das wegnehmen wollt schlag ich euch einem nachm annern n hohlen schädel ein und halt ihn in verstärker wo dirty deeds drin läuft. ham wir uns jetzt verstanden. verstanden. Boxer: ganz ruhig mann. (Pause.) Schorse: gibt noch was wo ich ne ahnung hab. kein geld ham. kein job ham. job ham un trotzdem kein geld ham. zum ersten mal mit meim sohn zusammen. so richtig verstehter. das hier is. ich habs gefühl legoland könnte in die luft geflogen sein wenn wir ankomm. un es würde nichts machen. war natürlich quatsch. wir fahrn da hin. WIR FAHRN NACH LEGOLAND JUNGE. GEHTS GUT DAHINTEN. Boxer: hat ja gesagt. Paul: hat er das. Schorse: sehter. olle james bond gibs immernoch. (Pause.) Boxer: highway to hell. auch wenns blöd klingt, ich hab an nena gedacht. als ichs letzte mal mitn kumpels in der disse war. hatte genug intus, dass ich tanzen konnte. hab son mädchen gesehn. grinst mich an. kuck ich weg. kann nicht sein. kuck ich wieder hin. grinst sie immer noch. singt den text mit. fang ich auch mit an zu singen. nena. altes lied. kennt jeder. aber es is wie ich hörs zum ersten mal. GIB MIR DIE HAND ICH BAU DIR EIN SCHLOSS AUS SAND. dabei immer ankucken. sich drehn und so. die beine nich vergessen. nich nur dastehn. singen und 141

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Junge Schreibstrategien

ankucken. DIE ZEIT IST REIF FÜR EIN BISSCHEN ZÄRTLICHKEIT. hört sie auf zu tanzen. kuckt mich immer weiter an und kommt direkt auf mich zu. kann mich nich bewegen. hängt sie schon an meiner schulter. schneller als mir einfällt dass ich hallo sagen kann oder so. un dann isses warm und ich riech mich an ihrn haarn kaputt. riech mich rein, dass ich nich mehr aufhörn will. plötzlich hab ich schiss, ich selber stink nach schweiß bier aschenbecher. das lied hört auf. wir kucken uns nochma an. lange. dann halt ichs nich aus und geh zurück zu den kumpels. die mir auf die schulter klopfen und alles. nochma rüber kucken. sitzt sie mit ner freundin am bartisch. ich muss den jungs erst vier kurze spendieren eh ich wieder hin soll. ronni gibt ne zweite runde drauf. hab ihn kaum hinter, stellen sie mich hoch auf beide beine und schieben mich an. so sind die jungs. sie grinst her und kuckt wieder weg wie ich eins zwei auf sie zu. un fehlen noch zehn meter oder so. fällt mir ein es könnte genauso gut sein ich versaus mir. alles. wenn ich zu reden anfange. oder nich reden kann. wenn ich zu nah komm. oder nich. geht wie von alleine, einfach weitergehn. schnurstracks rechts an ihr vorbei. ohne nochmal umzudrehn. schneller. n ganzen heimweg flennen. zuhause heißt, musik laut. flasche bier. strip-sendung auf dsf. das wars auch schon. alles. das/wars auch schon. Paul: wasn jetzt los. is das die straße. Boxer: meine mutter is vom balkon gesprungen. war ich/vierzehn. Schorse: was. Paul: das geräusch. der motor, mann. Boxer: ich denk die ganze zeit an/sie. an beide. Schorse: wasn fürn geräusch. Boxer: will mich nich mehr wien penner fühlen. nich mehr denken dass ich eigentlich heute nich gehen könnte und trotzdem gehn. ich will einfach/nich mehr gehen. Schorse: kannste nich n augenblick dein fressbrett Paul: hörste nich. Boxer: da is/nichts Schorse: pscht. Paul: son rattern. hört doch mal genau. Schorse: ach. Boxer: jetzt hör ichs auch. muss der junge sein. Schorse: is nichts. ALLES KLAR BEI DIR DA HIN scheiße jetz hör ichs. Paul: is nichts. bist du/taub. Schorse: der auspuff.

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Dirk Laucke: alter ford escort dunkelblau

11. standstreifen Boxer: zweihundert hatte der boxer schorse schon gegeben. was er paul jetzt gab würde für den auspuff reichen, den und was sonst anlag. er ließ paul allein in der küche zurück. auf dem weg zur tür stolperte er über einen plüschtiger. wie lange stehstn du schon hier, fragte der boxer ihn. der tiger antwortete nicht. vor der tür fing der tag an. der horizont hell. von weitem das rauschen der autobahn. der weg war nicht asphaltiert. der mittelstreifen mit gräsern und unkraut bewachsen. knöcheltief schlaglöcher. ein kopf wie treibsand. einmal war ihm als würde er rucola riechen. der boxer blieb nicht stehen. er kletterte den hang hoch. dicht bewachsen. und schnaubte als er oben an der autobahn stand. er ließ eine hand in die hosentasche gleiten. hob die augen. der verkehr strömte aus dem ende der nacht. motoren schnitten vorbei. er zog die hand aus der tasche und ging ein paar meter den standstreifen lang. der boxer hätte ewig so gehen können. bis nach legoland. große scheinwerfer wuchsen vor ihm. er schloss seine augen. dahinter ein noch größerer schatten. hinter dem schatten der sonnenaufgang. es war kein oettinger-truck wie er ihn sich gewünscht hatte.

12. route 66 Paul: so hats nicht angefangen. sechs sätze in zehn stunden. sätze keine richtigen. schlaf. wenn ich wach war schlief ich. wenn ich schlafen sollte konnte ich nicht. am liebsten hätte ich eine große fahrt lang hinten gesessen. aber kein boxer war zu langsam. keine fahrt lang genug. nich träumen karl liebknecht. alles musste weiter gehen. immer in bewegung bleiben. die sonne stach mir in die augen. auch wenn sie hinter wolken lag. oder regen an die windschutzscheibe trommelte. schorse am steuer. einmal hat er angus young die hand geschüttelt. das war auf som steg ins publikum rein. er hatte den alten ford repariert und seinem jungen die westernstadt zukommen lassen. ich konnte amerika sehen. route 66. kali- und schuttberge wurden die rockies, windräder ölpumpen, das mansfelder land die prärie. wir fuhren leise durch die landschaft. den klang von englisch im ohr. wir hielten an tanken. bier chips whiskey kaufen. die straße war bis zum horizont leer. mülltüten wurden in die luft gerissen. nur der staub rannte uns nach. wir kamen von keinem getränkelager. von keiner zeitarbeitsfirma. wir hatten kein zuhause mehr. wir hatten weder konto noch staat. was uns zusammen hielt waren wir. nichts was wir sagten schweißte uns auseinander. Schorse stapelt Bierkästen. Paul geht dazu, lädt jede Hand mit einer Kiste voll. Schluss, aus, das wars. 143

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Juliane Kann: Blutiges Heimat

Blutiges Heimat Juliane Kann (Vertrieb: Hartmann und Stauffacher Verlag)

Personen Eva: 40, selbstständig, Mutter von Katja Katja: 14, Tochter von Eva Doris: 40, Frau von Joachim und Angestellte von Willem Joachim, 45, Mann von Doris und Angestellter von Willem Stephan: 20, gemeinsamer Sohn von Doris und Joachim, geistig zurückgeblieben Marina: 42, ältere Schwester von Doris, Angestellte von Willem Johann: 44, Bruder von Willem und sein Angestellter Willem: 46, Inhaber eines Schweinemastbetriebes

Angaben zur Bühne Ort: Kunstraum, überall denkbar Zeit: Gegenwart Musik/Klänge: Tiefes Streichinstrument wie Cello oder Kontrabass, gerne aber auch technisch produzierte Klänge/schiefe Melodien/Chor Anmerkungen zum Stück: Bitte so wenig Auf- und Abgänge wie möglich. Ich möchte den Kunstraum als solchen ausnutzen. Dadurch, dass alle immer auf der Bühne sind, werden alle Aktionen von allen Figuren beobachtet, das unterstützt die Hermeneutik und Klaustrophobie (zwingendes Festhalten am Ort aus Angst, die Heimat, oder das damit verbundene Gefühl zu verlieren). Einige Auf- und Abgänge, speziell die von Eva, werden nicht unabwendbar sein. Die Regieanweisungen gelten als Orientierung, es darf damit frei umgegangen werden. 145

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Ausschnitte: Szenen 3-7, Szene 14 (Schluss) Szene 3 Auf der Straße. Joachim tot am Boden. Willem prügelt auf Eva ein. Willem: Das Hur. Wag dich vom Fleck. Wenn’s Schweinefrau sein willst, dann ja wohl meine. Ich prügele dich so unansehnlich, dann will dich keiner mehr. Wirst nicht mehr flüchtig meiner. Sag du ein Wort und´s Zung ist ab. Ich hätt ganz gern ein schweigsam Frau. Der Dicke. Fällt es dem ein auf meiner Frau zu reiten. Ich hab dir immer zeigt, dass ich der Richtige für dich bin. Glaubst du der hätt dich lieb gehabt? Der hat sein Frau und seiner Kind. Alles was er da braucht war ein Ding wo’s Schwanz von ihm gut reinpasst. Weinst noch um den? Was ist mit mir? Hab ich dir immer schöner Augen macht und du sagst immer nichts Bedarf. Hast längst Bedarf gehabt. Eva: Hab selber Zunge, um zu bekundigen was mir lieb ist. Und ich hatt ihn ganz gern, den Dicken. Willem: Und mich hast nicht gern? Eva: Nein. Und ich hab’s jetzt ein Letztes wiederholt. Willem: Grad so frech raus? Eva: Wenns Zunge mit mir durchgeht! Willem: So mach dich frei da unten. Und wo dein Zunge bleibt, das sehn wir später. Willem vergewaltigt Eva und schlägt ihr dabei ins Gesicht. Die restlichen Dorfbewohner kommen angelaufen. Marina: Willem. Hör auf. Lass deine Händ bei dir. Du schlägst das Frau ja tot. Doris: Der hier ist es ja schon. Mein Mann ist tot. Willem: Dein Schweinemann. Doris: Du Elender. Komm du mir her. Willem: Bleib du bei dir. Oder wolltst einen Mann, der sich ein anderes Loch genommen? Mein Evchen. Er nahm mein Evchen. 146

2008-01-15 10-43-38 --- Projekt: T512.lettre.tigges / Dokument: FAX ID 02fa168349669072|(S. 145-156) T03_05 kann.p 168349669432

Juliane Kann: Blutiges Heimat

Doris: Wenn sie nur immer hin hielt ihre Möpse? Hättest an dich binden müsst das Ding. Willem: Dafür bekäm sie eins auf´s Aug. Sie meint es wär kein Absicht. Es wär für mich gedacht ihr Brust, nicht, Evchen? Und eine anderer hätts genommen. Und so einen Mann hast du noch wolln? Marina: Das Hur führt dich am Nas herum. Willem: Sie lügt nicht. Willem deutet auf den toten Joachim. Und der? Der hätt nicht mehr das Recht an dieser Ort zu sein. Stephan: Ist das mein Vater? Doris: Halt deine Aug zu. Darfst du nicht sehen. Der Alte hat sich fortgemacht. Stephan: Wer war´s? Wer hätt ihn umgebracht? Willem: Ich hab ihm einen Schlag verpasst, da lag er auf dem Boden. Der wollte nicht mehr bei dein Muttern suchen gehen. Stephan: Das war nicht nur ein Schlag. Katja: Mama? Ist alles gut? Marina: Frag nicht dem Hur. Das ist kein Mutter. Pass du nur auf, dass du nicht wirst wie sie. Willem: Halt Mund, bleibt ja nun eh bei mir das Kind. Und ihrer Mutter nehm ich mit. Wir hätten lang schon dran gedacht zu sagen, dass wirs lieb haben miteinander. Marina: Hab ich nicht sehen können. Willem: Schert euch. Doris: Und was ist mit mein Leich? Willem: Dein Leich lass nur hier liegen. Wird keiner holen um die Zeit. Mach keine Trauer um den Klotz. Morgen buddeln wir ihn ein. Geht schlafen jetzt. Schleicht euch.

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Junge Schreibstrategien

Stephan nimmt Katja an die Hand. Sie laufen in ihr Versteck in den grünen Klee. Willem: Komm Hur. Den selber Dienst den du ihm leisten wollst, den tu nun mir. Komm bei. Eva: Lass mir mein Kindchen holen. Ich kann nicht ohne ihr. Willem: Du machst, was ich dir sag. Willst ja nur eine Flucht ergreifen. Wenn ich es sag komm bei, dann kommst du bei. Dein Kind ist mir egal. Ich will mein Freud schon an dir haben. Katja und Stephan in ihrem Versteck im Klee. Katja: Hast du gesehen, mein Mutter? Sie ruft nach mir. Und ihr sagt noch, sie sei kein richtig Muttern. Stephan: Warst selber nicht ganz fern davon zu sagen, dass sie Schlechtes hätt. Katja: Und doch macht sie sich Sorgen um der meinen. Mit Zwang hatt er sie weggebracht. Sie hätt nicht ohne meiner gehen wollen. Und ich bleib feig hier hinterm Busche sitzen. Stephan Sitzt doch bei mir. Ich hab dir immer lieb. Katja: Immer? Stephan: Mein Herz, du Kleine. Auch wenn du’s mir nicht einfach machst. Katja: Soll meinen? Stephan: Meint, dass du immer an mir hältst wenn es dir schlechte ging. Kannst mich um meiner lieb haben, auch wenn im Glück du bist. Noch nie hab ich dein Brüste fassen dürft. Katja: Ich hab dich lieb, glaub nur. Stephan: Und mich auf Abstand halten? Zeig es mir. Katja: Ich fürchte mich um das, was mit mir geschieht. Stephan: Dann fürchten wir zusammen. Nur lass mich deiner Hand halten, wenn ich es will.

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Juliane Kann: Blutiges Heimat

Lass mich dich küssen, wenn mein Lippen danach schreit. Lass es doch zu, wenn du mir liebst, du Kleine. Katja: Ich lass ja zu. Ich lass ja langsam zu, dass du die Dinge mit mir machen willst. Stephan: Du willst sie auch, wenn du sie nur einmal gespürt. Dann willst du sicher auch. Willst du es mal probieren? Katja: Ein Spiel? Stephan: Kein Spiel.

Szene 4 Am nächsten Morgen kommt Eva in das Versteck von Katja. Eva: Kind. Kindchen. Kleines. Gut, dass ich dich find. Katja: Ich bin im Glück, Mama. Eva: Du bist im Glück? Was heißt denn das? Katja: Dass mir der Stephan gestern zeigen hätt, wies macht die Lieb. Er hat mein Brust gefasst. Und mir war heiß. Eva: Ich hätt dich in dies Nacht gebraucht. Und du treibst rum mit solcher Flausen. Wir müssen gehen von hier, hörst du? Katja: Wir müssen gehen? Wieso? Mich hättst gebraucht dies Nacht? Und wer fragt mich was meiner braucht, Mutter? Eva: Hätt dich der Liebe so verblendet jetzt? Waren dein Aug doch gestern Zeug von dem was ist passiert und du fragst nach wieso? Katja: Mutter. Ich bin der Lieb. Ich kann nicht gehen jetzt wo’s der Stephan mich hält. Eva: Es ist nicht gut für dich, mein Kind. Katja: Ich weiß um meiner besser. Eva: Du darfst das nicht. Wenn du nur wüsst, was hier so vor sich ging. 149

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Ich bin der Angst. Wir müssen fort von hier. Katja: Dann musst du ohne meiner gehen. Weiß nicht, was dich so recht hier an mich hält. Wenn immer alle sagen, dass du kein rechten Mutter bist. Eva: Was sprichst du denn? Katja: Geh nur ohne meiner. Und lass mich hier. Ich kann nicht gehen. Ich will nicht gehen. Geh nur. Eva: Kind. Katja. Katja: Geh. Katja läuft davon. Eva bleibt verwirrt und allein zurück. Eva: Sonn geht auf, geht unter. Heimat. Los. Gebunden. Hier steh ich. Heimat. Gebunden. Los. In grüner Wiese Klee so weit, zu weit fürs Auge reichend, dass ich nicht sehen kann mehr Horizont und was dahinter. Hinter. Heimat. Kühe fröhlich ihre Leiber wälzend in einem großen See brauner Scheiße. Hölzerne Rute scheucht mich ekstatisch. Ein Schuss. Sein großer Leib im braunen See in den sich hoffnungslos der Klee frisst. Das Blut, was sickert um mein Bein. Und mir springts Kinde aus dem Leib. Hab ich das Eine gerade groß, balgt schon das Nächste mir die Nächte um die Ohren. Wird’s hier denn nie mehr Ruh? Wenn dich nicht jemand gefunden hätt, lägst du als kleinstes Leich da draußen auf den Wiesen. Das ist dein Mutter? Dein Mutter hält dich zart im Arm. Hält dir ihr Euter hin zu trinken. Kocht dir den Brei. Erträgt Geschrei wenn’s dir der erste Zahn kommt. Ich kann nicht mehr. Brauch nicht mehr pressen. Wie Gummi ausgeleiert da unten. Sie rutschen einfach raus. Und Erstes was sie dürfen ist, sich’s Genick zu brechen. Wir haben so ein ganzes Häuflein hinten da im Garten. Wo ’s ein ums andere Kind dort liegt wie’s Scheit auf seinem Haufen. Ich wein um jedes der Verlorenen.

Szene 5 Marina mit Willem in der Gaststube. Marina: Das hier ist nicht mehr Heimat. Willem: Ist so doch immer schon gewesen. 150

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Juliane Kann: Blutiges Heimat

Marina: Das Hur läuft noch frei rum. Willem: Sei ruhig. Marina: Das was du mit ihr machst, kannst doch schon lange auch mit mir. Kannst auch in meinem Bettchen schlafen. Willem: Schlaf nur bei mir im Heim. Marina: Und bei der Hur. Willem: Misch dich nicht ein. Du hast mein Bruder. Marina: Und wenn ich dich will? Willem: Lass mich in Ruhe. Marina: Ich will dich in mein Bettchen. Wenns das nicht tust … Willem: Ich halte hier die Zügel. Ich lass dir deiner Leben. Du mir das Meine. Kapier, dass ich mich nicht um dich scher. Und wenn du was der Eva tust, mach ich dich rund. Marina: Möcht wissen was an der besonders ist. Bei mir ists enger. Willem: Willst dich bei mir unbeliebt machen? Den Bauch vom Schwein werde ich noch anders los. Marina: Hör auf, ich schweig schon. Willem: Zieh dich aus. Marina: Und nun? Willem: Mach dich schon frei da unten. Mit dein Gerede hast mich ganz geil gemacht. Mach dich jetzt frei, Eva. Mach dich jetzt frei. Eva. Eva. Marina: Du musst mir meinen Namen… Willem: Halt’s Maul du Hur, mein Evchen.

Szene 6 Katja und Stephan in ihrem Versteck im Klee. Katja: Das Impuls kömmt immer von mir. Stephan: Was ist dir? Katja: Ich wollt nicht immer erst was sagen, bis du mich fragst. Ich dacht du merkst es gleich, wenn was nicht ist in Ordnung. Stephan: Was ist denn deiner? 151

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Bist du nicht glücklich? Nicht glücklich, dass ich deiner Hände halt? Katja: Ich fühl mich unter Druck. Stephan: Und ich hab Schuld? Katja: Hilf mir. Ich komm allein nicht aus dem Sumpf, in dem ich steck. Stephan: Sag mir doch gleich, wonach ich fragen soll. Katja: Mein Muttern hätt gesagt wir müssen gehen. Stephan: Du hast gewillt? Katja: Nein hab ich nicht. Ich hab gewillt bei dir zu sein. Stephan: Und sie? Katja: Hätt angesehen mich aus tiefer Augen Schwarz, dass ich nicht hab gewusst wohin zuerst zu sehen. Stephan: Und dann? Katja: Und dann? Und dann. Ich bin gerannt und hätt bei Laufen dacht, wenn wir nun doch gehen solln. Wenns ihr so schlechter ging. Hab nicht gefragt warum. Hätt nur an mich gedacht. Und das was mir gut tut. Stephan: Dein Mutter hat längst wissen müsst was dir gut tut. Niemals hat sie dich fragen dürft. Katja: Sie war in Not und ich hab nicht geholfen. Stephan: Sollst ihr nicht helfen. Sie ist dein Muttern. Katja: Auch sie kann schwer am eignen Kopf aus einem Sumpf sich ziehen. Stephan: Gib mir dein Lippen. Katja: Wie kannst du jetzt nur solcher denken. Ich fürcht mich. Kannst du mich halten nur? Stephan: Musst auch mal mir was Gutes tun wenn ich drum bitt. Um aller machst du dir Gedanken, nur um des Meinen nicht. Soll ich gehen? Soll ich gleich gehen? Katja: Nimm mich in deiner Arme.

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Szene 7 Marina und Doris in der Gaststube. Marina: Was ziehts den Stephan zu dem Weib? Doris: Lass jetzt nicht drüber sprechen. Marina: Im Wahn geht der noch in den Tod für sie. Doris: Fass an dein eigen Nas. Schau dich an mit deinem Willem. Stephan kommt in die Gaststube, noch von den anderen Beiden unbemerkt. Marina: Lass mir mein Wahn. Ist mir schon selber leid darum. Und dass es ihm nicht leid ist, frag ich ihn nun, was es ihn treibt zu diesem Mädchen. Stephan: Die Liebe. Er setzt sich zu den Frauen. Doris: Welch Liebe denn? Marina: Was soll an ihr zu lieben sein? Stephan: So wie sie meine Hand hält. Und mit spricht. Als hätt ich alle beieinander. Doris: Dann täuscht sie dich. Stephan: Soll meinen? Marina: Meint, dass du nicht alle beieinander hast. Wenn sie spricht, dass du hättest, so täuscht sie dich. Doris: Natter. Stephan: Ihr denkt, sie sei wie ihren Mutter. Marina: Wenn man bei der so lebt, dem Evchen, wie soll man da nicht sein wie sie? Doris: Ich glaub schon längst nicht mehr, dass nur die Eva… Stephan: Keiner hat Katja je vor mir berührt. Marina: Und das weißt du genau? Als ich sie letztens sah

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beim Johann, schaut das wohl anders aus. Doris: Er schreit auch niemals mit. Hab niemals schreien hören ihn für sie. Schwieg immer still. Hat immer’s Maul gehalten. Immer ganz brav ihr gegenüber. Will der ihr schützen? Stephan: Das denkt ihr euch. Marina: Ich denke immer was ich seh. Stephan: Du sähst es wirklich? Doris: Nun, es war dunkel. Marina: So eine schmale Taille hat nur sie. Stephan: Das Schwein, ich krieg es. Marina: Die Brust so unters Kinn bei ihr. Da pfiff ich auch danach, wär ich ein Mann. Doris: Hat sie dich niemals fassen lassen ihre Brüst? Stephan: Ein Mal nur. Marina: Dann schwör ich, so wie ich´s gesagt. Doris: Der Kleinen kannst nicht trauen. Stephan: Dann trau ich euch.

Szene 14 Katja bei ihrer apathischen Mutter in Willems Haus. Katja: Was kann ich tun um deine Schuld zu tilgen? Wir sind ein Blut, Mutter. Ich sah dich von innen. Soviel Blut. Klebt an Händen, Haaren und Kleidern. Ich will mich nicht immer nur waschen, Mutter! Ich werde Hände in Erde graben und verweste Leiber beerdigen müssen. Nur eine Frage. Ich sehe dennoch Blut. Deines. Bleib bei mir. Bleib. Ein weiterer Tod und ich sterb mit. Schlafe noch höchstens eine Stunde des Nachts, und wasch mich alle halbe. Sieh, schon wieder meint ich, blutig wär mein Kleid. Ich fürchte, das hört nie auf. Meine Hände sind ganz wund gekratzt. 154

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Für dich, Mutter, wühlt ich der Leiber ein dahinten. Bin ich jetzt von der Last befreit? Nicht rein, nur frei. Wenn du nur zu mir sprächst. Ich halt dein Hand noch weiter. Greif nur fest zu. Kannst du sie spüren. Weiß du, dass ich es bin? Ich bin es Mama. Sieh mich an. Was hat er nur gemacht? Willem kommt. Willem: Eva? Katja: Dass du es wagst. Willem: Glaubst du ich fürchte mich vor dir? Katja: Das solltest du. Was hast du nur gemacht mit ihr. Ich bin vor Wut. Ich halt nicht mehr so lang an mir. Willem: Mir droht hier keiner. Sie hat bekommen, was sie hätt verdient. Ich brächte ihr schon bei, wie es zu leben hat. Dir zeig ich’s auch noch. Katja: Schon viel zu lang hört hier ja alles nur auf dich. Doch hast du noch ein Macht? Was hast du noch zu sagen? Willem: Du glaubst mir macht das Angst? Katja: Mir macht dein Tod jetzt auch nichts mehr. Willem: Grad hast du noch gesagt, dass du kein Leiche mehr erträgst. Komm her. Katja: Ich komme nicht. Willem: Dann nehm ich deiner Mutter. Katja: Wag es. Katja haut ihm das Messer in den Bauch. Lange Stille. Katja: Ich seh kein Blut mehr, Mutter. Wasch nur noch alle zwei Tag und schlaf des Nachts, als sei ich selber tot. Lass mich dich fragen, Mutter. Darf ich lieben? Ich hab Gefühl in mir, das sagt, als wär es nie mehr so. Wird doch so kommen, Mutter? Wenn es die Lieb, dann seh ich gerne Rot. 155

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Stephan mit Schweineherde auf der Straße. Katjas Lied Katja: Blut Blutiges Heimat in froher Ruh Im Sande keimt ein Wiesen Das Blut noch unterm Schuh Und an dem End von allem Find ich kein Trän zu wein Kann meiner Schuld nicht tilgen Klebt noch an Händ und Kleid Blut Blutiges Heimat Kein Stund zum Schlafen in der Nacht Ich fürcht und träum am Tage Während ich an der Leichen wacht Und schau ich meiner Hände Dass bedecken wolln die Leich Sind sie zerkratzt zu wunde An Blut so reich Blut Blutiges Heimat In froher Ruh Im Sande will keim ein Wiesen Und Blut noch unterm Schuh

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Nina Ender: still still meine kleine Tochter

still still meine kleine Tochter Nina Ender

Figuren Jan: 15 Jahre Nikoll: Mitte 30, Jans Mutter ein Zimmer, ein Abend

Auszüge: Anfang, insgesamt 11 Szenen Geburtstag Nikoll deckt den Tisch, drei Gedecke. Eines davon ist ein Geburtstagsgedeck, sie verziert es mit einem Halbkreis aus Gummibärchen, stellt einen Blumenstrauß in die Vase, legt ein Geschenk daneben. Dann setzt sie sich an den Tisch, schreibt eine Geburtstagskarte. Steckt die Karte in den Umschlag, verschließt ihn. Sie hört die Wohnungstür aufgehen, legt den Briefumschlag auf das Geschenk. Nikoll: Jan! Wie wars in der Schule? (für sich, Jan imitierend) Scheiße wie immer. (wieder laut) Hattest du Sport. Ich hab dir ein frisches T-Shirt aufs Bett gelegt. Jan? Kannst du den Kuchen noch mitbringen? Jan kommt. Sieht Nikoll am Geburtstagstisch sitzen, schaut genervt. Nikoll: Du hättest den Kuchen doch mitbringen können. Schweigen.

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Nikoll: Steht draußen. Schweigen. Nikoll: Im Treppenhaus. Schweigen. Nikoll: Auf der Schuhkommode. Ich hol ihn selber. Jan geht, um den Kuchen zu holen, knallt die Wohnungstür zu, kommt zurück. Stellt den großen flachen Kuchen, Biskuit, auf den Tisch. Bleibt stehen, angespannt. Nikoll: Ich mach noch kurz ein paar Kerzen Schweigen. Nikoll: Drauf. Jan: Und dann? Nikoll: Hier Jan: Mann Nikoll: Halt mal. Nikoll gibt Jan die Schachtel mit den langen dünnen Kerzen in die Hand. Nimmt eine nach der andern heraus und macht sie auf dem Kuchen fest, insgesamt siebzehn Kerzen. Jan: Ma. Schweigen. Jan: Wir können so Nikoll: So. Fertig. Feuerzeug? Nikoll tastet kurz an sich, findet das Feuerzeug in einer Tasche. Nikoll: Da is es ja. Sie zündet die siebzehn Kerzen auf dem Kuchen an. Dann legt sie das Feuerzeug auf den Tisch, sieht auf.

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Nina Ender: still still meine kleine Tochter

Nikoll: Jan. Du hast dich nichmal gekämmt. Sie zupft schnell seine Haare zurecht. Jan: Ey nee Ma. Lass das. Jan nimmt sich ein Gummibärchen, steckt es in den Mund, dann sehr schnell mehrere hintereinander. Nikoll: (schrill) Jan. Jan: Wir können so Nicht so weitermachen. Nikoll: Wie? Jan: (schluckt ohne zu Kauen, dann) Letztes Mal da Nikoll: Wie. So? Jan: Fünf Tage nach Dem letzten Geburtstag. Hat Pa -

Fotos von Mädchen I Jan: Als ich fünf war haben wir im Fernsehen gemeinsam eine Reportage über einen Fotografen gesehen. Wie der alle Fotos die er entwickelte mit Wäscheklammern auf eine Leine hängt die quer durch seine Dunkelkammer gespannt ist. Seitdem schnitt Mama alle Fotos von Mädchen aus Papas Belegexemplaren und hängte sie mit Wäscheklammern auf eine Leine die quer durch Papas Arbeitszimmer gespannt war zur Entwicklung. Mann Mama. Ich wollt so gern dass Papa daheim schreiben kann und nicht Tag und Nacht in der scheiß Redaktion rumhängen muss. Mama? Mama! (verzweifelt) Du hast wieder alle Fotos von Mädchen aus Papas Zeitschriften geschnitten die ich aufheben wollte zur Erinnerung. Du hast sogar seine Artikel auf der Rückseite kaputt gemacht.

Kerzen Nikoll hat die Gummibärchen um das Geburtstagsgedeck wieder zu einem Halbkreis gelegt. Nikoll: Jan. Jan? Jan! Jan kommt. 159

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Nikoll: Jetzt brauchts nur noch einen Kleinen der die Kerzen auspusten mag. Jan: (abwehrend) Was is in dem Geschenk? Nikoll: Jan. Wenn du Luft hast. Jan: Ich Schweigen. Nikoll: Ich Jan: Wills gar nich wissen. Nikoll: Hab auch Hütchen gekauft. Nikoll zeigt Jan die Papphütchen. Jan: So viele? Nikoll: Gabs nur im Zehnerpack. Wir brauchen Jan: (schreit) Aber ich setz den Scheiß nich auf! Schweigen. Nikoll: Du musst den Hut ja nicht auf den Kopf setzen. Kann man auch so benützen. Nikoll macht sich zwei Hütchen um die Ellenbogen. Nikoll: Ellenbogenschützer. Jan lacht, Nikoll deutet an ihn in die Seite zu boxen. Nikoll: Kannst dich durchboxen. Schweigen, dann sagt Nikoll mit Blick auf den Kuchen: Nikoll: Willst du das nicht machen nicht für mich nur für deine kleine Jan: Große! Nikoll: Schwester Rosa. Komm du hast es sowieso viel besser als sie die Schweigen. Jan fühlt sich in die Enge getrieben. Nikoll: Also pustest du sie aus die Kerzen für Rosa? Jan: (hat plötzlich eine Idee) Na klar. Ich tus aber du Dann wartn wir bis Pa heim kommt. 160

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Nikoll: (kurz irritiert, dann) Ja gut. Ja! Jan: (kurz irritiert, dann) Okay. Ich machs. Ich kanns schaffen alle siebzehn Kerzen auf einmal auszumachen. Wir warten auf Papa.

Dreierumarmung Jan: Papa jagte seinen Jungen mit einer Wasserpistole. Sie war neongrün und der Abzug mit Tesafilm geklebt. Das Kind lachte und schlug Haken wie ein ganz kleiner Hase und rannte in Mamas ausgebreitete Arme. Die fing es ein und hob es hoch. Der Mann kam angerannt und umarmte die Frau die in ihren Armen das kleine Kind hielt ganz fest. Der Rasen war grün und leuchtete weil ihn die Leute mit einem Gartenschlauch abgespritzt hatten.

Rosa Nikoll: Mensch Rosa jetzt bist du schon siebzehn! Als wärs gestern gewesen. Rosa. Hab ich gesagt. Rosa? Hat Walther gefragt. Rosa! Ah. Wie die Blume. Hat Walther gesagt. Wie das Auge eines Albinos. (lacht, sich selber ermahnend, spricht aber so wie man ein kleines Kind berichtigt) Nhn nhn nhn nahein. Wie die Pfingstrose. Draußen blühen die Pfingstrosen. Heut an deim Geburtstag würd ich sie am liebsten allesamt absäblen. Mit siebzehn da hab ich den kürzesten Rock der Stadt getragen. (lacht) Ich konntes mir leisten mit meinen Beinen. Ich kann ihn dir ja vererben. Du kannst Miniröcke tragen. Aber ich Kann es eh nicht ich hab meine Kleider lang vor deiner In die Altkleidersammlung gegeben egal -

Hunger und Durst Jan: Ich wart auf mein Pappa. Nikoll: Ja mit der Party aber Jan: Wann kommt er denn heim Nikoll: Du kannst schonmal was Jan: Später. Wie immer was? Nikoll: Essen was Möchtest du denn? 161

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Schweigen. Nikoll: Pizzaservice? Jan: Kein Hunger. Nikoll: Appetit? Schweigen. Nikoll: Verliebt? Jan: Pah. Schweigen. Nikoll beugt sich zu Jan, streckt vorsichtig ihre Hand nach ihm aus, Jan abwehrend Jan: Hast du nichts gekocht. Nikoll: Heute doch Rosas Lieblingsessen. Jan: (eklig) Milchreis. Nikoll: Jan morgen koch ich dir dafür Jan: (schreit) Wenn dus wenigstens wissen willst das Mädchen hat mein Schwanz angefasst. Schweigen. Nikoll: (will ablenken) Ich kann dir ja sagen was in dem Geschenk ist. Jan: Will ich nich wissn. Nikoll: Aber nur den ersten Buchstaben. R. Der letzte ist P. Und der zweite Buchstabe ist O und der vorletzte ist auch ein O. Weißt dus jetzt? Ein Rock und ein Top. Und wie findest du den Blumenstrauß? Wenn man eine Aspririn in Blumenwasser tut dann halten die Blumen ewig weißt du das hast du Durst ha und Blumenwasser trinken ist gut Jan: Dein Kopf Nikoll: Gegen Kopfweh. Jan: Ist voll Scheiße und das Schweigen. Jan: Tut mir weh. Langes Schweigen, dann:

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Nina Ender: still still meine kleine Tochter

Nikoll: Nachdem wir das Bad gestrichen haben war es weiß strahlendweiß die Glühbirne war noch kahl. Dein Paps und ich wir haben uns auf den Badewannenrand gesetzt und angestoßen. Bier oder Sekt? Weißt du was? Du darfst jetzt mal. Ein Schluck. Schlückchen hä wird dir -

Jans neues Gedicht Jan: Nenn es Seele. Oder nenne es Charakter. Nenn es was du fühlst. Oder nenn es was du willst. Nenn es wie du willst. Peng. Ich nenn es Peng. Die Gedanken von andern sind ein Garten. Meine Seele ist ein Baumhaus. Die Zeit ist blätterlos und hat keine Beine mehr. Regen ist die einzige Realität aus dem Himmel. Schweigen. Jan: Das Scheißgedicht ist meiner Scheißmutter gewidmet meiner scheißtoten Schwester und allen anderen Bauchleichen und Kopftoten. Jan weint.

Badezimmer, frisch gestrichen Nikoll: Das war sicher eine 120 Wattbirne die war in die rohe Fassung geschraubt das Licht war gleißend Weiß die Wände. Wir haben uns auf den Badewannenrand gesetzt und auf das frisch gestrichene Bad in unserer ersten gemeinsamen Wohnung angestoßen. Obwohl ich hätt gern eine Kerze angemacht. Später haben wir in der Badewanne geschlafen miteinander Geschlafen. Ohne Wasser. Es war kalt und hart. Wunderschön. Ich wusste es wird ein Mädchen. Das Badezimmer ist aber wunderschön geworden. Es wird ein wunderschönes Mädchen werden ich wusst es dass -

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Die Waffe Jan: Julie. Je t’aime. Jetzt bist du ja wieder in Rennes. Am Wochenende fahrt ihr zu dein Großeltern an den Atlantik. Wenn du da über die Dünen rennst denkst Vielleicht denkst du dann Mal an Mich. Als ich das erste Mal geküsst hab hast du den Kaugummi nicht rausgenommen. Als ich zwei oder drei Jahre alt war hab ich geglaubt wenn ich ein Kaugummi runterschluck verklebt der ganze Magen und ich kann nie wieder im Leben verdauen. Du hast dein Kaugummi in mein Mund rübergeschoben. Julie eigentlich Leuchten deine Augen eigentlich? Ich habe eine tote Schwester. J’ai une sœur morte. Elle meurt Nee. Elle est Scheiße ich weiß die Vergangenheit von Sterben gar nich. Sie ist im Bauch meiner Mutter gestorben. An welchem Ort möchtest du sterben. Julie? Die Wahrheit ist dass die Augen dann aufhörn. Julie. Nächstes Jahr wenn meine Klasse nach Frankreich kommt will ich Voulez vous coucher avec moi? Ha. Hast du ein Schuss gehört. Julie? Ich fand dass dein Furz trotz allem gut gerochen hat. Ich Scheiße ich weiß nicht. Ich war ein Indianerhäuptling. Die Weißen haben mich mit Schnaps zugeschüttet. Ich bin durch die Wüste getorkelt die Luft hat geflimmert ich hab gewimmert. Gewinselt wie die kleinen Köter die Kojoten die jungen Hunde die vor meinem Zelt ausgeworfen wurden. Die Luft hat von da an immer geflimmert und ich wünschte sie würd niemals wieder aufhörn zu flimmern. Als ich zwei war hat mein Vater mich im Arm gehalten. Er hat den Wohnzimmerschrank geöffnet die Scharniere quietschten. Der Ratschluss der Weisen. Mein Vater war mein Vorgängerhäuptling und hinter dem Sonnenporzellan unter den ewigen Himmeln lagerte seine Waffe. Einziges Erbe des Vaters. Dein scharfer Atem verlor sich im Sand ich such deine Spuren. Ich suche deine Spurn. Pa. Schweigen. Jan: In der Redaktion da haben sie dich doch auch bloß gefickt. Gibs doch zu. Papa. Dir jedes Wort verdreht. Jeden Satz gestrichen. Jede Reportage versaut. Jedes Ressort mit einem Kollegen besetzt der noch alle Haare hatte. Du warst nicht Chef vom Dienst du warst Depp vom Dienst. Deine niedrigen Blicke holten den Boden nach oben. Oder. So wars doch. Mach dein Mund auf. Mach doch einmal dein Mund auf. 164

2008-01-15 13-31-57 --- Projekt: T512.lettre.tigges / Dokument: FAX ID 031a168359776568|(S. 157-167) T03_06 ender.p - Seite 164 168359776592

Nina Ender: still still meine kleine Tochter

Nicht um dein Vorgesetzten einen zu blasen Vater nein ich will einmal ein ehrlichen Kommentar hörn zum Tagesgeschehen warum Zum Beispiel hat Mama nach Rosa nicht ihre Ausbildung zu Ende gemacht. Oder eine neue angefangen. Zum Beispiel Krankenschwester. Wenn sie sich schon so gern mit Sterbenden Gestorbenen Leichen beschäftigt. Ha? Warum ist es dabei geblieben. Warum habt ihr mich nicht abgetrieben? Warum habt ihr mir keine Röcke angezogen? Mann ich wär doch gern euer weißbekleidetes Kleinkind gewesen. Als wir das letzte Mal Laufen warn warum ham wir da die Scheißtierheimhunde mitgenommen? Ich wollte doch einfach mal dass meine Lungenflügel mit dir wegfliegen weil die Luft so wehtut und das Leben durch unsern ganzen Körper hämmert als könnten wir doch nochmal Amboss sein des Goldschmieds Schicksal.

Fotos von Mädchen II Nikoll: Mit siebzehn da lag das Leben vor mir offen Ausgerollt wie ein Teppich mit Mustern alles war möglich. Ich war gerade mit der Schule fertig Rosa nicht die macht natürlich Abitur bekommt Stipendien was ich sagen will ist Jan: Du hast Papa klein gemacht. Nikoll: Mit siebzehn da hat man noch Träume. Jan: Ich hab gesehn wie er sich gebückt hat. Wenn er durch sein Arbeitszimmer zum Schreibtisch wollte. Um keines der Fotos zu berühren. Immer gebeugter ist er gegangen weil die Wäscheleinen mit den Jahren immer lockerer hingen unter der Last von immer mehr Fotos. Ist Papa immer kleiner geworden. (lacht, dann) Ich hab die Fotos von den Mädchen abgenommen Mama. Ich hab an ihnen gerochen aber ich konnte das Parfüm nicht riechen das Papa dir einmal zu Weihnachten geschenkt hat mit dem du die Mädchen eingesprüht hast eh du sie auf die Wäscheleine gehängt hast. Und ich habe mir jedes Mädchen angesehn. Sie lachen weil es Werbung ist für Cremes Waschpulver für die Autos ihrer Eltern sie weinen weil sie aus einem Kinderheim in Rumänien kommen und adoptiert werden wollen und Tuberkulose haben oder so aber weißt du was sie sehen alle schön aus. Sie sehen schön aus weil Papa unter ihnen durchgegangen ist ohne sie zu berühren. Und weißt du was er noch gemacht hat? Er hat ihnen allen Namen gegeben. Er hat jedem Mädchen einen Namen gegeben ich hab es in seinem Kalender gesehn. Und eine erste Erinnerung. Und weißt du auch was Rosas erste Erinnerung gewesen wäre? Ihre Hand auf dem schwangeren Bauch ihrer Mama. Da war sie zwei. Und der in deinem Bauch strampelte war ich. 165

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Schweigen. Jan: Mama wie war ich wie ich klein war? Nikoll: Rosa hat sich so gefreut über dich. Jan: Wie war mein erstes Weihnachten. Mamma? Schweigen. Jan: Wahrscheinlich hast du gedacht Nikoll: Ich weiß nicht. Jan: Rosa wäre jetzt drei. Mit drei fängt man an Ich zu sagen Nikoll: Ich ich weiß wirklich nich – Ich Jan: Du freust dich nicht!

Weihnachten Nikoll: Mein Kopf ist Eine Christbaumkugel. Ich weiß nicht ich Hätt ihm so gern die erste gemeinsame Weihnacht erzählt wie Wie ich ihn unter den Baum gelegt habe Walther. Weißt du noch? Du hast gesagt jetzt sind wir zu dritt. Rosa ist schon drei hab ich gesagt. Ist er nicht ein schönes Geschenk? Ich hab Angst. Aber du hast gesagt in diesem Jahr da ist er das schönste Geschenk man müsst ihm eine rote Schlaufe um den Bauch binden weißt du noch Walther die Kerze war nicht gerade in ihrm Halter wie das Wachs auf die Wange vom Sohn getropft ist. Das hätte ins Auge gehen können. Schluss mit dem Krippenspiel Walther. Du. Du erzählst mir was von spielen? Du wolltest ihn doch als Geschenk haben. Du bist es die hier die ganze Zeit spielt. Das ist dein Spiel. Da. Ich schenk ihn dir. Hier hast du dein dämliches Geschenk. Unser ganzes Leben. Ein Eiertanz. Wir konnten so laut schreien wie wir wollten das Kind schrie lauter. Ich hab es vom Boden hochgehoben und dir entgegen gehalten. Wo ist sein Schnuller wo ist sein Schnuller? Du hast zwischen all den Geschenken wie wild den Schnuller gesucht alles in die Luft geworfen dein neuen Mantel Silberbesteck Geschenkpapier wirbelte hoch alles verschwamm Sylvester Fasching Ostern Sankt Martin in einem das Kind hörte nicht auf zu schreien. Wo ist der Stöpsel der blöde Schnulli? Irgendwann wurde es still. 166

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Nina Ender: still still meine kleine Tochter

Schweigen. Nikoll: Wir haben am nächsten Morgen in der Feiertagsapotheke einen neuen Schnuller gekauft weißt du noch Walther Wie wir uns in der Stille gebraucht haben. Wir saßen da drei Tage lang Wochen und haben auf Jans erstes Wort gewartet der rote Fleck unter seinem linken Auge verblasste langsam. Ich habe so Angst. Ich beschütz dich doch. Ja? Immer.

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Magdalena Grazewicz: Kastanien

Kastanien Magdalena Grazewicz

Personen Ruth: 49, Mutter Karl: 52, Vater Daniel: 23, Bruder Nora: 27, Liebe

Auszüge: insgesamt 10 Szenen 1. Nora: Ich glaube, ich bekomme Schluckauf. Ich habe nicht mal was gegessen und bekomme gleich Schluckauf und das am ganzen Körper. Was mach ich hier was mach ich hier was mach ich hier. Essen. Hier muss man was essen. Wenn ich aufschaue: Münder. Auf zu auf zu, spielen Fische, stumme Worte entschlüpfen aus den Mundwinkeln, ein Netz, das mich umspannt. Auf der Zunge ein glibberiges großes Wort, herausgewürgt 169

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ploppt es auf den Boden. »Hallo.«

2. Ruth: Schau mal. Karl. Sie schauen uns alle an. Sie schauen uns alle beim Essen zu, und ich habe gerade meine Bluse mit Ketschup befleckt. Mit Ketschup. Dabei nimmt man doch keinen Ketschup zum Fisch, eigentlich. Dabei auf Tomatensuppe verzichtet, wegen der Fleckengefahr. Karl. Kopfschmerzen. Sie machen Dir zu schaffen deine Kopfschmerzen. Karl: Hitze hab ich noch nie vertragen. Da braucht man sich nicht zu wundern, an einem heißen Tag, wenn einem da die Beine nachgeben. Jetzt geht es. Es geht. Wenn nur nicht die Löffel so laut über die Tellerböden kratzten. Ich muss mich auf etwas konzentrieren. Etwas anderes. Ruth: Nur ein Gedanke eingepflanzt unter der Kopfhaut, ganz dicht über den Augenbrauen pocht und zuckt er, atmet mir die Luft aus den Lungen raus – rein gar nichts bleibt zurück womit ich leben kann. Daniel: Will ich Sahne in meine Suppe? Daran denke ich, weil das ein Gedanke ist, denke ich. Und dann schmeckt´s mir 170

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Magdalena Grazewicz: Kastanien

gleich bestimmt. Ich muss Sahne in meine Suppe löffeln, ich muss nur Sahne in meine Tomatensuppe löffeln, jedem schmeckt’s hier – ich schaue mich um, und dann gleich, ja, das alles gleich. Dieser Kloß im Hals. Gleich ist er weg. Ruth: Ich muss mich jetzt kurz von den Gedanken wegkonzentrieren. Eines Tages, später, da wird alles wieder gut. Dann werde ich jetzt auch so schauen, meinen Blick von links nach rechts nach links wenden. Einfach so schauen. Ich schaue. Sie schauen. Pause. Sie schauen uns alle beim Schauen zu.

7. Nora: Ich habe hier gesessen gewartet gedacht an dich, an nichts Bestimmtes, weil es nicht viel gibt davon, außer es bist Du. Außer es bist Du.

8. Daniel: Ich stehe jetzt auf, gehe rüber, das kann doch nicht so schwer sein, das… ich gehe hin – wie sie dasitzt – entschuldige, ich glaube, ich bin dir gerade auf den Fuß getreten, sag ich, 171

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mit Absicht, denke ich. Sie guckt ab und zu, zu uns rüber, kaum merkbar, ich beobachte das aus dem Augenwinkel. Hallo, sagt sie, das macht nichts, das mit dem Fuß, dann sitzen wir und reden, ab und zu ein leises Lächeln auf ihren oder dann und wann auch auf meinen Lippen, tauschen aus und ein mit allemal kann man einen kurzen Atemstoß machen. Wir haben ihn beide geliebt. In meiner Familie geht das Sterben weiter, das Absterben der Worte, die Sätze stecken fest in brachem Boden und säen sich ein in das Leben unter der Haut. Das stimmt doch gar nicht, das sind keine Kopfschmerzen, das ist der Hohlraum um welchen wir jetzt herum leben. Und Du stehst am Grab Deines Sohnes und sprichst von Kopfschmerzen.

9. Nora: Was ich meinem Kopf sage, bleibt ganz leise, leise ist winzig bei Geräuschen. Zwischen Daumen und Zeigefinger sind die Köpfe ganz klein. Zwischen Daumen und Zeigefinger halte ich meine Gedanken fest, wenn sie aus deinem Mund kommen. Hallo Hallo Hallo 172

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Hallo, das ist ein Wort, das man sich zur Begrüßung sagt in diesem Land. Hallo. Oh. Die Köpfe in meiner Handfläche, ganz klein. Warum sagst Du nichts? Du kommst her, in meinen Kopf jetzt für immer und sagst einfach nichts!

17. Nora: Das Bild, es ist immer da, es ist immer bereit. Pause Du liest die Fahrpläne. Schaust Auf die Uhr. Es ist die Uhr von Deinem Großvater. Am Ansatz der Treppe hält Dich eine Frau auf. Sie bittet Dich ihr mit dem Kinderwagen zu helfen. Das Baby ist wach und es hat rötliche Haare. Auf dem Fahrplan hast Du Dir einen Zug ausgesucht und den wirst Du jetzt auch nehmen. Du steigst in den Zug, Du fährst. Wenige Stunden später kommst Du an, Du bist bei mir, Du hast den ganzen Weg gemacht um zu mir zu kommen, nichts anderes, das ist der einfache Grund dafür, warum Du am Bahnhof warst, warum Du zum Bahnsteig stiegst, warum Du Fahrpläne studiert hast an diesen Tagen. Du kommst bei mir an, lächelst, ich lache Dich auch an, und wir küssen uns, ich verzeihe Dir sofort alles, es gibt nichts zu sagen und wir reden trotzdem lange darüber, aber erst später. Wir lieben uns, fast sofort nach dem öffnen der Tür, gleich hier auf dem Fußboden, hektisch fallen wir übereinander her, ich werde blaue Flecke am nächsten Tag an mir entdecken und ich werde ein Baby bekommen, schwanger sein, sofort, mit einem kugelrundem Bauch, wir haben keine Zeit zu 173

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verlieren, ich werde Dir einen Haufen Ultraschallbilder zeigen oder per E-Mail schicken, einen kugelrunden Bauch, dein Baby, meins unsres eine Kugel in der wir sind, und oh Gott, denk mal an die ganzen Babysachen, die wir werden einkaufen müssen, und an die bösen Worte, die wir uns zufauchen werden, weil wir natürlich nicht immer über alles einer Meinung sein können, aber fast immer werden wir uns dann ganz zart vertragen, weil Du meistens den Anfang machen wirst. Weil wir wollen Einfach Nur Zusammen Sein.

25. Daniel: Die Zeit hat sich auf eine Spule gedreht und zieht sich rauf, zieht sich runter. Ich schmiere mir ein Butterbrot. Es ist abends. Es ist elf, kurz vor. Danach ist es irgendeine Uhrzeit. Egal, die Zeit bewegt sich nicht mehr, die Zeit bleibt endlos. Ich mache mir ein Brot. Ich weiß einfach nicht welche Marmelade ich Essen möchte. Erdbeere? Brombeere? Johannisbeergelee? Es klingelt. Zwischen dem Erdbeer- und dem Brombeergedanken höre ich die Klingel an der Tür. Ich muss überlegen. Ich muss ganz genau überlegen. Johannisbeergelee. Noch einen kurzen kleinen Augenblick. Einen Moment noch mit Marmelade auf der Zunge Ich wundere mich. Wer denn noch so spät und so weiter, klar. Ein Zögern, dass mich umgibt, dann mache ich es doch. Tür auf. Ich war allein. Ruth: Dreißig Tage nur für uns allein. Für jedes Jahr einen Tag. 174

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Paris. Paris! Wie hätten wir da das Telefon hören sollen??! Ich wusste das doch gar nicht. Hätte ich, hätte ich das spüren sollen? Karl: Ich Hatte eine Tüte nach der anderen in Der Hand. Souvenirs. Bunte Tüten, mit kleinen Dingen, eins Für jeden. Ruth ist einfach verrückt nach diesen Dingen, halbe Städte auf der Wohnzimmerfensterbank. Ruth: Ein Ziehen in der Bauchgegend? Hätte ich? Das wäre doch richtig? Eine Vorahnung. Wäre richtig gewesen. Als Mutter. Daniel: Das Hotel in Paris ist ein Haus, das ich noch nie gesehen habe. Ich weiß nicht wie das Gebäude aussieht. Ich weiß nicht wie das Zimmer aussieht, in dem jetzt das Telefon klingelt, dessen Nummer, ich von einem kleinen gelben Post-it ablese. Karl: Ruth sucht immer für jeden das richtige aus. Sie ganz allein. Zuhause wird sie die Geschenke auspacken und sagen Ruth: Von Papa und mir. Karl: Ja, das hat sie immer gemacht. Auch wenn es nie gestimmt hat eigentlich. Ich wünschte Ich hätte Ich, hätte ich doch, auch mal Etwas ausgesucht, etwas 175

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mitgebracht, gekauft für ihn, Ihm ein richtiges Geschenk mitgebracht. Ruth: Schau. Das hat dein Vater ganz allein für dich ausgesucht. Karl: Ruth hat immer alles ausgesucht, gekauft, verpackt. Das eine Mal in San Francisco, das, das zählt doch nicht, nur weil sie krank geworden ist. Deswegen. Einen roten Füller. Einen dämlichen roten Füller! Weil Ruth krank war. Einen Füller, wenn man in San Francisco ist. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Als ob man sich mit siebzehn über einen Füller freut. In rot. Daniel: Den Hörer in der Hand, klammert sich alles in mir an dieses Zimmer, das ich nie gesehen habe, an dieses Telefon, das ich nie hab klingeln hören, an diesen Ort, der weiter hätte nicht sein können. Freizeichen. Ruth: Tag zwölf. Karl: Aber ich, Du weißt es, ich wollte immer. Daniel: Zwei, drei, acht Mal habe ich es klingeln lassen. Es war niemand in diesem Zimmer, niemand hörte das Telefon, es klingelte ganz allein für sich, niemand hörte es und keiner klammerte sich an mich. Ich versuchte es einige Minuten später noch mal, und 176

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einige Minuten noch später. Ruth: Hallo? Hallo!? Hallo! Daniel: Immer wieder, den ganzen Abend. Tut. Tut. Nichts, nur dieses schreckliche Geräusch! Ruth: Hallo?!! Daniel: Kein Wort kam aus mir heraus. Steckten alle fest. Alle und das eine. Dann Ruth: Ein Wort. Und noch welche hinterher. Ich höre nichts. Daniel: Ich kriege, es kommt, ich, aus meinem Mund da kommt kein Wort heraus. Da ist eine Sprache, wie die Zeit endlos In meinem Kopf tickt eine Armbanduhr. Ruth: Nein. Ich höre nichts! Ich höre nichts. Karl: Ruth gleitet an dem Telefonhörer herunter. Daniel: Während Vater Dinge sagt, fragt, gluckst, laufe ich. Zurück zum Tut. An der Tür vorbei, keine Polizei, zum Marmeladenbrot, zurück, Tut, Brot, Klingeln, Nein, Stille, gut, an der Tür vorbei, welche Marmelade welche Marmelade Rückwärts, bis zur kühlschrankharten Butter, bis noch weiter. 177

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Ich kann Dir jede Sekunde wiedergeben. Ich will nichts mehr davon.

28. Ruth: Das macht man nicht. Erklär mir das, sag weil und deswegen, und dann ist es in meinem Kopf. Karl: Ruth, jetzt hör auf. Ich sagte, mehrmals, sie macht sich so verrückt damit, sie denkt einen Gedanken, ich sagte also, hör jetzt auf. Sie schaute als würde sie mich gerade erst bemerkt haben. Ruth: Man denkt doch nicht an saubere Wäsche und geht dann am nächsten Tag los und stirbt. Niemand bestellt eine Waschmaschine, und Das macht man nicht. Karl: Ruth. Ich liebe Dich. Ruth: Das macht man nicht. Das macht man doch nicht.

30. Ruth: Nicht morgen, nächste Woche auch noch nicht. Karl. Dreißig Jahre. Wir liebten uns, und jetzt noch, heute, in dieser Minute und in diesen Stunden lieben wir uns auch noch, irgendwo, aber dann, später in zwei Jahren oder in eineinhalb schon vielleicht, wer weiß, müssen, werden wir getrennte Wege gehen. Viel Zeit bis dahin, viel Zeit, in der wir versuchen, später uns

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abmühen werden, uns zu verstehen, von dem anderen aus der Tiefe der Traurigkeit einen Blick zu erhaschen. Wir liebten uns, und jetzt, heute ist diese Gegenwart schon die Vergangenheit, im Namen der Zukunft, ich liebe Dich, Karl, ich werde Dich verlassen Karl, ich habe Dich verloren, weil ich meinen Sohn verloren habe, und Karl. Ich liebe Dich, ich werde Dich verlassen Karl, vom ersten Augenblick verlasse ich Dich. Die Gegenwart ist jetzt in den Zähnen der Zukunft. Mit dreißigjähriger Verspätung wirst Du davon erfahren. Die Liebe hört auf in der Sekunde in der man sich das erste Mal verliebt in die Augen schaut. Es tut mir leid. Wir werden alles versucht haben. Aber heute, heute ist noch ein Tag, an dem ich meine Hand auf deine lege.

31. Nora: Du gehst zum Bahnhof, Du gehst schnell, bergab, an Häusern vorbei, in deiner Geldbörse sind fünfzig Euro. Du willst ins Kino. Oder was trinken. Fünfzig Euro. Du gehst zum Bahnhof. Willst Du was trinken? Oder ins Kino? In deinem Kopf sind Gedanken. Worte. Fünfzig Euro. Gehst Du was trinken? Ich habe letzte Woche einen guten Film gesehen, wie hieß der bloß…? Musst Du sehen. Ja. Das geht nicht mehr, dass wir zusammen sind, das, wer hat das gesagt? Und jetzt bin ich hier und hasse Dich und dabei, dürfte ich gar nichts mehr, denn es ist alles um so mehr, seit dem Du nicht mehr. Irgendwo hier ist der Ort von dem Du abwesend bist, eine Lücke, die ist so schwer zu erkennen in all der Luft, die mich hier so selbstlos umgibt, Du bist Luft. Du bist Luft für mich, Luft,

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Luft – Hab ich gedacht, bevor ich’s besser wusste, bevor ich wusste, dass es stimmt, denn an Gott glaube ich nur jetzt für kurze Zeit und dann nie mehr. Du, Bahnhof, Fahrpläne, und Jahre später werde ich keine Postkarten bekommen in schwarzweiß und keine in Farbe, ich werde auch keine mit Trinkjoghurt bekleckern, den ich jahrelang trinken werde, nur weil Du ihn trankst. Du, Bahnhof, Fahrpläne, Du Fahrpläne, Du Hier hört es auf, hier denke ich nicht, bitte nicht. Meine Gedanken. Da sind Referate, Mütter, eine Bank, Enten, manchmal auch Schwäne, außer im Winter, gutes Wetter, Herbstspaziergänge, Menschen, grüne Mützen, Regen, kleine Butterstücke, Du, nein, ich, Computerspiele, ein Mitgliedsausweis für die Bibliothek, dann Noch Und Dann und und Du. Immer wieder. Ich werde ganz allein in die Welt schauen, doppelt, damit ich auch für Dich was sehe.

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Tina Müller: Alles still

Alles still Tina Müller

Zora, ihre Schwester Dodo und Pablo sind alle Ende Zwanzig. Der Dandychor ebenso.

Auszüge: insgesamt 3 Szenen 1 Dandychor Dandy I: Die Revolte ist tot. Dandy II: Ach so. Dandy I: Schon eine ganze Weile. Du hast es nur nicht gemerkt, weil dir in irgendwelchen Jugendzeitschriften oder Lifestylmagazinen immer noch so was wie wilde Jugend verkauft wird. Dandy II: Ach so. Dandy I: Dein freies Partyleben gibt dir irgendwie das Gefühl schrecklich rebellisch zu sein, in dem du zum Beispiel mal wegen zu viel Pulver im Kopf am nächsten Morgen den Wecker überhörst und dann ganz ungeduscht und völlig neben den Lackschuhen zehn Minuten zu spät in die Agentur gerannt kommst. Dandy III: Aber Spass ist nun mal eine Form, sich nicht anzupassen. Während ich mich vollkommen exstatisch zu einem dumpfen Beat bewege, kaufe ich wenigstens keine Unterhose bei einem ausbeutenden Grosskonzern. Dandy II: Hast du nicht trotzdem manchmal das Gefühl, du wirst um ein Recht gebracht. Das Recht zum Beispiel mal Nein zu sagen zu einem neuen Turnschuh oder einer Sozialreform? Ich weiss nicht, manchmal versuche ich meinen Mund auszumachen, aber es kommt nichts raus,

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meine Stimme versagt oder im entscheidenden Moment fallen mir einfach nicht die richtigen Worte ein. Dandy III: Wenn ich diesen Turnschuh für 300 Euro gekauft habe und zwei Tage später sehe ich den haargenau gleichen an einem fremden Fuss noch mal, könnte ich natürlich schreien vor Wut. Schlussendlich habe ich aber gelernt, damit umzugehen. Ich meine, ob ich schreie oder weine, der Turnschuhhersteller lässt sich ja nur selten erweichen. Das Einfachste ist oft, ich kaufe mir ein paar neue Schuhe und das war’s. Dandy II: Aber weil ich immer nur kaufe und vergesse, dazwischen zu atmen, wird mir manchmal ganz schwindlig. Ich frage mich oft, ob das gesund ist oder ob sich da mit der Zeit in der Magengegend ein Geschwür bildet, könnte ja sein. Dandy I: Eben. Und dieses Geschwür bin dann irgendwann ich. Vollkommen meinungslos und willig. Dandy III: Ich weiss nicht, was du hast. Ich habe doch eine Meinung. Nur lässt sie sich halt mit meinem Wohlstand vereinigen und das gefällt mir eigentlich ziemlich gut. Warum soll ich gegen etwas anrennen, was mich eigentlich ziemlich überzeugt?

7 1.Juni Zora, Pablo, Dodo Zora: Still. Pablo: Was? Zora: Hörst du’s nicht? Stille Zora: Ich find’s schön zu dritt. So habe ich mir das vorgestellt. Pablo: Zu zweit. Zora: Oder zu zweit. Das spielt doch keine Rolle. Pause Zora: Mir gefällt es halt so still. Natürlich. Man muss sich daran gewöhnen. Aber.

