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German Pages 374 Year 2015
Mona Nikolic´ Identität in der Küche
2015-01-27 10-43-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 019a388754705510|(S.
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Mona Nikolic´ promovierte am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu Ernährungsverhalten, Globalisierungseinflüssen und Identitätskonstruktionen in Mittelamerika.
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Mona Nikolic´
Identität in der Küche Kulturelle Globalisierung und regionale Traditionen in Costa Rica
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Vorgelegt im Jahr 2013 zur Erlangung des Doktorgrades am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin, unter dem Titel: Die costa-ricanische Küche und der Einfluss der Kulturellen Globalisierung. Zur Konstruktion von Küche und Identität durch lokale Akteure in transnationalgeprägten lokalen Kontexten. Dargestellt am Bespiel von drei Regionalkontexten in Costa Rica.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: Mona Nikolic´, Heredia, 2013, © Mona Nikolic´; Mona Nikolic´, Heredia, 2010, © Mona Nikolic´ Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2979-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2979-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Danksagung
Diese Arbeit wäre nicht zustande gekommen, ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen. An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich bei der Arbeit an meiner Dissertation unterstützt haben. Mein Dank geht zunächst an meine wissenschaftlichen Betreuer und Betreuerinnen in Berlin und San José: Prof. Dr. Ingrid Kummels und Prof. Dr. Manuela Boatc vom LateinamerikaInstitut der Freien Universität Berlin, für die Bereitschaft, sich meines Projektes als Betreuer anzunehmen, für die fachliche Beratung und die wertvollen Hinweise. Dr. Rolando Quesada Sancho (†), ehemals Direktor der Escuela de Antropología der Universidad de Costa Rica, für die konstante Unterstützung während meiner Feldforschungsarbeit in Costa Rica und die anregende Diskussion meiner Forschungsergebnisse. Zu besonderem Dank bin ich meinen Interviewpartnerinnen und -partnern in Heredia, Puerto Viejo de Talamanca und Santa Cruz de Guanacaste verpflichtet, ohne deren Mitarbeit ich dieses Projekt nicht hätte realisieren können. Bei ihnen allen möchte ich mich bedanken, für ihr Vertrauen, ihre Zeit und ihre Bereitschaft, mich eine Weile in ihren Alltag und ihre Küchen aufzunehmen und ihr Wissen und ihre Ansichten mit mir zu teilen. Und auch für das, über meinen Forschungsaufenthalt hinaus bestehende Interesse an diesem Forschungsprojekt, das mich immer motiviert hat, weiter zu arbeiten. Des Weiteren gilt mein Dank denjenigen, die meine Feldforschung über die Vermittlung von Kontakten zu Interviewpartnern, nützliche Tipps und die Zurverfügungstellung von Arbeitsmaterial erleichtert haben: Carolina Jiménez Acuña; Tirza Morales von der Asociación Talamanqueña de Ecoturismo y Conservación; Adelita Jiménez und Marcelo Arroyo Jiménez; Patricia Sedó Masís von der Escuela de Nutrición der Universidad de Costa Rica; Mayela Solano Quirós, Direktorin des Museo de Cultura Popular und José Pablo Madrigal Alemán. Der Escuela de Antropología der Universidad de Costa Rica, die mich während meiner Forschung als »Pasante Internacional« aufnahm, und der Direktorin Dr. Laura
DANKSAG UNG
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Cervantes Gamboa im Besonderen, für die institutionelle Unterstützung und die Erleichterung der Literaturrecherche. Auch möchte ich mich beim DAAD bedanken, der meine Feldforschung in Costa Rica von September 2010 bis August 2011 mit einem Jahresstipendium unterstützte. Schließlich gilt mein Dank all jenen, die den Prozess der Ausarbeitung der Feldforschungsergebnisse in seinen verschiedenen Phasen begleitet haben, insbesondere Dr. Christiane Berth, vom Europainstitut der Universität Basel und Dr. Raúl Matta für die hilfreichen Kommentare und Literaturhinweise. Und nicht zuletzt möchte ich all denjenigen danken, die das Manuskript oder Ausschnitte daraus gelesen und kritisch kommentiert haben. Mein ganz besonderer Dank gilt hier Julia Nikoli und Torsten Vogler.
Inhalt Einleitung | 11 1. Theoretischer Rahmen | 31
1.1 Globalisierung und kulturelle Globalisierung | 32 1.1.1 Globalisierung, Nationalismus und nationale Identität | 34 1.1.2 Globalisierung un lokale Kultur | 36 1.1.2.1 ›Hybridisierung‹ oder ›Kreolisierung‹ | 38 1.1.2.2 Kulturelle Aneignung und Glokalisierung | 41 1.1.2.3 Resistance oder Widerstand | 42 1.2 Transnationalismus und Globalisierung | 43 1.2.1 Tourismus und lokale (Ess-)Kultur | 46 1.2.2 Transmigration und lokale (Ess-)Kultur | 49 1.3 Identität | 51 1.3.1 Pierre Bourdieus Habitus-Theorie | 52 1.3.2 Konstruktion des Selbst nach Pasi Falk | 54 1.3.3 Identität und Machtbeziehungen | 56 1.4 Küche und Identität | 57 1.4.1 Konstruktion von Nationalküchen | 59 1.4.2 Habitus, Geschmack und Lebensstil | 62 1.4.2 Nahrung als Commodity | 65 1.5 Schlussbemerkung | 67 2. Forschungsmethoden | 69
2.1 Literatur- und Medienrecherche | 69 2.2 Wahl der Forschungsorte | 71 2.2.1 Heredia | 71 2.2.2 Puerto Viejo de Talamanca | 75 2.2.3 Santa Cruz de Guanacaste | 81 2.3 Kontakte und eigene Rolle | 88 2.4 Interviewpartner und Informanten | 90 2.5 Anonymisierung der Interviewpartner | 92 2.6 Feldforschungsmethoden | 93 2.6.1 Teilnehmende Beobachtung | 93 2.6.1.1 Natürliche Gespräche | 95 2.6.1.2 Listen | 96 2.6.2 Leitfandeninterviews | 96 2.6.2.1 Pile-Sorting | 98
2.6.2.2 Free-Listing | 99 2.7 Zusammenfassung | 100 3. Konstruktion von Nationalküche und –identität in Costa Rica | 101
3.1 Konstruktion der costa-ricanischen Nationalidentität | 101 3.1.1 Identitätsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts | 102 3.1.2 Krise der Nationalidentität und die neuen Identitätskonstruktionen | 106 3.2 Ausdruck der Nationalidentität über Nationalküche und Konsumverhalten im 19. und 20. Jahrhundert | 108 3.3 Neukonstruktion der costa-ricanischen Nationalküche im akademischen Diskurs | 115 3.3.1 Kochbücher und Beschreibungen der costa-ricanischen Küche als Literatur der Nostalgie | 116 3.3.2 Darstellung der costa-ricanischen Küche als ›Cocina Criolla‹ | 120 3.3.3 Gerichte der ›Cocina Criolla Costarricense‹ | 125 3.3.4 Umgang mit den Regionalküchen | 127 3.3.4.1 Die Küche Heredias und des Valle Central | 129 3.3.4.2 Die Küche Guanacastes | 134 3.3.4.3 Die afrolimonensische Küche | 139 3.3.5 Zwischenfazit | 141 3.4 Konstruktion der costa-ricanischen Küche im Tourismus-Kontext | 143 3.4.1 Beschreibung der costa-ricanischen Küche | 144 3.4.2 Gerichte der costa-ricanischen Küche in Reiseführern und Kochbüchern für Touristen | 147 3.4.3 Umgang mit den Regionalküchen | 153 3.4.4 Zwischenfazit | 155 3.5 Schlussbemerkung | 156 4. Küche und Essverhalten im Valle Central | 157 4.1 Feldforschung in Heredia 2010/2011 | 163 4.2 Alltagsernährung im Valle Central und ihre Bewertung durch meine Interviewpartnerinnen | 166 4.2.1 Sichtweise meiner Interviewpartnerinnen auf Küche und Altagsernährung in Costa Rica | 170 4.2.2 Ernährungsweise in den Gastfamilien | 174 4.2.3 Positive Bewertung der costa-ricanischen Küche durch transnationale Kontakte | 177 4.3 Konstruktion und Darstellung der eigenen Küche und Identität in den Gastfamilien | 185 4.3.1 Rückgriff auf Gerichte und Zubereitungsweisen der ›Comida Típica‹ | 186
4.3.2 Abwandlung der Gerichte der ›Comida Típica‹ | 190 4.3.3 Integration von Fertigprodukten | 195 4.3.4 Integration von Gerichten fremder Küchen und Neuerfindungen | 198 4.4 Aufrechterhalten der Lebensweise durch transnationale Kontakte | 202 4.4.1 Einfluss der nicaraguanischen Transmigranten | 202 4.4.2 Transnationale Kontakte zu Sprachschülern | 205 4.5 Fazit | 207 5. Küche und Essverhalten in Limón | 209
5.1 Feldforschung in Puerto Viejo | 213 5.2 Ernährungsweise meiner afrokaribischen Interviewpartner in Puerto Viejo | 216 5.3 Lokale Küche und afrokaribische Identität | 222 5.3.1 Rice and Beans und Gallo Pinto | 224 5.3.2 Zubereitungsweisen und Identität | 226 5.4 Regionalküche und Konstruktion der Nationalküche | 230 5.5 Konstruktion der lokalen Küche und Identität im Rahmen des Verkaufs | 233 5.5.1 Darstellung der afrokaribischen Küche und Identität in Kochkursen | 233 5.5.2 Angebot in Sodas | 239 5.5.2.1 Darstellung der lokalen Identität und Küche als ›afrokaribisch‹: Integration von Elementen fremder kulinarischer Traditionen | 241 5.5.2.2 Darstellung der eigenen Küche und Identität als ›afrokaribisch‹: Aufnahme von afrokaribischen Gerichten | 248 5.6 Selbstdarstellung als ›afrokaribisch‹ und die transnationalen Beziehungen zu afrokaribischen Gemeinden | 251 5.7 Fazit | 256 6. Küche und Essverhalten in Guanacaste | 259 6.1 Feldforschung in Santa Cruz de Guanacaste | 263 6.2 Ernährungsweise meiner Interviewpartner in Santa Cruz | 265 6.3 Der Einfluss aus dem Valle Central und die guanacastekische Küche als Ausdruck der Regionalidentität | 269 6.4 Die guanacastekische Küche und die Abgrenzung von Nicaragua | 274 6.5 Ausdruck und Konstruktion von Regionalidentität und Regionalküche | 278 6.5.1 Angebot in den lokalen Sodas | 279 6.5.2 Nachfrage nationaler Touristen und regionale Feste | 283 6.5.3 Feiern der ›Semana de la Guanacastequidad‹ und die Wahl der ›Reina del Maíz‹ | 286 6.6 Bild der guanacastekischen Küche und die Konstruktion der Nationalküche | 291
6.7 Konstruktion der Regionalidentität und die transnationalen Einflüsse | 297 6.7.1 Einflüsse transnationaler Unternehmen | 297 6.7.2 Einfluss der nicaraguanischen Transmigration | 303 6.8 Fazit | 308 7. Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse | 311
7.1 Globale Einflüsse und die Bedeutung des Lokalen | 311 7.2 Ausdruck der Identität über das Essverhalten | 313 7.2.1 Zwischen Habitus und aktiver Identitätskonstruktion | 313 7.2.2 Situative Konstruktion von Identität und Küche | 315 7.3 Machtverhältnisse und die Aushandlung der Konzepte von Nationalidentität und -küche | 320 7.4 Aktive rolle der lokalen Akteure im transnationalen Raum | 324 7.4.1 Aushandlung der Einflüsse: ›Kreolisierung‹, kulturelle Aneignung und Widerstand | 324 7.4.2 Kapitalumwandlung| 328 7.4.3 Neubewertung der persönlichen transnationalen Beziehungen und Aufbau transnationaler Netzwerke | 329 7.5 Ausblick | 333 Anhang I: Glossar: In der Arbeit erwähnte Gerichte, Produkte und Kochutensilien | 337 Anhang II: Liste der zitierten Interviews | 349 Literaturverzeichnis | 351
Einleitung
Als ich im Jahr 2005 zum ersten Mal Costa Rica besuchte, war meine erste Impression von der kulinarischen Kultur dieses Landes zugleich eine erste Impression vom globalen Einfluss auf diese. Damals kam ich, infolge einer mehrstündigen Flugverspätung, mitten in der Nacht auf dem Flughafen Juan Santamaría Intl. an. Ein Taxi brachte mich nach Heredia, wo ich die nächsten Monate in einer Gastfamilie wohnen würde. Alles, was ich wahrnahm, als wir die Stadteinfahrt passierten, waren die Fast-Food-Restaurants, deren hellerleuchtete Schriftzüge und Symbole sich gegen die dunkle Umgebung abhoben. Während wir so durch die menschenleere Straße am McCafé, Burger King, Taco Bell, Papa John’s und KFC vorbeifuhren, konnte ich nicht anders, als etwas enttäuscht festzustellen, dass ich mich in diesem Moment genauso gut in einer x-beliebigen Stadt in den USA hätte befinden können. Hätte mich in diesem Augenblick jemand nach meiner Einschätzung des globalen Einflusses auf die lokale Esskultur gefragt, ich hätte Costa Rica wahrscheinlich als ein Beispiel für die Ausbreitung der globalen Massenkultur bezeichnet. Dass dieser erste Eindruck der komplexen Global-Lokal-Beziehung nicht gerecht wurde, zeigte sich bereits ein paar Stunden später, beim Frühstück am nächsten Morgen. Auch dieser begann eher unspezifisch, mit einer Tasse Kaffee, einem Obstteller und Kellogg’s Cornflakes. Einzig der Großvater meiner damaligen Gastmutter, der 77jährige Don Franklin, bestand darauf, Weißbrot mit Mortadella zu essen, und erklärte mir, mit Verweis auf Nährwerttabelle und Zutatenliste der Kellogg’sCornflakes-Packung, dass mittels dieser US-amerikanischen Marken nicht nur Produkte aus gentechnisch verändertem Mais ohne Kennzeichnung nach Costa Rica gelangten, sondern dass das als US-amerikanisch ausgewiesene Produkt gar nicht in den USA hergestellt, sondern in Argentinien produziert werde. Diese Art der Rückverfolgung des Produktionsweges wiederholte er im Verlauf meines Aufenthaltes zahlreiche Male und lokalisierte neben verschiedenen Cerealien zum Beispiel auch den Ursprung der auf den ersten Blick US-amerikanischen Pflaumen, Äpfel und Trauben mit einem Verweis auf die kleingedruckten Herkunftsangaben auf den Kisten in Chile. Über seinen Ärger über diese Vorspiegelung falscher Tatsachen hinaus
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sah er den Import von Lebensmitteln generell kritisch und, wie im Fall des durch Gentechnik veränderten Mais, als potentiell gesundheitsschädlich an. Das dritte Erlebnis, das ich in Bezug auf die Global-Lokal-Beziehung im Bereich der Küche und des Essverhaltens in Costa Rica erwähnen möchte, ereignete sich zwei Jahre später. Ich stand mit einer US-amerikanischen Freundin, die einige Monate zuvor aus beruflichen Gründen nach San José gezogen war, in einem Souvenirgeschäft in Monteverde. Wir hatten dort das Kochbuch Meals ›a la Tica‹- Costa Rican Cookbook von Sandy entdeckt, woraufhin sie mich im Spaß bat zu schätzen, wie viele Rezepte für Gallo Pinto wohl in diesem Buch veröffentlicht seien, da dies schließlich alles sei, was Costa Rica kulinarisch zu bieten habe. Im Anschluss an diese Mutmaßung erzählte sie mir von ihrer Enttäuschung darüber, dass ihre Arbeitskollegen sie bisher nur in peruanische, französische und Sushi-Restaurants eingeladen und ihr auf ihre Frage nach ›normaler‹ costa-ricanischer Küche die Restaurants der costa-ricanischen Brathähnchen-Kette Rosti Pollos empfohlen hätten. Obwohl sie selbst annahm, dass die Restaurantauswahl ihrer Arbeitskollegen auch deren hohem sozioökonomischen Status geschuldet war, stand die Tatsache, dass es ein, wenn auch dünnes Kochbuch zur costa-ricanischen Küche gab, im Widerspruch zu ihren Erfahrungen der Inexistenz einer nennenswerten costa-ricanischen Küche. Wenn auch ihre Arbeitskollegen eher die internationale Küche bevorzugten und ihr Essverhalten damit wiederum ein Beispiel für das Durchdringen des costaricanischen Alltags von globalen Einflüssen war, deutete dieses Kochbuch dennoch darauf hin, dass zumindest im Kontext der Tourismusindustrie der Wert einer lokalen Küche erkannt worden war. Diese drei Episoden geben einen Einblick in verschiedene Aspekte der Beziehung zwischen Globalisierung und lokaler (Ess-)Kultur wieder. Weltweit ist Essverhalten heute als globales Phänomen zu verstehen, als durch zahlreiche globale Prozesse und Beziehungen geprägt, und auch das Essverhalten der costaricanischen Bevölkerung bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Gleichzeitig zeichnet sich sowohl eine (kritische) Auseinandersetzung mit diesen Einflüssen auf lokaler Ebene als auch ein nationales wie internationales Bedürfnis nach lokaler Spezifität ab. Für Richard Wilk, der die Beziehung zwischen lokaler Kultur und globalen Einflüssen mit Blick auf die Geschichte der belizischen kulinarischen Kultur erläutert, ist dieses aktuell weltweit zu beobachtende Interesse an der lokalen Kultur selbst ein Kennzeichen der ›kulturellen Globalisierung‹. Den Begriff ›kulturelle Globalisierung‹ verwendet Wilk, vor dem Hintergrund, dass Globalisierung keine neue Erscheinung ist, zur Bezeichnung des gegenwärtigen Zeitraums der Globalisierung, der durch die zunehmende weltweite mediale Vernetzung, aber auch durch persönliche transnationale Kontakte wie Tourismus und Migration sowie politische Herausforderungen wie das Nation Building gekennzeichnet ist (vgl. Wilk 2006: 25).
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Gerade im Bereich des stark durch globale Beziehungen geprägten Konsum- und Essverhaltens lässt sich dieses Interesse am Lokalen besonders deutlich erkennen. Die ›Culidiversity‹, die Diversität der Küchen eines Regionalkontextes, betrachtet Wilk in Zeiten der kulturellen Globalisierung und insbesondere des Einflusses der internationalen Tourismusbranche keineswegs als gefährdet. Er geht jedoch davon aus, dass sich die kulinarische Diversität in entscheidender, bisher nicht absehbarer Weise verändern wird (vgl. Wilk 2006: 199). In dieser Studie sollen die globalen Einflüsse auf die lokale (Ess-)Kultur in Costa Rica im Zeitraum der ›kulturellen Globalisierung‹ untersucht werden. Ein Fokus liegt dabei auf der Aushandlung der transnationalen Einflüsse der Transmigration und des internationalen Tourismus durch lokale Akteure. Vor dem Hintergrund der Bedeutung von Essverhalten und Küche als Identitätsmarker werden die Auswirkungen der transnationalen Einflüsse auf die Bedeutung der Küche analysiert und der Frage nachgegangen, wie die lokalen Akteure im transnational geprägten Raum über das Essverhalten ihre Identitäten konstruieren oder zum Ausdruck bringen. Der Fokus auf die Küchen als Marker lokaler und sozialer Identitäten leistet dabei einen Beitrag zur Frage nach der kulinarischen Diversität in Zeiten der kulturellen Globalisierung.
D IE G LOBAL -L OKAL -B EZIEHUNG E SSKULTUR
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Im Zentrum öffentlicher wie privater Debatten um die globalen Einflüsse auf die lokale Kultur steht oft die Angst vor dem Verlust der lokalen Kulturen. Nichts steht dabei so sehr für die gefürchtete zunehmende kulturelle Homogenisierung wie der Bereich der Esskultur und die Omnipräsenz von Fast-Food-Unternehmen. Dies zeigt sich auch an der Kreation von Begriffen wie ›McDonaldisierung‹ (vgl. Ritzer 1995) und ›Coca-Colonisierung‹ (vgl. Hannerz 1992) in diesem Feld zur Beschreibung der globalen Verbreitung dieser Lebensmittelunternehmen und der mit diesen verbundenen Produktionsweisen, Konsumverhalten und Lebensstilen. Doch obwohl der Bereich der Ernährung so stark für die Globalisierung steht, steht er gleichermaßen für die Relevanz des Lokalen. Die eindeutige Verbindung zwischen Lokalität und Küche ist gerade in Hinblick auf die Globalisierung des Lebensmittelmarktes relevant, denn in vielen Fällen ist das Lokale in Verbindung mit dem jeweiligen Erzeugnis selbst zur Marke geworden, zum Garant für die Qualität des Produktes. Wie zentral diese eindeutige geographische Zuordnung im Lebensmittelbereich ist, zeigt sich auch an den zunehmenden Versuchen, Herkunftsbezeichnungen zu schützen. Das Register der geschützten Herkunftsbezeichnungen der Europäischen Kommission für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung um-
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fasst zum Beispiel zurzeit mehr als 1.400 Anträge, wobei sich die Anträge lateinamerikanischer Länder auf den Camarão de Costa Negra aus Brasilien und den Café de Colombia beschränken (vgl. Europäische Kommission 2012). Aber es sind nicht nur wirtschaftliche Interessen, die aktuell das Interesse an den lokalen Küchen motivieren. Wie man an den Beispielen der ab 2010 bei der UNESCO gestellten Anträge auf Aufnahme einzelner Nationalküchen in die Liste des Immateriellen Weltkulturerbes erkennt, besteht gerade in den letzten Jahren ein verstärktes politisches Interesse an der Bewahrung der Nationalküchen, die als ein zunehmend im Verschwinden begriffenes nationales Kulturerbe wahrgenommen werden (vgl. Matta 2012: 1). Und auch auf öffentlicher und privater Ebene zeigt sich, unter anderem an der Intensität, mit der die regionale Herkunft einzelner Gerichte diskutiert wird, neben der starken Identifikation der lokalen Bevölkerung mit den Gerichten auch die Bedeutung der Verbindung von Lokalität und Produkt. So hatte auch der im Jahr 2002 von einer Gruppe Costa Ricaner unternommene Versuch, mit der Herstellung des größten Gallo Pintos einen Weltrekord aufzustellen und ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden, hitzige Debatten um den Ursprung dieses Gerichtes in Costa Rica und Nicaragua zur Folge, da es in beiden Ländern als Nationalgericht gilt. Costa Ricas Weltrekord von 2002 wurde kurze Zeit später in Nicaragua gebrochen. Nachdem zunächst in unregelmäßigen Abständen in beiden Ländern versucht wurde, den im jeweiligen Nachbarland gehaltenen Rekord zu brechen, erlangte das Thema des Gallo-Pinto-Streits spätestens mit der finanziellen Unterstützung des Día Nacional del Gallo Pinto durch das Ministerio de Turismo im Jahr 2007 sowie mit der Verbindung des Rekordversuchs mit den Feierlichkeiten des Día del San José und seiner örtlichen Verlegung auf den Paseo Colón in San José im darauffolgenden Jahr auch eine politische Dimension (vgl. Amenábar C. 2012; Artavia 2009; Lobo 2003; Preston-Werner 2012: 190; Rojas Sáurez 2010; Siles Navarro 2010a; Siles Navarro 2010b). Im öffentlichen, politischen, akademischen und touristischen sowie im privaten nationalen Diskurs steht der Gallo Pinto heute für die costa-ricanische Bevölkerung, definiert sie als mittelamerikanische, durch ›Mestizaje‹ geprägte Gesellschaft und wird als Nationalgericht diskursiv und tatkräftig gegen Fremdansprüche verteidigt.
E SSVERHALTEN
UND I DENTITÄT
Der Gallo-Pinto-Streit ist ein Beispiel für die Verbindung von Lokalität, Esskultur und Identität. Oft sind Küchen oder bestimmte Gerichte untrennbar mit bestimmten lokalen Kontexten verbunden und stehen für Nationen, Regionen oder auch Städte sowie die lokale Bevölkerung. Dies gilt im Fall der weitverbreiteten kulinarischen Stereotype, die mitunter in abwertender Weise einzelne Bevölkerungsgruppen re-
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präsentieren (vgl. Murcott 1996: 50). Über die Eigenschaften der Gerichte werden dabei Parallelen zur Lebensweise oder zum Charakter der durch diese Gerichte dargestellten Bevölkerungsgruppen gezogen. Aber nicht nur in der Fremdzuschreibung ist Essverhalten ein wichtiger Identitätsmarker. Oft nutzen einzelne soziale, kulturelle, religiöse, regionale oder nationale Bevölkerungsgruppen Lebensmittel oder ein bestimmtes Konsumverhalten, um sich aktiv von anderen abzugrenzen. Diese Funktion des Essverhaltens als Ausdruck von Identitäten und sozialer, kultureller oder lokaler Zugehörigkeit ist auch mit der Bedeutung des Geschmacks als Distinktionsmerkmal verbunden (vgl. Barlösius 1999; Bourdieu 2007; 2008). Über den Geschmack werden Dinge zu ›distinktiven Zeichen‹ (vgl. Bourdieu 2007: 284), wird eine Unterscheidung der sozialen Stellung, aber auch der kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit der Konsumenten anhand ihrer Präferenzen möglich. Waren werden auf diese Weise zu Repräsentationen bestimmter Lebensstile. Aufgrund dieser kommunikativen Funktion spielen Konsumgüter sowie Küche und Essverhalten eine zentrale Rolle bei der Konstruktion und Darstellung von Identitäten. Auch im Zusammenhang mit dieser gemeinschaftsstiftenden, aber zugleich auch ausschließenden Funktion ist Essverhalten nicht als auf den lokalen Kontext beschränkt zu verstehen. Gerade für den regionalen Kontext Lateinamerika haben im Bereich des Konsumverhaltens immer auch globale Importwaren eine wichtige Rolle gespielt. Wie unter anderem Richard Wilk für Belize zeigt, wurden und werden die aus Europa und Nordamerika importierten Waren bevorzugt. Ihr Konsum und die Fähigkeit, die ›echten‹, d. h. die in den USA oder Europa hergestellten Produkte, von den in Lateinamerika produzierten Waren derselben Marke zu unterscheiden, werden zum Ausdruck des sozialen Status und damit auch sozialer Identitäten (vgl. Wilk 2006: 16-17). Im Gegensatz zum vor allem von Seiten der FairTrade-Bewegung und der Ökobewegung häufig bemängelten fehlenden Bewusstsein von Konsumenten in westlichen Industrienationen für die globalen Folgen ihres Konsumverhaltens spielt die regionale Herkunft der Produkte für die Konsumenten in Lateinamerika oft eine entscheidende Rolle. Auch für Costa Rica deutete sich die Relevanz der lokalen Verortung von Importwaren wie auch des Konsums von Produkten fremder Küchen bereits in den eingangs dargestellten Beispielen an. Des Weiteren belegen geschichtswissenschaftliche Studien zum Konsumverhalten im 19. und 20. Jahrhundert die große Bedeutung globaler Importgüter als Mittel zur sozialen Distinktion: Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1821 drückten insbesondere die Angehörigen der Ober- und Mittelschicht ihren sozialen Status über den Konsum von aus Europa und später auch den USA importierten Waren aus und distanzierten sich so von derjenigen Bevölkerung, der ein Erwerb solcher Güter aus finanziellen Gründen nicht möglich war (vgl. Vega Jiménez 1991: 54-8). Essverhalten war, wie anhand dieser Beispiele deutlich wird, auch in der costa-ricanischen
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Gesellschaft Ausdruck sozialer Positionen und soziale Zugehörigkeit wurde auch mit Hilfe von globalen Importwaren markiert.
D IE HEUTIGE › LOKALE K ÜCHE ‹ ALS E RGEBNIS AUSHANDLUNG GLOBALER E INFLÜSSE
DER
Wie der vorangegangene Abschnitt zeigt, darf nicht vernachlässigt werden, wenn auch der Begriff Globalisierung im öffentlichen Diskurs meist zur Beschreibung der aktuell zunehmenden weltweiten Vernetzung verwendet wird, dass globale Beziehungen das lokale Leben und damit die lokalen kulinarischen Kulturen und das Essverhalten der lokalen Bevölkerungen schon in der Vergangenheit beeinflussten. Auch im lateinamerikanischen Kontext ist, wie bereits angedeutet wurde, Globalisierung kein neues Phänomen. Den Beginn der globalen Beziehungen und des Einflusses auf die lokale Esskultur kann man hier an der Ankunft der Spanier im späten 15. Jahrhundert, für Costa Rica im frühen 16. Jahrhundert, festmachen. Schon die Spanier brachten Nahrungsmittel aus Europa, aber auch Asien und Afrika, sowie eigene Ernährungsgewohnheiten nach Costa Rica. Ein Blick auf die Entstehung der Küche, die heute als ›costa-ricanisch‹ gilt, verdeutlicht, dass diese global-lokalen Aushandlungsprozesse auch in Costa Rica in der Vergangenheit eine Rolle spielten. Die heutige kulinarische Tradition Costa Ricas ist das Ergebnis von ›Kreolisierungsprozessen‹, also der Verschmelzung diverser kulinarischer Traditionen, darunter die europäischen, autochthonen amerikanischen und afrikanischen, sowie der kulturellen Aneignung von Konsummustern und Produkten. Neben der Verbreitung und Verfügbarkeit einzelner Produkte war dabei auch immer die Interaktion der lokalen Bevölkerung mit Gruppen von Immigranten entscheidend, wie u. a. Patricia Vega Jiménez am Beispiel der Entwicklung der Kaffeekultur in Costa Rica zeigt (vgl. Vega Jiménez 2004). Vor diesem Hintergrund ist auch die Angst vor der Ausbreitung einer weltweiten einheitlichen Massenkultur, die nach wie vor die aktuelle öffentliche und private Diskussion über die Einflüsse der Globalisierung auf die lokalen (Ess-)Kulturen dominiert, nicht gerechtfertigt. Weltweite kulturelle Homogenität ist nicht unweigerlich die Folge von Globalisierungsprozessen, vielmehr wurde in Studien zur Global-Lokal-Beziehung wiederholt verdeutlicht, dass es zu verschiedenen lokalen Reaktionen auf globale Einflüsse kommen kann. Neben dem Widerstand zählen die bereits erwähnten Prozesse der ›Kreolisierung‹ und der kulturellen Aneignung zu den bedeutendsten Varianten (vgl. Hannerz 2000; Robertson 1995; Wilk 2006; Friedman 1994). Gerade was die weltweite Verbreitung globaler Produkte angeht, so kann man nicht ohne weiteres annehmen, dass diese weltweit in derselben Art Verwendung finden. Wie Richard Wilk feststellt, ist daher immer die Aushandlung
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der globalen Einflüsse durch lokale Akteure zu berücksichtigen und integraler Bestandteil der Globalisierung (vgl. Wilk 2006: 17; auch Howes 2000a: 4-5). Trotzdem werden auch in Costa Rica in den Debatten über Globalisierung und lokale Esskultur in erster Linie die wachsende kulturelle Homogenität und der Verlust der eigenen lokalen Kultur thematisiert. Die Angst vor dem Verlust dessen, was als eigene kulinarische Kultur empfunden wird, führte insbesondere im politischen und akademischen Kontext innerhalb der letzten Jahrzehnte zu einem gesteigerten Interesse an den lokalen kulinarischen Kulturen Costa Ricas und einer Reihe von Initiativen zu ihrer Erhaltung.