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Tina Müller: Alles still

Pause Zora: Nimm doch eine Stück von der. Selbst gebacken. Dandychor kommt. Dandy I: Die Zeit steht ja still. Dandy II: Wie kommst du jetzt darauf? Dandy I: Die Musik zum Beispiel, kommt es euch nicht auch so vor, als würde sie sich nicht mehr verändern. Zora: Meine Herren. Das ist ein Privatgelände. Bitte. Dandy III: Wirklich eine Gemeinheit. Die Technoszene meiner frühen Jugend war so aufregend und jetzt? Dandy I: Der Rock n’Roll ist tot. Der Punk ist tot. Dandy III: Wenn man es genau nimmt, ist Techno auch tot. Die Bässe werden zwar hier noch ein bisschen härter und an den Beats wird da noch was rumgebastelt. Aber eigentlich. Dandy I: Wir flippen immer noch total darauf ab und freuen uns gegenseitig, weil wir schon wieder was erfunden haben, klopfen uns auf den Rücken und fühlen uns irgendwie total aufregend, aber in Wahrheit hören wir uns nur noch ständig diese angefaulten Leichen an. Zora: Hören Sie. Das ist eine. Also wirklich. Dandy III: Aber dann ist es doch eigentlich egal. Hauptsache, wir flippen. Meistens merkt ja keiner, dass man sich nur im Kreis dreht. Zora: Das ist eine. Was fällt Ihnen ein? Eine Einweihungsparty. Sonst rufe ich die. Bitte. Dandy II: Ich weiss nicht. Ich finde, man hat uns um unsere Jugend bebracht. Könnte man das als Fazit so sagen. Dandy I: Könnte man. Dandy II: Echt schade. Dandychor ab. Stille Pablo: Schade. Zora: Mochtest du sie? 183

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Pablo: Man hätte ein bisschen mit ihnen reden können. Zora: Mochtest du sie? Pause Zora: Magst du sie? Dodo: Man kann sie essen. Das ist. Wirklich ein Fortschritt. Früher konnte man. Du bist einfach nicht gerne in der Küche gestanden. – Zora: Musst du das jetzt vor Pablo? Pause Zora: Es liegt an dieser Küche, diesem Haus. Ich habe das wirklich in meinen Mädchenträumen. Genau so sah es aus. Es ist wirklich eine Art Vollendung meiner. Lacht jetzt nicht. Meiner Träume. Ich denke, dass ich. Hier bleibe ich. Pablo: Aber. Das müssen wir Dodo schon auch sagen. Es war nicht von Anfang an so. Endgültig. Wir sind ja erst mal von einem Experiment. Doch. Ausgegangen. Mich hat daran vor allem. Dieses. Mal das ganze. Das aufgebaute Leben hinter sich lassen. Alles mal fallen lassen. Als Erfahrung. Es ist extrem. Find ich schon. Zora: Aber ein Experiment. Das ist wirklich der falsche. Wir haben nie von einen Experiment gesprochen. Pablo: Natürlich. Zora: Wir hätten nicht zwei Jahre gesucht, wenn wir nach zwei Wochen. Pablo: Wer spricht denn von zwei Wochen? Zora: So hört sich das an. Wenn du. Als wäre das hier eins deiner hohlen Kunstprojekte? Pause

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Zora: Tut mir. Es war nicht so gemeint. Ich. Das ist ja jetzt vorbei mit der. Du hast ja alles hinter dir gelassen. Die Kunst. Fühl dich doch nicht gleich. Angegriffen. Pause Dodo: Malst du? Zora: Früher. Damit ist ja jetzt eben. Pablo: Ich denke, ich richte mir schon wieder was ein. Wir haben ja so viel Platz. Ein Atelier. Pause Zora: Du siehst. Dodo. Ein langer Weg. Aber. Wir haben ja noch ein paar Jahre. Wenn ich Pablo richtig verstanden habe. Dodo: Seid ihr denn hier nicht ein bisschen. Einsam? Zora: Nein. Das. Wir wollten ganz bewusst. Sonst. Ich glaube, sonst. Man wird so schnell wieder eingeholt. Pause Ausserdem bist ja jetzt du da. Kaum sind wir eingezogen. Pause Zora: Wir müssen ja nicht in allem gleicher Meinung. Aber. 185

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Was uns betrifft. Aber das sind wir ja. Wir. Natürlich kannst du ein Atelier einrichten. Ich dachte nur, du. Das sei vorbei. Ich habe schliesslich auch alles. Stehen gelassen. Dodo: Warum hast du deine Bücher nicht einfach mitgenommen? Du hättest hier kann man doch wunderbar schreiben. Zora: Alles schon geschrieben. Pablo: Ich verstehe dich nicht. Warum sollten wir hier nicht weitermachen? Ich verstehe dich nicht. Was willst du hier den ganzen Tag. Zora: Wenn du das nicht verstehst. Pablo. Warum bist du mit mir hier rausgezogen? Pablo: Wegen. Was soll das? Wegen dir. Hauptsächlich. Zora: Ist das. Das ist nicht wahr. Oder? Du. Du bist doch. Ich habe mich doch in einen. Du gehst doch deinen eigenen. Bist du mir nur hinterher gelaufen? Pablo: Du übertreibst. Pause Dodo: Ich geh schlafen. Pablo: Kannst du vielleicht heute. Ich würde gerne mal im Balkonzimmer. Dodo: Hast du mir nicht gesagt, ich kann. Aussuchen. Zora: Sicher. Bleib doch. Sie kann doch bleiben. Wir sind doch nicht so. Festgelegt. Pablo: Ich würde gerne heute Nacht mir dir im Balkonzimmer. Das ist. Überhaupt nicht festgelegt. 186

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Tina Müller: Alles still

Dodo: Ich kenn es ja. Egal wo ich bin, man. Pablo: Es geht um ein. Zimmer. Zora: Aber es stimmt schon. Man schickt nicht einfach die Gäste. Pablo: Seit ich hier wohne, habe ich noch nie. Das schönste Zimmer. Ich möchte heute Nacht mit dir. Ist das so schwierig. Dodo: Aber nicht so laut. Sonst. Ich muss immer weinen. Pablo: So laut ich will. Dodo geht Pause Pablo: Genau wie du. Ich möchte hier bleiben. Zora: Versprichst du mir das? Pablo: Kannst du nicht vertrauen? Zora: Ja. Du hast. Wie immer. Recht. Komm wir. Sollen wir auch ins Bett. Ich würde gerne. Pablo: Ich muss schlafen. Zora: Aber. Pablo: Nicht sofort. Wir. Gerne. Ich würde auch gerne. Die ganze Nacht. Zora: Liebst du mich? Pablo: Natürlich. Zora: Wie lange? Pablo: Lange. Zora: Lange? Pause

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Pablo: Man kann sich doch nicht gegenseitig. Ach. Ich muss schlafen. Du kannst doch nicht von mir erwarten, dass ich. Wer weiss, wie es läuft. Wir wissen es nicht. Zora: Es kann nicht laufen, wenn wir nicht unser ganzes. Du weißt, wovon ich spreche. Herzblut. Pause Pablo: Ich muss schlafen. Wenn du es nicht siehst. Wie es pocht unter der Brust. Für dich. Zora: Es geht nicht nur um mich. Es geht um. Pablo geht.

12 Dandychor Dandy III: Ich selbst bin das Zentrum meiner Auseinandersetzung. Ich selbst bin zwar klein und doch stehe ich exemplarisch für das ganze Grosse. Ich muss mich nicht aus dem Fenster lehnen, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Eigentlich kann ich allein an Hand meiner täglichen Launen verstehen, um was es da draussen eigentlich geht. Ich erkranke an den Zuständen dieser Welt und diese meine Krankheit ist das Abbild alles Übels. Eigentlich muss ich mich also nur hinstellen, gut in mich hineinhören und schon ergibt sich daraus eine hochkomplexe Gesellschaftskritik.

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Anne Habermehl: Küss mich hinter Karstadt

Küss mich hinter Karstadt Anne Habermehl

Personen Alex Lia Max Filialchefin Der Kunde Jetzt. Eine Pappschachtel, das Zuhause von Alex und Max. Lias Wohnung. In und um den Supermarkt. Auf dem Dach.

Auszüge: insgesamt 3 Szenen 1 Vor dem Supermarkt. Alex und Max sitzen auf einer Decke auf dem Boden. Der Kunde steht am Rand. Max: liest ab von einem Papier Kein Mensch ist allein, auch nicht hier drin. Du kannst etwas dagegen tun, gegen das Gefühl jeden Tag einsamer zu werden, es ist nicht dein Schicksal, kämpfe für dein Glück und ein erfülltes Leben, Krisen sind da, um aus ihnen zu schöpfen, schau niemals zurück, was zählt ist der Augenblick, blabla, komm näher und besiege deine Scham, denn wir sind deine Rettung, blabla, zerreißt das Papier … Was hast du da für einen Schwachsinn geschrieben, so werden wir nie reich. Alex: Ich dachte, man müsse in die Wunde hinein/ 189

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Max: /Quark. schreit Ihr fühlt euch so richtig zum Kotzen? Alles ist scheißegal? Toll. Uns auch. Aber wir haben was dagegen, Elektronik, und ihr habt das Geld. Kunde flüstert Max ins Ohr Max: Was? Kunde flüstert Max ins Ohr Max: liest wieder ab Alle Menschen um dich herum sehen nicht mehr aus wie Menschen, und wenn du sie anschaust wollen sie dich umbringen? Alle Menschen um dich herum sind in der Lage so etwas wie Glück zu erlangen, nur du nicht? Dir sind die Menschen fremd, du bist dir selbst fremd? Die Tiefkühlpizza lindert den Schmerz auch nicht mehr? zu Alex Das ist gut. wirft Papier weg Der Klassiker. Wir können dir helfen. Nimm erstmal drei Prepaid-Karten mit fünfhundert Gesprächsminuten für eine Woche. Macht dann vierzig Euro, die Seele hat einen stolzen Preis. Kunde: flüstert Max ins Ohr Max: Wie das funktioniert? Na, du rufst an, ich hebe ab, und wir tun so, als würden wir miteinander telefonieren. Dass du mit jemandem gesprochen hast, siehst du daran, dass deine Gesprächsminuten weniger werden. Das ist alles. Kunde: leise Und ich kann immer anrufen? Max: Solange du nur uns anrufst. Kunde: leise Zu jeder Uhrzeit? Max: Zu jeder Uhrzeit. Außer vielleicht zwischen zwei und vier in der Nacht. Auch wir müssen schlafen. Es wäre gut, wenn du am Telefon nicht so piepsen würdest wie jetzt. Kunde: etwas lauter Ich schreibe kleine Texte über Lohnarbeit und Metaphysik, vielleicht/ Max: /Ja, das können wir dann am Telefon machen. Bezahlst du uns jetzt oder nicht? Kunde: gibt Max und Alex das Geld Ich bin Angestellter des Sicherheitsdienstes, Gehaltsstufe Drei, das ist ungefähr in der Mitte, ich arbeite dort seit zweiundzwanzig Jahren, und wurde in dieser Zeit zwei Mal befördert. Es wird bestimmt…Es ist lange her, dass…ich freue mich, wirklich. Alex: Wir auch. Max: Sehr. 190

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Anne Habermehl: Küss mich hinter Karstadt

Kunde: Wie heißt du? Max: Ich? Kunde: Es wäre gut, wenn ich wüsste, mit wem ich spreche. Max: Max. Kunde: Max. Ein schöner Name. Der Kunde geht. Alex: ruft Ich bin Alex. Übrigens. Max zählt Geld. Max: Siehst du. Geht doch. Alex: Vielleicht bei dem. Ein trauriger Einzelfall. Ein Autist. Max: Sind alle gleich. Alex: Das glaube ich nicht, man muss sie nur retten, es sind Verlorene. Max: Dann rette du mal. Mir ist es egal, ob sie verloren sind oder nicht, sie sind etabliert und wir brauchen ihr Geld. Alex: Du warst früher nicht so. Max lacht und zählt Geld. Max: 30… 40….50… Sind schon 200. Alex: Nur von heute? Max: Ich hab doch gesagt, dass sich das lohnt. Das ist aus der Dritten Welt. Die sind da einfach besser im Überleben als wir. In Kenia gibt es das Handy schon als Bank. Wenn da jemand Mais kaufen will, schickt er als SMS Gesprächsguthaben an den, der den Mais verkauft. Ganz einfach. Das brauchen die hier aber nicht. Mais. Wir brauchen das Handy als Menschenersatz. Alex: Was soll denn das für eine bescheuerte Tätigkeit sein, Gesprächsminuten zu verkaufen. Max: Dann werd doch Vorstandschef der Deutschen Bank. Alex schlägt Max. Die Chefin kommt aus dem Laden. Chefin: Ihr Schicksal tut mir aufrichtig leid, dass Sie da sitzen und prekäre Geschäfte machen müssen, nur um hier drin irgendwie zu überleben, und mit Sicherheit tragen Sie keine Schuld für die Umstände, die dazu geführt haben, wenn man das so sagen kann, es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, vielleicht waren Sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt, es gibt diese Menschen, die von Anfang an keine Chance ha191

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ben, es ist nicht gerecht; vielleicht geht es auch um Lebensentscheidungen, ich kann es nicht wissen; vielleicht aber war es auch eine Kette von, wie soll ich sagen, kleinen Verkettungen, die Summierung von vielen kleinen falsch getroffenen Entscheidungen, man kann die Kette zurück verfolgen, nicht wahr, habe ich Recht, schauen Sie nicht so misstrauisch, es gibt einen Punkt in Ihnen, ganz tief, wo Sie wissen, dass ich Recht habe, oder? Es kann jeden treffen, das ist das Risiko, auch mich. Es ist wichtig sich das immer wieder vor Augen zu halten. Es verbrennt mir das Herz Menschen wie Sie zu sehen. Aber dieser Supermarkt hier ist mein Supermarkt, verschwinden Sie, oder ich reiße Ihnen den Kopf ab. Alex: Wenn ein Mensch verhungert, dann wendet er seine Seele nach außen, wenn ein Mensch an Fettleibigkeit stirbt, ersäuft er seine Seele an Fett, es gibt auf der Erde mehr übergewichtige Menschen als unterernährte und das ist keine Naturgewalt sondern Ökonomie, und in dieser Shopping Mall laufen nur Menschen rum, die keinen Hunger haben, einmal Pommes schlucken dauert sieben Sekunden, in jeder Sekunde stirbt ein Mensch an den Folgen von Nahrungsknappheit, jeder fette Mensch ist ein Mörder, das ist eine gegoogelte Information. Chefin: Hören Sie auf mit ihrer Weltverbesserungs-Scheiße. Wenn Sie in fünf Minuten nicht weg sind, lasse ich den Sicherheitsdienst holen, das wird dann ein kurzer repressiver Prozess, ich bin mir nicht sicher, ob Sie das wollen? Alex: Aber irgendwo müssen wir sein. Chefin: Ja. Nur nicht vor meinem Supermarkt. Es gibt Auffanglager für Menschen wie Sie. Max: Sie haben Angst vor Konkurrenz. Chefin: Landen Sie auf dem Boden der Tatsachen. Ein rein ästhetisches Problem. Die Jämmerlichkeit Ihres Auftritts passt nicht zu dem Schriftzug meines Supermarktes. Alex: Sie sind kein Mensch, obwohl Sie so aussehen. Chefin: Ich bin genauso Mensch wie Sie, da unten im Dreck. Aber im Gegensatz zu Ihnen kann ich mir meine Antipathien leisten. Hier haben Sie ein Stück Brot mit Marmelade, gehen Sie dahin zurück wo Sie hingehören. Alex: Sie Geldaristokratensau. Chefin: Irgendwann muss sich jeder entscheiden. Die Chefin geht. Alex wirft das Brot nach ihr. Max: Warum machst du das? Vielleicht brauchen wir das noch. Alex: Nicht von der. 192

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Anne Habermehl: Küss mich hinter Karstadt

Max: Du hast ja keine Ahnung. Komm. Verschwinden wir.

4 Vor dem Supermarkt Lia: Wir haben ein amerikanisches System, wo man das Laufband für die Waren mit der Hüfte bedient, man muss eine geschmeidige Hüfte haben, man macht so kreisende Bewegungen, wie beim Bauchtanz. Wenn türkische Frauen kommen, dann gebe ich mir besonders Mühe mit der Hüfte, die türkischen Frauen fangen dann auch an zu wippen, wenn sie bei mir an der Kasse stehen, es gibt dann eine kollektive Bachtanzeinlage zur Entspannungsmusik aus den Lautsprechern, die deutschen Frauen verstehen das nicht und glotzen nur blöd, vielleicht fange ich an mit einem Kurs für Bauchtanz, vielleicht sollte ich auch eine Burka tragen, vielleicht bin ich nicht Kassiererin, sondern eine Bauchtänzerin aus dem Orient. Wer das nicht mitbekommt ist selber schuld. Wie heißt du? Alex: Alex. Lia: Ich habe auf dich gewartet. Alex: Kennen wir uns? Lia: Ich arbeite da drinnen, im Supermarkt, ich mache orientalischen Bauchtanz. Alex: Verarsch mich nicht, du sitzt an der Kasse. Lia: Das ist ja dasselbe. Alex: Wenn du es sagst. Lia: Es hat sich so ergeben, ich hatte keinen Plan, zwei Minuten früher, und ich wäre vielleicht Staatsanwältin geworden, zwei Minuten später Drogenberaterin oder Angestellte im Landesamt für Besoldung. Es war ein Zufall, aber nicht der schlechteste, ich bekomme im Durchschnitt zwanzig kleine Gespräche in der Minute, oder auch sechs Euro fünfzig. Alex: Ich wollte schon immer mal eine echte Kassiererin kennen lernen, und den Geruch des Geldes. Darf ich dich mal anfassen? Lia: Später. Du bist mir aufgefallen da drinnen. Du schleichst immer so rum, als wärst du das schlechte Gewissen persönlich. Und du kaufst immer Reval, dieses furchtbare Kraut, das raucht doch kein Mensch. Alex: Ich versuche meinen Körper festzuhalten, indem ich ihn loswerde. Lia: Und? Funktioniert das?

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Alex: Mit der Lunge funktioniert es schon mal hervorragend. Ich schicke Reval ein Dankschreiben. Lia: Weil du dir die Lunge versaust? Alex: Weil ich dich kennen lerne. Lia: Warum starrst du mich so an? Alex: Du bist so schön. Lia: Das machst die Luft da drinnen. Hast du mich nie bemerkt? Alex: Natürlich habe ich dich bemerkt. Aber ich war sehr beschäftigt mit anderen Dingen. Lia: Ja. Mit Klauen. kurze Pause Alex: Das hast du mitbekommen? Lia: Sicher. Ich sehe es. Wie die Leute ihre Hände bewegen. Daran erkenne ich es. Ich weiß jeden Handgriff vorher, ich hab mich noch nie geirrt. Sehr geschickt stellst du dich auch nicht an. Dein Freund kann es besser. Er ist beinahe beeindruckend gut. Alex: Du hast uns nicht verraten. Lia: Was denkst du denn. Außerdem seid ihr nicht die einzigen. Manche machen es aus schlechter Laune. Ist auch eine Lösung. Andere finden es ist Mode oder Konsumkritik oder so was, sie marschieren mit riesigen Taschen hier an, in denen sie ein halbes Rind versenken können. Manche haben es nötig. Ich habe gesehen, dass ihr verjagt wurdet. Alex: schweigt Lia: Außerdem zeig ich nie jemanden an. Ist mir auch egal. Sind ja nicht meine Sachen. Was habt ihr jetzt vor? Alex: Keine Ahnung. Hast du eine Idee? Lia: Was machst du morgen Abend? Alex: Wir gehen eine Currywurst essen. Lia: Um acht? Alex: Hier. Alex: Wie überlebe ich denn jetzt bis dahin? Lia sieht ihn an Alex: Ich höre auf zu rauchen. Lia: Vielleicht brauchst du das Rauchen noch. Alex: Ich rauche weiter und betrinke mich und setze mir einen Schuss und überfalle eine Bank.

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Anne Habermehl: Küss mich hinter Karstadt

Lia: Besser. Es hätte ja sein können, dass du nicht mit mir reden willst. Oder dass du japanisch sprichst. Oder mir ins Gesicht spuckst. Alex: Darf ich dich jetzt kurz anfassen, dass ich weiß, dass das wirklich passiert? Lia: Bitte. Was hast du? Bist du verstummt? Alex: Im Gegenteil. Lia: Ich hab dich gesehen und es mir gut vorgestellt. Alex: Was? Lia: Sex. Lia geht Alex: Das sind Magneten, das sind keine Augen.

7 Vor dem Supermarkt. Max läuft davor auf und ab. Er trägt eine Krawatte. Der Kunde kommt. Kunde sieht Max an Max: Huch. Kunde: Was ist mit meinen Prepaid-Karten? Max: schweigt Kunde: Ich warte seit drei Tagen auf euch. Meine Karte ist leer. Ich brauche eine neue. Max: schreit Es gibt keine Prepaid-Karten mehr. Du musst direkt mit mir sprechen. kurze Pause Kunde: Von Gesicht zu Gesicht? Max: Von Gesicht zu… Wie man eben miteinander spricht, so als Mensch. Kunde: schweigt Max: Ich habe ein neues Angebot. Ich verkaufe jetzt Schicksale. Geschichten. Individuell. Auf dich zugeschnitten. Du gibst mir ein paar Anhaltspunkte aus deinem Leben, Daten, muss nicht intim sein. Und ich baue dir dann ein Schicksal zusammen, das dich von anderen Menschen abhebt. blättert Ist Algerien in Ordnung? Kunde: Von mir aus. 195

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Max: Algerien. Macht zehn Euro. Kunde: Was günstigeres gibt es nicht? Max: Lass mal sehen. Wir haben hier noch ein Einkaufszentrum, drei Euro. Kunde: Ich will was anderes. Was mit Liebe. Max: Liebe. Kein Problem. Zwanzig Euro. Kunde gibt Max Geld. Kunde: Glaubst du an Gott? Max: Nein. Kunde: Der spirituellste Moment der westlichen Welt war der, wo die Flugzeuge die Twin Tower trafen. Diese zwei Sekunden. Der Bolzen ins Sicherheitshirn. Das muss man sich mal vorstellen. Der einzige Moment, wo jeder weiß, was er gerade gemacht hat, wo er war und warum. Als die ganzen Leute aus den Fenstern gesprungen sind. Ich saß in einer Peep Show und habe mir einen runter geholt. Das muss man sich mal vorstellen. Wann hat die Welt so was schon, so einen grauenvoll religiösen Moment, und ich wichse. Willst du mein Sohn sein? Max: Was? Kunde: Willst. Du. Mein. Sohn. Sein. Max: Macht dich das an? Kunde schlägt Max ins Gesicht und will gehen. Max: Nein. Bleib. Bitte, bleib. Ich habe es nicht so gemeint. Kunde kommt zurück. Kunde: Du bist mir sympathisch. Ganz einfach. Außerdem würde ich dir gerne helfen. kurze Pause Max: Ich glaube nicht, dass ich ein guter Sohn bin. Kunde: Wir fangen ganz klein an. Mit Fahrrad reparieren und Glühbirnen austauschen oder so was. Wenn es dir recht ist. Max: Glühbirnen kann ich auch allein austauschen. Kunde: Aber nicht gegen Bezahlung. kurze Pause Ich habe euch beobachtet. Auf dem Dach. Du hast doch nichts mehr. 196

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Anne Habermehl: Küss mich hinter Karstadt

kurze Pause Max: Familie hat aber einen Sonderpreis. Musst du verstehen. Kunde: Wie viel? Max: Nun. Tagesbasis 100 Euro. Kunde: Gut. Max: Plus fünfzig Euro Spesen. Kunde: Für was denn Spesen? Max: Fürs Üben. Den Sohn. Kunde: In Ordnung. Max: In Ordnung.

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kathrin röggla: theater ist stottern

theater ist stottern kathrin röggla

theater ist präsenz, wird gesagt, ein theaterabend sei ein gemeinsames erleben eines sich vollziehenden vorgangs auf der bühne. doch was heißt schon gemeinsam? jeder weiß, wir sitzen nicht wirklich in einem raum, wir tun nur so. das können wir mittlerweile ganz gut, dennoch ist klar, es ist nicht wahr. es mag eine gewisse übereinstimmung geben, d.h. dass wir alle zur selben zeit auf den sesseln sitzen, eine art optischer zusammenhalt, doch in gedanken sind wir immer wieder woanders, unsere aufmerksamkeit wird in unterschiedliche richtungen fortgetrieben. auf der bühne verfolgen wir ein geschehen, das mit sich so gleichzeitig ist, wie wir es niemals sein können. ein geschehen, getragen durch figuren, die mit sich so identisch sind, dass sie uns darin nur permanent überholen, dass sie immer schon weiter sind, immer schon in ihrer identitätsidylle sitzen, die uns nicht zur verfügung steht. vielleicht hören wir sie auch sprechen? ja, sie sagen was. nur was? flüstern sie etwa, weswegen wir uns so vorbeugen, so genau hinhören? nein, sie schreien. sie schreien oft, wie wir das äußerst selten tun. man sagt, sie machen es für uns, stellvertretend, kathartisch – oder sie sprechen in einer weise miteinander, wie wir das nicht kennen: verständlich, mit ordentlichen sätzen und korrekter grammatik, die syntax sitzt. die unterhaltung nimmt nur eine richtung ein. – ich solle nicht so tun, wird man sagen, das ist doch klar, mit authentizität hat das ganze nichts zu tun, wir wohnen einem übersetzungsvorgang bei, wir erleben ein medium! – ja schön und gut, unterbreche ich da, aber was für eine übersetzung ist das denn bitteschön? ich meine, was wird denn da übersetzt und wohin geht die reise? – aber so allgemein kann man das doch nicht sagen, wird man mir 199

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entgegen halten, und überhaupt: ich solle nicht so tun, als hätte es im theater keine aufbruchstendenzen gegeben, seit 40 jahren gebe es aufbruchstendenzen, was heißt 40, seit über 100 jahren aufbruchstendenzen, da tut sich ja ständig was – schön und gut, werde ich erneut antworten, es gibt sie, die geglückten inszenierungen! inszenierungen wie beispielsweise The three athmospheric studies der william forsyth company, die sich genau dieser problematik der räumlichen repräsentation, der frage des ereignishaften, der zeugenschaft und der erzählung gewidmet hat. doch nicht umsonst heißt es danach: ein glücksfall – ein glücksfall, aus dem man noch lange schöpfen wird müssen, denn wie selten kommt er vor? eben gerade oft genug, dass man dranbleibt. dranbleibt, dem rechnung zu tragen, dass wahrnehmungsverhältnisse problematische sind, dass auf der bühne nicht alles platz hat, also, dass ereignisse nicht mehr ganz auf eine bühne passen, sondern immer drüber herausragen und auch in andere mediale verhältnisse verstrickt sind. dass man, wenn man beispielsweise an der frage nach der macht interessiert ist, nach struktureller gewalt, nach den entscheidungen, die über uns verhängt werden oder schon in uns wohnen, dass man ganz schön ausholen muss. dass man das nicht in einer einfachen erzählung, nicht in einer repräsentativen schau eines königsdramas mehr unterbringen wird können. schön und gut, werden sie sagen, aber wie sieht in dieser frage die lage der theatertexte aus? muss sich die dramatik ans antitheater halten, an die berühmten textflächen, die immer dann beschworen werden, wenn man kein erzähltheater vorfindet? müssen die autoren den bühnenraum wirklich zuerst zerknüllen, dann zusammenfalten und ad acta legen? und müssen auf der anderen seite regisseure deswegen die texte in den hintergrund drücken, sie übertünchen mit aktionsplunder, regieeinfällen, die man schon aus den frühen bernhard-inszenierungen von peymann aus den 70ern kennt? – ja, wie können diese texte aussehen? hat da jemand eine idee? irgendwelche vorschläge? es sind natürlich die schauspieler, die lieblingsschauspieler, die wieder einmal die entscheidenden hinweise geben: du musst fehler machen, sagen sie – richtigmachen, das kann man auch woanders, das muss man ja sonst sowieso immer. ja, überlegen die lieblingsschauspieler, du musst also erstmal eine fehlerbereitschaft in dir erzeugen, und nicht nur in dir, fügen sie hinzu. wie du weißt, können die meisten schauspieler nicht bewusst falsch denken, sie können nur unfreiwillig falsch denken, was sie so eingeschränkt macht, da musst du schon was bieten 200

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kathrin röggla: theater ist stottern

– schön und gut, unterbreche ich, aber das können doch keine beliebigen fehler sein, keine willkürlichen, diese fehler müssen doch einen kontext haben. einen richtigen ort, sie müssen sitzen… – ja, erwidern sie, und genau das ist deine arbeit. darum geht es ja. theater als die kunst zu begreifen, fehler richtig zu machen… – und was noch? – du musst leerstellen schaffen, fahren sie fort, leerstellen. wenn ein text alles erklärt, haben wir als schauspieler nichts mehr zu tun. ausserdem: wie langweilig! aber auch diese leerstellen müssen einen kontext haben, sie können nicht aus dem nichts kommen, sondern müssen räumlich strukturiert sein. und, wehren sie meine reaktion ab, du musst stottern zulassen, inhaltliches stottern, formales stottern. aber vor allem dürfen die fehler, die leerstellen und das stottern nicht zu einer neuen idylle des angeblich menschlichen führen, sozusagen des eskapismus ins menschliche knie, zum fehlerkitsch, sondern verbindung halten, gespannt bleiben, sie müssen ein system ergeben, das zwingend ist und eine verbindung nach draußen erhält. und es dürfen nicht alleine menschliche fehler, nicht nur menschliches stottern und menschliche leerstellen sein, verstehst du? ja, greife ich das auf, deswegen interessiere ich mich beispielsweise auch so für authentische effekte, die uns in ein spontanes jetzt führen, eines, das uns überrascht und nicht eines, das schon vorbereitet ist. eines, das uns auch wieder sitzen lassen kann, das nicht behauptet, ein abbild der wirklichkeit zu sein und zu eins-zu-eins-schieflagen aufbricht. also kein ölschinken der sozialen realität, kein illusionismus, sondern eines, das seine inszenierung bekanntgibt. deswegen wünsche ich mir ein theater, das mit authenzität spielt und ihr mit höchster künstlichkeit begegnet, wie es beispielsweise das puppentheater tun kann, ein theater, das seinen rahmen mitdenkt. seine medialität reflektiert, seinen ort als mögliche mediale schnittstelle begreift. und ein theater, das ein sprechen zulässt, welches sich nicht gleich ausradiert, das einen sprachkörper sichtbar werden lässt, der über die figuren hinausgeht. ein theater, das nicht so tut, als ob die sprache einzig dazu da ist, in figuren zu versickern, sondern sprache in ihrem zusammenhang versteht. ja, kein spracheskapismus mehr auf dem hintergrund des spektakels, des aktionismus! ich wünsche mir ein theater, das nicht im spektakulärem bild hängenbleibt, sondern in bewegung ist, das die präsenzmaschine, die es reitet, mit nichtpräsenzen, abwesenheiten, sich entziehendem gleichermaßen füllt.

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Regie: Jürgen Gosch, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz (v.l.n.r.: Devid Striesow, Jan Peter Kampwirth, Ernst Stötzner)

Abbildung 3: William Shakespeare: Macbeth (Schauspielhaus Düsseldorf 2005)

Medien-Sprünge und »Schreibspuren«

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Jens Roselt: Intermediale Transformationen

Intermediale Transformationen zwischen Text und Bühne Jens Roselt

Auf den Spielplänen deutscher Theater tauchen in den letzten Jahren verstärkt die Titel von Romanen und Kinofilmen auf. War es bis dato allenfalls beim Weihnachtsmärchen im Stadttheater üblich, aus einem Prosatext eine dramatische Vorlage zu machen, werden nun allenthalben Roman- und Filmhelden auf die Bühne gezerrt. Während es für Zuschauer und Kritiker selbstverständlich zu sein scheint, dass das Kino nicht nur Romane, sondern auch Theaterstoffe adaptiert, setzt die umgekehrte Transformation von der Leinwand auf die Bühne einen deutlichen Rechtfertigungszwang frei. Allerdings kann man gegenwärtig im Theater eine Vielzahl medialer Grenzübertritte beobachten: Intendanten legen Kinoregisseuren ihre Theater zu Füßen oder Theaterregisseure versuchen, Filmstoffe und Drehbücher zu inszenieren. Doch nicht nur Personen und Stoffe werden vertauscht, sondern auch Arbeitsweisen und Inszenierungsmittel. Serielle Fernsehformate werden für die Bühne übernommen und neue Medien technischer Reproduktion (Video) bei der Inszenierung klassischer Stücke eingesetzt. Das Aufgreifen und Umformen von Stoffen, die Aneignung, das Zitieren und Klauen ist nicht nur ein literarischer Usus, sondern auch eine kulturelle Praxis, die gerade dann ins Gewicht fällt, wenn sie sich in den Grenzbereichen unterschiedlicher Medien vollzieht. Es handelt sich um mediale Transformationen, bei denen der Eindruck entsteht, dass immer dann, wenn unterschiedliche Medien miteinander konfrontiert, kurzgeschlossen oder vermischt werden, die Frage nach den spezifischen Eigenarten des einzelnen Mediums besonders virulent wird. In diesen Krisenzeiten, in denen also fraglich wird, was beispielsweise das Theater ›eigentlich‹ auszeichnet, haben Apokalyptiker, die angesichts eines Monitors auf der Bühne das Ende des Theaters oder beim Einsatz von Mikroports den Ausverkauf der Schauspielkunst voraussehen, gute Chancen, gehört zu wer-

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Medien-Sprünge und »Schreibspuren«

den. Die Übernahme von Stoffen und Figuren ist allerdings eine mediale Transformation, für die sich weder Shakespeare noch Goethe zu fein waren. Im Grunde markiert eine mediale Transformation sogar die Geburt des europäischen Theaters in der griechischen Tragödie. Denn was Aischylos oder Sophokles gemacht haben, war ja nicht nur die Übernahme von bekannten Stoffen, Figuren und Motiven des Epos (also der Ilias oder der Odyssee), sondern zugleich eine mediale Transformation aus der epischen Form in eine neue Darstellungsweise, die so überhaupt erst kreiert wurde. Im Folgenden sollen am Beispiel von Frank Castorfs Inszenierung Erniedrigte und Beleidigte (nach Dostojewski) die Verfahren und Möglichkeiten der medialen Transformation im Theater dargestellt werden.

Die Fünfte Wand Erniedrigte und Beleidigte (2001) ist die zweite Dostojewski-Arbeit von Castorf. Bereits 1999 war Dämonen herausgekommen und inzwischen sind mit Der Idiot (2002) und Schuld und Sühne (2005) zwei weitere Inszenierungen gefolgt. Bei der Beschreibung einiger Aspekte der Inszenierung soll vom Raum als entscheidendem Faktor für die Medialität der Inszenierung ausgegangen werden. Die Raumgestaltungen der unterschiedlichen Dostojewski–Inszenierungen variieren, weisen aber einen deutlichen Bezug zueinander auf. Die Raumkonzeption der Inszenierungen lässt sich auf die Grundidee des geschlossenen Hauses zurückführen. Mit diesem Raumkonzept hat der Bühnenbildner Bert Neumann eine für das europäische Theater seit Mitte des 18. Jahrhunderts zentrale Normierung aufgegriffen und zugleich auf die Spitze getrieben. Gemeint ist Denis Diderots Forderung der Vierten Wand, die Neumann sozusagen beim Wort nimmt und auf die Bühne Gebäude stellt, die tatsächlich vier Wände haben und damit den Zuschauern nur eingeschränkte oder vermittelte Einblicke erlauben. Zur Erinnerung: Diderot formulierte seine Idee der Vierten Wand 1758 in dem Text Von der dramatischen Kunst als Beitrag zu seinem Drama Le Père de famille. In schlichten drei Sätzen des Kapitels »Vom Interesse« wird dort ein Paradigma formuliert, das bis in die Gegenwart hinein im Theater Anwendung finden kann. Dort heißt es: »Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen an den Zuschauer ebenso wenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußeren

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Jens Roselt: Intermediale Transformationen

Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde«1.

Neumanns Vorschlag radikalisiert Diderot in Hinblick auf den Raum. Seine Vierte Wand steht nicht auf der Rampe, sondern auf der Bühne. Die Zuschauer beobachten nicht nur, was im Haus geschieht, sondern sie sehen auch permanent Figuren, die vor dem Haus stehen und ihrerseits versuchen, Einblicke zu erhalten. Dies ist ein generelles Stilmerkmal von Castorfs Inszenierungen: Man sieht selten eine Figur alleine auf der Bühne, selbst bei Monologen gibt es irgendwo auf der Bühne noch eine zweite Figur, die direkt, indem sie zuhört, oder indirekt, indem sie scheinbar teilnahmslos etwas anderes macht, einen Bezug zum Sprecher herstellt. Das Haus der Erniedrigten und Beleidigten enthält drei Räume: Eine ärmlich eingerichtete Schlafstube mit einem Herd, einer Tür und einem Fenster, das zu Beginn jedoch mit Zeitungspapier zugeklebt ist. Auf der anderen Seite erkennt man einen vornehm eingerichteten Salon mit Sofas und einem Keyboard. Er verfügt über eine Tür nach außen, ein Fenster und eine großzügige Terrassenglasfront. Zwischen diesen beiden Räumen gibt es eine Kammer, die fensterlos ist, in der sich eine Art Garderobe oder Abstellkammer befindet. Auf dem Dach des Bungalows steht eine ca. drei Mal vier Meter große Leinwand. Im vornehmen Salon sind an der Decke feste Überwachungskameras installiert. Die Übertragung aus dem ärmlichen Quartier wird durch eine Handkamera gewährleistet. Wer diese führt, bleibt während der gesamten Vorstellung unklar, erst beim Applaus verbeugt sich ein Kameramann. Da das Konzept des geschlossenen Hauses vorhin auf Diderots Vierte Wand bezogen wurde, kann man die Leinwand nun als Fünfte Wand bezeichnen. Wo die Vierte Wand den dreidimensionalen Wohnraum abschließt, reißt die Fünfte Wand ihn wieder auf. Sie steht damit quer zur dreidimensionalen Raumlogik der Bühne. Dieser Raum bringt beträchtliche Konsequenzen für die Ästhetik der Inszenierung und vor allem die Wahrnehmung der Zuschauer mit sich. Dabei führt der allgegenwärtige Einsatz neuer Medien nicht zu einer Reizüberflutung, sondern eher zu einer sinnlichen Anämie. Die Blicke der Zuschauer bleiben nicht selten unerfüllt. Ihr Appetit auf Menschenfleisch, auf eine Art visuelle Einverleibung der Schauspieler, wird nicht gestillt und durch die Videoübertragung aus dem Innern wohl eher noch gesteigert. Für die Wahrnehmung der Zuschauer kann nicht alles transparent werden. Der Blick der Zuschauer richtet sich gerade auf jenes, was sich ihm entzieht, nämlich auf die Schauspieler. Und umgekehrt kann man sagen, dass 1. Denis Diderot: »Ästhetische Schriften«, erster Band, in: ders. hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt a.M. 1968, S. 284.

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Medien-Sprünge und »Schreibspuren«

sich hier etwas zeigt, indem es sich entzieht. Die Schauspieler verschwinden in einem verschlossenen, verbarrikadierten Haus. Je näher ihnen die Videokamera auf die Pelle bzw. die Poren rückt, desto nachhaltiger ziehen sie sich zurück. Während die Figuren erzählend viel über sich preisgeben, verhüllen sie sich gleichzeitig vor dem Zuschauer. Sie verschwinden in der containerartigen Behausung wie Hamster in den kleinen mit Stroh gefüllten Plastikhäusern in ihren Käfigen. Es ist ein zentrales Motiv der Inszenierung, dass sie das Spannungsverhältnis von sehen und gesehen werden, von sich zeigen und sich verbergen, von penetrantem Durchschauen und diffuser Undurchsichtigkeit auf unterschiedlichen Ebenen bearbeitet. Mit einer Unterscheidung des amerikanischen Psychoanalytikers Léon Wurmser2 kann man von zwei Grundimpulsen kulturellen Handelns sprechen: Theatophilie und Delophilie. Theatophilie ist das Verlangen zu beobachten, zu schauen und zu bewundern oder durch intensives Schauen das Beobachtete zu beherrschen, sich mit ihm zu vereinigen. Delophilie dagegen benennt die Zeigelust, den Wunsch, sich auszudrücken, sich vor anderen zu inszenieren und so zu beeindrucken. Erniedrigte und Beleidigte produziert permanent Situationen, in denen das Verhältnis von Delophilie und Theotophilie aus dem Gleichgewicht gerät. Aus der Perspektive eines Zuschauers könnte man das als Wahrnehmungsaffront bezeichnen.

Medialität im Theater Von dieser Inszenierungspraxis ausgehend kann das Verständnis von Medialität im Theater reformuliert werden: Theater wird nicht dadurch zu einem medialen Raum, dass man die Bühne mit Bildschirmen spickt oder mit Videoprojektionen zukleistert, sondern indem im Theater explizit dieses Verhältnis von Sehen und Gesehenwerden verhandelt wird. Medialität wäre also die Art und Weise, wie durch den Raum Wahrnehmungsordnungen geschaffen werden. Insofern ist die Theatergeschichte auch eine Mediengeschichte, schon bevor die Kamera erfunden wurde. So kann beispielsweise der Chor der antiken Tragödie ebenso als mediales Phänomen gelten wie die Narrenfigur im Mittelalter oder die allgegenwärtigen Rampensäue auf den Opernbühnen. Hierbei handelt es sich deshalb um mediale Phänomene, weil sie auf der Schwelle von Bühne und Publikum operieren, sie setzen und bedienen Wahrnehmungskonventionen und können diese gleichzeitig in Frage stellen und erweitern. Und in diesem Zusam2. Vgl. Léon Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin, Heidelberg 1997, S. 258.

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menhang spielen auch neue Medien technischer Reproduktion ihre Rolle. Medialität ereignet sich gewissermaßen im Grenzgebiet von Bühne und Publikum, von Zuschauern und Schauspielern. In diesem Sinne ist das Zuschauen und Zuhören im Theater eine Art mediale Grenzerfahrung. Solch ein Grenzgang kann in Castorf-Inszenierungen eine zwiespältige Sache sein. Denn in der Tat wird einem durchaus etwas geboten, d.h. die theatophilen Neigungen der Zuschauer werden bedient. Knalleffekte, erotische Körper, komische Einlagen, all dies kann die Aufführungen zu kurzweiligen Veranstaltungen machen. Doch gleichzeitig wird der Anspruch auf sinnliche Attraktion in vielfältiger Weise gebrochen, etwa durch die zuweilen lähmende Langatmigkeit der Aufführungen, durch Überdehnungen und ›scheinbar‹ überflüssige Wiederholungen. Die Inszenierung eines Textes, eines Romans sowieso, ist eine mediale Transformation, die nicht lediglich wiedergibt und vermittelt, sondern dabei auch eingreift, verändert und herstellt. Solche Eingriffe führt Castorf auf unterschiedlichen Ebenen vor. Das ästhetische Prinzip ist das Aufbrechen von Einheiten und von Linearität zugunsten von diskontinuierlichen Augenblicken und Überblendungen. Das gilt für den Ort, die Zeit, die Handlung und die dramatischen Figuren. Der Raum von Erniedrigte und Beleidigte wäre nur ungenügend beschrieben, wenn man lediglich feststellt, dass auf der Bühne ein abgeschlossenes Zimmer und eine Leinwand sind. Vielmehr müssen die vielfältigen Beziehungen zwischen Schauspieler und Kamera bzw. Publikum und Leinwand, also die Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse einbezogen werden. Die Blicke der Zuschauer zappen gewissermaßen hin und her, und diese Bewegungen, die tatsächlich von der Pupille gemacht werden, tragen zur Konstitution des Raums bei. Wie gehen die Schauspieler selbst mit der Kamera bzw. dem Video um? Es gibt Szenen, in denen die Schauspieler die Kameras irritiert zur Kenntnis nehmen, aber auch solche, in denen sie sich ausdrücklich an das Objektiv richten, etwa wenn die Hauptfigur Wanja bei einem verzweifelten Monolog sein Gesicht so nah heranrückt, dass die Linse beschlägt. Zu dieser Art Nahaufnahme kommt es auch immer wieder an den Fenstern des Hauses. Diese sind mit Jalousie bzw. Vorhang zu verschließen und immer wieder machen Figuren davon Gebrauch, um sich so der Beobachtung anderer zu entziehen. Auch wenn die Vorhänge geöffnet sind, erscheinen immer wieder Figuren am Fenster, um sich zu zeigen. Manchmal verlassen sie sogar unvermittelt Gespräche, die vor dem Haus stattgefunden haben, rennen hinein, um sich von den anderen durch das Fenster fixieren zu lassen. Hierbei fällt auf, dass diesen Blicken immer auch eine körperliche Dimension gegeben wird. Die Figuren schauen nicht nur aus dem Fenster, sondern drücken ihre Hände an die Scheiben. Im209

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mer wieder sucht die Inszenierung diese haptische Dimension. Häufig quetschen einzelne Figuren auch ihre Gesichter von innen gegen die Scheibe, so dass die Deformierungen außen sichtbar werden. Dieser naive Versuch, das dreidimensionale Gesicht in eine zweidimensionale Oberfläche zu drücken, mutet an wie eine Art prähistorisches Interface. Räume sind nicht nur ein visuelles Phänomen, sondern auch ein akustisches. Nähe und Ferne oder Weite und Größe können auch über den Hörsinn vermittelt werden. Dies macht die Syntheseleistung von Zuschauern um einiges komplexer, denn akustischer und visueller Raum sind nicht notwendig komplementär. Im zeitgenössischen Theater ist es inzwischen üblich, Stimmen durch Mikrophone zu verstärken, meistens wird dabei eine Art akustische Intimität hergestellt als seien einem die Figuren ganz nah. In Castorfs Dostojewski-Inszenierungen ist das anders. Der Ton der Gespräche aus dem geschlossenen Haus wird durch Lautsprecher in den Saal übertragen, wobei der Klang durch eine gewisse Dumpfheit und leichten Hall auf die Übertragungsbedingungen hinweist. Man versteht dadurch zwar, was die Figuren sagen, bekommt aber nicht den Eindruck, dass man gewissermaßen akustisch mit im Raum ist. Die Materialität der Übertragung wird nicht medial kaschiert, sondern eine Art Reibungsverlust erfahrbar. Es gibt eine Szene, die auch mit diesem Übergang von technischer Übertragung und leibhaftiger Anwesenheit spielt. Die Figur Aljoscha (Milan Peschel) ist ein wankelmütiger Jüngling, der zwischen zwei Frauen hin- und herwechselt. Die eine ist Natascha, mit der er schon einige Zeit liiert ist und mit der er beinahe durchgebrannt wäre, wenn nicht seine Charakterlosigkeit und Unzuverlässigkeit ihn davon abgehalten hätten. Als potenzielle Braut hat Natascha zwei Nachteile: Sie ist arm und ihr Vater befindet sich in einem erbittert geführten juristischen Prozess mit Aljoschas Vater. Die Verbindung zwischen Aljoscha und Natascha ist deshalb nicht opportun, sein Vater, der Fürst (Henry Hübchen), hat darum eine Alternative aufgetrieben und bringt eine andere Kandidatin ins Spiel. Die heißt Katja (Irina Potapenko) und ist hübsch und vor allem reich. Das Erscheinen Katjas im Spiel und leibhaftig auf der Bühne wird sukzessive vorbereitet. Zunächst ist von ihr nur in den Äußerungen der übrigen Figuren die Rede, dann sieht man sie auf einer Leinwand als Videoübertragung und schließlich tritt die Darstellerin selbst auf, vor das Publikum zwischen die anderen Schauspieler. Zwei Aspekte verweisen darauf, dass es sich um keine professionelle Schauspielerin handelt, die die Rolle der Katja spielt. Man hört, dass sie keine ausgebildete Stimme hat, und ihr Körper dient nicht als virtuoses Ausdrucksinstrument, das innere psychische oder seelische Zustände transparent machen kann, sondern ist einfach da und hat eine unmittelbare Wirkung. Katja ist jung, schön und sexy. Im Moment, da 210

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sie vor das Haus und damit auch vor das Publikum tritt, geht im Zuschauerraum das Saallicht abrupt an. Damit geht auch eine Veränderung des Raumes einher. Die Zuschauer können sich und die Reaktion der anderen Zuschauer sehen bzw. erleben sich selbst als beobachtet. Der ganze Medienaufwand, der mit den Übertragungen aus dem Haus vorher getrieben wurde, rückt in den Hintergrund, und an seine Stelle tritt die schlichte aber wirkungsvolle Gegenüberstellung einer Darstellerin mit dem Publikum. In diesem Moment ist es besonders bedauerlich, dass man nicht in die Köpfe der Zuschauer sehen kann. Aber man kann beobachten, wie sie sich bewegen. Man vermutet, dass sie nicht wissen, wo sie hingucken sollen, weil sie ganz genau wissen, wo sie hingucken wollen. Immer wieder stecken Zuschauer die Köpfe zusammen oder tuscheln.

Kultur des Zuschauers Es war davon ausgegangen worden, dass sich Medialität im Theater grundsätzlich ereignet im Grenzgebiet von Bühne und Publikum. Monitore, Projektionen und andere akustische Effekte verwischen tradierte Grenzziehungen oder durchwühlen wie Maulwürfe das Terrain der Wahrnehmungskonventionen. Durch den Einsatz dieser Medien können einige Gewissheiten ins Wanken geraten oder zumindest auf die Probe gestellt werden. Was heißt Nähe und Intimität im Theater? Was affiziert den Blick der Zuschauer mehr: ein Körper auf der Bühne oder im Monitor oder beides? Was ist Original und was ist Kopie, wenn die Blicke der Zuschauer hinund herzappen müssen? So plump mancher Einfall in den Castorf-Inszenierungen sein mag, so subtil werden dadurch doch alltägliche Aufmerksamkeitsstrategien hinterfragt. Längst spricht man nicht nur in der Werbung von der Ökonomie der Aufmerksamkeit.3 Der Zuschauer gehört zur allseits gehätschelten Zielgruppe, der mit dem Finger auf der Fernbedienung auch die eigene Wichtigkeit gehoben sieht. Im Alltag kommt dem Anspruch des Zuschauers, alles zu durchschauen, die Aufmerksamkeitsökonomie, der mediale Vorgänge generell unterworfen sind, entgegen. Der Sinn der Medien besteht vielleicht gerade darin, diesen Anspruch, den sie selbst stiften, zu befriedigen. Je problemloser, selbstverständlicher und unauffälliger sie ihre eigene Rolle dabei spielen, desto produktiver sind sie. Es darf gewissermaßen keine Reibungsverluste geben. Man kann wohl davon ausgehen, dass es auch zum Selbstverständnis vieler Theaterzuschauer gehört, dass sie das auf der Bühne Dargebotene durchschauen. Durchschauen kann sowohl wörtlich verstanden werden, 3. Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit, München 1998.

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also im Sinne des Anspruchs alles zu sehen, was es zu sehen gibt, und auch im übertragenen Sinne: Durchschauen als Verstehen, Kapieren, Interpretieren. Dazu gehört eben auch die Unterstellung, dass sich auf der Bühne etwas zeigt, das gesehen werden will bzw. dass etwas erzählt wird, was verstanden werden will. Dieser Anspruch ist politischer Natur, weil er eine durch Überlegenheit und Kontrolle gewährleistete absolute Haltung des Zuschauers einklagt. Theater ist insofern ein perfekter Überwachungsstaat. Nichts darf hier passieren, was Zuschauer nicht sehen oder verstehen können. Was dieser Weisung nicht entspricht, was nicht alle sehen oder durchschauen können, gilt schnell als überflüssig, sinnlos, verrückt oder gar gefährlich, da es sich der Normierung entzieht. In Castorfs Theater muss der Appetit der Zuschauer Diätphasen durchmachen. Die Selbstverständlichkeit medialer Vermittlung wird auf den Kopf gestellt. Seine Inszenierungen suchen die Reibungsverluste, die Lücken im Film, die Risse der Darstellung. Die Hybris der Zuschauer wird dadurch konterkariert. Seine Inszenierungen sind im wahrsten Sinne des Wortes Zumutungen, d.h. sie trauen dem Zuschauer mehr zu als das Konsumieren sinnlicher Attraktionen. Insofern ist der Einsatz neuer Medien auch ein Beitrag für eine Kultur des Zuschauens, die sich nicht als bloßer Bildkonsum verstehen lassen will. Der Wahrnehmungsaffront ist der Supergau des Fernsehens. Die Einblendung »Störung. Wir bitten um etwas Geduld«, treibt die Quote binnen Sekunden in den Keller. Im Theater kann dies ein ästhetisches Prinzip sein. Während uns Fernsehsender stündlich auffordern: »Bleiben sie dran, wir sind gleich wieder für sie da«, warten die beschriebenen Inszenierungen eher mit der Mitteilung auf: »Sie können ruhig dran bleiben, aber wir sind weg.« Wem das zu zynisch ist und wer diese Haltung gegenüber den eigenen Zuschauern für überheblich hält, dem sei eine Geste beschrieben, die so oder in Variationen in vielen Castorf-Inszenierungen den Schluss der Aufführungen markiert. Am Ende von Erniedrigte und Beleidigte stellen sich die Schauspieler dem Publikum. Sie stehen in einer Reihe nebeneinander mit dem Rücken zum Publikum, die Hände an die Wand gelehnt, die Beine breit, als handelte es sich um eine polizeiliche Festnahme, als würden die penetranten Blicke der Zuschauer die Schauspieler ein letztes Mal durchsuchen. Schließlich drehen sich die Schauspieler um, wenden ihre Gesichter dem Saal zu und winken ins Publikum. Mit dieser versöhnlichen Geste in einem unvermittelten Tableau macht Castorf das, was ihm am schwersten fällt: zum Schluss kommen.

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Jens Roselt: Intermediale Transformationen

Literatur Diderot, Denis: Ästhetische Schriften, erster Band, hg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt a.M. 1968. Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit, München 1998. Wurmser, Léon: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin, Heidelberg 1997.

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Heiner Gobbels: Schreibspuren: Schwarz auf Weiß

Schreibspuren: Schwarz auf Weiß Heiner Gobbels

»Beethoven war so taub, der dachte die ganze Zeit, er malt« (Harald Schmidt)

Bei dem rumänischen Schriftsteller Cioran finden wir den Eintrag: »Allem, was mich aufwühlt, hätte ich Ausdruck geben können, wenn mir die Schmach, kein Musiker zu sein, erspart geblieben wäre.«1 Auch wenn ich mir dessen bisher nicht bewusst war und es vermutlich auch weniger drastisch formuliert hätte: Es muß bei mir fast umgekehrt sein. Zu deutlich sind die Schreibfiguren von Schriftstellern in meiner Arbeit präsent, mache ich ihnen immer wieder in meiner Arbeit Platz. So ist eine meiner ersten Ensemble-Kompositionen La Jalousie mit »Geräuschen aus einem Roman« untertitelt. Das Stück beginnt und endet mit dem Geräusch eines Papiers, vielleicht dem Auffalten eines Briefes, und ist dem gleichnamigen nouveau roman von Alain Robbe-Grillet gewidmet. Mein bisher letztes Musiktheaterstück wurde im Herbst 2000 uraufgeführt: Hashirigaki. Das ist japanisch und heißt soviel wie »flüchtig notieren«, »im Laufen aufschreiben«. Von Chikamatsu, dem Shakespeare Japans, ist überliefert, dass er von einem Gelage kommend den Auftrag erhielt, noch schnell ein Stück zu einem Doppelmord zu schreiben, der sich gerade dort ereignet hatte, und er begann gleich auf dem Heimweg, in seiner Sänfte, zu schreiben: Das Drama beginnt mit einem Reise-Rezitativ, dessen erstes Wort »Hashirigaki« ist. Das heißt, der Vorgang der Entstehung dieses Textes hält Einzug in das Drama selbst. Die Texte zu meinem Hashirigaki genannten Abend kommen allerdings nicht aus Japan, sondern sind von Gertrude Stein, die – wie kaum ein anderer Autor – den Leser beim Prozeß des Schreibens, Beobachtens und Denkens teilhaben lässt und damit eben diesen Prozeß selbst immer 1. Emile Michel Cioran: Syllogismen der Bitterkeit, Frankfurt a.M. 1995.

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Medien-Sprünge und »Schreibspuren«

wieder zum Thema macht. Dies trifft insbesondere auf das Jahrhundertwerk The Making Of Americans zu, das zwar mit seinen knapp 1000 Seiten repetitiver Prosa als nahezu unlesbar gilt, aber in dem immer wieder so wunderbare Passagen wie diese zu finden sind: There are very many people being living. Certainly very many come together to see something, to do something, to hear something, to see some see something, to see some hear something, to see some do something, to hear some see something, to hear some do something, to hear some hear something […].2

In meiner Musiktheater-Arbeit, die den eindeutigen Titel Schwarz auf Weiß trägt – ich verstehe bis heute nicht, warum mir in ungezählten Interviews ständig dieselbe Frage gestellt wurde – gibt es allein drei Teile, die »Writings« genannt werden (»Writings I«, »Writings II« und »Writings III«). Hier wie in anderen, älteren Stücken taucht immer wieder, deutlich vernehmbar, das zunächst reine, später verfremdete Geräusch eines auf Papier schreibenden Stifts auf – mal live, mal vom Sampler wieder eingespielt, mal per Zuspielung von einer CD. In dem ein Jahr zuvor entstandenen Theaterstück Die Wiederholung nach Texten und Motiven von Sören Kierkegaard, Alain Robbe-Grillet und Prince erblickt man in den ersten fünfzehn Minuten. »[…] zuerst jemand von hinten, der an seinem Schreibtisch mitten auf der hell beleuchteten Bühne sitzt […]. Man sieht auch die Hände nicht, obgleich die Haltung der Person deren Lage erahnen lässt: die Linke liegt flach auf den verstreuten Blättern, die andere hält einen Federhalter, der für einen Moment des Nachdenkens über den unterbrochenen Text gehoben ist. Auf beiden Seiten liegen unordentlich aufgestapelte dicke Bücher.«3

Das alles mag den Eindruck erwecken, in meinen Stücken säßen meistens einsame Menschen an Schreibtischen und illustrierten damit meine eigene Arbeitsweise. Beides ist falsch. Die Stücke beginnen zwar manchmal so, die Arbeitsweise ist mir allerdings aufs Exotischste fremd. Statt Notenpapier und gut gespitztem Stift bewege ich mich eher zwischen Computern, Keybord, Telefon, Disketten, Festplatten, CDs und dicken Büchern. Es scheint also eher die eigene Erfahrung zu dem dichterischen Idyll zu sein, die mich anregt. Und vielleicht ist es bei vielen Schriftstellern auch nicht mehr so, wie es einmal war: Gertrude Stein definiert, »für das Theater schreiben heißt, 2. Gertrude Stein: The Making of Americans, Paris 1925. 3. Alain Robbe-Grillet, Die Szene, in: Momentaufnahmen, München 1963.

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dass alles, was beim Prozeß des Schreibens vorgeht, zum Text gehört. Wenn man Prosa schreibt, muß man sitzen und schreiben, aber Drama kann man nicht im Sitzen schreiben. Es ist mehr Körpersprache als Prosa.«4 Und Alexander Kluge berichtet wiederum über Heiner Müller: »Er ist ein Motoriker. Er ist jemand, bei dem der Körper mitarbeitet, wenn er schreibt. Er steht an einem Arbeitspult. Er hämmert auf seine Maschine aus Eisen, eine sehr laute Maschine. Und so entstehen – motorisch – seine Texte.«5 Diese Motorik ist nicht nur für Texte, sondern mindestens ebenso für Musik unabdingliche Voraussetzung ihrer Körperlichkeit und genau der Grund, warum ich – statt unbeweglich vor Notenblättern zu sitzen – dem Komponieren im direkten Umgang mit Klängen und Instrumenten den Vorzug gebe. Die akustischen und optischen Referenzen an das Schreiben in meiner Arbeit verweisen lediglich auf das, was mir ohnehin längst zu einer strukturellen Methode geworden ist: Oft entwickle ich die musikalische Form nicht aus primär kompositorischen Überlegungen, sondern die kompositorische Anregung kommt vielmehr aus der Struktur, der Architektur der Texte. Die Musik kann strukturelle Impulse aus anderen Künsten dringend brauchen, wenn man aus dem selbstverliebten Kreislauf ausbrechen will, immer Musik über Musik zu machen, mit der hochgradig hermetischen Syntax serieller musikalischer Systeme – bis es nur noch die Musikmacher hören. In meinen Hörstücken, die vielfach nach Texten von Heiner Müller gebaut sind, versuche ich nicht viel anderes, als die sprachlich-syntaktische Struktur – manchmal im Wortsinn: die Interpunktion – hörbar und damit für den Hörer transparent zu machen. Daß dieses Verfahren bei Texten Heiner Müllers besonders ergiebig ist, hat viele Gründe, auf die ich an anderer Stelle noch eingehen werde.6 Während ich meine Inspiration also häufig über die Rezeption von Texten bekomme, ist es schon auffällig – und kann einen Komponisten neidisch machen –, wie sehr Schriftsteller sich mit sich selbst und ihrem Schreiben beschäftigen können. Vor allem mit der Angst vor der leeren, weißen Seite. (Selbst der designierte Künstlerische Leiter und Chefdirigent 4. Zit. nach Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt a.M. 1986, S. 101. 5. Alexander Kluge: »Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind«, in: Kalkfell, Theater der Zeit, Berlin 1996. 6. Vgl. z.B. Heiner Goebbels: »Heiner Müller vertonen?«, in: Wolfgang Sandner (Hg.), Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 57-58 und »Text als Landschaft: Librettoqualität, auch wenn nicht gesungen wird« in ebd., S. 64-70. Anmerkung von Stefan Tigges.

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der Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle konnte mich nicht trösten, als er meine Furcht vor einem Kompositionsauftrag mit der Bemerkung quittierte, bei den Komponisten seien die Blätter ja gar nicht so weiß, die hätten ja zumindest noch die fünf Linien). Bei Edgar Allan Poe zum Beispiel begegnet man dieser Angst in der schrecklichen Vision am Ende seiner Erzählung über Arthur Gordon Pym, einer übermenschlich großen Erscheinung mit einer Haut »weiß wie Schnee«, die dann bei Heiner Müller am Ende des Fahrstuhl-Monologs als Doppelgänger wieder auftaucht: der Andere, »mit meinem Gesicht aus Schnee«. Schon in Gedichten aus dem antiken Griechenland nehmen die Ameisen, schwarz wie Tinte, »allegorisch den Platz der Schriftzeichen«7 ein. Und doch ist diese Selbstbezüglichkeit immer noch in der Lage, Auskunft zu geben, weit über die individuellen Bedingungen künstlerischer Produktion hinaus. So etwa in Heiner Müllers Bildbeschreibung, wenn das Messer des Mörders »schreibt«, oder wenn er in der Metapher des »nachlässigen Malstifts« und der »schlecht ausgeführten Schraffur« die Schwierigkeiten einer verlässlichen Textaussage zur Sprache zu bringen versucht. Oder aber wenn am Ende der Text mit einer Formulierung vorgebliche Sicherheit sucht, in der es heißt: »ICH der Vogel, der mit der Schrift seines Schnabels dem Mörder den Weg in die Nacht zeigt.«8 Letztlich sind es aber nicht die für die Bühne geschriebenen, die dramatischen Texte, die meine Arbeit anregen, sondern eher eine dort eingeschobene Prosasequenz oder – noch häufiger – immer wieder Tagebücher, also doch die eher »im Sitzen geschriebenen« Texte eines Joseph Conrad, Francis Ponge, Elias Canetti, Franz Kafka, Georg Christoph Lichtenberg, Paul Valéry, Ludwig Wittgenstein oder Heinrich Schliemann. In meinem Hörstück Schliemanns Radio ist es auch immer wieder der zum Tagebuch ansetzende Stift des Protagonisten, aus dessen Feder schließlich – statt Tinte – eher Geräusche, Klänge, Musik zu fließen scheinen. Meist sind es also Textformen, für die gültig ist, was der französische Autor Maurice Blanchot angemerkt hat: »Das Tagebuch verwurzelt die Regung zu schreiben in der Zeit, in der Demütigkeit des datierten und durch sein Datum aufbewahrten Alltäglichen […] es wird unter dem Schutz des Ereignisses gesagt, es gehört den Umständen an, den Zwischenfällen, dem Verkehr der Welt, einer aktiven Gegenwart.«9

7. Diesen Hinweis verdanke ich dem Buch von Jesper Svenbro, Ameisenwege, Graz 2000. 8. Heiner Müller, Werke Bd. 2, Frankfurt a.M. 1999, S. 119. 9. Maurice Blanchot: Die wesentliche Einsamkeit, Berlin 1959.

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Damit ist ein wichtiger Impuls für meine Arbeit angesprochen: die Anwesenheit eines Anderen, des Außen, der Außenwelt, eine »aktive Gegenwart«. Das ist früher oft mit dem Begriff des »außermusikalischen Anlasses« beschrieben worden, den ich dringend für meine kompositorische Praxis brauche. Es kann Erfahrung und Geschichte sein, die in anderen Kunstformen wie der Literatur aufgehoben sind. Es kann ein thematischer Kontext sein, ein theatralischer, eine Anregung aus der bildenden Kunst, oder es können Klänge sein, die nicht dort entstehen, wo die Musiker zusammengekommen sind, um miteinander zu musizieren, sondern Klänge, die irgendwo außen aufgenommen und gespeichert wurden, auf einer Kassette, einem Band, einem Sampler. Es kann auch die akustische Anwesenheit einer Maschine sein – das ist beispielsweise in Schwarz Auf Weiß der Fall –, die mittels einer den Musikern äußerlichen und von ihnen unbeeinflussbaren Struktur oder Zeit signalisiert: Ihr alleine bestimmt nicht die Gesetze, nach denen gespielt wird. Vielleicht kann ich an zwei Beispielen aus der bildenden Kunst deutlicher machen, worum es mir dabei geht. Der abstrakte Maler Mark Rothko zum Beispiel begründet die großen Formate, die er gemalt hat, mit folgenden Argumenten: »I paint very large pictures. I realize that historically the function of painting large pictures is painting something very grandios and pompous. The reason I paint them, however – I think it applies to other painters I know – is precisely because I want to be very intimate and human. To paint a small picture is to place yourself outside your experience, to look upon an experience as a stereopticon view or with a reducing glass […]. However you paint the larger picture, you are in it. It isn´t something you command.«10

Und in den Photographien des Düsseldorfer Künstlers Andreas Gursky sind die abgebildeten Personen auf den Platz verwiesen, den sie gesellschaftlich haben: kleine Spaziergänger unter großen Autobahnbrücken, Menschen wie Ameisen auf einer Straßenkreuzung, einzelne Kunden in einem riesigen Supermarkt. Dieser immer scharfe Blick hat zwei Qualitäten: Zum einen entscheidet er nicht für den Betrachter zwischen Wichtigem und Unwichtigem, sondern er hält dessen Blick frei. Zum anderen bildet er die tatsächlichen Kräfteverhältnisse in einem realistischen Verhältnis ab, das die Subjekte nicht favorisiert – eine weitere Einladung an den Betrachter, sich mit diesen Relationen auseinanderzusetzen. Eine ausschließlich subjektiv strukturierte künstlerische Substanz, in 10. A Symposium on How to Combine Architecture, Painting and Sculpture, in: Interiors, Vol. CX, Nr. 10, Mai 1951, S. 104.

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der diese Positionen nicht freigehalten, sondern vom künstlerischen Subjekt expressiv besetzt sind, kann über die tatsächlichen Kräfteverhältnisse kaum Auskunft geben. Ein Schriftsteller zieht sich aus seinem Werk zurück; er hat gar keine andere Wahl. Das ist dem Schriftsteller eigen. Schon im alten Ägypten ist der Gott der Schrift ein Fährmann für die Toten, und so beginnt die Erzählung Schatten von Edgar Allan Poe, auf die mich Heiner Müller mehrfach hingewiesen und die er für mich gelesen hat, mit den Worten: »Du, der Lesende, weilst noch unter den Lebendigen; ich, der Schreibende aber, habe längst meinen Weg ins Reich der Schatten genommen. Denn das ist gewiß, seltsame Dinge werden geschehen und geheime Dinge aufgedeckt werden, und viele Jahrhunderte werden vergehen, ehe diese Aufzeichnungen den Menschen vor Augen kommen. Und unter denen, die sie sehen, werden manche Ungläubige sein und manche Zweifler und dennoch einige wenige, denen die Schriftzeichen, die ich hier mit stählernem Griffel grabe, viel zum Sinnen geben sollen.«11

An dem Abend, als ich vom Tod Heiner Müllers erfuhr, hörte ich mir mehrmals diese Aufnahme an, die ich einige Jahre zuvor gemacht hatte. Aber so sehr mich diese ersten Zeilen berührten: Der Verlauf dieser Parabel, der von der Abwesenheit des Schreibenden ausgeht, machte mir bald klar, dass diese bedeutsamen ersten Zeilen der Erzählung nicht nur wörtlich zu nehmen sind. Alles Geschriebene, »jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch« (Jacques Derrida). Und im Geschriebenen wird deutlich, dass zwar jemand zu uns spricht, aber »Qui parle? Qui parle donc?«12 Das gilt zwar genauso für den Komponisten, es ist uns – wer kann schon Partituren lesen? – nur weniger erfahrbar, weil Musik uns als eine von Musikern gespielte, aufgeführte und damit bereits wieder zum Leben erweckte Kunstform gegenübertritt, in der das komponierende Subjekt präsent bleiben kann. Schauen wir uns die Schreibfiguren, die im Laufe der Parabel von Edgar Allan Poe an der Wand auftauchen, genauer an: »Und weh! Aus den schwarzen Behängen, darin die Töne des Liedes erstarben, kam ein dunkler und unbestimmbarer Schatten hervor – ein Schatten, wie ihn der Mond, wenn er tief am Himmel steht, aus der Gestalt eines Menschen bilden mag; aber es 11. Edgar Allan Poe: »Schatten – eine Parabel«, in: ders., Werke, (Hg.) Theodor Etzel, übersetzt von Gisela Etzel, Berlin 1922. 12. Maurice Blanchot, Warten Vergessen – ein Abwesender, Frankfurt a.M. 1964.

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Heiner Gobbels: Schreibspuren: Schwarz auf Weiß

war weder der Schatten eines Menschen, noch der Schatten eines Gottes oder irgendeiner vertrauten Sache. Er durchzitterte eine Weile die Vorhänge im Raum und kam schließlich auf der Fläche der erzenen Pforte in voller Sicht zur Ruhe. Doch der Schatten war flüchtig und formlos und unbestimmt und war keines Menschen und keines Gottes Schatten – nicht eines Gottes der Griechen, noch eines Gottes der Chaldäer, noch irgendeines ägyptischen Gottes. Und der Schatten ruhte auf der erzenen Pforte und unter dem Bogen des Türgebälks und rührte sich nicht, sprach kein Wort, sondern ließ sich dort nieder und verblieb da.«13

In dieser zittrigen, unruhigen Bewegung an der Wand manifestieren sich genau die Schreibbewegungen, deren Urheber nur einen Schatten wirft, nicht aber selbst zugegen ist (später fragen die Anwesenden den Schatten schließlich, wer er sei, und er antwortet wenig aufschlussreich: »Ich bin der SCHATTEN«). Interessant ist aber, wie seine Stimme klingt, was in ihr klingt: »[…] denn die Klänge in der Stimme des Schattens waren nicht die Klänge irgendeines Wesens, und von Silbe zu Silbe die Laute wechselnd, trafen sie dunkel an unser Ohr im unvergesslichen, vertrauten Tonfall vieler Tausender dahingegangener Freunde.«14

Das heißt: Der, der uns da schreibt, an der Wand, der Schatten, spricht mit kollektiver Erfahrung zu uns. Seine Worte sind also nicht Ergebnis genialer individueller (künstlerischer) Erfindung, wie uns die Komponisten immer noch Glauben machen wollen. Was fasziniert an der Schreibbewegung? Bei den Studien zu Schwarz Auf Weiß bin ich auf den magischsten Text gestoßen, den ich über das Schreiben kenne, einen Essay mit dem Titel Die wesentliche Einsamkeit, geschrieben von Maurice Blanchot. Und so, als ob Blanchot den Poe´schen Schatten kennen würde (natürlich kennt er ihn aus seiner eigenen Praxis in- und auswendig, selbst wenn er ihn vielleicht nicht gelesen hat), beschreibt er beim Blick auf die Schreibfiguren des Schriftstellers die Auflösung der Parabel: »Es kann geschehen, dass die Hand eines Menschen, der einen Bleistift hält und festen Willens ist, ihn loszulassen, dass diese Hand ihn dennoch nicht loslässt, sondern sich im Gegenteil zusammenkrampft, weit davon entfernt sich zu öffnen. Die andere Hand greift mit mehr Erfolg ein, aber nun sieht man die Hand, die man krank nennen kann, eine langsame Bewegung beschreiben, um den sich entfernenden Gegenstand 13. Edgar Allan Poe, a.a.O. 14. Edgar Allan Poe, a.a.O.

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wiederzuerlangen […], sie selbst (ist) Schatten einer Hand, die unwirklich auf einen Gegenstand zugleitet, der sein Schatten geworden ist […]. Die Meisterschaft des Schriftstellers liegt nicht in der Hand, die schreibt, in dieser kranken Hand, die niemals den Bleistift fallen lassen kann, weil sie das, was sie hält, nicht wirklich hält, denn es gehört den Schatten, und sie selbst ist ein Schatten. Die Meisterschaft ist immer Sache der anderen Hand, die nicht schreibt und die imstande ist, im gegebenen Augenblick einzugreifen, den Bleistift zu fassen und ihn wegzulegen. Die Meisterschaft besteht also in der Fähigkeit, mit dem Schreiben aufzuhören und das zu unterbrechen, was sich von selbst schreibt.«15

Vielleicht ist es das, was ich bei den Schriftstellern finde und bei vielen meiner Komponistenkollegen vermisse: diese bewusste Loslösung von einem ungebrochen erscheinenden Identitätsbegriff, aus dem heraus musikalische Meterware handwerklich gut gemachter »Klangerfindungen« entsteht, Musik in erster Person sozusagen. Die Literatur hingegen beginnt – um mit Kafka zu sprechen – erst da, wo man aufhören kann, »Ich« zu sagen. Es geht um das »Verschwinden des Autors«, wie es auch Heiner Müller nennt; und tatsächlich verschwindet in seinen Textlandschaften das Ich hinter dem chorischen Sprechen: »Soll ich von mir sprechen, ich, wer ist das…« Oder, um es mit den Worten Blanchots zu sagen: »Schreiben heißt, das Band lösen, welches das Wort und mich vereint.«16 Deswegen möchte ich auch den eingangs zitierten Satz von Cioran – »Allem, was mich aufwühlt, hätte ich Ausdruck geben können, wenn mir die Schmach, kein Musiker zu sein, erspart geblieben wäre« umdrehen. Denn im Zögern der Schriftsteller steckt ein anderes Bewusstsein über all die vielfach gebrochenen und facettenhaft ausgestatteten Identitäten, die mitschreiben, als ich es so manches Mal in der selbstsicheren Haltung der expressiv Komponierenden entdecke. Wie schön, dass Cioran uns solche Sätze hinterlassen hat und uns erspart geblieben ist, alles, was ihn aufwühlte, mit Musik zum Ausdruck gebracht zu haben.

Literatur Blanchot, Maurice: Die wesentliche Einsamkeit, Berlin 1959. Blanchot, Maurice: Warten Vergessen – ein Abwesender, Frankfurt a.M. 1964. Cioran, Emile Michel: Syllogismen der Bitterkeit, Frankfurt a.M. 1995. 15. Maurice Blanchot, a.a.O. 16. Heiner Müller: Landschaft mit Argonauten, Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 2002.

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Heiner Gobbels: Schreibspuren: Schwarz auf Weiß

Interiors, Vol. CX, Nr. 10, Mai 1951, S. 104. Kluge, Alexander: »Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind«, in: Kalkfell, Theater der Zeit, Berlin 1996. Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt 1986, S. 101. Müller, Heiner: Landschaft mit Argonauten, Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 2002. Müller, Heiner: Werke, Bd.2, Frankfurt a.M. 1999, S. 119. Poe, Edgar Allan: »Schatten – eine Parabel«, in: ders. Werke, (Hg.) Theodor Etzel, übersetzt von Gisela Etzel, Berlin 1922. Robbe-Grillet, Alain: »Die Szene«, in: Momentaufnahmen, München 1963. Stein, Gertrude: The Making of Americans, Paris 1925. Svenbro, Jesper: Ameisenwege, Graz 2000.

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Christopher Balme: Heiner Goebbels: Zur Dramaturgie des Samplings

Heiner Goebbels: Zur Dramaturgie des Samplings Christopher Balme

In einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Musik entziffern: Das Sample als Zeichen definiert der Komponist, Regisseur und Theatertextkompilator Heiner Goebbels seine Arbeitsweise mit dem Sampler: »Mich interessiert hier nicht der technische Aspekt des Samplers, nicht das Instrument selbst, sondern der Gebrauch des Samples als Haltung.«1 Der Gebrauch des Samples als Haltung. Die Brechtsche Resonanz ist unüberhörbar. Brechts Begriff der gestischen Musik ist nicht weit. Im Folgenden wird es mir jedoch nicht darum gehen, Goebbels Affinität zu Brecht oder Hanns Eisler herauszuarbeiten, was andernorts bereits geschehen ist. Sondern es geht darum diese von Goebbels selbst genannte ›Haltung‹ des Samplings unter die Lupe zu nehmen und sie als dramaturgisches Verfahren zu beschreiben. Ich werde mit einigen Ausführungen zum Werdegang von Heiner Goebbels beginnen, der unter den heute prominenten deutschen Theatermachern eine eher untypische Entwicklung vorzuweisen hat. Im zweiten Schritt befasse ich mich mit dem Begriff des Samplings, der aus der Musik stammt, um ihn im Kontext verwandter Verfahren wie Collage und Montage ästhetikgeschichtlich zu verorten. Im dritten Teil werde ich zwei Musiktheaterwerke von Goebbels – Die glücklose Landung (1993), und Landschaft mit entfernten Verwandten (2002) – unter dem Aspekt einer Dramaturgie des Samplings diskutieren. Diese Befunde sollen schließlich in einigen theoretischen Überlegungen zum Sampling als dramaturgisches Verfahren münden. Neben diesen formalästhetischen Fragen wird die These aufgestellt, dass Sampling im Brechtschen Sinne auch eine ideologische Haltung markiert. Diese lässt sich besonders deutlich anhand der Darstellung fremdkultureller Zeichen diskutieren. Sowohl in der glücklosen Landung als auch in Landschaft mit entfernten Verwandten – und nicht nur in die1. Goebbels, Heiner: »Musik entziffern: Das Sample als Zeichen«, in: Sander, Wolfgang (Hg.): Heiner Goebbels: Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 183.

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sen Werken – setzt sich Goebbels implizit und explizit mit außereuropäischen Kulturen auseinander. Zu fragen ist daher nach den Möglichkeiten, Risiken und Nebenwirkungen von Sampling als Modus der Repräsentation von Alterität.

Zur Person Heiner Goebbels studierte Anfang der 1970er Jahre an der Universität Frankfurt Soziologie und Musikwissenschaft und schloss sein Studium mit einer Diplomarbeit über den musikalischen Materialbegriff bei Hanns Eisler ab. Bereits als Student war er in der Frankfurter Sponti-Szene aktiv; 1976 gründete er das sogenannte Linksradikale Blasorchester. Zur gleichen Zeit begann er im Theater als Komponist von Schauspielmusik zu arbeiten. 1978-80 war er als musikalischer Leiter am Schauspiel Frankfurt und anschließend in Bochum tätig. Auf sein Konto gehen solch unterschiedliche Kompositionen wie die Melodien zum Aufklärungsstück Was heißt hier Liebe? von Roter Grütze und die Schauspielmusik zur Hermannsschlacht in der Inszenierung von Claus Peymann (1982). Mitte der achtziger Jahre begann er eigenständig zu arbeiten, zunächst mit Hörspielen und Orchesterstücken, schließlich mit Musiktheaterstücken. Bei letzteren spielt die Musik naturgemäß eine wichtige Rolle, jedoch entziehen sich diese Werke einer leichten Zuordnung in die herkömmlichen musiktheatralischen Genres. Es handelt sich weder um Opern noch um illustrativ-atmosphärische Soundtracks zur eigentlichen Inszenierung. Die Musik konstituiert ein wichtiges Element unter anderen – sie ist zumal eins, das Goebbels unmittelbar kontrolliert und gestaltet – im Gegensatz etwa zum Bühnenbild oder Kostüm, – die Musik ist aber nicht notwendigerweise eine Originalkomposition. Als Komponist ist Goebbels ein Sampler sowohl voraufgezeichneter als auch selbst komponierter Musik. Die Musiktheaterstücke sind mit ihrem Verzicht auf mimetische Referentialität, Figur und lineare Handlungsverläufe und in Ermangelung eines besseren Begriffs allesamt als postdramatisch zu bezeichnen.2 Aufgrund seines Hintergrunds als Komponist hat man den nichtmusikalischen Aspekten seiner Werke nicht übermäßig große Aufmerksamkeit geschenkt. Jedoch sind die visuellen Zeichen von ebenso zentraler Bedeutung wie die musikalischen oder die textlichen. Seine häufige Kollaboration mit dem Bühnenbildner Erich Wonder, einem der wichtigsten Exponenten des deutschen Bildertheaters, oder in jüngster Zeit mit Klaus Grünberg, 2. Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M 1999. Goebbels wird in Lehmanns Untersuchung auffällig häufig erwähnt.

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zeugen von einer zunehmenden Bedeutung, die er den visuellen Aspekten des Theaters beimisst. Die Frage nach einer – semiotisch gesprochen – eindeutigen Dominantenhierarchie stellt sich jedoch schwer: Seine Inszenierungen sind musik-, text-, und bildlastig zugleich. Um die Beziehung zwischen den »Hauptspuren« (im Sinne von tracks) seiner Werke, den visuellen und den akustischen Elementen, zu charakterisieren, zitiert Goebbels häufig Robert Wilson. Wilson, zitiert nach Goebbels, sagte: »In Stummfilmen ist der akustische Raum unendlich, in einem Hörspiel ist es der visuelle Raum.«3 Vergleicht man heute den früheren Bandleader des so genannten Linken Blasorchesters und Hanns Eisler-Adepten mit dem internationalen anerkannten Repräsentanten eines postmodernen Musiktheaters, so erscheint die Entwicklung beträchtlich zu sein. Goebbels hat einen Weg von B zu B: von Brecht zu Barthes, zurückgelegt. Dieser Weg ist jedoch nicht ungewöhnlich, sondern charakteristisch für die 68er Generation sowohl im künstlerischen wie im wissenschaftlichen Bereich. Die Massenbekehrung von Materialisten zu Postmodernisten bzw. Poststrukturalisten wurde angestoßen und geführt von Heiner Müller. Wer diese Bekehrung nicht mitmachte, dem haftete der Makel des ›Alt-Achtundsechziger‹ an. Die ideologische Stoßrichtung war verhältnismäßig homogen, linke Askese wurde eingetauscht gegen eine Erotik des Lesens: Roland Barthes Lust am Text ersetzte den Materialgedanken in Kunst und Literatur. Dieses scheinbare schleichende Damaskus-Erlebnis einer ganzen Generation verbirgt jedoch – im Falle von Heiner Goebbels zumindest – unübersehbare Kontinuitäten zwischen einer materialistischen Haltung und einer postmodernen Praxis. Die Brücke zwischen beiden Positionen bildet das schillernde Wort ›Material‹, das bei Brecht, Eissler und natürlich Heiner Müller von so eminenter Bedeutung ist. Die damit verbundene Verabschiedung eines romantischen Kunstbegriffs ist vielleicht der heute noch wirksamste Bestandteil des Brechtschen Erbes im Theater. Bei Goebbels ist der Materialbegriff in seiner Musik- und Theaterpraxis des Samplings zu suchen.4 Goebbels ist ein Sampler, der vorzugsweise mit einem Sampler arbeitet. Unterscheiden muss man zunächst zwischen einem künstlerischen Verfahren, dem Sampling, das neuere Technologien prädatiert, und einer digitalen Technologie, einer Software gleichen Namens, die das ältere Verfahren nicht nur erweitert, sondern auch grundlegend verändert. Drittens 3. »Tom Stromberg im Gespräch mit Heiner Goebbels«, Vision Zukunft # 1Theater 2010: Elf Vorträge und Gespräche, Frankfurt a.M.: Mousonturm, 1997, S. 47. 4. Vgl. den Beitrag von Max Nyffler: »Der dialektische Sampler: Zur kompositorischen Arbeit von Heiner Goebbels«, in: Komposition als Inszenierung, S. 173-180.

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muss man auch der Frage nachgehen, ob man dieses Verfahren auch auf andere Aspekte der Theaterproduktion erweitern kann, auf die Dramaturgie und Inszenierung. Goebbels gehört neben Christoph Marthaler zu den wenigen heutigen Theaterregisseuren im deutschsprachigen Raum, deren künstlerische Ausbildung und Praxis im Bereich der Komposition liegt. Schließlich ist auch die Frage aufzuwerfen, in wie weit sich Sampling von verwandten Verfahren wie Collage, Montage, oder gar dem Zitieren an sich, grundsätzlich unterscheiden lässt. Hierbei wird es allerdings nicht darum gehen, diese Begriffe essentialistisch so zu befestigen, dass sie gegen jedwede Art von Bewegung und Austausch gefeit sind.

Begriffsklärung Nach Auskunft des New Grove Dictionary of Music and Musicians bezeichnet Sampling ein Verfahren, »in which a sound is taken directly from a recorded medium and onto a new recording.«5 Dies geschieht heutzutage in der Regel mit einem Sampler, d.h. indem das Fundstück, das Sample, digitalisiert wird und so leicht weiterverarbeitet werden kann. Das Sampling ist eine häufig verwendete Technik der gegenwärtigen Popmusik, insbesondere im Bereich des Hip-Hop. Und was einst Profi-Musikern vorbehalten war, steht dank billiger Software wie Garage Band von Apple jedem (Mac-)Computer-Nutzer zur Verfügung. Sampling ist ein Produkt elektroakustischer Musik, aber die Wurzeln reichen noch weiter in die 1940er Jahre der Experimente der musique concrète-Bewegung, die Teile anderer Kompositionen sowie Geräusche jeglicher Art benutzten, zurück. Sampling ist musikalisch gesprochen Bestandteil einer musikalischen Tradition, die Avantgarde und Pop verbindet. Was früher mit Tonband und analoger Technik mühsam zusammengeklebt wurde, geschieht heute dank digitaler Technologie mit einem Mausklick.

Montage und Collage Die Arbeit mit Vorgefundenem ist bekanntlich keine Erfindung der Musikkunst, sondern hat ihr Vorbild in der Collagetechnik der Bildenden Kunst. Dieses typisch modernistische Verfahren, das den auf organische Originalität pochenden romantischen Kunstbegriff herausfordern will, ist 5. New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd.29, New York und London 2001, S. 219.

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aus dieser Perspektive mit Duchamps Pissoir und Warhols Suppendosen verwandt. Das Besondere am Collagieren ist die Beziehung der Teile zueinander einerseits, die ausgestellte Materialität der unterschiedlichen Bestandteile andererseits. Der ästhetische Zugewinn besteht in dem »Funke[n] Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt«, um die berühmte Definition von Max Ernst zu zitieren.6 Die Collage kann eigentlich als Urheber aller verwandten Übertragungen auf Literatur, Film und Theater angesehen werden. Obwohl die Collage und mit ihr das Sampling als Errungenschaften der künstlerischen Moderne zu betrachten sind und aus heutiger Kunstpraxis nicht mehr wegzudenken sind, ist ihr Stellenwert keinesfalls unumstritten. Sogar Adorno blieb in seiner Beurteilung zwiespältig bis ablehnend. Für Adorno ist Montage der Oberbegriff: er umfasst Collage, Filmmontage sowie die musique concrète. In der Ästhetischen Theorie schreibt er: »Montage ist die innerästhetische Kapitulation der Kunst vor dem ihr Heterogenen. […] Damit beginnt Kunst den Prozeß gegen das Kunstwerk als Sinnzusammenhang. Die montierten Abfälle schlagen erstmals in der Entfaltung von Kunst dem Sinn sichtbare Narben.«7 Adorno beschränkt den ästhetischen Mehrwert auf die Schockwirkung, die, sobald sie verpuffte, nur noch von kulturhistorischem Wert sei: »das Montierte wird abermals zum bloßen indifferenten Stoff«.8 Die Formulierung »bloß indifferenter Stoff« verbirgt doch irgendwie die Vorstellung, dass auch moderne Kunstwerke ohne eine organisch formende Künstlerhand keine Dauer haben. Bekanntlich findet das Wort Theater keine Erwähnung in Adornos Ästhetischer Theorie. Aus streng modernistischer Sicht ist das Multi-Medium Theater in seinem Wesen vermutlich ohnehin zu collagenartig. Dieser kurze Rückblick auf die historische Moderne macht deutlich, dass Sampling in erster Linie ein ästhetisches Verfahren, und nur in zweiter Linie eine technologische Erfindung ist. Goebbels bemerkt dazu: Meine vor der Einführung des Samplers entstandenen Tonbandarbeiten […] unterscheiden sich in ihrer Ästhetik nicht von meinen späteren Arbeiten mit Sampler; da gibt es schon Schichtungen, Loops, Scratching mit Geräuschen, Wiederholung von O-Ton-Fetzen, Schnitte divergierender Materialien und so weiter. Was ich damit sagen will: Es gibt unabhängig vom Instrument eine kompositorische Haltung, die sich durch den schnellen 6. Zitiert hier nach: Greverus, Ina-Maria: »Der hybride Mensch und die Kultur der Collage«, www.vienna-thinktank.at/polylog1/polylog1_greverus.htm. Letzter Zugriff, 25.01.2006. 7. Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 232f. 8. Ebd., S. 233.

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Zugriff auf unterschiedlichste Materialien definiert, wozu der SampIer zwar taugt, aber nicht notwendigerweise gehört. Goebbels ist auch sehr darauf bedacht, nicht als reiner Sampler missverstanden zu werden: außerdem kommt die für meine Arbeit wichtige Grundvoraussetzung hinzu, nie ausschließlich mit Samples zu arbeiten, sondern ihnen immer live-gespielte Musikanteile gegenüberzusetzen, damit die Balance zwischen Stereotypie, die einem Sample besonders bei mehrmaliger Wiederholung leicht anhaftet, und Lebendigkeit gewährleistet bleibt.9

Obwohl Goebbels hier nur von Musik spricht, wird deutlich, wenn man seine Inszenierungen betrachtet, dass das Verfahren keinesfalls auf die kompositorischen Anteile beschränkt bleibt. Die Auswahl der Materialien, die Balance zwischen Stereotypie und Live-Effekt, ist charakteristisch für die Inszenierungen insgesamt, wie noch zu zeigen ist.

Ou bien: le débarquement désastreux/Die glücklose Landung Dieses 1993 als deutsch-französische Koproduktion konzipierte und in Nanterre uraufgeführte Werk handelt von verschiedenen Begegnungen zwischen Mensch und Natur in so genannten ›Neuen Welten‹. Die Textgrundlage verbindet Texte von Joseph Conrad, Heiner Müller und Francis Ponge. Bei Conrad handelt es sich um Auszüge aus seinem Kongo-Tagebuch; der Müller-Text ist seine Erzählung Herakles 2 oder die Hydra; aus Ponges Notizbuch vom Kiefernwald werden einige Textauszüge zitiert. Live-Musik wird gespielt und gesungen von zwei aus der Griot-Tradition stammenden westafrikanischen Musikern, Sire und Boubakar Djebate. Zusätzlich gibt es Musik von der E-Gitarre und vom Synthesizer. Das von Magdalena Jetelovà entworfene Bühnenbild besteht aus einer riesigen metallenen Pyramide, die von der Decke hängt. Auf drei Seiten stehen hohe, mit einem henna-artigen Stoff bewachsene Gitterkonstruktionen. Die Pyramide dreht sich und fungiert sowohl als Spielraum und als Fremdobjekt einer ›natürlichen‹ Umgebung. Abgesehen von der beeindruckenden, aber zugleich rätselhaften visuellen Ausstrahlung üben die sprachlichen und musikalischen Texte eine ebenso faszinierende Anziehungskraft aus. Der Schauspieler André Wilms rezitiert die Texte von Conrad, Müller and Ponge in einem rhythmisierten Rezitativ-Stil, der von den afrikanischen Musikern aufgegriffen und variiert wird. 9. Goebbels: »Musik entziffern«, S. 183.

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Das Sampling-Verfahren ist auf allen Zeichenebenen und nicht nur im Hinblick auf die Textgrundlage evident. Es ermöglicht das vielschichtige Variieren einer zentralen Metapher: der Begegnung mit dem Fremden bzw. dem Anderen. Das Fremde ist sowohl fremdkultureller wie existentieller Provenienz. Bei Conrad steht die fremdkulturelle Begegnung als Schock und als Faszination, potenziert durch den Dschungel, im Mittelpunkt. Bei Müller und Ponge ist es der Wald mit seinem im europäischen Bewusstsein tief verwurzelten Angstpotential, der die Alteritätserfahrung auslöst. Bei Müller heißt es: »der Wald war das Tier, lange schon war der Wald, den zu durchschreiten er geglaubt hatte, das Tier gewesen.«10 Noch ausgeprägter wird die Fremdheitserfahrung für den Zuschauer jedoch über die westafrikanische Musik vermittelt. Sowohl die Gesänge als auch die Klänge der Kora, der großen westafrikanischen Stegharfe, bilden einen musikästhetischen Kontrast zur westlichen Musik, vertreten durch Synthesizer, E-Gitarre und Trombon. Patrice Pavis hat diese musikkulturelle Kontrasterfahrung als eine Art Wettbewerb oder gar Ritterkampf charakterisiert: »a joust […] between Western technological music […] and the singing voice of the griot accompanied by the kora, an instrument in traditional African music.«11 Allerdings handele es sich nicht um einen Kampf der Kulturen im herkömmlichen Sinne, sondern um die gegenteilige Erfahrung. Die konstrastierenden musikalischen Stile und Spielweisen führen vor, wie Musiker aufeinander eingehen und sich verstehen können. Die Inszenierung sei ein Beispiel, so Pavis, für Interkulturalität, »in which each culture knows how to listen to the other without appropriating it, or being engulfed by it.«12 Einen wesentlichen Anteil an dieser interkulturellen Annäherung hat Goebbels’ Ästhetik des Samplings. Sampling bedeutet eine minimale Veränderung am vorgefundenen Material, ja die Materialität des Samples soll möglichst mit transportiert werden. Auf Die Glücklose Landung übertragen, bedeutet dies eine unmittelbare Begegnung mit afrikanischen Musikern und deren Musik. Es gibt keinen Versuch das gesampelte afrikanische Material einer westlichen Musik- oder Theaterästhetik unterzuordnen. Dadurch dass die Musiker verhältnismäßig autonom agieren, wiewohl im Rahmen eines von Goebbels inszenierten Werkverlaufs, entgehen sie der Gefahr, einem platten Exotismus ausgesetzt zu werden.

10. Müller, Heiner: Herakles 2 oder die Hydra, in: Werke 2: Die Prosa. Frankfurt/M 1999, S. 97. 11. Pavis, Patrice: Analyzing Performance: Theater, Dance, and Film, aus dem Französischen von David Williams, Ann Arbor 2003, S. 51. 12. Ebd., S. 266.

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Landschaft mit entfernten Verwandten Exotistisches »Potential« birgt auch Landschaft mit entfernten Verwandten (2002), das sicherlich aufwendigste Musiktheaterwerk, das Goebbels bisher geschaffen hat. Zumindest teilweise als Reaktion auf die Ereignisse vom 11. September konzipiert, zeichnet sich diese »Oper«, wie Goebbels das Werk beinahe zähneknirschend betitelt, durch einen aus vier Akten und sieben Suiten bestehenden quasi »klassischen« Aufbau aus. Ansonsten handelt es sich um einen assoziativen Essay über Krieg, Gewalt und Fremdheit. Seine textlichen Samples bezieht er aus scheinbar recht heterogenen Quellen. Sie stammen u.a. von Giordano Bruno, T.S. Eliot, Henri Michaux, François Fénelon, Leonardo Da Vinci, and Michel Foucault, die allesamt in ihren Originalsprachen zitiert werden. Als eine Art Kommentar fungiert ein autobiographischer Text von Gertrude Stein, Wars I Have Seen, aus dem Jahr 1943. Musikalisch gibt es eine ähnlich breite Selektion an Stilen und Richtungen: Zu hören ist ein musikkultureller Mix aus Renaissance-Musik über Sufi-Flöten und Trommeln bis hin zu Goebbels eigenen Kompositionen, die auf Improvisationen mit dem Ensemble Modern basieren. Die folgenden Auszüge aus dem von Goebbels erstellten Szenario sollen einen Eindruck des heterogenen Text-, Musik-, und Theatermaterials geben:13 Akt I beginnt mit einer Entrada und Chorszene im Hintergrund. Ein Text aus Dell’infinito, universo e mondi von Giordano Bruno spricht von der unablässigen Bewegung aller Dinge und der gleichen Bestimmung, die allem zu teil wird. Es folgt eine Renaissance-Szene im öffentlichen Raum und eine längere Passage aus Gertrude Steins Wars I have Seen, in der von Krieg und Bombardement in Paris während des Zweiten Weltkriegs die Rede ist. David Bennent zitiert ebenfalls aus Bruno und bespricht die Gleichheit von Gerade und Kreis im Unendlichen, womit er die Übereinstimmung der Gegensätze zu beweisen sucht. Ein Teil des Textes wird im Rezitativ gesungen. Akt II ist betitelt »Les Inachevés (Terrororchester)«. Der Haupttext im zweiten Akt stammt von Fénelon und stellt ein fiktives Gespräch zwischen Nicolas Poussin und Leonardo da Vinci dar. Es handelt von einem unsichtbaren Gemälde, Landschaft mit dem von der Schlange getöteten Mann, auf dem Schönes und Schreckliches gleichermaßen zu sehen sind. Es folgt »Suite II – Tischgesellschaft«: An einem langen Tisch sitzen und spielen Musiker. Goebbels bezeichnet das Bild als Rokoko-Tableau. Das Kriegsthema wird wieder aufgenommen, man spricht – in den Worten 13. Das Szenario ist frei zugänglich unter: www.heinergoebbels.com.

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Gertrude Steins – vom 19. Jahrhundert und den Sternen, und darüber, dass Mondfinsternisse nur in Friedenszeiten ein Vergnügen sind. Suite III zeigt den rituellen Tanz der Derwische zur Musik von chinesischer Bambusflöte und Trommel. Akt III beginnt mit Suite IV – dem Triumphmarsch. Eine Phalanx von Trommlern tritt auf. Der Triumphal March aus T.S.Eliots Bearbeitung des Coriolan wird zitiert, in dem moderne Waffen aufgezählt werden, während man den Triumphator erwartet. Riesige Puppen werden aufgezogen und zum Tanzen gebracht. Goebbels notiert: »Der Bombenmensch hat das Töten satt, er will malen.« Die darauf folgende Schlachtbeschreibung aus einem Text von Leonardo da Vinci wird im Rezitativ gesungen. Goebbels fragt: »Wie kann eine Schlacht beschrieben werden? Eine Textlandschaft als Konzept für ein Gemälde.« Suite V heißt »Las Meninas«. Frauen im Rokoko-Kostüm tanzen und drehen sich. Das berühmte Gemälde wird andeutungsweise szenisch rekonstruiert, der Text fragt: wer blickt auf wen? Das darauf folgende HindiLied, Kenha hy kya spricht Goebbels zufolge »von einer geheimnisvollen, einmaligen Begegnung, in der dem Blick eine besondere Bedeutung zukommt«. Im vierten Akt kehrt das Rokoko-Tableau leicht verändert wieder. Die Gespräche und Themen der vorherigen Akte werden wieder aufgenommen: der unveränderte Schrecken des Krieges, die Wiederholung der Geschichte, die Einheit der Dinge und der Gegensätze, die Frage nach der Ordnung der Natur. Stadtmodelle werden herein getragen, betrachtet und diskutiert, ein Gewitter zieht auf, es entwickelt sich eine Rivalität der Städte, die in kriegerische Handlungen übergeht, eine Stadt wird in Brand geschossen, die Stadtmodelle explodieren regelrecht. Suite VII – »Last Supper« – findet als »amerikanischer Heimatabend« statt; man singt in »Hillbilly-Manier vom wilden Westen«. Die Lieder »Out where the West begins« und »Freight Train« bringen die Aufführung zu einem langsamen Abschluss. Hinsichtlich des ästhetischen Verfahrens ist der Titel des Werks Programm. Heiner Müllers Vorliebe für die Metapher der Landschaft als Alternative zur herkömmlichen Textproduktion – »Der Text beschreibt eine Landschaft jenseits des Todes« heißt es in der Bildbeschreibung – steht höchstwahrscheinlich Pate bei der Konzeption des Werks.14 In seinem Aufsatz, From Logos to Landscape: Text in Contemporary Dramaturgy (1997), einem englischsprachigen Appetizer auf sein Hauptwerk, Postdramatisches Theater, definiert Hans-Thies Lehmann wohl in Anleh14. »Bildbeschreibung«, in: Heiner Müller Material: Texte und Kommentare, hg. von Frank Hörnigk, Leipzig 1989, S. 14.

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Medien-Sprünge und »Schreibspuren«

nung an Müller ›landscape‹ als Denkfigur der postdramatischen Textästhetik: »New approaches to the text, so it seems, are often detected by a radical musicalization of the language material. An auditive space is opened, which calls upon the spectator/audience to synthesize the elements presented.«15 Man müsste hinzufügen: Bei Goebbels’ Landschaft mit entfernten Verwandten handelt es sich nicht nur um einen auditiven, sondern auch um einen visuellen Raum. Die von Lehmann identifizierte Synthetisierungsarbeit des Zuschauers gehört zu den fundamentalen Prinzipien der künstlerischen Moderne und nicht nur der Postmoderne. Der Überschuss an Bildern, Musikstilen und Textsorten führt dazu, dass Landschaft mit entfernten Verwandten eine Vielzahl an Reaktionen und Deutungsmöglichkeiten hervorruft. Im Vergleich zu früheren Werken jedoch ist die Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Klaus Grünberg in so fern noch bedeutsamer, als der Bildproduktion noch größere Bedeutung zugedacht wird. Die textuellen und musikalischen Samples werden durch zum Teil sehr konkrete Bilder überformt. Diese Bilder sind selbst wiederum Samples, entweder stilistischer oder konkreter Art. Die Szene »Las Meninas« suggeriert die Architektur des berühmten Gemäldes von Velasquez, ohne es jedoch genau abzubilden. Die Texte von Fénelon und da Vinci thematisieren Fragen des Visuellen. Goebbels Reaktion auf den 11. September ist offensichtlich keine unmittelbare Auseinandersetzung mit den politischen Hintergründen oder Nachwirkungen. Unübersehbar ist jedoch, dass die Ereignisse dieses Tages eine Auseinandersetzung mit Bildern und deren medialer Vermittlung geradezu erzwingen. Die ständig sich wiederholenden Sequenzen der Flugzeuge, wie sie in die Türme des World Trade Centers stürzten, wurden selbst zu Samples, die wie Loops von den Medien endlos wiederholt wurden. Diese Bild-Loops dienten schließlich der amerikanischen Regierung als unhintergehbare Letztbegründung für den nachfolgenden »War on Terror« mit den heute bekannten Folgen. Sampling als formalästhetisches Verfahren zu beschreiben ist relativ unproblematisch. Den heutigen Stellenwert auszumachen, ist ebenfalls unproblematisch. Trotz Adornos Ablehnung gehört das Collagieren von Musikstücken, Bildern, Texten zum festen Bestandteil modernistischer Techniken und erst recht zum bekannten Eklektizismus der Postmoderne, zu der Goebbels häufig gerechnet wird. Ich habe bewusst von einer »Dramaturgie« des Samplings bei Goebbels gesprochen, weil dieser Begriff seinem ästhetischen Verfahren viel näher kommt als etwa Komposition oder 15. Lehmann: »From Logos to Landscape: Text in Contemporary Dramaturgy«, Performance Research, 2:1 (1997), S. 56-7.

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Christopher Balme: Heiner Goebbels: Zur Dramaturgie des Samplings

Inszenierung. Dramaturgie bedeutet hier die Gestaltung eines Textes in vollem semiotischem Sinne des Wortes. Jedes Element ist ein Text unabhängig von seiner materiellen Provenienz. Die in der Semiotik so beliebte Textmetapher kommt hier zur vollen Geltung. Von zentraler Bedeutung beim Sampling, zunächst musikalisch verstanden, ist, dass den ausgewählten Musikstücken ihr Ursprungskontext anhaftet. Man könnte auch sagen, dass Sampling die Materialität des Samples konserviert und nicht in eine andere Musiksprache transformiert. Der Tatbestand des »bloßen indifferenten Stoffes«, der Adorno bei der Montage so suspekt und problematisch erschien, avanciert bei einer Ästhetik des Samplings zum Kern sowohl formaler als auch inhaltlicher Ausrichtung. Die Ausstellung der Materialität geschieht, wie wir bei beiden Beispielen gesehen haben, auf allen Zeichenebenen. In Landschaft mit entfernten Verwandten werden die Texte in der Originalsprache rezitiert (Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Hindi), auch, aber nie ausschließlich um ihres Klanges willen; der Tanz der Sufi wird von Sufi-Tänzern mit ihrer eigenen Musik aufgeführt; Stadtmodelle werden mit pyrotechnischer Finesse zur Explosion gebracht. Auf einen Nenner gebracht, könnte man die Dramaturgie des Samplings als eine Möglichkeit beschreiben, Alterität in ihrer vielfältigen Manifestationen auch sinnlich erfahrbar zu machen, ja auch in ihrer irreduziblen Andersartigkeit zu präsentieren, und nicht nur zu re-präsentieren. Wenn also Sampling eine Haltung ist, wie Goebbels behauptet, dann steht sie für ein dramaturgisches und theaterästhetisches Verfahren, das in bester Brechtscher Manier Ideologie und Ästhetik verbindet.

Literatur Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970. Goebbels, Heiner: »Musik entziffern: Das Sample als Zeichen«, in: Wolfgang Sander (Hg.), Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002. Lehmann, Hans-Thies: »From Logos to Landscape. Text in Contemporary Dramaturgy«, in: Performance Research, 2:1 1997, S. 56-57. Mousonturm (Hg): »Tom Stromberg im Gespräch mit Heiner Goebbels«, in: Vision Zukunft 1 – Theater 2010: Elf Vorträge und Gespräche, Frankfurt a.M., S. 47. Müller, Heiner: »Bildbeschreibung«, in: Frank Hörnigk (Hg.), Heiner Müller Material: Texte und Kommentare, Leipzig 1989. Müller, Heiner: »Herakles 2 oder die Hydra«, in: Werke 2. Die Prosa, Frankfurt a.M. 1999, S. 94-98, S. 97.

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Medien-Sprünge und »Schreibspuren«

Nyffler, Max: »Der dialektische Sampler«, in: Wolfgang Sander (Hg.), Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung 2002, S. 173-180. Sadie, Stanley (Hg.): New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 29, New York; London 2001, S. 219. Pavis, Patrice: Analyzing Performance: Theater, Dance and Film, aus dem Französischen von David Williams, Ann Harbor 2003, S. 51.

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Andres Veiel: Die Grenzen des Darstellbaren

Die Grenzen des Darstellbaren. Der Kick auf der Bühne und auf der Leinwand Andres Veiel

In den letzten Jahren bewege ich mich mit meinen Arbeiten verstärkt in den Zwischenzonen von Dokument und Fiktion. Bei einigen Kollegen erlebe ich eine ähnliche Tendenz, etwa bei Romuald Karmakar mit seinen Hamburger Lektionen oder dem Himmler-Projekt. Inzwischen ist es schon selbstverständlich, dass diese hybriden Formen im Wettbewerb von renommierten Dokumentarfilm-Festivals vertreten sind. Das wäre vor zehn Jahren kaum denkbar gewesen. Dokumentarfilm-Festivals wie Nyon gehen noch einen Schritt weiter und öffnen sich zum Fiktionalen, sie zeigten dieses Jahr zum ersten Mal auch Spielfilme mit dokumentarischer Handschrift. Auch die Jury des Festivals hat sich diesem Trend angeschlossen. Sie hat 2006 ausschließlich experimentelle Mischformen ausgezeichnet. Sie konstatierte eine »Krise« des klassischen Dokumentarfilms. Das hat manche Filmemacher und Redakteure auf den Plan gerufen. Sie sehen den »klassischen Dokumentarfilm« in der allgemeinen Sendelandschaft als gefährdet an, erdrückt zwischen formatierten Dokuserien und Dokudramen. Durch so eine Entscheidung würde man ein um seinen Bestand ringendes Genre weiter unterminieren. Die Sorge um die Existenz der langformatigen Dokumentarfilme im Fernsehen ist berechtigt. Dennoch ist es ein Fehlschluss, den »klassischen Dokumentarfilm« durch Attacken auf (teil-)inszenierte Formen retten zu wollen. Die Debatte ist nicht neu, doch sie wird unvermindert heftig geführt, was sich auch bei meiner letzten Arbeit Der Kick zeigt. Der Film untersucht die Hintergründe eines brutalen Mordes. In der Nacht zum 13. Juli 2002 misshandeln das Brüderpaar Marco und Marcel Schönfeld sowie ihr Kumpel Sebastian Fink den 16-jährigen Marinus Schöberl. 237

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Medien-Sprünge und »Schreibspuren«

Am Ende wird er durch einen Sprung auf seinen Hinterkopf getötet. Täter und Opfer kennen sich, sie kommen alle aus Potzlow, einem Dorf sechzig Kilometer nördlich von Berlin. Vier Monate später, im November 2002, wird die Leiche von Marinus Schöberl in einer Jauchegrube gefunden. In der Tatnacht gibt es drei erwachsene Zeugen, die bei den Misshandlungen anwesend sind und nicht einschreiten. Sie schweigen auch noch, als zunächst der Vater des Opfers, später auch die Polizei, sie nach dem Verbleib von Marinus befragen. Ein Teil der Presse unterstellt dem Dorf ein stilles Einvernehmen mit den Tätern. Das ist der Auslöser, mich mit der Tat und den Tätern näher zu beschäftigen. Sehr bald zeigt sich, dass der der mir vertraute Weg, sich den Beteiligten mit der Kamera zu nähern, versperrt ist. Der Pfarrer, sonst oft der vermittelnde Part in ähnlichen Recherchesituationen, brachte die Abwehr auf den Punkt: »Wir wollen Sie hier nicht, wir brauchen Sie hier nicht, es ist genug Schaden durch die Medien angerichtet worden.« Die Verwandten des Opfers, die Angehörigen der Täter, die Sozialarbeiterin, die Täter selbst – keiner ist bereit, sich einem Gespräch vor einer Kamera zu stellen. Im Sommer 2004 erhalte ich das Angebot, für das Berliner Maxim Gorki Theater ein Stück zu entwickeln. Ich entscheide mich für den »Fall Potzlow«. Das Theater Basel steigt mit in das Projekt ein, der Hauptstadtkulturfonds unterstützt die aufwändige Recherche. Zusammen mit der Dramaturgin Gesine Schmidt fahre ich mit einem kleinen Aufnahmegerät nach Potzlow. Manchmal braucht es einen mehrmonatigen Anlauf, bis wir das Band mitlaufen lassen dürfen. Einige Gesprächspartner wollen sich erst die früheren Filme von mir ansehen. Andere treffen uns, um uns abzusagen. Doch dann fangen sie doch an zu reden – und spüren, dass es ihnen gut tut. Wir sprechen mit den Tätern, ihren Eltern, Dorfbewohnern, den Ausbildern eines Erziehungsheims, Freunden des Opfers und der Täter. Aus mehr als 1500 Seiten protokollierter Interviews entsteht ein Stück. Die meisten Gespräche haben wir selbst mit den Protagonisten geführt. Die Mutter von Marinus war zu dem Zeitpunkt, als wir mit der Recherche begannen, schon gestorben. Wir konnten in diesem Fall auf die Aufnahmen zurückgreifen, die die RBB-Journalistin Gaby Probst mit ihr gemacht hatte. Neben diesen Gesprächen haben wir Verhörprotokolle von Marcel Schönfeld verwendet. Sie heben sich sprachlich deutlich von den übrigen Gesprächen ab. Sie wurden von einem Protokollanten verfasst, der bei den Verhören anwesend war. Marcel musste sie am Ende der Verhöre auf Richtigkeit prüfen und unterschreiben. Es ist eine merkwürdige Mischung von Amtsdeutsch und Zitaten von Marcel. Dazu kommen Gerichtsprotokolle, also Mitschriften aus dem Prozess, Anklageschrift und Urteilsverkündi238

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Andres Veiel: Die Grenzen des Darstellbaren

gung, aber auch die Predigt des Pfarrers. Sie bilden einen weiteren Kontrast zu den umgangssprachlichen Gesprächsprotokollen. Wir haben die einzelnen Gespräche in sich gekürzt, thematisch Ähnliches zusammengeführt, Doppelungen und andere Redundanzen herausgenommen, manchmal etwas Mundart reduziert. Wichtig war uns, dass der Sprachkörper einer Person an sich erhalten bleibt. Wenn man sich genauer damit beschäftigt, merkt man, wie unterschiedlich jeder spricht. Da ist nichts austauschbar. Überraschend ist die sinnliche, manchmal fast poetische Qualität mancher Protokolle. In den meisten Debatten wurden die Täter in einen Monsterkäfig gesperrt. Ich wollte sie da von Anfang an herausholen. Wir müssen uns die Täter als Menschen vorstellen. Wir geben ihnen eine Biographie. Das ist die eigentliche Provokation. Dabei soll die Tat nicht verharmlost, aus den Tätern nicht Opfer gemacht werden. Diese Balance zu halten fällt nicht immer leicht. Die Täter kommen aus einem Elternhaus, wie es Hunderttausende in diesem Land gibt. Zwei der drei Täter hatten eine Perspektive: Sie hatten gerade eine Lehre begonnen. Dieser normal-unheimliche Hintergrund macht die Tat so bedrohlich und rückt sie gleichzeitig sehr nah an jeden von uns heran. Es ist in Potzlow passiert, aber Potzlow ist, fast, überall. Im Vergleich zu den neueren rechtsextremistischen Gewalttaten ist der Potzlower Mord singulär. Aber unsere Tiefenbohrung versucht, eine Art Werkzeugkasten zur Analyse der anderen Fälle zu liefern. Anders gesagt: Wenn man sich mit der Frage »Was kann man tun gegen rechte Gewalt, was kann man ändern« auseinandersetzt, muss man sich erst einmal mit einem Fall kompromisslos beschäftigen. Das haben wir versucht. Während der Recherchen schaute ich mir auch die Tatorte an – den Trog im ehemaligen Schweinestall, in den Marinus Schöberl beißen musste, bevor Marcel Schönfeld auf seinen Kopf sprang. Diese Bilder verfolgen mich bis in den Schlaf. Bei Der Kick sind Schauspieler und dargestellte Person nicht mehr eins, sondern viele. Diese Form der De-Personalisation hat mich sehr gereizt. Ich hatte mit Susanne-Maria Wrage und Markus Lerch zwei herausragende Schauspieler, die mit minimalen, subtilen Mitteln die verschiedenen Rollen akzentuiert darstellen können. Sie spielen fast 20 Rollen, vom Täter bis zur Mutter des Opfers, dem Pfarrer und dem Bürgermeister. Der jugendliche Täter Marcel wird von einer Frau dargestellt, die Mutter des Opfers von einem Mann. Wir hoffen, über die abstrakte Aufbereitung des Falls eine produktive Distanz aufzubauen. Der Zuschauer soll nicht bei der Monstrosität der Tat stehen bleiben, er soll sich mit uns auf eine Suche im Ursachengestrüpp einlassen. Durch den Rollenwechsel und der Vorgabe, dass eine Frau Männerrollen spielt und umgekehrt wollen wir versuchen, den Fall universell zu verhandeln: Potzlow ist überall und über239

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all ist Potzlow. Diese These ist auch Ergebnis unserer Recherche. Die Bedingtheiten für die Tat finden sich nicht nur in der Uckermark. Wir verlassen uns bei den Proben nur auf die Texte. Die beiden Schauspieler hören weder die Originalaufnahmen der Interviewten, noch zeigen wir ihnen Material aus den in Potzlow gedrehten TV-Beiträgen. Wir wollen verhindern, dass sie die dargestellten Personen imitieren. Wir machen eine erstaunliche Entdeckung. Die Schauspieler nehmen die Text in sich auf – und entwickeln daraus eine reduzierte Körperlichkeit der jeweiligen Figur, die den Befragten im Dorf sehr nahe kommt. Diese Erfahrung hat uns bestätigt, uns nur auf die Texte zu verlassen. Die Tat hat ein mediales Vorbild. In dem Film American History X springt ein weißer Skinhead auf den Kopf eines Schwarzen. Die Leiden des Opfers werden im Film nicht gezeigt. Stattdessen wird der Täter heroisiert. In Zeitlupe läuft er mit gestähltem nacktem Oberkörper auf die Kamera zu. Marcel Schönfeld hat diesen Film zwei Wochen vor der Tat gesehen. Als er Marinus auffordert, in den Schweinetrog zu beißen, denkt er an die Bilder des Films. Je länger wir mit den Texten arbeiten, desto klarer wird uns, dass wir auf jegliche Bebilderung verzichten können. Wir zeigen im Stück keinen Ausschnitt aus dem Film American History X. Wir brauchen auch nicht die Fotos von den Tätern oder vom Opfer, die Landschaftsaufnahmen der Region. Die Bilder entstehen im Kopf. Der Zuschauer ist selbst gefordert, sich aus den Angeboten etwas zusammenzudenken. Vielleicht liegt in dieser Offenheit der Aufbereitung der eigentliche Kern von »Wahrhaftigkeit«. Wir behaupten nicht: so ist es gewesen. Es wird nichts bebildert. Lediglich die Sprache der jeweiligen Person ist »authentisch«. Wir arbeiten mit Klarnamen. Schon während der Proben zeigt sich der grundlegende Unterschied zwischen Theater und Film. Das Theater muss für eine Riesentotale eingerichtet werden. Der gesamte Raum muss für eine Einstellung von etwa 80 Minuten Dauer inszeniert und gestaltet werden. Beide Schauspieler haben keine Probleme, den Raum zu »füllen«. Vieles aber, was sie an Feinstofflichem entwickeln, geht in der Tiefe des Raumes zwangsläufig verloren: das Zucken mit einer Augenbraue, das nur mit dem Anheben eines Mundwinkels ausgelöste leise Lächeln. In diesem Moment war für mich klar, dass ich mit dem Stoff auch einen Film machen will. Die erste Idee war: Mit der Kamera will ich die mikroskopische Feinstruktur des Textes herausarbeiten. Ich wusste, dass ich damit eine scheinbar andere Geschichte neu erzählen kann. Was im Theater Leere ist, füllt im Kino die Leinwand. Der Film holt die Schauspieler nah ran, zeigt ihr Gesicht als Landschaft. Damit wird auf einer ganz anderen Ebene erzählt. 240

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Als wir über die Auflösung nachdachten, ist meine anfängliche Euphorie in Bezug auf Großaufnahmen erst mal gründlich erschüttert worden. Der vielfache Rollenwechsel im Stück funktioniert sehr stark über den Körper. Kleine Akzentverschiebungen in den Schultern, der Kopfhaltung, der Position der Hände schaffen eine komplett neue Figur. Dafür braucht es die Totale – vor allem dann, wenn der Schauspieler die Rolle, die er verkörpert, nicht ansagt. Doch auch außerhalb der Rollenwechsel haben wir uns gefragt, ob die Reduktion auf ein Gesicht nicht irritierend ist. Wird der Zuschauer dann nicht von Eigentümlichkeiten des Schauspielers abgelenkt, wie etwa den sichtbaren Poren seiner Haut, der Frisur – all das bleibt ja bei allen Rollen gleich. Kann der Zuschauer in den Naheinstellungen die Rollen auseinander halten? Dringt man als Zuschauer damit gar nicht zur Rolle vor, sondern bleibt beim Schauspieler hängen, der etwas verkörpern will? Mitte Mai 2005, drei Wochen nach der Premiere in Berlin und Basel, ist der Film finanziert – mit dem ZDF Theaterkanal und dem Medienboard. Später wird die FFA noch über Referenzmittel die Kinokopie finanzieren. Ende Mai 2005 drehen wir das Stück in vier Tagen und Nächten. Es geht nicht darum, Theater abzufilmen. Bei der filmischen Inszenierung haben wir sehr auf reduzierte Mimik und Gestik geachtet. Letztendlich haben wir auf diese Weise auch die Großaufnahme gerettet. Wir sehen eben kein Grimassenstudio. Sondern da wird ein Gesicht zur Landschaft einer entwurzelten, verstörten Seele. Das hat mich interessiert. Ich wollte aus dem Korsett der Theater-Totalen ausbrechen. Dafür muss ich dem Kino-Zuschauer, der nicht mehr die Entscheidungsfreiheit hat, innerhalb der Totalen selbst auszuwählen, etwas anderes bieten. Wir haben Pausen gesetzt, Blicke verlängert, das Schweigen zelebriert. Darin entfaltet sich ein anderer Subtext der Figuren. Damit funktioniert der Film vollkommen anders als die Aufführung, er bekommt einen anderen Rhythmus. Wir öffnen einen anderen Resonanzboden. Die Halle, in der wir gedreht haben, kann je nach Lichtführung unterschiedliche Räume im Kopf des Zuschauers öffnen. Er kann die nüchterne, betonierte Härte eines Verhörraums abbilden, er kann an den Tanzsaal einer verlassenen Dorfgaststätte erinnern, er kann sich in den sakralen Raum einer Kirche verwandeln oder den Stall assoziieren. Wir haben für den Dreh Strukturen in den Wänden oder im Gebälk des halbrunden Dachgiebels sichtbar werden lassen, die im Theater im Schwarz abgesoffen sind. Das Theater reduziert den Raum, im Film öffnen wir ihn. Dazu kommt die Tonebene, die immer unterschätzt wird. Über die Tonebene holen wir uns das wieder zurück, was wir über das Bild auflösen: die jeweils besonderen Räume der Figuren. Jeder Protagonist bekommt eine Raum-Atmo, an der wir sehr lange feilen. Ich habe mir schon während 241

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der Dreharbeiten überlegt, dass wir nicht mit Musik arbeiten, sondern nur mit Geräuschen klanglich etwas entwickeln werden. Der Ort war dafür eine riesige Fundgrube. Es hört sich an, als ob es zufällig auftretende Geräusche sind, aber es ist nichts dem Zufall überlassen worden. Der Film wird auf der Berlinale 2006 uraufgeführt. Zwei Themen beherrschen die Diskussionen um den Film. Das eine ist seine Zuordnung. Unbestritten in den Debatten ist, dass der Film nicht ein Theaterstück abfilmt, sondern ein eigenständiges filmisches Werk ist. Dennoch haben manche Zuschauer Schwierigkeiten mit der Abstraktion des Dargestellten. Sie erwarten, dass zwischen den Monologen der Schauspieler Aufnahmen von Potzlow, vom Stall und vor allem von den »wirklichen Menschen« gezeigt werden. Für die anderen ist genau diese Reduktion die Stärke des Films. Für sie entwickelt der Film eine dokumentarische Kraft allein durch die vorgetragenen Interviews. Die befragten Protagonisten würden durch die Texte ein Gesicht bekommen, die Schauspieler wären quasi das »Medium« der Protagonisten. Gerade weil die Texte durch Schauspieler vorgetragen werden, höre man ihnen intensiver zu. »Wenn ich den Originaltäter sehe, mit Glatze und SS Rune, der vor einer Kamera etwas vor sich hin stottert, wäre ich von seinem Outfit so abgestoßen, dass ich mich gar nicht auf ihn einlassen könnte, ob der Mann vielleicht doch etwas zu sagen hat«, so einer der Zuschauer. Für andere ist der Weg, authentische Texte durch Schauspieler vortragen zu lassen, eine unsinnige Aushöhlung der dokumentarischen Idee. Interessanterweise erkennen die Zuschauer dieser Gruppe durchaus an, dass es eine Grenzüberschreitung zwischen dem Fiktionalen und dem Dokumentarischen gibt – und auch geben soll. Nur wird diese Grenzüberschreitung dem Spielfilm zugestanden, der sich durchaus der dokumentarischen Mittel bedienen kann (Wackelkamera, Improvisation der Texte). Der Dokumentarfilm sollte sich, so das Argument, gerade durch die zunehmende Dokumentarisierung der Spielfilme und der Fiktionalisierung des Dokumentarischen wieder auf den Kern dessen besinnen, was seine eigentliche Qualität ist: der Beobachtung von Wirklichkeit. Ist das der Anfang einer neuen alten Debatte um den puristischen Dokumentarfilm als dem eigentlichen Seismograph von Wirklichkeit? Abschließend möchte ich nochmals auf die Frage des Mediensprungs bzw. der Transformationsleistungen der beiden Medien zurückkommen. Geht nun vom Theater oder vom Film eine höhere »authentische Kraft« aus? Theater hat immer etwas Vorläufiges und Offenes, weil es in jeder Probe, in jeder Vorstellung korrigiert werden kann. Deshalb ist gutes Thea242

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Andres Veiel: Die Grenzen des Darstellbaren

ter trotz seiner Abstraktion sehr nah dran am Leben. Es ist in diesem Sinne eine komplementäre Form des dokumentarischen Arbeitsprozesses. Ich glaube, dass das Theater neben den klassischen dokumentarischen Methoden wie Beobachtung und Interview eine weitere Möglichkeit ist, über Menschen, die sich im Leben – und dazu gehört die Bühne – inszenieren, etwas Neues zu erfahren. Die Bühne ist der Ort, wo alles passieren kann, was im Leben verboten ist. Damit stellt sich der Begriff des Authentischen auf den Kopf: Im Schutz der Rolle kann ein Protagonist in »wahrhaftige« Dimensionen vordringen, in die er sich »privat« nicht getrauen würde. Und noch etwas anderes finde ich im Verhältnis Bühne und Film befruchtend: Die Bühne ist ein abstrakter Raum, die ich auf das Wesentliche reduzieren, ihn sogar komplett entkernen kann. Filmregisseure wie Lars von Trier haben erkannt, dass dieser theatrale Minimalismus ihnen hilft, sich auf den Kern ihrer Geschichte zu konzentrieren. Wenn jemand die Tür öffnet, brauche ich keine reale Tür. Ich konzentriere mich ausschließlich auf die Handbewegung des Schauspielers und sein überraschtes Gesicht über das, was er im Raum antrifft. Im Kick gehe ich noch einen Schritt weiter. Die Stimmen der Täter, der Opfer und des Dorfes verschmelzen in einem oder zwei Körpern. Das ist für mich filmisches Neuland gewesen. Dass diese radikale Form im Film so gut funktioniert, hat mich selbst überrascht. Ich glaube, dass das mit der »authentischen Kraft« des Films zu tun hat. Der Film gibt mir meinen Blick vor, ich kann schwerer entkommen. Ich muss im wörtlichen Sinn näher hinschauen. Ich glaube, dass der Film in diesem Sinne das stärkere Medium ist.

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Regie: Jürgen Gosch, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz (v.l.n.r.: Ernst Stötzner, Thomas Wittmann)

Abbildung 4: William Shakespeare: Macbeth (Schauspielhaus Düsseldorf 2005)

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Theresia Birkenhauer: Die Zeit des Textes im Theater

Die Zeit des Textes im Theater 1 Theresia Birkenhauer

I. Eröffnung Der aktuelle Diskussionszusammenhang zum Thema Drama und Theater hat sich deutlich verändert. Stand noch bis in die 80er Jahre das Verhältnis von Text und Inszenierung im Zentrum der Diskussion: die Frage, wie groß die Freiheit der Regie gegenüber dem Text sein darf oder umgekehrt, wie ausgeprägt die Demut vor dem Text sein muss, so stehen heute ganz andere Dinge in Frage: nicht mehr das ›Wie‹ der Inszenierung eines Textes – das ›Ob überhaupt‹. Etwas schematisch lassen sich die unterschiedlichen Diagnosen dieses Zustandes so resümieren: 1.

Das Drama als literarische Gattung mit bestimmten Merkmalen ist längst nicht mehr die privilegierte literarische Form, die das Theater interessiert. Es gibt schon eine ganze Weile keine Texte mehr, die aufgrund ihrer formalen Eigenheiten ›bühnenuntauglich‹ wären. Prosatexte, Romane, Epen, Lyrik, Hörspiele: alle Arten von Texten werden auf der Bühne ›realisiert‹, ohne im üblichen Sinn ›dramatisiert‹ zu sein – das Alte Testament ebenso wie der Romanbestseller der letzten Saison, Filmdrehbücher oder Texte bekannter Autoren – wie Ingeborg

1. Der vorliegende Beitrag entspricht der Vortragsfassung von Theresia Birkenhauer (gehalten am 17.11.2005 im Rahmen der CR2A-Tagung Dramatische Transformationen an der Universität Rouen) und wurde von Prof. Dr. Hermann Kappelhoff und dem Herausgeber durchgesehen sowie im Kontext der Fußnoten/Anmerkungen geringfügig vervollständigt.