D AS NEUE I NTERESSE N ATIONALKÜCHE
AN DER COSTA - RICANISCHEN
Als Marjorie Ross1 in den 1980er Jahren mit ihrem Werk Al Calor del Fogón: 500 Años de Cocina Costarricense (1986) als erste eine Rezeptsammlung zur costaricanischen Küche mit Fokus auf deren Geschichte herausgab, war ihr Unternehmen motiviert durch die Angst vor dem Verlust von Gerichten, Wissen über Zubereitungsweisen und Zutaten, kurz, sie fürchtete einen Kulturverlust aufgrund von Unwissen und fehlendem Stolz auf die eigene Küche. Ihr Buch stellt den Versuch dar, das Fehlen einer nationalen costa-ricanischen Küche zu kompensieren (vgl. Ross de Cerdas 1986: 5-6, 52-6). Wie Ross bemerkt, wurde ihrem Anliegen zu diesem Zeitpunkt noch mit Unverständnis und sogar Feindseligkeit in der costaricanischen Öffentlichkeit sowie von Seiten der Wissenschaft begegnet. Eine Beschäftigung mit der (ländlichen) kulinarischen Kultur Costa Ricas, die weitgehend als ›Küche der Armen‹ angesehen wurde, entsprach zu diesem Zeitpunkt nicht dem guten Ton (vgl. Ross González 2008: 11). Dieses Unverständnis für die Bedeutung der eigenen Küche wich innerhalb der nächsten Dekaden jedoch einem verstärkten Bewusstsein für und Interesse an der eigenen Küche. Ab den 1990er Jahren gelangte das lokale Essverhalten im Rahmen von Untersuchungen zum Konsumverhalten in den Fokus der Geschichtswissenschaft. Zu nennen sind hier vornehmlich die Studien Patricia Vega Jiménez‘, die den mit dem Kaffeeboom einhergehenden Wandel und die zunehmende soziale Differenzierung des Konsumverhaltens im 19. Jahrhundert umreißt (vgl. Vega Jiménez 1991: 54-8) sowie Iván Molina Jiménez‘,
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Ihre in den 1980er und 1990er Jahren erschienenen Werke veröffentlichte Marjorie Ross als Marjorie Ross de Cerdas, ihre Publikationen ab der Jahrtausendwende dann als Marjorie Ross González. Im Text werde ich auf die Autorin daher lediglich als Marjorie Ross Bezug nehmen, in der Literaturliste und den den Zitaten beigefügten Quellenangaben finden sich allerdings beide Namen.
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der die Bedeutung des Konsumverhaltens als Marker der sozialen Identität im 20. Jahrhundert herausstellt (vgl. Molina Jiménez 2008: 93-9). Einen weiteren Schwerpunkt der geschichtswissenschaftlichen Forschung bildete die Nachzeichnung der lokalen Geschichten einzelner für Costa Rica, die costa-ricanische Kultur und Küche zentraler Produkte und Gerichte wie zum Beispiel des Kaffees (vgl. Vega Jiménez 2004) und des Gallo Pinto (vgl. Vega Jiménez 2012). Das Interesse an der eigenen Küche oder den kulinarischen Traditionen des Landes schlug sich ab Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre in der Veröffentlichung von Kochbüchern und Rezeptsammlungen u. a. für die Regionalküchen Limóns (vgl. Chang Vargas 1984; Pardo Castro 2003; Ross de Cerdas 2002) und Guanacastes (vgl. García Murillo/García Briceño 1981) nieder. Diese Rezeptsammlungen wurden mit dem Ziel erstellt, die Gerichte dieser lokalen Küchen vor dem Vergessen zu bewahren, ein Anliegen, das die Herausgeber, Autoren und Autorinnen der innerhalb der letzten zehn Jahre zur costa-ricanischen Küche veröffentlichten Arbeiten teilen. Mit Ausnahme des Werkes von Ross2 sind letztere im Zusammenhang mit verschiedenen politischen und akademischen Projekten zur Bewahrung der costa-ricanischen Küche als Teil des immateriellen, nationalen Kulturerbes entstanden. Neben den vom Ministerio de Cultura, Juventud y Deportes in Folge der ab 2001 jährlich veranstalteten Concursos de Comidas y Bebidas Típicas herausgegebenen Rezeptsammlungen (vgl. z. B. Álvarez Masís 2005: 11; 2007: 162) sind hier insbesondere Publikationen aus dem Bereich der Kultur- und Ernährungswissenschaften zu nennen. In diesen Disziplinen wurde die nationale Küche in den letzten Jahren zum Forschungsthema und es wurden Projekte zur Erhaltung dieser Küche ins Leben gerufen, oft ebenfalls in Kooperation mit verschiedenen Ministerien. Zu diesen zählen zum Beispiel die vom Ministerio de Salud von 2003-2005 durchgeführten Projekte zur Verbreitung von Huertas Familiares (vgl. González Arce 2008: 185) oder das Anlegen von Kaffeeplantagen als traditionelle Mischkulturen zur Bewahrung oder Wiederansiedlung von Alimentos Olvidados auf dem Gelände des Museo de Cultura Popular, das zur Universidad Nacional gehört. Mayela Solano Quirós, Direktorin dieses Museums, hat darüber hinaus eine Reihe von Workshops ins Leben gerufen, die an die lokale Bevölkerung und insbesondere Schulklassen gerichtet sind, mit dem Ziel, traditionelle, lokale Zubereitungsweisen und Gerichte wieder zu verbreiten (vgl. Museo de Cultura Popular 2013). Ebenso wird, vor allem seitens der Ernährungswissenschaftler der Universidad de Costa Rica, über das Sammeln von Rezepten und ihre Veröffentlichung der Versuch unternommen, die Gerichte der costa-ricanischen Küche zu bewahren und wieder bekannt zu machen. Ein Beispiel ist das 2003 initiierte interdisziplinäre Projekt Rescate de la Cocina Criolla Costar2
Das Werk Marjorie Ross‘ ist für mich hier allerdings besonders relevant, da in allen folgenden Publikationen zur costa-ricanischen Küche Ross‘ Arbeiten als Referenz angeführt werden.
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ricense con la Participación de Personas Adultas Mayores aus dem Bereich des Trabajo Comunal Universitario unter Leitung der Ernährungswissenschaftlerin Patricia Sedó Masís. Das aktuelle nationale Interesse seitens der Politik und der Wissenschaft an der costa-ricanischen Nationalküche und ihrer Erhaltung lässt sich als eine Folge der zunehmenden transnationalen Einflüsse interpretieren; die angesprochenen Projekte sind in gewisser Weise als eine Form des Widerstandes gegen die globalen Einflüsse, und allen voran gegen das Fast Food, zu verstehen (vgl. Sedó Masís 2008a: 13). Trotz der Betonung der Bedeutung der Bewahrung der costa-ricanischen kulinarischen Tradition(en) als Teil des nationalen immateriellen Kulturerbes und der lokalen kulturellen Identität wird die Beziehung zwischen Identität und Küche bzw. die Identitätsbildung über das Konsumverhalten ausschließlich in geschichtswissenschaftlichen Studien oder für die Vergangenheit thematisiert. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Theresa Preston-Werner, die die Ablehnung der afrokaribischen Herkunft des Gallo Pinto in der costa-ricanischen Bevölkerung in Beziehung zu historischen und aktuellen Identitätsdiskursen setzt und auch den Gallo-PintoStreit mit Nicaragua vor dem Hintergrund der Bedeutung des Gerichtes für die Nationalidentität thematisiert (vgl. Preston-Werner 2009; 2012), sowie die Studien von Carmen Caamaño Moruá und Desirée Cruz Mora, die die Konstruktion und den Ausdruck der costa-ricanischen Nationalidentität über das Essverhalten für Costa Ricaner in den USA beschreiben (vgl. Caamaño Moruá 2010: 160-164; Mora Cruz 2005). Regionale Unterschiede und die Zentralität des Regionalen werden von Preston-Werner zwar angesprochen, u. a. weist sie darauf hin, dass die Bevölkerung einer Region die Versionen des Gallo Pinto aus anderen Regionen ablehnt und dass costa-ricansiche Nationalsymbole in der Regel aus regionalen Symbolen hervorgegangen sind (vgl. Preston-Werner 2012: 184-5, 190), eine Thematisierung der Bedeutung der Regionalküchen als Marker von Regionalidentitäten steht allerdings aus. Was das Thema der aktuellen globalen Einflüsse auf die lokale costa-ricanische Küche anbelangt, so wird anlässlich der Herausgabe einer neuen Rezeptsammlung meist nur die Ausbreitung von Fast Food behandelt und letzteres in diesem Zusammenhang für schädlich erklärt. Bisher fehlen Arbeiten, die die aktuelle Bedeutung von Küche und Essverhalten als Marker nationaler, aber auch regionaler Identitäten im stark durch transnationale Einflüsse geprägten Costa Rica und die lokale Aushandlung verschiedener globaler Einflüsse durch lokale Akteure behandeln. Aber nicht nur im politischen und akademischen Kontext, sondern auch in den privaten Debatten über die Auswirkungen der Globalisierung auf die lokale Kultur liegt der Fokus auf den Fast-Food-Unternehmen. Obwohl, wie unter anderem an Don Franklins oben beschriebenem Interesse an der Rückverfolgung der Herkunft einzelner Produkte deutlich wurde, durchaus ein Bewusstsein für die diversen glo-
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balen Handelsbeziehungen besteht und das Wissen über die Herkunft einzelner Waren auch vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Funktion der Importgüter als Distinktionsmarker relevant ist, wird diesem Aspekt in der lokalen Diskussion von Globalisierung und Essverhalten kein großes Gewicht beigemessen. Es wurde weder auf die oben erwähnten diversen Herkunftsorte der lokal verfügbaren Produkte noch auf die Tatsache Bezug genommen, dass in vielen Familien das costaricanische Nationalgericht Gallo Pinto mit Hilfe von aus aller Welt importierten Produkten zubereitet wird.3 Auch verwiesen meine costa-ricanischen Gesprächspartner nicht auf die costa-ricanischen landwirtschaftlichen Exportprodukte - neben Kaffee zählen insbesondere costa-ricanische Ananas und Bananen zum Angebot von Supermärkten weltweit - ein Aspekt, auf den mich meine Interviewpartner in anderen Kontexten nicht ohne Stolz hinwiesen. Beim Thema Globalisierung und Küche blieben diese Beziehungen unerwähnt. Globalisierung und Essverhalten: für meine costa-ricanischen Gesprächspartner waren dies die Expansion der Fast-FoodUnternehmen und die damit verbundenen Folgen für die costa-ricanische Gesellschaft. In diesen Debatten werden vor allem die gesundheitlichen Konsequenzen einer auf Fast Food basierenden Ernährung betont. Während sich die Berichterstattung über Fast-Food-Unternehmen in lokalen Zeitungen in den letzten Jahren weiterhin auf die Eröffnung der einzelnen Filialen und die damit verbundene Entstehung von Arbeitsplätzen konzentrierte, wurden zunehmend auch Studien, welche die negativen gesundheitlichen Folgen des Fast-Food-Konsums thematisierten, aufgegriffen. Die von der Consultingfirma Euromonitor veröffentlichte Prognose, der zufolge Costa Rica bereits im Jahr 2020 zu den sechs Ländern mit dem höchsten Anteil an adipöser Bevölkerung zählen wird (vgl. Rivera Salazar 2010), beunruhigte nicht nur die Ernährungswissenschaftler. Vor dem Hintergrund der starken Präsenz von Fast-Food-Unternehmen im Land ist der Raum, der diesem transnationalen Einfluss in der Diskussion zugestanden wird, nicht verwunderlich. 3
Selbst wenn die Familien nicht auf die Gewürzmischungen von Unternehmen wie z. B. Maggi zur Zubereitung von Gallo Pinto zurückgriffen, so war das Gericht trotzdem aufgrund der Herkunft der Zutaten global: Im Jahr 2010 wurden 85% der zur Zubereitung dieses Gerichtes verwendeten schwarzen Bohnen aus China importiert (vgl. Barquero S. 2010); der Anteil an importiertem Reis lag bei 65% (vgl. Murillo/Barquero S. 2010), bis Mitte des Jahres 2011 wurden u. a. 5 Tonnen Reis aus Nicaragua eingeführt (Siu Lanzas 2011) und die zum Würzen verwendete Salsa Lizano, Inbegriff eines costa-ricanischen Produktes, wird mittlerweile von Unilever vertrieben. Im Oktober 2012 wurde der Umstand, dass die costa-ricanischen Grundnahrungsmittel zu großen Teilen nicht aus Costa Rica stammen, in der costa-ricanischen Presse über Zeitungsartikel mit Titeln wie »Gallo Pinto en su mesa no es tico« (Sequeira 2012) thematisiert und die Institution des Nationalgerichts damit eindeutig den globalen Einflüssen gegenübergestellt sowie als von diesen unterwandert dargestellt.
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F AST F OOD UND P RODUKTE TRANSNATIONALER U NTERNEHMEN IN C OSTA R ICA Nachdem im Jahr 1970 mit dem McDonald’s Restaurant auf dem Paseo Colón im Zentrum San Josés nicht nur das erste Restaurant dieser Kette in Costa Rica, sondern auch außerhalb Nordamerikas eröffnet worden war, stieg die Zahl der Restaurants transnationaler Fast-Food-Unternehmen besonders in den letzten 20 Jahren drastisch an. Im Jahr 2010 feierte das Unternehmen Arcos Dorados das 40-jährige Bestehen von McDonald’s in Costa Rica mit der Eröffnung des 40. Restaurants; die Zahl der Kunden der McDonald’s Filialen wurde im selben Jahr auf 1,3 Millionen pro Monat geschätzt (vgl. INCAE 2010: 3, 26). Zwei Jahre später, im Jahr 2012, betreibt das Unternehmen bereits 50 Lokale im Land und ist damit die bedeutendste der inzwischen geschätzten fünfzehn nationalen und transnationalen Restaurantketten, deren Sortiment vor allem aus Hamburgern besteht.4 Neben diesen wuchs auch die Zahl der Restaurants anderer Fast-Food-Ketten. Insbesondere die auf die Zubereitung von Brathähnchen spezialisierten Firmen erfreuen sich großer Beliebtheit: Neben den 26 KFC-Lokalen gibt es mit den 16 Restaurants der nationalen Kette Rosti Pollos, den 19 Restaurants des transnationalen, guatemaltekischen Unternehmens Pollos Campero, 26 Restaurants von AS und 16 weiteren von Church Chicken sowie den drei Restaurants des nicaraguanischen Unternehmens Pío Pío im Jahr 2011 über hundert Restaurants dieser Ketten. Insgesamt betrieb die Gruppe Quick Service Restaurants (QSR), zu der u. a. KFC, Subways, Quiznos, TeryakiExperience und Smashburgers gehören, im Jahr 2011 in Costa Rica 129 Restaurants; die zur Burger King Gruppe Comidas del Rey zählenden Papa John’s Restaurants sind im selben Jahr 14 Mal vertreten, Taco Bell mit 23 Restaurants (vgl. Brenes Quirós 2011a; Brenes Quirós 2011b). Was die regionale Ausbreitung dieser Lokale betrifft, so finden sie sich insbesondere in den urbanen Zentren des Valle Central; bisher wurden nur vereinzelt Restaurants in den Hauptstädten bzw. den Touristenzentren der Provinzen Puntarenas, Guanacaste und Limón eröffnet. Fast Food an sich ist jedoch nicht an diese Ketten gebunden, sondern gehört mittlerweile in vielen kleinen Restaurants (Sodas) auch außerhalb des urbanen Kontextes zum
4
Burger King, seit 1990 in Costa Rica vertreten, betreibt im Jahr 2012 31 Restaurants, Wendy’s verfügt über 13, Carl’s Jr., das erst 2011 in Costa Rica Fuß fasste, hat bisher bereits 6 Restaurants, und im Dezember 2012 eröffnete mit Smashburgers eine weitere Filiale einer internationalen Burgerkette, die sowohl mit den nationalen Unternehmen, wie der mit 6 Restaurants vertretenen Hamburger Factory oder der neuen Hamburguesía, konkurrieren, als auch mit weniger stark auf Burger spezialisierten Unternehmen wie Denny’s, Moe’s, Mo Joe’s, Applebee’s, The Market und Tony Romas (vgl. Arías 2012).
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Standardangebot. Des Weiteren sind die Fast-Food-Produkte als Fertiggerichte auch in den Kühlregalen der nationalen und transnationalen Supermarktketten erhältlich. Diese sind regional wesentlich weiter verbreitet und auch dadurch einer größeren Anzahl von Menschen zugänglich. Das Unternehmen mit der größten Verbreitung ist Wal-Mart, das im Jahr 2012 insgesamt 203 Märkte betrieb (vgl. Wal-Mart Corporate 2012). Aber auch das Angebot der Ketten MegaSuper, MaxiBodega oder Automercado ist durch Importprodukte bestimmt (vgl. Automercado 2012), wobei neben den verschiedenen Markenprodukten, Fertig- und Tiefkühlkost, darunter auch Fleisch, Fisch und Geflügel, zudem das Angebot an frischen Produkten, wie Obst und Gemüse oder auch Getreideerzeugnisse und Leguminosen zu berücksichtigen sind. Zwar werden auch die in den Supermärkten angebotenen nationalen wie internationalen Fertigprodukte von ernährungswissenschaftlicher Seite kritisiert, das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Kritik an den Fast-Food-Unternehmen. Wie auch weltweit wird Fast Food im nationalen costa-ricanischen Diskurs als hauptverantwortlich für die gesundheitlichen Probleme der Bevölkerung sowie für den Verlust der nationalen und lokalen kulinarischen Kultur und damit verbunden auch der nationalen Identität verstanden. Die transnationalen Einflüsse beschränken sich jedoch auch in Costa Rica nicht auf Fast Food oder die Verbreitung von Lebensmitteln und Produkten.
T RANSNATIONALE E INFLÜSSE
IN
C OSTA R ICA
Neben den transnationalen Supermarkt- und Fast-Food-Ketten und den dadurch vorhandenen transnationalen Produkten stellen vor allem die transnationalen Prozesse der Transmigration und des Tourismus und damit die Bewegungen von Menschen einen wichtigen transnationalen Einfluss auf die Esskulturen in Costa Rica dar. Im Jahr 2000 lebten in Costa Rica nach Zensusangaben desselben Jahres insgesamt 296.461 Personen ohne costa-ricanische Staatsangehörigkeit (vgl. Castro Valverde 2007: 26). Die Zahl der in Costa Rica lebenden nicaraguanischen Staatsbürger wird in diesem Jahr mit 226.374 angegeben,5 sie bildeten daher die größte Gruppe der in Costa Rica wohnhaften Ausländer. Im Jahr 2011 war diese Zahl auf 287.766 Personen angestiegen bei gleichzeitigem Absinken des relativen Anteils 5
Da die costa-ricanische Staatsbürgerschaft mit der Geburt im Staatsgebiet erworben wird, werden hier nur diejenigen Personen gezählt, die in Nicaragua geboren sind. Ausgehend von Analysen zu bi-nationalen Haushalten wird die Zahl der Menschen mit nicaraguanischen Wurzeln in Costa Rica auf 334.857 Personen geschätzt (vgl. Castro Valverde 2007: 34-6). Des Weiteren wird die Zahl der illegal nach Costa Rica migrierten Nicaraguaner auf etwa 130.000 geschätzt (vgl. Gatica López 2007: 117).
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der nicaraguanischen Staatsbürger an der Zahl der in Costa Rica gemeldeten Ausländer von 76,4% auf 74,6% (vgl. INEC 2011; INEC 2011c). Es ist darüber hinaus eine deutliche Feminisierung der nicaraguanischen Transmigration zu beobachten, mit einer Zahl von 151.648 Nicaraguanerinnen, d. h. einem Frauenanteil von 52,7% (vgl. INEC 2011c). Aufgrund ihrer im Vergleich zur costa-ricanischen Bevölkerung oft geringeren Schulbildung finden die nicaraguanischen Transmigranten vor allem in den Bereichen Landwirtschaft und Bau sowie als Haushaltshilfen Arbeit (vgl. Castro Valverde 2007: 30-1; Gatica López 2007: 116-17; 119; Huhn 2005: 39-40). Insbesondere über die Beschäftigung von Haushaltshilfen ist dabei die Möglichkeit des Austausches kulinarischer Traditionen gegeben. Zu den größten Transmigranten-Gruppen zählen des Weiteren Staatsbürger aus Nordamerika, vor allem aus den USA; aus Panama, El Salvador und Kolumbien (vgl. INEC 2011c) sowie die Afrokariben. Letztere werden in Costa Rica als kulturelle und ethnische Minderheit angesehen, welche sich regional auf die Provinz Limón konzentriert. Sie können aufgrund der unterhaltenen transnationalen Beziehungen und eigenen Migrationserfahrungen als Transmigranten bezeichnet werden. Was ihre statistische Erfassung mittels Nationalitäten betrifft, ist diese insofern erschwert, als die Angehörigen der afrokaribischen Bevölkerung in Costa Rica oft die nicaraguanische oder panamaische Staatsbürgerschaft besitzen. Ein weiterer zentraler transnationaler Einfluss ist der internationale Tourismus. Der Tourismussektor hat in Costa Rica innerhalb der letzten Jahre immer stärker an wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen und ist heute der wichtigste Devisenbringer des Landes. Im Jahr 2008 überschritt die Zahl der Touristen erstmals die ZweiMillionen-Marke, die Einnahmen beliefen sich auf 2.200 Millionen US-Dollar (vgl. Fallas 2008; UNWTO 2008). Abgesehen von der ökonomischen Relevanz ist auch von einem bedeutenden Einfluss auf die lokale Kultur, Küche und Identitätskonstruktionen auszugehen. So führen diejenigen Autoren, die an Projekten der Wiederbelebung der traditionellen nationalen Küche beteiligt sind, wie zum Beispiel Marjorie Ross, aber auch Yanori Álvarez Masís, die die aus den Certámenes de Comidas y Bebidas Típicas hervorgegangenen Rezeptsammlungen veröffentlichte, den Tourismusboom sowohl als einen Grund für ihr Anliegen als auch für das in der nationalen Öffentlichkeit gestiegene Interesse für die costa-ricanische Nationalküche an (vgl. Álvarez Masís 2007: 27; Ross González 2001: X, 31). Eine wissenschaftliche Erforschung des touristischen Einflusses wie auch des Einflusses der (nicaraguanischen) Transmigration auf das lokale Essverhalten und auf die Bedeutung und das Bild der Nationalküche steht noch aus.
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D IE GEOGRAFISCHE C OSTA R ICAS
UND KULINARISCHE
D REITEILUNG
Obwohl bisher vor allem von der costa-ricanischen Nationalküche oder auch dem Gallo Pinto als Nationalgericht und Ausdruck der costa-ricanischen Nationalidentität die Rede war, sind im costa-ricanischen Kontext Essverhalten und Küche als Marker regionaler und damit verbunden auch kultureller Identitäten gleichfalls von großer Bedeutung. Diese Relevanz der Küchen als Marker innergesellschaftlicher Unterschiede ist auf die exklusiven Identitätsdiskurse der Vergangenheit zurückzuführen und darf nicht vernachlässigt werden. In den Diskursen über die costa-ricanische Nationalidentität im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde das europäische kulturelle Erbe in den Vordergrund gerückt und die costa-ricanische Bevölkerung wurde als weiß, egalitär, demokratisch, friedlich und im 20. Jahrhundert zunehmend auch als weiße, demokratische, urbane Mittelschicht beschrieben. Dieses Konzept beschränkte die costa-ricanische Nation diskursiv auf die Region des Valle Central und die die Gran Area Metropolitana bildenden Provinzen Alajuela, Cartago, Heredia und San José; insbesondere über das Kriterium ›weiße Hautfarbe‹ wurden eben jene Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen, die nicht zur ›weißen Bevölkerung gezählt wurden, darunter die afrokaribische Bevölkerung, die sich in erster Linie auf die Provinz Limón an der Atlantikküste konzentrierte und die Bevölkerung der an der Pazifikküste und an der Grenze zu Nicaragua gelegenen Provinz Guanacaste, da diese als stärker durch das mesoamerikanische kulturelle Erbe geprägt galt. Während die Provinzen des Valle Central im Zentrum des Landes liegen, sind sowohl Guanacaste als auch Limón peripher gelegen (vgl. Abbildung 1) und waren in der Vergangenheit aufgrund fehlender Verkehrsanbindung schlecht zugänglich. Analog zur peripheren Lage wurden die Bewohner dieser beiden Provinzen im Diskurs über die Nationalidentität aufgrund ihres kulturellen Erbes marginalisiert. Diese kulturelle und geografische Dreiteilung findet sich auch im kulinarischen Diskurs, in dem die Küche des Valle Central oft von den Küchen Limóns und Guanacastes unterschieden wird. Die kulinarische Tradition Guanacastes wie die guanacastekische Kultur und Bevölkerung werden dabei als in besonderem Maße durch autochthone mesoamerikanische Einflüsse geprägt verstanden; die Küche Limóns wird, trotz der kulturellen Vielfalt der Provinz, auf das afrokaribische kulturelle Erbe reduziert. Der Begriff ›Cocina Limonense‹ bezeichnet daher oft die Küche der afrokaribischen Bevölkerung. Wie auch im Diskurs über die Nationalidentität, wurde der Küche des Valle Central der Vorrang vor den Küchen der anderen Regionen gegeben und diese Küche oft mit der costa-ricanischen Nationalküche gleichgesetzt. Und wie sich zum Beispiel an der in der Vergangenheit üblichen Bezeichnung der guanacastekischen
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Küche als ›Cocina Criolla‹ andeutet, die eine Charakterisierung dieser als stärker auf autochthonen Wurzeln basierend und ›weniger elaboriert‹ als die Küche des Valle Central beinhaltete, schloss die Unterscheidung der kulinarischen Traditionen auch die Be- bzw. Abwertung dieser mit ein. In Anbetracht dieser regionalen Dreiteilung sowie des damit verbundenen Machtungleichgewichtes ist bei der Erforschung der Einflüsse der ›kulturellen Globalisierung‹ auch die Berücksichtigung dieser drei unterschiedlichen regionalen Kontexte und die Aushandlung der verschiedenen transnationalen Einflüsse durch die jeweiligen lokalen Akteure zentral. Abbildung 1: Kulturelle Geografie Costa Ricas
Quelle: bearbeitet nach einer Vorlage aus: Academia de Ciencias Luventicus 2013, http://www2.luventicus.org/mapas/costarica.gif
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F RAGESTELLUNG In dieser Arbeit wird vor dem Hintergrund der Bedeutung der Küche als Identitätsmarker die Global-Lokal-Beziehung von Küche und Essverhalten behandelt. Exemplarisch wird der Einfluss der kulturellen Globalisierung auf das Essverhalten der lokalen Bevölkerung in Costa Rica und die costa-ricanischen Küchen untersucht. Ich ging zunächst von der Hypothese aus, dass im Zuge der zunehmenden transnationalen Flüsse, im Zuge von internationalem Tourismus und Migration, ein verstärktes Bewusstsein für die eigene Nationalküche und ihre Bedeutung als Identitätsmarker entstehe. Ich nahm an, dass sich die Auffassung dessen, was die costaricanische Nationalküche ist, sich ebenfalls in Relation zu den transnationalen Einflüssen herausbilde und wandle. Eine weitere Hypothese war, dass nicht nur die zunehmende Transnationalisierung, sondern auch die Heterogenität der costa-ricanischen Bevölkerung aufgrund bestehender innergesellschaftlicher Unterschiede der Herausbildung und Anerkennung einer Nationalküche entgegenwirken würde. In diesem Kontext interessierte mich die Frage, inwieweit einzelne soziale, ethnische oder kulturelle Gruppen und Akteure die transnationalen Beziehungen nutzen, um ihre eigene Stellung innerhalb der Gesellschaft zu verändern oder zu behaupten und soziale, kulturelle oder regionale Unterschiede aufrechtzuerhalten. Im Verlauf der Forschung rückte die letztgenannte Hypothese in den Mittelpunkt. Angesichts der Relevanz, welche der Unterscheidung der regionalen kulinarischen Traditionen im akademischen, aber auch im touristischen Diskurs zukam, wie auch der Zentralität der innergesellschaftlichen Grenzziehungen, konzentrierte sich meine Feldforschung neben der Frage nach der Konstruktion und des Wandels des Bildes und der Bedeutung einer lokalen Küche im transnational geprägten Raum auch auf das Thema der Bedeutung der Regionalküche als Marker einer regionalen Identität im Kontext der Herausbildung einer Nationalküche. Im Fokus meiner Forschung standen soziale Akteure, die im transnational geprägten Raum vom Verkauf der Gerichte der lokalen oder nationalen Küche lebten. Es wurde betrachtet, wie diese Akteure unter Aushandlung der nationalen, wie transnationalen Fremdbilder der eigenen Regionalküche und der Nationalküche ihre eigene Küche und Identität konstruieren und dabei nationale, regionale und kulturelle Zugehörigkeiten verhandeln. In diesem Zusammenhang interessierte nicht nur, inwieweit die transnationalen und nationalen Einflüsse auf das Essverhalten einen Bedeutungswandel der eigenen Küche als Identitätsmarker hervorriefen, sondern darüber hinaus, inwieweit die transnationalen Beziehungen genutzt wurden, um die eigene Identität über das Essverhalten als verschieden von der Nationalidentität darzustellen. Auch die Frage nach den Auswirkungen der Herausbildung der Nationalküche auf die jeweilige Bewertung der transnationalen Beziehungen wurde hierbei be-
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rücksichtigt, wobei neben den unpersönlichen transnationalen Einflüssen, wie sie über Fast-Food-Unternehmen und die transnationalen Supermarktketten gegeben sind, mit den Einflüssen durch den internationalen Tourismus und die Transmigration insbesondere zwei Ebenen thematisiert werden, bei denen in Costa Rica lebende Menschen mit Personen anderer Länder, ihrem Essverhalten und ihren Erwartungen an die costa-ricanische Küche in Kontakt kommen. Die Forschung konzentrierte sich auf drei Regionalkontexte, welche hinsichtlich ihrer Geschichte, ihrer Bevölkerung und der Art und des Ausmaßes an transnationalen Einflüssen große Unterschiede aufwiesen. Ich konzentrierte meine Forschung analog zur Dreiteilung Costa Ricas in den Diskursen über Nationalidentität und -küche auf Heredia im Valle Central, Puerto Viejo de Talamanca in Limón, und Santa Cruz de Guanacaste. An diesen Orten untersuchte ich, wie die sozialen Akteure in einer Zeit der zunehmenden Transnationalisierung und zu einem Zeitpunkt, an dem auf nationaler institutioneller Ebene sowie international, im touristischen Kontext, die costa-ricanische Nationalküche in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt und herausgebildet wird, am jeweiligen Ort ihre Identität und Küche unter Aushandlung der spezifischen nationalen/translokalen und transnationalen Einflüsse konstruierten. Mich interessierte, inwieweit sie die transnationalen Beziehungen nutzen (können), um ihre Position innerhalb der costa-ricanischen Gesellschaft zu verändern oder zu festigen.