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Zeit – Zeitlichkeit

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Bachmann und Franz Kafka –, die nicht für die Bühne geschrieben wurden.2 Gleichzeitig haben sich dramatische Formen grundlegend verändert und sind nicht länger durch tradierte Gattungsmerkmale – wie dialogischen Strukturen oder einen Handlungsverlauf – Dialog, Konflikt, – zu klassifizieren. Theoretisch hat dies zu der Konzeptualisierung von Merkmalen des dramatischen und des nicht mehr dramatischen Theatertextes geführt. Behauptet wird eine Zäsur zwischen dem dramatischen Theater – als dem Schauplatz sprechender Figuren in fiktionalen Handlungen – und dem postdramatischen Theater – als dem Ort polyphoner Diskurse und entbundener Signifikanten. Sie wird verbunden mit einer These über die Funktion der Sprache. Im dramatischen Theater, so die These, stelle der Text Handlungsentwürfe für ein fiktionales Geschehen dar und ist Rollentext, [also Figurenrede], Theatertexte jenseits des Dramas, hingegen zeigen eine selbstreflexive Thematisierung der Sprache. Auf diese Weise entstehen pointierte Gegenüberstellungen: hier ein Theater der Worte, dort ein Theater der Körper, hier textfixierte Repräsentation, dort performative Präsenz, hier Sinn, dort Sinnlichkeit. Gleichzeitig wird beobachtet, dass sich das Theater zunehmend ganz von Texten verabschiedet. Happening und Performance, in den 60er Jahren durch die bildenden Künste in das Theater exportiert, sind nicht mehr nur Randphänomene; sie bestimmen die Programme von Festivals und nehmen auch im Spielplan der subventionierten Theater einen prominenten Platz ein. Gibt es ein Verschwinden des Textes zunächst im – und dann ›aus‹ dem Theater? Sind die Ursachen dieses Prozesses Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Sprache zugunsten einer größeren Evidenz des körperlichen Ausdrucks? Überdruss an einer »bloß intellektuellen Bestandsaufnahme«3? Oder betreffen die Zweifel die Grenzen des Symbolisierbaren und Sagbaren? Allerdings wird konstatiert, dass diese Entwicklung wieder rückläufig ist: man spricht – seit der Mitte der 90er Jahre – von einer Rückkehr

2. Dabei reicht das Spektrum der szenischen ›Realisation‹ vom Vorlesen über die dramatische Adaption bis zur elektroakustischen Wortcollage als Soundtrack. 3. Bruno Tackels: An der Bruchstelle zwischen Text und Performance, Momentaufnahmen im französischen Theater, in: Theater der Zeit 9/05, Insert, S. 3-8, S. 6.

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Theresia Birkenhauer: Die Zeit des Textes im Theater

des ›Textes‹ und sogar von einer Wiederentdeckung, bzw. einem Recycling, traditioneller dramatischer Formelemente. Die Gründe für diese Entwicklung werden unterschiedlich benannt. Das Programm der Theatermoderne: die Retheatralisierung der Ausdrucksmittel der Bühne sei mit den vielfältigen Theaterästhetiken, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, in großem Ausmaß realisiert – und damit erschöpft. Mit den neuen technologischen Möglichkeiten, die ein vielfältiges Spiel mit der Virtualität der Körper, der Stimmen und der Räume ermöglichen, sei die vorerst letzte Etappe dieser umfassenden Entfaltung aller Ausdruckspotentiale der Bühne erreicht. Im Gegenzug entstehe ein neues Interesse an Texten, an Sprache. Andererseits wird die Wiederentdeckung dramatischer Formen auf die veränderte gesellschaftliche Realität bezogen. Nach den selbstreflexiven ästhetischen Experimenten und Spielen der 80er und 90er Jahre, in denen das Theater sich nur auf sich selbst bezogen habe, bestehe heute angesichts der tief greifenden Veränderungen der westlichen Gesellschaften wieder ein Bedürfnis nach der Thematisierung von Konflikten – und damit nach dramatischen Formen: mit Handlungen, Krisen und Katharsis, so etwa John von Düffel.

Diffusion: Text, Drama, Sprache Wie auch immer man diese Tendenzen gewichten möchte, zu beobachten bleibt eine Erosion des vertrauten Terrains. Ich möchte mich auf einen Aspekt konzentrieren, der nicht zuletzt ablesbar wird in begrifflichen Irritationen. Seit den 60er Jahren häufen sich die terminologischen Vorschläge, die den Begriff Drama ersetzen sollen. »Literarisches Textsubstrat«4, »Bühnenstück«5, »Theatertexte«6, »Theaterliteratur«7, »Spieltexte«8, Spielvorlage oder nunmehr ganz schlicht: Texte. Entsprechendes gilt für den Begriff Figur; vorgeschlagen wird von 4. Manfred Pfister: Das Drama, 5. erg. Aufl., München 1988, S. 28. 5. Vgl. Klaus Müller-Dyes:"Gattungsfragen«, in: Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering, Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 322-348, S. 343. 6. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, München 1997, S. 38. 7. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 48. 8. Hans-Peter Bayerdörfer: »Drama/Dramentheorie« in: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 80.

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»Textträgern«9, »Diskursinstanzen« oder »Verlautbarungsinstanzen«10 zu sprechen. In Frage steht nicht nur die literarische Eigenständigkeit des Dramas angesichts einer zunehmenden Praxis des Schreibens mit und von der Bühne (mit Sarah Kane gefragt. »Ist das Theater anspruchsvoller als die Stücke?«11). In Frage stehen ebenso der Ort und die Funktion des Textes im Theater. Wie soll man benennen, was nicht mehr eindeutig Rollentext ist: als theatrale Rede, Sprache, Sprechen, Poesie?

Müller: Die Zeit des Textes im Theater In Zusammenhang dieser Fragen habe ich an eine Formulierung Heiner Müllers gedacht aus einem Interview mit Robert Weimann: » […] ich meine, dass die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird«.12 1989 ist dies eine seltsame Prophezeiung. Wäre nicht Müller, dessen Stücke das Theater radikal verändert haben, der Autor dieser Sätze, könnte man sie für ein längst obsolet gewordenes Plädoyer für das Prinzip der Werktreue halten, (in dem sich die Forderung nach der Treue gegenüber dem Text verbindet mit Vorstellungen von einem auf das Wort gestellten Theater.) Natürlich ist es mehr als evident, dass Müller für eine solche – in der Tat anachronistische Position nicht zu vereinnahmen ist. Um so aufschlussreicher ist deshalb die Frage, wie sich Müllers Bekenntnis zu einem Theater des Textes unterscheidet von dem, was man gemeinhin Literaturtheater nennt, einem Theater, das ganz selbstverständlich von sich in Anspruch nimmt, den Text – vor allem anderen – in das Zentrum der Aufführung zu stellen. Eben diesen Anspruch spricht Müller diesem Theater ab: die Praxis des Literaturtheaters bezeichnet er als ›Texte verwalten‹, als »Administrieren von Texten«: Seine Schlussfolgerung ist deshalb prinzipiell: »mir scheint, dass wir im Theater noch gar nicht wirklich mit Texten gearbeitet haben«.13 9. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 309. 10. Vgl. Katharina Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, Tübingen 1998, S. 55. 11. Theater der Zeit, 9/05, Insert, S. 6. 12. Heiner Müller, Robert Weimann: »Gleichzeitigkeit und Repräsentation. Ein Gespräch (1989)«, in: Robert Weimann/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt a.M. 1991, S. 195. 13. ebd.

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»Noch gar nicht wirklich mit Texten gearbeitet« … Müller beschreibt etwas Ausstehendes: Deshalb zwei Fragen: – –

Wie lässt sich das Verhältnis von Text und Theater neu denken jenseits der gängigen Dichotomien? Und zunächst einmal: Warum beharrt Müller auf dem Text? Was ist der Text?

Die eigene Wirklichkeit von Texten – nicht: seine Materialität Im Kontext des Interviews präzisiert Müller seine Überlegungen, es geht ihm um die »eigene Wirklichkeit von Texten«. »Der Text wird im deutschen Theater nicht als Wirklichkeit anerkannt, er wird nur benutzt, um Mitteilungen über Wirklichkeit zu machen. Und das ist eine Degradierung von Texten, das negiert die eigene Wirklichkeit von Texten.«14 und noch radikaler: »Mich beschäftigt die Frage, wie ein Text, unabhängig vom Schauspieler, der ihn spricht, auf der Bühne zur Realität werden kann«.15 Was ist damit gemeint, was ist die »eigene Wirklichkeit von Texten?« Die Formulierung widerspricht einem Selbstverständnis, das das moderne europäische Theater seit dem 18. Jahrhundert geprägt hat. Hier ging es stets darum, Texte (als Texte) zum Verschwinden zu bringen: den toten Buchstaben durch die lebendige Bewegung, die Künstlichkeit der Schrift durch die Realität des Körpers, die Linearität des Satzes durch die singuläre Geste, das Schwarz-Weiß der graphischen Schriftspur durch die Farbigkeit des Dekors. Daraus begründet sich die tradierte Arbeitsteilung zwischen Literatur und Theater: Texte sind auf die Bühne angewiesen, weil sie erst hier zu ihrer Bestimmung finden: als Rede lebendiger Menschen, als Äußerung fiktiver Figuren. In Müllers Sätzen hingegen formuliert sich eine Umkehrung: das Theater ist ihm zufolge ein Ort, um Texte als Texte erfahrbar zu machen. 14. Heiner Müller im Programmbuch zu Robert Wilsons the CIVIL warS (Köln 1984), zitiert nach Manfred Pfister, Meta -Theater und Materialität. Zu Robert Wilsons the CIVIL warS, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, S. 454 – 473, S. 458. 15. Heiner Müller: »Stirb schneller Europa«, in: ders, Zur Lage der Nation. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, Berlin 1990, S. 25 – 42, S. 38.

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Damit widerruft er das geläufige Verständnis. Wenn er sagt, dramatische Texte sind auf das Theater angewiesen, dann gerade nicht, weil sie der Ausdrucksmittel der Bühne bedürfen, (um das, was sie eigentlich sind, um Theater zu werden), sondern um in ihrer eigenen Realität – als Texte erfahrbar zu werden. Offenbar kommt ihnen diese Realität als solche ohne weiteres nicht zu. Man hat Müllers Forderung häufig verstanden als eine Kritik an einer Darstellungspraxis, die den Text durch Interpretation verkleinert auf das Maß des gerade Denk- und Darstellbaren, und entsprechend als Option für einen anderen schauspielerischen Umgang, der Texte in ihrer Materialität, ihrer Musikalität, ihrem Rhythmus ernst nimmt. In den frühen 80er Jahren war Wilson ein Beispiel dafür, später war es das Theater Angelus Novus (von Joseph Szeiler) oder Einar Schleef. Doch – so oft Müller sich dahingehend äußert – und von der Melodie, von Körperlichkeit, von Physis spricht – er begründet die Notwendigkeit des Theaters für die Texte gerade nicht mit Blick auf dessen Medialität, die genuinen Ausdrucksmittel der Bühne. Ihm zufolge wäre die Frage umzudrehen: nicht, warum brauchen Texte Theater, sondern: Warum ist das Theater ein Ort für Texte. Inwiefern erlaubt die Bühne eine Erfahrung der eigenen Wirklichkeit der Texte – die nur hier möglich ist?

Text und Theater = die Zeitlichkeit des Textes Und hier komme ich zu dem zweiten Aspekt der Formulierung: »Die Zeit des Textes« im Theater – dies meint auch die Zeit, die die Texte durch das Theater erhalten. Dies betrifft nicht allein die Zeitmodi der Bühne – inszenierte Zeitformen wie Dauer, Beschleunigung, Repetition, Dehnung etc., – sondern auch die Zeit, der die Texte durch das Theater ausgesetzt werden. Das Theater ist für Müller weniger eine Ausdrucksmaschine, denn ein Zeitverhältnis, in dem unterschiedlichste Zeiten gleichzeitig präsent sind. In seiner Formulierung: es ist »die Kollision (das Drama) der Zeitebenen des Materials des Autors der Darsteller und des Publikums, die seinen Lebensraum bestimmt«16 wird dies deutlich. Das Theater konfrontiert die Texte mit seiner jeweils eigenen Gegenwart. Auf diese Weise werden sie einer Perspektive unterworfen, die nicht ihre eigene ist; sie werden einer zweiten Zeit exponiert. Aber eben dies verweist auf die eigene, die spezifische Realität von Texten, die Tatsache, 16. Brief an Dimiter Gotscheff (Herzstück). In Herzstück gibt es diesen Brief. Vgl. Heiner Müller, Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet, in: ders., Herzstück, Berlin 1983, S. 102 – 109.

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dass sie etwas beinhalten, das in ihrer eigenen Zeit nicht aufgeht. Texte sind eben dies: poröse Formen, die als sedimentierte Sprache unterschiedliche Zeitschichten – und damit unterschiedliche Erfahrungen bergen. Deshalb ist das Theater ein für Texte notwendiger Ort, weil es ermöglicht, dass Texte hier zu ihrer eigenen Wirklichkeit kommen, als Aggregate, die unterschiedliche Gegenwarten von Denken, von Bewusstsein aufeinander beziehen, eine Wirklichkeit die sie, bleiben sie für sich, nicht haben, denn diese Wirklichkeit stellt sich erst her in der Konfrontation mit dem Anderen, der anderen Zeit.

Exkurs Zwei Gedanken sind hier verschränkt: Wie dem Theater ist auch Texten eine heterogene Zeitstruktur eigen: sie sind Zeitaggregate. Begründet ist dies in ihrer sprachlichen Verfasstheit. Sprache ist nicht lediglich ein dem Ausdruck des Subjekts zur Verfügung stehendes Medium, sondern umgekehrt: sie konstituiert einen Erfahrungsraum für das Subjekt, der es begrenzt, aber auch überschreitet. Insofern sind Texte nie allein Mitteilung, die etwas aussagen, sei es die Verfasstheit des Schreibenden, seien es Informationen über Sachverhalte. Sie bergen ebenso qua Sprache Erfahrungen, die jenseits der Intention des Autors liegen. Immer wieder betont Müller, wie wenig die Sprache einem Einzelnen zugehört: »Ich würde nicht behaupten, daß ich mir die Sprache aneigne, sondern es ist paradoxerweise umgekehrt, die Sprache eignet sich mir an. Also meine Fähigkeit ist, ihr nachzugeben, gar nicht so sehr, sie zu beherrschen.«17 Die Sprache ist – wie die Erinnerung – etwas Unverfügbares. Müller hat dies zuweilen lakonisch formuliert: »Ich schreibe mehr, als ich weiß. Ich schreibe in einer anderen Zeit als der, in der ich lebe.«18 Eben diese Realität des Textes als Sprache bedarf des Theaters, um erfahrbar zu werden. Inszenierungen lassen sich verstehen als Verfahren, die einen Raum organisieren, in dem die unterschiedlichsten Zeiten – die Zeit der Texte, der Darsteller/der Darstellung, des Publikums – in der Gegenwart der Aufführung aufeinander treffen, in der Schwebe gehalten werden, sich brechen. Müller fasst dies lapidar, wenn er sagt, das Theater sei der Ort, wo Texte »arbeiten« können. 17. Heiner Müller, Robert Weimann: Gleichzeitigkeit und Repräsentation, S. 196. 18. Heiner Müller: Rotwelsch, Berlin 1982, S. 79.

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Auch hier die Umkehrung der vertrauten Vorstellung, derzufolge Texte Material sind, dem erst, angereichert durch aktuelle Bezüge, von Inszenierungen zur Gegenwart aufzuhelfen ist. Es ist diese vor allem durch das Regietheater geprägte Vorstellung einer Aktualisierung, der Müllers eigene Inszenierungspraxis entschieden widerspricht. Das Regietheater beruht in doppelter Weise auf dem Modell der Autorschaft: zum einen wird Texten immer schon eine Aussage unterstellt, die dann wiederum durch die Inszenierung – das Regiekonzept – korrigiert, affirmativ unterlaufen oder subversiv ironisiert wird/werden soll. Eben dies meint: Texte verwalten. Müllers Option ist hingegen: nicht durch eine Aktualisierung werden Texte gegenwärtig – hier bleibt die Orientierung an eine den Texten unterstellte vorgängige Bedeutung dominierend, sondern umgekehrt: indem man ihnen folgt und entdeckt, was in ihnen verschlossen ist, ein unbekanntes Denken, das mit der eigenen Gegenwart nicht ohne weiteres kommunizierbar ist. Müller erläutert dies am Beispiel seines Stücks Der Lohndrücker, das er fast dreißig Jahre nach der Erstaufführung 1988 am Berliner Ensemble inszenierte. Nicht durch ein Regiekonzept, das das Stück neu interpretiert und mit den Verhältnissen der untergehenden DDR konfrontiert, sondern indem sie »eisern von den Texten« ausgeht, (seinen Zwängen folgt) – entdeckt die Inszenierung dessen eigene Realität: Der Lohndrücker erweist sich so nicht als das Produktionsstück der frühen DDR, sondern – so Müller: als »Diagnose eines Krankheitsbildes«. »Der Text wußte mehr als der Autor« so der Kommentar.19 Das Theater ist jene Praxis, die Texte überhaupt erst in den Zustand versetzt, als solche in Erscheinung zu treten, geformte Texturen, die nicht aufgehen in den Intentionen ihres Autors. Das Theater eröffnet so die Möglichkeit, jene gängige und zugleich harmlose Vorstellung von Texten zu widerrufen, die in ihnen kondensierte Mitteilungen und Ansichten sieht. (Müllers Kritik an Brechts Parabelstücken hat hier ihren Ort: sie begründet sich durch die Kritik an der kalkulierten Intention.)

19. Die Inszenierung realisiert dieses ›Wissen‹, indem sie in den Konflikten um den Helden der Arbeit die grundlegenden Ambivalenzen von Produktivität freilegt, die unerledigte Spannung zwischen Naturbeherrschung und Selbstbeherrschung. »Daß die Krankheit ein Geburtsfehler war, eine Erbkrankheit vielleicht, war die Entdeckung der Inszenierung«. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln 1992, S. 352.

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*** Eben dies ist thematisiert, wenn Müller fragt: »Wie macht man einen Text zum Nilpferd?«; oder wenn er sagt: »Der Text ist der Coyote. Und man weiß nicht, wie der sich verhält.«20 Der Text ist Tier – etwas Fremdes, nicht Menschliches. Die Inszenierung hat die Aufgabe, den Prozeß zu organisieren, in dem Texte für Zuschauer überhaupt erst wieder zu Coyoten werden, ihre Fremdheit, das Nichtsubjektive erfahrbar wird. Ein Text, das ist, so Müller, »ein Gestein, ein Material, das je nach dem Einfall des Lichts, je nach Witterung, anders aussehen kann.«21

20. Heiner Müller, Robert Weimann: Gleichzeitigkeit und Repräsentation, S. 195: »Inszenieren bedeutet ein bestimmtes Potential des Phänomens ›Text‹ überhaupt erst erfahrbar zu machen: das Nichtsubjektive, seine Fremdheit, seine Schönheit, seine Form: […]« An anderer Stelle betont Müller insbesondere das utopische Moment der Inszenierung der Textform: »Die Theaterpraxis ist so, daß Inhalte transportiert werden, es werden Mitteilungen gemacht, mit Texten, es wird aber nicht der Text, die Form mitgeteilt […] Es wird überhaupt nicht transportiert, daß es ein formulierter Text ist und daß die Formulierung eines Tatbestandes schon die Überwindung des Tatbestandes ist. Das utopische Moment liegt in der Form, auch in der der Eleganz der Form, der Schönheit der Form und nicht im Inhalt.« Heiner Müller, Der Weltuntergang ist zu einem modischen Problem geworden, Ein Gespräch mit Uwe Wittstock, in: ders., Gesammelte Irrtümer, Interviews und Gespräche I, Frankfurt a.M., S. 180. 21. Müller reflektiert ebenso die Hinterfragungen des Schreibens von Deleuze, der formuliert hatte: »Schreiben bedeutet sicherlich nicht, dass man einem erlebten Stoff eine (Ausdrucks-)Form aufzwingt. […] Schreiben ist eine Sache des Werdens, stets unfertig, stets im Entstehen begriffen, und lässt jeden lebbaren oder erlebten Stoff hinter sich. Es ist ein Prozess, das heißt ein Weg, der sich dem Leben öffnet und das Lebbare und Erlebte durchquert. Das Schreiben ist untrennbar vom Werden: Im Schreiben geschieht ein Frau-Werden, ein Tier- oder Pflanze-Werden, ein MolekülWerden bis hin zum Unwahrnehmbar-Werden.« Vgl. Gilles Deleuze, Die Literatur und das Leben, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a.M. 2000 (Paris 1993), S. 11-18, S. 11. Müller bezieht sich auf Deleuze im Vorwort zu der von ihm hergestellten Bühnenfassung aus Brechts Fatzer-Material: »Kunst ist vielleicht auch ein Versuch der Tierwerdung im Sinne von Deleuzes und Guattaris Buch über Kafka.« In: Bertolt Brecht, Der Untergang des Egoisten Fatzer. Bühnenfassung von Heiner Müller, Frankfurt a.M. 1994, S. 12.

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Müllers Regiearbeiten Als Regisseur seiner eigenen Stücke verweigerte sich Müller denn auch der selbstverständlichen Inanspruchnahme der Texte für eine aktualisierende Interpretation, insbesondere bei Mauser (1991) und bei Duell, Traktor, Fatzer (1993). Aber ebenso wenig, auch dies folgt aus dem Gesagten, kann es für Müller eines geben: Modellinszenierungen seiner Stücke. Auch dies zeigen die eigenen Regiearbeiten: Von den zehn Inszenierungen, die er gemacht hat, sind drei Wiederholungen: zwei Mal inszeniert er Der Auftrag (1980 und 1982) zwei Mal Quartett (1991 als Teil von Mauser, 1994 als selbständige Inszenierung) und zwei Mal: Der Findling. Wolocholamsker Chaussee (1991 als Teil von Mauser, 1993 als Teil von Duell Traktor Fatzer). Bei diesen Wiederholungen geht es nicht um Interpretationsvielfalt, noch die Verschiedenartigkeit von Deutungen, sondern darum, das Potential der Texte als Form unterschiedlich wirksam werden zu lassen. Dies möchte ich am Beispiel von Quartett verdeutlichen. 1991 bildet Quartett den mittleren Teil des Abends, der aus drei Stücken besteht: Mauser, Quartett und Der Findling. Inszeniert ist das Stück als virtuoses Schauspiel, mit den Stars des Deutschen Theaters, – Dagmar Manzel und Jörg Gudzuhn – die das Spiel von Rollentausch und Verstellung souverän beherrschen. Man hat dies als Rückfall in die Darstellungskonventionen des traditionellen Schauspieltheaters verstanden – und deshalb als stilistischen Ausrutscher. Doch im Rahmen der Inszenierung ist eben dies bewusstes Zitat: ausgestellt ist das makellose Spiel mit der Illusion, in dem der Darsteller vollständig Spieler ist, nicht selbst empfindet, sondern den Eindruck authentischer Natürlichkeit bis zur Perfektion vortäuscht, also jenes Ideal des bürgerlichen Schauspiels, das sich zeitgleich mit Choderlos de Laclos Roman Les liaisons dangereuses formuliert. Gezeigt ist ein Sprechen, in dem sich jeder Unterschied zwischen gespielter Natürlichkeit, kalkulierter Verstellung und gelungener Nachahmung auflöst: eine grandiose Täuschung und ein bodenloses Spiel zugleich, in dem sich die Identitäten der Geschlechter, der phantasierten und der realen Figuren unterschiedslos verlieren. In den drei Teilen des Abends greift die Inszenierung auf historische Formen des Theaters zurück: in Mauser auf die antike Tragödie, in Quartett auf das bürgerliche Schauspiel, in Der Findling auf die groteske Farce. Thematisiert wird so das Verhältnis von Subjektivität und Sprache, individuellem Sprechen und Sprache als objektiver Struktur, das jeweils die Textur der Stücke bestimmt, in denen die Identität der Sprechenden nicht eindeutig auszumachen ist. Wer – oder was – spricht, wenn – wie in Mauser Figuren A, B und ein Chor – wie in Quartett eine fiktive Romangestalt Valmont – oder wie in Der Findling eine Vatersohneinheit auftreten? Han256

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delt sich es sich um das Sprechen einer Person, eines Kollektivs? Sprechen Lebende, Tote, Menschen oder Maschinen? Wie verschränken sich im Sprechen subjektive Rede und Sprache?22 Statt die Stücke in ihrem dramatischen Potential zu aktualisieren, fragt die Inszenierung in den unterschiedlichen Sprachgesten aller drei Inszenierungen nach den sprechenden Instanzen und überprüft, wie und ob die Rede Sprechern zuzuweisen ist, die dramatische Figuren wären und als Subjekte ihres Sprechens agierten. Anders dann die Inszenierung von Quartett 1994 – mit Marianne Hoppe und Martin Wuttke am Berliner Ensemble. Die Inszenierung stellt die Lust am rhetorischen Effekt, an der blasphemischen Pointe und der Schärfe der Sentenz heraus und entdeckt in Quartett ein Sprechen, das von der Gegenwart des Todes angetrieben ist. Die Rhetorik der pathetischen Überbietung wird akzentuiert mit dem Zitat klassischer melodramatischer Formen: das stumme Spiel, der Gesang der Heroine (Schuberts Des Baches Wiegenlied ist fünfstrophig bei dunkler Bühne zu hören), das bedeutungsgeladene Tableau. Auch die Inszenierung präsentiert sich als ein pompöses Spiel mit den symbolischen Formen von Zeremonie, Ritual und Schauspiel, bis die wechselseitigen Spiegelungen nicht mehr zu steigern sind und schließlich in einem grandiosen Finale der gesamte Bühnenraum einstürzt und mit ihm der Raum der ineinander gespiegelten Inszenierungen. Ausgesetzt einer jeweils anderen Gegenwart entfaltet Quartett hier auf unterschiedliche Weise ein Potential seiner Form – als Denkprozess. In der Inszenierung von 1991 wird ein Sprechen ausgestellt, das als Verstellung und Täuschung, als Simulation und Spiel einen hermetischen Raum errichtet, in dem zwischen gespieltem Pathos und inszenierter Passion, zwischen fiktivem und realem Tod nicht mehr unterschieden werden kann. Die Inszenierung von 1994 hingegen exponiert ein Reden, das nichts sagt, das sich in rhetorischen Formen endlos überbietet, das Steigerungen sucht, die nie zum Abschluss kommen und zeigt so ein Sprechen, das vom Bewusstsein des Todes angetrieben ist, das nicht aufhören kann. Beide Inszenierungen thematisieren den Text auf unterschiedliche Weise als Sprache und realisieren damit eine Dimension des Textes, die sich von der Darstellungs- und Mitteilungsfunktion dramatischer Rede löst.

22. (Und wie manifestiert sich Sprache: als symbolisches System, als geschichtliche Gewalt, als poetisches Ereignis, als rhetorischer Effekt?)

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Das Theater als Sprachpraxis Müller bringt wieder eine Position des Textes in den Blick, die lange verdeckt war durch die Aufführungskonventionen eines Theaters, das vorgab, dem Text zu dienen. Als so genanntes Literaturtheater hat es eine Praxis hervorgebracht, in der die Bühne wahrgenommen wurde als Ort zwischenmenschlicher Aussprache und Sprache als Mimesis individueller Rede. Damit aber wurde eine grundlegende Darstellungsstruktur des Theaters zum Verschwinden gebracht: die doppelte Perspektivierung dramatischer Rede. Grundlegend für das Theater, darin kommen alle Theorien überein, ist die Doppelung von zwei Perspektiven; beschrieben wird sie unterschiedlich: als »doppelte Funktion« dramatischer Rede, die immer zweifach adressiert ist: an die Figur und an das Publikum23; als »Überlagerung von innerem und äußerem Kommunikationssystem«24, bzw. als latente »Spaltung »zwischen den zwei Achsen: der innerszenischen Kommunikation und der außerszenischen zwischen Bühne und Zuschauern.25 Welche Konsequenzen hat aber diese Doppelung für den Text? Diese Darstellungsstruktur setzt jeden auf der Bühne gesprochenen Satz einer doppelten Perspektive aus: wir nehmen ihn wahr als Sprechen, als Rede einer fiktiven Figur im binnendramatischen Zusammenhang – hier verweist er subjektives Befinden, ist Äußerung einer Figur – und zugleich beobachten wir dieses Sprechen. Noch einfacher gesagt: die Bühne ist der Ort, an dem gesprochen wird; der Zuschauerraum hingegen der Ort, von dem aus dieses Sprechen gesehen und gehört wird. Aufgrund dieser zweigliedrigen Struktur theatraler Darstellung ist jedes Sprechen auf der Bühne einerseits Sprechakt einer Figur, andererseits vom Zuschauer wahrgenommenes Sprechen. Damit erhält die theatrale Rede einen zweiten Bezugspunkt: die gesprochenen Sätze werden aus der ausschließlichen Einbindung in den dramatischen Zusammenhang gelöst; sie erhalten einen Radius über die Figuren hinaus, so dass die Worte ein Eigenleben entfalten. Die Reden verlieren ihren ersten, allein auf die dramatische Situation bezogenen Sinn und erhalten Bedeutungsräume, die ihnen als einzelnen Repliken nicht zukommen. In der Beobachtung des Sprechens wird die Sprache selbst wahrnehmbar – in durchaus unterschiedlichen Aspekten: als symbolische Macht, als

23. Larthomas, Pierre: Le Langage dramatique. Sa nature, ces procédés, Paris 1980, S. 437. 24. Pfister, Manfred: Das Drama, S. 24 25. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, S. 230.

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geronnene Erinnerung, als System von Korrespondenzen, als metaphorisches Kraftfeld, als zweideutiges Mittel der Kommunikation. Anders gesagt: aufgrund der beiden heterogenen Räume – Bühne und Zuschauerraum –, die das Theater verbindet, koexistieren in ihm zwei diametral verschiedene Haltungen, die der in ihren Intentionen befangenen sprechenden Figuren und die der Zuschauer, für die dieses Sprechen in seinen symbolischen, imaginären und referentiellen Bezügen sichtbar werden kann. Ob und in welchen Formen dieser doppelte Bezug der Rede realisiert wird, ob explizit, als Durchbrechung des Illusionsprinzips, oder verborgen in einer dialogischen Struktur, die ausschließlich auf das dargestellte Geschehen bezogen scheint, dies unterliegt dramaturgischen und theaterästhetischen Konventionen. Oft bleibt dieser grundlegende Aspekt theatraler Darstellung verdeckt: durch die selbstverständliche Orientierung an der sprechenden Figur und die Bezogenheit von szenischer Situation und gesprochenem Text; wie in den Aufführungskonventionen des Literaturtheaters. Keineswegs ist die Achse Bühne-Zuschauer nur dort thematisiert, wo es eine direkte Adressierung an das Publikum gibt, wie in den Theaterformen der Avantgarde und Neo-Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Auch klassische Dramendialoge sind nicht ausschließlich als Sprechtexte der dramatis personae geschrieben. Als Texte für das Theater haben sie immer einen doppelten Bezugspunkt: in ihren Elementen sind sie auf eine darzustellende Szene bezogen, in ihrem kompositorischen Kalkül auf den Prozess der Darstellung, das Hören und das Sehen der Zuschauer. Dies aber hat Konsequenzen für den Blick auf Texte wie auf Inszenierungen. Bezogen auf dramatische Texte bedeutet es, Dialoge nicht ausschließlich in Hinblick auf die Figuren zu lesen – als Reden, die sie charakterisieren, ihnen eine Kontur geben, ihre Befindlichkeit ausdrücken etc. – sondern sie gleichzeitig zu lesen als Manifestationen unterschiedlicher Aspekte der Sprache. Inszenierungen sind darauf hin zu befragen, wie sie die beiden Achsen des Theaters jeweils akzentuieren. Nicht selten reduzieren sie das Potential von Theatertexten, indem sie die Auffaltung der Rede in unterschiedliche Perspektiven und Schichten übergehen: etwa wenn eines der Prinzessinnendramen Elfriede Jelineks, Die Wand, inszeniert wird als Austausch von Verbalinjurien zwischen hysterisierten Figuren – wie jüngst von Hans Neuenfels oder Sarah Kanes 4.48 Psychose präsentiert wird als Sozialstudie aus dem Alltag der Psychiatrie. Das Theater hat im Verlauf der Geschichte höchst unterschiedliche Verfahren ausgebildet, um jenes Potential dramatischer Texte zu realisie-

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ren, das eine ausschließlich auf die dargestellte Fiktion bezogene Lektüre übergeht. Es sind die genuinen Darstellungsmittel der Bühne, die jene sprachliche Dimension erzeugen: das Verschieben des Sinns der Worte durch das Bild, durch Formen der Verräumlichung, durch die Erzeugung unterschiedlicher Zeitlichkeiten, durch vielfältige Modi des Schauspiels. Es ist die Darstellungsstruktur der doppelten Perspektivierung, die eine dem Theater eigene, mit der Form Bühne verbundenen Möglichkeit einer Sprachpraxis ermöglicht. Statt zu einem Aufführungsort literarischer Werke wird die Bühne zu einem Ort, an dem mit jeder Inszenierung potentiell neue Sprachspiele entstehen. Für Müller ist die Sprache sedimentierte Geschichte, Bedeutungsmasse, deren Ablagerungen in Inszenierungen aufbrechen; die Stücke Elfriede Jelineks thematisieren die Enteignung subjektiven Sprechens in der Mimikry an eine öffentliche Sprache, die durchgängig durch legitimatorische Rhetoriken der Macht geprägt ist. Ihre Texte brauchen das Theater, als den Ort, an dem dieser Abstand zwischen dem Sprechen der Subjekte und der Sprache als objektiver Struktur erscheinen kann. Es ist weder ein bestimmtes Verständnis, noch sind es bestimmte Modi der Sprache, die dem Theater eigen wären: es ist potentiell der Ort ganz unterschiedlicher Spracherfahrungen, (sei es) der Erfahrung der Sprache als Maskierung, als Überbietung von Rhetoriken, als Zweideutigkeit der Worte, als Auslöschung des Sinns, als Gewalt der Rede, Polysemie sprachlicher Äußerungen. Entsprechend erweitert sich das Spektrum literarischer Imagination im Theater; Sprache taucht in Formen auf, die sich dramatischen Konventionen nicht mehr zuordnen lassen; Texte erscheinen als Gewebe unendlich vieler Rede- und Sprachformen, die unterschiedliche fiktionale und nichtfiktionale Horizonte einschließen. Insofern ist Müllers Beobachtung: »ich meine, daß die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird« durchaus kein restauratives Plädoyer für ein aufs Wort gestelltes Theater reiner Textualität, sondern – im Gegenteil – sie öffnet den Raum für ein Theater, in dem Sprache als Bewegung jener Sinnverdichtung, Bildproduktion und Vorstellungstätigkeit wahrzunehmen ist, die mit Worten, Sätzen und Reden initiiert wird.

Literatur Bayerdörfer, Hans Peter: »Drama/Dramentheorie«, in: Metzlers Lexikon Theatertheorie.

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Theresia Birkenhauer: Die Zeit des Textes im Theater

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Rita Thiele: Zuschauen, wie die Zeit vergeht

Zuschauen, wie die Zeit vergeht. Die Bühnenräume von Johannes Schütz Rita Thiele

»Nichts ist so unglaubwürdig wie die Wirklichkeit«, sagt Dostojewski. Und eben hier liegt die Chance des Theaters: Es liefert überschaubare Zusammenhänge und hat die Möglichkeit zu einer formalen Konsequenz und Strenge, die es im wirklichen Leben nicht gibt. Der wachsende ›Einbruch des Realen‹ (Hans-Thies Lehmann) in die Theaterpraxis widerspricht nicht artifiziellen Strategien, die das ›wirkliche Leben‹ ausloten, indem sie es konzentrieren, verdichten, explosiv beschleunigen oder – im Gegenteil – verlangsamen, jedenfalls weniger nachahmen als experimentell erkunden. Die Bühnenräume von Johannes Schütz sind optimale Laboratorien für eine Theaterarbeit, die nie die Illusion aufkommen lässt, sie bilde Leben ab. Stattdessen organisiert Schütz in seinen Räumen komplexe Wahrnehmungs- und Darstellungsstrukturen, die das Theater vor allem als Situation im hier und jetzt und weniger als Fiktion im dort und dann akzentuieren. In seinen eigenen Inszenierungen und in den Spielräumen, die er seit den achtziger Jahren für den Regisseur Jürgen Gosch entwirft, offeriert er nicht in sich geschlossene Bilder, die einen Ausschnitt des ›Lebens‹ oder der ›Wirklichkeit‹ repräsentieren, sondern offenbart den Prozess der Bearbeitung und Wahrnehmung dieser Wirklichkeit und fordert gleichzeitig in extremer Weise die Imaginations- und Interpretationsfähigkeit von Spielern und Zuschauern heraus. Im Folgenden möchte ich einige Elemente skizzieren, die die Bildwelten von Johannes Schütz ausmachen. Dabei beziehe ich mich vor allem auf seine Arbeiten mit und für Jürgen Gosch am Düsseldorfer Schauspielhaus zwischen 2000 und 2006 (obwohl ihre Zusammenarbeit schon vor gut zwanzig Jahren am Schauspielhaus Bochum begann), nicht zuletzt deshalb, weil ich selbst in dieser Zeit in Düsseldorf gearbeitet habe.

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Zeit – Zeitlichkeit

Der leere Raum Beschreibungen der Bildwelten von Johannes Schütz (fast immer entwirft er Bühne und Kostüme) beginnen oft mit der Aufzählung dessen, was alles nicht da ist: Keine Prospekte, keine Kulisse in Kleists Käthchen von Heilbronn, kein Garten, kein Gefängnis, kein Schlachtfeld im Prinz Friedrich von Homburg, keine Sommermöbel, kein Samowar, kein Birkenwald in Gorkis Sommergästen. Schütz ist ein Meister in der Kunst des Weglassens im Vertrauen auf die Spielfreudigkeit des Ensembles und die Imaginationsfähigkeit des Zuschauers. Seine Bühnenbilder sind kluge Denk-Räume, Spielfelder statt illusionistische Bebilderungen. In der Düsseldorfer Inszenierung des Käthchen von Heilbronn im Jahre 2000 gab es für jeden der 17 Darsteller einen Stuhl und einen Kleiderständer, dazu eine Himmelsleiter in den Schnürboden und einen schwebender Stahlquader: Mehr brauchte es nicht für das Spektakel: Die Thurneck- Burg wurde aus Stühlen aufgetürmt, ein brennendes Fähnchen markierte, wie sie abfackelt. Die Akteure, auch die Frauen, trugen schlichte, schwarzweiße Anzüge und verwandelten sich auf offener Bühne mit wenigen Kostümteilen vom Garderobenständer in verschiedene Figuren, markierten sogar ›Dinge‹ wie die Köhlerhütte. Der Abend war lustig und phantasievoll wie ein Kinderspiel, rückte die Schauspieler in ihrer Physik und Artikulation in den Vordergrund, hatte in seinen Bildern Platz für Poesie und Komik, aber auch für die Magie, den großen Ernst der Liebe und ihre Schmerzen. Dem (Alb-)Traumspiel Käthchen von Heilbronn bereitete Schütz den Weg mit der Himmelsleiter und dem schwebenden Stahlkubus, beleuchtet von einer einzigen nackten Glühbirne. In Düsseldorf war dieses Mobile die erste einer Reihe kinetischer Skulpturen, die in seinen Bühnenräumen immer wieder auftauchen. Schon in dieser Inszenierung verblieben die Schauspieler, die gerade keine Szene hatten, auf ihren Stühlen in der Bühne, wie Spieler auf der Ersatzbank, für den Zuschauer und die Mitspieler aber auch präsent als mehr oder minder virulente Erinnerung an die Figuren, die sie vorher gespielt hatten. Unübersehbar war das Käthchen-Bühnenbild ein Raum, der eine eindrückliche Choreographierung von Bewegungsabläufen wie das Gegeneinanderführen der beiden Hochzeitsgesellschaften zum Stückschluss ermöglichte (Schütz hat jahrelang Bühnen für das Tanztheater Reinhild Hoffmanns gebaut). Entscheidend auch die Nutzung der Drehbühne, die Stühle und Körper von der Rampenparallele zur Diagonale bewegen konnte. Alle Bühnenräume von Johannes Schütz beharren auf das Sehen, sie organisieren durch einfache grafisch-geometrische Zeichen die Blicke der Zuschauer: Zwei- und dreidimensionale Rahmensetzungen, Kreise, die Betonung von 264

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Rita Thiele: Zuschauen, wie die Zeit vergeht

Parallelen und Diagonalachsen gliedern seine Bilder wie Elemente eines genial einfachen Baukastensystems. Diese Verortung des Stückes in Zeit und Raum weist Elemente einer Theatersprache auf, die auch die künftigen Arbeiten von Schütz entscheidend bestimmen sollten. Dazu gehören: formale Strenge und Einfachheit, Minimalismus der verwendeten Zeichen, die grafisch-geometrische Organisation des Raumes, eine starke Konzentration auf die Körper der Schauspieler, offene Umbauten und Verwandlungen, weitere Strategien zur Durchbrechung des Illusionsprinzips wie das Verbleiben der Schauspieler im Raum, auch wenn sie nicht spielen, kalkulierte Fokussierungen der Zuschauerblicke, die Zeitdramaturgie des Raumes, die die Erzählzeit des Plots und die Jetztzeit der Vorstellung bewusst miteinander verkoppelt und damit eine Brücke zur Lebenswirklichkeit der Zuschauer schlägt.

Modell statt Folklore Die nächsten beiden Arbeiten von Jürgen Gosch und Johannes Schütz fanden im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses statt: Zwei Stücke des norwegischen Autors Jon Fosse, Der Name und Da kommt noch wer, zwei düster-ironische Einblicke in Einsamkeit, Kommunikationsunfähigkeit und gegenseitiges Verfehlen, angesiedelt in der Landschaft des hohen Nordens, deren prägenden Einfluss man beim Lesen zu spüren vermeint. Johannes Schütz entwarf für diese Stücke zwei Bühnen jenseits jeglicher Fjord-Folklore: ein funktional eingerichtetes Allerweltswohnzimmer für Der Name, und ein wunderbar transparentes Haus für Da kommt noch wer, in seinen Konturen aus dünnem Stahl gewissermaßen nur skizziert wie die dreidimensionale Umsetzung einer architektonischen Zeichnung. Diese graphische Visualisierung findet sich bei Schütz auch in modifizierter Form: In anderen Inszenierungen wie z.B. bei Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf?1 spannt er Schnüre, um die Umrisse eines Raumes zu definieren. Nach der tief aufgerissenen Bühne für Das Käthchen von Heilbronn nun zwei extrem flache Breitwandformate: ein niedriger Kasten für das erste Stück und für Da kommt noch wer ein lang gezogener Quader mit Giebeldach und vier schwebenden Türen, die von links nach rechts über den Eingang, die Küche, die Stube ins Schlafzimmer führten. Schütz macht seine Räume durch extreme Formate spürbar, Abstand und Nähe zu ihrer Umgrenzung, Leere und der Raum zwischen den Figuren werden zu eigenständigen Mitspielern. Kurz vor der deutschen Erstaufführung von Der Name in Düsseldorf hatte Thomas Ostermeier dieses 1. 2005 am Deutschen Theater Berlin; Regie: Jürgen Gosch

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Zeit – Zeitlichkeit

Stück in Salzburg inszeniert: als Milieustudie einer sprachlosen, ländlichen Unterschichtsfamilie. Schütz und Gosch betonten dagegen das Modellhafte der hier beschriebenen Situationen, einer schichtenspezifischen oder geografischen Lokalisierung entzog sich die Ausstattung. Die Landschaft hinter dem Panoramafenster auf der Rückwand der Bühne spiegelte mehr den Seelenzustand der Figuren, zog als riesige Projektionsfläche ihre Blicke an, so wie die Blicke des Paares in Da kommt noch wer sich immer wieder im Zuschauerraum verloren, wo das Meer angenommen war. In beiden Inszenierungen unterstützte das Bühnenbild die Entstehung einer beklemmenden Atmosphäre, von leiser, durchaus auch boshafter Ironie durchzogen. Das unbehauste Haus in Der Name: auch ein Klangraum, in dem Schritte und Türenklappern wie Perkussionselemente Schweigen und Sprechen der Menschen instrumentierend begleiteten. Dazu kam eine extreme Lichtregie, die den Figuren ihren übergroßen Schatten gegenüberstellte2. Eine Pointe selbstverständlich auch die Transparenz des Hauses in Da kommt noch wer, die von der Unmöglichkeit der Einsamkeit mindestens genauso viel erzählte wie die Angstlust der Figuren. Alles schien hier zu schweben: Nicht nur die Bilder und Fotografien an der Wand, die Fenster und Türen, die wie von Geisterhand an unsichtbaren Schnüren platziert waren, sondern auch die Menschen, die oft schweigend wie das dunkle Licht wegzudämmern drohten, um dann wieder emotional aufzuflackern, wie Wiedergänger von Beckett- oder Bernhard-Figuren.

Traumspiele Der Raum von Da kommt noch wer wirkte schon surrealistisch, wie einem (Alb-)Traum entnommen, die nächsten beiden Arbeiten von Gosch und Schütz in Düsseldorf gingen diesen Weg weiter. Beide Bühnen tiefschwarz und leer bis auf wenige, ausgesuchte Zeichen. In der nackten, weit aufgerissenen Bühne für Hamlet platzierte Schütz in der Mitte einen Trümmerberg aus Lehmziegeln, bestrahlt von einer schräg gerichteten Lichtkanone, die wie ein Fernrohr von oben ihren Strahl auf die Bühne richtete. Hamlets Kosmos: ein weißer Kreis, den Ophelia mit Pinsel und Farbe zwischen der immer wieder bewegten Drehbühne und den Brettern davor markierte, von Claudius in zwei Hälften geschnitten, wenn er sich nach und nach aus dem Trümmerberg eine kniehohe Mauer baute. Der Machtusurpator im Wiederaufbau: So fand Johannes Schütz mit Jürgen Gosch und den Schauspielern einfache Umsetzungen, die wie magische Traumbilder von den 2. Dieses Mittel benutzte er auch 2006 in Goschs Inszenierung der Drei Schwestern am schauspielhannover.

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Rita Thiele: Zuschauen, wie die Zeit vergeht

Innenwelten der Figuren erzählten. Noch minimalistischer und strenger der Raum für Prinz Friedrich von Homburg: Ein mit schwarzem Samt ausgeschlagener riesiger Raumquader, ein fast portalgroßer, metallisch schimmernder Rahmen, der sich während der Inszenierung langsam drehte, hinten ein asiatischer Gong, der geschlagen und gestrichen wurde. Das Stück endete, wie es begonnen hatte – die Schauspieler, die keine Uniformen, sondern einfache schwarze Hosen und weiße Hemden trugen, erhellten den dunklen Raum, indem sie mit flackernden Fackeln atemlos im Kreis hasteten. Um Krieg, Gehorsam, Tod hatten sie nur gestritten, eine Kopf-Bühne also, die das Drama weder in die Vergangenheit verbannte, noch plakativ aktualisierte, es im Übergang zwischen dem Vergangenen und dem Kommenden, nämlich der Realzeit der jeweiligen Vorstellung, ansiedelte. Zuschauen, wie Zeit vergeht und wie sich Menschen in ihr bewegen, ordnen, zerstören, oder chaotisch herumirren, das machen die Bühnenbilder von Johannes Schütz sinnlich erfahrbar. So wurde mit Ophelias Leiche die Mauer von Claudius wieder zum Einsturz gebracht. Noch raffinierter die slow-motion des Stahlrahmens im Prinz Friedrich von Homburg: Zum einen wurde die Spannung zwischen Bildausschnitt und Totale betont, zum anderen durch die ständige maschinelle Bewegung eine Kraft spürbar, die das Dargestellte unaufhörlich veränderte und die Bühnenfiguren einem äußerlichen Gesetz unterwarf – so wie wir dem Fluss der Zeit ausgesetzt sind.

Experimentelle Bildwelten In Düsseldorf war spätestens seit den Sommergästen 2004 spürbar, dass Jürgen Gosch und Johannes Schütz immer konsequenter eine szenischdynamische Dramaturgie zu befördern suchen, die die Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Bühnenvorganges selbst in den Vordergrund rückt. Auch die Bühnen von Johannes Schütz öffneten sich damit größeren prozessualen Veränderungen, füllten sich z.B. mit Müll wie in den Sommergästen oder verwandelten sich in totaler Zerstörung wie das Bühnenbild in Macbeth. Jede Theatervorstellung wird hier als ein einmaliger Prozess verstanden, keine Reproduktion der Premierenfassung, sondern als Tätigkeit des Hervorbringens und Handelns, an der auch das Publikum als wirkende Kraft beteiligt ist. Das Licht im Zuschauerraum blieb in beiden Inszenierungen wie auch in anderen Arbeiten der letzten Jahre an. Die Zuschauer werden dadurch nicht nur auf die eigene Position aufmerksam, sondern auch auf die der anderen Besucher neben sich, auf die Architektur des Theaterraumes, auf die vor sich gehenden Unterhaltungen und Debatten. 267

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Zeit – Zeitlichkeit

Sowohl bei den Sommergästen wie bei Macbeth gab es heftige Publikumsreaktionen während der Vorstellungen, die nicht ohne Auswirkungen auf das Spiel der Schauspieler blieben. Zu Beginn der Sommergäste konnte man sich wie in der öffentlichen Fortsetzung einer Probe wähnen. Die Schauspieler in privater Kleidung schlenderten gelassen in die erste Zuschauerreihe, unterhielten sich, warfen Blicke ins Publikum, murmelten zusammen, schienen sich abzusprechen. Dann stieg Thomas Dannemann hinein in den Bühnenkasten, improvisierte auf der Gitarre ein russisches Kinderlied von einer unglücklich verliebten Giraffe, übersetzte es ins Deutsche für das Publikum und die Kollegen. »Alles klar«, fragte er, alles klar: Russland ist weit weg und nichts in dem leeren, grauen Bühnenkasten von Johannes Schütz rückte das Spiel der Schauspieler, die nach und nach die Bühne enterten, und später, wenn sie nicht mehr dran waren, sich oft in die erste Reihe zurücksetzten, weg von der Lebenswirklichkeit der Zuschauer. Zwei Wochen vor der Premiere der Sommergäste flammte in einem Gespräch mit den Schauspielern noch einmal die Diskussion auf, ob einige, sparsame Möblierungen wie zum Beispiel – ein Campinghocker – das Spiel der Darsteller nicht erleichtern könnten. In diesem Zusammenhang formulierte Schütz eine programmatische Überlegung, die sein und Jürgen Goschs Theater grundsätzlich kennzeichnet: Wenn etwas fehle, setze der Schauspieler, aber auch der Zuschauer Energien frei, sich das Fehlende zu ergänzen. Gemeinsam solle man die Suche nach Spielsituationen favorisieren, die sich möglichst ohne äußerliche Zutaten weiterentwickeln lassen. So sind Schütz’ Bühnen grundsätzlich als kollektive Denk- und Imaginationsräume für Spieler und Zuschauer konzipiert. Die Aktivierung des Zuschauers stimuliert Schütz auch, indem er realistische Verknüpfungen entzieht. Seine visuelle Dramaturgie ordnet sich dem Text nicht unter, sondern entfaltet ihre eigene Logik. Ein Beispiel: der quadratische Ausschnitt, der sich langsam in der Rückwand der Sommergäste öffnete, über die pausenlose Spieldauer von 160 Minuten im Zeitlupentempo von einer Seite zur anderen wanderte, sich zum schmalen Spalt verengte, und zum Schluss den Bühnenkasten wieder hermetisch abriegelte. Dahinter wurde der Blick auf eine quer gelegte Kiefer frei, die Krone sah man zuerst, dann den Stamm, zuletzt die ausgehebelte Wurzel. Ein grandioses Bild dafür, wie Zeit vergeht, abläuft, bemessen ist. Aber auch ein Statement für das Fragmentarische unserer Wahrnehmung: Kein Gesamtbild, lediglich verschiedene Eindrücke in vorüberziehendes Leben. Und ein ironisches Zitat der nature morte: Der Wald ist abgeholzt, wie die Menschen dem Verfall anheimgegeben.3 3. Ein ebenso klares und eindrückliches Bild für die vergehende Zeit hat Schütz für Shakespeares Wie es euch gefällt am Hamburger Schauspielhaus 2003 und

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Rita Thiele: Zuschauen, wie die Zeit vergeht

Chronometrisch auch die zunehmende Verwüstung der Bühnenbilder: Das Spiel hinterlässt Spuren: ein Damenfahrrad, eine Waschschüssel, Kleidung, Batterien leerer Flaschen in den Sommergästen. Noch konsequenter die Veränderung der Bühne in Macbeth. Auch diese Inszenierung platzierte Schütz in einen großen, schwarzen Kasten, für jeden Schauspieler gab es einen weiß-braunen Resopaltisch und einen roten Plastikstuhl, zu Beginn sind sie zusammengestellt wie auf einer Leseprobe. Dazu wieder ein Mobile: hier ein großes, weißes Papiersegel, das sich sanft im Bühnenhintergrund bewegt. Nach kurzer Zeit ist die Bühne ein Saustall: das Papiersegel liegt zerrissen am Boden, die Latte, an der es aufgehängt war, dreht sich weiter, durchmisst wie ein Uhrzeiger die Zeit. Die Körper der Schauspieler, der Bühnenboden und das Mobiliar sind überzogen mit einer rutschigen Pampe aus Blut und Fäkalien – alles künstlich –, nicht wenige Szenen spielen die Schauspieler nackt, übergießen sich, wenn sie kämpfen, mit flüssiger, roter Farbe aus der Flasche, markieren den Stuhlgang der Hexen mit Wasser für Urin und Mousse au Chocolat für Kot. Immer wieder korrespondiert die improvisatorische Freiheit der Schauspieler mit bildnerischer Freiheit. Die Bühne wird ständig umgekrempelt, um sich neu zu füllen und neu zu entleeren, sie atmet im Rhythmus der Inszenierung, entwickelt auch von der Optik her Verdichtungspunkte, die dann ihren Höhepunkt in kleinen Spannungsexplosionen finden, die den Raum für die folgende Szene entleeren, z.B. wenn der Schauspieler Ernst Stötzner in Macbeth einen der Tische mit einem Stock zerschlägt oder kurz vor dem Schlusskampf die Bühne aufräumt. Ähnliche Vorgänge waren in Goschs Hamburger Inszenierung von Gorkis Unten4 zu sehen, wenn die Schauspieler ihren Krempel zusammen mit dem wirren Ästehaufen, den sie vorher auf die Bühne geschleppt haben, plötzlich gemeinsam nach hinten schieben, oder in seiner Inszenierung von Tschechows Drei Schwestern5, wo Tische und Stühle irgendwann in den Hintergrund geschmissen werden. In diesen beiden Inszenierungen spielt Schütz mit einer übergroßen Tiefe der Räume, die doppelte Fokussierungen erlauben: polyphone Bühnenbilder, die die Wahrnehmung der Zuschauer auch durch Parallelhandlungen herausfordern. Durch die szenische Dynamik werden die Räume immer durchlässiger für zufällig entstehende Muster, die aber jeglicher Beliebigkeit entbehren, es entsteht eine Unordnung, die trotzdem zwingend erscheint, »malerische« Bilder von einer visuellen Kraft, die eiam schauspielhannover 2007 gefunden. Eine Art Sanduhr: Aus dem Bühnenhimmel rieselt während der gesamten Vorstellung ein dünner Strahl, der die sandige Landschaft auf dem Bühnenboden vermehrt. 4. Nachtasyl am Hamburger Schauspielhaus 2006. 5. schauspielhannover 2006.

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Zeit – Zeitlichkeit

nen ähnlich überrumpeln wie die Anarchie im Spiel der Schauspieler, die trotzdem wie choreographiert wirkt, wenn sie z.B. auf der glitschigen Macbeth-Bühne herumrutschen. Es entsteht ein Theater krasser Körperlichkeit und komplexer Visualisierung, das auch Brüche und Leerstellen aufweist, und dadurch den Zuschauer animiert, selbst zu interpretieren, zu verknüpfen, zum Unfertigen beizutragen. Dass dieses Theater letztendlich manche Zuschauer als anstrengend, sogar als bedrohlich empfinden, erstaunt nicht, erlaubt es doch kein distanzloses Eintauchen in fiction, sondern wirft den Zuschauer immer auch zurück auf seine eigene Präsenz.

Zeitdramaturgie Die Ungeduld mancher Zuschauer war z.B. bei einer Premiere von Gosch und Schütz in Köln 2006 spürbar, der Inszenierung von Schimmelpfennigs Die Frau von früher, ein Stück, das sie vielleicht auch wegen seiner ungewöhnlichen Zeitdramaturgie interessiert hat. Schimmelpfennig erzählt hier den Plot nicht linear, sondern arbeitet fast filmisch mit Vor- und Rückblenden. Schütz entschied sich für einen extrem, flachen weißen Kasten, der fast die gesamte Portalbreite ausfüllte: Die Zuschauer sahen in einen Wohnungsflur mit einer Eingangs-, und drei Zimmertüren, vollgeräumt mit einem Berg gepackter Umzugskisten. In diesem Stück arbeitet ein Ehepaar für den bevorstehenden Umzug, nicht wissend, das sich eine Tragödie antiken Ausmaßes in der Nacht anbahnen wird. Springt die Handlung zeitlich gesehen zurück, entleerte sich die Bühne: Jetzt sah das Publikum die Umzugskartons noch zusammengefaltet an die linke Wand gelehnt. Alle Umzugskisten, die sich bis dahin angesammelt hatten, wurden – wie bei allen Verwandlungen bei Schütz und Gosch – von den Schauspielern selbst entsorgt, in diesem Fall kippten sie den Krempel einfach runter von der Bühne vor die erste Zuschauerreihe. Soweit so gut. Springt nun aber der Plot auf der Zeitachse wieder weiter nach vorn, ließen Gosch und Schütz beachtlich stur, aber eben auch humorbegabt die Schauspieler alles wieder zurückbauen, d.h. die Umzugskisten mussten zurück aus dem Bereich vor der Bühne in den Kasten gehievt, Veränderungen im eigenen Äußeren korrigiert werden, selbst chaotische Müllhaufen waren penibel zu rekonstruieren. Für diese Vorgänge brauchten die Schauspieler Zeit, auch wenn sie sich wahnsinnig beeilten, und die Zuschauer waren gezwungen, zu diesen Umbauten eine Haltung zu entwickeln, man konnte sich langweilen, oder an den rasanten Verwandlungen Spaß haben. Jedenfalls musste die ständig mitschwingende Anwesenheit der Gegenwart als Realzeit ausgehalten werden. Dazu erinnern die Zeitsprünge im Stück daran, dass sich nichts festhalten lässt, dass die Zukunft immer auch als ein 270

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Rita Thiele: Zuschauen, wie die Zeit vergeht

Schon-Vorbei, Schon-Weggehen betrachtet werden muss. Und damit hat dieses Theater nicht nur mit Lebenswirklichkeiten, sondern auch mit Todeserfahrung zu tun, die in diesem Stück eben nicht nur in Gestalt der Ermordeten anklingt. Manche Zuschauer empfanden dies ganz offenbar als Zumutung. Schütz und Gosch werden sich in ihrer radikalen Suche nach den Möglichkeiten des Theaters nicht irritieren lassen.

Politisches und Soziales Ein Theater, das Darstellung und Wahrnehmung so konsequent akzentuiert, wie es Schütz tut, wird immer auch ein Theater des Konfliktes sein, »sein Publikum nicht bloß Kunde, sondern auch Gegner – wenn gleich in einem Kampf, der keine Sieger oder Verlierer kennt.«6 Die Sommergäste-Inszenierung 2005 und noch vehementer Macbeth 2006 in Düsseldorf lösten heftige Kontroversen aus. Einerseits waren es hochgelobte, mit vielen Preisen und Einladungen ausgezeichnete Arbeiten, andererseits reagierte ein Teil des Publikums (und auch der Presse) durchaus ablehnend, dabei emotional sehr berührt. Dass es beiden Inszenierungen offensichtlich gelang, die Zuschauer auf keinen Fall gleichgültig zu entlassen, hat sicherlich auch mit der Raumkonzeption zu tun. Indem Schütz die rigorose Trennung zwischen Publikum und Bühne aufhebt, indem er Raum und Zeit des Dargestellten grundsätzlich auch im hier und jetzt verortet, indem er bei der Komposition seiner Bilder grundsätzlich Leerstellen offenlässt, in die die Imagination und Phantasie der Schauspieler wie der Zuschauer einziehen kann, gelingen ihm Effekte von ›Wirklichkeitswerdung’’7, die geradezu schockartig berühren können: Im Schlussbild der Macbeth-Inszenierung ringen und stechen Macbeth und Macduff nackt miteinander in einem äußerst mühevollen Kampf auf Leben und Tod. Wie lange Macduff braucht, um Macbeth zu töten und wie viel Liter (Theater-)Blut dabei fließen wird, bleibt der Improvisation der Schauspieler überlassen. Zufallsoffen auch, wie die verwüstete Bühnenlandschaft zu diesem Zeitpunkt im Detail aussieht. Doch gerade diese Szene entwickelt eine bildnerische Kraft, von der sich viele Zuschauer mehr als beeindruckt zeigten: In Publikumsgesprächen erzählten einige, dass sie sich an Bilder 6. Nikolaus Müller-Schöll: »Urverbrechen« (und) »Spaßgesellschaft«, in: Joachim Gerstmeier/ders. (Hg), Politik der Vorstellung.Theater und Theorie, Theater der Zeit, Recherchen Nr. 36,Berlin 2006. 7. Vgl. Thomas Oberender: »Über die Evolution sozialer Verhältnisse und ihrer Spielformen oder das dritte Element der Kunst«, in: Politik der Vorstellung, S. 214229.

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Zeit – Zeitlichkeit

von Grünewald, Francis Bacon und Lucian Freud erinnert fühlten. Für andere wurde die Szene zu einer extremen Erfahrung, weil sie über den Todeskampf hinaus an die blutverschmierten Körper von Neugeborenen denken mussten. Auf jeden Fall entwickelt das Schlussbild eine kräftige eigene Sprache jenseits der dramatischen Vorlage, indem es raffiniert mit visuellen Erfahrungen und Assoziationen aus dem Bildervorrat der Kunst wie des Lebens spielt. In den Sommergästen gelang es ebenfalls durch die offene prozessuale Ästhetik Effekte von ›Wirklichkeit‹ zu produzieren, die das Publikum polarisierten, z.B. in einer Szene, in der Thomas Dannemann sehr lange als voll trunkener Bassow improvisierte. Die Vergangenheit dieses Stückes, das bei seiner Uraufführung im vorrevolutionären Russland der Jahrhundertwende ebenfalls heftigste Publikumsreaktionen auslöste, fand ein Echo in unserer Gegenwart. Die Schauspieler wiederum ließen sich in ihrem Spiel von Zurufen aus dem Publikum beeinflussen, so dass jede Vorstellung weit über eine Reproduktion von Absprachen hinausging. Mit Hilfe dieser ästhetischen Strategien – und nicht auf der Basis plakativer, inhaltlich ideologischer Setzungen zieht Politisches und Soziales in die Kunsträume von Johannes Schütz und Jürgen Gosch ein. Sie konstituieren ihr Theater als experimentellen Spielraum, der die dramatische Literatur mit unserem gegenwärtigen Leben verkoppelt und beide einer innovativen Untersuchung unterzieht. (Informationen zu Johannes Schütz: siehe Angaben zu den AutorenInnen).

Literatur Oberender, Thomas: »Über die Evolution sozialer Verhältnisse und ihrer Spielformen oder das dritte Element der Kunst«, in: Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Theater der Zeit Recherchen 36, Berlin 2006, S. 214-229. Müller-Schöll, Nikolaus: »Ur-Verbrechen (und) Spassgesellschaft«, in: ebd., S. 194-213.

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Regie: Jürgen Gosch, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz (Ensemble)

Abbildung 5: William Shakespeare: Macbeth (Schauspielhaus Düsseldorf 2005)

Realitätseinbrüche und Schnitträume: Theater – Bildende Kunst – Performance

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) T06_00 Respekt.p 168349669704

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) vakat 276.p 168349669712

Katharina Pewny: Die Choreografie der Ökonomie

Die Choreografie der Ökonomie. Tino Sehgals Diese Beschäftigung (Hamburg 2005/2006) Katharina Pewny

Im Jahr 2005 zeigt Tino Sehgal bei der 51. Biennale in Venedig zwei »Publikumsanimationen«:1 This is so contemporary und This is exchange. Im gleichen Jahr gewinnt er mit Diese Beschäftigung den Kunstpreis der Schweizer Baloise-Versicherung, der wie folgt beschrieben wird: »Mit dem von der Bâloise-Gruppe gestifteten Kunstpreis wurden im vergangenen Jahr zum sechsten Mal zwei junge Künstler ausgezeichnet. Die mit jeweils 25.000 Schweizer Franken dotierten Preise werden seit 1999 jährlich im Sektor Art Statements an der internationalen Basler Kunstmesse Art von einer mit namhaften Kennern besetzten Jury verliehen.«2

Mit dem Preisgeld gestaltet Sehgal Diese Beschäftigung, eine Arbeit, die vom 23.11. bis zum 31. 12. 2005 in der Hamburger Kunsthalle gezeigt und aufgrund des großen Interesses bis zum 29.1. 2006 verlängert wird. In Diese Beschäftigung erscheinen unterschiedliche Merkmale der zeitgenössischen theatralen Künste auf sehr prägnante Weise: Diese Beschäftigung überschreitet die Kategorien Performance, Theater, Tanz und Bildende Kunst als unterschiedene.3 Innerhalb eines strengen Rahmens, der sich bei näherer Betrachtung als Regelset des Kunstmarktes erweist, findet diese »Publikumsanimation« statt, die immer neu und immer an1. In den Räumen befanden sich außerdem Plastiken von Thomas Scheibitz. 2. Vgl. www.hamburger-kunsthalle.de/start/start.html, gesehen am 4. Januar 2006. 3. Natürlich knüpft Tino Sehgal historisch und aktuell an andere Performances in Räumen der Bildenden Künste an, zu nennen wäre hier etwa Vanessa Beecroft.

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ders verlaufen kann. Die extreme Verdichtung von Gegenwärtigkeit und »Liveness« entsteht aus der Notwendigkeit permanenter Verwandlung und ist von dieser nicht zu trennen: Diese Beschäftigung choreographiert, so meine These, die Präsenz der Ökonomie als Ökonomie der Präsenz.4 Die vielen Momente von Präsenz, die in Diese Beschäftigung aneinander gereiht sind, konstituieren die »dramatischen Transformationen«, die das Theater der vergangenen Jahrzehnte bewegt. Seine Verfahrensweisen sind durch dramatische Transformationen von Lebensbedingungen einer erodierenden Wohlstandsgesellschaft gespeist.5 Die Künste spiegeln Realität nicht ausschließlich, sondern sie bringen das Reale zum Erscheinen und transformieren es damit. Die »Transformationen« theatraler und anderer Realitäten provozieren daher Transformationen von Begriffen, die dem gerecht werden, was zu sehen und wahrzunehmen ist. Ich befrage im Folgenden die Begriffe der »Performance« und der »Choreografie« nach ihrer performativen Kraft, die »dramatischen Transformationen« zum Erscheinen zu bringen.

1. Die Situation Der Raum Nummer 33 der Kunsthalle – der Ort für Diese Beschäftigung – hat sehr weiße, glatte Wände und einen regelmäßig schwarz gefliesten Boden. Nahezu leer und sehr hell ausgeleuchtet, ist er ein Exempel des so genannten »white cube« – des Ausstellungsraumes par exellence.6 Auch

4. Zu der ästhetischen Präsenz und zu dem »Präsens« der Performance siehe Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 254-261. 5. Zu gegenwärtigen sozialen Veränderungen in Mitteleuropa vgl. Bologna, Sergio: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit, Graz 2006. Zusammenhänge von Theater und sozialen Realitäten werden aktuell diskutiert, zum Beispiel am 6. 11. 2006 in den Berliner Sophiensälen unter dem Titel: »Wie kommt das Soziale auf die Bühne?« Evident sind diese Auseinandersetzungen beispielsweise in Stücken von Moritz Rinke und Anja Hilling, sowie in Inszenierungen von Andreas Kriegenburg und in Neuinszenierungen von Stücken aus dem Naturalismus (wie etwa von Gerhard Hauptmann). Thomas Oberender beschreibt Ähnliches wie folgt: »Die Evolution der Spielformen ist ein Reflex der Evolution des Sozialen.« Ders.: »Über die Evolution sozialer Verhältnisse und ihrer Spielformen oder das dritte Element der Kunst«, in: Gerstmeier, Joachim/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.), Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Berlin 2006, S. 214-230. S. 218. 6. Die Auseinandersetzung mit dem »white cube« in den bildenden Künsten dient der Untersuchung seiner scheinbaren Neutralität und der Hervorhebung seiner

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gemahnt er an die weiß-schwarzen Bühnen, die zurzeit oft in Theater- und Performancehäusern zu sehen sind. In dieser »weißen Zelle«, zwischen der Raummitte und dem Durchgang zum nächsten Raum platziert, steht eine Person. Sie wendet sich zu den Besucher/innen, so bald diese einige Schritte in den Raum getreten sind, und rezitiert die folgenden Sätze: »Diese Beschäftigung. Diese Beschäftigung. Tino Seghal 2005. Ein Geschenk der Baloise-Versicherungsgruppe. »7 Danach sucht sie Blickkontakt mit den Besucher/innen und versucht, ein Gespräch anzuknüpfen. Ob und welche Kommunikation stattfindet, ist der Situation, beziehungsweise der Reaktion der Besucher/innen überlassen. Wenn sie den Raum Nr. 33 verlassen, ist die Performance beendet, wenn neue Besucher/innen ihn betreten, findet die nächste Rezitation statt. Die Performer/innen – abwechselnd drei Männer und eine Frau, es performt jeweils eine Person – stehen auf einer diagonalen Achse zwischen den beiden Eingängen. Während der Rezitation bleiben sie stehen und drehen sich nur nach den Besucher/innen, falls diese weiter gehen. Nach der Rezitation sprechen die Performer/innen die Besucher/innen an und versuchen, ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie bleiben (wenn möglich) frontal zu den Besucher/innen orientiert und gehen mit der Körpervorderseite vor ihnen her (nach hinten) wenn diese weiter gehen. Die Eckpunkte der Choreografie vermittelt Tino Sehgal den Performer/innen während der Vorbereitung: Die Rezitation der genannten Sätze (des Textes), die frontale Orientierung zu den Besucher/innen hin, die Anweisung, ihnen nicht zu nahe zu treten, sondern ihnen das Gefühl zu geben, dass sie die Bewegung selbst steuern: »Sie (die Besucher/innen) mitnehmen, ohne ihnen im Weg zu stehen. Vor ihnen hergehen, so dass sie das Gefühl haben, die Performer zurückzudrängen. Auf die Einhaltung eines bestimmten Abstands achten, so dass die Besucher sich nicht bedroht fühlen.«8

Besucher/innen wie Performer/innen können demnach den Eindruck bekommen, die Anordnung der Körper im Raum und ihre Bewegungen zu spezifischen Materialität. Siehe O’Doherty, Brian: Inside the White Cube. In der weißen Zelle, Berlin 1996. 7. »Diese Beschäftigung« wird in einem speziellen, gedehnten Rhythmus ausgesprochen, der die Worte mehr als Singsang denn als gesprochene Worte erscheinen lässt. Die Wiederholung des Satzes wird in der ortsüblichen Hamburger Sprechweise artikuliert. 8. Diese Eckpunkte erzählt ein Performer im Gespräch am 4. 12. 2005.

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steuern. Sie scheinen ihre Bewegungen, den Rhythmus ihres Gehens und Stehens, ihre Bemerkungen und den Zeitpunkt des Beendens der Performance frei zu wählen. Diese Freiheit der Wahl findet freilich innerhalb eines gesetzten Rahmens statt, dessen Klarheit für die Besucher/innen allerdings nicht sofort evident ist.

2. Die »Ontologie der Performance« zwischen »Liveness« und Reproduzierbarkeit Diese Beschäftigung kann als performativer Akt par exellence aufgefasst werden:9 Es geschieht, was im Moment vollzogen wird – diese »Beschäftigung« – und zwar unter Rückgriff auf einen machtvollen institutionellen Diskurs, auf die Ökonomie des Kunstmarktes. Der Text nennt den Autor, die Jahreszahl, den Werktitel und den Sponsor. Der »Sprechakt« in Diese Beschäftigung ist jedoch – und das geht über die Performativitätstheorie Butlerscher und Austinscher Provenienz hinaus – a priori als körperlicher vorgesehen: Sprechen und Bewegen sind gleichrangig in dieser Performance, die körperliche Hinwendung zu den Besucher/innen ist beispielsweise genauso bedeutsam für den Beginn der Performance wie das Rezitieren der Eingangssätze, es gibt einen klaren Text und klare Regeln für den Bewegungsverlauf. Was dann passiert, ist offen: Die Besucher/innen können sich auf Gespräche einlassen und verweilen, den Raum schnell wieder verlassen oder ihn durchqueren, ohne aufzublicken. Die Performer erzählen in den Gesprächen, dass sie Mitarbeiter der Obdachlosenzeitschrift Hintz und Kunzt sind. Ihre Schritte, ihr Lachen, Räuspern oder Sprechen wird durch den leeren, hellen Raum hervorgehoben: Ein je spezifischer Bewegungs- und Klangraum entsteht, der – so Sehgals Anordnung – nicht (filmisch, fotografisch oder mit anderen Techniken) reproduziert werden darf. Diese Beschäftigung scheint damit Peggy Phelans »Ontologie der Performance« zu folgen, in dessen Zentrum die »Liveness« steht: Nicht reproduzierbar, nicht reproduktiv, ereignet sie sich jedes Mal aufs Neue und steuert dabei auf »ihr eigenes Ende zu«:10 Kein Verlauf einer Performance gleicht einer 9. Dies entspricht Judith Butlers Theorie des performativen Akts (»performative act«), die ihrerseits auf John L. Austins Theorie des Sprechaktes (»speech act«) zurückgreift. Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. 10. Siehe Phelan, Peggy: Unmarked: The Politics of Performance, New York 1996, S. 146-167. Phelans Konzept wurde kritisch debattiert, am prominentesten von

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anderen, die Bewegungen im Raum und die Setzung von Timing und Rhythmus müssen immer neu erfunden werden. Es ist jedoch nicht die permanente Setzung von Differenz (die die Notwendigkeit der Neu-Erfindung erfordert), die Diese Beschäftigung auszeichnet, sondern es ist die Ausstellung der Unwiederholbarkeit, der Liveness und damit der Ökonomie der Präsenz, die auf die Notwendigkeit der je neuen Herstellung der Performance baut.11 Das Verfahren der Arbeit, ihr Regelwerk, das ich »Choreografie der Ökonomie« nenne, ist allerdings reproduzierbar. Als reproduzierbares kann es verkauft werden und auf dem Kunstmarkt zirkulieren. Sehgal selbst spricht in diesem Zusammenhang davon, dass er keine »Momente romantisieren« möchte: »Meine Arbeit ist zwar immer anders, aber trotzdem reproduzierbar.«12 In Diese Beschäftigung ist ihr reproduktives Vermögen eingeschrieben, denn sie lebt von dem Verfahren des Zitierens und der Wiederholung. Damit ist Diese Beschäftigung auch exemplarisch für viele andere theatrale Performances.13 Das Oszillieren zwischen »Liveness« und Reproduzierbarkeit von Diese Beschäftigung verweist implizit auf Walter Benjamins Plädoyer für die auratische Qualität von Kunst jenseits ihrer technischen Reproduzierbarkeit.14 Die Einmaligkeit eines Kunstwerks, die Walter Benjamin betont, findet zu Philip Auslander. Vgl. ders.: Liveness. Performance in a mediatized culture, London, New York 1999. Meines Erachtens wird mit der Debatte jedoch eine unzutreffende Dichotomie von »Liveness« versus »Medialisierung« verlängert, deren Konstruktion Phelan zugeschrieben wird. 11. Die Offensichtlichkeit ist eine scheinbare, denn die Tatsache, dass es keinen Text und keine Bewegungsabfolge gibt, wird den Zuseher/innen erzählt, die Begegnungen wirken improvisiert. 12. So Sehgal im Interview und ersetzt damit die »Reproduktion« durch das »anders«-Sein seiner Arbeit. In: Jocks, Heinz-Norbert: »Tino Sehgal im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks«, in: Kunstforum 177, Sept./Okt. 2005, Roßdorf 2005, S. 165169. S. 169. Der Moment der Reproduzierbarkeit unterscheidet Diese Beschäftigung von älteren Performances, die auf Einmaligkeit basieren, das berühmteste Beispiel wäre Günter Brus’ Schuss in den Arm. 13. Siehe auch die Performances von She She Pop: Rules (2004) oder Glück für Alle (2006). Siehe auch Matzke, Annemarie M.: Testen Spielen Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim, Zürich, New York 2005. 14. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Gesammelte Schriften I, 2 (= Werkausgabe Band 2. Hg. v. Tiedemann, Rolf u. Schweppenhäuser, Hermann.) Frankfurt a. M, 1980, S. 471-508.

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Beginn des 21. Jahrhunderts als Anforderung an die Besucher/innen von Diese Beschäftigung statt: Zwar zirkuliert Diese Beschäftigung auf dem Kunstmarkt (als Geschenk der Baloise-Versicherungsgruppe), doch jede Performance stellt an die Besucher/innen erneut die Anforderung, zu entscheiden, wie sie sich positionieren. Die Doppeltheit von Neuerfindung (neuer Entscheidung) und Zitat/Wiederholung erzeugt genau jene Elemente, die die Zirkulation von Diese Beschäftigung begünstigen: Das Konzept kann gehandelt werden, die Situation selbst erscheint jedes Mal als einmalig und nicht wiederholbar.15 Die Einmaligkeit wird als Entzug von Schrift, Abbildung und Aufzeichnung unterstrichen: Diese Beschäftigung wird im Internet und im Programm des Museums angekündigt, es sind jedoch keine Beschreibungen oder Abbildungen zu sehen oder zu kaufen. Besucher/innen können die Arbeit erleben und ausführen, doch um den Rahmen – um das, was gehandelt wird – entsteht eine eigentümliche Leere: Er wird zum Geheimnis in dem Sinn, dass über seine Beschaffenheit spekuliert werden kann, er ist jedoch nicht »zu haben«. Auch ist nicht letztgültig zu erfahren, was »echt« und was »inszeniert« ist. Folgende Fragen können sich auftun: Vielleicht sind die Performer gar nicht »wirklich« obdachlos, sondern professionelle Schauspieler? Wo werden die inhaltlichen und dramaturgischen Vorgaben verlassen, wo werden sie eingehalten?16

3. Choreografie als Körpertheorie Ausgehend von Peggy Phelans Performance-Konzeption wurde klar, dass (und wie) das Konzept der »Liveness«, die sich innerhalb eines klaren (ökonomischen) Regelwerks ereignet, die Zirkulation von Diese Beschäftigung stützt und hervorbringt. Unklar blieb bislang, welche Bedeutung die erzählte Obdachlosigkeit der Performer/innen hat. Dieser Frage gehe ich mit Susan L. Fosters Konzept von Choreografie weiter nach. Foster schlägt

15. »Wenn ich etwas verkaufe, verkaufe ich es für die Ewigkeit. Meines Erachtens ist das total billig. Das Museum kann es für die nächsten 500 Jahre zeigen.« Tino Sehgal, zit.n. Brockes, Detlev: »Dieser Job ist Kunst«, in: Hinz&Kunzt 154 (2005), Hamburg, S. 40f, hier S. 41. 16. Die Ungeschiedenheit von Realität, Authentizität und Inszenierung ist ein weiteres Merkmal des zeitgenössischen (Performance-)Theaters, siehe mehrere Beiträge in: Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld 2005.

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vor, das kulturwissenschaftliche (und geschlechtertheoretische) Paradigma der 1990er Jahre – Performance – durch Choreografie zu ersetzen.17 Ihre These ist, dass Choreografie sowohl die Aktualität der Präsenzen einer Performance als auch das dahinter liegende Skript zu fassen vermag, das dem Terminus »performance« entgeht. Das Skript sind die Vorstellungen, präziser noch: die Körperbilder, aus denen eine Performance erwächst: » … choreography, whether created by individual or collective agencies, improvised or designated in advance, stands apart from any performance … it is the overarching score or plan that evidences a theory of embodiment. This plan or framework of decisions that implements a set of representational strategies is what endures as that which is augmented, enriched, or repressed in any given performance. It is that which changes slowly over the multiple performances.«18

Die Choreografie von Diese Beschäftigung ist zusammengesetzt aus Regeln: Die Besucher/innen sollen sich nicht bedroht fühlen, eine Diagonale soll im Raum eingehalten werden, jede/r Besucher/in wird mit dem immer gleichen Sätzen mit der immer gleichen Betonung begrüßt, die Performer/innen gehen rückwärts vor den Besucher/innen her. Die »Choreografie« von Diese Beschäftigung trägt das Körperbild einer »angemessenen«, nicht bedrohlichen Distanz zwischen Performer/innen und Besucher/innen.19 Wenn die Performer/innen vor den Besucher/innen hergehen, dann wenden sie ihnen nicht den Rücken zu, sondern bleiben frontal zu ihnen. Die Choreografie der Frontalität zitiert sowohl die Haltung von Diener/innen gegenüber ihren Arbeitgeber/innen als auch die Haltung, die heute für Arbeitsuchende bei Vorstellungsgesprächen empfohlen wird: sich »rück-

17. Foster leitet ihr Argument aus der fest gefahrenen Dichotomie der Debatten um die Essenz versus Konstruktion der Geschlechter in den 1990er Jahren ab. Siehe Foster, Susan Leigh: »Choreographing Gender«, in: www.cdlib.org/, gesehen am 10. 11. 2004. 18. Vgl. ebd., S. 11. Foster betont damit ein historisches Verständnis von Choreografie, das über das gängige des 20. Jahrhunderts (Choreografie als Bewegungsnotation) hinausgeht. In dem Verständnis der frühen Neuzeit ist Choreografie mit Gabriele Brandstetter als »Regelwerk zur Ausprägung sozialer Distinktionsmuster« aufzufassen. Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Choreographie«, in: Fischer-Lichte, Erika et al. (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 52-55. 19. In Tino Sehgals This is so contemporary (Biennale Venedig 2005) waren die Bewegungen der Performer auf Hüpfen erweitert, das in Diese Beschäftigung nicht vorgesehen war.

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wärts« aus der Türe hinaus zu bewegen.20 In dem »white cube«, dem Raum Nr. 33, wird durch die Körperbewegungen ein theatraler Bewegungsraum in Szene gesetzt, der gemäß sozialen Hierarchien organisiert ist. Er ist in allen Aspekten relational: Keine Performance ohne Gegenüber, kein Diener ohne Herren, kein Vorstellungsgespräch ohne potenzielle Arbeitgeber. Die Konstitution des Bewegungsraumes, oder Tanzes, ist notwendig abhängig von der Präsenz der jeweils Anderen und von der Aushandlung der Bewegungen, Distanz, Nähe, und Grenzen zwischen ihnen. Die »ästhetische Grenze« (zwischen Bühne und Zuschauerraum), die durch das Theater (und den Bühnentanz) klassisch markiert ist, ist nicht nur beständig in Bewegung, sondern wird durch die Bewegung erst hergestellt, ihre Aushandlung und Setzung findet ebenfalls implizit, durch die Bewegungen, statt. Körper übernehmen somit eine Funktion, die vormals die Architektur (der Theaterhäuser) innehatte. Es sind jedoch nicht beliebige Körper, sondern Körper von Menschen, die obdachlos sind beziehungsweise im Frauenhaus wohnen: Zwei Mitarbeiter der regional sehr bekannten Hamburger Obdachlosenzeitung »Hinz und Kunzt«, eine Bewohnerin des Frauenhauses und ein (ebenfalls obdachloser) Künstler wurden von Sehgal engagiert.21 Sie performen in Alltagskleidung. Das sehr grelle Licht und die sehr weißen, leeren Wände heben die Körperlichkeit und die Erscheinung der Performer/innen deutlich hervor.22 In theaterwissenschaftlichen Termini gesprochen: Der »semiotische Körper« der Performer/innen – seine Zeichenkraft also – fungiert als Zeichen für ihre soziale Situation. Der »phänomenale Leib« der Performer/innen – ihre körperliche Individualität – ist mit, hinter und vor diesem semiotischen Körper wahrnehmbar, aber in dem Konzept nicht mitgedacht23: Tino Sehgal setzt auf die semiotische Qualität und spricht (öffentlich) nicht über die Individualität der Performer/innen, sondern über ihren sozialen Status: »Die Wucht […] entfaltet sich […] anders«, wenn »die Protagonisten »von Arbeitslosigkeit gezeichnet sind«.24 In diesem Satz fällt ein weiterer Terminus aus den Bildenden Künsten

20. Dies wird in Sabenation, einer Produktion des Regieteams Rimini Protokoll, geprobt (Brüssel, kunstenfestival des Arts 2004). 21. So erfahren im Gespräch vom 4. 12. 2005. 22. In diesem Abschnitt beziehe ich mich auf meine Ausstellungsbesuche und Gespräche mit den Perfomer/innen. 23. Diese Termini übernehme ich von Erika Fischer-Lichte, siehe dies.: »Was verkörpert der Körper des Schauspielers?«, in: Sibylle Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 141-163. 24. Zit. nach D. Brockes: Dieser Job ist Kunst, S. 40.

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auf, der auf ein Kunstverständnis des so genannten »Tafelbildes« rekurriert: Das »gezeichnet« sein, das auf die »Zeichnung« verweist. Eine Zeichnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Linien verbindet und dadurch sinnhaft macht.25 Die Zeichnung, die in Ausstellungen der Bildenden Künste gerahmt an den Wänden hing, ist nun in der Gestalt der Protagonist/innen zu finden. Sie verbindet die semiotischen und leiblichen Dimensionen der Körper der Performer/innen. Die Choreografie von Diese Beschäftigung verschiebt das Material der Zeichnung von dem »Blatt« weg zu den performenden Körpern hin. Damit wird die postfordistische Ressource der Produktion schlechthin als solche produziert: die so genannte Humanressource.26 Diese Beschäftigung verhält sich also mimetisch zu genau jenen Produktionsverhältnissen, denen Sehgal eine andere Produktionsweise (die nicht auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht) entgegenstellen wollte27: Die Körper werden als Zeichen und Zeichnung ihrer sozialen Situation in einem hierarchisch angeordneten Raum choreographiert.

4. Die Theatralität der Positionierung (auf dem Markt) Worin besteht nun das »Geschenk« der Baloise-Versicherunggruppe? Die Besucher/innen von Diese Beschäftigung finden ein Gegenüber vor, mit dem sie sich identifizieren oder von dem sie sich differenzieren können. Die Ausstellung der Anwesenden an Stelle der Zeichnung vollzieht den Imperativ an Erwerbsarbeitssuchende und Freiberufler/innen, ihre eigene »Trademark« zu sein und sich (auch im Kontext neuer Aus- und Weiterbildungen) immer wieder neu zu entwerfen, nach. Die im Postfordismus unscharfe Trennlinie zwischen privatem und beruflichem Ich wird in Diese Beschäftigung abgewandert und herausgefordert. Dennoch bleibt eine zen-

25. Ich bedanke mich bei Chris Regn (Kunstarchiv Bildwechsel, Hamburg) für diesen Hinweis. 26. Zum Begriff der Humanressource als historisch gebundenem Ausdruck des Postfordismus siehe Ribolits, Erich: »Humankapital – Humanressource«, in: Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.), Pädagogisches Glossar der Gegenwart, Wien 2006, S. 135-146. Zu Elementen der Performancekünste als Mimesis des Neoliberalismus vgl. Klein, Gabriele: Performance, S. 16. 27. Tino Sehgal beschreibt, dass er eine Produktionsweise finden möchte, die anders ist als »… die heutigen Produktionsformen, die immer noch auf der Transformation von Materie basieren.« Zit. nach H.-N. Jocks: Tino Sehgal im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, S. 166.

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trale strukturelle Differenz zwischen Performer/innen und Besucher/innen bestehen, und diese ist nicht als ästhetische oder topographische Anordnung markiert, sondern als (realer oder phantasierter) Standort im Markt: Die Kunsthalle ist in der Hamburger Innenstadt an der Alster lokalisiert. Dieser Rahmen entspricht einem hohen ökonomischen Status.28 Die Situierung in der guten Lage bildet einen scharfen Kontrast zu dem ebenso offensichtlich nicht gut situierten Habitus der Performer/innen. Zu vermuten ist daher ein doppelter Mechanismus: Identifikation der Besucher/innen mit den Performer/innen und Abgrenzung von ihnen. Die Identifizierung könnte die Angst der Besucher/innen vor Erwerbslosigkeit und Obdachlosigkeit, die aufgerufen wird, hervorrufen. Der Prozess der Abgrenzung kann als Projektion dieser Angst auf die Performer/innen verlaufen.29 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass in den Jahren 2005/2006 die deutschen Medien voll waren mit Nachrichten über steigende Arbeitslosenzahlen, sinkenden Rentenansprüchen – kurz, über Armut und Angst vor Armut. Die Versicherung der (vermutlich) ökonomisch besser gestellten Position der Besucher/innen ist daher das eigentliche Geschenk der »Baloise-Versicherungsgruppe«. Wenn dem so ist, dann ist Diese Beschäftigung in die identitäre Versicherung eines bürgerlichen Mittelstandes involviert, der sich über Abgrenzung zu seinen »Anderen« etabliert, und das sind im deutschen Theater dieser Jahre oftmals deutsche Arbeitslose.30 Diese Beschäftigung, zwar nicht als »Theater« ausgewiesen, übernimmt somit eine Funktion des klassischen Sprechtheaters: Die Unterstützung der Identitätsbildung der so genannten Mittelklasse. Diese verläuft jedoch nicht, wie im traditionellen Sprechtheater, über innere Prozesse (Identifikation oder Katharsis), sondern erfordert das Sichtbar-Werden der Entscheidungen durch die Körperbewegung: Die Kunsthallen-Besucher/innen sind in Diese Beschäftigung notwendig »Mitspielende«, gleich wie sie (re-) agieren, sie befinden sich auf der Bühne. Wenn sie schnell durchgehen, müssen sie die den Raum Nr. 33, der als Bühne fungiert, ebenso durchque28. Zur Aussagekraft der Lokalisierung von Theater in der städtischen Topografie siehe Carlson, Marvin: Places of Performance. The Semiotics of Theatre Architecture, Ithaca, London 1989. 29. Zu Identifikations- und Projektionsprozessen in zeitgenössischen Performances siehe auch Evert, Kerstin: »Verortung als Konzept. Rimini Protokoll und Gob Squad«, in: G. Klein: Performance, S. 121-131. 30. Diese These führe ich aus in Pewny, Katharina: »Das prekäre Geschlecht. Die Krise weißer Männlichkeit in den Performing Arts«, in: Bankosegger, Karoline/Forster, Edgar (Hg.), Gender in Motion. Genderdimensionen der Zukunftsgesellschaft, Innsbruck, Bozen, Wien 2007, S. 151-167.

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ren, wie sie sich darauf aufhalten, wenn sie stehen bleiben. Im Kontext von Arbeit, Ökonomie und/oder Beschäftigung bedeutet dies, dass niemand sich entziehen kann: Alle sind im globalisierten Kapitalismus auf der »Bühne«, verlassen sie, oder betrachten sie: »Der Markt ist bei ihm (Sehgal, Anm. KP) die gegenwärtige conditio sine qua non, an der nichts vorbeiführt.«31 Nolens volens sind die Besucher/innen mit dem Eintritt in den Raum in komplexen, sich durchkreuzenden Machtstrukturen verfangen: »Man geht rein, löst die Arbeit aus und je nachdem, wie man sich verhält, konstituiert man den Moment der Arbeit mit. Es spiegelt unsere heutige Art des In-der-Gesellschaft-Seins. Eben nicht bloß als Rezipienten, sondern als Machteinheiten, die durch Entscheidungen und kulturelle Wertschätzungen mitgestalten.«32

Die Besucher/innen können ihre Position demnach als handelnde Subjekte des Marktes konstituieren. Die Performer/innen erfahren durch die stundenweise Arbeit eine Verwandlung in prekär Beschäftigte. Erwerbslose Menschen werden durch die Performance ihrer Erwerbslosigkeit zu (temporär) Erwerbstätigen. Dies mag als ironischer Vollzug der Realität gelesen werde, dass viele Künstler/innen prekäre Arbeitsverhältnisse haben. Wenn in der Kunst Erwerbslose per Erwerbslosigkeit und per prekäre Lebensverhältnisse zu prekär Beschäftigten werden, findet ein mimetischer Nachvollzug von arbeitsmarktpolitischen Regelungen wie »1 Euro-Jobs« statt.33 Diese Beschäftigung ist daher auch in diesem Aspekt ein performativer Akt: Sie realisiert das, was sie sagt, durch Diese Beschäftigung. Dabei findet ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel statt: Während zu Beginn der Performance eine klare Funktionstrennung zwischen den Performer/innen und den Besucher/innen besteht, wird diese nach dem Ende der Rezitation zunehmend diffus. Wenn neue Besucher/innen den 31. Hübl, Michael: Caligula, die Lire und das Referendum, in: Kunstforum 177, Sept./Okt. 2005, Roßdorf 2005, S. 40-52, S. 47. 32. Sagt Tino Sehgal über seine Arbeiten bei der 51. Biennale. In: TINO SEHGAL: Der andere Charme des Zeitgenössischen. Zit. nach H.-N. Jocks: Tino Sehgal im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, S. 166. 33. »1 Euro-Job« bedeutet, dass Erwerbslose Arbeitslosengeld und zusätzlich für jede Stunde geleistete Arbeit in einer Firma einen Euro erhalten. Dies gilt als staatliche Förderung von Arbeitsplätzen und als Maßnahme, Arbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren. In deutschen Zeitungen sind seit der Einführung von 1 Euro-Jobs ungleich mehr »Stellenangebote« für Menschen zu finden, die arbeitslos gemeldet sind, als für Menschen, die nicht arbeitslos gemeldet sind: Arbeitslosigkeit befördert die prekäre Beschäftigung.

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Raum betreten, werden die alten sofort wieder zu Zuseher/innen, und eine neue Raumanordnung ergibt sich: Es entsteht gleichermaßen eine Bühne, auf der die Neuen stehen, die Alten sind von der Anstrengung des Agierens momentan entlastet und werden zu heimlichen KomplizenInnen der Situation. Sie wissen um den Fortgang des Geschehens und können die Verwunderung, das Erstaunen, das Amüsement oder die aufkommende Peinlichkeit genießen: Sie werden Zeugen dessen, wie sich die »Neuen« zu der Situation verhalten. Dies ist die Theatralität von Diese Beschäftigung, die während der Performance undeutlich wird, dann wieder stärker zum Tragen kommt, je nach ihrem Verlauf.

5. Transformationsprozesse – dramatisch? Diese Beschäftigung ist, wie ich gezeigt habe, in mehreren Aspekten (eine Melange von »Liveness« und Reproduzierbarkeit, das Authentizitätsversprechen, die »Aktivierung« der Besucher/innen) exemplarisch für das zeitgenössische Performance-Tanz-Theater in einem Raum der Bildenden Künste. Die vorangehende Beschreibung von Diese Beschäftigung beschreibt Transformationsprozesse: Die individuelle Leiblichkeit von Performer/innen wird in Zeichenkörper transformiert, Besucher/innen werden in Performer/innen transformiert, Arbeitslose in prekär Beschäftigte und unterschiedliche »Genres« in eine Melange nicht kategorisierbarer (künstlerischer) Ereignisse. Diese Transformationsprozesse sind angesichts der Funktionen der Beteiligten als theatral und angesichts der Prominenz der Körper und ihrer Bewegungen als tänzerisch zu beschreiben. Sind sie dramatisch? Sie sind als Konsequenzen voran gegangener Veränderungen von Theatertexten und -praxen zu lesen.34 Und sie sind dramatisch, da sie – mit vielfältigen künstlerischen Mitteln, die nicht einem Genre zuzurechnen sind – dramatische soziale Veränderungen inszenieren. Genau hier liegt ein Potential neuer künstlerischer Ereignisse, deren prozessuale Performativität Soziales und Politisches inszeniert und damit transformiert.

34. Vgl. Bayerdörfer, Hans-Peter et al. (Hg.), Vom Drama zum Theatertext, Tübingen 1997.

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Katharina Pewny: Die Choreografie der Ökonomie

Literatur Auslander, Phil: Liveness. Performance in a mediatized culture, London, New York 1999. Bayerdörfer, Hans-Peter et al. (Hg.), Vom Drama zum Theatertext, Tübingen 1997. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.« In: Ders.: Gesammelte Schriften I, 2 (= Werkausgabe Band 2. Hg. v. Tiedemann, Rolf u. Schweppenhäuser, Hermann.) Frankfurt a.M. 1980, S. 471-508. Birkenhauer, Theresia: Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Cechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin 2004. Bologna, Sergio: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit, Graz 2006. Brandstetter, Gabriele: »Choreographie«, in: Fischer-Lichte, Erika et al. (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 5255. Brockes, Detlev: »Dieser Job ist Kunst«, in: Hinz&Kunzt 154 (2005), Hamburg, S. 40f. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. Carlson, Marvin: Places of Performance. The Semiotics of Theatre Architecture, Ithaca, London 1989. Fischer-Lichte, Erika: »Was verkörpert der Körper des Schauspielers? », in: Sibylle Dies.: Die Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 141-163. Foster, Susan Leigh: Choreographing Gender, in: www.cdlib.org/, gesehen am 10. 11. 2004. Gerstmeier, Joachim/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Berlin 2006. Goffman, Erving: »The frame«, in: Counsell, Colin/Wolf, Laurie (Hg), Performance Analysis. An introductory coursebook, London, New York 2001, p. 24-31. Hübl, Michael: »Caligula, die Lire und das Referendum«, in: Kunstforum 177 (09/10 2005), Roßdorf 2005, S. 40-52. Jocks, Heinz-Norbert: »Tino Sehgal im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks«, in: Kunstforum 177 (09/10 2005), Roßdorf, S. 165-169. Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld 2005. Krämer, Sibylle (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004. Lehmann, Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999.

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Matzke, Annemarie M., Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim, Zürich, New York 2005. O’Doherty, Brian: In the White Cube. In der weißen Zelle, Berlin 1996. Oberender, Thomas: »Über die Evolution sozialer Verhältnisse und ihrer Spielformen oder das dritte Element der Kunst«, in: Gerstmeier, Joachim/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.), Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Berlin 2006, S. 214-230. Pewny, Katharina: »Das prekäre Geschlecht: Die Krise weißer Männlichkeit in den Performing Arts.«, in: Karoline Bankosegger/Edgar Forster (Hg.), Gender in Motion. Genderdimensionen der Zukunftsgesellschaft, Innsbruck, Bozen, Wien 2007, S. 151-167. Phelan, Peggy/Lane, Jill (Hg.): The ends of performance, New York, London 1998. Phelan, Peggy: Unmarked: The Politics of Performance, New York 1996. Ribolits, Erich: »Humankapital – Humanressource«, in: Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.), Pädagogisches Glossar der Gegenwart, Wien 2006, S. 135-146. Schade, Sigrid: Andere Körper. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Wien 1994.

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Stefan Kaegi: Schießen oder Nichtschießen?

Schießen oder Nichtschießen? Logbuch eines dokumentarischen Theaterprojektes vor seiner Premiere. Stefan Kaegi

Chácara Paraíso (Landsitz Paradies) heißt das größte MilitärpolizistenAusbildungslager Lateinamerikas. 2500 Militärpolizisten werden hier, im Norden der Stadt São Paulo, trainiert. Chácara Paraíso heißt auch das dokumentarische Theaterprojekt von, mit und über brasilianische Polizisten, das die argentinische Schriftstellerin Lola Arias und den Schweizer Theatermacher Stefan Kaegi im Dezember 2006 nach Brasilien führt. Kaegi, der gemeinsam mit Helgard Haug und Daniel Wetzel in Deutschland unter dem Label Rimini Protokoll arbeitet, reflektiert während der ersten gemeinsamen Recherche- und Probenzeit in einem losen Skizzenbuch Methoden, Zweifel sowie Disziplinarmassnahmen von Polizei und Theater.

Bühnenbild 1: Favelasimulation Dezember 2006. São Paulo. Stolz zeigt uns ein Polizei-Azubi eine improvisierte und gänzlich unbewohnte Siedlung im Wald von Chácara Paraíso: »Hier liegt bei der Übung eine Matratze mit einer Waffe darunter«, sagt der 17jährige mit seiner Stimme eines 13jährigen, »und hier oben im Dach sind die Drogen versteckt. Wir kesseln ein und stürmen. Einige von uns müssen Gangster sein, aber ich spiele lieber Polizist…« Ein Kilometer tiefer im Wald beobachten Lola und ich, wie ein 18jähriger mit Uniform und mit einer Waffe voran in eine Mauerlandschaft stürmt. Aus den Wänden klappen Pappkameraden: 291

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Mann mit Bart und Pistole (schießen!) Fotograf mit Fotokamera (nicht schießen!) Gut aussehende Frau mit Revolver (schießen!) Mann mit Bart und Geisel (nicht schießen!) Die Figuren in indianisch-brasilianischem Malstil auf durchlöchertem, aber wieder verklebtem Karton. Abbildung 7: Stefan Kaegi: Interaktive Dokumentar-Installation Chácara Paraíso in Brasilien (2007)

Foto: Lola Arias

In Chácara Paraíso soll nächstes Jahr eine ganze »Bühnenbildstadt« in der Größe von drei Fußballfeldern entstehen: Häuser, Strassen, Wände… zur Simulation der gefährlichsten Teile der Stadt: Ein begehbares, befahrbares, beschießbares Bühnenbild für über 100 Militärpolizisten. Bühnenbild, Kostüm, Maske, Requisiten, Pyroeffekte. – Theater, das eine Welt vorspielt, wie sie den Teenager-Soldaten bald in echt begegnen wird. Die Probe mag wie Theater aussehen, soll aber nicht zu einem differenzierten, sondern zu einem beschleunigten Urteilsvermögen führen. Militärpolizisten sollen nicht zuschauen sondern handeln. Chácara Paraíso heißt das Projekt, das mich nach Brasilien, wo ich einen Teil meiner Jugend verbracht habe, zurückbringt. Gemeinsam mit meiner

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Stefan Kaegi: Schießen oder Nichtschießen?

Freundin, der argentinischen Schriftstellerin und Theatermacherin Lola Arias. Lola schreibt in Buenos Aires Familiengeschichten über Scharfschützen und inszeniert auf der Bühne Küsse von Freunden. Ich habe im letzten Jahr vor allem mit Modelleisenbahnminiaturen und bulgarischen Lastwagenfahrern in europäischen Transiträumen gearbeitet. Lolas feine, poetische Theatersprache bewegt sich in den letzten Jahren immer dezidierter auf performative Akte und unkalkulierbare Menschen zu. Meine dokumentarischen Recherchen unternehmen in den letzten Projekten immer ausgiebigere Umwege in die Fiktion. In der Mitte zwischen uns liegt São Paulo.

Das Skript Gemeinsam recherchieren wir für ein dokumentarisches Theaterprojekt. Gemeinsam mit einem Dutzend von 140.000 Polizisten von São Paulo wollen wir eine lebende Ausstellung inszenieren. So der Plan. Ein öffentliches Bild finden für Polizisten, die man in Südamerika nur als uniformierte Hindernisse kennt: Schützen. Bestechliche Chaoten. Drogendealer. Waffenverkäufer. Wenn du Probleme hast, ruf nicht die Polizei, ruf lieber die Räuber, heißt es in einem Samba von Chico Buarque. These: Chácara Paraíso soll nicht verurteilen, nicht besser wissen als, sondern mitwissen als ob. Zu Wort kommen lassen. Theater. Identifikation.

Figur 1. Trompeter Versolato Seargento Versolato vom Musikcorps findet die Idee klasse. Er bläst jeden zweiten Tag Trompete in Uniform: – –

Fürs Polizeisymphonieorchester (gerne Wagner, aber auch neue Werke, des kompanieinternen Komponisten) Für die Bataillone beim Exerzieren (Stillgestanden. Rechtsum. Ausruhen.)

Manchmal, wenn das Polizeiorchester die leisen Passagen von Rossinis Oper »Guillaume Tell« übt, werden die Musiker von Schreien und Schlägen übertönt. Das »Batalhão de Choque« trainiert direkt nebenan. Wenn das für seine Ausschreitungen gegenüber Demonstrationen berüchtigte

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Einsatzkommando Szenarien für Gefängnisrebellionen einstudiert, haben die Musikanten Tränengas in den Augen. Versolato ärgert das. Versolato ist ein sensibler Musiker. Aber nichtsdestotrotz muss Versolato jeden zweiten Tag auf Streife. Dann fährt er wieder mit Blaulicht durch die Agglomeration und sucht in Favelas nach Waffen unter der Matratze.

Figur 2. Polizeiphilosoph Lucio Auch Capitão Lucio findet die Idee richtig. Der ausbildungsbeauftragte Militärpolizist studiert nach Dienstschluss Erasmus von Rotterdam an der Uni. Er wünscht sich von Herzen gern eine Selbstreflexion des Apparates Militärpolizei, dessen Vergangenheit in der Militärdiktatur noch mitnichten aufgearbeitet, geschweige denn vor Gericht verhandelt worden ist. Aber seine Chefs halten ihn für einen Träumer. Als wir Lucio kennen lernen, wird in seinem Büro gerade die Weihnachtsdekoration aufgehängt. Eine Uniformierte steht auf dem Stuhl und hängt goldene Kugeln vor Fahndungsbilder. Lola notiert: Experte in Renaissance, hoch, schlank und mit einem Lächeln voll perfekter Zähne. Das ist auch São Paulo. Dasselbe São Paulo, in dem dieses Jahr über 300 Polizisten im Dienst durch Schusswaffen starben. Im Herbst 2005 stimmte eine deutliche Mehrheit der Brasilianer in einer Volksbefragung gegen ein allgemeines Waffenverbot. Wie sollen sonst Väter ihre Familie verteidigen, hieß es. Hier gilt das Gesetz des Stärkeren. Brasilien ist ein Land von Eroberern, sagt Produzent Matthias Pees. Macht vor Vernunft. Deshalb braucht auch jeder Polizist, der bei uns mitspielen will, die Zustimmung seines nächst höheren Vorgesetzten, und der wiederum die Zustimmung seines nächst höheren Vorgesetzten. Lucio bittet seinen Vorgesetzten um eine Bewilligung. Aber Lucio ist nur Capitão und nicht Coronel. Wir haben ein entsprechendes Papier verfasst und bei der Öffentlichkeitsbeauftragten eingereicht. Vergiss es, sagt Lola. Die werden unser Projekt nie bewilligen. Lola ist in Buenos Aires schon als Kind vor Polizisten davongerannt. Sie hat Freunde, deren Väter von der Militärjunta verschleppt wurden und nie wieder aufgetaucht sind.

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Stefan Kaegi: Schießen oder Nichtschießen?

Versolato und Lucio sollen Teil unseres Ensembles werden. Wenn Probenarbeiten eines Stücks mit dem Besetzen der Rollen beginnen, dann beginnt die Probenarbeit zu Chácara Paraíso mit dem Aufsuchen der Figuren. Wir bewegen uns durch einen Pool von Polizisten, indem wir uns weiterempfehlen lassen: – –

Anrufen (Wir haben gehört, Sie sind der beste Sprengstoffexperte São Paulos…) Anklopfen (Sind wir hier richtig beim psychologischen Dienst der Polizei?) – Überraschen (Wir sind Regisseure, und Sie hier beim Marschtraining sind ja eigentlich auch so etwas wie ein Choreograph…)

These: Es gibt eine Form strategischer Naivität. So kommen wir zu Experten der Wirklichkeit, die sofort beginnen, ihre Rolle zu spielen:

Figuren 3-5: Coronel Maria Aparecida (die »erschienene Maria«!) von der Pressestelle erzählt uns von einem uniformierten Historiker, der sämtliche Lieder der Polizei seit den 30er Jahren (einschließlich der Zeit der Militärdiktatur) singen kann, sie will mit seiner Nummer aber nicht herausrücken bevor ihr Chef das nicht bewilligt. Coronel Reginaldo zeigt uns alle Orden seiner Laufbahn (einschließlich diejenigen der Rota, der gefährlichsten unter den Einsatztruppen zu Zeiten des Militärregimes). Capitão Luca beginnt mitzudenken: »Ihr wollt eine Aufführung in einem Hochhaus? Dann ruft bei der Zentrale des Sondereinsatzkommandos an, die spielen euch das komplette Entschärfen einer Bombe vor.« Vergiss es, sagt Lola. Und doch rutscht den Offiziellen immer mal wieder etwas Menschlichkeit heraus: – –

In einer Kaffeepause erzählt uns Maria Aparecida von ihrem Hobby: Stricken. Coronel Reginaldo zeigt uns Götterfiguren aus Holz auf seinem Schreibtisch und führt uns in seinen spiritistischen Glauben ein: Wir 295

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Spiritisten können mit Verstorbenen in Kontakt treten. – Sprechen Sie auch mit verunglückten Kollegen und deren Opfern? – Das habe ich noch nie versucht. Capitão Luca erklärt uns den Einsatzplan zur Räumung eines besetzten Bürohochhauses: Schade, sagt er, dass die illegalen Bewohner nach der Räumung obdachlos sein werden.

Lucio, Reginaldo, Versolato… In der Polizei gibt es jeden Namen nur ein Mal. »Nomes de guerra«. Kriegsnamen. Sie funktionieren wie Telefonnummern. Jeder Name steht für einen Menschen und seine Rolle. Lola spricht portugiesisch mit spanischem, ich mit deutschem Akzent. Aber die Polizei hier spricht ganz anders: Mensch heißt Elemento (Element). Auto heißt Viatura (Fahrzeug). Verbrecher heißt Marginal (Außenseiter) oder Meliante (Vagabund) Hinfahren heißt Fazer uma dislocação (eine Verschiebung machen) Geld heißt QST (in Funksprache).

Figur 6: Seargento Iracema Sargento Iracema ist Telefonistin bei der Notrufnummer 190. Sie empfängt durchschnittlich 800 Anrufe am Tag. Und sie ist nur eine von 400 Polizei-Telefonistinnen in der Stadt. Die Hälfte der Anrufer sind Kinder, die ihr einen Streich spielen wollen. So dass die andere Hälfte erst einmal die Authentizität ihrer Not belegen muss: »Ehrlich, kein Scherz. Mein Vater steht mit einem Messer vor meiner Mama…« Andere rufen an, nur um mit jemandem zu reden, weil sie alleine sind, Angst haben, traurig sind. Iracema muss entscheiden: – Der Anrufer will sich umbringen >> Iracema versucht vorsichtig zu trösten und klar zu machen, dass es für Suizidgefährdete eine andere Telefonnummer gibt. – Der Anrufer ist einfach nur traurig >> Iracema muss auflegen. Andere Notfälle warten, Trost ist nicht ihr Job. Iracema fragt: Wozu dient euer Projekt? These: Theater kann ein Feldstecher sein, ein Mikroskop, mehr als ein Spiegel, ein Guckkasten nach draußen. Und Theater kann ein Sockel sein für Menschen, 296

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Stefan Kaegi: Schießen oder Nichtschießen?

denen wir sonst selten so sprachlich genau, so ästhetisch geschult, so zeichentheoretisch aufmerksam zuhören, wie wir das im Theater gewohnt sind. Daraus kann eine Freiheit oder ein Prozess der Selbstreflexion in den portraitierten Figuren selbst entstehen, der oft genauso viel über sie selbst verrät, wie über die Institution Theater, die auf sie schaut. Lola schlägt die Schaffung einer neuen Kategorie für mein Logbuch vor: Choreographien

Choreographie 1: Ausfahrt der Autos Wenn in der Zentrale des »Batalhão do Choque« mittags die Trompete 3 Mal bläst, stehen die Autos schon bereit. 10 in einer Reihe. Trompetensignal: alle schlagen gleichzeitig die Autotür zu. Trompetensignal: alle Motoren zünden. Trompetensignal: 10x Blaulicht an. Trompetensignal: 10x Sirenen an. Trompetensignal: Ausfahrt mit 20km/h. Auf zum Mittagessen.

Bühnenbild 2: SESC Termin mit der SESC-Leitung. Hier wird unser Projekt produziert und aufgeführt. Wir haben uns beim Lesen des Projektes Sorgen gemacht, gesteht der Direktionsvertreter Sergio: Wenn ihr mit Pförtnern oder mit Hausangestellten oder mit Straßenkindern arbeiten würdet, würden wir euren dokumentarischen Ansatz sofort verstehen, aber mit Polizisten? – Das Gespräch nähert sich einer ideologischen Arbeitskorrektur. SESC ist die Abkürzung für »Serviço Social do Comercio«, die Sozialstiftung der Handelskammer, die zugleich der größte und wichtigste Kulturanbieter von São Paulo ist. Die Leitung hat kein Interesse an einem Skandal. Polizisten sind böse, das weiß hier jeder am Tisch, entweder aus eigener Erfahrung oder intuitiv. Am Abend schauen wir brasilianische Filme: »Prisioneiros de qrades de ferro« über den größten Gefängniskomplex Lateinamerikas, Carandiru im Norden Sao Paulos, im letzten halben Jahr vor seinem Abriss. Und »Ônibus 174« über eine Geiselname in einem Bus in Rio, bei der am Ende Entführer wie Geiseln von der Polizei erschossen wurden. Lola ist am Ende des Filmes aufgewühlt: »Dieses Thema ist zu groß. 297

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Meine Theaterstücke habe ich in der Hand. Da weiß ich, was ich tue. Hier habe ich den Eindruck, mich in eine Welt einzumischen, die nicht meine ist. In der alle Zuschauer schon mehr wissen als ich.« Ich verstehe. Aber kann hier Polizei wirklich nur anhand von Morden und Überfällen erzählt werden? Gibt es nicht genauso die Geschichte jedes einzelnen Mitarbeiters? Die Biographien derjenigen, die nicht die Elitetruppe bilden? Ich sage: »Unser Projekt muss ein dezentrales bleiben. Eines, das sammelt und zu Wort kommen lässt«. – Lola entgegnet: »Wenn wir zu Wort kommen lassen, müssen wir wissen, was sie zu sagen haben und wir müssen dafür die Verantwortung übernehmen.« Ich bin unsicher. – Kann eine soziale Plastik nicht genau umgekehrt vorgehen?

Bühnenbild 3: Exerzierplatz Dienstagnachmittag. In Chácara Paraíso werden Schreichöre geübt, 50 Stimmen gleichzeitig: »Wir sind die Polizisten, die für die Menschen da sind!«, hallt es durch das Tal von Chácara Paraíso. »Wir sind nie gegen das Volk sondern immer sein Freund!« Einheit durch Dezibel. Dann wird marschiert. Lola notiert: Die Polizisten werden der Größe nach sortiert. Vorne die Grossen, hinten die Kleinen, zuhinterst meistens die Frauen. Ein Instruktor winkt uns näher. Er freut sich, dass die Disziplin seiner Truppe Ausländer interessiert. Langsam sollen wir um das Bataillon gehen und filmen, schlägt er vor. Ein Tracking Shot ohne Stativ. Die Gesichter der 18-jährigen beim Stillstehen. Der Autofokus gleitet über ihre Schläfen ins Dreiviertelprofil, da höre ich »Direita!« (Rechtsum!) und – ruckzuck – die ganze 50köpfige Menschenbatterie schwenkt ihren Blick wieder genau in die Kamera. Wenn die Kamera zoomt, zeigt sie das entstellte Gesicht jedes einzelnen Soldaten beim Schreien, beim Stillstehen, beim Exerzieren. Die Kleinen beim Große-Schritte-machen, die Grossen beim Kleine-Schrittemachen. Der Krampf des Rhythmushaltens im Ensemble. Wer spielt hier für wen? Der Kommandant zeigt die Effizienz seines Drills. Die jungen Soldaten zeigen ihre Fernsehtauglichkeit. Wir zeigen unsere Bewunderung.

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Stefan Kaegi: Schießen oder Nichtschießen?

Abbildung 6: Stefan Kaegi: Interaktive Dokumentar-Installation Chácara Paraíso in Brasilien (2007)

Foto: Lola Arias

Bühnenbilder 4/5: Polizeimuseum und Polizeikirche Das Polizeimuseum findet sich direkt hinter den Ställen der Kavallerie. In Vitrinen Waffen, wie sie bis in die 80er den Beamten dienten, darunter ein Schild: »Zuvor von der deutschen Waffen-SS benutzt«. Weiter hinten ein Bild der englischen Königin bei der Abnahme einer Parade der Militärpolizei. Händeschütteln mit Diktatoren. Aber schon ein paar Schritte weiter über die Strasse ist die Welt wieder in Ordnung: Die Polizeikirche. Hier heiraten jedes Wochenende Polizisten, und wenn sie unter der Woche in der Mittagspause beten kommen, lassen sie die Waffe im Büro.

Figur 7. Polizeipsychologin Valdira Der Polizeiapparat produziert auch richtiges Theater. Polizeipsychologin Valdira erzählt: Letztes Jahr haben wir eine Schauspieltruppe beauftragt, ein Aufklärungsstück zu erarbeiten, in dem Polizisten lernen sollen, mit Selbstmordgedanken fertig zu werden. Der Suizid-Index ist innerhalb der 299

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Polizei viermal so hoch wie außerhalb, sagt Valdira in einem Büro voller Bücher. Trotzdem weigern sich viele Polizisten nach einem tödlichen Schusswechsel in psychologische Beratung zu gehen.

Figur 8. Wagner So auch Wagners Vater. Wagner – ein beliebter Vorname in Südamerika – ist Soziologe. Lola schreibt auf, dass er der Typ Mensch ist, der mit dem ganzen Körper lacht. Wagner hat seinen Vater vor 8 Jahren durch einen natürlichen Tod verloren. Am Sterbebett zeigte der Vater ihm Orden (»im Kampf gegen den internationalen Kommunismus«) und erzählte endlich mehr über seine Zeit als V-Mann mit falschen Papieren, als Metallgewerkschaftler während der Militärdiktatur. Wagner begann Spuren zu finden für das, was er während dem Soziologiestudium dauernd vermutete: Dass sein liebevoller Vater Teil des Verschleppungs- und Folterapparates war, der Anfang der 70er Jahre seine Professoren durch regelmäßige Hausdurchsuchungen und Festnahmen einschüchterte, gefangen nahm, folterte. Für Wagner wird es unendlich schwer sein, an diesem Projekt teilzunehmen. Über den eigenen Vater Geschichten zu erzählen, von denen die eigene Familie nichts wissen will. So wie Wagner geht es ganz Brasilien. Wo sich zu dieser Polizei positionieren, fragt Joachim Bernauer vom Goethe Institut. Wo die Polizei und wo das Publikum positionieren, fragen wir. These? Plan B. Drei Wochen nach Einreichen unseres Gesuchs bei der Öffentlichkeitsbeauftragten haben wir immer noch keine offizielle Antwort von der Militärpolizei. Wir schalten Anzeigen: Gesucht: Polizisten, Expolizisten und Verwandte von Polizisten für ein »biographisches Kunstprojekt«. Die eine Tageszeitung von São Paulo, die »Folha«, druckt den Text. Die andere, der »Estado« weist ihn ab: Polizisten dürfen nicht gesucht werden, weil sie keinen Zweitjob annehmen dürfen. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass 70-80 Prozent der Polizisten sich hier ihre 300-400 Euro Monatsgehalt durch Nebenjobs als Nachtwächter oder Privatsecurity aufbessern.

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Figur 9: Cleber Cleber meldet sich auf die Anzeige: Vor 10 Jahren wurde sein Traum wahr, als er in die gefürchtete Anti-Terroreinheit »Choque« aufgenommen wurde. Doch schon bei einem seiner ersten Einsätze musste er Kollegen festnehmen, die Zivilisten ausgeraubt hatten. Heute arbeitet er als Motoboy (Motorradkurier). Seit 2 Jahren läuft ein Verfahren wegen Mordes gegen ihn. Auf dem Heimweg von der Arbeit »rutschte ihm bei einem Überfall die Pistole aus«. Einer der Angreifer war schnell tot. Dass er bei der Geschichte nicht ganz unschuldig war, lässt er zwischen den Zeilen durchblicken. Unsere Gespräche sind Textmotor, Biographierekonstruktion und Lüge zugleich. Alexandre, ehemaliger Gefängnisaufseher, der – wie Lola vermutet – zum Casting-Termin auf Koks erscheint, sagt: »Vor laufender Kamera sage ich nicht, dass ich Gefangene geschlagen habe. » Wer für Chácara Paraíso seinen Text selbst schreibt, macht aus sich eine Figur, die mit einem selbst soviel zu tun hat wie eine Totenmaske. Sie lässt sich vom Gesicht lösen, kann aber jederzeit wieder passend aufgesetzt werden. Die Arbeit mit Lola ist die Arbeit mit einer Schriftstellerin. Sie begann unter der Prämisse, dass dieses Projekt über die eigentliche Dokumentation hinaus Fiktion wird. Polizisten rekonstruieren die Todesfälle ihrer gefallenen Kameraden oder simulieren eine Blitzräumung eines Hochhauses. Doch oft generieren die Polizisten ihre Fiktion selbst:

Figur 10: Sandra Sargento Sandra arbeitet in der hausinternen Videoproduktion. Zu Ausbildungs- und Motivationszwecken sowie kurz vor Weihnachten dreht und schneidet sie mit 3 Polizistenkollegen Clips, die Polizisten ein Image geben: ein Gegengewicht zur öffentlichen Darstellung von Bataillons als Schlägertrupps. Polizisten spielen darin Polizisten und Banditen, wechselweise. Zum Queensong »We are the champions« montieren sie: Häuserdurchsuchungen Gewaltvoll vor dem Tod errettete Selbstmörder Lachende Polizisten auf Pferden über Demonstranten. No time for Loosers, but we are the champions…

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Lola fragt: Hören Polizisten im Kopf Musik, wenn sie in einen Schusswechsel geraten?

Choreografie 2: Formatura Bald ist Weihnachten. Zur »Formatura«, der Abschlussfeier der Polizeioffiziersausbildung, wird ein Zeremoniell mit viel Geometrie und Uniform inszeniert. Lola protokolliert: Als wir ankommen stehen alle breitbeinig still. Der rechte Arm aufgestützt, der linke hinter der Schulter. Der Tanz beginnt. Die synchrone Bewegung von hunderten von uniformierten Körpern baut Linien auf und wieder ab: Rechtecke von verschiedenen Größen. Die Anweisungen des Choreografen sind transparent: Rhythmus, Kopf hoch, Blick zum Horizont, Beine, die sich um 90 Grad knicken, Arme gestreckt, Hände offen. Ich stehe mit dem Fotoapparat genau in einer Ecke des Vierecks und wohne dem Moment bei, in dem der Marsch abbiegt. In dieser Kurve gibt es einen Moment des Zweifels, des ungeschickten, wo die Bewegung nur unscharf choreographiert ist. Dann Stillstand. Plötzlich geht ein kleiner Bube in Polizeiuniform mitten durch die Choreografie, für alle sichtbar. Ich frage mich, ob es der Sohn eines Polizisten ist, oder ein geschrumpfter Polizist, ein Polizist, der durch das viele Marschieren zum Jungen wurde. Fußnote: Der Marsch stellt Schönheit durch Disziplin her. Alle Körper formen zusammen einen einzigen Körper, den Polizeikörper. Es gibt keine Solisten, keine Improvisation, nur Standard.

Figur 11: Polizistenneffe Alailson Wer in São Paulo Polizist werden will, muss mindestens 20 Zähne haben. So steht es in den Bewerbungsunterlagen. Wir casten den Prothesen-Spezialisten Alailson. Sein Onkel war Polizist – er selbst stellt dritte Zähne her. In breitem Bahiano-Portugiesisch berichtet er uns, wie der Onkel manchmal nach ein paar Bieren spät am Abend mit der Dienstwaffe aufs Sofa schoss. Wir wollen Alailson engagieren und bauen ihm einen Extratisch fürs Zubereiten von dritten Zähnen. Zubeißen und Durchhalten. Doch nach der ersten Probe verschwindet er für immer. Überhaupt tauchen Polizisten und ihre Angehörigen genau so schnell auf wie sie wieder verschwinden. Dieses Projekt ist ein Bermudadreieck.

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Stefan Kaegi: Schießen oder Nichtschießen?

Wer sind unsere Figuren? Lola sagt: Es gibt Sätze, die funktionieren. Ich sage, es gibt Menschen, an die glaubt man nicht. These: Unsere Figuren werden auch außerhalb unseres Projektes erzählen, wer sie jetzt sind, wen sie jetzt spielen. Sie werden zu Interviewpartnern, diktieren Journalisten ihre Biographie ins Notizbuch – so, wie wir sie gemeinsam erfunden haben. Januar 2007. Noch drei Wochen bis zur Premiere. Coronel Maria von der Pressestelle erklärt uns hinter vorgehaltener Hand, dass sie keinem Polizisten eine Autorisierung zur Teilnahme an diesem Projekt erteilen kann. Die Dienstregeln der Polizei sehen keine Öffentlichkeit für die Polizisten als Menschen vor. Inoffiziell, sagt sie, dürfen die natürlich in ihrem Privatleben tun was sie wollen. Aber offiziell kann sie ihnen das nicht erlauben. Polizisten sollen das Gesetz vertreten. Polizisten sollen den Bürger beschützen. Polizisten sollen nicht erzählen. Unsere Telefonistin Iracema traut sich nicht, ohne Autorisierung aufzutreten. Sie tut nichts ohne Anweisung. Sie sagt ab. Dafür taucht am nächsten Tag eine Kollegin von ihr auf, die sich bereit erklärt, hinter anonymisierendem Milchglas aufzutreten.

Choreographie 3: Hundetraining Am nächsten Morgen fahren wir zur Polizeidressur. Je einem Hund wird ein Polizist zugewiesen. Vom Training (1 Jahr) bis zur Pensionierung des Hundes (7 Jahre). Lola notiert: »Die Hunde haben einen genauen Arbeitstag: 45 Minuten üben. 6 Stunden arbeiten. Dazwischen leben sie in Betonzellen wie im Gefängnis.« Im Training lernt der Hund mit einem Spielzeug das Aufsuchen von riechendem Material. Später wird das Spielzeug durch Kokain ersetzt. Wir schauen zu und loben. Lola stellt fest: Zwei Positionen beherrscht der Schäferhund jetzt schon perfekt: Angreifen und Totspielen auf Kommando. Die Hunde lernen Deutsch: Sitz! Pfui! Fass! Deutsche Sprache = Kommandosprache. Portugiesisch ist im Ernstfall zu langsam. Polizisten haben für Entscheidungen nur Sekunden Zeit: Schiessen oder Nichtschiessen. 303

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Hilferuf oder Finte. Lüge oder Wahrheit. Theater oder Leben.

Figur 12: Sebastião Sebastião ist 78 Jahre alt und bringt zum Casting einen ganzen Plastiksack voller Orden mit. Seine Frau sitzt in der Ecke hinten und souffliert ihm die Namen der acht verschiedenen Uniformen, die er in 38 Jahren Laufbahn durchgewetzt hat. In einem karierten Schulheft hat Sebastião zur Vorbereitung alle Verbrecher notiert, die er in seiner Dienstzeit festgenommen hat. Sie haben liebevolle Namen wie »Pinga« (Schnaps) oder »Pelezinho« (kleiner Pelé). Überhaupt erzählt Sebastião von ihnen, als seien sie seine Freunde gewesen: »Dann sind wir zu Hause bei ihm vorbeigegangen, und er hat sich hinter dem Schrank versteckt. Als wir ihn fanden, fragte er, warum kommt ihr ausgerechnet heute, ich habe noch so viel zu tun«. Wenn Sebastião von Räubern spricht, wird São Paulo zum Märchenland. »Aber heute«, sagt Sebastião, »respektieren die Verbrecher die Polizisten nicht mehr«. Er ist froh, dass keiner seiner Söhne Polizist geworden ist. Polizistensohn Wagner sagt ab. Erste Proben beginnen. Der Zivilpolizist Marcel erscheint mit Stoppelbart und Jeans, ganz der Kumpel aus der Bar, aber als er aufsteht, um das Fenster zu öffnen, sehen wir seinen Revolver im Gurt. Er trägt ihn rund um die Uhr. Selbst, wenn er mal betrunken sein sollte, ist er bewaffnet und verpflichtet, einzuschreiten. Nach der Probe fragt Probenzuschauerin Manuela entsetzt: Wird er auch während der Aufführung seine Waffe tragen? Intuitiv bejahe ich: Natürlich wird er bewaffnet sein, wenn er immer bewaffnet ist. Manuela hat vor Waffen Angst und sagt: Das gibt einen Skandal. In einem Land, in dem selbst private Bürger ohne Schein Waffen tragen dürfen, soll ausgerechnet das Tragen von Waffen ein Bühnentabu sein? Das Theater im SESC ist nicht Brasilien. Wenn das ein Zuschauer sieht, gibt’s einen Skandal, wiederholt Manuela. Wir wollen keinen Skandal wegen Waffen. Was nun? Das sind die Darsteller, das ist das Stück. Bis jetzt. São Paulo schreibt weiter. Aber wie kommen diese Geschichten jetzt ins Theater, ins SESC an die Avenida Paulista, und später ans SpielArt-Festival in München oder ans

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Stefan Kaegi: Schießen oder Nichtschießen?