AUFBAU
DER
ARBEIT
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel. In den ersten beiden Kapiteln wird eine Einordnung der Untersuchung vorgenommen. Das erste Kapitel dient der Darstellung der für die Arbeit relevanten theoretischen Ansätze, ihrer Einsetzbarkeit im lokalen Kontext Costa Rica und der theoretischen Einordnung der Forschung. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Debatten über Globalisierungseinflüsse auf Nationalstaaten und lokale Identitäten und lokaler (Ess-)Kultur sowie auf theoretischen Konzepten zur Identitätsbildung und zum Ausdruck von Identitäten über das Essverhalten bzw. die Küche. Im zweiten Kapitel werden die in der Forschung angewandten Methoden erklärt. Nach einer Erläuterung der Auswahl der drei regionalen Forschungsorte unter Bezugnahme auf ihre historische Entwicklung sowie ihre geschichtliche und aktuelle Bedeutung im nationalen Kontext werden die für die Feldforschung an diesen Orten eingesetzten Methoden besprochen. Auf die theoretische Diskussion und die Diskussion des methodischen Vorgehens aufbauend erfolgt im dritten Kapitel eine historische Kontextualisierung der Forschung in costa-ricanische Debatten über Nationalidentität und -küche. In die-
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sem Zusammenhang wird anhand der bestehenden geschichtswissenschaftlichen Studien auch das Verhältnis regionaler, sozialer und nationaler Identitäten und Küchen in Costa Rica in der Vergangenheit besprochen werden. Im Anschluss an eine Übersicht über die wissenschaftlichen Studien zur costa-ricanischen Küche wird die aktuelle Konstruktion der costa-ricanischen Nationalküche im akademischen sowie im touristischen Kontext beleuchtet. Die Diskussion der in diesen beiden Kontexten vorherrschenden institutionellen Bilder der costa-ricanischen Nationalküche bildet die Grundlage der nun folgenden, auf die Feldforschungsergebnisse ausgerichteten drei Kapitel. Für alle drei regionalen Kontexte wird der Frage nachgegangen werden, wie lokale Akteure im durch transnationale Beziehungen geprägten Raum ihre nationalen, regionalen und sozialen Identitäten und Zugehörigkeiten verhandeln und über das Essverhalten zum Ausdruck bringen, sowie, in welcher Weise in diesem Zusammenhang transnationale Beziehungen genutzt werden, um die eigene Position innerhalb der costa-ricanischen Gesellschaft zu behaupten oder zu verändern. Im ersten dieser drei Kapitel, Kapitel Vier, gilt das Interesse der Stadt Heredia in der Region des Valle Central. Mit dem Fokus auf die Konstruktion der costaricanischen Küche und dem Ausdruck sozialer und nationaler Identitäten in costaricanischen Mittelschichtfamilien, die über die Aufnahme von internationalen Sprachschülern und die Beschäftigung von nicaraguanischen Haushaltshilfen über persönliche transnationale Kontakte verfügen, wird zunächst diejenige regionale und soziale Bevölkerungsgruppe thematisiert, die in der Vergangenheit der Inbegriff der nationalen Bevölkerung war. Es wird auf die relationale und situative Identitätsbildung dieser Familien im nationalen wie auch im durch die persönlichen transnationalen Kontakte geprägten Kontext eingegangen und erläutert werden, wie die transnationalen Einflüsse genutzt werden, um die eigene Position innerhalb der costa-ricanischen Gesellschaft zu erhalten. Das fünfte Kapitel thematisiert die afrolimonensische Küche als Ausdruck der kulturellen und regionalen Identität und beschreibt die lokale Aushandlung der nationalen und internationalen touristischen Fremdbilder der afrolimonensischen Kultur, Identität und Küche im Rahmen der Konstruktion der ›Comida Caribeña‹ in Puerto Viejo de Talamanca. Es wird gezeigt, wie die ehemals regional und kulturell isolierte afrokaribische Bevölkerung ihre aktuell fortbestehende Sonderstellung im touristischen Kontext nutzt und wie in diesem Zusammenhang nicht nur lokale Küche und Identität konstruiert werden, sondern auch kulturelle Zugehörigkeit verhandelt wird. Im sechsten Kapitel wird der Fokus regional auf die Stadt Santa Cruz in Guanacaste und ihre Bewohner gerichtet und mit dem Essverhalten als Ausdruck der regionalen und kulturellen Identität der guanacastekischen Bevölkerung die Beziehung von Küche und Identität in einer weiteren in der Vergangenheit marginalisier-
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ten Bevölkerungsgruppe beschrieben. Auch in diesem regionalen Kontext wird die Aushandlung der nationalen Fremdbilder der lokalen Küche und Kultur, aber auch der nationalen – hier sowohl die Ansprüche nationaler Touristen, aber auch der Wandel im lokalen Warenangebot und die Herausbildung einer costa-ricanischen Nationalküche – und transnationalen Einflüsse – vor allem die nicaraguanische Transmigration – bei der Konstruktion der eigenen Küche und Identität, sowie die Verhandlung der kulturellen Zugehörigkeit dargestellt werden. Das abschließende, siebte Kapitel greift die Ergebnisse der drei vorherigen Kapitel noch einmal auf und fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen.
1. Theoretischer Rahmen
Innerhalb der letzten Jahrzehnte wurde das Alltagsleben der costa-ricanischen Bevölkerung immer stärker durch transnationale Einflüsse geprägt. Die vorliegende Untersuchung des Essverhaltens und der Konstruktion der costa-ricanischen Nationalküche ist daher in den Kontext der Debatten über Globalisierung, Nationalidentität und lokale Kultur einzuordnen. Das folgende Kapitel dient der Beschreibung der im Rahmen meiner Arbeit wichtigen Theorien und theoretischen Konzepte, ihrer Anwendbarkeit auf den costa-ricanischen Kontext und der theoretischen Einordung der Forschung. Es werden die Debatten über Globalisierungseinflüsse auf Nationalstaaten und lokale Kultur thematisiert werden sowie die in diesem Zusammenhang relevanten Konzepte der kulturellen Globalisierung und des Transnationalismus. Mit den Theorien der ›Kreolisierung‹, der kulturellen Aneignung und des Widerstandes werden drei theoretische Konzepte zur Schilderung der Beziehung globaler Prozesse und lokaler Kultur dargestellt. Da es sich bei den momentan wichtigsten transnationalen Einflüssen um den Tourismus und die Transmigration handelt, wird zudem die Diskussion der Beziehung zwischen diesen Einflüssen und lokaler (Ess-)Kultur aufgegriffen werden. Einen weiteren wichtigen Rahmen bilden die Debatten über Globalisierung und Identität. Es wird das in der Arbeit verwendete Identitätskonzept erläutert sowie die herangezogenen Theorien Pierre Bourdieus und Pasi Falks zur Beschreibung der Konstruktion und Darstellung von Identität über das Konsumverhalten dargestellt. Anschließend wird auf die Beziehung zwischen Essverhalten, Küche und Identität eingegangen und anhand der zuvor beschriebenen Theorien zu Identität und Konsumverhalten explizit die Identitätskonstruktion über das Essverhalten thematisiert. Sowohl im Rahmen der Debatten um die Konstruktion von Identitäten wie auch im Zusammenhang mit der Diskussion der Beziehung zwischen globalen Einflüssen und Lokalität wird dabei die Frage nach den Machtbeziehungen und den Möglichkeiten lokaler Akteure relevant sein.
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1.1 G LOBALISIERUNG
UND
K ULTURELLE G LOBALISIERUNG
Der Begriff Globalisierung wird oft zur Bezeichnung einer wachsenden Verdichtung der Welt und des zunehmenden Bewusstseins sowohl für die weltweite Vernetzung als auch für die Welt als Einheit verwendet. Das Konzept bezieht sich dabei auf den verstärkten Austausch von Ideen und materiellen Gütern sowie die zunehmende Bewegung von Menschen (vgl. Brysk/Shafir 2004a: 3, 5-6; Friedman 1994: 195; Hannerz 2000: 18; Robertson 1992: 8). Obwohl im Rahmen der Globalisierungstheorien stets die verstärkte, wachsende Vernetzung der Welt betont wird, ist jedoch wichtig, dass es sich bei Globalisierung nicht um ein Phänomen der letzten Jahre handelt.1 Vielmehr darf nicht vernachlässigt werden, dass es in der Vergangenheit stets zu Kontakten und Austauschbeziehungen unterschiedlicher Art und Intensität zwischen einzelnen Staaten gekommen ist. Richard Wilk vertritt daher die Auffassung, dass Globalisierung im Plural gedacht werden muss und verschiedene Phasen der Globalisierung unterschieden werden können (vgl. Wilk 2006: 8-11, 23-5). Mit Fokus auf Belize bezeichnet er den Zeitraum des 16. und 17. Jahrhunderts als »pirate globalization«, das 18. und frühe 19. Jahrhundert, als Belize Teil des globalen Systems der Sklaverei war, als »slave globalization«, die Zeit von Mitte des 19. bis ins späte 19. Jahrhundert als »high colonial colonization« und die daran anschließende Phase, die einen Großteil des 20. Jahrhunderts umfasst und die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre einschließt, als »late colonial colonization«. In allen Globalisierungsperioden kommt es (auch im Bereich der Esskultur) zum Global-Lokal-Kontakt und werden globale Einflüsse lokal ausgehandelt (vgl. Wilk 2006: 24). Als letzte Phase der Globalisierung nennt Wilk den Zeitraum der ›kulturellen Globalisierung‹. Dabei gebraucht er den Begriff allerdings nicht in seiner alltäglichen Bedeutung zur Beschreibung der fortschreitenden kulturellen Homogenisierung und der globalen Ausbreitung einer westlichen Kultur (vgl. Giddens 1995: 214), des Prozesses, der auch als »Americanization« (Appadurai 1990: 295) oder »Coca-Colonization« (Hannerz 1992: 217, 256) bezeichnet wird. Vielmehr definiert er mit dem Begriff einen Zeitraum, der gekennzeichnet ist durch Massenmigration und -tourismus, Expatriates, aber auch durch die Herausforderungen der Eingliederung in den Weltmarkt und des Nation Buildings. Weltweit, d. h. global zu
1
Hier ist auch darauf hinzuweisen, dass die Globalisierung und die Modernisierung trotz der Ähnlichkeit, die die Diskussion beider Phänomene aufweist, nicht gleichzusetzen sind. Auch ist Globalisierung, wie u. a. Robertson in Abgrenzung zu Giddens zeigt (vgl. Robertson 1992: 11), nicht als eine direkte Folge der Moderne zu verstehen, eine Ansicht, die zum Beispiel durch Giddens vertreten wird (vgl. Giddens 1995).
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beobachten, sind in dieser Periode das Wiederaufleben und die verstärkte Wertschätzung des Lokalen (vgl. Wilk 2006: 25, 155-8). In meiner Arbeit soll der Begriff der ›kulturellen Globalisierung‹ in Anlehnung an Richard Wilk zur Beschreibung des Zeitraums verwendet werden, in dem Costa Rica zunehmend durch Prozesse der Massenmigration und des Massentourismus wie auch die wachsende Bedeutung internationaler Wirtschaftsbeziehungen und ausländischer Investitionen geprägt wurde. Diese Einflüsse lassen sich verstärkt in den letzten Jahrzehnten feststellen, so dass man den Beginn der ›kulturellen Globalisierung‹ in Costa Rica meiner Meinung nach Ende der 1970er Jahre ansetzen kann (vgl. auch Molina Jiménez/Palmer 2009: 169).2 Der Begriff der ›kulturellen Globalisierung‹ wird in meiner Arbeit daher zur Bezeichnung einer Ende der 1970er Jahre beginnenden Phase der verstärkten transnationalen Beziehungen sowie eines stärkeren Bewusstseins für das Lokale verwendet. Diese zeitliche Eingrenzung ist auch vor dem Hintergrund, dass das Land und seine Kultur ab der Entdeckung und anschließenden Kolonisierung durch die Spanier im 16. Jahrhundert stets durch globale Prozesse geprägt wurden, von Bedeutung. Gerade die Konsumkultur und die Ernährung stellen dabei Bereiche dar, in denen diese Einflüsse zum Ausdruck kamen; Gerichte und Nahrungsmittel, welche gegenwärtig als Teil der costa-ricanischen Küche verstanden werden, zeugen von der lokalen Aushandlung globaler Einflüsse in der Vergangenheit (vgl. Chang Vargas 2001a: 86; Varela Q. 2007; Vega Jiménez 2004: 133, auch Vega Jiménez 2000; Vega Jiménez 2012). In geschichtswissenschaftlichen Studien wird dabei u. a. aufgezeigt, wie importierte Lebensmittel ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der urbanen Elite zur sozialen Distinktion genutzt wurden. Ermöglicht wurde dies vor allem durch den Kaffeehandel, der nicht nur wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch einen Ausbau der Handelsbeziehungen mit Europa zur Folge hatte (vgl. González Flores 1997: 223-4; Gudmundson 1986: 57, 77; Vega Jiménez 1991: 50, 55-8). Für die Region Talamanca zeigt Paula Palmer, dass die Versorgung mit Lebensmitteln Anfang des 20. Jahrhunderts auch durch transnationale Beziehungen u. a. nach San Andrés gewährleistet war. Die Be2
Meine zeitliche Eingrenzung basiert insbesondere auf statistischen Daten und geschichtswisenschaftlichen Abrissen zur Entwicklung ausländischer Investitionen, Tourismus und Migration in Costa Rica. Auch wenn diese Einflüsse bereits vor Ende der 1970er Jahre bestanden, lässt sich in den letzten dreißig Jahren ein Anstieg erkennen. So wurde zum Beispiel die erste McDonald’s Filiale in Costa Rica schon im Jahr 1970 eröffnet, zu einer Ausbreitung der Fast-Food-Industrie kam es aber insbesondere innerhalb der letzten 20 Jahre (vgl. INCAE 2010: 28, 37-8). Internationale Investoren anzuwerben wurde ab den 1980er Jahren ein immer größeres politisches Anliegen. Ebenso stiegen die Zahlen der Touristen und der Migranten vor allem ab Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre an (vgl. Acuña/Villalobos 2001; Chen Mok 2006: 27-9; Molina Jiménez 2008: 1045, 138).
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deutung dieser Beziehungen verringerte sich mit dem Ausbau der Subsistenzwirtschaft (vgl. Palmer 2005: 47-8). Die fehlende Straßenverbindung nach Puerto Limón oder San José unterstützte darüber hinaus die wirtschaftliche Orientierung zu panamaischen Nachbargemeinden, gerade auch in Hinblick auf den Erwerb von Lebensmitteln (Palmer 2005: 128, auch: Jiménez Acuña 2007: 70-1). Auch in der Vergangenheit wurden also transnationale Beziehungen von der lokalen Bevölkerung genutzt, um den eigenen Lebensstil zu erhalten. Vor dem Hintergrund, dass transnationale Einflüsse das alltägliche Leben in der Phase der ›kulturellen Globalisierung‹ in besonderem Maß prägen, gehe ich in meiner Arbeit der Frage nach, inwieweit und auf welche Weise transnationale Beziehungen von der lokalen Bevölkerung (weiterhin) genutzt werden können, um über den Erhalt oder die Veränderung des eigenen Essverhaltens die eigene Position innerhalb der costaricanischen Gesellschaft zu behaupten oder zu verändern. Durch die Verwendung des Begriffes der ›kulturellen Globalisierung‹ zur Beschreibung des benannten Zeitraums wird diese Bedeutung der vergangenen globalen Einflüsse in der Geschichte Costa Ricas anerkannt. Zudem wird deutlich, dass das, was aktuell als lokale bzw. nationale Küche angesehen wird, als Ergebnis der Aushandlung globaler Einflüsse verstanden werden muss. Mit der Bedeutung der Lokalität spricht Wilk einen zentralen Gegenstand der Globalisierungsdebatten an: Die Beziehung zwischen globalen Einflüssen und dem Lokalen. Zwei wichtige Themen sind in diesem Zusammenhang die Frage nach der Beziehung zwischen globalen Prozessen und lokaler Kultur sowie die Bedeutung der lokalen, regionalen oder nationalen Ebene als Bezugspunkte von Identitäten in Zeiten der Globalisierung. 1.1.1 Globalisierung, Nationalismus und nationale Identität Im Rahmen der Globalisierungsdebatten wird der Stellenwert des lokalen, regionalen oder nationalen Kontextes insbesondere im Hinblick auf dessen Bedeutung für die Herausbildung von Identitäten kontrovers diskutiert. Mit Blick auf die die Staatsgrenzen überschreitenden sozialen, kulturellen und vor allem ökonomischen Beziehungen wird dabei einerseits die wachsende Bedeutungslosigkeit von Nationalstaaten und die schwindende Verbundenheit von Individuen und Nation betont (vgl. Falk 2000: 5). Andererseits geht u. a. Michael Billig in seinem Konzept des banalen Nationalismus darauf ein, wie Bürger eines Nationalstaates durch ihr eigenes, alltägliches Handeln stets ihre Nationalität ausdrücken und so an ihren Platz in der globalisierten Welt erinnert werden (vgl. Billig 1995: 8). In anderen Studien wird gerade die fehlende Verbundenheit als Auslöser von Identitätskrisen thematisiert und gezeigt, wie das Lokale im Rahmen der Neukonstruktion von Identität wieder an Bedeutung gewinnt. Hierbei wird oft die Rele-
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vanz der nationalen Ebene hervorgehoben und der im Rahmen der Globalisierung aufkommende Nationalismus thematisiert (vgl. Arnason 1990: 224-6; Castells 1999: 27-32; Hall 1997: 297). Nach Ansicht Manuel Castells ist dieser Nationalismus allerdings weniger auf die Herausbildung oder die Verteidigung von Nationalstaaten als politische Institutionen ausgerichtet als vielmehr auf die Bewahrung einer gemeinsamen Kultur (vgl. Castells 1999: 31). In Anlehnung an Kosaku Yoshino bezeichnet Castells die aktuellen nationalistischen Tendenzen daher als kulturellen Nationalismus. Kultureller Nationalismus »aims to regenerate the national community by creating, preserving or strengthening a people’s cultural identity when it is felt to be lacking or threatened« (Yoshino 1992: 1, in Castells 1999: 31). Einerseits spielt also das Lokale im Kontext der Globalisierung als Bezugspunkt für die Herausbildung von Identitäten weiterhin eine wichtige Rolle, wodurch auch die Nation als lokale Einheit ein bedeutsamer Bezugsrahmen für Identitätskonstruktionen bleibt. Andererseits ist die Existenz einer gemeinsamen nationalen Identität und Kultur zentrale Bedingung für das Fortbestehen von Nationalstaaten. Die bestehende Relevanz des Lokalen im globalen Kontext bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass der Nationalstaat als politische Einheit ebenfalls bedeutend bleibt. Vielmehr kann die Zentralität des Lokalen der des Nationalstaates auch entgegen wirken. Ein Grund hierfür liegt in der Konstruktion von Nationalstaaten. Diese basiert nach Ansicht vieler Autoren auf der Schaffung von nationaler kultureller Homogenität. Vor diesem Hintergrund beschreiben zum Beispiel Judith Irvine und Susan Gal die Unterdrückung bzw. Leugnung sozialer, kultureller und vor allem sprachlicher Unterschiede als ein zentrales Element der Konstruktion von Gemeinschaften, woraus sich auch die Bedeutung dieses Prozesses für die Bildung eines Nationalstaates und der damit verbundenen homogenen Nationalkultur und Nationalidentität ableitet (vgl. Irvine/Gal 2000: 37-8, 67-70; auch Ayora-Díaz 2010: 400; Billig 1995: 130). Im Nationaldiskurs unterdrückte oder von diesem ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen bilden oft unter Bezugnahme auf das Lokale und eine lokale Kultur eigene lokale Identitäten, die in Abgrenzung zur nationalen Identität entwickelt werden. Für diese Bevölkerungsgruppen kann der globale bzw. transnationale Kontext einen Raum bieten, um transnationale Identitäten zu bilden. Auf diese Weise kann die Bedeutung der Lokalität und der lokalen Kultur für die Konstruktion von lokalen oder regionalen Identitäten der Bedeutung des Nationalstaates im globalen Kontext auch entgegenwirken. Im costa-ricanischen Kontext ist eine nach mehreren Ebenen von Lokalität differenzierte Betrachtung der Beziehung zwischen Lokalität und globalen Einflüssen von Bedeutung. So kann die zunehmende Angst um den Verlust von nationaler Kultur sowie die Aushandlung und Konstruktion von Nationalidentität in Costa Rica vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung globaler Einflüsse verstanden werden.
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In der aktuellen akademischen, politischen und öffentlichen Diskussion der costaricanischen Identität wird insbesondere die Krise der costa-ricanischen Nation und der Nationalidentität thematisiert. Als Verursacher dieser Krise, die sich unter anderem in der wachsenden sozialen Ungleichheit, dem allgemeinen Misstrauen in die Demokratie und einer wahrgenommenen Krise der Moralvorstellungen äußert, gelten auch äußere Einflüsse, insbesondere die transnationale nicaraguanische Migration (vgl. Abarca Díaz et al. 2001: 34-5; Campos Zamora/Tristán Jiménez 2009: 45; Sandoval García 2004: XVI-XVII). Im Zuge dieser Krise der Nation kommt es zu einer Neukonstruktion der costaricanischen Nationalidentität und in diesem Zusammenhang zu einer erneuten Aushandlung kultureller, regionaler und ethnischer Unterschiede. Vor diesem Hintergrund ist es daher interessant, die aktuelle Beziehung zwischen Regionalität und Nationalität zu betrachten. Die Untersuchung der Konstruktion der Nationalküche als wichtigem Element nationaler Kultur kann damit in den Rahmen der gegenwärtigen Debatten um die costa-ricanische Identität eingeordnet werden und wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der Gestaltung sowie der Akzeptanz der Konstruktion von nationaler Kultur und Identität im lokalen Kontext liefern. Darüber hinaus kann eine Erforschung des in diesem Zusammenhang stattfindenden Wandels in der Beziehung zwischen Nation und Region und der Aushandlung dieser Beziehung im transnational geprägten lokalen Kontext einen Beitrag zur Frage nach der Rolle von Nationalstaaten sowie zur Veränderung des Verhältnisses von Region und Nation im Kontext der Globalisierung leisten. 1.1.2 Globalisierung und lokale Kultur3 Vor dem Hintergrund, dass das Lokale durch die Globalisierung nicht an Bedeutung verliert, bildet die Frage nach der Relation globaler Prozesse und lokaler Kultur ein weiteres Thema der Globalisierungsdebatten. Die wachsende Verbundenheit der Welt, die im Konzept der Globalisierung impliziert ist, bedeutet, dass wirtschaftliche, demographische sowie soziale und kulturelle Prozesse, die in einem Nationalstaat, einer Region etc. stattfinden, in ihren Auswirkungen nicht auf diesen Nationalstaat, diese Region etc. beschränkt sind: »[T]he intensification of world-wide social relations which link distant localities in 3
In dieser Arbeit wird der Begriff Kultur zur Bezeichnung der Gesamtheit der Glaubensansichten, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen sowie der Erzeugnisse, die von den Angehörigen einer Gruppe geteilt werden und ihr Verhalten und Zusammenleben regeln, verwendet (vgl. Bates/Plog 1990: 7). Kultur wird als sozial konstruiert aufgefasst, die Gemeinsamkeiten in den Vorstellungen und Handlungen der Angehörigen einer Gruppe als Ergebnis des Aufwachsens im gleichen sozialen Kontext verstanden.
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such a way that local happenings are shaped by events occurring many miles away and vice versa.« (Kearney 1995: 548). Globale Prozesse beeinflussen die lokale Kultur und werden ihrerseits durch lokale Gegebenheiten beeinflusst (vgl. Kearney 1995: 548-9), wodurch sich auch die Unterscheidung zwischen dem Lokalen und dem Globalen, wie u. a. Roland Robertson anmerkt, immer problematischer gestaltet (vgl. Robertson 1992: 52-3). Neben dem Bewusstsein, dass eine Untersuchung lokaler Kultur nie auf den lokalen Kontext beschränkt sein kann, sondern immer auch globale Prozesse berücksichtigen muss, rückte daher immer stärker die Frage nach der Beziehung zwischen globalen Einflüssen und der lokalen Kultur in den Vordergrund der Globalisierungstheorien. Der Annahme, dass die Welt insgesamt nicht nur vernetzter, sondern auch kulturell einheitlicher ist, und der daraus folgenden Angst vor kultureller Homogenisierung (vgl. Giddens 1995: 214; Ritzer 1995: 15), stehen Theorien gegenüber, die die lokalen Antworten auf die Globalisierung stärker in den Mittelpunkt rücken (vgl. Friedman 1994; Hannerz 2000; Howes 2000; Robertson 1992). Arjun Appadurai thematisiert die im Rahmen der Globalisierung bestehenden Spannungen zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Heterogenisierung und vereint so beide Tendenzen (vgl. Appadurai 1990: 295). Jonathan Friedman vertritt einen ähnlichen Standpunkt, wenn er die kulturelle Fragmentierung und die Homogenisierung als zwei Trends der Globalisierung bezeichnet und auf das Zusammenspiel von kulturellen Identitäten und dem Weltmarkt hinweist (vgl. Friedman 1990: 311-12). George Ritzer erklärt die Frage, ob Globalisierung zu einer homogenen Welt führt oder eine Zunahme der Heterogenität zur Folge hat, mit der Aussage, dass Globalisierung sowohl stärkere Homogenität als auch Heterogenität bewirkt, für beantwortet (vgl. Ritzer 2004: 236). Das Lokale stellt also keinen Gegensatz zu globalen Prozessen dar, vielmehr handelt es sich um einen Aspekt des Globalen, da auch die Konstruktion des lokalen Partikularismus immer stärker weltweit institutionalisiert wird (vgl. Robertson 1995: 38).4 In Hinblick auf die Beziehung zwischen globalen Einflüssen und lokaler Kultur kann man daher davon ausgehen, dass globale Prozesse die lokale Kultur unterstützen können, zu einem ›Wiederauferstehen‹ dieser beitragen können oder zur Erschaffung einer neuen lokalen Kultur (vgl. Ritzer 2004: 236).5
4
In diese Argumentationslinie lässt sich auch Wilks Definition der Phase der ›kulturellen Globalisierung‹ als einem Zeitraum, in dem das Lokale zunehmend an Bedeutung gewinnt, einordnen (vgl. Wilk 2006: 156-8).