HAU in Berlin. Lola sagt: »Nur weil eine Geschichte stimmt, interessiert sie mich noch lange nicht. » Schaffen wir es, unsere Polizisten so nah an unsere Zuschauer zu führen, dass sie als Menschen zu verstehen sind? Am 2. Februar ist Premiere – wenn uns das »Batalhão do Choque« nicht vorher den Saal räumt.

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Stefan Tigges: Theatralitätsengpässe, Blenden und Stationendramen

Theatralitätsengpässe, neo-dokumentarische Blenden und Stationendramen. Eine Reise mit Stefan Kaegi durch »authentische« Wissens-Spiel-Räume. Stefan Tigges

Der Reisende geht umher und wieder umher und hat nichts als Zweifel: Es gelingt ihm nicht, die einzelnen Punkte der Stadt zu unterscheiden, und selbst die Punkte, die er in seinem Geiste unterscheidet, geraten ihm durcheinander. […] Welche Linie scheidet das Drinnen vom Draußen, das Rattern der Räder vom Geheul der Wölfe?1

»Wir haben in eine Seite eines alten Fleischtransporters ein zehn Meter langes Fenster eingebaut. Die fünfzig Zuschauer sitzen seitwärts in einer klassischen Guckkastensituation, nur das hinter der »vierten Wand« Realität vorbeifährt – mit bis zu 65 km/h. In jeder Stadt suchen wir neue Bühnenbilder: Tankstellen, Verladerampen, Containerbahnhöfe, Kühlhäuser – wo Lastwagen verkehren, sieht es in den verschiedenen Städten doch immer ähnlich aus. Menschenfremd. Von innen ist der Lastwagen wie ein sehr breites Kino: Die Fensterfront wirkt wide-screen, ein Musiker synchronisiert die Stadt hinter der Scheibe zu einem holprigen Live-Road Movie, das man aus der Perspektive eines Stück Ware erlebt«,

so der junge Schweizer Performer Stefan Kaegi vom Künstler-Kollektiv Rimini Protokoll über eine seiner letzten Arbeiten.2 1. Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte, München 1977, S. 41. 2. Vgl. Stefan Kaegi: »Keine Heilanstalt, sondern Museum. Stefan Kaegi über

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Cargo Sofia – X, das X steht hier für den jeweiligen Destinationsort, nahm 2006 in Basel seinen Anfang und führte von dort u.a. über Berlin, Essen, Avignon, Ljublana,Warschau, Zagreb, Belgrad, Riga, Wien, Le Havre, Strassburg nach Köln. Ein Ende des künstlerischen Expeditionsunternehmens ist noch lange nicht in Sicht. In Kaegis Selbstbeschreibung klingen bereits einige zentrale Motive seiner künstlerischen Arbeit an, die im Folgenden am Beispiel dieser realen und zugleich virtuellen Reise genauer beschrieben werden sollen. Interessant ist insbesondere die Frage der Bewegung als unmittelbar angewandte Reise-Metapher, d.h. wie Kaegi als permanent reisender Künstler-Nomade seine Kunst sowie das Publikum (fort-)bewegt bzw. mit welchen spezifischen Strategien er in die Ränder der urbanen Räume eingreift, diese dramatisch/ästhetisch in »erzählende Bildräume« transformiert und wie er die »Wirklichkeit« inszeniert. Handelt es sich hier primär um ein ästhetisches Konzept der »Verortung« (theatraler Ereignisse), indem Kaegi während seiner anhaltenden Reisestationen den unmittelbaren Kontext zu den jeweiligen Orten sucht und (sub-)urbane Ort-Partikel in eine Bühnenlandschaft transformiert?3 Oder lassen sich Kaegis bewegte Standpunkte, die sich in einem Wechselspiel von verkleinerten oder vergrößerten lokalen und globalen realen und virtuellen Raumausschnitten befinden, nicht treffender mit den ästhetischen Kategorien der »Ver- bzw. Enträumlichung« beschreiben? In diesem Kontext soll sich auch zeigen, mit welchen neo-dokumentarischen Strategien Kaegi in seinen Arbeiten operiert, die das theatrale Repräsentationssystem einstürzen lassen und auf welch »schmalem Grat« zwischen »Inszenierung« und »Wirklichkeit« sich die Aufführungen/Performances bewegen.4 Dabei soll die Aufmerksamkeit kurz auf die nicht- professionellen Darsteller gerichtet werden, die in diesem Beispiel aus der Berufsgruppe der Fernfahrer stammen und – so Kaegi – »als Experten der Wirklichkeit sofort das Theater als Kommunikationsraum, seine Arbeit mit Spezialisten und das Gefühl der Scham«, in: Theater der Zeit, 10/2006, S. 21-25 3. Diese These wird z.B. von Kerstin Evert vertreten: »Die Tendenz zur Verortung von theatralen Ereignissen wiederum beinhaltet zwei – durchaus miteinander verbundene – Ebenen. Der Begriff verweist sowohl auf orts- und kontextspezifische Produktionen als auch auf einen bewusst gesuchten Alltagsbezug, der sich in der Wahl der Themen, der Aufführungsorte sowie in der künstlerischen Arbeit mit nicht-professionellen Darstellern spiegelt. Vgl. Kerstin Evert, »"Verortung« als Konzept: Rimini Protokoll und Gob Squad«, in: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Bielefeld 2005, S. 121-130, hier:122 4. Vgl. ebd., S. 123

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Stefan Tigges: Theatralitätsengpässe, Blenden und Stationendramen

beginnen, ihre Rolle zu spielen«. Wie wird aber diese Rolle ausgeübt bzw. gespielt? Die Spezialisten sind es dann auch, die ihre persönlichen Biographien in den Brennpunkt des Geschehens rücken, als »Autorenkollektiv« erscheinen, darüber berichten, »was für ein Stück Theater sie in ihrem Leben spielen« (Kaegi) und damit den (wirklichen) Autor und Regisseur/Performer Stefan Kaegi in den Hintergrund treten lassen, der nach eigener Aussage nach »Ich-Erzählern eines Romans« sucht und sich selbst eher als eine Art Lektor versteht: »Die Arbeit ist der eines Lektors näher als der eines Autoren. Die Geschichten sind ja schon alle da. Es gilt, sie einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, so dass ein Publikum Lust bekommt, sie mit dem eigenen Hermeneutik-Mikroskop zu durchleuchten. "»5

Cargo Sofia-Basel – Cargo Sofia-Avignon Bei dem Versuch die Erzähl-Ebenen zu bestimmen, lassen sich fünf zentrale Perspektiven entwickeln, wobei grundsätzlich zwischen einer Innenund Außendramaturgie zu unterscheiden ist, die in divergierenden Spielkonstellationen verdichtet sowie entgrenzt wird und das Publikum während seiner Reise-Stationen zu wahrnehmungsreichen Verknüpfungs- bzw. Synchronisationsleistungen motiviert, die sowohl das Sichtbare als auch Unsichtbare beinhalten. Die Binnen-Perspektive bzw. der Innenraum lässt sich zuerst einmal in Laderaum, hier der Publikumsraum, und den Fahrerkabinenraum, hier sitzen zwei bulgarische Fernfahrer sowie eine Übersetzerin, differenzieren. Die beiden Räume sind in dem Sinne durchlässig, dass das Publikum entweder akustische Ereignisse empfangen kann oder (intime) Einblicke in die Kabine erhält, indem es mit aus dem Vorderraum (scheinbar) live-übertragenen Bildern versorgt wird, die in den Laderaum auf die Innenwand projiziert werden, womit die beiden Fahrer trotz räumlicher Trennung dem mitreisenden Publikum zunehmend vertrauter erscheinen. Stefan Kaegi beginnt bereits auf dieser Erzählebene damit, die dokumentierten »authentischen« Eindrücke aus der Fahrerkabine zu manipulieren bzw. mit den Zwischenräumen von Realität und Fiktion zu spielen und die Grenzen der »Reise in der Reise« zu verwischen. Erscheinen die übertragenen »privaten« O-Töne der Fahrer noch »echt«, wenn diese ihr Publikum über den Reiseverlauf informieren, Erzählungen (Schwierigkeiten und Wartezeiten an den Grenzübergängen, Schmiergelder, Pannenhil5. Vgl. Stefan Kaegi, Keine Heilanstalt sondern Museum, Theater der Zeit, 10/2006

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

fe, Schlafplätze, Landessitten, Inflationsraten etc.) und Berufswitze einbauen, wobei sich aber schon hier wiederholt die Frage stellt, ob nicht auch von Kaegi bzw. speziell den Fahrern einige »Mythen« in die zahlreichen Daten/Fakten eingeschmuggelt werden, wird es schon zweifelhafter, wenn der Beifahrer einen Anruf von seiner Frau erhält, ihr von »seiner« Reise berichtet, nachfragt, ob es den Kindern zu Hause in Sofia gut geht und danach den Zuhörern erzählt, dass ihm aufgrund seiner langen Abwesenheiten seine Heimat und Familie fehlen. Ein wirklicher – eigentlich völlig normaler – Anruf oder ein fingiertes Telefongespräch? Zeigt der Beifahrer scheinbar spontan seinen Zuschauern Familienfotos, die aus der Kabine auf die Leinwand geworfen werden, stellt sich die Frage auf eine ähnliche Art. Ein choreographierter dramaturgischer Einfall oder ein Moment der Einsamkeit, der ihn dazu bewegt, sich dem Publikum anzuvertrauen? Spätestens bei den dem Reiseverlauf folgenden Musikeinspielungen aus den jeweiligen Landesradiostationen (vom Balkan-Song über Italo-Pop, deutschen Schlager zum Chanson) tritt die fiktionalisierte Wirklichkeit deutlich auf. Neben der atmosphärisch eingefärbten Berichterstattung aus der Fahrerzelle (1. Erzählebene) reist das Publikum auf einer weiteren Ebene virtuell von Sofia zum jeweiligen Bestimmungsort, indem es auf der Innenwand/Kinoleinwand vorproduzierte dokumentarische Videos verfolgt, die den Zuschauern den subjektiv verdichteten Reiseverlauf sowie speziell die nationalen/politischen/ökonomischen und kulturellen Grenzziehungen näher bringen. Die auf die Leinwand projizierten bewegten Bilder erfolgen in der Regel aber nur dann, wenn der Truck selbst in Bewegung ist und seinem Ziel, d.h. dem Aufführungsende, entgegen rollt, womit die große und kleine Reise nicht zum Stillstand kommen. Die dritte Ebene setzt ebenso auf die Videotechnik und präsentiert in einem kurzen mehrteiligen seriellen Reportage-Format den internationalen Logistikkonzern Willi Betz als Fallbeispiel (Expansion in osteuropäische Räume, kriminelle Unternehmerenergien, Strafprozesse), das als aufklärender Globalisierungs-Lehrfilm zu begreifen ist.6 Eine vierte Ebene eröffnet sich schließlich, wenn die Leinwand während der Fahrt oder im Verlauf der zahlreichen Stopps hochgefahren wird 6. Das ästhetische Mittel der Projektion von bewegten Bildern, die als Abdruck sozialer, politischer und ökonomischer Realitäten eindeutig eine dokumentarische Funktion haben, geht auf die in den zwanziger Jahren von Erwin Piscator entwickelte dramaturgische Form der experimentellen Montage zurück, die Kaegi hier scheinbar zitiert.

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Stefan Tigges: Theatralitätsengpässe, Blenden und Stationendramen

und das Publikum durch Fensterblicke mit realen Schauplätzen der Außenwelt konfrontiert wird, wobei hier entweder einer der Fahrer die Kabine für Erläuterungen vor Ort verlassen kann oder andere Spezialisten unmittelbar von ihrem Arbeitsplatz (Großmarkt, Lagerhalle, Spedition, Industriewaschanlage etc.) über ihre Aufgaben als auch die lokal-regionale Bedeutung ihrer Arbeit/ihres Arbeitsplatzes berichten. Interessant ist hier u.a., dass der jeweils ausgestiegene Fahrer während seiner Schilderungen vor Ort sowohl einen sachkundigen als auch vertrauten Eindruck macht, obwohl es für ihn wie für den Großteil der im Inneren sitzen bleibenden Zuschauer eigentlich ein neuer Raum ist, woraus zu schließen ist – dies belegen dann auch die zuvor und danach ausgestrahlten Videosequenzen des Reiseverlaufs – dass sich die Orte und Räume erschreckend ähneln und die Fahrer damit gar nicht mehr »zu Hause« bzw. überall zu Hause sind.7 Andererseits fragt man sich als zusehender und zuhörender Zeuge hinter der Scheibe, in welcher Form die kurzen Aufenthalte überhaupt geplant sind und inwieweit hier der Zufall eine Rolle spielt, wenn z.B. eine LKW-Verladerampe gerade leer ist, ein »bestellter« Experte scheinbar fehlt oder die Situation so perfekt inszeniert wirkt, dass der »Bühnenraum« voller choreographierter Ereignisse ist und einem das Gefühl vermittelt, außergewöhnlich »viel« dargeboten zu bekommen bzw. gerade das Glück zu haben, diese oder jene (gesteuerte?) Transaktion zu erleben. Als ebenso irritierend kann sich der eigene voyeuristische Fensterplatz während der Fahrt oder der »Expertisen« erweisen, indem z.B. Menschen in vorbeifahrenden Autos neugierig hineinschauen und die Experten während ihrer Erklärungen (Arbeitszeiten, Produktinformationen, Import-Export-Statistiken, Sicherheitsvorschriften etc.) ihre »Menschenladung« (kritisch) mustern. Es kommt zu einem performativ verdichteten Blickwechsel und »Rollentausch«. »Darsteller« und Außenraum blicken zurück, verunsichern, hinterfragen, ob gewollt oder ungewollt, das eigene Rezeptionsverhalten, womit sich der Schauplatz »authentisch« verschiebt: Der Zuschauerraum wird für einen Moment zu einem beobachteten Bühnenraum, zu einem künstlichen Raum/Kunstraum, – in dem das Saallicht erst gar nicht angeschaltet werden muss – die Zuschauer zu erblickten Darstellern ihr selbst. 7. Vgl. auch Annemarie Matzke: Riminis Räume. Eine virtuelle Führung. In: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.), Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater zum Rimini Protokoll. Berlin 2007, S. 104-115. Annemarie Matzke verweist in ihrem Beitrag im Kontext von Cargo Sofia auf raumästhetische Diskurse und nennt dabei u.a. Jean Baudrillard und William Knoke, die die Begriffe des »Ende des Raumes« bzw. der »placeless society« prägten.

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Stellt sich die Innenwand des Laderaums als undurchlässig dar, indem diese als Leinwand fungiert und den Raum nach außen abschließt, so transformiert diese im Prozess ihrer Öffnung (das Hochfahren der LeinWandjalousie) zu einer »vierten« gerahmten transparenten Wand«, die die äußere Wirklichkeit weniger repräsentiert als sichtbar macht. Für die Zuschauer, die die Ausschnitte der vorbeiziehenden Landschaften wie durch die Linse einer Kamera wahrnehmen und jeweils ihre persönliche Bildregie vollziehen, stellt sich nun die Frage, ob sie die »Welt« so sehen, wie sie »ist« oder ob sie diese in vergrößerter dramatisierter (Panorama-)Form so wahrnehmen, wie Stefan Kaegi sie sieht und »inszeniert« und damit auch dessen (bewegte) Perspektiven nachzuempfinden bzw. dessen »Eingriffe in die Wirklichkeit« zu übersetzen haben. Der isländische Künstler Olafur Eliasson stellt in Bezug auf seine Raum-Installationen fest, dass eine Komponente der Raum sei, durch den man sich bewege und die andere der eigentliche Akt der Bewegung, mit dem man sich durch den Raum bewege.8 Kaegi schließt unmittelbar an diese Vorstellung an, wenngleich er sein Publikum während der Reise(n) nur im Sitzen spielerisch und kollektiv durch Wissens- und Erfahrungsräume bewegt. Entscheidend ist hier, dass das Publikum zu einem mitproduzierenden Partner wird, das (Stadt-)Grenzen überschreitet, sich im Innen- als auch in den Außenräumen spiegelt sowie erfährt, wie die privat oder öffentlich konnotierten Räume langsam durchlässig werden. Kaegi folgt in diesem Sinne Olafur Eliasson, der die Rolle des Zuschauers wie folgt beschreibt: »My work is you – the spectator.«9 Wie stellt sich nun die durch die Fensterblicke wahrgenommene Außenwelt für die Zuschauer dar? Die hässlich zerfransten ortlosen Stadtränder, die Satellitensiedlungen und heruntergekommenen Wohnviertel, die Asyllager (Basel) oder die von Zigeunern illegal bewohnten Brachflächen (Avignon), die tristen Zufahrtsstraßen, die Mülldeponien sowie die rohen Industrie- und Dienstleistungsanlagen erinnern in ihrer unmittelbaren Rauheit zunächst an die Ästhetik des dirty-realism, die die ernüchterten Betrachter förmlich »erschlägt«. Jedoch geht von den hässlichen urbanen (Bühnen-)Räumen auch eine ästhetische Sogwirkung aus, die die Landschaften in ein völlig anderes Licht stellt, diese künstlich transformiert und damit künstlerisch erschei-

8. Vgl. Annette Jael Lehmann: »Mediated Motion. Installationsräume und Performative Aisthetik am Beispiel von Olafur Eliasson«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 347-370, hier: 351 9. Ebd.: S. 357

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Stefan Tigges: Theatralitätsengpässe, Blenden und Stationendramen

nen lässt. Kaegis Metaphern der Konsumgesellschaft und der Globalisierung springen gerade in den Momenten um, wenn der Betrachter menschenleere Industrie- und Dienstleistungsanlagen wahrnimmt, die durch die gerahmte Binnenperspektive zu Kunstwerken werden können. So setzten die überdimensionalen Verladekräne, Massenregalsysteme und Containerberge, die sich als Skulpturen, ready mades oder choreographierte (Raum-)Installationen präsentieren können, weitreichende Assoziationen frei, die von Marcel Duchamp, Richard Serra bis zu der Ästhetik von Bernd und Hilla Becher bzw. deren Schülern Thomas Ruff und insbesondere der Bildsprache Andreas Gurskys reichen. Andreas Gursky, der sich während seiner Reisen rund um den Globus wiederholt für Außenschauplätze und Metaphern der Globalisierung interessiert und in seiner »digitalen Malerei« die Zeit und das räumliche Geschehen verdichtet, operiert ästhetisch ähnlich wie Stefan Kaegi, der in seinen Arbeiten zumeist mit für die Theaterpraxis ungewöhnlichen Großformaten (die expandierenden Bühnenräume) arbeitet und sich wie Gursky für das Wechselspiel von Kleinst- und Großstrukturen (die lokale, regionale und globale Dimension) interessiert. Am Beispiel von Gurskys Bildern Montparnasse und Salerno I werden die ästhetischen Parallelen deutlicher, da der Künstler hier mit seinem Standpunkt spielt, jeweils ein »authentisches« Foto suggeriert, das jedoch von ihm bearbeitet wurde, über ein bloßes Zeigen der »Wirklichkeit« hinausgeht und die »Wirklichkeit« somit zum »Ergebnis einer Bild-Konstruktion« wird. Inszeniert er in Salerno I die Hafenlandschaft, hunderte von Fahrzeugen vor ihrer Verschiffung, tausende von Containern sowie die angrenzenden Wohnblöcke und verdichtet damit in seinem »Landschaftsgemälde« die industriell geprägte Gegenwart, – die geistige Nähe zu Kaegis erweitertem Bühnenraum ist hier unverkennbar – so wird in Montparnasse ein riesiger Wohnblock inklusiv Seitenansicht sichtbar, der in Wirklichkeit so nicht zu sehen ist (der Betrachter könnte niemals diese Perspektive einnehmen), da Gursky mit Montagetechniken in das Bild eingegriffen hat, die den Megawohnkomplex mit seinen hunderten von Balkons »wirklicher« erscheinen lassen als er ist. Gursky thematisiert hier einen durch unzählige Mikrokosmen geprägten Makrokosmos, komponiert Bilder, »die Fiktionen auf der Basis von Fakten sind« und transformiert damit spielerisch das dokumentarische (Foto-)Genre.10 Der subjektiv zurückgenommene Blickwinkel bzw. die auf den ersten Blick auftretende Unklarheit des Eingriffgrads des Fotografen in seine Bilder entspricht in vielerlei Hinsicht, der Perspektive, die der Zuschauer im

10. Vgl. Andreas Gursky/Thomas Weski: Andreas Gursky, Köln, 2007, o.S.

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Laderaum des LKW einnimmt und daraus einerseits frei auf authentische Schauplätze sieht und andererseits mit von Kaegi gelenkten Blicken inszenierte (Bühnen-)Räume wahrnimmt. Das Inszenierungsmoment von Cargo Sofia-Avignon wächst auf der fünften Erzählebene weiter an, indem das Publikum im Verlauf der »aufgeführten« Reise wiederholt einer jungen Frau begegnet, die zunächst auf ihrem Fahrrad den Truck begleitet, dann verschwindet, schließlich telefonierend auf einer Verkehrsinsel sitzt und später einen Fado singt, der in den Innenraum übertragen wird. Aus der zunächst zufällig anmutenden Begegnung entwickelt sich somit ein dramaturgisches Prinzip, dass dem ge-/enttäuschten Publikum einen Spiegel vorhält und in aller Offenheit eingesteht, dass die große-kleine Reise einem Inszenierungsgedanken folgt, der die behauptete »Wirklichkeit« aufs Korn nimmt und diese fiktionalisierend einrahmt.

Stadt – Raum – Erzählung Kaegi scheint mit dieser Produktion an die Tradition des »Stadt als Erzählung«-Modells anzuknüpfen, dabei insbesondere die zerfledderten TextRänder zu fokussieren und urbanistische Diskurse in seinen WissensSpiel-Räumen (ästhetisch) zu verhandeln, wobei er jedoch die »Stadt als Textgewebe« (de Certeau) immer wieder aufreißen lässt bzw. entweder von der lokalen Ebene in eine globale Dimension über-setzt oder die globale Perspektive extrem verkleinert und jeweils vor Ort nach lokalen Spurenverweisen, d.h. »kleinen Erzählungen« sucht. Auffällig für Kaegis Rhetorik des Fahrens/Reisens bzw. seiner Raumgeschichten, aus denen permanent Transit-Bilder entströmen, ist vor allem die Intention, dem zumeist heimischen Publikum seine eigene Fremdheit bzw. Ortlosigkeit/Translokalität vor Augen zu führen, indem es jeweils an seine unwirklichen Stadt(raum-)grenzen bewegt wird und diese bereits als speziell ökonomisch bedingten Kulturschock erfahren kann. Bei einer Bezugnahme auf Michel de Certeaus Differenzierungskriterien von Ort und Raum werden Kaegis Erzählstrategien noch lesbarer, da er sein Publikum primär die Kategorie des Raumes verhandeln lässt, von der nach de Certeau eine wesentlich größere Instabilität ausgeht und deren Lektüre durch signifikante Störungen gekennzeichnet ist. De Certeau stellt dementsprechend im Hinblick auf die Kategorie des Ortes fest: »Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.« Dagegen entsteht ein Raum, »wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein 314

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Geflecht von beweglichen Elementen. (.) Im Gegensatz zum Ort gibt es also weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas »Eigenem«.11 Das »Eigene« verfremdet Kaegi durch den Zustand seiner Bewegtheit bzw. seiner dynamisierten »Transits« (die reale und fiktive oder virtuelle innere und äußere Reise) oder anders formuliert: Das »Eigene« verflüchtigt sich durch Kaegis transnationales Raumdenken, das einen territorialen Raumbegriff überwindet und er die (Erfahrungs-)Räume als »Spannungsfeld von globalen und lokalen Phänomenen und Interdependenzen« in Form von Bild-Sprüngen inszeniert. Kaegi operiert damit sowohl mit den gegensätzlichen Strategien der Entortung, Verortung als auch Ent-, Verräumlichung sowie Raumverdichtung und reist mit dem Publikum im Sinne Marc Augés in Transiträume, die wiederum den Beteiligten ihre Transit-Identitäten vorspiegeln. Das »Eigene«, so lässt sich folgern, blitzt in dem Sinne während des »Stationendramas« immer dann auf, wenn es dem Publikum im Prozess des Zusammenlaufens der globalen Stränge im lokalen Raum einen ephemeren identifikatorischen Moment gewährt, d.h. eine lokale Lektüre anbietet. Es wird dann aber von Kaegi wieder gelöscht, indem sich das lokale im globalen Moment verflüchtigt und Kaegi eine grenzenlose große Erzählung anreißt, die das Publikum aus seiner jeweiligen Stadt treibt.

Die Grenzen der Selbstdarstellung Paolo Bianchi stellt in Bezug auf das Phänomen der Selbstdarstellung fest, dass Selbstdarsteller mit den »Möglichkeiten einer wirklichen sowie einer fiktiven Identität« spielen und dabei einen »fiktiven Körper, nicht aber eine fiktive Person« suchen.12 In Bezug auf die beiden Selbstdarsteller in Cargo Sofia X stellt sich jedoch die Frage, ob die beiden LKW-Fahrer in ihrer »Rolle« als »Nicht-Spielende« nicht an ihre »spielerischen Grenzen« stoßen, indem sie von Stadt zu Stadt zunehmend ihre Rolle ausbauen, damit beginnen, sich zunehmend stärker selbst zu inszenieren, (mit dem Publikum) zu spielen, somit immer mehr zu fiktiven Personen/Figuren werden, womit sie ihre ursprüngliche Experten-Authentizität verlieren und mit ihrem schauspielerischen Debutantismus künstlerisch auflaufen.13 11. Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218 12. Vgl. Paolo Bianchi: »Die Kunst der Selbstdarstellung. Ästhetisches Dasein zwischen Erscheinen, Existentialismus, Existenzsetzung und Selbstkultur«, in: Kunstforum International, Band 181, Juli-September 2006, o.S. 13. Wohl auch aus diesem Grunde kam es während der Cargo Sofia X Produktion

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Anders formuliert: Das »Spiel« der »Laien« bzw. »nicht-professionellen« Darsteller verhält sich im Grunde diametral zu dem spielerischen Prozess von professionellen Schauspielern, deren »Spiel« grundsätzlich mit wachsender Bühnenpraxis reift, was im Grund ebenso für die wachsende Präsenz der Darsteller in der durch das Theater geprägten Performancepraxis gilt. Versucht Kaegi die von ihm ausgewählten Experten, die »ausschließlich« ihre eigene Biographie bzw. Rolle performen, seinem Publikum in einer erweiterten Bühnenlandschaft als Menschen nahe zu bringen, um in Form »authentischer« Begegnungen »Wirklichkeiten« zu verhandeln, so entspringt dieser Ansatz auch dem von Christel Weiler formulierten Befund, der zwar nicht neu ist, aber nach wie vor das ästhetische Gebot der Stunde auf den Punkt bringt: »Wenn außerhalb des Theaters alles inszeniert erscheint, dann muss das Theater sich notwendigerweise fragen, wie es das gesellschaftlich Inszenierte durch seine eigenen theatralen Mittel und Inszenierungsstrategien kritisch befragen und vielleicht sogar wirkungslos machen kann.«14

Peter Weiss im Rückspiegel Dass der Arbeit Kaegis dokumentarische Züge innewohnen, sollte deutlich geworden sein. Diese unterscheiden sich jedoch grundsätzlich von einer Ästhetik, wie sie Peter Weiss 1968 in seinen Notizen zum dokumentarischen Theater vorschwebten, da Weiss zu seiner Zeit noch davon ausging, die Welt als ganzes System erklären und durch Kunst verändern zu können, er dementsprechend sein Modell mit einem didaktischen bzw. aufklärerischagitatorischen Impetus ausstattete und dabei auf professionelles Schau-

zu einem erneuten Casting, wonach die beiden bulgarischen Fahrer ausgewechselt wurden. Bei den übrigen Experten stellt sich dieses Problem nicht, da jene jeweils nach aufwendigen Recherchen an den verschiedenen Stationen von Kaegi neu besetzt werden bzw. das Konzept in Abhängigkeit der Städte und der Räume von vorn herein flexibel und offen angelegt ist und programmatisch neue professionelle Perspektiven dazukommen. 14. Vgl. Christel Weiler: »Nichts zu inszenieren. Arbeit am Unsichtbaren«, in: Erika Fischer-Lichte/Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler(Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 58-71. Eine völlig gegensätzliche Position vertritt dagegen Diederich Diedrichsen in seinem Beitrag zu dem Theater von René Pollesch. Vgl. Maggies Agentur.

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Stefan Tigges: Theatralitätsengpässe, Blenden und Stationendramen

spiel/Rollenspiel setzte, das im Rahmen eines »Tribunals« zwischen Anklägern und Angeklagten auf Wahrheitssuche ging und zu (Wert-)Urteilen kam. Peter Weiss formuliert unter seinem ersten Punkt – hier wird die ästhetische Differenz zu Kaegi signifikant – : »Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder« und notiert unter Punkt fünf, – der Unterschied zu Kaegi wird noch größer – : »Doch schon beim Komponieren des Materials zu einer geschlossenen Aufführung, festgesetzt auf einen bestimmten Zeitpunkt und auf einen begrenzten Raum mit Agierenden und Zuschauern, werden dem dokumentarischen Theater andere Bedingungen gestellt als die, die für das unmittelbare politische Eingreifen gelten. Die Bühne des dokumentarischen Theaters zeigt nicht mehr augenblickliche Wirklichkeit, sondern das Abbild von einem Stück Wirklichkeit, herausgerissen aus der lebendigen Kontinuität.«15

Bricht Kaegi unmittelbar kunstvoll tief in die Lebenspraxis ein, spielt mit deren Grenzen bzw. hebt diese zum Teil auf, verwischt dabei verstörend produktiv die feine Linie zwischen »echt« und »manipuliert« und sucht dabei nach authentischen Darstellern, die ihre individuelle Geschichte erzählen, so hält Weiss während der Aufführung gerade die Grenzziehung zwischen Kunst- und Lebenspraxis aufrecht, nimmt im Gegensatz zu Kaegi keine subjektive Position ein und wählt »authentische Personen, die als Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Interessen« gekennzeichnet werden und eben nicht »individuelle Konflikte darstellen, sondern sozialökonomisch bedingte Verhaltensweisen«.16 Richtet Weiss die Aufmerksamkeit vor allem auf das »Erreichen eines Überblicks« bzw. einer »Synthese«, die am Ende zu einem Erkenntnisprozess führen, so richtet sich bei Kaegi das Interesse auf Ereignisse sowie Erlebnisse, die zwischen Leben und Kunst offen gerahmt sind und einer komplexeren Raumvorstellung folgen, da die nach ausgiebigen Recherchen gewählten (und bedingt transformierten) Schauplätze das Publikum zugleich lokal, regional und global »ansprechen« und alle Beteiligten zu Erfahrungssprüngen motiviert.

15. Vgl. Peter Weiss: »Notizen zum dokumentarischen Theater (1968)«, in: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Hamburg 1995, S. 293-300 16. ebd. Vgl. auch Renate Klett: »Alle machen mit. Die Meister wissen’s nicht«, in: Die Zeit, Nr. 3, 2003, S. 32

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Analog dazu diagnostiziert der Philosoph Dieter Mersch im Rahmen seiner Ereignisästhetik wiederholt in Bezug auf zeitgenössische Kunstformen: »Demgegenüber scheint das Typische zeitgenössischer Produktionen weit eher im Sporadischen und Experimentellen zu liegen, dem Spontanen, dem Spiel des Patchwork, der Kumulation von Bruchstücken, dem offenen System oder dem »Sprung«, (.), dem Aufklaffen transformatorischer Prozesse und Events, die treffender unter dem Titel des »Konzepts«, der »Praktik«, oder des »Performativen« rangieren sollten. Sie bringen nicht nur eine »andere Kunst« hervor, sondern verschieben überhaupt ihren Raum, ihre Bühne, ihre konstitutiven Grenzen- und also auch die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst.«17

Literatur Bianchi, Paolo: »Die Kunst der Selbstdarstellung. Ästhetisches Dasein zwischen Erscheinen, Existentialismus, Existenzsetzung und Selbstkultur«, in: Kunstforum International Band 181 (2006), S. 46-57. Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte, München 1977. De Certau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Evert, Kerstin: »Verortung als Konzept: Rimini Protokoll und Gob Squad«, in: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen Kunst, Bielefeld 2005, S. 121-130. Gursky, Andreas/Weski, Thomas: Andreas Gursky, Köln 2007. Jael Lehmann, Annette: »Mediated Motion. Installationsräume und Performative Aisthetik am Beispiel von Olafur Eliasson«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 347-370. Kaegi, Stefan: »Keine Heilanstalt, sondern Museum. Stefan Kaegi über das Theater als Kommunikationsraum, seine Arbeit mit Spezialisten und das Gefühl der Scham«, in: Theater der Zeit Nr. 10 (2006), S. 21-25. Matzke, Annemarie: »Riminis Räume. Eine virtuelle Führung«, in: Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.), Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater zum Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 104-115. Weiler, Christel: »Nichts zu inszenieren. Arbeit am Unsichtbaren«, in: Erika Fischer-Lichte/Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 58-71. 17. Vgl. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2002, S. 169

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Stefan Tigges: Theatralitätsengpässe, Blenden und Stationendramen

Weiss, Peter: »Notizen zum dokumentarischen Theater (1968)«, in: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Hamburg 1995, S. 293-300.

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Abbildung 8 und 9: Area 7. Eine Matthäusexpedition mit Christoph Schlingensief (Burgtheater Wien 2006)

Fotos: Georg Soulek/Burgtheater Wien

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Abbildung 10: Kaprow City. Eine begehbare Installation mit Christoph Schlingensief (Volksbühne Berlin 2006)

Foto: David Baltzer/Zenit

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Bärbel Lücke: Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7

Parsifals Irrfahrt nach Afrika. Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7. Eine Matthäusexpedition mit Christoph Schlingensiefs Parsifal: (Laß o Welt o Schreck laß nach) – Versuch einer Annäherung Bärbel Lücke

Wie kam Parsifal nach Afrika? Oder auch: Wie kam Parsifal schließlich an das Burgtheater in Wien? Oder noch einmal anders: Wie kommt ein hybrid-narrativer Text in eine Installation? Und welche Transformationen finden da statt – zwischen Bühne und Text, zwischen Drama und Installation, zwischen Video und Wort? Und wie fing überhaupt alles an? Vielleicht fing hier alles an mit Schlingensief, der in Jelineks Text ja selbst zum Parsifal wird (zum fahrenden Kunstritter statt Gralsritter) und auf seinen Irrfahrten, so erzählt jedenfalls im ersten Teil des jelinekschen Parsifal-Textes rückschauend der auktoriale Erzähler, an »den Fluss Bay (bei Reuthe)« kommt und sagt, »er solle hier inszenieren«, was er auch tat: Die Inszenierung von Richard Wagners Parsifal im Jahre 2004 in Bayreuth war die erste Station im parsifal-odysseeischen Stationendrama der Fahrt in die Welt (der Text spiegelt auch (un-)dramatisch – es sei denn, man bezeichne den zweiten monologischen Teil als dramatisch – den Werdegang des sich »erweiternden« Bühnenereignisses), und Schlingensief installierte dafür eine Drehbühne, die mit ihm als so genannter Animatograph (nach dem Fin de Siècle-Filmemacher Robert W. Paul) weiter zog: zuerst nach Island, wo er die Mythenwelt der Edda aufnahm, dann nach Neuharden323

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berg bei Berlin, wo ein Parsipark im Wald entstand, und schließlich – ein Gesamtkunstwerk, das Film, Performance, Bildende Kunst und Video umgreifen sollte – in ein Township am Rande von Lüderitz in Namibia, wo noch ein selbstgebautes Schiff hinzukam, als Zitat gleichermaßen von Werner Herzogs Fitzcarraldo und Wagners Fliegendem Holländer. Elfriede Jelineks Parsifal-Text reiste schon mit nach Afrika. In der Wiener Installation stand er dann, als von der Video-Leinwand in den Theaterraum hinein gesprochenes Wort, »im Zentrum« (News) von mittlerweile fünf Drehbühnen-Animatographen, in denen der Raum zur Zeit wird, der Beuys und Bach, Schrödingers Katze, Einstein und die Quantentheorie, Mahler und Wagner, Mythenwelt, Kunst und Theorie aufeinander projiziert, ein theatrum mundi, bei dem auch Elfriede Jelinek, von der Leinwand auf einem Riesenrad herab und doch mittendrin, ihren Text liest, der, nach Schlingensief, »wie das Wort gewordene Bild« zu der Komposition des Projektes ist, »eine ganz persönliche Bildbeschreibung«, eine Umkehrung von Bambiland, befindet Susanne Zobl in News, denn damals hatte Schlingensief »die Bilder für das Jelineksche Werk geschaffen«. Aber vielleicht, trotz der zentralen Positionierung der Leinwand, als Wort-Ereignis doch nur ein Ereignis im multimedialen Gesamtereignis, Puppe in der Puppe. Was ist der jelineksche Parsifal – befragt man nun erst einmal den Text selbst, wobei hier nicht untersucht werden kann, wie sich die oben genannten Mythen, die Musik, die Physik zu dem Text verhalten – für eine Figur? Ähnelt er der mittelalterlichen Figur von Wolfram von Eschenbach? Oder eher dem Parsifal Richard Wagners? Er umgreift sie, zeitübergreifend, beide und noch viel mehr: Auch er ist ein Animato-graph, könnte man sagen, ein Text – also Schrift (graphein, schreiben) –, der »animiert«, das heißt, die »Seele« neu »belebt«, indem er jeweils ein Ereignis in ihr freisetzen kann, vielleicht im Sinn von Derridas Schibboleth und seiner Philosophie des Textes als Gabe: »mehrere einzelne Ereignisse können sich verbinden, sich in einem Datum konzentrieren, das folglich dasselbe bleibt und ein anderes wird«: Hier verbinden sie sich nicht in einem Datum, sondern in einer Figur, die dieselbe bleibt (der Name Parsifal), und doch immer wieder eine andere wird (wie auf einer Drehbühne), wobei Konzentration bei Derrida ja immer zu verstehen ist als »gebündelte Vielfalt« (wie bei einem musikalischen Cluster?) – wie Jelineks Parsifal, wie Schlingensiefs Animatograph. Parsifal als Animato-graph heißt auch: Er ist Schrift (gramma) im Sinne Derridas. Wenn Derrida in der Grammatologie Saussures Zeichen analysiert, spricht er auch vom »ungeheuerliche[n] Verbrechen«, das nach Saussure die Schrift begangen hat, weil sie die phone, den lebendigen Laut, verdrängte: Es ist das Vergehen der Usurpation, denn die Schrift ist »nicht mehr im Logos [im gesprochenen Wort, B.L.] erfüllte Präsenz«, nicht mehr »Paru-

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Bärbel Lücke: Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7

sie«, also Erscheinung, Enthüllung des Logos, der auch Christus heißt, der sich dann im Gralsgeschehen enthüllt als Erlösung (Heil) und Erlöser durch sein Blut, das der Gral, der Kelch, auffängt, wie es der Mythos sagt. Die Schrift aber ist nie reine Präsenz wie das Wort (wie der Leib Christi im Blut und in der Hostie); sie ist das Anwesend-Abwesende, Stellvertretung im Zeichen z.B.: In der derridaschen Schrift als Supplement (Stellvertretung und Ergänzung) verliert deshalb das Zeichen sein stabiles Signifikat, indem es in Bewegung versetzt, verzeitlicht wird (zur Zeit wird hier der Raum) im Gegensatz zur ewigen stabilen Präsenz des Wortes. Die Schrift ist nicht ewig, sie ist nur Spur, »Spiel« im Wechsel von Ambiguität und eindeutiger Bedeutung. Und so »träumt« das gesprochene Wort weiterhin »seine eigene Erfüllung«: Sein als Präsenz, »Leben ohne Differenz« (Grammatologie) – d.h. différance –, Erlösung durch »reale Gegenwart« (Steiner). Wenn Jelineks Text beginnt, heißt es: »Parsifal sagt nichts«; stattdessen »reißt [er] sich den Schmerz aus der Brust und sucht«. Sind wir also zeitversetzt? Mitten hinein versetzt in einen Text? In ein Ereignis? Und heißt das: Parsifal hat geschwiegen, hat die Mitleidfrage nicht gestellt, die die erfüllte Präsenz im Wort, also Erlösung, gewesen wäre, und macht sich nun auch noch gefühllos? Durch das Mit-Leiden und das Fragen sollte er, der »reine Tor«, einst »wissend« werden, er musste lernen (wissen), dass niemand zum Erlöser wird, der nicht weiß, wovon auch ein Erlöser erlöst werden muss, damit er nicht auf ewig verwundet dahinsiecht wie Amfortas mit seiner Kastrations-(Seiten-)wunde, nämlich von der Verfallenheit an sinnlich-körperliche Liebe. In Jelineks Parsifal steht nun aber die Queste (Quête), die Suche (»und sucht«), unter eher ungünstigen Vorzeichen, was die Erlösung betrifft; so viel weiß der Leser schon nach wenigen Sätzen. Denn der »Boden«, der doch nur »gefegt« werden sollte, ist unter Parsifals Füßen »hinweggefegt« worden. Das ambige Sprachspiel Elfriede Jelineks bildet keine Welt ab, es wird gleichsam selbst zum entropischen WeltRaum als Text-Raum, indem es den Logos, das eindeutig-eine Wort und zugleich die Welt-Vernunft, destabilisiert. Und weil das so ist, und der Satz vom zureichenden Grund (dem festen »Boden« – bei Leibniz logisches und theologisches Erklärungsprinzip zugleich) nun gleichsam grund- und bodenlos geworden ist, ist jedes Wortspiel bei Jelinek, jede Spielart von Ironie, bodenlose Welt und zugleich abgründige Sprache, die keinen Grund (Ursprung, Gott, Heil, Telos, Erlösung) mehr voraussetzt oder anstreben könnte. Parsifal, das wissen die Leser also schon nach diesen wenigen Sätzen, auch wenn er sein »Geheimnis« noch zwischen seinen »Lippen« zusammendrückt, wird die Welt, wird auch Afrika nicht erlösen, weil er gar kein Erlöser ist und weil die Welt keine einzelnen Erlöser mehr braucht –

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aber vielleicht wird er – als Text – doch den einzelnen Menschen erlösen, der sein Datum, sein (Kunst-)Ereignis, sein Schibboleth findet, und sei es nur für einen Augenblick? In Jelineks Parsifalfigur sind alle anderen Texte raum- und zeitübergreifend eingeschrieben, von Wolfram über Wagner bis vielleicht zu Muschgs Rotem Ritter, von denen die beiden erstgenannten verbindet, dass sie reine Erlösungsmythen sind, die den Kreis abschreiten von Reinheit, Schuld, Strafe und Erlösung zu (erneuerter) Reinheit oder von Erwählung, Verstoßung, Bewährung und (erneuerter) Erwählung. Es ist das Paradigma der Zirkulation der Güter, des oikos (der Ökonomie), des Tausches von Gabe und Gegengabe (denen der Potlatsch, die Zerstörung von Gabe und Gegengabe, eingeschrieben ist), zirkuläre Ausfahrt und Rückkehr zum Ursprung des odysseeischen Modells (Derrida, Falschgeld), das Jelineks Parsifal durchbricht, denn er wird den erlösungspendenden Gral auch im Kral nicht finden noch wird er ihn hinbringen als Sühnekelch. Parsifal kommt nach Afrika (und mit im Gepäck bei Elfriede Jelinek ist David Signers Buch einer etwas anderen Ökonomie, nämlich der Ökonomie der Hexerei) in dem Moment, stelle ich mir (mit Wolfram) zunächst einmal vor, als er von der Gralsburg vertrieben wurde, weil er die Mitleidsfrage unterließ und so schuldlos-schuldig mit seinem Gott haderte. Mit Wagner dreht sich der Animato-graph Parsifal, und er ist schon »ahnend-wissend«; denn durch Kundrys Verführungsversuche in Klingsors Zauberreich erschien ihm das Bild des leidenden Amfortas vor Augen, und er hat die Bedeutung der Wunde des leidenden Gralskönigs erkannt. Amfortas, der in Jelineks Werk öfter vorkommt (Babel z.B.), ist für sie eine mythologische Vermischungsfigur (zu der ja auch Parsifal wird), Symbolfigur oder Allegorie des Patriarchats (also auch seiner Eroberungs-, Missions- und Machtstrategien und -strukturen) und zugleich matriarchalischer Heros (bei Jelinek geht es immer um das dekonstruktive Zugleich im Pharmakon, das ja Gift- und Heilmittel ist, wie Derrida in Platons Pharmazie (Dissemination) darlegt; man könnte also auch sagen, Parsifal sei eine Pharmakonfigur oder ein Figurencluster, wo immer man seine Anleihen machen möchte – bei der Philosophie oder der Musik, wenn die alten Tropen nicht mehr wirklich tragen). Zur patriarchalischen Figur (einer Facette der Vermischungsfigur) wird er, weil das Gralskönigtum – in sich schon eine Wiederholung im Sinne der derridaschen Iteration, also der nichtidentischen Wiederholung, und zwar des Jesus-Mythos bzw. aller Erlösungsmythen von Dionysos – Adonis – Pan – Liber Pater, also Befreier, bis zu Jesus Christus – die reine (nicht vom Weiblichen kontaminierte) Männlichkeit verkörpert, die Erlösung von der Sünde der Sinnlichkeit, die nach christlich-patriarchalischem Mythos mit der Frau in die Welt kam. Seitdem ist der Mann dann ein Erlöster (Gott, Sonne, Licht der Vernunft, Geist), 326

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wenn er der Frau (Körper, Natur) widersteht bzw. sie (die Natur, die Frau) besiegt. Und wenn er »fehlt« (die Verfehlung, die Verfallenheit), ist Kastration seine »Strafe«, wie bei Odin, wie bei Ödipus, wie bei Teiresias (sie alle waren blind, d.h. kastriert). Mit der Kastration und der Einverleibung des Penis (›Auge‹) des Vaters hatte schon Freud den Beginn der patriarchalischen Religionen angesetzt – in der Wiederkehr des Verdrängten: der ermordete Urvater kehrt als Geist gewordener Gottvater zurück, und mit ihm die Gebote der Unterwerfung der Natur, weil der Geist das in der dichotomischen Hierarchie »Höhere« ist. Wenn Jelinek Parsifal nach Afrika fahren lässt, verweist sie auch auf den patriarchalisch-imperialistisch-pervertierten Erlösungsgedanken kolonialer Zeiten. Aber bleiben wir noch beim mythischen Parsifal. Denn der Gralsmythos verweist auch auf den Kult der Großen Göttin, also auf das Matriarchat (der Gral ist ursprünglich ein Kessel, der das Menstruationsblut der großen Göttin, der Muttergöttin, auffing, das dann im Patriarchat zum Blut aus Christi Wunde verkehrt wurde), mit dem Heros, dem König, also Gatten der Göttin, der kastriert wurde, damit sein Blut die Felder befruchtete und er als göttlicher »Sohn« (in Gestalt des Nachfolgers) wiederkehren konnte. Noch im Dionysos-Kult bleibt dieses Wissen lebendig: Im bacchantischen Rausch zerstückeln die Maenaden den Körper des Gottes, damit der Sohn die Nachfolge antreten kann. Erst später wird aus dem Mahl von Fleisch und Blut des Gottes Brot und Wein. Elfriede Jelinek nun nimmt all das auf und webt sogar noch afrikanische Mythen ein – man weiß ja heute, dass die griechischen auf afroasiatischen Mythen beruhen. Wenn Parsifal sich also, verzweifelt, wie er bei seiner Ankunft ist, auf Afrikas bodenlosen Grund als Wasser vergießen möchte – als berühmter Tropfen auf den heißen Stein? (»So zischt die Schlange, wenn sie liebt! Aber auch der heiße Stein«) –, dann spielt sie vielleicht auch auf die afrikanische Große Göttin Mawu an, deren Totemtier die Schlange ist: Der Schlangenstein, der zum Stein der Weisen wurde, war dem Mond geweiht, ein weibliches Attribut also. Auch bei Wolfram ist der Gral (anders als bei Wagner, bei dem er ein Kelch ist, ein Gefäß wie der Kessel der Großen Göttin) ein Stein, ein Wunderstein (alchimistischer Stein der Weisen?), der Speisen spendet und dessen Anblick Leben und Jugend erhält; allerdings beruht seine Kraft – in christlichem Sinne bzw. in der Vermischung von allem – auf der Hostie, die jeden Karfreitag von der Taube (Heiliger Geist) erneuert werden muss. Als Parsifal in Afrika ankommt, landet er aber keineswegs im Kral, sondern er trifft zuerst auf einen »Fétischeur« mit »kühlen, blauen Augen«, der mit seiner, also Parsifals, Hilfe aus Afrika ein »Tourismusland« machen will. Die Erlösung ist also im Zeitalter der Globalisierung das Kapital, das – als Ausgleich für einstige und heutige koloniale Ausbeutung? – gebracht werden soll, und die Gier hat überall unschuldig-bürgerliche 327

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Hans-Hansen-Augen? »Entwicklung« (»Kann man da etwas entwickeln?«) ist im Parsifal-Kapitalismus-Kontext Entwicklungshilfe und in Afrika wie vielleicht auch anderswo längst keine psychologisch-geistige Angelegenheit mehr: Der jelineksche Witz zielt auf ein Lachen ab, das immer subversive Opposition meint: »Macht, Gewalt, Autorität sprechen niemals die Sprache des Lachens« (Bachtin). Der »reine Tor« Parsifal ist also »begeistert« von dem Plan. Dennoch weiß gerade der Zauberer und Fétischeur, dass Parsifal »ein andrer werden« muss (heißt das: weder ein kolonial-missionarischer Ausbeuter-Erlöser noch ein Entwicklungshilfe-Erlöser?). Wenn Parsifal also nach Afrika kommt, um »der Welt abhanden« zu kommen (das von Mahler vertonte Gedicht von Rückert Ich bin der Welt abhanden gekommen durchzieht den Text ebenso leitmotivartig wie das von Hugo Wolf vertonte Mörike-Gedicht Laß o Welt, o laß mich sein, das auch, karnevalistisch verballhornt im Sinne Bachtins, im Titel vorkommt), so holt die Welt ihn wieder, »die läßt ihn nicht« – es ist dies genau das, was er in Afrika wird lernen müssen, wodurch er wissend werden wird, ein aus seiner »Weltferne« zu erlösender Erlöser. Und nun spricht Parsifal (der auktorial erzählte Teil ist kurz im Vergleich zum folgenden Monolog) selbst, und beinahe scheint auch er zu singen: »War verreist, war verreist aus der Welt, verreist, indem ich wiederkehr« – Triumphgesang eines Heros, der wiedergeboren worden ist? Variation auf Rückert? Weltwerdung des Erlösers? Aber es sind eher die Worte des heimkehrenden Dionysos, wie er in den Bakchen des Euripides auftritt, und er sagt nun: »Ich bin ein Gott, in meine eignen Hüften eingenäht von all den Badehosen, die ich trug, die von vielen Liebesbünden mir auf den Leib geschneidert worden sind.« Das »eingenäht« scheint an den Schenkel des Zeus zu erinnern, in dem Dionysos ausgetragen und aus dem heraus er geboren wurde, keine Kopfgeburt wie Athene (im Gegensatz zu der Frau können sich die Männer aussuchen, aus welchem Körperteil sie gebären wollen), sondern eine aus dem Schenkel (in der Nähe der Seiten-, der Kastrations-, der weiblichen Wunde), wie es sich vielleicht ziemt für den Gott des Rausches, des Weines, des Wahnsinns, des Schmerzes und des Ekels, den Gott der »Selbstentäußerung«, der »Leidensfähigkeit«, den Gott der geschlechtlichen »Zuchtlosigkeit« (die nur von seinen Badehosen gebändigt wird?). All diese Attribute schreibt ihm nämlich Nietzsche zu in der Geburt der Tragödie, und Elfriede Jelinek nimmt auch die alle auf. Die Geburt aus Zeus war bereits eine Wiedergeburt des Dionysos, denn zuvor hatten die Titanen ihn, Dionysos-Pentheus, zerstückelt, und Zeus hatte sie besiegt (dem Pentheus reißt in den Bakchen die eigene Mutter im bacchantischen Rausch den Kopf ab, den sie für einen Löwenkopf hält). »[B]ald fällt der Kopf vom Rumpf […], doch nie der meine, wens trifft, mir ists egal«, sagt Parsifal-Pentheus-Dionysos(-patriarchal-kolonialer-Erobe328

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Bärbel Lücke: Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7

rer-Unschuld?) im Jelinek-Monolog mitleidlos. Es kann ihm, im Mythos zumindest, »egal« sein, denn er wird wiedergeboren werden: Als Pentheus zerstückelt, als Dionysos auferstanden, als Christus gekreuzigt, als Erlöser auferstanden, als Parsifal verflucht, als Gralskönig unsterblich. Entschlossen verkündet er (und damit den »Sinn« des Textes?): »So. Ich als Gott fahre nach Afrika, und so erfahre ich mir als Gott die Leiden der Individuation [die Zerstückelung! Auch die Gene sind zerstückelt, B.L.], erstehe auf, und, weil ich das zu schnell gemacht habe, fallen die Individuen alle von mir wieder runter.« Der Gott als Prophet: Denn tatsächlich trifft er in Afrika keine Individuen im abendländischen Sinne. Dabei ist er, Dionysos, gerade der zerstückelte Gott der Individuation, der sie an sich selbst erst erleiden musste, während Apoll, sein Widerpart und siamesischer Zwilling, das principium idividuationis verkörpert (Nietzsche). Dionysos-Parsifal dagegen sagt, Nietzsche variierend: »Ich bin ein Gott, der lächelt, und aus meinem Lächeln kommen Hexen, Dämonen, Götter, Fetische, aber aus meinen Tränen kommen Menschen […].« Wenn Dionysos die Welt »ist« (»Fall gleich ganz aus der Welt, die ich bin«), dann ist Parsifal der, der die Welt flieht (Mahler-Motiv), aber nicht »ist«: Doch sie singen beide dieselbe Melodie; es verbindet sie Welthass und Weltliebe, die in beiden von ihnen sind – die jelineksche Sprachkomik macht daraus: »Hasso Welt, Fido Welt, Hasse Welt, feiere Welt und mich«. Den Gott der Erlösung vom Leiden und den Gott der Zerstückelung und des Leidens – Jelinek hat sie untrennbar verknüpft: »Uns hat man zusammengeflochten.« Und wieder dreht sich der Animato-graph Parsifal und ist zum Prometheus geworden, ein anderer Erlöser freilich: »Hier sitz ich also jetzt im Dreck, forme, wenn auch unter Druck, Menschen, wenn auch aus Dreck«, und das Goethegedicht wird durchgeknetet mit Dreck und Müll – Menschenerschaffung in Afrika? Eine Frage nur scheint sich hier aufzudrängen: Warum muss man in Afrika Menschen erschaffen? Stammt der Homo habilis nicht gerade aus Afrika? Und warum muss der erklärte »Widerling von Natur« (Parsifal-Prometheus) aus einer »Naturwidrigkeit« (»Dreck, von einer kühlen Brise abgekocht«) in einem naturwidrigen Akt Menschen herstellen? Und das fragt nun Parsifal-Prometheus ausgerechnet den Leser, dem er die Rolle Apolls zuschiebt, der »der Typ des theoretischen Menschen« ist mit seinem »unendlichen Vergnügen am Vorhandenen«? Der Leser muss aber nicht die Antwort geben; er bekommt sie dankenswerterweise vom Text. Die Antwort lautet überraschenderweise: »Doch Afrika ist nicht vorhanden«, und folglich gilt: »[D]ort gibt es nämlich keine Menschen, und wo keine Menschen sind, da gibt es keine Trennung zwischen ihnen«. Nun gibt es in Afrika zwar viele Menschen. Und es gibt in Afrika jede Form von Elend und Not. Aber was es nicht gibt in Afrika (ironisch-jelineksche Überbietung): Es gibt »keine Verursacher, es gibt kein 329

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

Verursacherprinzip.« Apollon-Leser sieht ein: Es gibt »zwar Gruppen und Reisegruppen« in Afrika, aber keine »Individuen«, weil niemand die Verantwortung für sich übernehmen will für die Not und das Elend, die Kriege und die Korruption, die in Afrika herrschen (und nicht nur dort), dorthin gebracht, so suggeriert der perfide Sarkasmus des Textes, nur von »Reisegruppen«, nicht von Individuen (waren vielleicht ein paar westliche Politiker unter den Bustouristen?). Es gibt in Afrika auch kein faustisches Streben (»Afrika kann nicht streben«), und deshalb gibt es keine Wolkenkratzer dort (David Signer, gemäß dem Titel seines Buches, das Jelinek ja ihrem Text einschreibt). Die Sippe, der Clan, das Dorf verhindern in weiten Teilen des Landes dieses individualistische Streben, weil alles geteilt werden muss: »[B]ei uns wird alles geteilt, auch der Gestank.« Und Jelinek nimmt auch die so genannte Tagespolitik auf, wenn sie die Flüchtlinge »am Zaun von Ceuta und […] an dem von Melilla«, der spanischen Enklave in Marokko, fokussiert, die weg wollen (und nicht können: »sie werden nicht durchkommen«, das celansche no pasarán), weil sie als Individuen keine Chance haben, etwas zu erstreben, etwas zu besitzen, etwas zu bewahren: weder bekommen sie die in Europa oder anderswo, noch haben sie sie in ihren Ländern. Und dann die Frage des Parsifal-Prometheus-Pentheus: »Afrika Afrika Afrika, wie kann man dieser Naturwidrigkeit widerstehen, wenn nicht durch das Unnatürliche?« Also: »Menschen« machen, Individuen schaffen, und zwar eben nicht auf natürliche Weise. Und was kann das bedeuten? Es ist jetzt der Moment, in dem bei Jelinek Ödipus ins Spiel kommen muss: »So, jetzt schauen wir also mal auf Ödipus, den Vatermörder und motherfucker« – denn es geht um nichts Geringeres als die »Wahrheit, die sich gerade die Badehosen auszieht.« Die Enthüllung »der« Wahrheit ist spannend – oder leider auch nicht: »Na ja, der Schwanz ist nicht schlecht […].« Aber was ist mit den anderen Hüllen, die von der Wahrheit auch noch trennen: »die Hülle meiner Augen«, z.B., »und noch etliche Häute neben der Netzhaut«, »die Superwagenhaut(Supermarkthaut?)« – alles Schutzhäute über unseren Trieben von Sex bis Konsum (Sexkonsum)? Afrikas »Wahrheit« aber scheint diese zu sein (eine sehr pragmatische? Oder doch: philosophische?): »Wo kein Wille, dort kein Weg, wo kein Traum, dort ist ja alles Traum. Wo keine Wünsche, dort auch kein Sublimieren, keine Deutung, nur ein ES« – und also kein Mensch, kein Ich, kein Überich. Und »wo man nur Welt hat, die keine ist, braucht man keinen Traum, kein Traumbild, nicht einmal den Rausch (wer immer im Rausch ist, braucht jetzt das Haus des Traums nicht mehr).« Jelineks afrikanische Analyse lehnt sich also nicht nur an Signer an. Denn nun übernimmt sie weite Passagen aus Nietzsches Geburt der Tragödie, d.h. sie übernimmt vor allem seine Ödipus-Deutung: »Aber, ich wiederhole mit dem Denker, ich spreche ihm nach: Man kann die Natur nur dann zur 330

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Bärbel Lücke: Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7

Preisgabe ihrer Geheimnisse ZWINGEN (damit meine ich, daß sie diesen stinkenden Dreck endlich wegräumt […]) […] durch das Unnatürliche!« Das Unnatürliche muss man »riskieren«, so wie Ödipus es tat. In der Deutung von Nietzsche war er nämlich der »edle Mensch«, der »nicht sündigt«; denn: »durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt zugrunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der umgestürzten alten gründen.« Für Nietzsche ist Ödipus »der Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, […] der Räthsellöser der Sphinx!«, und er fragt: »Was sagt uns die geheimnisvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten?« An dem geblendeten Ödipus auf Kolonos preist Nietzsche (und mit ihm Jelinek) die Passivität (als passiv-heitere Überwindung des Leidens); an dem Prometheus des Aischylos preist Nietzsche (und mit ihm Jelinek) die Aktivität; denn die beiden gehören zusammen, wie jede Dichotomie sich nur zeitweise trennt und wieder vereinen und in ihrer Bedeutung verschieben muss (im Sinne des Modells der »belebten Materie« in der modernen Physik). Der »Glorie« von Aktivität und Passivität gesellt Nietzsche (und mit ihm Jelinek) noch Atlas hinzu, ein hilfreicher Gott: »Jene plötzlich anschwellende Flut des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des Prometheus, der Titan Atlas, die Erde.« Also eine afrikanische Utopie? Afrikas Hoffnung, so Jelinek, liegt einzig und allein in seiner Individuation, der »widernatürlichen« symbolisch-mythischen »Zerstückelung« (was nicht nur für den Bereich von Afrika gilt, den David Signer erforscht, sondern auch für das muslimische Afrika, und im übertragenen Sinn des »Verantwortung-Übernehmens« gilt es überall). Jelinek findet ambivalente Bilder: Der »eine« Baum Afrika muss »aus dem Boden«, er gehört gefällt, weil Afrika selbst in seiner Krone sitzt, »weil es immer selber einen in der Krone hat«. Die Arbeit in dieser Landwirtschaft machen seit Jahrtausenden die Frauen (sie sorgten auch schon in der Bibel dafür, dass Erkenntnis möglich ist): »[A]ber die Frauen, mit ihren Tausendfüßlerhänden, die wühlen den Boden auf«. Die Mutter Afrika muss ihr eigenes Kind (sich selbst) zerstückeln (wie die Mutter in den Bakchen ihren Sohn), damit es einzelne Menschen geben kann (das principium individuationis) und ein »Prinzip Verantwortung« (das eben auch anderen Kontinenten gut anstehen würde). So wird Afrika wissend, sagt Parsifal, der es wissen muss: »Durch Mitleid wissend, der reine Tor.« Allerdings: »Wissen ist furchtbar. Wissen ist das Letzte, das Macht wäre.« Und weil es so »schwer und schrecklich« ist, will Parsifal (die plurale Figur, die für viele steht) doch lieber der Welt abhanden kommen (Mahler-Motiv), lieber in »seinem Himmel« leben: »Also leb ich in mir und meinem Himmel. Wo bitte ist das und wie komme ich 331

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Realitätseinbrüche und Schnitträume

dorthin? In eine Liebe, in ein Lied?« Überall möchte man schließlich lieber leben als in Afrika und in der schlimmen Realität überhaupt: »Wer kann sein Leben denn ertragen, wo ein Kind an Fieber stirbt, an dem kein Kind mehr sterben müßte […]?« Damit stellt Parsifal also doch noch eine Art Mitleidsfrage, aber ein »Wissender« ist er da schon, was auch die nächste Frage wieder zeigt: »Sollten wir wirklich den Zustand der Individuation als den Grund alles Leidens, als etwas Verwerfliches betrachten? Ich kann es nicht.« Das ist das tiefste Bekenntnis in Form der Mythen zum abendländischen Rationalismus (eine Umkehrungsfigur), ohne seine Metaphysik zu verabsolutieren. Denn was uns den Urschmerz der Individuation, unsere Zerstückelung und Vereinzelung, ertragen hilft, ist allein die Kunst – ein jelineksches Bekenntnis zur nietzscheschen Artistenmetaphysik: »[D]ie Kunst ist immer Schein, sie ist das Wahrhaft Nichtige, sie ist, was nicht ist, denn sie ist das Werden hier in diesem Raum, der stinkt vor Dreck und Müll und Scheiße und Pisse und Fieberkrankheit«. Parsifal ist angekommen, nicht wie Odysseus in Ithaka, nicht auf der Gralsburg, sondern im Wellblech-Township, im afrikanischen Slum, in Area 7. Am Ende ihres Textes entwirft Jelinek noch eine kleine poetologische Anthropologie, in der die beiden »Hunde« eine große Rolle spielen, die wir schon kennen: »Hasso Welt und Fido Welt« heißen sie und sind die polaren-nicht-polaren Gegensätze der derridaschen différance, der Bedeutungnicht-im-Sein-sondern-im-Werden: »Der Übergang von dieser Darstellung zu jener […] läßt sich auf rein mechanische Weise vollziehen, und der Satz lautet also: Der hungrige Hund bellt klagend nach der Karawane.« Dieser Satz erzählt die Geschichte (von der Sehnsucht nach Dazugehören, nach Zuwendung) und der Vereinzelung (Individuation) noch einmal, metaphorisch-"mechanisch«. »Hasso Welt und Fido Welt« sind ein (Wort-)Spiel mit sehr ambivalenter Bedeutung. Auch der Hund Sprache, heißt es in »Im Abseits«, der Rede zum Nobelpreis, lässt sich gerne von allen »streicheln und kraulen«, und doch gilt: »er ist für sich«. Die Sprache und die Welt haben da einiges gemeinsam: Sie sind nicht eins, sie sind nicht aufeinander abbildbar. Sie sind nicht eindeutig. Sie sind in Bewegung. Wenn am Anfang gesagt wurde, der Text mache den schlingensiefschen Parsifal-Bild-Stationen-Mythos zum Wort, so muss man sich zum Schluss fragen, ob in der vielfältigen, nicht nur auf Parsifal bezogenen Mythen-Dekonstruktions-Installation von Christoph Schlingensief das Wort überhaupt noch zentral ist, wie die überdimensionale Video- Positionierung der sprechenden Elfriede Jelinek zu suggerieren scheint. Zum einen geht der Betrachter durch die Animatographen-Drehbühnen und schaut, während er geführt wird, also auch Erläuterungen erhält. 332

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Bärbel Lücke: Zu Elfriede Jelineks Text für die Theaterinstallation Area 7

Und dann muss er alleine durch die Installation, durchs ganze Theater, gehen, ein Eroberer der vervielfältigten Bühne und dessen, was auf, vor und hinter der Bühne gezeigt wird, das heißt, die Welt, die sich ihm darbietet, ist multimedial. Sie besteht nicht nur aus dem medial vermittelten Wort, sie besteht aus Farbe und Gegenständen, aus Räumen und aus Raum gewordenen Zeiten, aus Zeit gewordenen Räumen: Die Bühne ist zur Welt, die Welt aber zum multimedialen Raum der Überschreitungen geworden, und der einstige passive Zuschauer der Guckkastenbühne befindet sich mitten darin, ist zum aktiven Mitspieler, zum Akteur selbst geworden. Und das Wort, das so zentral schien, zumindest in seiner medialen Vermittlung? Die Video-Leinwand, vor riesige Windmühlenflügel gespannt, verliert durch einen perfiden Kunstgriff ihre Zentralstellung. Denn nach und nach brechen aus dem (Don Quichotteschen?) Riesenrad immer neue Flügel heraus, so dass Teile des Gesichtes verschwinden, bis schließlich auch die Rede verstummt, der Text schweigt und selbst zum Raum wird, zur Zeit. Bildet dennoch, fragt sich der Theaterbesucher, die Theaterinstallation Schlingensiefs auch nur die Welt ab, wie sie eben heute ist – multimedial, zerrissen, zersplittert? Eine Welt, in der der Logos, das Wort, die Vernunft, beinahe nebensächlich wird, ein Angebot unter vielen, schließlich sogar verstummt? Ich kann nur meine Antwort geben, die aus dem Erleben der Installation kommt. Das alles, dieses multimediale Theaterereignis, ist keine Abbildung des säkular gewordenen Urbildes Welt, die sich uns eben zersplittert präsentiert, weswegen das Theater sie auch nur zersplittert re-präsentieren könne. Auch wenn dieser Repräsentationscharakter implizit immer noch in Resten vorhanden ist und vielleicht sein muss, solange es Theater noch gibt, so wenig »ist« es Repräsentationstheater im ideellen Sinne. Denn es holt die Gegenstände der Welt in den Theaterraum (das in Area 7 hergestellte Schiff z.B.), lädt die Gegenstände mit Zeichen auf, stellt nachgebildete Gegenstände daneben (Beuys Totenmaske z.B.), lässt die Dinge zum Betrachter sprechen, der sie berühren kann, lässt das Wort sprechen, das ihn berühren kann, und macht das Theater zum Animatographen-Raumzeit-Ereignis einer anderen Theaterdimension, die auch den Logos, das sonst im Schauspieler wie im Mythos fleischgewordenen Wort, dezentralisiert und nicht repräsentiert.

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) T07_00 Bild.p 168349669768

Regie: Jürgen Gosch, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz (Ensemble)

Abbildung 11: Anton Cechov: Drei Schwestern (Schauspiel Hannover 2005)

Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

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) T07_00 Respekt.p 168349669776

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) vakat 334.p 168349669784

Nicole Kandioler: Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann

Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann. Ulrike Maria Stuart und Das Werk in 17 Punkten und Kontrapunkten Nicole Kandioler

1. Die »seltsame Wesenlosigkeit der Autorin«1 bedeutet einerseits eine Wesenlosigkeit der Figur die Autorin (in Das Werk), bedeutet andererseits eine Wesenlosigkeit der Autorin, deren Namen wir kennen2. wesenlos (Adj.): unwirklich; nicht von Leben, Stofflichkeit zeugend; -e Träume, Schatten.3 Eine Wesenlosigkeit im Fall einer dramatischen Figur kann Allegorie oder Plattheit bedeuten, jedenfalls Verzicht auf psychologische Zeichnung, Verzicht auf Tiefenstruktur. Wesenlos bedeutet ohne individuelle Ausrichtung, allgemein. Was aber bedeutet wesenlos im Bezug auf die Autorin, deren Namen wir kennen? Eben dieses: dass es sich um eine Autorin handelt, deren Namen wir kennen, nicht mehr und nicht weniger. Wir kennen einzig biographische Daten und Beruf(ung), das macht unser Kennen ungenau 1. »Irgendwen muß ich auf meine Seite bringen. Also, wie wär’s mit uns, liebes Wort und liebe Sprache? Sind wir nicht füreinander geschaffen wie das Wasser für den Damm? […] Na ja, ich weiß nicht recht, auf meinen alten Erfolgen will ich mich nicht ausruhen, ich habe schon so eine große Neugier auf die nächsten, denen ich als Autorin meine seltsame Wesenlosigkeit von vornherein gutschreiben möchte. Ich habe jetzt diesen Gutschein in der Hand und lese ihn verständnislos. Diese Gleichgültigkeit zementiert meine Macht, denn Gleichgültigkeit ist die größte Macht, sie ist der Zulassungsschein für alles.« In: Elfriede Jelinek, Das Werk, in: ders., In den Alpen. Drei Dramen, Berlin 2002, S. 172 (Die Autorin). Hervorhebung NK 2. Im Folgenden werde ich das Phänomen »Elfriede Jelinek« als die »Autorin, deren Namen wir kennen« bezeichnen, um einerseits auf den selbstverständlichen Umgang mit und die Vereinnahmung von Elfriede Jelinek und andererseits auf die Reduziertheit eines tatsächlichen Wissens über die Autorin hinzuweisen. 3. Dudendefinition.

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

und das Gekannte wesenlos. In der Stemann-Inszenierung Das Werk spricht die Schauspielerin, die die Figur der Autorin darstellt, auch die Regieanweisungen, die bei Jelinek als Teil des dramatischen Textes zu lesen sind. Die Figur der Autorin beinhaltet also die Andeutung eines Bezugs auf die Autorin, deren Namen wir kennen, auf dieselbe Weise wie die Autorin, deren Namen wir kennen, die Andeutung eines Bezugs zum Text im allgemeinen bereits beinhaltet. Die Autorin, deren Namen wir kennen, ist der Schatten, der sich dem diskursiven Raum immer neu einschreibt. Ein Rest. Was war mit Foucault (und auch mit Barthes) gefragt vorher da: Huhn oder Ei? 2. Der rückhaltlose Verzicht auf die Möglichkeit der Identifikation mit einer Figur hat möglicherweise dazu geführt, dass zur einzigen Identifikationsfläche die Figur der Autorin, deren Namen wir kennen, geworden ist. Wie ein Popstar taucht sie in den Inszenierungen auf: Castorf, Stemann, Schlingensief. Das Popmotiv wird in Ulrike Maria Stuart explizit aufgegriffen (auch in Das Werk, mit einem sehr poppigen Soundtrack), die ProtagonistenInnen singen Robbie Williams »I will talk and Hollywood will listen«. Diese ProtagonistenInnen und ganz besonders Ulrike Meinhof (jung und alt) und Gudrun Ensslin (jung und alt) sind ähnlich wie die Autorin, deren Namen wir kennen, bekannte Wesenlose. Ähnlich wie »Elfriede Jelinek« sind sie die figurhaftesten unter den Figuren. Die auf die Kulissen projizierten Filmaufnahmen verstärken diesen Eindruck noch. Mit dieser Anlehnung an eine Realität gibt es plötzlich in einer Jelinek-Inszenierung wieder fiktionale Anteile. Nicht die Sprache ist die überlebensgroße Protagonistin, sondern die episch heldenhafte Hauptfigur. Nicht das Kollektiv sagt »ich«, sondern ein angedeutetes Individuum, bzw. eine »Assoziationsfigur«4. Mit Ulrike Maria Stuart könnte der Weg wieder in Richtung einer »Figurendarstellung« im weitesten Sinn weisen.5 3. In beiden Inszenierungen verlässt der Text die Bühne nicht. Und zwar 4. »Die beiden zentralen weiblichen Assoziationsfiguren werden mit ihrer Sterblichkeit wie Historizität und zugleich ihrer ewigen Wiederkehr als Mythos konfrontiert.« Ortrud Gutjahr: Königinnenstreit. Eine Annäherung an Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart und ein Blick auf Schillers Maria Stuart, in: Ortrun Gutjahr (Hg.), Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, Würzburg 2007, S. 23. 5. »Als Vexierbild unterschiedlicher Figurationen ist sie eine Figur, der keine spezifische historische oder poetische Wirklichkeit zukommt, sondern die diese wachruft. Ortrud Gutjahr, Königinnenstreit. Eine Annäherung an Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart und ein Blick auf Schillers Maria Stuart., in: ebd., S. 34.

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Nicole Kandioler: Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann

im wörtlichen Sinn. Das Manuskript geht von SchauspielerIn zu SchauspielerIn, es wird ebenso liebevoll wie mit Abscheu behandelt. Das Textmanuskript ist in beiden Inszenierungen von mehrfach symbolischem Wert. Es bedeutet die Unfertigkeit (der Text bekommt erst durch die Aufführung seine theatrale Bedeutung), die Fragmentarisierbarkeit von Geschriebenem (in Form der über, neben, unter die Bühne fliegenden/fallenden Blätter), das Zitierverfahren (etwas wird vorgelesen, zitiert) und die Autorschaft. Ulrike Maria Stuart existiert bislang nicht in einer gedruckten Form, der Text kann in diesem speziellen Fall »nur« als Aufführungstext rezipiert werden6. Man stelle sich vor, was das für die Zukunft des Theaters bedeuten kann. Die Bedeutung des Regisseurs als Co-Autor steht nunmehr außer Frage. Aber auch die Oralität der Sprache, die theatrale Sprache an sich, wird aufgewertet. Die SchauspielerInnen sind das einzige Sprachrohr zwischen AutorIn/RegisseurIn und Publikum. Man kann nicht nachlesen, was man vielleicht nicht gehört, nicht verstanden hat. Das Sprechen bekommt eine beinahe unheimliche Dimension von Vergänglichkeit und von Unmittelbarkeit. Mitteilbarkeit. Jetzt. Nicht: später les ich dann das (echte) Stück. Sondern: Jetzt ist das (echte) Stück.7 4. Echt? (1) In Das Werk apostrophieren die Heidis überraschend aggressiv die Autorin, aber nicht jene, die als Figur im Stück vorkommt und die bei aller Verdächtigung namenlos bleibt. »Wieder keiner da zum Bedauern? Also an uns liegts nicht, [Frau Jelinek]«8. Indem sie aus dem Text her6. »Das war Jelineks Entscheidung. […] Schließlich werden gerade von der Theaterkritik traditionell Stück und Inszenierung gegeneinander ausgespielt: »Tolle Inszenierung trotz unspielbarem Stück« oder »Die Regie verhunzte leider die tolle Vorlage« … Beides wird von Elfriedes Entscheidung hier torpediert. Sie sagt: Meine Theatertexte sind nicht zum Lesen, nur zum Hören/spielen! […] Das eigentliche Stück ist nur das, was man auf der Bühne sieht. […] Letztlich ist Jelineks Entscheidung, das Stück nicht zu veröffentlichen, also auch ein schöner (hoffentlich mal abschließender!) Kommentar zur notorischen »Werktreue« oder »Regietheater«-Debatte. Nicolas Stemann in: Ortrun Gutjahr (Hg.), Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, Würzburg 2007, S. 139-140. 7. Nebenbei bemerkt bemerke ich, dass mir die Sätze der Inszenierung und das liegt bestimmt auch an ihrer Sloganhaftigkeit, beinahe wie Ohrwurm-Hits nicht aus dem Kopf gehen wollen. Die Tatsache, dass kein Text da ist, der einem als Nachschlagemöglichkeit zu Verfügung steht, macht, dass man (ich) genauer hinhört (hinhöre), die Sätze aus der Aufführung mitnimmt (mitnehme). 8. In: Elfriede Jelinek: Das Werk, in: ders., In den Alpen. Drei Dramen, Berlin 2002, S. 131-132 (Heidi oder eine andere Heidi).

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

aussprechen, verweisen die Heidis auf die Schauspielerinnen, die sie sind und die in die Rollen der Heidis schlüpfen. Sie verweisen natürlich auch auf den Moment des Sich-den-Text-Aneignens, auf den Kampf mit dem Text, den ja auch Nicolas Stemann immer wieder andeutet. In Ulrike Maria Stuart hat die Autorin, deren Namen wir kennen, einen Auftritt als überdimensionale Vagina, die mit einer anderen sprechenden Vagina, die Marlene Streeruwitz darstellen soll, in den Dialog tritt. Am Ende der Aufführung sehen wir Nicolas Stemann auf der Drehbühne, mit »seiner« Jelinek-Perücke und einer Adidasjacke, in gedehnt weichen Konsonanten, das Österreichische zugleich andeutend und verfremdend, mit überschlagenen Beinen, zurückgelehnt in einem Stuhl sitzend: Ganz Verweis auf die Autorin, deren Namen wir kennen. Eine weitere gemorphte Figur, wie schon jene, die der Titel des Stückes vorgibt. Diesmal Ulrike Elfriede Stemann, die/der über Resignation, Unmut, Trauer über die Vergeblichkeit des Schreibens und die Sehnsucht nach »schlafen, schlafen, Schlaf«, nach »sich ein Ende bereiten« spricht. 5. Methode Jelinek. Methode Stemann. Das Werk im zweiten Teil kurz vor dem Epilog. Rudolf Melichar als Hänsel, ein Arbeiter. Zunächst noch in Monturkleidung, allein, das Elitäre, das Faustische vage andeutend. Und dieser große, starke Baum, der »aus der Nachmittagsvorstellung im Kino ins Unvorstellbare hinein gezwungen wird«9, sagt, seltsam wesenlos: »Wir haben keine Namen, wir sind ja nichts.«10 Dann bricht das Bild. Von einem anderen Schauspieler fürsorglich zu einem Lehnstuhl geführt, setzt er sich, der »Baum« wirkt nunmehr zerbrechlich, und das Sitzen wird sukzessive – der andere Schauspieler trägt Stehlampe, TV-Gerät, TV-Tischchen und Pantoffeln heran – zu einem verlorenen Sitzen vor dem Fernseher. Eines, das die Figur zu einer verloschenen, tatlosen, schwachen Karikatur macht. Der Text fungiert als Kommentar. Scheint losgelöst von dem, was dargestellt wird. Der Text läuft also als eigene Schiene neben dem Bild, das der Schauspieler abgibt. Der Schauspieler illustriert nicht, was der Text bedeutet, sondern liefert ein (oder mehrere) Bild(er)11, die wiederum auf die (kollektiven und persönlichen) Erfahrungshorizonte des Zuschauers verweisen. Der untote Arbeiter, auf dessen Sterblichkeit gerade durch die Wahl eines älteren Schauspielers verwiesen wird – der tote Zwangsarbeiter

9. Ebd., S. 226 (Hänsel). 10. Ebd., S. 224 (Hänsel). 11. »Ein Bild wird bleiben, aber es wird nie eins von uns sein. Die Bilder werden ganz andre sein.« Ebd., S. 226-227 (Hänsel).

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2008-01-15 10-43-51 --- Projekt: T512.lettre.tigges / Dokument: FAX ID 02fa168349669072|(S. 337-346) T07_01 kandioler.p 168349669792

Nicole Kandioler: Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann

von Kaprun hat dieses Alter nicht erreicht12-, evoziert in einer Person die Summe der Menschenopfer in ihrer Körperlichkeit13 sowie die personifizierte Gleichgültigkeit des heutigen Österreich. Jelinek sagt nicht, dass aus den Zwangsarbeitern von einst verlorene missmutige Pensionisten geworden sind. Aber das Bild des strammen/misshandelten Arbeiters und jenes des missmutigen/verloschenen Pensionisten klingt jeweils im Text mit und Stemann macht es sichtbar. Zu hinterfragen ist also nicht nur die Kehrseite des Arbeiter-Mythos, die politische Dimension männlicher Kraft, sondern von der anderen Seite her sozusagen, ein alter Mann und das, was er einmal war. Zu hinterfragen ist also nicht nur das Gestern aus dem Heute, sondern auch das Heute, das ein Gestern hat.14 6. Gewalt mal zwei. Identisch. In Ulrike Maria Stuart sind es die Kippfiguren Terroristen/Prinzen im Tower, die zunächst scherzhaft (mit Wasserballons) einen kleinen Kampf zwischen Publikum und Schauspielern inszenieren, der in eine Schlägerei unter den Schauspielern ausartet, begleitet von tierischem Gebrüll. In Das Werk schlagen die Geißenpeter das Wort »Ehrgeiz« skandierend aufeinander ein. Ehrgeiz und Megalomanie der Ingenieure führen vereinfacht gesagt zur Gletscherbahnkatastrophe, die Stemann in einer großartigen, gleichermaßen respektlosen und respektvollen Szene mit einer menschlichen Gletscherbahn illustriert. »Keinen Ehrgeiz mehr«, singt der als Gletscherbahn verkleidete Schauspieler in Kontertenormanier, und nach dem Lärmpegel und der Gewalt der vorangehenden Prügelszene wirkt dieser kleine Gesang bei allem Sarkasmus, nach dem er aussehen kann, beinahe kathartisch. Die Gewaltszenen, in beiden Stücken 12. »[…] ach, wie schade, daß ich so früh verstorben bin! […]«. Ebd., S. 228 (Hänsel). 13. Auf der Bühne stellt Stemann die Ohnmacht des erniedrigten, geschundenen und gequälten Körpers der pornographischen Nacktheit eines Pornokanals entgegen, den Hänsel über das TV-Gerät empfängt. 14. »Ich habe in diesem Stück, das dem verstorbenen Einar Schleef gewidmet ist, versucht, etwas über »den« Arbeiter zu schreiben. […] Ein Gutteil der österreichischen Identität nach dem Krieg, als das Land rasch wieder für frei und unschuldig erklärt wurde, beruhte auf dieser technischen Großleistung [der Bau des Speicherkraftwerkes Kaprun, Anm. NK]. Kaprun wurde mit Geldern des Marshall-Plans im Jahr des Staatsvertrags 1955 fertiggestellt und zog einen langen Rattenschwanz an nationalen Mythen hinter sich her, die aber buchstäblich auf den Gebeinen und der Ausbeutung von Getöteten beruhten, und die Getöteten wurden der Natur geopfert, viele starben ja durch Lawinen. Sie starben direkt wie indirekt durch die Natur, während die Gletscherbahntouristen durch die Technik in der Natur starben. In: Elfriede Jelinek, In den Alpen. Drei Dramen, Berlin 2002, S. 258 (Nachbemerkung).

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unterschiedlich motiviert, ergeben letztlich ein und dasselbe Bild. Und verweisen auf den bei Jelinek rekurrenten Subtext einer männlichen Gewalttätigkeit, einer blinden, kindischen Aggression, die den Mythos der (männlichen) Vernunft (Horkheimer/Adorno) in einer Drohgebärde aufrechtzuerhalten sucht. 7. Gruppendruck. Ulrike (jung) – die Außenseiterin, die Intellektuelle, die Frau der Worte, der Sprache, der Information. »Information bedeutete für uns damals Diskussion« (Text Ulrike Maria Stuart). Als sich die Gruppenmitglieder gegeneinander aufhetzen, anstacheln, als gruppig über das Unrecht geklagt wird, das den abstrakten Armen, Gequälten, Geplagten da draußen, wo immer das sei, das ist nicht so wichtig, geschieht, will Ulrike mitweinen. Aber niemand will mit ihr weinen. Sie gehört nicht richtig dazu, zur Gruppe. Sie versucht es, möchte ein Teil des Kreises sein. Schließlich überwindet sich die Figur des bei einem Attentat der RAF Terroristen ermordeten Polizeimeisters Sippel und öffnet ihr seine Arme. In dieser kleinen Szene, die sehr bildhaft und ganz simpel ist, offenbart sich das klassische Phänomen des Gruppendrucks. Die Dynamik der Gruppe. Dazugehören, nicht dazu gehören, dazwischen gibt es nichts. Was passiert aber, wenn gerade derjenige, von dem man es am wenigsten erwartet, derjenige, der auf der »bösen Seite« mitmischt, die man wortreich bekämpft, der ist, der einem ganz persönlich, ganz Mensch zu Mensch, entgegen kommt und, so fremd er auch zu sein scheint, die ersehnte Nähe anbietet? 8. Mehr Stimmen. Das Mikrofon und die Kamera sind wesentliche Instrumente der Inszenierung Ulrike Maria Stuart. Die Stimmen klingen klar, filmhaft, von der Technik leise und laut geschaltet als hätte die Aufführung ein Unterbewusstsein, ein Unbewusstes, das träumt und der Traum wäre die Vorstellung. Die Bildsequenzen und die Drehbühne unterstreichen das noch. Die Figuren klein, groß, ihre Gesichter auf einer riesigen Leinwand oder klein auf der Bühne, weit weg und nah, verschwommen und scharf gestellt. Ulrike Maria Stuart und Gudrun Elisabeth I., jung und alt, gestern und heute, tatsächlich und fiktiv. Nicht so sehr polyphone Sprachfläche als in ewiger Wiederholung und Kreisbewegung sich gerierende Stimmenvielfalt angedeuteter Personen. Etwas schillerhaft Allgemeingültiges, allgemein Menschliches liegt der immer zum Heute in Bezug gesetzten, sich an der Sterblichkeit ihrer Mythen reibenden Historizität des Stücks zugrunde. 9. Ein Stück über Frauen ist Ulrike Maria Stuart und das obwohl Stemann

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Nicole Kandioler: Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann

sich genau davor gefürchtet hat15. Die Intellektuelle, die Eifersüchtige, die Enttäuschte, die Starke, die Heldenhafte, die Epische, die Klassische, die Liebende, die Hassende, die Zurückgezogene, die Heutige, die Gestrige. Die Komische? Ich denke, auch sie ist dabei. 10. Die SchauspielerInnen thematisieren in beiden Inszenierungen die Schwierigkeit, dem Stück beizukommen. Wie legt man das an, wie liest man das? Das Manuskript begleitet sie bei ihren wiederholten Versuchen »zu spielen«. In Ulrike Maria Stuart hat man das Gefühl, dass es mehrere Anfänge gibt. Die drei Prinzen im Tower, die als Chor der Greise, als Kinder der Terroristen, als K-Gruppe sprechen und agieren, probieren das Stück an wie die verschiedenen Verkleidungen, die sie mit sich herumschleppen: die verschiedenen Perücken (einmal Jelinek, einmal Meinhof bedeutend), der Ulrike Meinhof Trenchcoat, die das Geschlecht verdeckenden Schweinemasken. Immer wieder arten die Szenen aus, kippen in Pathos um oder umgekehrt, brechen das Pathos, immer wieder schnappt sich einer das Manuskript und beginnt von neuem: »Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek.« In diesen Momenten, wo die Schauspieler orientierungs- und ratlos wirken, sind sie am menschlichsten und eine Wahrheit des Stücks wird spürbar, die ich in der Vielschichtigkeit von Geschichte verorten würde. 11. Im 24. seiner Ästhetischen Briefe schreibt Schiller: »Der Mensch in seinem psychischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur: er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen Zustand.« An Maria Stuart zeigt Schiller den über sich hinauswachsenden Menschen in seiner vollendeten Entwicklungsstufe (Nummer 3): Aus der schwachen Landesverräterin wird ein Mensch, der seine Schuld sieht und einsieht und sich über sein Schicksal erhebt. Ihre Hinrichtung kann ihr nichts mehr anhaben. Nicht ausschließlich ironisch sehe ich den gemorphten Namen Ulrike Maria Meinhof und die Parallelsetzung der deutschen Terroristin des 20. und der schottischen Königin des 16. Jahrhunderts. Entscheidungen, Tote, Ruhm und Hass haben beide »Karrieren« zu verzeichnen. Königinnen, die, zu Mythen geworden, das Material für Überlegungen zu Tod und Identität, Sinn und Emanzipation 15. »Als sie mir erzählte, dass ihr neues Stück von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin und deren Auseinandersetzung in Stammheim handeln würde, dachte ich, diesmal endgültig der Falsche zu sein. Nicht nur »RAF« (also wie in so vielen meiner anderen Arbeiten schon wieder »1968 und die Folgen«), sondern auch »Frau« als Thema, das schien mir zu viel.« Nicolas Stemann in: Ortrun Gutjahr (Hg.), Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, Würzburg 2007, S. 125.

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bieten. Ich fasse das Theater Jelineks mehr als jedes andere als Einladung auf, mir das dar- und vorgestellte Material anzueignen, die Bilder in einen neuen Reigen zu mischen, den Stimmen meine eigene hinzuzufügen, den wesenlosen Text »auszuprobieren«. Die Figur Zuseherin/Österreicherin oder eine andere Österreicherin entledigt sich der Macht der Natur im ästhetischen Zustand. 12. Das Lyrische der schillerschen Maria Stuart übersetzt Stemann in die Lyrik des 20. Jahrhunderts: Popmusik, swingige Klaviermusik mit Sprechgesang. Schiller beabsichtigt, durch seine hoch-ästhetisierte Sprache den Widerspruch der Moderne, der sich im Antagonismus von Sittlichkeit und Sinnlichkeit zusammenfassen lässt, aufzuheben und den Zuseher eine Versöhnung des Individuellen und des Allgemeinen erleben zu lassen. (»Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall«, sagt übrigens auch Goethe.) Kollektiv und Einzelheit – eine Dialektik, die sich durch die Literaturgeschichte im Allgemeinen und das Werk Jelinek im Speziellen zieht wie ein roter Faden. 13. Echt? (2) Die Jelinek-Perücke, heimisch in Stemanns Inszenierungen, wird in Das Werk gestreichelt, getreten, geschleudert und symbolisch als Toilettenpapier verwendet. Phallisch illustriert sie aber auch die Macht des Sprechens, wenn immer diejenige Heidi die Perücke an sich nimmt, die das Wort hat. 14. Kollektive Erinnerung. Die Vielschichtigkeit von Geschichte. Das sind die Themen von Ulrike Maria Stuart. »Mensch oder Schwein?« (Text Ulrike Maria Stuart) Was in seiner Ausschlussstrategie faschistoid anmutet, ist ein Ausspruch im Kontext des Schweinesystems (RAF). »Besser einer mehr ist tot als einer weniger.« (Text Ulrike Maria Stuart) Und dann ist der, der mehr tot sein soll, ein Mensch, der dir gegenübersteht. Maria Stuart – berechnende Mörderin oder strahlende Heldin? Andreas Baader – Kämpfer gegen das Unrecht oder postpubertärer Despot? Ulrike Meinhof – säumige Intellektuelle oder Gewissen der Nation? Die Antworten sind nicht einfach, die Fragen sind es auch nicht.16 16. »Dem Stück wohnt so etwas wie ein Erschrecken darüber inne, wie naiv vieles von dem war, was in den letzten vierzig Jahren als »links« galt. […] Dass das Erkennen gewisser immanenter Widersprüche des linken Widerstandes schließlich zu Resignation und Nichtstun führt, ist ein Skandal, gegen den man angehen muss.« Nicolas Stemann in: Ortrun Gutjahr (Hg.), Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, Würzburg 2007, S. 126.

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Nicole Kandioler: Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann

15. Und was sie ist, das wage sie zu scheinen! (Geht ab.)17 16. »Etwas Achtung könnten Sie schon noch für mich haben«. (Text Ulrike Maria Stuart) Situation 1: Beginn der Vorstellung. Die Prinzen im Tower schlüpfen, einander in der Authentizität ihrer Darstellung jeweils überbieten wollend, unter die Perücke und in die Rolle der Ulrike Meinhof. Ihre Bemühungen schlagen schnell in Lächerlichkeit und Pathos um, bzw. sind von vornherein zu Lächerlichkeit und Pathos verurteilt. Dieses »Spiel« unterbricht die gealterte Ulrike Meinhof/Maria Stuart mit dem zitierten Satz. Betreten weichen die Prinzen zurück. Situation 2: Die Vagina Dialoge von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. Die in Stoffvaginas gekleideten Figuren (Ulrike Meinhof/Maria Stuart jung und Gudrun Ensslin/Elisabeth I. jung) treten in den Dialog der sprechenden Vaginas18. Diesen Dialog unterbricht Ulrike Meinhof/Maria Stuart/Elfriede Jelinek? mit dem zitierten Satz. Ein Satz der sich wie einige andere19 leitmotivisch durch den Aufführungstext zieht. »Etwas Achtung könnten Sie schon noch für mich haben«. Ein Satz, der sich auf jede einzelne der im Stück vorkommenden Frauen beziehen kann, der jeden Vorwurf der Respektlosigkeit (gegenüber den historischen oder gegenwärtigen Figuren) immer schon vorwegnimmt, der gleichzeitig versöhnlich und doch provokant wirkt. Versöhnlich und gleichzeitig provokant, das scheint mir auch den Gestus gut zu beschreiben, in dem sich Jelinek und Stemann dem Themenkomplex Vergangenheit(en), dem sowohl Ulrike Maria Stuart als auch Das Werk eingeschrieben sind, annähern. 17. (Tritt auf.) Was sie (zu sein) scheint, das wage sie zu sein! Der Königinnenstreit in der Inszenierung Stemanns wird auf Blockflöten vollzogen. Dass es eine moralisch überlegene Gewinnerin gäbe, das erlaubt die von tiefem Misstrauen in die Wahrheiten des Logozentrismus geprägte Sprache Elfriede Jelineks natürlich nicht.20 Dass die Königin die Wahl hätte zu 17. Maria Stuart bei Schiller, 1. Aufzug, 8. Auftritt. 18. Beruht auf einem Gespräch zwischen Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz, das sie 1997 für die Zeitschrift Emma miteinander führten. 19. Z.B. auch »Ich weiß nicht, was passieren muss, bis endlich was passiert.« 20. »[…] doch die beiden Königinnen verstummen bezeichnenderweise in der Szene, in der sie bei Schiller die Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere erweisen. Der Nachhall einer Sprache, durch die sich ein moralisches Gesetz offenbaren sollte, sind schrille Misstöne in einem Blockflötenkonzert, dessen Aussagegehalt durch groteske musikalische Kennzeichnungen markiert und durch Regieanweisungen kommentiert wird. Im Duett der Dissonanzen wird mit Bezug auf Schillers rhetorisch ausgefeilten Königinnenstreit eine verlorene Sprache vergegenwärtigt; und zwar nicht, weil sie

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scheinen, was sie ist, gilt nicht für die »Figuren« Jelineks, die strukturell und systematisch im Scheinen sind. Denn das Sein selbst, begreift sich bei Jelinek nur über den Schein, der in seinem eigenen Widerschein auf der Bühne niemals eindeutig, niemals klar kategorisierbar ist.

Literatur Jelinek, Elfriede: Das Werk, in: In den Alpen. Drei Dramen, Berlin 2002. Gutjahr, Ortrud: Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolaus Stemann.

nicht imitierbar, sondern weil ihre Aussage nicht mehr generierbar ist.« Ortrud Gutjahr, Königinnenstreit. Eine Annäherung an Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart und ein Blick auf Schillers Maria Stuart., in: Ortrun Gutjahr (Hg.), Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Uraufführung am Thalia Theater Hamburg in der Inszenierung von Nicolas Stemann, Würzburg 2007, S. 33.

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Gabriele Klein: Performativität im zeitgenössischen Theater

»Alles Liebe, euch allen, Elfriede«. 1 Performativität im zeitgenössischen Theater Gabriele Klein

»Es ist wirklich reichlich absurd, Theaterstücke (also Dialoge, ein Miteinander von Figuren) zu schreiben, wenn das mit anderen Miteinandersein bei mir in der Realität kaum stattfindet (ich bin fast immer allein), die anderen konstituieren meine Existenz also nicht mit, aber ich muss sie für meine Stücke mitkonstruieren, und da ich nicht anders kann, muss ich das Konstruierte meiner Figuren meiner Nichtexistenz abringen, bis deren Existenz (die der geschriebenen Figuren) durchsichtig ist, aber als Konstrukt…«2

Es ist ein zentraler Topos der jüngeren Theater- und Performancetheorie, die theatrale Aufführung als ein ephemeres, als ein performatives Ereignis anzusehen. Demzufolge wird die Aufführung nicht mehr als Werk verstanden sondern als Prozess, als ein Ereignis, das mit den Kennzeichen des Transitorischen, Flüchtigen, Unwiederholbaren und Singulären ausgestattet ist. Nicht mehr das Werk als ein zu interpretierendes Faktum steht somit im Mittelpunkt, sondern die Aufführung und ihr Entstehungsprozess. Mit diesem Perspektivenwechsel hat sich die Aufmerksamkeit von der Werkinterpretation auf die Wahrnehmung des Ereignisses als Erfahrung von Gegenwärtigkeit verschoben – und mit ihr sind theoretische Konzepte wie beispielsweise Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Präsenz, Gegenwärtigkeit, Aura und Erfahrung (wieder) in den Mittelpunkt der theater- und performancetheoretischen Debatte gerückt. Mit dem Perspektivenwechsel reflektiert die Theatertheorie nicht nur

1. Münchener Kammerspiele (Hg.): Ulrike Maria Stuart. Programmheft, Spielzeit 2006/07, S. 15. 2. Elfriede Jelinek in: ebd., S. 12.

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die Entwicklungen des zeitgenössischen Theaters zu dem, was seit den 1990er Jahren »postdramatisches Theater«3 genannt wird. Sie hat sich auch jenen Topoi angenähert, die seit den 1960er Jahren, seitdem Performance-Kunst sich in dem Feld der intermedialen szenischen Künste positioniert hat, grundlegend für die Performancetheorie sind. Und nicht zufällig stellt die Performancetheorie die neue szenische Kunst in den politischen, kulturellen und sozialen Kontext der Postmoderne4, steht doch diese sich ebenfalls in den 1960er Jahren herauskristallisierende Denkund Gesellschaftsform für die Krise der Repräsentation und für das Reflexiv-Werden und die Dekonstruktion der Grundbedingungen der Moderne. Skeptisch gegenüber der mimetischen Darstellung wandelt sich das »postdramatische Theater« von einem Werk der Darbietung zu einem Akt und Monument der Kommunikation, zum Prozess, zur ›Situation Theater‹. Hans-Thies Lehmann kennzeichnet das postdramatische Theater in Anlehnung an Karl Heinz Bohrers Konzept des »absoluten Präsens«5 als ein »Theater des Präsens« und will es als eine Gegenwart verstanden wissen, als eine schwebende, schwindende Anwesenheit, als ein ›Fort‹, ein Schon-Weggehen, als ein Aushöhlen und Entgleiten von Präsenz. Mit dieser Transformation des zeitgenössischen Theaters haben Strategien des Performativen in die Theaterproduktion Eingang gefunden, die bislang die Performancekunst ausgezeichnet hatten. Performativität wird damit zu einem wichtigen Stichwort des zeitgenössischen Theaters. Das Konzept Performativität ist sprachtheoretisch begründet und kulturtheoretisch umgedeutet worden. Die kulturtheoretische Deutung des Begriffs leitet sich her über sozial- und theaterwissenschaftliche Konzepte wie denen von Goffman, Schechner, Singer, Turner oder Tambiah, der sprechakttheoretische Strang findet seine Tradition vor allem in den Theorien Austins, Chomskys, Searles, Habermas’, Butlers und Derridas. Dem sprechakttheoretischen Denken zufolge sind Äußerungen wie »Ich taufe Dich auf den Namen xy« oder »Ihr seid nun Mann und Frau« performativ, weil die Aussage selbst ein Akt der Wirklichkeitserzeugung ist und weil

3. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 2001. 4. Vgl. z.B. Philip Auslander: From Acting to Performance. Essays in Modernism and Postmodernism, London/New York 1997; Cynthia Carr: On Edge: Performance at the End of the Twentieth Century, Hanover 1993; Stephen Chinna: Performance. Recasting the Political in Theatre and Beyond, Oxford/Bern: 2003; Colin Counsell: Signs of Performance, London/New York 1996, S. 207-231; Nick Kaye: Postmodernism and Performance, Houndmills/London 1994; Jon Whitmore: Directing Postmodern Theater. Michigan 1994. 5. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens, Frankfurt a.M., 1994.

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Gabriele Klein: Performativität im zeitgenössischen Theater

durch den Vollzug der Handlung (z.B. der Taufe oder der Hochzeit) eine bestimmte Ordnung oder Konvention nicht repräsentiert oder reproduziert sondern überhaupt erst hervorgebracht wird. Performative Strategien im Theater richten sich demnach vor allem auf jene Aspekte der Wirklichkeitserzeugung – im Unterschied zu Aspekten der Fiktion und der Repräsentation. Mein Beitrag zielt darauf ab, Performativität im postdramatischen Theater am Beispiel von Ulrike Maria Stuart zu skizzieren. Dazu habe ich acht Aspekte des Performativen herausgefiltert. Ziel ist es, die Sicht auf Ulrike Maria Stuart um eine performativitätstheoretische Lesart zu erweitern. Freilich zielt ein performativitätstheoretischer Ansatz nicht auf eine Stückinterpretation. Gerade weil er die Theaterproduktion selbst als einen Prozess der Hervorbringung von Material, Dialog und Energie versteht und das Publikum nicht primär als das Stück zu interpretierende Rezipienten, ist ein performativitätstheoretischer Text aufgefordert, sich selbst dieser Produktionsverfahren bedienen. Wie Nikolas Stemann die Jelinek-Vorlage weitergeschrieben hat und damit den Prozess der Textproduktion – bis hin zum theatralen ›Text‹ – fortgesetzt hat, wird die Rezeptionsgeschichte aus performativitätstheoretischer Lesart zu einer Produktionsgeschichte, zu einem Verfahren der De-Konstruktion in einem anderen Diskursfeld.

I. Performativität im postdramatischen Theater heißt, einen anderen Umgang mit Zeit und Raum zu suchen: Es geht um eine theatrale Praxis, die Gegenwärtigkeit und Einmaligkeit und damit die Aufführung selbst als ein Geschehen in Raum und Zeit, das sich zwischen Darstellern und Zuschauern ereignet, in den Mittelpunkt stellt. Selbst wenn das Stück zeitlich und räumlich durchgeplant ist, Auf- und Abgänge abgesprochen sind, ist die Aufführung selbst nicht wiederholbar: In einer anderen Zeit, an einem anderen Tag, in einem anderen Zustand der Schauspieler, mit einem anderen Publikum ist das Stück ein Anderes, gerade weil aus performativitätstheoretischer Sicht die Aufführung selbst, verstanden als Ereignis im Hier und Jetzt, und nicht die Literaturvorlage und deren theatrale Repräsentation oder, wie in Stemanns Aufführung, das Regiekonzept im Vordergrund steht. Performativität meint auch eine theatrale Praxis, die (Theater-)Räume nicht als definierte Orte verstanden wissen will, als eine Art Container, in denen ›Theater‹ gemacht wird. Vielmehr geht es um eine Praxis, die Räume erst herstellt. Ihr geht es darum, die Gewohnheiten des bürgerlichen

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

Theaters, ob Guckkastenbühne und Zentralperspektive, ob das Verhältnis von Akteuren und Zuschauern in Frage zu stellen. Damit wird aus dem Theater der Repräsentation ein Spektakel der Präsenz.

II. Das Performative als ein Kennzeichen zeitgenössischer theatraler Kunst provoziert eine radikale, an Gegenwärtigkeit, Körperlichkeit und Präsenz gebundene Inszenierungsstrategie. Dabei liegt es nahe, dass die theatrale Praxis sich nicht nur auf die traditionellen Medien des Theaters (wie Körper, Stimme, Text, Bühne, Kostüme, Requisiten) bezieht, sondern sich intermedial zwischen Theater, Tanz, Musik, Film und bildender Kunst, zwischen High und Low Culture konstituiert und sich hier als eine sehr wandelbare künstlerische Form zeigt. Film im Theater, Musical, Revueelemente, Fernsehshowformate, die Auflösung von Vorder- und Hinterbühne – mit all diesen Mitteln des postdramatischen Theaters hat auch Nicolas Stemann gearbeitet und schon allein damit das Theater als Ort bürgerlicher Selbstverständigung in Frage gestellt. Auch nach gut einem Jahrzehnt des sog. Poptheaters gilt diese Intermedialität nicht als selbstverständlich. Die Transformation des bürgerlichen Theaters ist auch an den wenigen Stadttheatern in Deutschland, die sich deutlich vom klassischen Theaterkonzepten entfernt haben, hingegen bei Publikum und Kritik nach wie vor hart umkämpft, vor allem dann, wenn Medien zum Einsatz kommen, die als Bestandteile der Low Culture begriffen werden. Dies zeigen beispielsweise auch die Kritiken von Ulrike Maria Stuart, wenn z.B. von: »Popentertainment, Rummelplatzorgie, Nummernrevue, Monstershow, Multimedia-Bühnenzirkus, Kabarett der Zombies oder Antiautoritärer Schweineigel-Party« die Rede ist.

III. Das postdramatische Theater produziert ein anderes Verhältnis zum ›Text‹. Es geht nicht mehr um eine zu interpretierende Literaturvorlage. Der ›theatrale Text‹ entsteht vielmehr im Prozess der Inszenierung und der Aufführung. Nikolas Stemann schrieb den Text weiter, die Fassung entstand während der Proben. Der Einzug des Performativen ins Theater meint diesen performativen, prozessartigen und produktionsorientierten Umgang mit der Literaturvorlage. Diese wird de-konstruiert, radikal reduziert und entkernt. Die Textvorlage verliert damit ihren Status als das Eigentliche und zwar mitunter so sehr, dass Zuschauer und Kritik – entsetzt oder beglückt 350

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Gabriele Klein: Performativität im zeitgenössischen Theater

– feststellen, dass die Inszenierung nicht mehr Schnitzler, Wedekind oder Jelinek sei, wie dies vor allem von Inszenierungen des sog. Regie-Theaters bekannt ist. Während von den Rezipienten mitunter eine werktreue Inszenierung des Stücks erwartet oder eingefordert und die Aufführung selbst an der Literaturvorlage gemessen wird, ist der Produktionsprozess nicht darauf angelegt, die Frage der Referenz und der Autorschaft klar beantworten zu wollen. Zudem provozieren gerade Jelinek-Texte die Schauspieler dazu, Texte zu sprechen, die sie nicht verstehen, die für sie keinen Sinn machen. Sie sind gezwungen, den Texten einen Rhythmus, eine Klangfarbe zu geben, sie quasi in dem Sprechen erst zu produzieren. Jelinek fordert damit, ja sie zwingt geradezu den Regisseur und die Schauspieler dazu, das zu machen, was sie wollen. Es sei der Zwang zur Freiheit, der, so der Soziologe Ulrich Beck, die reflexive Moderne kennzeichne. Diesen Zwang zur Freiheit fordern auch Jelineks Texte. Ihr Verhältnis zur Autorschaft und zum Textinhalt korrespondiert mit der Grundhaltung von Nicolas Stemann, der ebenfalls die Performativität des Sprechaktes stark macht, wenn er den Fokus nicht darauf legt, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Eine radikalere Variante eines performativen Vorganges ist es, die Literaturvorlage dem Publikum zu entziehen, wie dies spektakulär bei Ulrike Maria Stuart passiert. Der Text ist nicht publiziert, nur ein kurzer Textausschnitt befindet sich auf der Homepage Jelineks. Die Frage der Interpretation des etwa 120 Seiten langen Jelinek-Textes durch die Regie Stemanns, der den Text auf ca. 30 Seiten gekürzt hat, ist entsprechend nur sehr bedingt beantwortbar. Und so verwundert es auch, wenn Kritiker trotzdem die Regie zur Textvorlage Jelineks ins Verhältnis setzen, ist ihnen doch der Text gar nicht bekannt, wie z.B. der Kritiker der »Welt«: »Umso praller füllt die Regie die von Langeweile bedrohte theatralische Leere dieses so schmarrnhaften wie undramatischen Schmähs aus lauter Text-Konfetti«6. Hier hat Jelinek durch ihren Textentzug vorgeführt, wie mediale Diskurspolitik funktioniert und wie sie selbst immer wieder als Projektionsfläche dient. Zudem hat sie es auch einer literaturwissenschaftlich orientierten Theateranalyse schwer gemacht, indem sie dieser ihr Denkfeld zwischen Text und Szene entzogen hat. Zugleich aber provoziert dieser Entzug auch die Arbeit am Mythos, am Mythos des ›Original‹-Textes und schließlich auch am Mythos der Autorin. Das Vorenthalten der Literaturvorlage bewirkt nicht nur, dass – im Sinne eines erweiterten Textbegriffs von Roland Barthes – der Text sich auflöst in die Lesarten aller Beteiligten, der Akteure und Zuschauer, zumal letztere während der Aufführung in das theatrale Spiel mitunter einbezogen werden (man denke nur an die Farbbeutelwerfenden Zuschauer). Auf 6. Die Welt, 30.10.06

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

diese Weise verlieren sie ihre klassische Rolle als passiv konsumierendes und die Aufführung deutendes Publikum. Eine performative Hervorbringung der ›Aussage‹ ereignet sich von daher nicht nur auf der Bühne, sondern auch zwischen Zuschauern und Akteuren. Der Diskurs über das Stück, so wie es durch ein Symposium, eine Buchpublikation oder über die journalistische Kritik passiert, spielt dabei eine nachhaltige Rolle; er macht das ›Stück‹, indem er es in die Werkgeschichte Jelineks, die Regiearbeiten Stemanns oder die Theaterpolitik des Thalia-Theaters einarbeitet. Vor allem Kritiker sind als legitimierte Diskursverwalter der Mediengesellschaft von besonderer Wichtigkeit für die diskursive Hervorbringung des theatralen Ereignisses, produzieren sie doch für die Öffentlichkeit das performative Ereignis als ›Werk‹ und damit als ein Stück theatraler Wissenskultur. Ein reflektierter, konstruktiv-kritischer und um den Diskurs des zeitgenössischen Theaters wissender Umgang mit der Aufführung wäre von daher in dem performativen Prozess des Er-Schreibens des Stücks mehr als nur wünschenswert.

IV. Die Performativität des theatralen ›Textes‹ verändert fundamental das Verhältnis von Autor und Regisseur, Literatur und Theater zugunsten des Letzteren: Die theatrale Inszenierung ist weit mehr als das Sichtbar-Werden der Literaturvorlage mit den Mitteln des Theaters. Das Theater wird ›emanzipiert‹, es wird zu dem Ort, der den Text erst performativ hervorbringt, indem er durch die Präsenz der Subjekte auf der Bühne und ihre Stimmen ›wirklich‹ wird. »Wer bei mir spricht, spricht um sein Leben«7, schrieb Jelinek an die Theatermacher in den Münchener Kammerspielen, wo das Stück am 29. März unter der Regie von Jossi Wieler Premiere hatte. Elfriede Jelinek entspricht, wie einige Jelinek-Forscher bereits nachgewiesen haben, in ihrer Theaterarbeit in vielerlei Hinsicht dem postdramatischen Theater: Handlungslosigkeit, Entindividualisierung und monologische Textgestaltung, die Ablösung der Sprache von der Figur, die Herstellung von Figuren als anonyme Sprachmaschinen, die Auflösung von Rollen durch Sprachflächen, welche wiederum verschiedene Sprachmelodien und –rhythmen und verschiedene Sound- und Rhythmusstrukturen haben, die Auslösung von Handlungsstrukturen zugunsten von Verdichtung und Vermischung, das intertextuelle Produktionsverfahren, die Diffundierung des Dialogs in Textfragmente, welche erst dialogisch werden durch die körperliche Präsenz der Schauspieler, die Mittel der Ironie, der Groteske 7. Programmheft Münchener Kammerspiele, S. 12.

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und der Satire – all dies sind Elemente ihres postdramatischen Theaterkonzeptes.8 Sie selbst versteht den Text »als eine offene Form«: »In die kann er (Stemann) jeden Inhalt hineinschütten, es backen, dann müssen wir das halt auslöffeln.«9

V. Jelineks Text selbst thematisiert die Performativität des Sprechaktes, indem permanent darauf verwiesen wird, das Reden und Schreiben bei der RAF nicht zur Handlung wurde. Einen Satz sagen, heißt ihn tun, so kennzeichnete der Sprachtheoretiker John Austin den performativen Sprechakt. Und genau das hat die RAF, so Jelinek, nicht praktiziert. Ihre Texte wurden nicht zu Handlungen, sie waren nicht performativ: »Das Sprechen reicht nicht aus«, oder »Wir haben kein Erkenntnisproblem sondern ein Umsetzungsproblem«. Kämpfen ist mehr als Reden, handeln mehr als Schreiben. Gerade Letzteres kann man durchaus als eine allgemeingültige Aussage des Stücks annehmen, die sich nicht nur auf die RAF bezieht, sondern auch eine Selbstanklage der Autorin ist, taucht dies doch immer wieder auf, vor allem auch dort, wo es um das Verhältnis von Frauen zur Macht geht, wenn beispielsweise Ensslin als Modepüppchen und Machobraut, Meinhof (und analog dazu Jelinek selbst) als Frauen vorgestellt werden, die – in der Isolation(shaft) – schreiben und schreiben und schreiben…10 »Die Frau ist eben nicht in der gleichen Weise in der Welt wie der Mann. Das ist es ja, was mich daran interessiert hat…«11

8. Vgl. z.B. Andreas Blödorn: »Paradoxie und Performanz. Elfriede Jelineks postdramatische Theatertexte«, in: Text & Kontext 1,2/2005, 209-234; Corinna Caduff: »Kreuzpunkt Körper. Die Inszenierungen des Leibes in Text und Theater. Zu den Theaterstücken von Elfriede Jelinek und Werner Schwab«, in: Corinna Caduff/Sigrid Weigel (Hg.): Das Geschlecht der Künste, Köln, 1996, 154-174; Gabriele Dürbeck: »Ideologiekritik im postdramatischen Theater: Thirza Brunckens Uraufführung von Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl«, in: Paul Michael Lützeler/Stephan K. Schindler (Hg.): GegenwartsLiteratur. Schwerpunkt: Elfriede Jelinek, 5/2006, S. 102124; Maja Sybille Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek Tübingen/Basel, 1996. 9. Gespräche mit Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann, in: Thalia-Theater (Hg.): Programmheft Ulrike Maria Stuart, Thalia-Theater Hamburg 2006, S. 21. 10. Die ›ältere‹ Ulrike Meinhof, gespielt von Elisabeth Schwarz, betont immer wieder, dass sie schrieb und schrieb und schrieb. 11. Programmheft Münchener Kammerspiele, S. 10.

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

VI. Der Einzug des Performativen ins Theater verändert die theatrale Figur. Im Zuge seiner ›Entdramatisierung‹ arbeitet das zeitgenössische Theater fern von einer psychologischen Entfaltung von Handlung und Charakter. Das theatrale Spiel findet statt, ohne eine Begründung in einem Darzustellenden zu finden. »Die Figuren müssen sozusagen fast jeden Augenblick von sich selbst zurückgerissen werden, um nicht mit sich selbst ident zu werden«12, so Jelinek. Die Schauspieler sind dabei einem Paradox ausgeliefert: Damit vertraut, Texte über die Figur, die sie spricht, zu verstehen, fordern Jelineks Texte auf, an Figuren zu arbeiten, die keine sind, weil sie mit sich nicht identisch sind. Als Konsequenz daraus fordert Stemann einen selbstreflexiven Umgang der Schauspieler mit sich selbst, ein permanentes Erzeugen von Differenz, ein Spiel zwischen Rolle und Selbst, eine Maskerade: Sie spielen Schauspieler, die Schauspieler spielen, die z.B. mal Ulrike Meinhof oder Maria Stuart heißen. Ulrike Maria Stuart erscheint aus dieser Perspektive nicht primär als ein Stück über die RAF, schon gar nicht als ein dokumentarisches Werk. Es ist vielmehr ein Stück über Frauen und Macht; über Frauen, die Geschichte machen wollten oder auch Geschichte gemacht haben und über männliche Bilder, die in die Geschichtsschreibung über diese Frauen eingegangen sind. Jelinek stellt dieses (Macht)Spiel als ein Spiel mit ihren Stimmen vor. Stemann wiederum lässt die einzelnen Frauenfiguren von mehreren Personen spielen. Auch auf der Bühne bleiben sie Knotenpunkte im Netzwerk der ideologisch, aber auch rhythmisch gebundenen Sprache. Als solche fungieren sie als Medien der Sprache; Medien deshalb, weil wir Zuschauer sie als Sinnvermittler der Texte wahrnehmen: ihre Körper und ihre Präsenz, aber auch das Zeichenhafte ihrer theatralen Figur (z.B. die Perücke, die Sonnenbrille der Meinhof; die Lederjacke von Baader) lassen sie als Subjekte in Erscheinung treten. Entsprechend wird auch Jelineks Text immer wieder gelesen und verlegt, wieder aufgenommen und unterbrochen – am Anfang durch die Prinzen, die den heutigen Standpunkt sprechen, den Standpunkt der Produzenten, des Regisseurs, der Dramaturgen oder vielleicht symbolisch der 1989er Generation. Dann, um im selbstreflexiven Duktus der Figur zu bleiben, müsste es heißen: durch die Schauspielerin, die eine Schauspielerin spielt, die Meinhof heißt, und am Schluss durch einen Regisseur, der Stemann heißt, und einen Schauspieler spielt, der Jelinek spielt. Der Text in seiner durch Stemann überarbeiteten und radikal gekürzten Fassung, durchzieht quasi von Anfang bis Ende die Personen. In

12. Ebd. S. 8 und 9.

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Gabriele Klein: Performativität im zeitgenössischen Theater

diesem Umgang mit Text wandelt sich die theatrale Figur von einem Charakter zu einem Medium der »Produktion von Präsenz«13. Die Flüchtigkeit, Gegenwärtigkeit und Durchlässigkeit, die einst als genuine Kennzeichen der Körperkunst Tanz galten, werden nunmehr zu Kennzeichen der theatralen Figur. Mit dem Einzug des Performativen in das Theater wird der Status des Theaters als ein Ort scheinhafter Realität problematisiert. Entsprechend will Baz Kershaw die performative Kunst als eine politische Kunst verstanden wissen, da sie nicht die Idee der Freiheit repräsentiert, sondern zeigt, wie Freiheit produziert wird.14 Ähnlich argumentiert die Performancetheoretikern Peggy Phelan, wenn sie mit Gegenwärtigkeit und Unwiederholbarkeit des Performativen die Kritik an der Politik der Repräsentation verbindet. Das Performative biete Widerstand gegen Objektivierungen, es sei ephemer und flüchtig und könne deshalb nicht in den Zirkel von Abbildung, Repräsentation und Reproduktion integriert werden.15 Genau hier liege, so Kershaw oder Phelan, die politische Chance des Performativen in der Kunst: Über Präsenz, verstanden als Präsenz des Körpers anstelle der Verkörperung einer Figur schaffe sie einen Raum, in dem Leben erprobt und erlebt werden kann.

VII. Der Einzug des Performativen in die Künste verändert das Verhältnis von Text und Kontext. Der Kontext, verstanden als Bühne, theatrale Rahmung oder historischer und sozialer Rahmen, wird durch die Produktionsweise immer wieder neu hervorgebracht. Ulrike Maria Stuart spielt in der JetztZeit einer von Pop, Musical, Show und Entertainment durchzogenen Unterhaltungs- und Zerstreuungskultur, einer, wie Adorno und Horkheimer sagen würden, industriell produzierten Kultur, die als Kulturindustrie in dieser Weise vor etwa dreißig Jahren in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht vorstellbar war. Der Einzug des Performativen in die Künste vollzog sich in einer Zeit des Umbruchs von der am Nationalstaat orientierten Industriegesellschaft zu einer neoliberalen, globalisierten Mediengesellschaft. Ein zentraler Be-

13. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004. 14. Vgl. Baz Kershaw, The Radical in Performance, S. 18f. 15. Vgl. Peggy Phelan: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York, 1993, S. 146ff.

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

standteil dieses Umbruchs war in Westdeutschland in den 1970er Jahren die Ausdifferenzierung der politischen Linken, die in der Gründung der RAF und ihren Nachfolgeorganisationen mündete. Sie verstanden sich bekanntlich als revolutionäre Avantgarde der westdeutschen Linken; ihr Kampf wurde noch nicht global geführt, sondern richtete sich gegen den westdeutschen Staat. Die Hysterie, die die bundesrepublikanische Gesellschaft damals gegen die RAF entwickelte, ist angesichts eines weltweit agierenden Terrorismus in einer globalisierten Welt nur noch schwer nachvollziehbar. Und auch die Ernsthaftigkeit des ›Phänomens RAF‹ ist für jene, die die 1970er nicht unmittelbar miterlebt haben und nur Dokumente kennen wohl auch nur schwer nachzuempfinden. Die RAF gegen die BRD, die BRD gegen die RAF: Das war kein Spiel, sondern bitterer Ernst, kein ›So-tun-als-ob‹, sondern harte Realität, kein Spaß, sondern Gewalt. Während das Stück den bitteren Ernst zum komischen Spiel verkehrt, war es der BRD bei den führenden Köpfen der RAF, den Staatsfeinden Nr. 1, nicht zum Spaßen zumute: Die Angst vor dem Untergang 2 war real und noch nicht reif für einen Blockbuster im deutschen Kino. Stefan Aust und Bernd Eichinger waren noch keine wichtigen Medienmänner, das Privatfernsehen war noch nicht eingeführt, Reality-Shows, Fernsehdokus und Polit-Talks noch nicht zentrale Bestandteile der medial durchzogenen Alltagskultur. Und so spielt der Hinweis in Ulrike Maria Stuart zu einem von Eichinger und Aust gedrehten fiktiven Filmprojekt »Der Untergang 2« nicht nur mit dem Verschwimmen der Grenzen zwischen Theater und Film. Er zeigt auch, dass innerhalb von dreißig Jahren die Grenzen zwischen Sein und Schein, real und fake, Realität und Spiel, Theater und Kino, der Produktion des Realen und des Fiktiven fließend geworden sind. Und so verwundert es nicht, wenn selbst die RAF als Teil des Entertainments in Szene gesetzt wird. Schwer verständlich waren und sind auch die nachhaltigen Auswirkungen des staatlichen Kampfes gegen die RAF auf die bundesrepublikanische Gesellschaft: Radikalenerlass durch eine sozialdemokratische Regierung, Berufsverbote für Nachtwächter, die DKP-Mitglied waren, eine Vielzahl überwachungsstaatlicher Maßnahmen: dies sind Beispiele dafür, dass der westdeutsche Staat nach einer kurzen Phase der Liberalisierung im Zuge der Studentenbewegung wieder anfing, sein inneres Gefüge aufzurüsten. Gerade diese Reaktionen staatlicherseits hatten ja der RAF überhaupt Sympathien eingebracht, hatten wesentlich dazu beigetragen, dass ihre Politikinhalte und -strategien diskutiert wurden. In Ulrike Maria Stuart trällern die jungen Prinzen zu Anfang »Ach, wie gern hätten wir die repressiven ideologischen Apparate noch erlebt«. Vielleicht ist dies ein Deutungsangebot des Regisseurs/Autors: In globalisier356

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Gabriele Klein: Performativität im zeitgenössischen Theater

ten Gesellschaften ist die Macht abstrakt geworden. Auch die Gegner der Macht sind zeit- und ortlos; selbst der globale Terrorismus ist nicht ausfindig zu machen. »Das resignative Gefühl ist das eigentliche Thema hinter dem Thema«16, so Stemann, der 1968 Geborene. Er will auf die Widersprüche des Engagements hinweisen »und damit natürlich etwas über Protest, auch den linken, erzählen«17. Dass er dies macht, indem er – sehr frech, sehr distanziert, sehr komisch und sehr ironisch – die RAF-Mitglieder als egozentrische, austauschbare Popdarsteller und Terrormodells oder als potenzgeile, aufgeblasene Lederjackenjungs vorstellt, ist freilich zu diskutieren: Der Abgesang von Widersprüchen des Engagements, des Protests als und in der Show. Denn anders als beispielsweise in Johann Kresniks Ulrike Meinhof (1990) verzichtet diese Inszenierung auf die Kontextualisierung der RAF-Protagonisten in die bundesrepublikanische Gesellschaft der 1970er Jahre. Spielte Kresniks Stück noch mit dem Verhältnis von Tätern und Opfern, von Verhältnissen und Verhalten, so verzichten Jelinek/Stemann darauf, die Figuren Meinhof/Ensslin in den politischen und sozialen Kontext zu stellen und sie damit erklärbar zu machen. Sie werden geschichtslose Sprachmaschinen. Ihr Kontext ist das Theater geworden, das mit den Mitteln der Unterhaltungsindustrie operiert. Kann es für die Prinzen der 89er Generation nur diese Lesart geben? Ist das als Standpunkt des Regisseurs anzunehmen? Diese Frage bleibt offen, nicht nur, weil die beständige Selbstreflexivität der Inszenierung und des Spiels endlos betrieben wird, sondern auch, weil das Stück mehrere Schlussszenen anbietet. Die Zuschauer dürfen sich bedienen, es sind mehrere Lesarten im Angebot…

VIII. Performativität im zeitgenössischen Theater meint auch den Einzug von Elementen der Performancekunst in die theatrale Inszenierung. In Ulrike Maria Stuart passiert dies, indem die Zuschauer in das Spiel miteinbezogen werden. Die Interaktion mit dem Publikum (in der Szene, in der die Zuschauer Farbbeutel erhalten, um Pappfiguren zu bewerfen) lässt sich als eine Aktualisierung von Kunstaktion und politischer Aktion zugleich lesen. Zur Erinnerung: In den 1970ern waren die Fahndungsfotos der RAF omnipräsent, auf Postämtern, in Supermärkten, in Arztpraxen, an Tankstellen. Überall waren die »Köpfe« der RAF zu sehen (weniger ihre Körper), zum Abschuss quasi freigegeben. In Ulrike Maria Stuart wird ein, wenn 16. Programmheft, S. 25. 17. Ebd.

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

auch makaberes performatives Spiel mit dieser Idee getrieben und zwar dort, wo das Publikum aufgefordert wird, Farbbeutel auf ihre Hassobjekte zu werfen. Auch hier sind nur die Köpfe identifizierbar, auch hier dienen die Figuren als Projektionsflächen. Aber als Hassobjekte sind diese ebenfalls austauschbar: »Wir werden die Pappfiguren austauschen, je nachdem, wer uns nervt«, sagt Stemann. Ein zentraler Bestandteil des Entertainments ist der Körper. Die Figuren sprechen, singen, schreien, kreischen, machen Sahneschlachten. Auch diese Szene ließe sich nicht nur als eine Parodie auf den naiven Kampf der selbsternannten Stadtguerilla sondern auch als ein Zitat der Aktionskunst der 1960er und 1970er Jahre lesen. In Ulrike Maria Stuart wird der Körper als Verführer vorgestellt: Keiner liest mehr Bücher, all das Geschriebene bleibt unentdeckt, die Revolution findet auf der Leinwand als Blockbuster statt, die Revolutionärinnen gehen shoppen, die Revolutionäre gieren nach »geilen Fotzen«. Sie blicken, um die eigene Ideologie, gebracht, in das Nichts der aufgeladenen Konsumgesellschaft – und hier trifft sich vielleicht die schicksalhafte Erkenntnis der Ulrike Meinhof mit von Elfriede Jelinek. »Ich weiß nicht, was passieren muss, bis endlich was passiert«, heißt es am Ende des Theaterstücks. Ein Portrait Jelineks ist auf die hintere Bühnenwand projiziert, die Zopfperücke, die Stemann zuvor getragen hatte, hängt aufgespießt auf einer Stange. Die Schauspieler-Revolutionäre versammeln sich zu einem abschließenden Gig: Die wahre Revolution liegt vielleicht doch im Rock’n’Roll.