5
Lokalität kann in diesem Zusammenhang ebenfalls sowohl in Bezug auf die Ebene des Nationalstaates wie auch die lokalen Ebenen innerhalb eines Nationalstaates angewendet werden. Denn nicht nur auf nationaler Ebene wird den Globalisierungsprozessen begegnet; wie u. a. David Bell und Gill Valentine zeigen, werden besonders Regionen oft als
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Ausgehend von der Annahme, dass Globalisierungsprozesse nicht zu einer kulturell homogenen Welt führen und auch lokale Identitäten nicht an Bedeutung verlieren, stellt sich die Frage, wie die globalen Einflüsse in spezifischen lokalen Kontexten verhandelt werden. Drei Theorien, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind, sind die Theorie der ›Kreolisierung‹ (vgl. Hannerz 2000), die Theorie der ›Glokalisierung‹ (vgl. Robertson 1992; 1995) und die Theorie des Widerstandes. Im folgenden werde ich diese Theorien darstellen und darauf eingehen, inwieweit sie auf den costa-ricanischen Kontext und mein Forschungsthema des Wandels des Konzeptes der costa-ricanischen Küche und des Essverhaltens der costa-ricanischen Bevölkerung angewendet werden können. Auch werde ich darauf eingehen, inwieweit diese Theorien nicht nur bei der Schilderung des Verhältnisses von globaler und lokaler Ebene, sondern auch der im costa-ricanischen Kontext bedeutenden Beziehung zwischen nationaler und regionaler/lokaler Ebene von Nutzen sein können. 1.1.2.1 ›Hybridisierung‹ oder ›Kreolisierung‹ Zur Beschreibung der Interaktion globaler Prozesse und lokaler Kulturen wird oft das Konzept der ›Hybridisierung‹ oder ›Kreolisierung‹ herangezogen. ›Kreolisierung‹ wird innerhalb der einzelnen akademischen Disziplinen kontrovers diskutiert. Oft wird Kreolisierung als räumlich und zeitlich mit den Sklavenhaltergesellschaften der Karibik verbunden betrachtet (vgl. Mintz/Price 1985: 6-7). Als charakteristisch für den Kreolisierungsprozess gelten damit Zwang und ein Machtungleichgewicht (vgl. Müller/Ueckmann 2013:12). Stuart Hall versteht Kreolisierung zum Beispiel als »[…] forced transculturation under circumstances peculiar to transportation, slavery, and colonization« (Hall 2003: 186). Edouard Glissant bezieht sich in seinem Konzept der Kreolisierung zunächst auf den Kontext der Karibik und geht auf das Trauma der versklavten und verschleppten Afrikaner und Afrikanerinnen ein. Kreolisierung ist für ihn eine Art Überlebensstrategie, eine Strategie, dem vollständigen Verlust der eigenen Kultur entgegenzuwirken (vgl. Glissant 1989: 14-15, Müller/Ueckmann 2013: 10). Diesen Prozess sieht er jedoch nicht als auf die Karibik beschränkt an: »Ich behaupte also, daß [sic] die Welt sich kreolisiert. Schlagartig und dabei in vollem Bewusstsein, werden die Kulturen der Welt miteinander in Kontakt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch, was häufig zu unabwendbaren Zusammenstößen, erbarmungslosen Kriegen führt, aber es sind auch Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung erkennbar.« (Glissant 2005: 11). Der Prozess der Kreolisierung ist konfliktreich, das Ergebnis nicht vorhersehbar (vgl. Glissant 2005: 14). Zentral für eine gelungene Kreolisierung ist nach Glissant »eine wechselseitige Wertschätzung der heterogenen Elemente, die zueinander in Beziehung gesetzt werden[…]« (Glissant 2005: 14; lokaler kultureller Kontrapunkt der vermeintlichen globalen kulturellen Homogenisierung entgegengesetzt (vgl. Bell/Valentine 1997: 152-3, 161).
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vgl. auch Müller/Ueckmann 2013: 9). Die hier geforderte Gleichrangigkeit findet sich im Konzept von Ulf Hannerz (2000), das in dieser Arbeit verwendet werden soll. Hannerz verwendet den Begriff ›Kreolisierung‹ in Anlehnung an die Linguistik zur Beschreibung der Entstehung neuer Kultur durch Vermischen zuvor getrennter, unterschiedlicher Bedeutungsströme (vgl. Hannerz 2000: 25). Die Globalisierung kann nach Hannerz ein solches Entstehen neuer Kultur, in der Elemente einer lokalen Kultur kombiniert sind mit globalen Einflüssen bzw. mit Elementen aus anderen lokalen Kulturen, bewirken. Im Konzept der ›Kreolisierung‹ sieht Hannerz eine Möglichkeit, einer Reihe von Aspekten der kulturellen Geschichte der Gegenwart zu begegnen und ein kohärentes Verständnis von Nationalkultur zu erlangen. Entgegen einer Angst vor kultureller Homogenisierung wird im Konzept der ›Kreolisierung‹ die Hoffnung auf ein Fortbestehen kultureller Vielfalt aufrechterhalten, die wachsende weltweite Verbundenheit wird als potentieller kultureller Gewinn gesehen. Wichtig ist, dass die ›creole culture‹ nicht als zweitrangig gegenüber einer ›pure culture‹ zu verstehen ist, sondern als Ausdruck von Kreativität und Vielfalt (vgl. Hannerz 2000: 66, 68). Kern des Konzepts einer ›creole culture‹ ist nach Hannerz »[…] a combination of diversity, interconnectedness, and innovation, in the context of global centerperiphery relationships« (Hannerz 2000: 67). Diversität bezieht sich hierbei auf das rezente Zusammenfließen verschiedener und getrennter Traditionen. ›Interconnectedness‹ oder Verbundenheit wird zur Bezeichnung des Spektrums interagierender Bedeutungen, durch welches die unterschiedlichen historischen Quellen einer Kultur unterscheidbar und in ihrer Aktivität sichtbar werden, verwendet. Der Kontext der Zentrum-Peripherie-Beziehungen verweist auf den räumlichen Aspekt des ›Kreolisierungsprozesses‹ sowie die Tatsache, dass soziale Macht und materieller Wohlstand mit dem Spektrum kultureller Formen verbunden sind. So gibt es einerseits die Kultur des Zentrums, die den kulturellen Standard festlegt und mit Prestige verbunden ist, andererseits die Kultur der Peripherie, welche sich durch Vielfalt auszeichnet. Zwischen diesen beiden Endpunkten existieren nach Hannerz eine Vielzahl von Mischungen (vgl. Hannerz 2000: 67). Trotz seiner grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber ›Kreolisierungsprozessen‹ bleibt auch bei Hannerz das Problem des Machtungleichgewichts nicht unberücksichtigt. Hannerz verweist darauf, dass die Durchlässigkeit des Kontinuums durch eine Vielzahl von Faktoren wie zum Beispiel soziale Unterschiede beschränkt sein kann. Nichtsdestotrotz ist der ›Kreolisierungsprozess‹ nicht als konstanter Druck vom Zentrum auf die Peripherie, sondern als kreative Wechselwirkung zu verstehen (vgl. Hannerz 2000: 67-8). Insgesamt gesteht Hannerz den lokalen Akteuren mehr Handlungsfreiheit zu als Konzepte, die die Kreolisierung auf karibische Sklavenhaltergesellschaften bezogen.
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Jonathan Friedman kritisiert Hannerz’ Ansatz sowie die Idee der ›Kreolisierung‹ an sich als auf einem essentialistischen Kulturkonzept basierend. Er weist die Annahme von ›reinen‹6 Kulturen zurück und beanstandet, dass in diesen Ansätzen die Sichtweise von Kultur als soziale Organisation von Sinn vernachlässigt wird. Kultur wird in den Ansätzen zur ›Kreolisierung‹ nach Friedmans Ansicht zu sehr auf die Sichtweise von Kultur als Produkt beschränkt, das Verständnis von Kultur als Prozess der Bedeutungsproduktion vernachlässigt (vgl. Friedman 1994: 208-10; auch Friedman 1999). In Hinblick auf meine Arbeit ist das Konzept der ›Kreolisierung‹ dennoch in mehrfacher Hinsicht relevant. So wird in aktuellen akademischen und politischen Diskursen die costa-ricanische Küche als ›Cocina Criolla‹ thematisiert, mit dem Verweis auf deren Entstehung aus dem Zusammenfließen verschiedener kulinarischer Traditionen (vgl. z.B. Álvarez Masís 2007: 21; Sedó Masís 2008a: 14-15). Ebenso wird das Nationalgericht Gallo Pinto heute als Ergebnis eines kulinarischen ›Kreolisierungsprozesses‹ betrachtet (vgl. Vega Jiménez 2012: 227).7 Daher ergibt sich auch die Frage, inwieweit das Konzept nicht nur auf die Herausbildung der Nationalküche in der Vergangenheit anwendbar ist, sondern auch im gegenwärtigen Kontext zur Beschreibung der Beziehung von globalen Einflüssen und der Konstruktion der lokalen Küche dient. Ein weiterer bedeutender Aspekt ist der Fokus auf die Beziehung Zentrum-Peripherie. Diese kann zur Beschreibung der Interaktion globaler Prozesse und lokaler costa-ricanischer Kultur herangezogen werden. Andererseits kann aufgrund der Marginalisierung regionaler Bevölkerungsgruppen auch die Beziehung zwischen Nation und Region als Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie verstanden werden. Das Konzept kann also sowohl in Hinblick auf die Aushandlung nationaler Einflüsse auf lokaler Ebene sowie globaler Einflüsse auf nationaler oder lokaler Ebene dienen.
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Hier ist allerdings anzumerken, dass Hannerz nicht davon ausgeht, dass irgendeine Kultur ›rein‹ im Sinne von nicht das Ergebnis von Vermischungen verschiedener Einflüsse ist und er den Begriff zur Bezeichnung klar unterscheidbarer kultureller Strömungen verwendet (vgl. Hannerz 2000: 65-6). Auch meine Interviewpartner ordneten einige Elemente und Produkte eindeutig einzelnen kulinarischen Kulturen zu, weshalb Hannerz’ Konzept durchaus auf den lokalen Kontext anwendbar ist.
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Dabei handelt es sich entgegen der u. a. von Zilkia Janer thematisierten Reduktion des autochthonen Beitrags zur Nationalküche auf die natürlichen Grundzutaten (vgl. Janer 2007: 385) allerdings um ein ausgeglicheneres Machtverhältnis. Es werden auch eingeführte Zutaten zur Zubereitung ehemals autochthoner Gerichte verwendet, wie sich u. a. am Beispiel des Tamals zeigt (vgl. Punkt 3.3.3).
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1.1.2.2 Kulturelle Aneignung und Glokalisierung Neben der Entstehung von ›hybriden‹ oder ›kreolischen‹ Kulturen stellt die kulturelle Aneignung eine weitere mögliche Folge der Globalisierung dar. Anders als im Fall der ›Kreolisierung‹ beschreibt die Theorie der kulturellen Aneignung nicht das Entstehen neuer Kultur durch Prozesse der Vermischung unterschiedlicher Bedeutungsströme, sondern den Vorgang der Eingliederung globaler in die lokale Kultur. Als Ergebnis entsteht keine neue Kultur, denn der fremde Einfluss wird im Rahmen der Aneignung so an die lokale Kultur angepasst, dass der lokale kulturelle Kontext nicht beeinträchtigt wird. Wichtiger Vertreter der Theorie der kulturellen Aneignung ist u. a. Roland Robertson, der in seinem Werk Globalization: Social Theory and Global Culture (1992) die Versuche der ›realen Welt‹ »[…] to bring the global, in the sense of the macroscopic aspect of contemporary life, into conjunction with the local, in the sense of the microscopic side of life in the late twentieth century« (Robertson 1992: 173) als zentralen Gegenstand der Globalisierungsforschung definiert. Diese Versuche, das Globale in das lokale Leben einzugliedern, also die Verbindung von Makro- und Mikroebene des Alltaglebens, von Universellem und Partikularem, bezeichnet er als »glocalization« (Robertson 1992: 173).8 Globale Güter werden im Prozess der ›Glokalisierung‹ durch die lokale Kultur angeeignet, indem sie in die bestehende kulturelle Ordnung eingegliedert werden. Durch diesen Prozess kommt es zwar zu Veränderungen in der Kultur, die kulturelle Ordnung an sich wird dadurch jedoch nicht beeinträchtigt. Der zur Bezeichnung dieses Vorgangs verwendete Begriff ›Glokalisierung‹ wurde in den 1990er Jahren zu einem Schlagwort der Marktwirtschaft. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Konsumkultur im Rahmen der Globalisierung eine zentrale Rolle zukommt und das Lokale eine wichtige Quelle und einen wichtigen Absatzmarkt darstellt: »A global consumer culture encourages glocalization because the local provides a valuable resource for our supralocal exchanges and therefore leads to increased heterogeneity of content along with homogeneity of form.« (Ritzer 2004: 237).9
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Dabei bezieht er sich auf ein japanisches Konzept, dochakuka, welches er als »global localization« (Robertson 1992: 173; 1995: 28) übersetzt, und welches in Japan zur Beschreibung von marktwirtschaftlichen Themen entwickelt wurde, zur Zeit der Eingliederung Japans in den Weltmarkt (vgl. Robertson 1992: 173).
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›Glokalisierung‹ nimmt damit Bezug auf die zunehmende Homogenität globaler kultureller Strömungen und globaler Einflüsse, wie zum Beispiel die Rationalisierungstendenzen (vgl. Ritzer 2004: 239) und das gleichzeitige Fortbestehen von lokaler Heterogenität, welche durch die jeweils lokal unterschiedliche Form der Aufnahme und Aneignung dieser globalen Einflüsse bedingt ist (vgl. Ritzer 2004: 236).
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Das Konzept der ›Glokalisierung‹ kann herangezogen werden, um zu untersuchen, inwieweit Elemente globaler Kultur in die lokale, costa-ricanische Kultur eingegliedert werden. Im Zusammenhang mit den globalen Einflüssen auf die Ernährung kann dabei die Eingliederung von Nahrungsmitteln und Gerichten fremder kulinarischer Traditionen als Glokalisierungsprozess verstanden werden. Als Beispiel einer solchen ›Glokalisierung‹ in der costa-ricanischen Vergangenheit kann der Konsum von Kaffee angeführt werden, dessen Aufstieg vom exotischen, für den Export angebauten Produkt zum Nationalgetränk und Merkmal der costa-ricanischen Identität Patricia Vega Jiménez in ihrem Buch Con Sabor a Tertulia: Historia del Consumo del Café en Costa Rica (1840-1949) nachzeichnet (vgl. Vega Jiménez 2004; auch 2000). Obwohl das Konzept zur Beschreibung der Beziehung von lokaler und globaler Ebene dient, kann man davon ausgehen, dass es auch in Hinblick auf die Beziehungen von nationaler und lokaler Ebene zu Prozessen kultureller Aneignung kommt. 1.1.2.3 Resistance oder Widerstand Einen Gegensatz zur Vermutung, dass die Globalisierung unweigerlich zu einer weltweiten Homogenisierung führt, bildet die These, dass die Globalisierung im lokalen Kontext Ablehnung bzw. Widerstand gegen die globalen Einflüsse hervorruft. Dieser Widerstand gegen die Globalisierung ist oft durch die Angst vor dem Verlust der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenständigkeit und die Furcht vor kultureller Homogenisierung motiviert. Andererseits kann er auch Folge eines realen oder empfundenen Verlustes der eigenen Kultur sein. Entgegen einer Aufgabe der eigenen lokalen Kultur kommt es zu einem Festhalten bzw. einer Betonung dieser und einem Zurückweisen der fremden Einflüsse. Der Widerstand gegen die globalen Einflüsse findet nach Jonathan Friedman dabei oft in Form von sozialen Bewegungen statt, deren Ziel eine Wiederbelebung von zuvor unterdrückten Lebensstilen oder Identitäten ist. Neben dem Versuch, die ›traditionelle‹ Kultur beizubehalten, stellt aber auch die Herausbildung einer eigenständigen sozialen Ordnung ein Ziel solcher Bewegungen dar (vgl. Friedman 1994: 192). Die Erfindung von Traditionen kann in gewisser Weise als eine Folge des Widerstands gegen die Globalisierung und die wahrgenommene Notwendigkeit, die eigene Kultur und Gesellschaft von der homogenen Masse abzugrenzen, angesehen werden (vgl. Robertson 1992: 179). Über die Theorie des Widerstandes kann auch der unter Punkt 1.1.1 beschriebene aktuelle Anstieg nationalistischer Tendenzen verstanden werden. So versteht Castells den heutigen Nationalismus als Gegenbewegung gegen die Macht globaler Eliten zum Schutz der eigenen, nationalen Kultur (vgl. Castells 1999: 29). Gleichzeitig verweist er mit seinem Konzept der ›Widerstandsidentität‹ darauf, dass es innerhalb von Staaten verstärkt zu Widerstand gegen die von dominanten Institutio-
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nen eingeführten Identitätskonstruktionen, die ›legitimierenden Identitäten‹, kommt (vgl. Castells 1999: 7-9; siehe Punkt 1.3.3). Das Konzept des Widerstandes kann herangezogen werden, um die aktuell verstärkten Bemühungen, traditionelle Gerichte der costa-ricanischen Küche zu erhalten, sowie das wachsende Interesse an einer nationalen Küche zu erklären. Die Wiederbelebung und Neuerfindung der costa-ricanischen Nationalküche könnte als Beispiel für den von Bell und Valentine als »defensive food nationalism« (Bell/Valentine 1997: 207) bezeichneten Prozess gelten. Ebenso wie sich auf nationaler Ebene Widerstand gegen globale Einflüsse erheben kann, kann es allerdings auch auf lokaler bzw. regionaler Ebene zu Widerstand gegen homogenisierende Tendenzen der Nationalstaatsbildung bzw. die nationalen Einflüsse kommen. Am Beispiel der Untersuchung der Konstruktion der costa-ricanischen Nationalküche sowie der Ernährungsweise der costa-ricanischen Bevölkerung im transnational geprägten Costa Rica wird dargestellt, wie globale Einflüsse im lokalen Kontext verhandelt werden. Damit leistet die Arbeit einen Beitrag zur Diskussion des Verhältnisses von globalen Prozessen und lokaler Kultur. Darüber hinaus liefert diese Erforschung auch Erkenntnisse darüber, wie lokale Akteure globale Einflüsse nutzen, um die eigene Position im Nationalstaat zu festigen oder zu verändern bzw. um den Anstrengungen, eine Nationalkultur zu erschaffen, entgegenzuwirken. Als wichtigste globale Einflüsse werde ich mich mit dem Tourismus und der Transmigration auf zwei transnationale Prozesse konzentrieren. Diese Prozesse spielen in Costa Rica aktuell wirtschaftlich eine herausragende Rolle. Zudem beeinflussten und beeinflussen sowohl der Tourismus als auch die Beziehung zu Nicaragua10 die Diskurse über die nationale Identität nachhaltig. Im Folgenden werde ich daher auf die Theorie des Transnationalismus eingehen.
1.2 T RANSNATIONALISMUS
UND
G LOBALISIERUNG
Die Transnationale Forschung untersucht soziale, wirtschaftliche, demographische und kulturelle Prozesse, die in einer Nation stattfinden, diese aber überschreiten. In dieser Hinsicht weist das Konzept Ähnlichkeit zum Konzept der Globalisierung auf, unterscheidet sich aber insofern von diesem, als dass die transnationalen Prozesse als in einer Nation verankert angesehen werden: »Whereas global processes are largely decentered from specific national territories and take place in a global space, transnational processes are anchored in and transcend one or more nation-states« (Kearney 1995: 548; Mahler 1998: 66). Der Begriff ›Nation‹ bezieht sich dabei auf soziale, territoriale und kulturelle Aspekte des betroffenen Nationalstaates (vgl. 10 Dies ist insbesondere relevant, da der Großteil der in Costa Rica lebenden Migranten aus Nicaragua stammt.
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Kearney 1995: 548). Obwohl transnationale Praktiken also Nationen überschreiten, bleiben lokale Kontexte und Bedeutungssysteme zentral (vgl. Guarnizo/Smith 1998: 11, 14). Das verdeutlicht auch die folgende Definition von Nina Glick Schiller und Georges E. Fouron: »Transnational political, economic, social, and cultural processes (1) extend beyond the borders of a particular state but are shaped by the policies and institutional practices of a particular and limited set of states; and (2) include actors that are not states.« (Glick Schiller/Fouron 1999: 344)
Vor dem Hintergrund, dass die eindeutige regionale Verortung von Produkten im Bereich des Konsumverhaltens in Costa Rica durchaus von Bedeutung ist, ist diese im Transnationalismus-Konzept implizite Bedeutung des lokalen Kontextes hilfreich. Die wachsende Irrelevanz von Staatsgrenzen, welche im Konzept ebenfalls angesprochen wird, kann nach Inderpal Grewal und Caren Kaplan darauf zurückgeführt werden, dass der Kultur für die Herausbildung von Identität eine wichtigere Rolle zukommt als dem Nationalstaat als politischer Einheit (vgl. Grewal/Kaplan 2001: 665).11 Auch Nina Glick Schiller und Georges E. Fouron halten fest, dass transnationale Netzwerke nicht zwangsläufig Nationalismen entgegenwirken. Sie weisen jedoch darauf hin, dass diese mit Konzepten des Nationalstaates verbunden sind, die territoriale Grenzen überschreiten (Glick Schiller/Fouron 1999: 357). Ihr Ansatz des »long distance nationalism unterstreicht die Annahme, dass Nationen und Nationalstaaten in Zeiten der Globalisierung nicht an Bedeutung verlieren. Gleichzeitig betonen sie, dass sich dafür auf institutioneller und ideologischer Ebene weitreichende Veränderungen vollziehen müssen (vgl. Glick Schiller/Fouron 1999: 342; Glick Schiller/Fouron 2001: 17-31). Das Konzept des Transnationalismus dient zur Beschreibung einer Bandbreite von Aktivitäten: »from social movements to economic relations to mass media to migrants’ ties to their homelands« (Mahler 1998: 66). Diese Bandbreite wurde oft kritisiert. Trotz dieser Kritik scheint es mir sinnvoll, das Konzept des Transnationalismus nicht nur auf den Bereich der Transmigration zu beschränken, wie dies u. a. von Nina Glick Schiller et al. (1992)12 getan wird. Luis Eduardo Guarnizo und Mi11 Das Konzept des Transnationalismus lässt sich damit in die vorangegangene Diskussion über die Bedeutung des Lokalen sowie der Nationalstaaten im Kontext der Globalisierung einordnen. Mit dem Hinweis, dass kulturelle Gemeinsamkeiten für die Identitätsbildung zentraler sind als der politische Nationalstaat, ist es mit dem von Castells aufgegriffenen Konzept des ›kulturellen Nationalismus‹ vereinbar und mit Castells Auffassung, dass Kultur die wichtigste Basis der Identitätsbildung ist (vgl. Castells 1999: 6). 12 Glick Schiller et al. definieren Transnationalismus »[…] as the process by which immigrants build social fields that link together their country of origin and their country of sett-
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chael Peter Smith zählen zu den transnationalen Prozessen nicht nur Migrationsprozesse, sondern auch die Grenzüberschreitung durch Kommunikationsmedien, Tourismus oder das Unternehmertum von Expatriates. Transnationale Räume entstehen durch den beständigen Fluss von Ideen und Information, wie er durch transnationale Netzwerke von Migranten, aber auch durch globale Medien oder religiöse und säkulare Rituale erfolgt (vgl. Guarnizo/Smith 1998: 14, 19). Da im Zusammenhang mit meiner Arbeit sowohl Prozesse der Transmigration in Bezug auf den transnationalen Raum Costa Rica-Nicaragua sowie den transnationalen karibischen Raum als auch transnationale Beziehungen in Form von Tourismus sowie der Fluss von Ideen und Bedeutungskonstruktionen durch globale Medien und transnationale Wirtschaftsbeziehungen wichtig sind, erscheint mir in diesem Fall die weiter gefasste Definition hilfreich (vgl. auch Vertovec 2009: 12). In meiner Arbeit werde ich mich aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen sowie der historischen und gegenwärtigen Relevanz beider Prozesse im costa-ricanischen Nationalitätsdiskurs in erster Linie auf den Tourismus und die Transmigrationsbeziehungen konzentrieren. Dabei erweist sich auch die verstärkt akteurszentrierte Perspektive des transnationalen Forschungsansatzes als Vorteil. Ein wichtiges Thema innerhalb der Transnationalismusforschung stellt die Frage nach dem Verhältnis von transnationalen Prozessen und Machtbeziehungen dar. Sarah Mahler beschreibt vor diesem Hintergrund drei wichtige Forschungsfragen: »(1) assessing whose interests are served by engaging in transnational activities, (2) determining whether such activities reaffirm and/or reconfigure ›traditional‹ relations of power and privilege, and (3) the implications of transnationalism, particularly with respect to metanarratives of power.« (Mahler 1998: 87)
Transnationale Felder können einerseits Kontexte darstellen, in denen die sozialen Akteure ihre soziale und ökonomische Situation verbessern können, wie u. a. Luin Goldring am Beispiel mexikanischer Migranten zeigt (vgl. Goldring 1998: 167). Andererseits werden bestehende Machtstrukturen im transnationalen Kontext auch aufrechterhalten. Während im Rahmen von Studien zur Globalisierung in der Regel eine Verstärkung der Marginalisierung der vom Nationalitätsdiskurs ausgeschlossenen Gruppen als Folge der zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung betrachtet wird (vgl. Brysk/Shafir 2004a: 7), kann der transnationale Kontext als ein Rahmen aufgefasst werden, in dem soziale Akteure auf die eigene Marginalisierung reagieren und sich dieser widersetzen können. Ebenso können soziale Akteure den Raum nutzen, um die eigene Position zu behaupten.
lement« (Glick Schiller et al. 1992: 1) und beschränken damit das Konzept des Transnationalismus auf den Bereich der Transmigration.
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In meiner Studie werde ich mich auf lokale Akteure in transnational geprägten Kontexten konzentrieren. Im Mittelpunkt der Studie stehen nicht die transnationalen Akteure wie Touristen oder Transmigranten,13 sondern Akteure, die im transnational geprägten Raum vom Verkauf der lokalen oder nationalen Küche leben. Mein Interesse gilt dabei der Frage, auf welche Weise der transnationale Rahmen für diese lokalen Akteure einen Raum darstellt, in dem sie nicht nur ihre Identität und Küche, sondern auch ihre Stellung im nationalen Kontext verändern oder bekräftigen können. Nachdem unter Punkt 1.1.2 bereits die Interaktion lokaler Kultur und globaler Einflüsse thematisiert wurde, werde ich nun auf das Verhältnis von lokaler (Ess-) Kultur und den transnationalen Beziehungen Tourismus und Transmigration eingehen. Beide Beziehungen sowie die Einstellungen der lokalen Bevölkerung zu Tourismus und Transmigration können ihrerseits die Prozesse der ›Kreolisierung‹, der kulturellen Aneignung oder des Widerstandes determinieren. 1.2.1 Tourismus und lokale (Ess-)Kultur Das aktuell vorherrschende Interesse am Tourismus ist oft durch die Tatsache motiviert, dass der Tourismus seit Ende der 1980er Jahre zur globalen Massenindustrie wurde. Touristen dringen heute in die entlegensten Gebiete der Erde vor. Die Wechselbeziehung zwischen lokaler Kultur und Tourismus bildet daher seit langem eine zentrale Frage in der Tourismusforschung. Ähnlich der im Zusammenhang mit der Globalisierung an sich bestehenden Ängste vor kultureller Homogenisierung wird und wurde dabei der Tourismus oft als die lokalen Kulturen und Bedeutungssysteme zerstörend und die Welt homogenisierend angesehen (vgl. Coleman/Crang 2002: 1-2). John Urry versteht den Tourismus als eine Freizeitaktivität, welche einen Gegensatz zur Alltagserfahrung der Touristen darstellt. Mit dem ›Tourist Gaze‹, dem touristischen Blick, definiert er dabei eine Sichtweise, die auf die Wahrnehmung von Unterschieden und Besonderheiten ausgerichtet ist. Hinsichtlich ihrer Erwartungen an ihre Reisen ordnet er Touristen einem ›Collective‹ und ›Romantic Tourist Gaze‹ zu. Im Fall des ›Collective Tourist Gaze‹ wird etwas dann sehenswert bzw. zu einer wertvollen touristischen Erfahrung, wenn eine Vielzahl anderer Touristen es als Attraktion bewertet. In diesem Fall ist also die Präsenz anderer Touristen wichtig, weshalb der ›Collective Tourist Gaze‹ auch mit der Form des Massentou-
13 Im Fall der Angehörigen der afrokaribischen Bevölkerung an meinem Forschungsort in Puerto Viejo de Talamanca, Limón könnte man allerdings die Bezeichnung ›Transmigranten‹ verwenden.
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rismus in Verbindung steht.14 Die Touristen, denen der ›romantic tourist gaze‹ zugeschrieben wird, suchen hingegen einen individuellen, einzigartigen Kontakt zu einer fremden, authentischen Kultur und einem noch nicht durch die Masse zerstörten Ort (vgl. Urry 1990: 27-33; 2002: 40-5).15 Die Suche nach Authentizität hat zur Folge, dass sich die Tourismusindustrie fortlaufend neue Orte und Erfahrungen aneignet. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die authentischen und unberührten Orte für den Touristen stets unerreichbar bleiben (vgl. Coleman/Crang 2002: 3; Urry 1990: 32-3; 2002: 44). Die touristische Suche nach neuen Erfahrungen erfordert eine Betonung der Einzigartigkeit und Neuartigkeit eines Ortes, um diesen in einer Welt voller ähnlicher Reiseziele zu einem für Touristen interessanten Ziel zu machen. Anliegen der Tourismusindustrie ist es daher, die Verschiedenheit einzelner Orte hervorzuheben (vgl. Sheller/Urry 2004a: 1). Das Herausstellen der Spezifität eines Ortes geschieht oft unter Bezugnahme auf die Vergangenheit und die traditionelle lokale Kultur. Während die Vermarktung lokaler Tradition im touristischen Kontext kritisiert wurde, kann sie für die lokale Bevölkerung auch eine Möglichkeit bilden, die eigene Kultur und das eigene kulturelle Wissen wirtschaftlich zu nutzen (vgl. Howes 2000a: 2, 12-13). Andererseits ist jedoch anzumerken, dass die lokalen Traditionen im Zuge der Erschließung einer Region als touristisches Ziel oft neu erfunden werden; d. h. die vermarktete ›traditionelle‹ lokale Kultur entsteht oft erst im Zusammenhang mit dem Tourismus. Ein Grund für diese Neuerfindung ist auch die Orientierung an Fremdbildern. Die vermarktete Kultur muss die touristischen Ansichten darüber, was sehenswert ist und was nicht, sowie die Vorstellungen der Touristen bezüglich der Kultur, die sie vorzufinden erwarten, erfüllen. Den Auffassungen der Touristen, dem ›Tourist Gaze‹, sollte dabei nicht widersprochen werden, vielmehr sollten diese bestärkt werden (vgl. Urry 2002: 59; auch 1990: 26-7).16 Wenn es, wie Eric Cohen und Nir Avieli anmerken, bisher auch kaum detaillierte Studien zum Konsumverhalten von Touristen gibt (vgl. Cohen/Avieli 2004: 756), 14 Da das touristische Erlebnis vor allem durch die Anwesenheit von anderen Touristen an Bedeutung gewinnt, handelt es sich bei den aufgesuchten Orten auch um solche, die mit der entsprechenden touristischen Infrastruktur ausgestattet sind, wodurch Touristen alle Annehmlichkeiten erwarten können, die sie auch von zu Hause gewohnt sind. Zu dieser Kategorie zählen daher auch die von Ulf Hannerz in Anlehnung an Paul Theroux als »home-plus«- Touristen bezeichneten Massentouristen (vgl. Theroux 1986: 133 in Hannerz 2000: 104-5). 15 Mit der Suche nach Authentizität greift Urry ein von Dean MacCannell (1976) als zentrales Merkmal des Tourismus definiertes Element auf (vgl. Urry 1990: 33). 16 Die Anpassung an den ›romantic tourist gaze‹ hat Urrys Ansicht nach ebenfalls eine weltweite Homogenisierung von touristischen Erfahrungen zur Folge (vgl. Urry 1990: 32).
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ist die kulinarische Kultur im touristischen Kontext allein vor dem Hintergrund, dass Touristen sich ernähren müssen, besonders relevant. Cohen und Avieli bekräftigen, dass die lokale kulinarische Kultur sowohl Attraktion als auch Hindernis für die touristische Entwicklung eines Ortes sein kann (vgl. Cohen/Avieli 2004). Die Ausbreitung der globalen Massenkultur kann Tourismus in Form von Pauschaltourismus erleichtern, aber auch die lokale Küche kann an Bedeutung gewinnen (vgl. Richards 2002: 6-8). Mit Blick auf den Bereich der traditionellen Landwirtschaft weist Rebecca Torres z. B. auf die negativen Auswirkungen der durch den Massentourismus gestiegenen Nachfrage nach Importgütern in Yucatan hin (vgl. Torres 2002), andererseits ist das touristische Bedürfnis nach lokaler Spezifität nicht zu vernachlässigen. Wie für die lokale Kultur allgemein beschrieben, muss die Besonderheit der kulinarischen Kultur hervorgehoben werden, damit die kulinarische Kultur zu einem touristischen Erlebnis wird, für das Touristen gegebenenfalls den Ort selbst aufsuchen (vgl. Kivela/Crotts 2006; Richards 2002: 11-14). Am Beispiel Belizes zeigt Richard Wilk, wie es insbesondere aus der Notwendigkeit heraus, Touristen eine lokale, fremde Küche anbieten zu können, zur Herausbildung einer belizischen Küche kam. Er verdeutlicht dabei auch den entscheidenden Einfluss der Vorstellungen der Touristen, welche in Belize eine exotische, tropische Küche erwarten (vgl. Wilk 2006: 177-82).17,18 In Costa Rica stellt sich über den Aspekt des Bedeutungsgewinnes einer Nationalküche im touristischen Kontext (vgl. Álvarez Masís 2007: 27; Ross González 2001: X, 31) auch die Frage nach der Aushandlung der Fremdbilder und -einflüsse im Rahmen der Vermarktung der lokalen Küche an Touristen. Wie unter anderem im Zusammenhang mit den Nationalitätsdiskursen deutlich wird, kam und kommt den Vorstellungen und Beurteilungen der Touristen eine zentrale Rolle bei der Formierung der Nationalidentität zu (vgl. Sandoval García 2004: 103; vgl. Kapitel 2). Vor diesem Hintergrund ist die Untersuchung der lokalen Verhandlung touristischer Ansichten bezüglich der lokalen Küche ebenso wie der Ernährung an sich interessant. Das Feld des Tourismus wird in Costa Rica als Bereich angesehen, in welchem sich wirtschaftliche Perspektiven für marginalisierte Bevölkerungsgruppen durch 17 Auf die bedeutende Rolle des Tourismus im Rahmen der Herausbildung der Nationalküche als wichtigem Merkmal der nationalen Identität geht auch Jeffrey M. Pilcher am Beispiel Mexiko ein (vgl. Pilcher 1998: 132-4; Pilcher 2004: 78-92; auch Bauer 2001: 1856). 18 In gleicher Weise werden auch in ›ethnic restaurants‹ Ethnizität und ›ethnische‹ Küche ausgehandelt (siehe Punkt 1.2.2). Das Essen in ›ethnic restaurants‹ kann als kulinarischer Tourismus verstanden werden, als eine Möglichkeit der Angehörigen der Aufnahmegesellschaft, das ›Andere‹ kennenzulernen, ohne die eigene Stadt, das eigene Land verlassen zu müssen (vgl. Chez 2011: 239; auch Long 2004a: 20).
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die Vermarktung lokaler Kultur ergeben; als ein Feld, in dem diese Bevölkerungsgruppen ihre eigene gesellschaftliche Position verändern können, indem sie ihre eigene, oft marginalisierte Kultur für sich beanspruchen (vgl. Vandegrift 2007). Daher stellt sich die Frage, inwieweit diese Möglichkeit im Zusammenhang mit dem Verkauf der lokalen Küche genutzt wird. Die Betrachtung der Küche ist auch angesichts der Tatsache interessant, dass Wissen über Zubereitungsweisen innerhalb der sozialen Gruppen breiter verteilt ist als andere kulturelle Praktiken wie zum Beispiel das Kunsthandwerk, Tanzen oder Musizieren (vgl. Kal ik 2001: 56). Die Vermarktung der eigenen Küche stellt damit für einen größeren Personenkreis eine Möglichkeit dar, die eigene Position zu verbessern. 1.2.2 Transmigration und lokale (Ess-)Kultur Die eigene Küche gilt als eines der Elemente der eigenen Kultur, die in der Migration am spätesten aufgegeben werden, da es sich bei den Zubereitungsweisen um inkorporiertes Wissen handelt: um Techniken, welche leichter als andere Kulturtechniken mitgenommen werden können (vgl. Barlösius 1999: 163-4). Bei Vorhandensein der benötigten Zutaten in der Aufnahmegesellschaft kann an der eigenen Küche festgehalten werden. Im Fall der Transmigration ist die Verfügbarkeit der Zutaten durch die bestehenden Beziehungen zur Herkunftsgesellschaft sichergestellt. Gleichzeitig wird über diesen Austausch auch die Zugehörigkeit zur Herkunftsgesellschaft aufrechterhalten (vgl. Sutton 2001: 80-8; auch Mata Codesal 2010).19 Alina Martínez Largaespada beschreibt die Bedeutung der Küche als Ausdruck der nationalen Identität und für die Entstehung eines Gruppengefühls für nicaraguanische Transmigranten in Guatemala-Stadt (vgl. Martínez Largaespada 2005). Dass auch costa-ricanische Transmigranten ihre Nationalidentität über Gerichte der costa-ricanischen Küche und den Konsum von in Costa Rica verkauften Produkten nationaler wie transnationaler Unternehmen konstruieren, zeigen die Studien von Carmen Caamaño Moruá (vgl. Caamaño Moruá 2010: 160-4) und Desirée Mora Cruz (vgl. Mora Cruz 2005) zu costa-ricanischen Transmigranten in New Jersey bzw. Chicago. Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft kann in der Migration oder der Diaspora nicht nur über das Festhalten an der eigenen Küche, sondern auch über die Konstruktion einer eigenen ›nationalen‹ oder ›kulturellen‹ Küche geschaffen werden. Oft kommt es hierbei zu einer Erfindung oder einer Veränderung lokaler Gerichte der Herkunftsgesellschaft in einer Art, dass diese nur noch über einige spezifische Zubereitungsweisen oder den Namen eine Verbindung zur Herkunftsgesellschaft aufweisen. In der Aufnahmegesellschaft werden sie allerdings zum Marker der na19 Guarnizo und Smith nennen den Austausch symbolischer wie materieller Güter als ein Merkmal transnationaler Beziehungen (vgl. Guarnizo/Smith 1998: 6).
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tionalen oder kulturellen Identität der Migranten. Neben dem gemeinschaftsstiftenden Element kommt dieser Küche durch die Möglichkeit der Vermarktung auch eine wirtschaftliche Bedeutung zu (vgl. Barlösius 1999: 160-2). Wie im touristischen Kontext findet im Zusammenhang mit der Vermarktung der Migrantenküchen in der Aufnahmegesellschaft eine Aushandlung verschiedener Ansichten in Hinblick auf die vermarktete Küche und Kultur statt. Restaurants sind Orte, wie u. a. Bell und Valentine unter Bezugnahme auf Erving Goffman feststellen, an denen eine Vielzahl kultureller und sozialer Praktiken, Normen und Ansichten verhandelt werden (vgl. Bell/Valentine 1997: 125-6; auch Long 2004a: 38). So beschreibt zum Beispiel Marie Sarita Gaytán die Konstruktion von Ethnizität im Rahmen mexikanischer Restaurants in den USA (vgl. Gaytán 2008).20 Während Gaytán eher die Restaurantbesitzer als Konstrukteure ihrer kulturellen Identität im Blick hat, geht u. a. Keridiana Chez auf die im Zusammenhang mit dem Essen in ›ethnic restaurants‹ ablaufenden Prozesse der Selbstkonstruktion und Selbstdarstellung der Kunden in Abgrenzung zu einem konstruierten ›ethnic other‹ sowie auf die Konstruktion dieses ›Anderen‹ in Restaurantführern ein und verweist auf das diese Konstruktionen prägende Machtungleichgewicht (vgl. Chez 2011: 234-45). Der niedrigere soziale und ökonomische Status der Migranten in der Aufnahmegesellschaft bildet für Eva Barlösius den Grund, warum Gerichte der Migrantenküchen nur selten von der Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft ins eigene Essverhalten aufgenommen werden (vgl. Barlösius 1999: 156-7). In den letzten Jahren wurde die Situation der in Costa Rica ansässigen nicaraguanischen Transmigranten in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Studien thematisiert. Dabei wurde der Ernährung bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme bildet der Artikel »Palmeando la vida: mujeres nicaragüenses productoras de tortillas en La Carpio« (Paniagua Arguedas 2007), in dem Laura Paniagua Arguedas die Herstellung von Tortillas als eine Überlebensstrategie nicaraguanischer Transmigrantinnen in der Gemeinde La Carpio in Costa Rica beschreibt. Sie versteht die Produktion und den Verkauf von Tortillas und anderen nicaraguanischen Gerichten in der binationalen Gemeinde und über die Grenzen dieser hinaus als eine Möglichkeit des interkulturellen Austausches zwischen Nicaraguanern und Costa Ricanern (vgl. Paniagua Arguedas 2007: 164, 171). Auch über die Beschäftigung von nicaraguanischen Haushaltshilfen kann es zu einem solchen Austausch kommen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass beide Küchen in Hinblick auf einige Gerichte große Ähnlichkeit aufweisen, ein Umstand, der die Beurteilung eines Einflusses erschwert. Desweiteren herrschen gegenüber den nicaraguanischen Migranten in Costa Rica weiterhin starke Ressentiments. Unabhängig von der Migration wurde und wird die costa-ricanische Nationalidentität zudem in Abgrenzung zu 20 Auf ähnliche Weise beschreibt auch Jennie Germann Molz die Aushandlung von Authentizität und Identität im Kontext thailändischer Restaurants (vgl. Molz 2004).
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Nicaragua konstruiert. In Verbindung mit der zusätzlich niedrigen sozioökonomischen Stellung der nicaraguanischen Transmigranten können diese Aspekte einer Akzeptanz der nicaraguanischen Küche entgegenwirken. Ein weiterer Punkt, den es bei der Untersuchung des Einflusses der nicaraguanischen Transmigration auf die lokale Küche zu bedenken gilt, sind die lokalen kulturellen Unterschiede innerhalb Costa Ricas und insbesondere die Tatsache, dass der Bevölkerung Guanacastes stets eine große kulturelle Nähe zu Nicaragua zugeschrieben wurde, verbunden mit einer Abwertung der Guanacastecos und ihrer Marginalisierung (vgl. Punkt 3.1.1). Vor diesem Hintergrund stellen der Umgang mit diesen Gemeinsamkeiten bei der Konstruktion der eigenen Küche sowie die Frage nach dem Einfluss der nicaraguanischen Küche auf das lokale Essverhalten im nationalen wie lokalen, insbesondere im guanacastekischen Kontext ein interessantes Thema dar. Die zweite vor diesem Hintergrund zu berücksichtigende Gruppe bildet die afrokaribische Bevölkerung Limóns. Ungeachtet tatsächlicher Bevölkerungszahlen und -verteilung wird die Provinz Limón in Costa Rica als ›afrokaribisch‹ betrachtet (vgl. Sharman 2001: 50). Obwohl die Angehörigen der afrokaribischen Bevölkerung in Costa Rica nicht als ›Migranten‹ bezeichnet werden, sondern eher als ethnische und kulturelle Minderheit gelten, trifft der Begriff der Transmigration insofern auf diese Bevölkerung zu, als dass viele Afrokariben über eigene Migrationserfahrung verfügen und permanente Kontakte zu Familienangehörigen und Freunden in der Herkunftsgesellschaft bestehen. Von der nicht-afrokaribischen Bevölkerung in Costa Rica wird die afrokaribische Kultur klar anhand einiger Gerichte charakterisiert und von der nationalen Kultur unterschieden. Auch die afrokaribische Bevölkerung war in der Vergangenheit marginalisiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit Angehörige der afrokaribischen Gemeinschaft ihre Küche für sich beanspruchen und im nationalen und transnationalen Kontext vermarkten und wie in diesem Zusammenhang regionale afrokaribische Identität konstruiert wird. Der folgende Abschnitt dient der Beschreibung und Einordnung des in der Arbeit verwendeten Identitätskonzeptes.
1.3 I DENTITÄT In Globalisierungsdebatten wird Identität oft in Verbindung mit der Krise der (nationalen sowie individuellen) Identität diskutiert. Diese Krise wird als im zunehmenden Bedeutungsverlust lokaler Traditionen begründet angesehen, wobei dieser wiederum als Folge der verstärkten Durchdringung der lokalen Ebene durch globale Prozesse verstanden wird (vgl. Punkt 1.1.1). Die wachsende Vernetzung der Welt erfordert von den lokalen Akteuren ein Aushandeln einer Vielzahl möglicher Lebensstile im Rahmen ihrer Identitätskonstruktion (vgl. Giddens 1991: 1,5).
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Im Rahmen der sozialkonstruktivistischen Sichtweise wird Identität in Anlehnung an Michel Foucault oft als Prozess angesehen, der in den Kontext sozialer und diskursiver Praktiken eingebettet ist (vgl. Da Fina et al. 2006a: 2). Das Hauptaugenmerk setzt Foucault auf die diskursiven Praktiken. In diesem Prozess kommt dem Körper nach Foucault eine wichtige Rolle zu: »The body is the inscribed surface of events (traced by language and dissolved by ideas), the locus of a dissociated self (adopting the illusion of a substantial unity) and a volume in perpetual disintegration« (Foucault 1977: 148). Der Körper übernimmt in diesem Fall keine aktive Rolle, er ist vielmehr die passive Oberfläche, in welche die Geschichte eingeschrieben ist (vgl. Foucault 1977: 148). Andererseits wird die Identitätsbildung auch als aktiver Abgrenzungsprozess betrachtet, in dem Individuen stets neue Kategorien von ›Selbst‹ und ›dem Anderen‹ konstruieren und definieren, wer sie sind, indem sie aktiv und in Abhängigkeit vom jeweiligen Interaktionskontext aus einer Vielzahl möglicher Kategorien wählen (vgl. Cornell/Hartmann 2007: 75-6, 81-4; Da Fina 2006a: 2-3; auch Sandoval García 2004: 4-12). Dem ›Anderen‹ werden dabei oft alle unerwünschten Eigenschaften zugeschrieben (vgl. Sibley 1995: 7-11). Im Rahmen dieser relationalen Konstruktionen von Identität, in Abgrenzung zu einem ›Anderen‹, ist auch die Aushandlung von Fremd- und Selbstzuschreibungen von Bedeutung (vgl. auch Cornell/Hartmann 2007: 84; Natter/Jones 1997: 146-8). Identitäten sind nicht als nur in Diskursen ausgedrückt zu verstehen. Vielmehr wird Identität durch eine Reihe verschiedener sprachlicher und nicht-sprachlicher Mittel konstruiert, einverleibt und dargestellt (vgl. Da Fina 2006a: 3).21 Ein Fokus auf die diskursive und soziale Praxis als zentral für die Konstruktion und die Darstellung von Identität ermöglicht es, den Wandel von Identitätskonzepten, die Verhandlung von Zugehörigkeiten und sozialen Positionen zu untersuchen. Im Rahmen meiner Arbeit werde ich mich neben der diskursiven Konstruktion von Identität insbesondere auf die Konstruktion und die Darstellung von Identität in Alltagshandlungen, wie dem Ess- und Konsumverhalten, konzentrieren. Im Folgenden werde ich daher nun auf zwei Ansätze zur Beschreibung der Konstruktion von Identität eingehen, in denen das Verhältnis von Körper, kulturellem bzw. sozialem Kontext und Selbst auf unterschiedliche Weise thematisiert wird und dem Konsumverhalten große Bedeutung zukommt. 1.3.1 Pierre Bourdieus Habitus-Theorie Pierre Bourdieu beschreibt in seiner Habitus-Theorie die Wechselwirkung zwischen Identitätskonstruktion, Gesellschaft und Körper. 21 Diese Sichtweise wird z. B. auch von Giddens vertreten, der Identität als ein reflexives Projekt versteht (vgl. Giddens 1991: 35-6).
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Der Habitus entsteht nach Bourdieu durch die Einverleibung der Strukturen des sozialen Feldes. Diese Strukturen, die Schemata des Denkens, Handelns, Wahrnehmens und Beurteilens, werden während der Sozialisation inkorporiert.22 Die Einverleibung erfolgt unbewusst, die inkorporierten Strukturen werden zu dauerhaften, natürlichen Dispositionen und beeinflussen, ohne dass sich der Handelnde dessen bewusst ist, ihrerseits das Handeln und Denken des Akteurs. Durch das Inkorporieren äußerer Existenzbedingungen und früherer Erfahrungen setzt sich im Habitus die Vergangenheit des Handelnden fort. Das Handeln der Akteure wiederum wirkt auf die aktuellen äußeren Existenzbedingungen zurück und konstruiert so auch die Wirklichkeit der Handelnden. Der Habitus und die Strukturen des sozialen Feldes stehen permanent in Wechselwirkung, beeinflussen sich also gegenseitig (vgl. Bourdieu 2008: 100-1, 104-5). Ein soziales Feld versteht Bourdieu als ein Kräftefeld, in dem die Handelnden um Ressourcen oder den Zugang zu diesen kämpfen. Das Feld ist dabei jeweils durch die Ressource definiert, um die es im Feld geht. Hierbei spielen insbesondere die vier Kapitalformen (kulturelles, ökonomisches, symbolisches und soziales Kapital)23 eine Rolle (vgl. Bourdieu 2007: 193-4; Jenkins 1993: 84-5). Die vier Kapitalformen stehen ihrerseits in Beziehung, wobei alle Kapitalformen auf dem ökonomischen Kapital basieren, jedoch nicht vollständig auf das ökonomische Kapital zurückgeführt werden können (vgl. Bourdieu 1983: 196). Kulturelles Kapital in Form von Bildung kann zum Beispiel in ökonomisches verwandelt werden, wenn diese Bildung zu einem Beruf und Einkommen führt. Ökonomisches Kapital kann, über den Kauf von Objekten, die Statussymbole darstellen, in symbolisches Kapital umgewandelt werden. Während ökonomisches Kapital übertragbar ist, ist eine Übertragung von kulturellem, physischem Kapital 22 Mitglieder einer sozialen Gruppe, die innerhalb desselben sozialen Feldes aufwachsen, inkorporieren dieselben Schemata und bilden daher homologe Habitus aus. Daraus leitet sich die Annahme ab, dass ein individueller Habitus und Lebensstil stets als Abwandlung eines klassenspezifischen Habitus und
Lebensstils zu verstehen ist (vgl. Bourdieu
2008: 112-13). Hier bestehen Parallelen zu Falks Ansatz, der die soziale Identität als stets in der personalen Identität inhärent auffasst (vgl. Punkt 1.3.2). 23 In seinem Artikel »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital« beschreibt Bourdieu diese drei Kapitalformen als die bedeutendsten und geht darauf ein, dass es letztendlich das ökonomische Kapital ist, das die Grundlage dieser Formen bildet, bzw. auf das alle Kapitalformen zurückzuführen sind (vgl. Bourdieu 1983: 183-5, 195-6). Dem symbolischen Kapital widmet er ein Kapitel in seinem Werk Sozialer Sinn, in dem er es folgendermaßen definiert: »das symbolische Kapital ist jenes verneinte [Hervorhebung im Original], als legitim anerkannte, also als solches verkannte Kapital [Hervorhebung im Original] [...], das gewiß [sic] zusammen mit dem religiösen Kapital dort die einzig mögliche Form der Akkumulation [Hervorhebung im Original] darstellt, wo das ökonomische Kapital nicht anerkannt wird« (Bourdieu 2008: 215).
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nicht ohne weiteres möglich. Durch die Einverleibung ist diese Kapitalform an den Körper des Akteurs gebunden und nicht von diesem zu trennen (vgl. Bourdieu 1983: 186-7). Einverleibtes Wissen kann nur durch praktische Mimesis übermittelt werden, denn ein Akteur verfügt nicht bewusst über dieses Wissen: »Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.« (Bourdieu 2008: 135). Obwohl Bourdieu die Handelnden in der Regel als sich ihrer Handlungen nicht bewusst ansieht, schließt er das Bewusstwerden der einverleibten Strukturen nicht vollständig aus. Akteure werden sich Bourdieus Ansicht nach ihres Habitus zum Beispiel dann bewusst, wenn der Habitus nicht im Feld seiner Entstehung wirkt, die Handlungen also nicht mehr an die Strukturen des Feldes angepasst sind (vgl. Bourdieu 2008: 116). 1.3.2 Konstruktion des Selbst nach Pasi Falk Pasi Falk versteht die Konstruktion von Identität als einen kontinuierlichen Prozess. Die Basis dieser Konstruktion bildet für ihn der menschliche Körper. In seiner Theorie will er die Trennung der Identitäten in eine personale, individuelle und eine soziale, kollektive oder Gruppenidentität aufheben: »What I am arguing for is an approach emphasizing the continuous [Hervorhebung im Original] character of individual self-construction, from the ontogenetic scene to social interaction‹ (as a complex of relations between subjects and objects)« (Falk 1994: 134). Identität kann seiner Meinung nach nie als abgeschlossener Prozess verstanden werden, da die aktuellen, ›modernen‹ Lebensumstände eine ständige Neukonstruktion der eigenen Identität erfordern. Eine Trennung personaler und sozialer Identität ist ungünstig, da beide auf die gleiche Art und Weise konstruiert werden: Die Konstruktion von Identität erfolgt sowohl im Fall der sozialen wie auch der personalen Identität zunächst einmal exklusiv, in Abgrenzung zu dem, was man nicht ist (vgl. Falk 1994: 133-4). Distinktion bzw. Separation, im Fall der personalen Identität, sind damit zentrale Elemente der Herausbildung des Selbst. Gleichzeitig kann Identität auch inklusiv, durch Imitation (soziale Identität) bzw. Introjektion (personale Identität) gebildet werden (vgl. Falk 1994: 124-5, 138). Beide Identitäten sind darüber hinaus nicht voneinander zu trennen, da die personale Identität einen Teil der sozialen Identität darstellt (vgl. Falk 1994: 134-5). Dieser soziale Aspekt der Identität verlor in der modernen Gesellschaft nach Falk allerdings immer stärker an Bedeutung. Mit der wachsenden Bedeutung der Individualität und der Autonomie trat die personale Identität in den Vordergrund. Im Rahmen der Selbstkonstruktion werden die eigene Abgrenzung (die Separation) und damit verbunden auch der eigene Körper immer zentraler. Neben dem ›distinktiven Aspekt‹, dem Bedürfnis sich abzugrenzen, wird der ›introjektive Aspekt‹, der
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Aspekt der Selbsterfüllung, der Vervollständigung, immer wichtiger für die Identitätskonstruktion (vgl. Falk 1994: 135-6). Identität wird dabei über die Aufnahme dessen bzw. der Repräsentation dessen, was bzw. wie man gern sein möchte, in das eigene Selbst oder den eigenen Körper gebildet. In diesem Fall ist die Identitätsbildung geleitet vom Bedürfnis, einen empfundenen Mangel auszugleichen (vgl. Falk 1994: 138, 143).24 Falks Ansicht nach kann das Individuum in der ›modernen‹ Gesellschaft seine Autonomie nicht zugunsten einer sozialen, kollektiven Identität aufgeben, es muss sich abgrenzen. Aus diesem Zwang zur Abgrenzung heraus entsteht ein Gefühl des Mangels, welches wiederum ein beständiges Bedürfnis nach Selbsterfüllung bzw. Vollständigkeit zur Folge hat.25 Das moderne Konsumverhalten thematisiert Falk als Hauptort der Konstruktion des Selbst (vgl. Falk 1994: 7, 10). Die Welt der Konsumgüter bietet ihm zufolge den Individuen das Material zur Selbstkonstruktion sowohl in Form von Separation als auch in Form von Selbsterfüllung bzw. Introjektion. Die Konstruktion von Identität durch den Konsum von Waren ist möglich, da Konsumgüter als Repräsentationen von Personen oder Lebensstilen dienen (vgl. Punkt 1.4.3). Beide Ansätze weisen eine Reihe von Parallelen auf. Wie Pasi Falk die Beziehung zwischen Körper, Kultur und Selbst (vgl. Falk 1994: 7, 10), thematisiert Bourdieu die Interaktion von Körper, Gesellschaft und Habitus. Auch verstehen beide die soziale Distinktion als zentrales Element der Identität und beschreiben das Konsumverhalten als einen Bereich, in dem die Identität einer Person oder sozialen Klasse zum Ausdruck kommt. Beide sehen die soziale und die individuelle Identität als fest miteinander verbunden an. Anders als Falk sieht Bourdieu die Herausbildung der Identität bzw. des Habitus allerdings nicht als einen Prozess an, welcher bewusst und aktiv von den sozialen Akteuren gestaltet wird. In Bezug auf meine Arbeit erscheinen mir beide Ansätze gleichermaßen sinnvoll. Einerseits kann Identität als während des Aufwachsens in einem sozialen und kulturellen Kontext geprägt und für die Akteure weitgehend unbewusst in deren Handlungen zum Ausdruck kommend begriffen werden. Die Handlungen wirken dabei wieder auf die sozialen Strukturen zurück und festigen die bestehende soziale Ordnung. Gerade angesichts der zunehmenden Beeinflussung des lokalen Kontex24 Dieses Gefühl des Mangels kann zum Beispiel aus dem Vergleich mit sozial Bessergestellten resultieren. In Anlehnung an Norbert Elias versteht Falk die Internalisierung gesellschaftlicher Werte und zunehmend interne Affektkontrolle als weiteren wichtigen Grund für das Entstehen von Gefühlen der Unzulänglichkeit oder Unvollkommenheit (vgl. Falk 1994: 114-17). 25 Aus dem Bedürfnis nach Selbsterfüllung heraus entstehen Objekte der Begierde, deren Konsum allerdings den empfundenen Mangel nie ausgleichen kann, weil dieser in der Trennung von Subjekt und Objekt selbst begründet ist. Das Bedürfnis nach Selbsterfüllung bleibt daher bestehen (vgl. Falk 1994: 143-4).