Literatur Blödorn, Andreas: »Paradoxie und Performanz. Elfriede Jelineks postdramatische Theatertexte«, in: Text & Kontext 1,2 (2005). Bohrer, Karl Heinz: Das absolute Präsenz, Frankfurt a.M. 1994. Caduff, Corinna: »Kreuzpunkt Körper. Die Inszenierung des Leibes in Text und Theater. Zu den Theaterstücken von Elfriede Jelinek und Werner Schwab«, in: Corinna Caduff/Sigrid Weigel (Hg.), Das Geschlecht der Künste, Köln 1996, S. 154-174. Dürbeck, Gabriele: »Ideologiekritik im postdramatischen Theater: Thirza Brunckens Uraufführung von Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl«, in: Paul Michael Lützeler/Stephan K. Schindler (Hg.): GegenwartsLiteratur. Schwerpunkt: Elfriede Jelinek, 5/2006, S. 102-124 Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004. Lützeler/Stefan K. Schindler (Hg.): GegenwartsLiteratur. Schwerpunkt Elfriede Jelinek, 05/2006, S. 102-124. 358

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Gabriele Klein: Performativität im zeitgenössischen Theater

Lehmann, Hans-Thies: Das postdramatische Theater, Frankfurt a.M. 2001. Münchener Kammerspiele (Hg.): Ulrike Maria Stuart. Programmheft: Spielzeit 2006/07, S. 15. Pflüger, Maja Sybille: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek, Tübingen/Basel 1996. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London/New York 1993. Thalia Theater (Hg.): Ulrike Maria Stuart. Programmheft, Gespräche mit Elfriede Jelinek und Nikolaus Stemann, Hamburg 2006, S. 21.

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) vakat 358.p 168349669808

Evelyn Annuß: Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren

Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren. Einar Schleef und das Thingspiel Evelyn Annuss

Einar Schleefs chorische Inszenierungen sind paradigmatisch für die Transformation szenischer Darstellung in den letzten Jahrzehnten – für die Abkehr von der dramatischen Aussprache und die Entwicklung nicht-protagonistischer Auftrittsformen.1 Sie korrespondieren mit zeitgenössischen Theatertexten von Heiner Müller oder Elfriede Jelinek, die sich der dramatischen Darstellung entziehen.2 Schon die frühen, noch in der DDR entstandenen Regiearbeiten wie etwa Fräulein Julie (Berliner Ensemble 1975) weisen auf gegenwärtige Bühnenexperimente voraus und erproben die Überschreitung der Rampe. Seit Ende der 1990er Jahre wird Schleefs Theaterpraxis zum Ausgangspunkt genommen, um den Chor als unüberblickbare, polyvoke Figur zu bestimmen. Inzwischen gilt dieser als eine Figuration, die der gestalthaften Aufladung des Körperbilds widerstreitet und die Voraussetzungen szenischer Darstellung reflektierbar macht.3 1. Zur zeitgenössischen Chorpraxis auf der Bühne vgl. Hajo Kurzenberger: »Chorisches Theater der neunziger Jahre«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin 1999, S. 83-91. 2. Zum dramatischen Formzitat bzw. zur Transformation des Dramas bei Müller und Jelinek siehe Evelyn Annuß: »Kein Gesicht unter der Maske: Heiner Müllers Lessing«, in: Wolfgang Storch/Klaudia Ruschkowski (Hg.), Sire, das war ich. Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Heiner Müller Werkbuch. Berlin 2007, S. 289-296 u. dies., Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. München 2005, hier S. 17-57. 3. Vgl. u.a. Ulrike Haß: »Chorkörper, Dingkörper: vom Geist der Droge. ›Ein Sportstück‹ von Elfriede Jelinek und Einar Schleefs Theater des Chores«, in: Kaleidoskopien 3 (2000), S. 151-161; Christina Schmidt: »Sprechen sein. Elfriede Jelineks

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

Schleefs Essay Droge Faust Parsifal folgend wird das gegenwärtige Chortheater vor allem im Kontext der attischen Tragödie und deren prädramatischem szenischem Modell, stellenweise auch mit Blick auf Wagner und dessen Einführung des Theatergrabens diskutiert.4 Mit der Konzentration auf diese Traditionslinien überspringt man allerdings Schleefs Bezugnahme auf die jüngere politische Geschichte kollektiver Auftrittsformen. So bleibt letztlich der Blick auf jenen historischen Kontext verstellt, dem seine Versuchsanordnungen im Zitat chorischer Formationen aus der NS-Zeit zu nehmend Rechnung tragen. Die fehlende Auseinandersetzung mit Schleefs Rekurs auf das nationalsozialistische Chortheater mag von der breiten Front jener Kritiken herrühren, die ihm seit den 1980er Jahren ein affirmierendes Spiel mit faschistischen Auftrittsformen vorwerfen. Schon seine frühen Frankfurter Inszenierungen werden von Peter Iden und anderen wegen ihrer vermeintlichen ›Reichsparteitags-Dramaturgie‹ verrissen.5 Damit ist bereits ein Resonanzraum geschaffen, auf den Schleef in Wessis in Weimar (Berliner Ensemble 1993) reagiert, indem er, dramaturgisch begründet, uniformierte Männerchöre auftreten lässt. Die daran anknüpfende chorische Übersetzung der Knechtsfigur in der Brecht-Inszenierung Herr Puntila und sein Knecht Matti (Berliner Ensemble 1996) erscheint C. Bernd Sucher schließlich so »deutsch und brutal«6, dass ihn die nackten, fallenden Körper in einer der Schlussszenen umstandslos an eine – wie er schreibt – obszöne, widerliche und geschmacklose Auschwitz-Szene erinnern. Und während in den 1990er Jahren Neonazis tatsächlich verstärkt in den Straßen aufmarschieren, ist angesichts der von Schleef recycelten Uniformmäntel aus Wessis in Weimar an anderer Stelle von der ›Wehrsportgruppe Puntila‹ die Rede.7 Roland Wiegstein setzt noch eins drauf: Er lässt verlauten, man habe es bei Schleefs »Puntila« mit einer »Art choreographiertem Thing-Spiel«

Theater der Sprachflächen«, in: Sprache im technischen Zeitalter 153 (2000), zur Sportstück-Inszenierung S. 70-73. 4. Vgl. hierzu Christina Schmidt: »Proszenium, Orchestra und Orchester – zur Topographie fragiler Theaterorte«, in: THEWIS 2 (2006). Siehe zudem bereits Miriam Dreysse Passos de Carvalho: Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Frankfurt a.M. u.a. 1999. 5. Siehe die Zusammenstellung der Kritiken in M. Dreysse: Szene vor dem Palast, S. 10-15. 6. C. Bernd Sucher in der Süddeutschen Zeitung; siehe die gesammelten »Puntila«-Kritiken in Theater heute 4 (1996), hier S. 11. Zur Kritik dieser Kritik vgl. bereits Franz Wille, »Der Untergangsdirigent«, ebd. S. 6-12. 7. Vgl. Hildegard Wenner in der Basler Zeitung; ebd.

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Evelyn Annuß: Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren

zu tun, »in dem sich mißverstandene Antike, SA-Aufmärsche und FDJFeiern peinlich mischen«8. Die von Anfang an virulenten Naziprojektionen auf Schleefs Chortheater zeugen vom Nachleben einer Form szenischer Darstellung, die bereits in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre für obsolet gehalten und nach 1945 für obszön befunden wird. Ihrer Entbergungsarbeit ist Schleefs Theater bis hin zu Verratenes Volk (Deutsches Theater Berlin, 2001) gewidmet: Militär auf der Bühne, schreibt er in Droge Faust Parsifal, sei ein schweres Problem; durch dessen Ausblendung allerdings werde nur die anwachsende Militarisierung des Alltags bemäntelt.9 Nun kann gerade die Bühne, darauf hat Schleef in seiner fünften Frankfurter Poetikvorlesung hingewiesen, als Versuchslabor fungieren, um unverdautes Material umzusetzen. Wenn Schleef den Chor »als in sich geschlossen handelnde und sprechende ›Masse‹«10 zunehmend im Kontext der neueren Geschichte verortet und sich militärischer Formen bedient, die Erinnerungen an den NS wachrufen, mag das nicht zuletzt den genannten Totalverrissen zu verdanken sein, die in der Tat auf unverdautes Material aufmerksam machen. Er fordert zur Frage nach der Geschichtlichkeit der postdramatischen Chorfigur heraus. Um das zu zeigen, möchte ich an zwei Punkten den Bezug zum Thingspiel, dem völkischen Freilichttheater aus der Frühphase des Nationalsozialismus, und dessen Einsatz der Massen herstellen: Erstens an der soldatischen Formierung des um Puntila kreisenden Matti-Chors, mit der Schleef die brechtsche Formentwicklung im Kontext nationalsozialistischer Darstellungsformen reflektierbar macht. Zweitens an der Übersetzung einer runden Auftrittsfläche in den Rahmen des Guckkastens und deren dramaturgischer Verwendung als Richtplatz; denn als solche weist diese Rundform auch auf das vermeintlich neogermanische Volkstheater der Nazis zurück.

Chorformierung Die Faschismusvorwürfe Schleef gegenüber haben sich durchgängig am soldatischen Prinzip der Chorformation entzündet. Mit der Auftrittsform seines meist neunköpfigen Matti-Chors in der »Puntila«-Inszenierung antwortet Schleef auf diese Vorwürfe, mit denen er seit den Müttern – seiner 1986er Antikeninszenierung am Schauspiel Frankfurt – konfrontiert ist: Er überführt Brechts Volksvertreter Matti durch den Einsatz von Uni8. Vgl. Roland H. Wiegenstein in der Badischen Zeitung; ebd. 9. Einar Schleef: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a.M. 1998, S. 431. 10. Ebd., S. 212.

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

formen, Marschbewegungen und die Sprechweise ins formierte, auf einen Regiepunkt bezogene chorische Modell. Wie ein Dirigent lässt er den »Wessi«-Chor in einer Exerzierszene um sich kreisen. In Reih und Glied an der Rampe postiert, brüllen die Mattis an anderer Stelle im rhythmisierten Kasernenton den Text in den Zuschauerraum. Der formierte Auftritt spielt mit der Drohung, die Rampe zu überschreiten und das Publikum zu affizieren. Gerade auf der Folie der vorhergehenden Angriffe gegen Schleefs Arbeit wird in diesen beiden Szenen die Assoziation mit nationalsozialistischen Inszenierungen der Volksgemeinschaft im Thingtheater provoziert. Die Bühne solle eine Beziehung aller Teile auf eine Mitte hin herstellen, um die weltanschauliche Perspektive zu klären, schreibt etwa Fritz Budde in seinem Thingspiel-Aufsatz aus dem Jahr 1934, in dem er sich Gedanken über den nationalsozialistischen ›Neubau des deutschen Theaters‹ macht.11 Und Wilhelm von Schramm fordert, dass die Thing-Chöre wie geschlossene Körper im männlichen Spiel agieren sollen.12 Schleef ruft die Erinnerung an diese Überlegungen wach, die aus seminaristischen Chordiskussionen gemeinhin ausgeblendet bleiben. Doch von der Affirmation einer faschistischen Formierung der Massen ist seine chorische Inszenierung des »Puntila« weit entfernt. Vielmehr wird die soldatische Auftrittsform permanent ironisch gebrochen. Beschreibt der von Brecht als Volksstück bezeichnete Text den Ausbeuter Puntila im Prolog beispielsweise als »gewisses vorzeitliches Tier«13, verwandelt Schleef die ins Chorische übersetzte Matti-Figur an einer Stelle in eine bellende Meute. Von Brecht im Exil 1940 als komische Figur und uneigentliche Stimme der Masse entworfen, wird der Gegenspieler Puntilas als gänzlich anderes ›neues Tier‹ auf die Bühne gebracht. Zuvor ausgestattet mit den Insignien dessen, was heute zu aller erst NS-Assoziationen aufruft, erscheint der Matti-Chor hier als entblößte Figur. Er tritt in Unterhosen als eine Art Chortier auf, fällt kollektiv über die Eva-Figur her und präsentiert so weniger seine geistige Potenz als seine sexistische Kehrseite. Auf der Folie der »Anmerkungen zum Volksstück« – Matti müsse »so besetzt werden, daß […] die geistige Überlegenheit bei ihm liegt«14 – kann das als Brechtkritik gelesen werden. 11. Vgl. Fritz Budde: »Guckkastenbühne, Freilichtbühne, Deutsche Bühne«, in: Bausteine zum deutschen Nationaltheater 2 (1934), S. 47-54. 12. Vgl. Wilhelm von Schramm: Neubau des deutschen Theaters. Ergebnisse und Forderungen, Berlin 1934, S. 39. 13. Bertolt Brecht: Werke 6. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (GBA), Berlin u.a. 1989, S. 285. 14. B. Brecht: »Anmerkungen zum Volksstück«, in ders. GBA 17, S. 1172.

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Evelyn Annuß: Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren

Indem Schleef aber die Matti-Rolle gewaltförmig verzerrt und militarisiert, macht er noch etwas gänzlich anderes sichtbar. Er verweist in dieser Enthüllungsszene auf die Deformation der brechtschen Chorexperimente im nationalsozialistischen Thingtheater und entblättert dessen soldatische Erscheinung. In diesem Sinn ist die Arbeit am »Puntila« – und zwar entgegen Schleefs eigener Lesart15 – letztlich auch als Rehabilitation des frühen Brecht bestimmbar. Mit der kollektiven Darstellung der Knechtsfigur knüpft Schleefs Inszenierung durch das erinnerbar gehaltene Thingspiel hindurch an die brechtschen Chorversuche in den Lehrstückexperimenten der 1920er und frühen 1930er Jahre an. Alexander Kluge weist folgerichtig auf die Nähe von Schleefs Interpretation zum frühen Brecht hin: Schleef bringe »ein ganz anarchisches Element«16 zum Vorschein. Der Chor hat bei Brecht, wie das Zitat des Paulusbriefs am Ende der Maßnahme verdeutlicht, ein Glied zu wenig. Brecht figuriert ihn nie als geschlossene Gestalt, sondern beschäftigt sich mit dem Misslingen geschlossener Gemeinschaftsbildung. Die dem Chor gegenüber gestellte persona wird gerade als der abgeschnittene Fuß und damit als die Wunde der Kollektivfigur zu denken gegeben. 1940 aber haben sich die politischen Vorzeichen verändert. Anstelle der Selbstverständigung über das problematische Verhältnis zwischen Person und Kollektiv bedarf es aus Brechts Sicht nun einer konturierbaren persona, um sie als eine Art Volksvertretung der von ihm im Messingkauf so benannten »Theatralik des Faschismus« entgegenzusetzen. Der nationalsozialistischen Inszenierung des Führers auf der Bühne der Politik kann Brecht offenbar nur mehr in personalisierter Form und im abgesicherten Modus der Didaxe entgegnen.17 Für ihn bedeutet die Emigration einen Bruch mit seinen frühen chorischen Experimenten. Gerade im »Puntila« manifestiert sich Brechts Volksfronteinsatz gegen die Nazis in seiner formalen Konsequenz. Hatte er in den Lehrstücken das aporetische Spannungsverhältnis von Person und Kollektiv über die Konstellation Protagonist und Chor durchspielen lassen, verjagt er die szenische Kollektivfigur unter dem Eindruck des NS von der Bühne und ersetzt sie durch die körperbildlich präsentierbare komische Figur. So wird das chorische Modell latent gehalten, etwa in der Szene 15. Vgl. E. Schleef: Droge Faust Parsifal, S. 454. 16. Vgl. Alexander Kluge: »Herr Puntila und seine Tochter Eva. Einar Schleef inszeniert Bert Brecht am Berliner Ensemble in ungewöhnlicher Weise«, in: Facts & Fakes 5. Fernseh-Nachschriften. Einar Schleef – der Feuerkopf spricht, Berlin 2003, S. 19. 17. Zur Kritik am brechtschen Theater der Darstellung, die freilich die frühen Experimente übersieht, vgl. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 94-102.

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

»Finnische Erzählungen« in ein episierendes Nebeneinander-Sprechen überführt und vor allem in die uneigentliche Rede der Matti-Figur transformiert. Auf der Bühne soll dieser Antagonist des despotischen Gutsbesitzers als überlegene und klar konturierbare persona agieren. Die Demonstration geistiger Überlegenheit bedarf eines darstellerischen Fluchtpunkts. So wird der Fragecharakter von Brechts vor der Machtergreifung der Nazis erarbeiteten Versuchen, das Ausloten eines wechselseitigen Bedingungs- und Ausschlussverhältnisses von protagonistischer und chorischer Figur, im Exil zurückgenommen und ›der Chor‹ der Nebenfiguren zu jenem Grund degradiert, von dem sich die protagonistische Figur abheben kann. An die Stelle der dargestellten Aporie also rückt Mattis hinterlistige Rede im Namen der anderen Figuren. Wird das uneigentliche Sprechen für ein Kollektiv in der Maßnahme an die Auslöschung der individualisierbaren Person geknüpft, ist sie nun der personalisierten Knechtsfigur zum Zweck belehrenden Zeigens übertragen. Brecht versucht im Exil das protagonistische Prinzip mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Der Chor ist in transformierter Form zur Kulisse einer episch darzustellenden Person geworden. Möglicherweise reagiert Brecht damit bereits selbst auf die implizite Entwendung seiner Arbeit durch die Thingbewegung; denn auf seine Lehrstücke bezieht sich nicht zuletzt Eberhard Wolfgang Möllers Frankenburger Würfelspiel, dessen 1936er Aufführung nicht nur den End-, sondern auch den Höhepunkt des Thingtheaters bedeutet.18 Dies über die formierte Auftrittsform implizit in Erinnerung rufend, verweist Schleefs Knechtsfigur von der ehemaligen Brecht-Bühne aus auf dessen formale Kapitulation vor den Chorexperimenten der Nazis. Der brechtschen Verdrängung der Kollektivfigur aus dem Sichtfeld stellt Schleef eine Inszenierung entgegen, die die Transformation des linksradikalen Chortheaters ins nationalsozialistische Thingspiel aufs Tablett bringt. Von dem krank gewordenen Heiner Müller 1995 wider Willen mit der Übernahme des Stücks »bedrückt«19, liefert er einen szenischen Kommentar zu dieser Formentwicklung: Er unternimmt eine Art Rückübersetzung der Matti-Figur ins Chorische und knüpft im Zitat der formierten Masse aus der historischen Distanz an die brechtsche Konzeption der Chorfigur an. Durch die Erinnerung an den NS hindurch wird die chorische Tradition des präfaschistischen deutschen Theaters erkundbar. Gerade dank der aufgerufenen historischen Bezüge, kann Schleefs Puntila als eine Art rettende Geste gegenüber Brechts frühen Versuchen begriffen werden. 18. Vgl. Rainer Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die »Thing-Bewegung« im Dritten Reich. Marburg 1985. 19. Vgl. Schleef in A. Kluge: Facts, S. 19.

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Abbildung 12: Skizze von Einar Schleef zu Puntila und sein Knecht Matti von Bertolt Brecht (Berliner Ensemble Spielzeit 1995/96)

Einar Schleef Archiv, Akademie der Künste Berlin (Signatur 1091_4)

Richtplatz Arbeitet er in den vorhergehenden Inszenierungen mit der Vermessung des gesamten theatralen Raums, indem er Stege ins Parkett baut, seine Chöre gewissermaßen über die Rampe springen lässt und im Zuschauerraum verteilt, konzentriert sich Schleef im Puntila auf den Guckkasten.20 Der Rahmen des szenischen Tableaus, den die Verkleidung der Vorderbühne unterstreicht, wird genutzt, um eine andere Auftrittsfläche in die geschlossene Versuchsanordnung des szenischen Sichtfelds einzutragen. Die runde, metallbeschlagene Form, mit der Schleef in der Puntila-Inszenierung arbeitet, wird bislang als Tisch, als Verweis auf die Utopie kollektiver Teilhabe am Politischen und auf die Frage kultischer Vergemeinschaftung, gelesen. Zugleich allerdings ruft die Rundform, in den Kontext des formierten Männerchors gestellt, eine diesem angestammte Auftrittsfläche ins Gedächtnis. Innerhalb des Guckkastens wird darüber eine Bühnenform evoziert, die sich zwar schon im antiken Theater sowie dessen Rezeption

20. Ab der 29. Vorstellung werden Teilchöre auch im zweiten Rang verteilt. Vgl. die Theaterdokumentation von Ute Scharfenberg: Bertolt Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti (Akademie der Künste Berlin, D569).

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

von Vitruv bis Palladio und darüber hinaus findet21, gleichwohl von den nationalsozialistischen Verfechtern eines technisch aufgerüsteten chorischen Freilufttheaters für sich reklamiert wird: Der Deutsche sehe, so wiederum Fritz Budde, »die Welt nicht als Milieu, nicht als einen von vier Wänden begrenzten Raum, sondern als runden Kosmos, der in sich selbst ruht und durch sich selbst im Gleichgewicht gehalten wird. Darum kann der Kasten der französischen Bühne dem Deutschen die Welt nicht bedeuten, darum braucht er eine runde und plastische und sphärisch umgrenzte Bühne.«22 Die von Budde und anderen imaginierte ›wesens- und artgemäße‹ Befreiung vom Guckkasten durch die angeblich traditionell germanische Rundform der Thingstätten ist ein weiteres Moment, an das Schleefs Puntila-Inszenierung erinnert. Nach dem gespenstischen Prolog der späteren Eva-Darstellerin – Jutta Hoffmann im weißen Totenhemd an der Schwelle der Rampe platziert – setzt die Aufführung in einer Weise ein, die die Rundform selbst wie eine Art Heimsuchung from outer space zum Verhandlungsgegenstand macht. Wenn sich der eiserne Vorhang hinter Jutta Hoffmann hebt, sieht man das Ensemble jeweils kahlgeschoren oder mit Gretchenfrisur in einem schwarz ausgeschlagenen Raum um eine runde Fläche sitzen. Gekleidet sind die Schauspieler in glänzende, schwarze Stretchkostüme, eine Mischung aus Taucher- und Science-Fiction-Anzügen. Als werde hier eine Séance vorgeführt, liegen ihre Hände wie auf einem runden Tisch. Auf dieser Fläche sozusagen wird der aus der NS-Zeit stammende Exiltext herbeizitiert und der Etymologie des Zitierens entsprechend verhandelt. Über das Outfit der Darsteller, das auf Zukünftiges verweist, kann die Szene als Verschränkung des Vergangenen mit Kommendem gelesen werden. Gebrochen wird der geschlossene Kreis durch die von Schleef gespielte Puntila-Figur. Sie ist am hinteren Tischende in der Mitte stehend platziert. Aus dem Kreis der Darsteller herausragend tritt Puntila als Double der einzelnen persona an der Rampe und Strippenzieher des Ganzen auf. Im Spiel bindet Schleef die Präsentation der Herrenfigur daran, seine Autoritätsposition als Regisseur auszustellen. Er trägt mithin die Darstellungsvoraussetzung und die mit ihr verbundene Hierarchie in das Dargestellte ein. In dieser Eröffnungsszene spricht Schleef denn auch nicht nur die monologisierende Rede des besoffenen Puntila, sondern unter anderem auch Mattis Repliken. Was hier auf den Tisch gebracht wird, ist die Totalisierung des protagonistischen Prinzips.

21. Vgl. Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, v.a. S. 144 u. 152. 22. F. Budde, Guckkastenbühne, S. 50.

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Doch die Rundfläche bekommt im Verlauf des Spiels noch eine weitere, damit korrespondierende Funktion: Sie wird zum Opfertisch, auf dem Schleef die Ausstoßung der weiblichen Figur als Voraussetzung falscher Vergemeinschaftung in Szene setzt. In seiner dramaturgischen Arbeit am Puntila-Stoff nämlich nimmt Schleef neben der Kollekivierung der Knechtsfigur noch eine weitere entscheidende Änderung vor. Er greift zurück auf die frühen, ungeglätteten Versionen von Puntila oder Der Regen fällt immer nach unten – so der ursprüngliche Titel. Um den Klassenantagonismus heraus zu destillieren, hat Brecht im Schreibprozess die Frauenfiguren seines Stücks in den späteren Fassungen an den Rand gerückt.23 Demgegenüber positioniert Schleefs Inszenierung die Eva-Darstellerin von Anfang an als Blickpunkt der zentralperspektivisch organisierten, vom Chor permanent unterlaufenen Sichtordnung. Das zeigt sich bereits an ihrem sozusagen präfiguralen Auftritt an der Schwelle der Rampe. Auf die Genese des Stücks verweisend, wird die Randständigkeit der weiblichen persona hier rekonfiguriert, um dann Evas Ausstoßung aus dem Zentrum des Konflikts performativ werden zu lassen: Im entscheidenden zweiten Teil seiner Inszenierung übersetzt Schleef den von Brecht praktizierten Ausschluss der weiblichen Figur in eine Gerichtsszene. Eva wird darin auf ihre Tauglichkeit zur proletarischen Ehe hin examiniert. Nutzt Brechts Schwank diese Szene, um die Gutsherrentochter stellvertretend für ihren Vater der Lächerlichkeit preiszugeben, lässt Schleef die Eheprobe als symbolische Mortifikation durchspielen, bis dem Publikum das Lachen im Hals stecken bleibt: Eva muss sich von ihrer isolierten Position auf der Rundfläche gegen das 30köpfige Ensemble der Darsteller behaupten. Wiederum in das weiße Totenhemd vom Anfang gekleidet und vom Ensemble in purpurnen Richterroben eingekreist, wird sie dort von Puntila vernommen. Das gemeinsame Auslachen der einzelnen persona schweißt schließlich den verhörenden Puntila und das zuhörende Darstellerensemble zum geschlossenen Kreis zusammen. Während Eva in der Inszenierung endgültig verstummt, werden die Widersprüche zwischen Puntila und der Chorfigur scheinbar außer Kraft gesetzt. Später stellt Schleef den Effekt der Zusammenschließung zur Kollektivfigur entsprechend als Evas symbolischen Tod aus. Wie in einer Passionsszene liegt sie im dritten Inszenierungsteil mit ausgebreiteten Armen auf der runden Fläche. Als ›der Tisch‹ nach oben angehoben und dann gekippt wird, rutscht sie in Gekreuzigtenhaltung nach unten auf Puntilas Schultern. Dann hebt sich die Rundfläche

23. Vgl. Günther Heeg: »Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Frau. Einar Schleefs archäologische Lektüre von Brechts Puntila«, in: Marc Silberman (Hg.), drive b: brecht 100. Theater der Zeit Arbeitsbuch/Brecht Yearbook

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

und bleibt weiter oben im Hintergrund hängen, so dass nur noch zwei Drittel sichtbar sind. Der Richtplatz Evas erscheint hier, an das ScienceFiction-Ambiente des ersten Teils erinnernd, wie ein anderer Stern. Nun geht das nationalsozialistische Thing-Spiel nach einer Eingebung des Theaterwissenschaftlers Carl Niessen auf die germanische Gerichtsversammlung zurück. Und in den meisten Thingspielen – darin besteht letztlich ihr wohl eher an das Passionsspiel als die alten Germanen anknüpfendes Strukturprinzip – konstituiert sich die chorische Gemeinschaft durch die Verstoßung einer Figur.24 Diesen auf Ausschluss basierenden Akt ritueller Gemeinschaftsbildung ruft Schleef ins Gedächtnis, wenn er die Rundform für seine Gerichtsszene verwendet. So greift er genau jenes Moment auf, das die völkische Chorfigur in ihrer dramaturgischen Funktion von jener des Lehrstücks unterscheidet. Ausschluss und Opferung einer ›artfremden‹ persona zur Konstitution der protagonistisch angeführten Gemeinschaft wird dabei als das seinerseits Unverdauliche des PuntilaStücks exponiert und im chorischen Theater von Brechts politischen Antagonisten gespiegelt. Schleefs Inszenierung macht also auf die Geschichtlichkeit gemeinschaftsstiftender Figuren aufmerksam. Gegen den Puntila gewendet bleibt sie damit der Gedankenfigur des ›kranken‹ Chors eingedenk, die bereits Brechts Maßnahme auszeichnet.25 Als Figur nämlich ist der Chor, wie Schleef wieder und wieder zeigt, immer schon im Zerfall begriffen. Im Verlauf der Puntila-Inszenierung ist er daher auch nicht als geschlossene Formation haltbar. Das macht wiederum die folgende Szene deutlich – eine Art ekstatischer Totentanz, der nicht mehr dem militaristischen Exerziermodell vorhergehender Matti-Auftritte entspricht. Die Rückwärtsbeugen und erhobenen Arme der nackten Frauen und Männer erinnern stattdessen an die Bewegungschöre der Lebensreformer und den Ausdruckstanz. Wenn die Körper der Choreuten schließlich zu Boden fallen und zuckend liegen bleiben, werden Vorstellungen vom kollektiven Sterben wach gerufen. Das Dargestellte allerdings ist keineswegs eine Bild gewordene Gaskammer24. Vgl. René Girards »Das Heilige und die Gewalt« aufgreifend Erika FischerLichte: »Tod und Wiedergeburt – Zur Verklärung der Volksgemeinschaft in Thingspielen und nationalsozialistischen Feiern«, in: Paula Dietze (Hg.): Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen, München 2006, S. 191-210. Erinnert sei allerdings an Heegs Kritik der enthistorisierenden Anthropologisierung dieses Modells (Günter Heeg: »Der Tod der Gemeinschaft«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 94). 25. Zur Krankheit des Chors vgl. E. Schleef: Droge, S. 274; siehe auch Thorsten Beyer: »Einar Schleef – Die Wiedergeburt des Chores als Kritik des bürgerlichen Trauerspiels«, in: Thewis 2 (2006).

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szene, wie etwa Peter von Becker im Anschluss an den eingangs zitierten C. Bernd Sucher behauptet.26 Die nackten Körper lassen hier vielmehr gerade im Zitat eines ›körpergestützten Vergemeinschaftungstypus’’27 aus der Weimarer Zeit nach dessen Relation zu jenem chorischen Ausschlussmodell und dessen letzter Konsequenz fragen, das zuvor in Anspielung auf das Thingspiel vorgeführt wurde.

Transformation der Chorfigur Herr Puntila und sein Knecht Matti macht die verwendeten Chormodelle zum Untersuchungsgegenstand, indem er sie in den Guckkasten transponiert, deformierend wiederholt und einander entgegen setzt. So ist Schleefs Inszenierungsarbeit lesbar als ›Forschungsbeitrag‹ zur Historizität (post)dramatischer Transformationen. In Erinnerung an die Form- und Funktionsgeschichte chorischer Darstellungsmodi tritt sein Puntila gegen die Personalisierung des Politischen an. Die Faschismusvorwürfe sind also nicht deshalb haltlos, weil Schleefs Arbeit gar nichts mit den kollektiven Auftrittsformen des NS zu tun hat, sondern weil er die Chorfigur gerade im kritischen Rekurs auch auf das Thingspiel in das Theater der Gegenwart zitiert. Damit trägt er jenem Geschichtsraum Rechnung, der im Theater personaler Darstellung ausgeblendet wird, als sei nicht gerade die total gewordene Dramatisierung der protagonistischen Figur auf der Bühne der Politik das vorrangige ideologische Geschäft der Nazis gewesen. Dem stellt Schleef im permanent gebrochenen Zitat kollektiver Formierung die spezifische Theatralität der Chorfigur – die ›Schaustellung der Schaustellung‹28 – entgegen; denn der Chor ist nicht nur an Evas Ausstoßung beteiligt, sondern zugleich als dessen Zeuge eingesetzt und wird dann selbst im Zerfall präsentiert. Als unverdauliches, obszön erscheinendes Material auf die Szene gezerrt, wird der Chor so wieder zum Ort der Frage nach dem ungeklärten Verhältnis zwischen einzelner persona und Kollektiv.

26. Peter von Becker: Unerträgliche Schwere des Scheins. Anmerkungen zum Berliner »Puntila« und dem Theater Einar Schleefs, in: Theater heute Jahrbuch 1996, S. 57. Siehe demgegenüber bereits Franz Wille: »Vorsicht! Sie verlassen den politisch-korrekten Sektor! Zur Erregung über Schleefs ›Puntila‹«, ebd. S. 59-60. 27. Vgl. Matthias Warstat: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung. 1918-1933, Tübingen/Basel 2005, S. 15. 28. Mit Blick auf Schiller vgl. Bettine Menke: »Wozu Schiller den Chor gebraucht…«, in: dies./Christoph Menke (Hg.): Trauerspiel – Tragödie – Chor, Berlin 2007, S. 72-100, hier S. 93.

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Foto: David Baltzer/Zenit

Abbildung 13: Bertolt Brecht: Puntila und sein Knecht Matti (Berliner Ensemble Spielzeit 1995/96); Regie/Bühne/Kostüme: Einar Schleef

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Evelyn Annuß: Zur Historizität postdramatischer Chorfiguren

Literatur Evelyn Annuß: »Kein Gesicht unter der Maske: Heiner Müllers Lessing«, in: Wolfgang Storch/Klaudia Ruschkowski (Hg.), Sire, das war ich. Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Heiner Müller Werkbuch. Berlin 2007, S. 289-296. Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. München 2005. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990. Becker, Peter von: »Unerträgliche Schwere des Scheins. Anmerkungen zum Berliner »Puntila« und dem Theater Einar Schleefs«, in: Theater heute Jahrbuch 1996, S. 56-57. Thorsten Beyer: »Einar Schleef – Die Wiedergeburt des Chores als Kritik des bürgerlichen Trauerspiels«, in: Thewis 2 (2006), S. 1-13 (www.thewis.de; gesehen am 28. Dezember 2006). Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus Detlef Müller. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 19882000. Fritz Budde: »Guckkastenbühne, Freilichtbühne, Deutsche Bühne (Grundsätzliche Gedanken zu einem Neubau des deutschen Theaters.)«, in: Bausteine zum deutschen Nationaltheater 2 (1934), S. 47-54. Miriam Dreysse Passos de Carvalho: Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Frankfurt a.M. u.a. 1999. Erika Fischer-Lichte: »Tod und Wiedergeburt – Zur Verklärung der Volksgemeinschaft in Thingspielen und nationalsozialistischen Feiern«, in: Paula Dietze (Hg.), Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen, München 2006, S. 191-210. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987. Ulrike Haß: »Chorkörper, Dingkörper: vom Geist der Droge. ›Ein Sportstück‹ von Elfriede Jelinek und Einar Schleefs Theater des Chores«, in: Kaleidoskopien 3 (2000), S. 151-161. Einar Schleef: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a.M. 1998. Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005. Günther Heeg: »Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Frau. Einar Schleefs archäologische Lektüre von Brechts Puntila«, in: Marc Silberman (Hg.), drive b: brecht 100. Theater der Zeit Arbeitsbuch/Brecht Yearbook 23, Berlin 1998, S. 147-154. Günter Heeg: »Der Tod der Gemeinschaft«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 93-100. 373

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Schauplatz Bühne: Der bewegte und arbeitende Text

Alexander Kluge: »Herr Puntila und seine Tochter Eva. Einar Schleef inszeniert Bert Brecht am Berliner Ensemble in ungewöhnlicher Weise«, in: Facts & Fakes 5. Fernseh-Nachschriften. Einar Schleef – der Feuerkopf spricht, Berlin 2003, S. 18-23. Hajo Kurzenberger: »Chorisches Theater der neunziger Jahre«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin 1999, S. 83-91. Bettine Menke: »Wozu Schiller den Chor gebraucht…«, in: dies./Christoph Menke (Hg.), Trauerspiel – Tragödie – Chor, Berlin 2007, S. 72-100. Schlösser, Rainer 1935: Das Volk und seine Bühne. Bemerkungen zum Aufbau des deutschen Theaters. Berlin. Christina Schmidt: »Proszenium, Orchestra und Orchester – zur Topographie fragiler Theaterorte«, in: THEWIS 2 (2006), S. 1-13. (www.thewis .de; gesehen am28. Dezember 2006). Christina Schmidt: »Sprechen sein. Elfriede Jelineks Theater der Sprachflächen«, in: Sprache im technischen Zeitalter 153 (2000), S. 65-74. Wilhelm von Schramm: Neubau des deutschen Theaters. Ergebnisse und Forderungen, Berlin 1934. Rainer Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die »Thing-Bewegung« im Dritten Reich. Marburg 1985. Matthias Warstat: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung. 1918-1933, Tübingen/Basel 2005. Wille, Franz: »Vorsicht! Sie verlassen den politisch-korrekten Sektor! Zur Erregung über Schleefs ›Puntila‹«, in: Theater heute Jahrbuch 1996, S. 59-60. Wille, Franz: »Der Untergangsdirigent. Einar Schleef inszeniert Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti am Berliner Ensemble«, in: Theater heute 4 (1996), S. 6-12.

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Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren Evelyn Annuß, Literatur-, Theaterwissenschaftlerin und Soziologin, forscht momentan über chorische Auftrittsformen im Nationalsozialismus und arbeitet an einem Projekt über visuelle Spuren von Geschichte in Namibia. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Nichtdramatisches Theater der Gegenwart; Formzitat und Rhetorik der Darstellung; Fotografie und Literatur; Geschichte literarischer wie szenischer Geschlechterkonstruktionen. Momentan Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Promotion 2005 (Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, München 2007. Aktuelle Veröffentlichungen: »Echo – Celans Nachruf auf Heideggers Drama«, in: Stefanie Dieckmann /Thomas Khurana (Hg.), Latenz, Berlin 2007; »Kein Gesicht unter der Maske: Heiner Müllers Lessing«, in: Wolfgang Storch/Klaudia Ruschkowski (Hg.), Sire, das war ich. Leben Grundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Heiner Müller Werkbuch. Berlin 2007; »Race and Space. Eine Nahaufnahme aus dem Sudan«, in: Polar 2 (2007). Christopher Balme ist seit 2006 Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München. Promotion an der Universität Otaga, Neuseeland, Habilitation 1993 an der Universität München. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Theatre Research International; ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Publikationen u.a.: Das Theater von Morgen (1988); (Hg. Mit Klaus Lazarowicz), Texte zur Theorie des Theaters (1991); Theater im postkolonialen Zeitalter (1995); Decolonizing the Stage: Thetrical Syncretism and Post-Colonial Drama (1999); Einführung in die Theaterwissenschaft (1999); Das Theater der Anderen (Hg.) (2001). »Heiner Goebbels. Zur Dramaturgie des Samplings« erschien erstmals in: David Barnett/Moray Mcgowan/Karen Jürs-Munby (Hg.), Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen, Theater der Zeit, Recherchen Nr. 37, 2006.

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Dramatische Konfrontationen

Nina Büttner, geboren 1979 in München. Nach einigen Semestern Theaterwissenschaft und Philosophie an der Ludwig Maximilian Universität München zog es Nina Büttner nach Berlin, wo sie seit 2004 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste studiert. Im März 2007 nahm Nina Büttner im Rahmen des Projektes Ozonkinder-8 Minidramen am Maxim Gorki Theater Berlin teil. Theresia Birkenhauer, Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin, arbeitete u.a. als Dramaturgin unter der Intendanz von Frank-Patrick Steckel am Schauspielhaus Bochum, wo sie auch mit Jürgen Gosch/Johannes Schütz zusammenarbeitete. Danach entstand in Zusammenarbeit mit der Choreographin und Regisseurin Reinhild Hoffmann und der Komponistin Isabel Mundry »Ein Atemzug – Die Odyssee«. Die Auftragskomposition wurde im September 2004 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Von 2002-2005 Professorin für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Theater an der Universität Hamburg, von 2005 bis zu ihrem Tod im November 2006 Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste Berlin. Publikationen u.a.: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles, Berlin 1996; (Hg. mit Annette Storr) Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste, Berlin 1998; Schauplatz der Sprache – Das Theater als Ort der Literatur, Berlin 2005; Bild – Beschreibung. Das Auge der Sprache, in: Ulrike Hass (Hg.): Heiner Müller. Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung, Theater der Zeit, Recherchen Nr. 29, 2005; Verrückte Relationen zwischen Szene und Sprache, in: Joachim Gerstmeier/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie, Theater der Zeit, Recherchen Nr. 36, 2006. Diedrich Diederichsen, in den 80ern Redakteur von Musikzeitschriften (»Sounds«, »Spex«), in den 90ern Hochschullehrer für u.a. Kunstgeschichte, Moden und öffentliche Erscheinungsbilder, Musik-, Kultur- und angewandte Theaterwissenschaften in verschiedenen deutschen, österreichischen und amerikanischen Hochschulen und Kunstakademien. Lebt in Berlin und publiziert dort u.a. für »Texte zur Kunst«, »Tagesspiegel« und »Theater heute«, lehrt in Stuttgart an der Merz-Akademie, Hochschule für Gestaltung. Letzte Veröffentlichung: Musikzimmer – Avantgarde im Alltag, Köln 2005; Personas en loop, Buenos Aires 2005. »Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch« wurde von Diedrich Diedrichsen für diesen Band erweitert und erschien erstmals in Volksbühne Berlin/Aenne Quinones (Hg.), René Pollesch. Prater-Saga, Berlin 2006.

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Autorinnen und Autoren

Nina Ender, geboren 1980 in Erlangen, studiert seit 2004 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Mit Neues Land nahm sie 2005 beim Stückemarkt-Workshop des Berliner Theatertreffens teil, 2006 wurde das Stück beim Wochenende der Jungen Dramatiker an den Münchner Kammerspielen gezeigt. Nina Enders Einladung zum »Forum Junger Autoren Europas« der Theaterbiennale Wiesbaden und zu den Werkstatttagen am Wiener Burgtheater erfolgte auf still still meine kleine tochter. Ihr Stück Gesichter wurde bei der Werkstattnacht am Burgtheater vorgestellt. Heiner Goebbels, geboren 1952 in Neustadt/Weinstraße. Studium der Soziologie und Musik in Frankfurt. Schrieb Theater-, Film- und Ballettmusik u.a. für Mathilde Monnier, Amanda Miller, Ruth Berghaus, Peter Palitzsch, Axel Manthey, Hans Neuenfels, Claus Peymann, Christoph Nel und Johann Simons. Heiner Goebbels, der in Frankfurt a.M. lebt, komponiert und inszeniert seit Mitte der achtziger Jahre Hörstücke (speziell Texte von Heiner Müller), Orchesterstücke, Musiktheaterstücke, Kammermusik, (Klang-)Installationen (u.a. mit Eric Wonder und Heiner Müller) und szenische Konzerte, die weltweit aufgeführt werden. Er erhielt u.a. 1984 den Karl-Sczuka-Hörspielpreis für das Hörstück Verkommenes Ufer (für Schliemanns Radio 1992 ein zweites Mal), 1985 den Hörspielpreis der Kriegsblinden für Die Befreiung des Prometheus (dafür auch den Prix Italia 1986), 1989 den Berliner Hörspielpreis für Wolokolamsker Chaussee, 1996 für Roman Dogs den Prix Italia sowie für Die Horatier den Radio-Ostankino-Preis von Moskau als auch den europäischen Theaterpreis »Neue Realitäten« (2000). Seit 1999 ist Heiner Goebbels Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist ebenso Mitglied der Akademie der Künste/Berlin sowie der Akademie der Darstellenden Künste/Frankfurt a.M. Weitere Informationen und Werkverzeichnis unter: www.heinergoebbels .com Der vorliegende Beitrag »Schreibfiguren: Schwarz auf Weiss« erschien erstmals in: Wolfgang Sandner (Hg.), Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Henschel Verlag, Berlin 2002. Magdalena Grazewicz, geboren 1977 in Polen, seit 1988 in Deutschland, wo sie ab 2004 an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben studiert. 2007 erhielt die Autorin mit Bandsalat den Berliner Kindertheaterpreis. Das Stück wird 2008 im Berliner Grips-Theater uraufgeführt. Mit Hier geblieben, das in Zusammenarbeit mit Dirk Laucke und Reyna Bruns entstand, nahm Grazewicz an dem europäischen Kooperationsprojekt Labo 07 des Thalia Theater Halle teil. Das Stück, das im Rahmen einer Kam377

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Dramatische Konfrontationen

pagne gegen Abschiebungen entstand, wurde darauf in französischer Übersetzung als szenische Lesung im Théâtre de l’Est in Paris vorgestellt. Anne Habermehl, geboren 1981, studiert seit 2004 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Im Oktober 2006 wurde ihr Auftragsstück Die Geschichte spielt nicht ohne uns, Puppi, ich liebe dich, eine Zusammenarbeit mit Juliane Kann und Tina Müller, im Fabriktheater in Gera uraufgeführt. Ihr neuestes Stück Letztes Territorium wartet noch auf seine Uraufführung. Kerstin Hausbei, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin, lehrt an der Sorbonne Nouvelle in Paris. Sie ist Mitherausgeberin des europäischen Jahrbuchs arts et sciences en recherche transversale erkundungen in kunst und wissenschaft. Jürgen Hofmann, geboren 1941 in Würzburg. Schriftsteller, Theaterwissenschaftler. Zahlreiche wissenschaftliche, essayistische und journalistische Arbeiten über Theater sowie Stücke für die Bühne; außerdem Hörspiele, Erzählungen, ein Roman. Leiter des Studiengangs Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Hilda Inderwildi, Literaturwissenschaftlerin, arbeitet als Maitre de Conférences an der Université Toulouse II. Forschungsschwerpunkte: Text und Bild; das Fantastische; zeitgenössisches Theater. Sie leitet beim Verlag PUM die dem deutschen zeitgenössischen Theater gewidmete Reihe »Nouvelles Scènes – Allemand«. Es erschienen u.a.: Königinnendramen/ Trois Reines von Kerstin Specht (2003) und Café Umberto von Moritz Rinke (2007), das von ihr übersetzt und mit einem Vorwort versehen wurde. Stefan Kaegi ist in Solothurn (Schweiz) aufgewachsen, hat in Zürich Kunst, in Giessen angewandte Theaterwissenschaften studiert. In verschiedensten Konstellationen inszeniert er dokumentarische Theaterstücke, Hörspiele und Stadtrauminszenierungen in Europa und Südamerika. Am Theater Basel entstand seine Modelleisenbahnwelt Mnemopark als Live-Filmset im Maßstab 1:87, womit Kaegi 2005 den Hauptpreis der Jury beim Festival Politik im Freien Theater gewann. Gemeinsam mit Bernd Ernst gründete Kaegi das Label »Hygiene Heute«. 5 Jahre lang inszenierten die beiden »theatrale Readymades« wie Meerschweinchenkongresse, Ameisenstaaten wie Kanal Kirchner (Spiel Art-Festival 2001), bis das Duo sich 2003 auflöste. Gemeinsam mit Helgard Haug und Daniel Wetzel inszeniert er unter dem Label »Rimini Protokoll« auf Bühnen und in Stadträumen. Für Thea378

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Autorinnen und Autoren

ter der Welt 2002 kopierte das Regietrio mit 200 Bonner Bürgern eine ganze Bundestagssitzung live unter dem Titel Deutschland 2. Es folgten u.a. Sonde Hannover (Festival Theaterformen) und Deadline am Hamburger Schauspielhaus (eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2004). 2004 entstand für das Brüsseler Kunsten Festival des Arts Sabena. Im Herbst 2004 inszenierte Rimini Protokoll für das Wiener Burgtheater Schwarzenbergplatz. 2005 entstand Calcutta, eine aus einem indischen Call Centre live geführte Mobilfunktour durch Berlin Kreuzberg. 2005 inszenierte Rimini Protokoll mit 20 lettischen Verwaltungsexperten Cameriga (Homo Novus Festival) – eine Art Metabürokratie im ehemaligen Rathaus. 2006 vereinten sie Herztransplantations- und Internet-Flirt-Experten am Züricher Schauspielhaus zu Blaiberg und sweetheart 19, einer Suche nach dem zweiten Leben mit einem neuen Körper. www.rimini-protokoll.de Nicole Kandioler lebt und arbeitet in Rouen, Wien und Budapest. Studium der Theaterwissenschaft, Romanistik und Polnistik in Wien. Seit 2004 ÖK-Lektorin am Institut für Germanistik an der Universität Rouen und Mitglied der Forschungsgruppe CR2A. Organisation von und Beteiligung an diversen interdisziplinären Kolloquien in Frankreich, Österreich und Belgien. Fachliche Schwerpunkte: Deutsch- und französischsprachige Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart sowie Übersetzung. 2006 Förderung durch die Stadt Wien für die Übersetzung von Olivier Cadiots Theaterstück Fairy Queen aus dem Französischen. Juliane Kann, geboren 1982 in Mecklenburg, seit 2004 Studium »Szenisches Schreiben« an der Universität der Künste Berlin. 2004 Publikumspreis des Hans Otto Theaters für den Monolog Zwiegespräch. 2005 wurde Blutiges Heimat zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen und im gleichen Jahr in Form einer szenischen Lesung während der Autorentage in den Münchner Kammerspielen vorgestellt. 2006 wurde Blutiges Heimat am Maxim Gorki Theater uraufgeführt. 2006 entstand im Theaterdiscounter in Zusammenarbeit mit Anne Habermehl und Anne Haugh die Performance der Höchste Berg der Welt. Juliane Kann ist seit 2006 Stipendiatin des Düsseldorfer Schauspielhauses. 2007 folgten die Projekte Ozonkinder (Maxim Gorki Theater-Ernst-Busch-Schule-Studiengang Szenisches Schreiben) und Perfect Cuts (Theater Rampe). 2008 ist im Düsseldorfer Schauspielhaus – junges Schauspiel die Uraufführung von Siebzehn geplant. Juliane Kann wird vertreten vom Hartmann und Stauffacher Verlag.

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Dramatische Konfrontationen

Gabriele Klein, Soziologin und Tanzwissenschaftlerin, Professorin an der Universität Hamburg (Lehrstuhl für Soziologie von Bewegung, Sport und Tanz), Direktorin des Instituts für urbane Bewegungskulturen, Leitung des MA-Studiengangs Performance Studies; studierte Sozialwissenschaften, Geschichte, Sportwissenschaft und Pädagogik. Studium moderner Tanz und Tanzimprovisation. 1990 Promotion in Sozialwissenschaften, 1998 Habilitation in Soziologie. Sie lehrte an den Universitäten Bochum, Essen, Bern/Schweiz, Smith-College/USA und am Mozarteum/Salzburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Sozialtheorie von Körper und Bewegung, Tanz- und Performance-Theorie, Kultur- und Sozialgeschichte des Tanzes, städtische Bewegungskulturen und populäre Tanzkulturen, Jugend- und Poptheorie. Veröffentlichungen siehe: www.uni-hamburg.de/klein, www.performance .uni-hamburg.de, [email protected] Christian Klein, Professor für Deutsche Literatur an der Universität Paris X-Nanterre. Publikationen: (Hg): Réécritures, Presses Universitaires de Grenoble, 1989 ; Heiner Müller ou l’Idiot de la République. Le dialogisme à la scène, Bern [u.a.] 1992; (Hg.): Heiner Müller, la France et l’Europe. Actes du colloque international de Grenoble, 1992; (Hg): Rilke et la modernité. Les cahiers de Malte Laurids Brigge, 1996. Aufsätze u.a. zu J. M. R. Lenz, Bäuerle, Thomas Mann, Kafka, Ernst Toller, I. Bachmann, DDR-Dramatik, Christoph Hein, Georg Seidel, Georg Tabori, Heiner Müller, Fritz Kater, Elfriede Jelinek. Dirk Laucke, geboren 1982 in Schkeuditz (Sachsen). Aufgewachsen in Halle an der Saale. Mit alter ford escort dunkelblau eingeladen zum Autorenworkshop des Theatertreffens in Berlin sowie zu den Tagen junger Dramatiker der Münchner Kammerspiele. In der Spielzeit 2006/07 Teilnahme am Autorenlabor des Schauspielhaus Düsseldorf. 2006 erhielt Dirk Laucke den Kleistförderpreis. Alter ford escort dunkelblau wurde 2007 zu den Mühlheimer Stücketagen eingeladen und im Frühjahr im emma-Theater in Osnabrück von Henning Bock uraufgeführt. Mit dem gleichen Stück wurde Laucke 2007 in einer Kritiker-Umfrage von Theater heute zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. Dirk Laucke, der auch das Drehbuch für Zeit der Fische (Regie: Heiko Aufdermauer) geschrieben hat, wird von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH vertreten.

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Autorinnen und Autoren

Bärbel Lücke (Dr. phil) arbeitet als freie Literaturwissenschaftlerin in Stade. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Dekonstruktion sowie zahlreiche Forschungsarbeiten zu Elfriede Jelinek. Jüngste Publikation: Jelineks Gespenster. Grenzgänge zwischen Politik, Philosophie und Poesie. Passagen-Verlag, Wien 2007-08-20 Der von Bärbel Lücke für diesen Band überarbeitete Beitrag erschien erstmals in Stets das Ihre – Elfriede Jelinek zum 60. Geburtstag. Arbeitsbuch, Theater der Zeit 2006. Catherine Mazellier-Grünbeck, Studium der Germanistik in Paris, München und Hamburg. Maitre de Conférences an der Université II. Sie promovierte 1992 über das expressionistische Drama. Veranstaltet seit 2003 mit Hilda Inderwildi das Toulouser Treffen »Rencontres de théatre allemand contemporain« und ist Mitherausgeberin der zweisprachigen Theaterreihe Nouvelles Scènes – Allemand (Verlag PUM/Théatre de la Digue). Veröffentlichungen u.a.: Le théatre expressioniste et le sacré, Bern 1994, Darstellungen des Körpers (Etudes réunis par C. Mazellier-Grünbeck et M. Godé), Montpellier 2004 und diverse Artikel über R. Beer-Hofmann, A. Schnitzler, F. Wedekind, E. Barlach, E. Jelinek, K. Specht, S. Berg, U. Syha und K. Röggla. Mail: [email protected] Peter Michalzik (Dr. phil), geboren 1963, arbeitet als freier Literatur- und Theaterkritiker für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften, zurzeit Redaktionsmitglied in der Frankfurter Rundschau, Jury-Mitglied beim Berliner Theatertreffen (2005-2007) und den Mühlheimer Stücketagen. Publikationen u.a.: Gustaf Gründgens. Der Schauspieler und die Macht, Berlin, 1999 und Unseld. Eine Biographie, München 2002. Tina Müller, wurde in Zürich geboren und studiert seit 2004 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Sie schreibt vorwiegend für das Jugendtheater. Ihr erstes Stück Bikini wurde 2007 am Jungen Theater Konstanz uraufgeführt. Türkisch Gold hatte im Herbst 2006 in Baden Premiere und wird in Düsseldorf, Augsburg und am Nationaltheater Mannheim nachgespielt. Mit Alles still sind ihre Figuren zumindest über 20 Jahre alt. Tina Müller wird vom Rowohlt Theaterverlag vertreten. Katharina Pewny (Dr. phil.), lebt in Graz und Hamburg. Theater-, Tanzund Performancetheoretikerin. Arbeitet zurzeit an einer Habilitation zum Thema »Theater des Prekären« im Rahmen einer Elise-Richter-Forschungssubvention des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung 381

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Dramatische Konfrontationen

(FWF) Wien. Lehre, Forschung, (Gast-)Vorträge in Wien, Graz, Hamburg, Berlin und Los Angeles. Neueste Publikation: (Hg. mit M. Niederhuber und B. Sauer): Performance, Politik, Gender. Materialband zum Kunstfestival »Her position in transition«, Wien 2007. Jens Roselt, lebt, arbeitet in Berlin, schreibt wiederholt dramatische Texte (u.a. Desperados, Handicap, Dreier), dramatisiert Romane (u.a Erniedrigte und Beleidigte von Dostojewski für Frank Castorf, Wiener Festwochen, 2001), arbeitet mit Regisseuren zusammen (u.a. mit Stefan Pucher im Hamburger Schauspielhaus Die Möwe, 2001 oder in den Kammerspielen München Der Sturm, 2007) und schreibt noch mehr wissenschaftliche Texte. Roselt promovierte über die Ironie des Lachens (Wien 1999) und hielt im Juli 2007 im Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin seinen Habilitationsvortrag über »Vom Diener zum Despoten – Zur Vorgeschichte der modernen Theaterregie im 19. Jahrhundert«. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs des Performativen unter der Leitung von Erika Fischer-Lichte. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Ästhetik des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst, Schauspieltheorie, Theorie und Methode der Aufführungsanalyse, Performativität im Theater. Publikationen u.a. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005. Kathrin Röggla, 1971 in Salzburg geboren, lebt seit 1992 in Berlin. Schreibt Prosa, Radioarbeiten und Theatertexte. Ihre letzten Buchveröffentlichungen sind disaster awareness fair (2006) und wir schlafen nicht (2004), als Theatertexte wurden zuletzt draußen tobt die dunkelziffer (UA Schorsch Kamerun – Wiener Festwochen/Volkstheater Wien, 2005) und junk space (UA Tina Lanik – Theater am Neumarkt/steirischer herbst, 2004) uraufgeführt. www.kathrin-roeggla.de Johannes Schütz, geboren in Frankfurt a.M. Von 1970 bis 1974 Studium und Assistenz bei Wilfried Minks in Hamburg und Berlin. Ab 1974 Bühnenbildner am Schillertheater und an den Münchner Kammerspielen mit den Regisseuren Ernst Wendt, Harald Clemen und Dieter Dorn. 1976 geht er mit dem Regisseur Frank-Patrick Steckel und dem Dramaturgen Wolfgang Wiens an das Bremer Theater am Goetheplatz und arbeitet dort als Ausstattungsleiter. Hier beginnt die Zusammenarbeit mit Reinhild Hoffmann und ihrem Tanztheater. Opernproduktionen mit Peter Mussbach an der Hamburger Staatsoper, dem Staatstheater Kassel und dem Théâtre Royale La Monnaie

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Autorinnen und Autoren

in Brüssel. Ab 1986 ist er Ausstattungsleiter am Schauspielhaus Bochum (Intendanz Frank-Patrick Steckel), hier beginnt er Bühnen für Inszenierungen von Jürgen Gosch zu entwerfen, z.B. für Tschechows Die Möwe und Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wussten; 1990/91 werden Jean Eustaches Die Mama und die Hure und Becketts Endspiel zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Von 1992 bis 1998 arbeitet Johannes Schütz am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe als Professor für Szenographie. Eigene Inszenierungen ab 1987 u.a. Glucks Iphigenie an der Deutschen Oper am Rhein, Orpheus und Eurydike am Staatstheater Kassel, Ariadne auf Naxos von Richard Strauss, Schillers Die Braut von Messina in Mainz, Donizettis Maria Stuarda in Freiburg und zuletzt (2006/07) Wagners Tristan und Isolde am Staatstheater Kasssel. Weitere Zusammenarbeiten mit Jürgen Gosch in Bochum, Düsseldorf, Hamburg, Köln, Zürich und am Deutschen Theater Berlin. Bei den neuen Dramatikern ist es vor allem Roland Schimmelpfennig (Vorher/Nachher, Push Up 1-3,Vor langer Zeit im Mai am Hamburger Schauspielhaus, Die Frau von früher, am Schauspiel Köln, Auf der Greifswalder Straße und Ambrosia, ab September 2006 am Deutschen Theater Berlin), mit dem sich Jürgen Gosch und Johannes Schütz wiederholt beschäftigen. Von ihren letzten Arbeiten werden Gorkis Sommergäste aus Düsseldorf (Inszenierung des Jahres 2004), Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? vom Deutschen Theater in Berlin (2005), Tschechows Drei Schwestern vom schauspielhannover (2006), Shakespeares Macbeth vom Düsseldorfer Schauspielhaus (2006) und Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels (Züricher Schauspielhaus 2007) zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Johannes Schütz wurde im Juni 2007 von der Prager Quadriennale, der weltweit größten Bühnenbild Ausstellung, mit einer Goldmedaille für seine Ausstattung von Macbeth ausgezeichnet. Philipp Soldt (Dr. phil), geboren 1973, ist Diplom-Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bremer Institut für Theoretische und Angewandte Psychoanalyse (BITAP) der Universität Bremen und in Ausbildung zum Psychoanalytiker (DPV). Promotion zum Thema Denken in Bildern. Zum Verhältnis von Bild, Begriff und Affekt im seelischen Geschehen (2005). Weitere Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse der ästhetischen Erfahrung, Psychoanalyse und Bildtheorie, Sozialisationstheorie, psychoanalytische Konzeptforschung. Mail: [email protected] Rita Thiele, 1954 in Essen geboren, studierte in Köln Geschichte, Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete u.a. als Dramaturgin mit Claus Peymann am Wiener Burgtheater sowie am Berliner Ensemble. Von

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Dramatische Konfrontationen

2001 bis 2006 Chefdramaturgin am Düsseldorfer Schauspielhaus. Ab der Spielzeit 2007/08 Chefdramaturgin am Schauspiel Köln unter der Intendanz von Karin Beier. »Zuschauen, wie die Zeit vergeht« wurde von Rita Thiele für diesen Band überarbeitet und erschien erstmals in Theater heute 08/09/2006. Stefan Tigges (Dr. phil), studierte Kultur- und Kunstwissenschaften an der Universität Bremen, lehrte zunächst an der Universität Avignon, arbeitet seit 2004 als DAAD-Lektor am Institut für Germanistik an der Universität Rouen und ist Mitglied der französisch-österreichisch-deutschen Forschungsgruppe CR2A unter der Leitung von Francoise Retif. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: europäische Gegenwartsdramatik, Ästhetik des zeitgenössischen (Tanz-)Theaters und der Performancekunst, Aufführungsanalyse, deutsch-französische Kultur- und Kunstbeziehungen ab 1900. Promotion über die europäische Aufführungspraxis am Beispiel von Cechovs Die Möwe; arbeitet auch als freier Theaterkritiker (u.a. für Dokumente, Frankfurter Rundschau). Mail: [email protected] Andres Veiel, geboren 1959 in Stuttgart, studierte Psychologie und machte parallel eine Regie- und Dramaturgieausbildung unter der Leitung des polnischen Regisseur Krzysztof Kieslowski. Veiel ist einer der bedeutendsten deutschen Dokumentarfilmer und arbeitete auch wiederholt im Theater. Seine Filme Balagan, Die Überlebenden, Black Box BRD, Die Spielwütigen und Der Kick wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2002 erschien sein Buch Black Box BRD. Alfred Herrhausen, die Deutsche Bank, die RAF und Wolfgang Grams sowie 2007 Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt. Der Kick, entstanden in der Zusammenarbeit mit Gesine Schmidt, wurde von beiden für das Theater Basel/Maxim Gorki Theater Berlin eingerichtet, zum Berliner Theatertreffen eingeladen, anschließend verfilmt und erhielt 2006 den »New Berlin Film Award« in der Kategorie Bester Spielfilm sowie den Grand Prix beim Film-Festival »Visions du Réel in Nyons/Frankreich.

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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Mai 2008, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-583-3

Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie April 2008, ca. 276 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-913-8

Anja K. Maier Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller April 2008, ca. 240 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-908-4

Vittoria Borsò, Heike Brohm, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldammer, Beatrice Schuchardt (Hg.) das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft März 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-821-6

Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater

Monika Ehlers Grenzwahrnehmungen Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe 2007, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-760-8

Christina Burbaum Vom Nutzen der Poesie Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie 2007, 374 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-770-7

Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.) Weiterlesen Literatur und Wissen 2007, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-606-9

Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.) Kafkas Institutionen 2007, 328 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-508-6

Stefan Hofer Die Ökologie der Literatur Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes 2007, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-753-0

Februar 2008, 386 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-512-3

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Lettre Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-672-4

Margret Karsch »das Dennoch jedes Buchstabens« Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz 2007, 388 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-744-8

Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt 2007, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-520-8

Julia Freytag Verhüllte Schaulust Die Maske in Schnitzlers »Traumnovelle« und in Kubricks »Eyes Wide Shut« 2007, 142 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-425-6

Sibel Vurgun Voyages sans retour Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur 2007, 322 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-560-4

Peter Rehberg lachen lesen Zur Komik der Moderne bei Kafka 2007, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-577-2

Thomas Gann Gehirn und Züchtung Gottfried Benns psychiatrische Poetik 1910-1933/34 2007, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-651-9

Volker Georg Hummel Die narrative Performanz des Gehens Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte 2007, 220 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-637-3

Thomas von Steinaecker Literarische Foto-Texte Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds 2007, 346 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-654-0

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