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tes durch transnationale Kontakte kann man aber andererseits annehmen, dass der eigene Habitus bewusst wird und damit auch eine Identitätskonstruktion als aktives Projekt möglich ist. Ausgehend von der bestehenden sozialen Ordnung können sich Akteure über ihre Handlungen im sozialen Raum positionieren. 1.3.3 Identität und Machtbeziehungen Ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher sowohl im Rahmen der Diskurstheorie als auch in den Ansätzen Bourdieus und Falks zur Sprache kommt, ist das Verhältnis von Machtstrukturen und der Identitätskonstruktion. In diesem Zusammenhang ist einerseits die Frage relevant, wie die Identitätskonstruktionen durch die vorherrschenden Machtstrukturen beeinflusst werden; andererseits auch, inwieweit die konstruierten Identitäten ihrerseits auf die Machtstrukturen zurückwirken. Während man mit Bourdieu davon ausgehen kann, dass die bestehende Machtordnung erhalten bleibt, können nach Falk die einzelnen Akteure die eigene Position in der Machtordnung verändern. Mit dieser Position vereinbar ist Manuel Castells’ Unterscheidung dreier Formen kollektiver Identität hinsichtlich ihrer Entstehung und ihrem Verhältnis zur bestehenden Machtordnung. Die als ›legitimierende Identität‹ bezeichnete Form versteht Castells dabei als Identitätskonstruktion dominanter Institutionen, welche die bestehende Machtordnung erhalten (soll). Zu den legitimierenden Identitäten zählen zum Beispiel die Nationalidentitäten. Als Gegenstück zu diesen Identitäten kann man die ›Widerstandsidentität‹ verstehen, welche von marginalisierten Akteuren in Abgrenzung zu den dominanten legitimierenden Identitätsbildern konstruiert wird und zu einer Herausbildung von Gemeinschaften führt. ›Widerstandsidentitäten‹ führen dabei oft zur dritten Identitätsform, der ›Projekt-Identität‹. Im Fall der ›Projekt-Identität‹ konstruieren die Akteure auf Basis des ihnen verfügbaren Kulturmaterials Identitäten, um ihre Position innerhalb des Staates zu verändern (vgl. Castells 1999: 7-9). Obwohl Identitäten auch von Institutionen konstruiert werden können, so werden sie erst über ihre Internalisierung durch die sozialen Akteure zu Identitäten (vgl. Castells 1999: 7). Vor dem Hintergrund, dass in Costa Rica in der Vergangenheit einige Bevölkerungsgruppen aufgrund ethnischer und/oder sozioökonomischer Merkmale von der costa-ricanischen Nationalidentität ausgeschlossen wurden, kann die Einteilung der Identitätsformen nach ihren Erzeugern und deren unterschiedlichen Anliegen und Machtpositionen sowie ihrer Wirkung auf die bestehende Machtordnung hilfreich sein. So kann die costa-ricanische Nationalidentität in Anlehnung an Castells zum Beispiel als ›legitimierende Identität‹ verstanden werden, während Regionalidentitäten Formen von ›Projekt-‹ oder ›Widerstandsidentitäten‹ darstellen. In diesem Zusammenhang und in Anbetracht der Bedeutung transnationaler Beziehungen kann
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auch Castells Ansicht, dass der gemeinsamen Kultur bei der Herausbildung von Identität die entscheidendere Bedeutung zukommt und (National-)Identitäten nicht an das gemeinsam bewohnte staatliche Territorium gekoppelt sind, sondern Grenzen überschreiten, sinnvoll sein (vgl. Castells 1999: 6-7, 31, 42). In meiner Studie wird die sozialkonstruktivistische Perspektive übernommen und Identität als soziales Konstrukt aufgefasst. Es wird davon ausgegangen, dass die Konstruktion von Identität kein unabhängiges Projekt individueller Akteure ist, sondern stets in einem sozialen und kulturellen Kontext verankert und durch Machtbeziehungen beeinflusst ist. Identität wird ferner als ein Projekt verstanden, das in Relation zu einem ›Anderen‹ entwickelt wird. In diesem Zusammenhang kommt auch der Aushandlung von Fremd- und Selbstbildern eine wichtige Rolle zu. Zudem wird Identität als nicht nur über Diskurse konstruiert und ausgedrückt betrachtet. Vielmehr wird die Handlungsebene in den Fokus genommen und die Ansicht vertreten, dass Identität im alltäglichen Handeln der Akteure (sowohl bewusst als auch unbewusst) konstruiert wird und zum Ausdruck kommt. Als Beispiel eines solchen Alltagshandelns werde ich mich in meiner Arbeit auf das Essverhalten konzentrieren. Neben der alltäglichen Relevanz ist der Fokus auf das Essen auch vor dem Hintergrund geeignet, dass gerade der Bereich des Konsum- und Essverhaltens ein Gebiet darstellt, welches stark durch globale Prozesse beeinflusst ist und in dem diese globalen Einflüsse deutlich erkennbar sind. Insofern kann durch den Fokus auf das Essverhalten auch die Konstruktion von Identität im Kontext der Globalisierung untersucht werden. Anhand des Essverhaltens und der Konstruktion der costa-ricanischen Nationalküche werde ich in meiner Arbeit zeigen, wie im durch transnationale Beziehungen geprägten Costa Rica nationale und regionale Identitäten in Diskursen und im Alltagsverhalten konstruiert und dargestellt werden. Im folgenden Abschnitt werde ich nun die Beziehung zwischen Essverhalten, Küche und Identität erläutern.
1.4 K ÜCHE
UND I DENTITÄT
Im Zusammenhang mit der Herausbildung sowie der Darstellung von Identität spielt das Konsumverhalten eine wichtige Rolle (vgl. u.a. Falk 1994; Halter 2000; Mintz 1987; Warde 1997). Insbesondere Essverhalten und Küche sind wichtige Identitätsmarker.26 26 Die Bedeutung des Essverhaltens und der eigenen Küche für die Identität wurde in einer Reihe von ethnologischen und soziologischen Studien dargestellt. Als Beispiele sind u. a. zu nennen: Bell und Valentine (1997); Brown und Mussell (2001); sowie Lupton (1996) und Warde (1997) in Bezug auf personale Identität; Bourdieu (2008) und Goody (1996) zu sozialer Identität.
Im Regionalkontext Lateinamerika zu Nationalidentität u. a.:
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Eva Barlösius definiert Küche als »komplexes kulturelles Regelwerk, das Anleitungen dafür enthält, wie jeweils verschieden gekocht wird. Dieses Regelwerk ist für die spezifische kulturelle Eigenart einer Küche, die sie von anderen abhebt, verantwortlich. Es beinhaltet beispielsweise Regeln für den Geschmack, bestimmt, welche Lebensmittel zusammenpassen und wann und wie sie zu essen sind. Für jede einzelne Speise sind diese kulturellen Anweisungen in einem speziellen Rezept zusammengefaßt [sic]. Es umfaßt [sic] Zutatenliste, Zubereitungsweise und den Namen der Speise.« (Barlösius 1999: 123)
Die über diese Regeln gewährleistete Gleichförmigkeit des Geschmacks einer Küche versteht sie als einen Grund, warum Küchen stärker als andere kulturelle Erzeugnisse Identitäts- und Fremdheitsgefühle vermitteln und genutzt werden können, um Gemeinschaft zu stiften oder Menschen voneinander abzugrenzen (vgl. Barlösius 1999: 123; Sandgruber 1997: 185). Küche und Essverhalten sind als Kommunikationsmittel zu verstehen, über welche sozioökonomische, kulturelle und politische Aspekte ausgedrückt werden können (vgl. Barlösius 1999: 123-4; auch Mintz 1987: 29-30; 40). Barlösius unterteilt die Küche als kulturelles Phänomen in zwei Bereiche: einerseits die von ihr als eher materiell bezeichnete Seite, welche als Regelwerk die Kochpraxis leitet, in den sozialen Kontext eingebunden ist und über welche Identität beim Essen zum Ausdruck kommt; andererseits die Küche als »ein Produkt des Denkens und des Phantasierens« (Barlösius 1999: 124), über das Identität hergestellt wird.27 National- oder auch Regionalküchen sind dieser zweiten Sichtweise der Küche zuzuordnen.28 Wie Barlösius anmerkt, ist die Erfindung von Nationalküchen oft im Kontext der Bildung von Nationalstaaten zu verorten (vgl. Barlösius 1999: 147).29,30
Pilcher (1998) zu Mexiko; Wilk (2006) zu Belize; zu regionaler Identität: Ayora-Díaz (2010) zu Mexiko; zu kultureller oder ethnischer Identität: Walmsley (2004) zu Ecuador; Williams (2001) zu ethnischer Identität mexikanischer Migranten in den USA. Für Costa Rica ist hier auf die Artikel zum costa-ricanischen Nationalgericht Gallo Pinto von Preston-Werner (2009, 2012) und Vega Jiménez (2012) hinzuweisen sowie die Studien derselben Autorin zur Relevanz des Konsumverhaltens zum Ausdruck sozialer Identitäten in der costa-ricanischen Vergangenheit im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. Vega Jiménez 1991). 27 Da für mich im Rahmen meiner Arbeit das Essverhalten und die diskursive Konstruktion der Küche gleichermaßen relevant sind, ist diese Einteilung hilfreich. 28 Die folgenden Ausführungen werden die Konstruktion von Nationalküchen thematisieren, sie treffen jedoch in gleicherweise auf Regionalküchen oder Küchen ethnischer und sozialer Gruppen zu.
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1.4.1 Konstruktion von Nationalküchen Wie in Bezug auf die Herausbildung von nationalen Identitäten oder Nationalstaaten an sich, stellt auch im Hinblick auf die Konstruktion von Nationalküchen der Umgang mit den innerhalb eines Staates existierenden regionalen und ethnischen (kulinarischen) Unterschieden eine wichtige Frage dar (vgl. Appadurai 2008: 302). In Costa Rica ist diese Frage auch vor dem Hintergrund, dass im Rahmen der Diskurse über die nationale Identität in der Vergangenheit die Regionen Guanacaste und Limón bzw. die dort lebende Bevölkerung insbesondere aufgrund ethnischer Elemente marginalisiert wurden (vgl. Sandoval García 2004; Punkt 3.1.1), interessant. Bei der Herausbildung von Nationalküchen kommt Kochbüchern eine bedeutende Rolle zu (vgl. Appadurai 2008; Ayora-Díaz 2010: 412-14; Goody 1996; Parkhurst Ferguson 2010: 102). Diese Bedeutung ist eng mit dem Prozess der Verschriftlichung von Praxiswissen und oraler Tradition verbunden, als welcher die Niederschrift von Rezepten verstanden werden kann. Jack Goody versteht die Möglichkeit des Aufschreibens von Rezepten als eine Grundvoraussetzung für die Entstehung einer ›Cuisine‹ (vgl. Goody 1996: 102-3, 129-31, 191-4; Sutton 2001: 142). Durch die Verschriftlichung wird die Art der Übermittlung verändert, die schriftliche Version lässt eine genaue Nachahmung der Vorlage zu und verhindert über den mit der Verschriftlichung verknüpften Alleingültigkeitsanspruch der schriftlichen Vorlage eine Abwandlung dieser Version. Andererseits können, ausgehend von der verschriftlichten Version, auch kreative Umgestaltungsprozesse angestoßen werden (vgl. Goody 1996: 129-31; 148). Indem sie eine genaue Reproduktion der in die Bücher aufgenommenen Gerichte ermöglichen und fordern, wirken Kochbücher der Veränderung entgegen. Den Rezepten kommt aufgrund der Verschriftlichung der Status der ›wahren‹ Version eines Gerichtes zu, an der sich die Kochenden oder Lesenden orientieren. Kochbücher geben somit die Richtlinien vor, wie ein Gericht zubereitet werden muss, und stellen so Konstanz und Kontinuität in der Zubereitung und im für die Funktion der 29 Für Bell und Valentine ist die Zentralität der Nationalküche bzw. nationaler Gerichte für die nationale Identität auch daran zu erkennen, dass beide nur schwer getrennt voneinander gedacht werden können (vgl. Bell/Valentine 1997: 168). Bauer beschreibt die gemeinschaftstiftende Funktion von Essen und die Bedeutung der Konstruktion von Nationalküchen für den Regionalkontext Lateinamerika (vgl. Bauer 2001: 198). 30 Die Konstruktion von Nationalküchen kann somit als eine Maßnahme im Rahmen des kulturellen Nationalismus und, ähnlich wie ›legitimierende Identitäten‹, als durch dominante Eliten eines Staates konstruiert angesehen werden. Ebenso kann sie auch, ähnlich wie ›Widerstandsidentitäten‹, als Gegenpol zu globaler oder nationaler kultureller Dominanz konstruiert werden.
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Küchen als Identitätsmarker zentralen Geschmack der Gerichte sicher. Über Kochbücher wird der Geschmack einer Küche bestimmt. Mit der Aufnahme der Rezepte bestimmter Gerichte in die Kochbücher der Nationalküche wird festgelegt, welche Gerichte und Zubereitungsweisen Teil der Nationalküche sind. Kochbücher leisten damit einen entscheidenden Beitrag zur Herausbildung einer Nationalküche und werden zu Referenzen und Instanzen darüber, welcher Geschmack, welche Zubereitungsweisen und welche Gerichte als der nationalen Küche zugehörig betrachtet werden können (vgl. Parkhurst Ferguson 2010: 102; Sutton 2001: 142). Was den Umgang mit regionalen oder ethnischen Unterschieden betrifft, so lässt sich in Kochbüchern oft eine nationalistische, integrationistische Ideologie erkennen. Unterschiede regionaler und ethnischer Küchen werden ignoriert, das ›Andere‹ innerhalb des Staates wird verborgen (vgl. Appadurai 2008: 304; Ayora-Díaz 2010: 400). Ayora-Díaz beschreibt in Anlehnung an Irvine und Gal (vgl. Irvine/Gal 2000: 37-8) drei wichtige Bedingungen für die erfolgreiche Herausbildung eines Nationalstaates, die er auch für den Prozess der Konstruktion von Nationalküchen als bedeutsam erachtet. Dazu zählen die Fraktalisierung der Idee der Nation, das Hervorbringen von für die Nation repräsentativen Symbolen und das Auslöschen von Unterschieden innerhalb der Nation (vgl. Ayora-Díaz 2010: 400). Auf ähnliche Weise beschreibt Appadurai in seinem Artikel »How to Make a National Cuisine: Cookbooks in Contemporary India« (Appadurai 2008) einige Strategien, welche Kochbuchautoren bei der Konzeptualisierung der indischen Nationalküche verfolgen. Eine wichtige Taktik ist zum Beispiel, die kulinarische Tradition einer spezifischen Region hochzuspielen, zu vergegenständlichen und als eine für die ganze Nation gültige Küche zu begreifen (vgl. Appadurai 2008: 302). Es werden also für die Nation als Ganzes stehende kulinarische Repräsentationen geschaffen, indem die Küche einer Region zur Nationalküche erhoben wird. Regionale oder ethnische Differenzen werden dabei verschwiegen. In Hinblick auf die Rolle von Regionalküchen im Nationalküchendiskurs und auf das Verhältnis von Regionalküche und Nationalküche kommt es also einerseits zu einer Einverleibung der Regionalküche in die Nationalküche, welche dann anstelle eines Markers für regionale Identität zum Sinnbild der nationalen Identität wird (vgl. Parkhurst-Ferguson 2010: 107); andererseits werden regionale und ethnische Unterschiede vernachlässigt. Neben dieser Vorgehensweise erläutert Appadurai allerdings noch weitere Methoden. Eine dieser Methoden ist das willkürliche Zusammensuchen von Rezepten unterschiedlicher Regionalküchen und ihre Verbindung zu einer Nationalküche über Gemeinsamkeiten in der Art der Zubereitung, der Verwendung von Gewürzen oder spezieller Zutaten. Auch wird ein bestimmtes Nahrungsmittel als Überbegriff verwendet, unter welchem eine Vielzahl von Rezepten verschiedener Regionen ver-
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eint wird. Eine letzte Strategie ist die Orientierung an Festen und Bräuchen (vgl. Appadurai 2008: 302). Appadurai kritisiert das Vorgehen der Autoren als induktiv, subjektiv und enzyklopädisch (vgl. Appadurai 2008: 302), geht aber darauf ein, dass sich in diesen Versuchen die von den Autoren vertretenen Ansichten zur Struktur der indischen Mahlzeit manifestieren. Zudem erkennt er die Methode, verschiedene Gerichte hinsichtlich ihrer Hauptzutat, der Zubereitungsweise oder der Art des Verzehrs unter einem Überbegriff zu vereinen, auch als Möglichkeit an, Gerichte verschiedener Regionen miteinander zu verbinden (vgl. Appadurai 2008: 302-3). Die Verbindung der einzelnen Gerichte zur Nationalküche vollzieht sich dann über ihre Zusammenstellung in Menüvorschlägen (vgl. Appadurai 2008: 303). Die Konstruktion einer Nationalküche findet, wie bereits erwähnt, oft im Kontext der Herausbildung einer Nation statt. Die Zentralität der Küche für die regionale oder nationale Identität bewirkt aber auch ein verstärktes Interesse an bzw. Bewusstsein für den Wert der eigenen Küche bei Personen, die sich, zum Beispiel im Fall der Diaspora oder Migration, außerhalb der Herkunftsregion befinden (vgl. Punkt 1.2.2). Auf diesen Aspekt nimmt Appadurai mit seiner Bemerkung Bezug, dass Kochbücher oft von Autoren geschrieben werden, die außerhalb der im Buch behandelten Region oder des Landes leben und an eine Leserschaft gerichtet sind, welche sich ebenfalls im Ausland befindet oder auf andere Weise keinen direkten Kontakt mehr zur Region und der beschriebenen Küche hat. Dieses Interesse an der eigenen regionalen Küche versteht er in diesem Fall als nostalgisch motiviert, als Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit. Daher ordnet er Kochbücher auch der Literatur des Exils und der Nostalgie zu (vgl. Appadurai 2008: 302).31 Die Kochbücher zur costa-ricanischen Küche bzw. zu den costa-ricanischen Regionalküchen wurden ebenfalls oft von Personen verfasst, die selbst nicht in der spezifischen Region leben oder lebten und auch über einen anderen sozioökonomischen Hintergrund verfügten. Dies trifft in besonderem Maße auf die im akademischen Kontext entstandenen Kochbücher und wissenschaftlichen Abhandlungen, aber auch auf die im touristischen Kontext entstandenen Bücher zu, auf die ich mich in meiner Analyse beziehen werde. Die konstruierten Nationalküchen müssen nicht mit dem alltäglichen Essverhalten der nationalen Bevölkerung übereinstimmen. Vielmehr sind sie als erfundene Traditionen im Sinne Eric Hobsbawms zu verstehen, als idealisierte Selbstbilder, die über Ritualisierung geschaffen werden und die nach ihrer Entstehung mit vergangenen Traditionen verbunden werden (vgl. Barlösius 1999: 148; Zubaida/Tapper 1994: 7).32 Vor diesem Hintergrund ist auch anzunehmen, dass die Küche als 31 David Sutton vertritt in dieser Hinsicht dieselbe Ansicht (vgl. Sutton 2001: 142-56). 32 Der Küche als positivem Selbstbild sind die Stereotypisierungen entgegenzusetzen, welche andere Nationen aufgrund ihres Essverhaltens abwerten (vgl. Barlösius 1999: 148-9; Sandgruber 1997: 183).
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Marker nationaler Identität auch im Zuge einer immer stärker fortschreitenden globalen Vernetzung und der damit verbundenen Beeinflussung des lokalen Essverhaltens, der ›materiellen Seite‹ der Küche, durch fremde kulinarische Traditionen, nicht an Bedeutung verloren hat (vgl. Barlösius 1999: 164). Die Frage, inwieweit Küche und Konsumverhalten im Kontext der Globalisierung und der Durchdringung des Alltags mit globalen Gütern sowie der (angenommenen) weltweiten Angleichung des Konsumverhaltens weiterhin als Identitätsmarker fungieren, ist ein zentrales Thema der Debatten um Globalisierung und Konsumverhalten (vgl. Featherstone 1990a: 9, 11-12; Howes 2000a: 11). Daher ist auch eine Betrachtung der Küche als einerseits materiell, bezogen auf das Verhalten, anderseits als gedankliches Konstrukt sinnvoll. Reales Alltagsverhalten, welches nicht mit dem Konstrukt der Nationalküche übereinstimmt, muss die Bedeutung der Nationalküche auf diskursiver Ebene nicht mindern. Allerdings spielt gerade auch die materielle Seite, also das Essverhalten, Zubereitungsweisen und verwendete Zutaten, bei der Darstellung und Herausbildung von Identität eine wichtige Rolle. Essverhalten und spezifische Kochweisen wirken gemeinschaftsstiftend oder ausgrenzend. In diesem Zusammenhang wird das Essverhalten oft im Sinne des von Michael Billig beschriebenen banalen Nationalismus interpretiert. Nationale Identität wird demnach ständig durch alltägliche, den Akteuren nicht bewusste, Gedächtnisstützen aufrechterhalten. Sie umfasst »all these forgotten reminders. Consequently, an identity is to be found in the embodied habits of social life.« (Billig 1995: 8). Essverhalten wird damit als eine Handlung begriffen, durch welche Personen im Alltag an ihre Nationalität erinnert werden, diese ausdrücken und aufrechterhalten (vgl. Hiroko 2008: 8-9; Palmer 1998: 192; Sutton 2001: 84-5). Das Essverhalten in diesem Sinne entspricht eher einer unbewussten, nicht reflektierten Handlung. Ess- und Konsumverhalten kann allerdings von Individuen auch aktiv genutzt werden, um ihre Stellung im sozialen Raum oder die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auszudrücken (vgl. u. a. Halter 2000: 7-8). Im Folgenden werde ich nun erläutern, wie die Beziehung zwischen Essverhalten und Identität auf Basis der zuvor beschriebenen Ansätze Bourdieus und Pasi Falks begriffen wird. Dabei werde ich darauf eingehen, wie diese Ansätze auf den regionalen Kontext Costa Rica anwendbar sind. 1.4.2 Habitus, Geschmack und Lebensstil Wie unter Punkt 1.4 gezeigt, bildet der Geschmack einer Küche die Bedingung, über welche die Küche zum Identitätsmarker werden kann. Die identitätsstiftende Bedeutung des Geschmacks lässt sich mithilfe der Habitus-Theorie Bourdieus verstehen.
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Für Bourdieu stellt der Geschmack einen zentralen Bestandteil des Habitus dar, der wie der gesamte Habitus während der Sozialisation geprägt wird (vgl. Barlösius 1999: 109; Bourdieu 2007: 17-18). Er ist der »praktische […] Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und ›distinktive Zeichen‹ […]« (Bourdieu 2007: 284), d. h. durch den Geschmack werden die Dinge zum Ausdruck einer bestimmten sozialen Position. So wird eine Unterscheidung sozialer Positionen anhand der wahrgenommenen Vorlieben möglich. »Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat […]; wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird« (Bourdieu 2007: 104). Er ist untrennbar mit den Lebensumständen des Habitus verbunden, durch den er erzeugt wurde, da die vom Habitus erzeugten Praktiken und Denkweisen diesen Lebensumständen entsprechen. Geschmacksentscheidungen sind daher unbewusste Entscheidungen für das innerhalb dieser Lebensumstände Mögliche. Obwohl der Geschmack in der Regel aus den wirtschaftlichen Bedingungen hervorgeht, unter denen er dann auch wirkt, besteht kein direkter Einfluss des Einkommens auf den Geschmack und die Wahl der konsumierten Produkte. Vielmehr wird dieser Einfluss erst durch den Habitus erzeugt, der den Geschmack hervorgebracht hat. So kann ein gleiches Einkommen bei Personen mit unterschiedlichem Habitus mit unterschiedlichem Konsumverhalten verbunden sein (vgl. Bourdieu 2007: 594). Der Geschmack als die »Fähigkeit, über ästhetische Qualitäten unmittelbar und intuitiv […] urteilen« (Bourdieu 2007: 174) zu können kann nicht vom Essgeschmack, der »Fähigkeit zur Unterscheidung jeweils spezifischer Geschmacksrichtungen von Speisen, womit die Vorliebe für bestimmte unter ihnen impliziert ist« (Bourdieu 2007: 174), getrennt werden. Ebenso wenig lässt sich der Essgeschmack aus dem Gesamtzusammenhang des Lebensstils herauslösen. So korreliert die Vorliebe für bestimmte Gerichte und Zubereitungsweisen zum Beispiel mit allgemeinen Ansichten über geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Hausarbeit (vgl. Bourdieu 2007: 304). Ebenso hängt der Geschmack auch mit dem innerhalb einer Gesellschaft oder einer sozialen Klasse vorherrschenden Körperbild und den Auffassungen darüber zusammen, welche Folgen der Konsum eines bestimmten Gerichtes für den eigenen Körper mit sich bringt (vgl. Bourdieu 2007: 305-7). Der Geschmack stellt daher ein wichtiges soziales Distinktionsmittel dar. Die Produkte, die in Folge einer auf Geschmack basierenden Entscheidung gekauft werden, werden daher, ebenso wie Zubereitungsweise und die Art und Weise, wie gegessen wird, zum Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozioökonomischen Klasse. Bourdieu stützte sich bei der Entwicklung seines Konzeptes auf Studien zum Konsumverhalten der französischen Bevölkerung der 1960er und 1970er Jahre und beschrieb den Geschmack als Marker sozialer Unterschiede. In Bezug auf die costa-ricanische Gesellschaft kann man, vor dem Hintergrund, dass in der regionalen Unterscheidung der drei Regionen Valle Central, Guanacaste und Limón immer auch ethnische und sozioökonomische Unterschiede implizit waren,
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den Geschmack und das Essverhalten auch als Ausdruck regionaler Unterschiede und Zugehörigkeiten betrachten (vgl. Punkt 3.1.1). Neben innergesellschaftlichen Unterschieden werden allerdings auch Verschiedenheiten auf internationaler Ebene über das Essverhalten markiert. Die Entscheidung für einen Lebensstil, für ein bestimmtes Essverhalten kann nach Bourdieu nicht bewusst erfolgen. Der Habitus, welcher durch die Sozialisation geprägt wurde, kann nicht ohne weiteres verändert werden, was auch bedeutet, dass man nicht ohne weiteres einen anderen Geschmack erlernen kann. Zu einer Veränderung des Habitus und damit auch des Lebensstils und des Geschmacks kann es bei einer Veränderung des sozialen Feldes kommen, in deren Folge der Habitus nicht mehr optimal an die Strukturen dieses Feldes angepasst ist (vgl. Bourdieu 2008: 116-17). Für Costa Rica kann man annehmen, dass die transnationalen Einflüsse wie zum Beispiel importierte Produkte, transnationale Restaurant-Ketten, Lebensmitteldiskurse, Tourismus und Transmigration, eine Veränderung des sozialen Feldes sowie der Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata bewirken. So ist es denkbar, dass im transnational geprägten Kontext z. B. die Umwandlung von ökonomischem in symbolisches Kapital nicht mehr durch die gleichen Konsummuster erfüllt werden oder kulturelles Kapital nicht mehr in gleichem Maße in ökonomisches Kapital umgewandelt werden kann (vgl. auch Shilling 1993: 143; Featherstone 1990a: 9, 11-12). Wirkt der Habitus nicht mehr im Feld seiner Entstehung, so sind die Praktiken, die von ihm erzeugt werden, nicht mehr im Einklang mit den Strukturen des sozialen Feldes. Die Akteure sind dann gezwungen, ihr Handeln zu überdenken, der eigene Habitus wird bewusst. Die veränderten äußeren Bedingungen können eine Veränderung des Konsumverhaltens, des Geschmacks und des Habitus der lokalen Bevölkerung zur Folge haben. Bourdieu versteht den Geschmack als Distinktionsmittel, über welches die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozioökonomischen Klasse ausgedrückt wird. Soziale Ordnung und soziale Unterschiede drücken sich in den Lebensstilen aus und werden anhand dieser gefestigt. Die Lebensstile werden von den Akteuren allerdings nicht frei gewählt, sie sind das Ergebnis der Einverleibung der Schemata und Dispositionen des sozialen Feldes, in welches die Akteure hineingeboren wurden.33 Bourdieus Ansatz unterscheidet sich damit von Ansätzen, die das Konsumverhalten als aktiv und bewusst genutztes Mittel zum Ausdruck eines Lebensstils bzw. der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ansehen.
33 Vor diesem Hintergrund kann man auch Billigs Konzept des Banalen Nationalismus auf das Essverhalten anwenden (vgl. Billig 1995: 8).
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1.4.3 Nahrung als Commodity Auch in Ansätzen, in denen die Identitätskonstruktion als aktiver Prozess betrachtet wird, bei dem Konsumgüter eine wichtige Rolle spielen, werden Konsumgüter als ›distinktive Zeichen‹ verstanden. In der Regel werden sie dabei als Waren im Sinne Appadurais Commodity-Definition aufgefasst. Arjun Appadurai definiert Waren als »[…] things that, at a certain phase [Hervorhebung im Original] in their careers and in a particular context [Hervorhebung im Original], meet the requirements of commodity candidacy« (Appadurai 1986: 16).34 Dinge wie auch Personen haben nach Ansicht Appadurais ein soziales Leben. Ihr Wert ist nie eine der Sache selbst inhärente Eigenschaft, sondern entsteht erst durch die Bewertung der Sache durch Akteure in sozialen Interaktionen, in denen die Sachen zu Waren werden. Die Bedeutung und der Wert einer Sache sind also sozial konstruiert. Nach Pasi Falk übernehmen Waren als Repräsentationen hochgeschätzter Vorbilder und Werte eine zentrale kommunikative Funktion im sozialen Wettbewerb und spielen auch bei der Herausbildung und Darstellung von Identität eine entscheidende Rolle. »Goods act both as material representatives of valued models and as materializations of cultural values and ideals. In either case, they act as positive representations, as ›good objects‹ to be striven for.« (Falk 1994: 129; auch 38, 845). Über den Konsum von Gütern, welche für hochgeschätzte Werte stehen, kann man sich von denjenigen abgrenzen, die sozial schlechter gestellt sind; ebenso kann man sich über den Konsum einer Ware mit denjenigen identifizieren, die dieselben Produkte konsumieren bzw. mit dem, wofür diese Güter stehen (vgl. Falk 1994: 121). Unter Bezugnahme auf Falks Ansatz definiert Deborah Lupton Lebensmittel als »the ultimate ›consumable‹ commodity« (Lupton 1996: 22). Essen, also das Inkorporieren von Nahrungsmitteln, stellt ihrer Ansicht nach den höchsten Grad der Einschreibung von Konsumverhalten in den Körper dar. Essen wird nicht nur aufgrund seiner nährenden Eigenschaften konsumiert. Vielmehr spielen die kulturellen und sozialen Werte, die mit den unterschiedlichen Lebensmitteln verbunden sind, eine wichtige Rolle. Essen als Ware kann damit als Träger bestimmter Bedeutungen verstanden werden, als Symbol, als Repräsentant. Indem der Konsument ein Lebensmittel verzehrt, werden die Werte, die mit diesem Lebensmittel verbunden sind, auf 34 Die Idee der ›commodity phase‹ bezieht sich dabei auf die Annahme, dass Dinge den Zustand einer Ware annehmen können, ihn aber auch wieder verlassen. Das Konzept der ›commodity candidacy‹ beschreibt die Kriterien der Möglichkeit des Tausches oder Handels von Dingen in einem spezifischen sozialen, kulturellen oder historischen Kontext. Der ›commodity context‹ verweist auf die Vielzahl sozialer Kontexte innerhalb und zwischen kulturellen Einheiten, durch welche die ›commodity candidacy‹ einer Sache mit der ›commodity phase‹ verbunden werden kann (vgl. Appadurai 1986: 13-15).
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ihn selbst übertragen, sie werden zum Ausdruck des Bildes, das er selbst von sich hat bzw. des Bildes, das er anderen von sich vermitteln will. Der Konsum dieser Lebensmittel erfüllt damit im sozialen Wettbewerb eine aktive und kommunikative Funktion und stellt daher einen wichtigen Aspekt der Bildung und des Ausdrucks der Identität dar (vgl. Falk 1994: 38). In diesem Zusammenhang spielt der eigentliche Geschmack nur eine Nebenrolle; worauf es ankommt, sind die Bilder und Bedeutungen, die das Nahrungsmittel umgeben (vgl. Lupton 1996: 23). Sollen Lebensmittel konsumiert werden, müssen sie positiv konnotiert und für die Konsumenten erstrebenswert sein. Die Abgrenzung über das Konsumverhalten spielte in Costa Rica in der Vergangenheit eine große Rolle. Die Vorliebe für europäische und später USamerikanische Importgüter in der costa-ricanischen Ober- und Mittelschicht (vgl. Vega Jiménez 1991: 58) kann als aktiver Versuch gedeutet werden, sich über den Erwerb von Produkten, die den Angehörigen anderer sozioökonomischer Klassen nicht zugänglich waren, abzugrenzen. Auch kann sie als Versuch gewertet werden, sich mit dem Lebensstil der europäischen bzw. der US-amerikanischen Gesellschaften zu identifizieren. In Costa Rica drückten sich Unterschiede innerhalb der Gesellschaft in der Vergangenheit anhand von Essverhalten und der Vorliebe für bestimmte Produkte, Gerichte und Zubereitungsweisen aus; zudem wurde Ess- und Konsumverhalten von einzelnen Gruppen genutzt, um ihren eigenen Lebensstil und ihre eigene Position in der costa-ricanischen Gesellschaft darzustellen. Essverhalten war damit Ausdruck von Identität und wurde aktiv zur Konstruktion von Identität genutzt. Transnationalen Kontakten kam in diesem Zusammenhang große Bedeutung zu. Um die aktuelle Beziehung zwischen Essverhalten und Identität in Costa Rica zu verstehen, müssen daher beide Sichtweisen berücksichtigt und angenommen werden, dass sich einzelne soziale, regionale oder kulturelle Gruppen aufgrund ihres Essverhaltens unterscheiden, dieses aber auch nutzen, um aktiv Zugehörigkeit und Identität zu konstruieren.
THEORETISCHER RAHMEN | 67
1.5 S CHLUSSBEMERKUNG In diesem Kapitel wurden die für die Arbeit zentralen theoretischen Konzepte beschrieben und ihre Anwendbarkeit auf den regionalen Kontext Costa Rica dargelegt. Die Forschung wurde in den Rahmen der Debatten über Transnationalismus, Globalisierung und Nationalstaat sowie die Diskussion zum Verhältnis von globalen Einflüssen und lokaler Kultur und die Debatten über die Konstruktion von Identität eingeordnet und es wurde gezeigt, welchen Beitrag die Untersuchung der Konstruktion der costa-ricanischen Küche und des Essverhaltens zu diesen Diskussionen leisten kann.
2. Forschungsmethoden
Inhalt des folgenden Kapitels ist die Vorstellung der zur Datenerhebung verwendeten Methoden. Meine Forschung gründete sich in erster Linie auf die Bereiche der Literatur- und Medienrecherche und der Feldforschung. Die Literatur- und Medienrecherche diente zur Beschaffung eines Überblicks im Vorfeld der Feldforschung und zur Vorbereitung dieser. Die Berücksichtigung schriftlicher Dokumente, u. a. Zeitschriften, aber auch Zensus- und Umfragedaten, war allerdings auch ein Element der Feldforschung. Obwohl dieses Kapitel vornehmlich der Darstellung der Feldforschung dient, werde ich daher kurz auf die Literaturrecherche eingehen. Der Schwerpunkt des Kapitels wird allerdings auf der Besprechung der Rahmenbedingungen der Feldforschung und der dieser Forschung zugrunde liegenden qualitativen Forschungsmethoden, der Teilnehmenden Beobachtung, der Halbstrukturierten Interviews sowie des Pile-Sortings und des Free-Listings liegen.
2.1 L ITERATUR - UND M EDIENRECHERCHE Die Literatur- und Medienrecherche bildete einen zentralen Bestandteil der Untersuchung des Bildes der costa-ricanischen National- sowie der Regionalküchen im akademischen und touristischen Kontext. In Kapitel 3, das eine Analyse der Beziehung zwischen Identität und costa-ricanischer Küche in der Vergangenheit und der Konstruktion der Nationalküche und der Regionalküchen im akademischen wie im touristischen Kontext wiedergibt, wird diese Bedeutung der Literatur- und Medienrecherche verdeutlicht. Dort wird insbesondere auf die Bedeutung der Betrachtung von Kochbüchern zur Untersuchung des Bildes der National- und Regionalidentität und -küche hingewiesen. Kochbücher und Rezeptsammlungen, die im Zuge der akademischen und/oder politischen Erhaltungsversuche der traditionellen Küche sowie im Bereich der Tourismusindustrie herausgegeben wurden, bildeten neben Darstellungen der costa-ricanischen Küche auf Homepages und in Reiseführern ei-
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ne wichtige Grundlage zur Erforschung des aktuellen Bildes der costa-ricanischen Küche im akademischen wie im touristischen Diskurs. Ein weiterer Schwerpunkt der Literatur-und Medienrecherche lag auf der Auswertung geschichts-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Studien über transnationale Beziehungen Costa Ricas. Besonderes Interesse galt hierbei Studien zu Transmigrationsprozessen und dem internationalen Tourismus und deren Auswirkungen auf das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Costa Ricaner, wobei die Auswirkungen auf die Herausbildung und die Konstruktion von nationaler Identität vorrangig betrachtet wurden. Ergänzt wurden diese Studien ferner durch Statistiken zu internationalem Tourismus, zu Migration und Ernährungsweise, wobei die Daten aus in den Jahren 2000 und 2011 erhobenen Zensus des Instituto Nacional de Estadísticas y Censo (INEC), aus der Encuesta Nacional de Nutrición 1982 und 1996, des Ministerio de Salud sowie des Instituto Costarricense de Turismo (ICT) (2011) und der Welttourismusorganisation (UNWTO) (2008) herangezogen wurden. Zudem wurden Berichte aus den bedeutendsten costa-ricanischen Zeitungen La Nación, Diario Extra, Al Día und Prensa Libre wie auch der Onlinezeitschrift El Financiero CR.com über Themen der Ernährung, Tourismus und Migration, aber auch der Regionalküchen und Regionalidentitäten Costa Ricas in die Forschung integriert. Außerdem verschiedene Ausgaben der Kochzeitschriften Mucho Gusto und Sabores. So konnte ein zusätzlicher Einblick in das über Kommunikationsmedien verbreitete Bild der lokalen Küchen und Ernährungsweisen sowie die Einstellungen gegenüber Tourismus und Migration erhalten werden. Mithilfe dieser Recherchen wurde bereits vor der Feldforschung ein möglichst umfassender Überblick über die aktuelle Situation Costa Ricas als ein durch transnationale Beziehungen geprägtes Land, und auch über das vorherrschende Bild und die Bedeutung der lokalen Küche im akademischen, im touristischen, im politischen und im öffentlichen, durch die Kommunikationsmedien verbreiteten Diskurs, gewonnen, somit konnte an die bereits bestehenden Forschungen angeschlossen und die eigene Forschung darin verortet werden. Die Literatur- und Medienrecherche setzte ich während der Feldforschungsphase fort. Im Verlauf der Feldforschung konnte ich die in Literatur und Medien präsenten Bilder und Einstellungen nicht nur mit den Ansichten meiner Informanten vergleichen, sondern auch mit ihnen diskutieren. In den folgenden Abschnitten werde ich die Rahmenbedingungen der Feldforschung beschreiben und dabei zunächst auf die Wahl meiner Forschungsorte eingehen.
FORSCHUNGSMETHODEN | 71
2.2 W AHL
DER
F ORSCHUNGSORTE
Neben der Literatur- und Medienrecherche basierte die Datenerhebung insbesondere auf qualitativen Forschungsmethoden. Von September 2010 bis August 2011 führte ich eine einjährige Feldforschung in Costa Rica durch. Aufgrund der in der costa-ricanischen Öffentlichkeit vorherrschenden Auffassung (vgl. auch Kapitel 3), das Land sei kulinarisch und kulturell in drei Regionen zu unterteilen (das Valle Central, Guanacaste und Limón), sowie der mit dieser Dreiteilung in der Geschichte verbundenen Marginalisierungen, konzentrierte ich meine Forschung auf diese drei Regionen. Die Wahl der Forschungsorte erfolgte dabei auf Basis schon vorhandener Literatur zur Geschichte und Kultur der Orte sowie deren Bedeutung im öffentlichen Diskurs hinsichtlich meines Forschungsthemas. Nicht zu vernachlässigen war ferner die Möglichkeit, einen Zugang zum Ort und potentiellen Interviewpartnern zu erhalten. Dieses die Infrastruktur der Forschung betreffende Argument war vor allem in Hinblick auf die zeitliche Beschränkung meiner Forschung von Relevanz. Als Forschungsorte wählte ich die Provinzhauptstadt Heredia im Valle Central, den Küstenort Puerto Viejo de Talamanca in Limón und die Kleinstadt Santa Cruz in Guanacaste. In Heredia bestanden schon durch meine vorherigen Aufenthalte in Costa Rica in den Jahren 2005 und 2007 Kontakte zu lokalen Familien sowie wissenschaftlichen und touristischen Einrichtungen, wodurch ein erleichterter Zugang zum Forschungsfeld möglich war. Im Fall von Puerto Viejo und der Region Talamanca wurde der Zugang über die mir seit Sommer 2010 bekannte Autorin Carolina Jiménez Acuña ermöglicht; in Santa Cruz wurden die Erstkontakte zu den lokalen Familien über seit 2007 bestehende persönliche Kontakte etabliert. Die nachfolgenden Abschnitte dienen der Vorstellung der drei Orte. Der Schwerpunkt liegt auf der geschichtlichen Entwicklung, die entscheidend zur Spezifität und heutigen Bedeutung der Orte beigetragen hat und für mich ein wichtiges Auswahlkriterium darstellte. Des Weiteren wird die aktuelle Situation der Orte hinsichtlich der transnationalen Einflüsse auf das Konsum- und Essverhalten beschrieben werden. 2.2.1 Heredia Meine Forschung begann im September 2010 in Heredia, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Valle Central, die sich in etwa 15 Kilometern Entfernung zur Landeshauptstadt San José befindet. Mit 433.677 Einwohnern ist Heredia die kleinste Provinz des Valle Central. Der Kanton selbst zählt im Jahr 2011 123.616 Einwohner, 123.255 zählen zur Stadtbevölkerung (vgl. INEC 2011a). In der Provinz leben 43.483 Personen ohne costa-ricanische Staatsangehörigkeit. Wie auch auf nationaler Ebene macht in Heredia die nicaraguanische Transmigration den
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größten Anteil aus. 30.259 der ausländischen Bevölkerung sind nicaraguanische Staatsbürger, wobei die Anzahl der Transmigrantinnen mit 16.005 überwiegt (vgl. INEC 2011c). Nicht nur geographisch ist Heredia der costa-ricanischen Hauptstadt und den Provinzhauptstädten Alajuela und Cartago nahe, auch in Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung ist die Stadt mit den übrigen Provinzhauptstädten vergleichbar. Im Jahr 1706 begann die Besiedlung des heutigen Heredias durch die Spanier, nachdem Auswanderer aus Cartago dort einen Wallfahrtsort gegründet hatten (vgl. Rodríguez Argüello 2010: 11-12). Dieser Wallfahrtsort trug zunächst den Namen Alvirilla, später ging daraus der Ort Cubujuquí hervor. Mit der Gewährung des Titels ›Villa‹ im Jahr 1763 trug die Stadt den offiziellen Namen ›Villa de la Inmaculada Concepción de Cubujuquí de Heredia‹, war fortan unter ›Villa Heredia‹ bekannt und wurde im Jahr 1813 offiziell umbenannt (vgl. Rodríguez Argüello 2010: 12-14; 1998: 9-13). Im ›Guerra de la Liga‹, dem Krieg, der 1835 von den Provinzen des Valle Central um die Landeshauptstadt geführt wurde, stand Heredia auf der Seite Cartagos und Alajuelas (vgl. Rodríguez Argüello 2010: 17; Rodríguez Argüello 1998: 22). Ab 1832 begann der Kaffeeanbau in der Provinz, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte Region und auch die Provinz Heredia prägte (vgl. González Flores 1997: 223; Gudmundson 1986: 4; Molina Jiménez/Palmer 2009: 63-4; Rodríguez Argüello 2010: 19). Bereits im Jahr 1836 lässt sich dies für Heredia erkennen: Unter Bezugnahme auf den Censo Cafetalero aus dem entsprechenden Jahr gibt Rodríguez Argüello an, dass auf Fincas im Besitz von Costa Ricanern 99,34% der 3.233 Manzanas, ca. 1308,35 ha, für den Kaffeeanbau genutzt werden; wobei es sich bei den Fincas um kleine Subsistenzbauernhöfe handelte und jeder Besitzer etwa über 3,62 Manzanas, ca.1,7 ha, verfügte (vgl. Rodríguez Argüello 2010: 19). Der zunehmende Export des Kaffees nach Europa ging mit einem Anwachsen des Wohlstandes der lokalen Bevölkerung einher und konsolidierte gleichzeitig die bestehende soziale Hierarchie1 (vgl. González Flores 1997: 224; Gudmundson 1986: 77; Molina Jiménez/Palmer 2009: 65-6). Aufgrund des neuen Wohlstandes und der bestehenden Handelsbeziehungen nach Europa weitete sich der Konsum europäischer Importgüter aus. Vor allem die Kaffeeelite nutzte diese und ihre Beziehungen nach Europa zur sozialen Distinktion (vgl. González Flores 1997: 224; Punkt 3.2; 3.3), das Konsumverhalten spielte für die lokale Bevölkerung Heredias in der Geschichte also eine große Rolle für die Identitätskonstruktion.
1
Gudmundson weist insbesondere für Heredia darauf hin, dass bereits vor dem eigentlichen Kaffee-Boom ab Mitte des 19. Jahrhunderts starke soziale Ungleichheit herrschte und die damaligen Eliten ihre Stellung mit dem Kaffee festigen konnten, Eliten also nicht erst mit dem Kaffee-Boom entstanden, sondern in Folge des Kaffeeanbaus bestehende Eliten zur Kaffeeoligarchie wurden (vgl. Gudmundson 1986: 64, 77).
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Bis in die 1950er Jahre war der Kanton Heredia durch die Landwirtschaft und den Kaffeeanbau im Besonderen geprägt. Der landwirtschaftliche Sektor verlor allerdings zunehmend an Bedeutung, im Jahr 2000 sind nur noch 29,7% der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, 68% im Dienstleistungssektor. Die Stadt ist auch heute umgeben von Kaffeeplantagen - Kaffee wurde im Jahr 2004 im Kanton noch auf etwa 91% der landwirtschaftlich genutzten Fläche angebaut, allerdings nur noch auf 544,12 ha (vgl. INEC 2007: 170). Zudem werden die Kaffeeplantagen heutzutage nicht ausschließlich für den Kaffeegewinn, sondern auch als touristische Attraktionen genutzt.2 Ab den 1990er Jahren zählen transnationale SoftwareUnternehmen wie zum Beispiel Intel und Microsoft zu wichtigen Arbeitgebern. Ferner ist die Erwerbstätigkeit regional nicht mehr auf die Provinz beschränkt, ein Großteil der Beschäftigten pendelt zwischen Heredia und den anderen Provinzen des Valle Central. Was das Bildungswesen betrifft, so wurde 1751 die erste Schule in Heredia eröffnet, 1845 die erste Sekundarschule, 1914 das Liceo de Heredia und 1973 die Universidad Nacional, welche heute nach der Universidad de Costa Rica die wichtigste Universität des Landes ist (vgl. Rodríguez Argüello 2010: 25). Die von dieser Universität initiierten und unterhaltenen Projekte zum Erhalt der traditionellen costa-ricanischen Kultur, wie zum Beispiel das Museo de Cultura Popular, bildeten einen wichtigen Grund für die Wahl der Stadt zum Forschungsort. Ein weiterer Vorteil der Stadt Heredia war neben der Nähe zu San José und der Universidad de Costa Rica auch die Tatsache, dass in der Stadt seit den 1980er Jahren einige Sprachschulen sowie internationale Universitäten angesiedelt sind. Über diese Einrichtungen bestehen Home-Stay-Programme und viele im Stadtzentrum lebende heredianische Familien nehmen internationale Touristen bei sich auf, haben also direkten Kontakt zu diesen. Durch die Universitäten und Sprachschulen ist das Stadtbild heute durch ein junges, internationales Publikum geprägt. Das Bild der Stadt als Stadt der Kaffeeproduktion wurde im nationalen Diskurs 3 durch das der Stadt der Fast-Food-Restaurants ersetzt. Die Straße stadtein- bzw. -auswärts, an den Gebäuden der Universidad Nacional vorbei nach San José, ist von Restaurants der Fast-Food-Konzerne gesäumt, weshalb sie auf lokaler wie nationa2
Das prominenteste Beispiel für die Öffnung der Kaffeeplantagen für den Tourismus ist Café Britt. Hier werden Touren zu einer der Plantagen angeboten. Neben der Verkostung verschiedener Röstungen wird dabei auch ein Theaterstück aufgeführt, bei dem der Kaffeeanbau im 19. Jahrhundert nachgestellt wird (vgl. Café Britt 2012).
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Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der 2006 in der Septemberausgabe der Zeitschrift Sabores erschienene Artikel zur traditionellen Küche Heredias »Heredia aún sabe a pueblo« [Übersetzung: Heredia schmeckt noch nach Land(leben)] (Sabores 2006: 67-75) als ein Versuch, diese Ansicht zu revidieren verstehen, mit der einleitenden Versicherung, dass trotz der Fast-Food-Restaurants die traditionelle lokale Küche fortbesteht (vgl. Sabores 2006: 67).
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ler Ebene unter dem Namen ›Calle Chatarra‹, Junk-Food-Straße, bekannt ist (siehe Abbildung 2.1). Das historische Zentrum der Stadt bildet der Parque Central, umrandet von der 1797 erbauten Kirche La Inmaculada Concepción, dem Postgebäude und der Casa de la Cultura, sowie dem 1876 fertiggestellten Wachturm und Wahrzeichen der Stadt El Fortín. Auf der anderen Seite dieses Parks sind die Häuser zu Restaurants der Eisdielenkette Pops, der Café-Kette EntrePans und der Fast-Food-Ketten El Testy und Mr. Burger umgebaut worden, auch dies ein Hinweis auf die zunehmende Ausbreitung von Fast-Food-Angeboten in der Stadt, welche nicht allein auf den Parque Central beschränkt, sondern im ganzen Stadtzentrum verbreitet sind und neben den ausdrücklich auf Fast Food spezialisierten Restaurants nationaler oder internationaler Ketten auch in Sodas, an der Seite von Casados und Gallo Pinto zu finden ist. Darüber hinaus gibt es in der Stadt allerdings auch zahlreiche Restaurants und Cafés mit internationaler, u. a. italienischer, französischer und chinesischer Küche, bzw. einem Angebot an Sushi, an vegetarischen Gerichten oder Meeresfrüchten. Abbildung 2.1: Die ›Calle Chatarra‹ in Heredia
Quelle: Mona Nikoli, 2013
Restaurants, die sich auf die ›Comida Típica‹4 spezialisiert haben, finden sich vor allem in den umliegenden Dörfern, beispielsweise im etwa drei Kilometer vom 4
Bei den hier angebotenen Gerichten handelt es sich, verwendet man die akademische Definition von ›Comida Típica‹ als einzigartig, eher um ›Comida Tradicional‹, d. h. Gerichte der costa-ricanischen kulinarischen Tradition. Allerdings ist auch die Verwendung des Begriffs ›Comida Típica‹, selbst wenn es sich um Gerichte handelt, die im gesamten zent-
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Stadtzentrum entfernten Dorf Barva, das als kulturelles und künstlerisches Zentrum Heredias gilt und insbesondere für die dort erhaltene Lehmziegelarchitektur und die Maskenherstellung berühmt ist. Im Restaurant La Fonda des dortigen Museo de Cultura Popular werden am Wochenende Gerichte der ›Comida Típica‹ angeboten, auf der Cocina de Leña gekocht oder im Horno de Barro gebacken; während der Woche werden Kochkurse für Schulklassen zur Zubereitung von Backwaren der costa-ricanischen Küche veranstaltet. Das Museum, in dem das Alltagsleben im Valle Central in einem Landhaus des 19. Jahrhunderts nachgestellt ist, ist, ebenso wie das Restaurant, beliebtes Ziel für Sonntagnachmittagausflüge unter heredianischen Mittelschichtfamilien. Auch was andere Restaurants mit einem Angebot an costaricanischer Küche betrifft, werden diese in der Regel von lokalen Angehörigen der Mittelschicht, weniger von internationalen Touristen, besucht. Das Angebot an Einkaufsmöglichkeiten ist ähnlich breit gefächert wie das an Restaurants. Einerseits gibt es den Mercado Central, in dem sich ebenfalls Sodas mit ›Comida Popular‹ befinden, und jeden Samstag die Feria del Agricultor, wo Bauern aus der Provinz ihre Produkte verkaufen; andererseits Pulperías und Supermärkte wie der costa-ricanische AutoMercado und die zur Walmart-Kette zählenden Supermärkte Palí, Hípermás (inzwischen Walmart Supercenter) und Más X Menos mit einer Mischung aus lokalen und Importprodukten; aber auch Märkte wie PriceSmart, deren Angebot an günstigen Großpackungen importierter Produkte nur Mitgliedern zugänglich ist, wobei alle von mir befragten Gastmütter eine Kundenkarte dieses Marktes besaßen. Eine weitere Einkaufsmöglichkeit stellt die an der Straße nach San José gelegene Mall Paseo de las Flores dar. In dieser Mall erledigten meine Interviewpartner in erster Linie Bankgeschäfte oder Einkäufe im Más X Menos, vor allem an Wochenenden besuchten sie zum Teil allerdings auch die über fünfzig vor allem von nationalen und transnationalen Unternehmen betriebenen Kettenrestaurants und -cafés (vgl. Paseo de las Flores 2012). 5 2.2.2 Puerto Viejo de Talamanca In Puerto Viejo de Talamanca, meinem zweiten Forschungsort, setzte ich meine Feldforschung von März 2011 bis Mitte Mai 2011 fort.
ralamerikanischen Kontext verbreitet sind, insofern gerechtfertigt, als dass es sich oft um lokalspezifische Versionen der einzelnen Gerichte handelt. 5
In Bezug auf den Einkauf in der Mall führten meine Interviewpartner oft ökonomische Beweggründe an: Mit Ausnahme des Einkaufs im Más X Menos und des Kinobesuchs erklärten sie den Besuch der Restaurants und insbesondere der Kettenrestaurants und -cafés zu den Aktivitäten, denen sie in der Mall nachgehen könnten, da ein Einkauf in den Geschäften zu teuer sei.
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Die Geschichte des Ortes Puerto Viejo de Talamanca beginnt mit seiner Gründung als ›Old Harbour‹ durch afrokaribische Einwanderer im 19. Jahrhundert. Dieser Ortsgründung gingen im späten 18. Jahrhundert Aufenthalte von Schildkrötenjägern voraus, welche aus Bocas del Toro, Panama, von der Insel San Andrés oder der afrokaribischen Atlantikküste Nicaraguas, insbesondere Bluefields, die costaricanische Atlantikküste aufsuchten, um hier von März bis September Schildkrötenjagd zu betreiben. Während dieser zeitlich begrenzten Aufenthalte pflanzten sie an den Küsten u. a. Yams, Maniok, Kochbananen und Kokospalmen an, die heute das Küstenpanorama prägen. Diesen befristeten Aufenthalten folgte die permanente Besiedelung der Region durch afrokaribische Einwanderer und der Gründung des heutigen Cahuita im Jahr 1828 folgte die Gründung der Gemeinden Puerto Viejo, Manzanillo und Punta Uva (vgl. Palmer 2005: 21, 31, 34-5; Jiménez Acuña 2007: 105). Die afrokaribische Einwanderung in dieser Region war also nicht, wie für die Provinz Limón oft in allgemeiner Form beschrieben, in erster Linie auf den Eisenbahnbau und die Ankunft afrokaribischer Arbeitskräfte aus Jamaika und den Antillen zurückzuführen. Nicht zuletzt aufgrund der schlechten Zugänglichkeit und der fehlenden Anbindung insbesondere an die Hauptstadt San José führten die Bewohner der Region Talamanca, bei denen es sich in erster Linie um afrokaribische Einwanderer und die autochthonen Bevölkerungsgruppen Talamancas handelte, lange Zeit ein isoliertes Dasein und waren weitgehend auf sich allein gestellt (vgl. Palmer 2005: 47-8, 206).6 Die Bevölkerung lebte – wie zum Teil heute noch – vom Fischfang und der Schildkrötenjagd und nutzte auch die angrenzenden Bergwälder als Nahrungsquelle. Zudem bauten die Familien einige Gewürz- und Gemüsesorten in ihren Gärten an, hielten Nutztiere und lebten auf diese Weise weitgehend auf der Basis von Subsistenzwirtschaft. Trotz der frühen Einrichtung einer Polizeistation in Cahuita und Puerto Viejo im Jahr 1900 sowie einer Grundschule in den 1920er Jahren wurde die Präsenz der costa-ricanischen Regierung erst in den 1970er Jahren spürbar (vgl. Palmer 2005: 6
Im Jahr 1870 wurde der Bau der Eisenbahnverbindung zwischen San José und Puerto Limón beschlossen. Das Projekt musste 1873 allerdings aufgrund von Geldmangel eingestellt werden und wurde erst 1884 von Minor Keith fortgesetzt. Mit dem Bau der Eisenbahnstrecke kamen jamaikanische und andere afrokaribische, chinesische und italienische Einwanderer als Arbeitskräfte in die Provinz Limón (vgl. Chacón Gutierrez 2000: 81; Molina Jiménez und Palmer 2009: 79-80; Ross de Cerdas 2002: 9, 18-19, 132-7). Trotz der Anbindung Puerto Limóns an San José blieb die Region Talamanca allerdings noch weitgehend unzugänglich. Eine Verkehrsanbindung an Limón erfolgte erst 1976 mit der Fertigstellung der Brücke über den Río Estrella (vgl. Palmer 2005: 225, 256). Für viele Costa Ricaner ist insbesondere die Region Talamanca, welche trotz ihres multikulturellen Charakters als afrokaribische Region angesehen wird, auch heute als separat und nicht richtig Teil des costa-ricanischen Staates zu sehen (vgl. Sharman 2001; Vandegrift 2007).
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252-5). Neben der fehlenden infrastrukturellen Anbindung an das costa-ricanische Valle Central war diese Isolation auch bewusster sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ausgrenzung und Diskriminierung der afrokaribischen ebenso wie der indigenen Bevölkerung geschuldet (vgl. Punkt 3.1.1) Die fehlende Anbindung an den costa-ricanischen Staat hatte eine Orientierung der Bevölkerung Talamancas hin zum Nachbarstaat Panama zur Folge, so unterhielt und unterhält die afrokaribische Bevölkerung dieser Region dorthin familiäre und wirtschaftliche Beziehungen, insbesondere ins benachbarte Bocas del Toro.7 Gegenüber der costa-ricanischen Regierung herrschten und herrschen dagegen Ressentiments vor, die mit der verstärkten Einflussnahme der costa-ricanischen Regierung in der Region auch zur Angst vor einem Verlust der eigenen Identität und Kultur führten (vgl. Palmer 2005: 208, 245, 251)8,9. Die verstärkte Berücksichtigung der Region im Rahmen von Regierungsaktivitäten ist auch in der Popularität Talamancas und der Karibikküste bei Ausländern begründet. Anfang der 1980er Jahre, als Talamanca noch weitgehend abgeschieden war,10 ließen sich Europäer und Nordamerikaner in Puerto Viejo nieder, um einen naturnahen und alternativen Lebensstil zu pflegen. Mit der wachsenden Beliebtheit der Region bei Touristen wurden Talamanca und Puerto Viejo auch Ziel nationaler Migration. Diese ersten Zuwanderungen setzten eine Reihe von demographischen Veränderungen in der Region in Gang. Aufgrund nationaler und internationaler Migration stieg ab den 1980er Jah7
Eine Vielzahl der in der Region ansässigen Familien haben bzw. hatten lange Zeit keine costa-ricanische Staatsangehörigkeit, sondern nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis und einen panamaischen, kolumbianischen, jamaikanischen oder nicaraguanischen Pass (siehe Punkt 5.1). Auch die Bedeutung der ökonomischen Beziehungen nach Panama wird in der Literatur erwähnt (vgl. Palmer 2005: 128; und speziell zum Thema Ernährung Jiménez Acuña 2007: 70-1).
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Die Ressentiments gegenüber der costa-ricanischen Regierung und die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur infolge der verstärkten Einflussnahme der nationalen Regierung beschreibt unter anderem Harpelle generell für die afrokaribische Bevölkerung Limóns. Er geht dabei allerdings eher auf das Aufkaufen der Grundstücke der United Fruit Company durch die Regierung ein und auf die Besiedelung dieser Gebiete durch ›spanische‹ Costa Ricaner in den 1920er-30er Jahren (vgl. Harpelle 2001: 92-3).
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Die Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität ist auch dadurch begründet, dass die costa-ricanische Regierung z. B. keinen englischsprachigen Schulunterricht anbot und somit die Muttersprache der anglophonen afrokaribischen Bevölkerung ignorierte (vgl. Molina Jiménez/Palmer 2009: 137-8).
10 Die fehlende Beachtung der Region durch die costa-ricanische Regierung zeigt sich auch in der Tatsache, dass Puerto Viejo bis ins Jahr 1986 nicht über ein Elektrizitätswesen und Trinkwasserversorgung verfügte, wie Carolina Jiménez anmerkt (vgl. Jiménez Acuña 2011).
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ren trotz der zeitgleichen Abwanderung vieler Angehöriger der lokalen Bevölkerung, insbesondere aufgrund fehlender Erwerbsmöglichkeiten, die lokale Bevölkerung stetig an (vgl. Vandegrift 2007: 125-7). Im Jahr 2011 zählt der Distrikt Cahuita, dem der Ort Puerto Viejo angehört, nach Zensusangaben 8.293 Einwohner (vgl. INEC 2011a). Die momentane Bevölkerungszahl für Puerto Viejo lässt sich auf 2500-3000 schätzen.11 Obwohl die Region Talamanca und der Ort Puerto Viejo nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin Orte mit einem hohen Anteil an afrokaribischer und indigener Bevölkerung sind, hat sich die Zusammensetzung der lokalen Bevölkerung in den letzten Jahren grundlegend verändert (vgl. Vandegrift 2007: 125).12 Puerto Viejo ist heute ein multikultureller Ort, in dem nicht nur die indigenen, spanisch-costa-ricanischen und afrokaribischen Einflüsse zusammentreffen, sondern der auch durch die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Einwanderung europäischer, nordamerikanischer, südamerikanischer und asiatischer Migranten geprägt ist. 30% der Bewohner Puerto Viejos besitzen keine costa-ricanische Staatsangehörigkeit (vgl. Sitios de Costa Rica 2004). Nicht nur aufgrund der Multikulturalität entwickelte sich Puerto Viejo mit Einsetzen des Tourismusbooms in Costa Rica in den 1980er Jahren immer stärker zum Touristenmagnet. Die Region Talamanca und der Ort Puerto Viejo wurden beliebte ökotouristische Ziele. Der Fokus auf den Ökotourismus und den gemeindeverträglichen Tourismus stellte ein Anliegen der lokalen Bevölkerung dar. Insbesondere die in den 1980ern zugewanderten Europäer und Nordamerikaner, welche aufgrund der Natur und Naturbelassenheit der Gegend in die Region gezogen waren, förderten die Herausbildung eines Umweltbewusstseins in der Gemeinde und die Gemeinde setzte sich daher auch für umwelt- und gemeindeverträglichen Tourismus in der Region ein. Es entstanden zahlreiche transnationale NGO-Umweltschutz- und Ökotourismusprojekte, wie die 1989 gegründete Asociación Talamanqueña de Ecoturismo y Conservación (ATEC) und Programme zur Zucht und Auswilderung von Meeresschildkröten und grünen Leguanen (vgl. Caribbean Way 2011a: 19-22). Neben den durch Nichtregierungsorganisationen initiierten und unterhaltenen Projekten wurde auch das Ministerio de Ambiente, Energía y Telecommunicaciones (Minaet) in der Region zunehmend ak11 Da im Zensus der Distrikt Cahuita die kleinste Einheit darstellt, lässt sich die Bevölkerung für Puerto Viejo nur schätzen, wobei man davon ausgehen kann, dass etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung des Distriktes Cahuita in Puerto Viejo lebt (vgl. Vandegrift 2007: 140). Darcie Vandegrift schätzt die Bevölkerung Puerto Viejos für 1998 auf 2000 Personen (vgl. Vandegrift 2007: 125). Ein weiteres Problem bei der Angabe der Bevölkerungszahl stellt die starke Fluktuation dar. 12 Vandegrift schätzt, ausgehend von Zensusdaten für den Distrikt Cahuita aus dem Jahr 2000, dass sich 26% der Bevölkerung Puerto Viejos als Afrokariben ansehen, 24% als Indígenas, und 50% sich keiner der im Zensus gefragten Kategorien zuordnen (vgl. Vandegrift 2007: 125).
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tiv, wie zum Beispiel die Eröffnung des Parque Nacional de Cahuita oder die verstärkte Ahndung von Verstößen gegen das Ley de Conservación de la Vida Silvestre, durch welches unter anderem die Jagd von Wildtieren untersagt wird, zeigt (vgl. Asamblea Legislativa 1992: Ley N° 7317, Kap.5 § 14). Aufgrund der radikalen Veränderungen innerhalb der letzten Jahrzehnte, der zunehmenden Beeinflussung durch die costa-ricanische Regierung, der translokalen und transnationalen Migration und der Bedeutung der afrokaribischen Küche und Kultur im Rahmen des internationalen Tourismus war Puerto Viejo de Talamanca ein idealer Ort, um die transnationalen und translokalen Einflüsse auf das Essverhalten und die Bedeutung der afrokaribischen Küche zu erforschen. Die Popularität bei Touristen hatte Auswirkungen auf das Stadtbild: Im Zentrum des Ortes finden sich über 50 Restaurants, Bars und Cafés, außerdem Souvenirshops, Internetcafés, Touristeninformation, Touranbieter, Surfschulen, Fahrradund Scooterverleih, eine Sprachschule und Hotels und Cabinas verschiedener Preisklassen. Geschäfte mit einem Angebot an Kunstwerken aus recycelten Materialien verdeutlichen genau wie die Tourangebote von ATEC den Fokus auf Öko- und gemeindeverträglichen Tourismus. Auch in Hinblick auf die institutionelle Infrastruktur hat sich der Ort verändert. Heute verfügt Puerto Viejo neben Polizeistation und Grundschule über je eine Filiale der Banco de Costa Rica und der Banco Nacional, eine Postfiliale, einen Servicio de Emergencias, dem Cinai, zwei Apotheken, Praxen für Physiotherapie und Massage, für Gynäkologie und für Zahnheilkunde sowie Tierarztpraxen. Darüber hinaus findet man im Zentrum zwei Anwaltskanzleien, Buchhandlungen, eine Baufirma, eine Autowerkstatt und -waschanlage, Wäschereien, die Busstation des Mepe, von wo aus unter anderem dreimal täglich eine Busverbindung von und nach San José besteht, die Casa de la Cultura und Kirchen verschiedener Konfessionen.13 Zudem gibt es in Puerto Viejo fünf Supermärkte, von denen der Super Old Harbour mit internationalem Angebot und der Megasuper die größten sind. Die große Anzahl an importierten europäischen und nordamerikanischen Markenprodukten, an Produkten aus biologischem Anbau und an Produkten für spezielle Ernährungsweisen wie Vegetarismus oder koschere Ernährung, welche allerdings auch das Angebot kleinerer Supermärkte und Pulperías auszeichnet, verdeutlicht die Ausrichtung auf ein internationales Klientel mit ökologischem Bewusstsein. Nichtsdestotrotz zählt auch die lokale Bevölkerung zu den Kunden dieser Supermärkte, denn die zuvor beschriebene Subsistenz ist Vergangenheit. Die wenigsten Familien bauen Lebensmittel in den eigenen Gärten an, und auch Nutz-
13 Hierbei handelt es sich, im Gegensatz zum römisch-katholisch geprägten Costa Rica, insbesondere um Kirchen protestantischer Glaubensgemeinschaften. Es findet sich unter anderem eine New Baptist Church, eine 7th Day Adventist Church und eine Pfingstkirche. Außerdem gibt es einen Königssaal der Zeugen Jehovas.
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tiere werden nicht mehr gehalten.14 Es wird zum Teil weiterhin auf wildwachsende Nahrungsmittel wie zum Beispiel Kokosnüsse sowie Obst- und Gemüsebananen zurückgegriffen, allerdings werden diese Lebensmittel häufig von denjenigen, die sie geerntet haben, verkauft. Vor allem Kokosnüsse bzw. agua de pipa werden von Straßen- oder Strandhändlern den Touristen angeboten. Das karibische Flair drückt sich in Puerto Viejo nicht nur durch die Klänge von Calypso- und Reggae-Musik aus, sondern auch durch die Präferenz der lokalen afrokaribischen Bevölkerung für die kreolisch-englische Sprache gegenüber dem Spanischen. An Souvenirständen überwiegen die Farben des Panafrikanismus sowie Bilder mit dem Portrait Bob Marleys. Auch Angebote, sich Rasta-Zöpfe flechten zu lassen, richten sich vor allem an ausländische Touristen, wobei Rasta-Frisuren auch von der lokalen Bevölkerung getragen werden. Obwohl sich das Stadtbild architektonisch in den letzten Jahren verändert hat und inzwischen von Beton dominiert wird, finden sich weiterhin buntbemalte Holzhäuser, zum Teil karibische Stelzenhäuser, auf deren Veranden sich das soziale Leben abspielt (vgl. Abbildung 2.2). Abbildung 2.2: Hotel, Bar und Restaurant in Puerto Viejo de Talamanca
Quelle: Mona Nikoli, 2011
14 Als ich Claudia, einer meiner afrokaribischen Interviewpartnerinnen, bei einem Besuch vor meiner Abreise nach Deutschland von meinem Aufenthalt in Guanacaste und dem dortigen Landleben erzählte, erklärte sie mir, dass die Nutztierhaltung in Puerto Viejo durch das Ministerio de Salud verboten sei, u. a. aufgrund von Lärmbelästigung, ebenso wie das Anlegen von Gärten, da so die Ausbreitung von Dengue in der Region verhindert werden solle.
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Zum karibischen Lebensgefühl tragen auch Restaurants, Cafés und Bars bei. Hier wird das Thema Karibik in das Menü aufgenommen, nicht nur durch Gerichte wie die Pizza Caribeña oder Tacos Caribeños, sondern vor allem durch das Angebot an Gerichten der traditionellen, lokalen afrokaribischen Küche. Während die Restaurants ebenso wie die Hotels meist von Ausländern oder Costa Ricanern aus anderen Regionen Costa Ricas geführt werden, sind insbesondere die Ab-Haus-Verkäufe, Straßenverkäufe und die Sodas, in welchen vor allem ›Comida Caribeña‹ angeboten wird, eine Domäne der afrokaribischen Bevölkerung. Die ›Comida Caribeña‹ hat sich in Puerto Viejo also zu einer Einkommensquelle der afrokaribischen Bevölkerung entwickelt. Nachdem im Jahr 1992 mit der Soda Miss Sam die erste Soda eröffnet wurde, zählt der Ort heute zwischen 10 und 15 Sodas und Restaurants, die sich auf die karibische Küche spezialisiert haben.15 Die meisten dieser Sodas wurden von Afrokaribinnen eröffnet.16 2.2.3 Santa Cruz de Guanacaste Von Juni bis August 2011 führte ich meine Feldforschung in Guanacaste durch. Zentrum meiner Feldforschung in Guanacaste war die Kleinstadt Santa Cruz im Zentrum der Halbinsel Nicoya. Im Kanton Santa Cruz lebten im Jahr 2011 nach Zensusangaben 55.110 Menschen, im Distrikt Santa Cruz 21.709 (vgl. INEC 2011a) und für die Stadt selbst wurde die Einwohnerzahl im Jahr 2011 mit 13.105 angegeben. Damit handelt es sich nach Nicoya um die zweitgrößte Stadt der Halbinsel und um die viertgrößte Stadt der Provinz Guanacaste (vgl. INEC 2011a). Wichtiger für meine Entscheidung für Santa Cruz als Forschungsort waren jedoch die Geschichte der Stadt und der Umgebung sowie ihre heutige, kulturelle Bedeutung. Die Geschichte des heutigen Santa Cruz beginnt mit der Besiedelung des Ortes durch die Chorotega. Unter den Chorotega trug die Siedlung, nach dem dort an15 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Gerichte der afrokaribischen Küche ausschließlich in diesen Restaurants verkauft werden. Neben dem Ab-Haus-Verkauf stellen die übrigen Restaurants weitere Konkurrenz dar, denn auch in vielen anderen Restaurants wird zumindest Rice and Beans angeboten. 16 Die Frauen Puerto Viejos werden oft als ›Strong Women of Puerto Viejo‹ oder auch als Matriarchen beschrieben. Diese Bezeichnungen verweisen in erster Linie darauf, dass die Frauen, trotz schwieriger finanzieller Situation, ihre Kinder allein großziehen bzw. großgezogen und ernährt haben, und sich nach und nach über Arbeit und Lotteriegewinne ihr Eigenheim erworben haben. Eine Hausgemeinschaft besteht in der Regel aus der Mutter, den unverheirateten Kindern und Enkelkindern. Die wenigsten lokalen afrokaribischen Frauen sind verheiratet, sondern gehen nur lebensabschnittsweise Beziehungen ein. Die ›Matriarchen‹ waren die ersten, die mit Einsetzen des Tourismusbooms die Gelegenheit ergriffen, durch den Verkauf von ›Comida Caribeña‹ ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
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sässigen Cacique, den Namen Diría. Die Stadt Santa Cruz zeichnet sich somit durch eine gut dokumentierte präkolumbische Geschichte aus und ist als Siedlung der Chorotega bedeutend. Als Teil der ›Partido de Nicoya‹ zählten die Bewohner des heutigen Santa Cruz’ zudem zu den Initiatoren der Anexión Guanacastes an Costa Rica. Dieser Beitritt stellte offiziell das Ende einer Geschichte wechselnder politischer Zugehörigkeiten der ›Partido de Nicoya‹ dar, welche zunächst, nach Ankunft der spanischen Kolonialherren im Jahr 1554, dem Königreich Guatemala einverleibt wurde, später, im Jahr 1787, jedoch nicht mehr der Real Audiencia de Guatemala unterstand, sondern der Intendencia de León in Nicaragua, wo sie auch den Namen ›Partido de Nicoya‹ erhielt. Mit der Auflösung des Königreichs Guatemala im Jahr 1812 wurde Nicoya Teil der Provinz Nicaragua-Costa Rica und war bis 1820 weiterhin der Politik in León untergeordnet. Ab 1821, dem Jahr der Unabhängigkeit der zentralamerikanischen Staaten, war die ›Partido de Nicoya‹ dann zunächst an die politischen Entscheidungen in Granada gebunden, um nur zwei Jahre später wieder an die Provinz León zurückzufallen. Aufgrund dieser unsicheren Abhängigkeiten und der Streitigkeiten zwischen den Provinzen León und Granada entschieden die Bewohner von Nicoya und Santa Cruz am 25. Juli im Jahr 1824, Costa Rica beizutreten. Das eigentliche Guanacaste hingegen, d. h. der heutige Kanton Liberia, blieb Teil Nicaraguas, bis im Jahr 1825 auf dem Congreso de la República Federal de Centroamérica der Beitritt der ›Partido de Nicoya‹ sowie Guanacastes zu Costa Rica beschlossen wurde. Die Anexión wurde zu diesem Zeitpunkt zunächst zeitlich beschränkt (vgl. Cabrera Padilla 2007: 299, 305; Jaén Contreras 2000: 77, 99; auch Ross González 2001: 122-3). Die damalige Bevölkerung Santa Cruz’ war also maßgeblich am Beitritt der ›Partido de Nicoya‹ als auch der Provinz Guanacaste zu Costa Rica im Jahr 1824 beteiligt. Im Jahr 1848, 24 Jahre nach der Anexión, wurde der damals 2502 Einwohner zählende Kanton Santa Cruz gegründet. Der Ort Santa Cruz selbst wurde 1862 zur Villa erklärt und erhielt 1916 das Stadtrecht unter dem Namen ›Diría‹. Im Jahr 1917 wurde dieser Name in ›Santa Cruz‹ geändert (vgl. Cabrera Padilla 1989: 41; Leal Arrieta 1998: 27, 71, 84-5). Die Stadt Santa Cruz war niemals isoliert, schon vor der Stadtgründung hatten sich zum Beispiel die ersten chinesischen Migranten niedergelassen, um hier Handel zu treiben. Im Jahr des Erhalts des Stadtrechtes wurde die erste Poststelle eröffnet. Der Ausbau der Infrastruktur allerdings wurde lange Zeit vernachlässigt. Erst im Jahr 1925, und damit hundert Jahre nach der Anexión, wurde mit dem Bau der Landstraße nach Nicoya und Puerto Jesús begonnen. Die erste weiterführende Schule, das Liceo Santa Cruz, wurde erst 1955 gegründet und die Feuerwehr im Jahr 1968 (vgl. Leal Arrieta 1998: 85-7). Der späte Ausbau von Verkehrs- und Bildungssystem wird heute oft als eine bewusste Vernachlässigung Guanacastes durch die Regierung im Valle Central gewertet. Don Albert (62), pensionierter Lehrer am
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Liceo Santa Cruz, kritisierte diese Vernachlässigung durch das Valle Central mehrmals nachdrücklich und sehr aufgebracht: »No pagaron una peseta, no nos dieron nada, no nos dieron nada, absolutamente nada, entonces solamente agarraron la gran anexión territorial. No les interesó el río San Juan, no les interesó hacernos carreteras, hacernos escuelas, mejorar aquí, simplemente agarraron aquí. La anexión tiene 177, 187, o sea, ya vamos para los ciento noventa años, imagínese, ya estamos llegando a los doscientos años, sí, ya estamos a llegando los doscientos años. Y fíjese que tenemos un colegio aquí, aquí en Santa Cruz, que tiene 55 años de edad, quiere decir, que después de la anexión 120 años después nos hicieron este colegio aquí en Santa Cruz. 120 años después de la anexión. Igual que el hospital de Liberia. Lo mismo cuando hicieron el hospital de Liberia [...] entonces, para decirte algo, no es, se anexó Cupertino Briceño en 1824, 1826, por ahí se anexó, y 120 años después nos regalaron este liceo, nos regalan el hospital, y nada más. [...]No les importó llegar aquí y hacerlo.«17 (Don Albert, Juni 2011)
Diese Aussage verdeutlicht ein von vielen Guanacastecos geteiltes Ungerechtigkeitsempfinden: Costa Rica hat von der Anexión der Provinz profitiert und mit Guanacaste ein Gebiet, welches 20% des nationalen Territoriums entspricht, in gewisser Weise als Geschenk erhalten. Die Guanacastecos zogen aus der Anexión jedoch keinen Vorteil, die Region wurde vernachlässigt. Als ehemaliger Lehrer geht er hier vor allem auf das Bildungswesen ein, aber auch auf die Vernachlässigung, was den Bau von Straßen, Bildungseinrichtungen und Krankenhäusern anbetrifft, die er als Zeichen der Gleichgültigkeit seitens der Regierungspolitiker des Valle Central gegenüber der Provinz Guanacaste wertet. Die Erwähnung des Grenzflusses Río San Juan nimmt Bezug auf den zu dieser Zeit wieder akuten Grenzstreit mit Nicaragua. Auch den ständigen Streit um die Grenzen mit Nicaragua sieht Don Albert in erster 17 Übersetzung: »Nicht eine Peseta haben sie gezahlt, nichts haben sie uns gegeben, nichts haben sie uns gegeben, gar nichts, nur den großen territorialen Zuwachs haben sie sich unter den Nagel gerissen. Sie haben sich nicht für den Río San Juan interessiert, nicht dafür, uns Straßen zu bauen, uns Schulen zu bauen, hier irgendetwas zu verbessern, sie haben es sich nur unter den Nagel gerissen. Die Anexión ist jetzt 177, 187, d. h. wir gehen schon auf 190 Jahre zu, stell Dir das vor, bald sind es 200 Jahre, ja, bald sind es 200 Jahre. Und mach’ Dir bewusst, dass wir hier ein Colegio [weiterführende Schule, M. N.] haben, hier in Santa Cruz, das 55 Jahre alt ist, d. h. dass sie uns 120 Jahre nach der Anexión das Colegio in Santa Cruz gebaut haben. 120 Jahre nach der Anexión. Genauso wie mit dem Krankenhaus von Liberia. [...] also, um Dir einen Eindruck zu geben, Cupertino Briceño hat sich 1824, 1826, um den Dreh rum, hat er sich angeschlossen und 120 Jahre später geben sie uns ein Liceo, geben sie uns ein Krankenhaus und nichts weiter [...] Sie haben sich nicht darum geschert, herzukommen und es zu tun.« Alle Übersetzungen in der Arbeit: M. N.
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Linie dem vergangenen und gegenwärtigen Desinteresse des Valle Central bzw. der costa-ricanischen Regierung gegenüber der Provinz geschuldet an.18 Trotz der wahrgenommenen Pflichtvergessenheit der costa-ricanischen Regierung gegenüber der Provinz Guanacaste kommt dieser Provinz und der Stadt Santa Cruz in besonderem Maße in Hinblick auf die costa-ricanische Kultur und Folklore heute eine wichtige Bedeutung zu. Diese wird vor allem im Bereich touristischer Beschreibungen hervorgehoben, in denen Guanacaste als »home of Costa Rican folklore« (McNeil 2001: ix) bezeichnet wird; damit wird die auch von meinen Interviewpartnern im Valle Central vertretene Meinung aufgegriffen, Guanacaste sei die Wiege der costa-ricanischen Kultur. In diesem Zusammenhang ist die Stadt Santa Cruz besonders zentral. Im Jahr 1974 wurde sie unter der Regierung von Daniel Oduber Quirós und der damaligen Kulturministerin Carmen Naranjo zur ›Ciudad Folclórica Nacional de Costa Rica‹ ernannt, in erster Linie mit dem Ziel, die Marimba-Tradition zu erhalten. Aber nicht nur über das dort aufgrund der Wertschätzung der Marimba-Tradition der Stadt angesiedelte Musik-Institut der Universidad de Costa Rica, sondern auch wegen der religiösen Traditionen wie der Verehrung des Santo Cristo de Esquipulas oder der ›Fiestas de la Guanacastequidad‹ wird diese Ernennung der Stadt Santa Cruz gerechtfertigt. Zudem ist Santa Cruz heute für viele Ticos aus dem Valle Central der Inbegriff der kulinarischen Tradition Guanacastes und Costa Ricas (vgl. Morales Zúñiga 2009: 36).19 Während insbesondere Rosquillas und Tanelas als charakteristische Produkte der Region und Stadt gelten und beliebtes (und gefordertes) Mitbringsel von Reisenden nach Santa Cruz sind oder von Ticos aus dem Valle Central bei Santacruceños in Auftrag gegeben werden, stehen auch weitere Gerichte wie zum Beispiel Arroz de Maíz oder die Tortillas Guanacastecas als typisch guanacastekisch hoch im Kurs. Die guanacastekische Küche und Ernährungsweise sind zum Symbol für die ›traditionelle‹ rurale 18 Die Vernachlässigung wirkte zunächst auch der Entwicklung Guanacastes als Touristenziel entgegen. Aufgrund fehlender infrastruktureller Anbindung war es Touristen zunächst kaum möglich, Guanacaste zu besuchen. Der auch von Seiten der Guanacastecos gewünschte Ausbau des touristischen Potentials der Region führte in den 1980er und 1990er Jahren zu unkontrollierten ausländischen, von der costa-ricanischen Regierung gebilligten Großprojekten und damit verbundener Umweltzerstörung. Bereits in den 1990er Jahren wurde deutlich, dass die Region Guanacaste nicht in erhoffter Weise von dieser Art Tourismusprojekten profitiert hatte (vgl. Arrieta Murillo und Rivera Hernández 2009: 142-4, 152-3) und auch weiterhin nicht profitiert (vgl. Editorial Diario Extra 2011: 6). 19 In ihrer Studie über die Rentabilität eines Kulturzentrums auf der Península de Nicoya äußern sich Abarca Gomez et al. in ähnlicher Weise, wenn sie Santa Cruz als den Ort bezeichnen, an dem die traditionelle Küche noch am stärksten erhalten ist (vgl. Abarca Gomez et al. 2002: 93).
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costa-ricanische Ernährung geworden, ein Umstand, der auch der Tatsache geschuldet ist, dass diese Ernährungsweise in Guanacaste bisher stärker als in anderen costa-ricanischen Regionen erhalten geblieben ist. Der ihr zugeschriebenen Bedeutung als ›Ciudad Folclórica Nacional‹ ungeachtet, steht die Stadt Santa Cruz nur zweimal im Jahr im Zentrum des nationalen Interesses: Zu den ›Fiestas Cívicas‹, d. h. die Feiern zu Ehren des Santo Cristo Esquipulas in der zweiten Januarwoche, und, wie die Provinz Guanacaste an sich, zu den Feiern der ›Semana de la Guanacastequidad‹, in der Woche des 25. Juli. Meist bildet sie bei nationalen und internationalen Touristen gleichermaßen einen Zwischenstopp auf dem Weg zu den Stränden Guanacastes. Aufgrund des geringen Aufkommens von Übernachtungstouristen verfügt die Stadt daher auch nur über wenige Hotels. Das Angebot lokaler Restaurants – darunter vor allem Sodas, chinesische Restaurants und Lokale und Stände, an denen Brathähnchen und Pommes Frites verkauft werden, sowie die Restaurants der transnationalen Ketten Pizza Hut und TCBY-Yogurt – ist vornehmlich an die lokale Bevölkerung gerichtet. Eine Ausnahme bildete in gewisser Weise die CoopeTortillas R. L., die neben den Santacruceños auch von, in erster Linie nationalen, Touristen frequentiert wurde.20 Als Hauptstadt des Kantons Santa Cruz ist die Stadt Sitz von Verwaltungsbehörden und den Tribunales; darüber hinaus befinden sich hier eine durch die Caja Costarricense de Seguro Social betriebene Klinik, Bankfilialen der Banco de Costa Rica und der Banco Nacional, Terminals der Busunternehmen Alfaro und Tralapa, über deren Service mehrmals täglich eine Verbindung zu den Stränden der Pazifikküste sowie halbstündlich nach Nicoya und alle anderthalb Stunden nach Liberia und San José besteht. Einkaufsmöglichkeiten bestehen über eine Vielzahl kleiner Supermärkte, in denen auch transnationale Importprodukte erworben werden können, sowie über Märkte der großen Ketten wie Palí oder MegaSuper. Für größere Einkäufe fahren die lokalen Familien auch nach Nicoya, um dort den Supermarkt MaxiBodega zu besuchen, welcher ein größeres Angebot aufweist. Landwirt20 Aufgrund von Hygiene-Mängeln, Mängeln in der Bausubstanz und fehlender Qualifizierungsnachweise der Betreiber wurde die auch als ›Las Tortilleras‹ bezeichnete CoopeTortillas R.L. am 30. September 2008 auf Anweisung der Gesundheitsministerin geschlossen (vgl. Pérez P. 2008). Als ich von Juni bis August 2011 in Santa Cruz meine Feldforschung durchführte, war das Restaurant gerade wieder eröffnet worden, allerdings mit veränderter Belegschaft, und auch der Betrieb lief noch nicht in geregelten Bahnen. Während die CoopeTortillas R. L. für die nationalen Medien zu den Feiern der Guanacastequidad weiterhin Hauptanlaufstelle war, war es für die lokale Bevölkerung nicht mehr der vornehmlich empfohlene Ort. Auch gab es eine Reihe von Sodas, die dasselbe Angebot führten und von der lokalen Bevölkerung bevorzugt wurden. Die CoopeTortillas R. L. hat dadurch an Bedeutung verloren. Aus diesem Grund konzentrierte ich mich bei meiner Forschung nicht auf das Restaurant der CoopeTortillas R. L.
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schaftserzeugnisse, auch Saatgut und landwirtschaftliche Geräte, können über die CoopeGuanacaste R. L. erworben werden. Nicht zu vernachlässigen, gerade in Hinblick auf den Kauf und Verkauf von traditionellen Backwaren und Gemüse aus eigenem Anbau, ist auch der Straßenhandel. Jeden Morgen ziehen Tortilla-Verkäufer mit großen Plastikeimern durch die Wohngegenden, die laut rufend auf ihre Ware aufmerksam machen und von denen zahlreiche Familien ihre Tortillas beziehen. Im Laufe des Tages folgen dann Straßenhändler mit einem Angebot an weiterem Gebäck wie Pan Batido, Rosquillas, Empanadas Dulces, Chorreadas, aber auch Gemüse oder Obst wie Chilotes, Avocados, Pipián oder Zitronen. Der Straßenhandel mit Lebensmitteln stellt auch ein Tätigkeitsfeld nicaraguanischer Migranten dar, worauf mich meine Interviewpartner insbesondere anhand der abweichenden Betonung der gerufenen Worte hinwiesen. Das Stadtbild dominieren bunte Holzhäuser sowie der 1950 durch ein Erdbeben zerstörte Turm der Kirche des Nationalheiligtums Santo Cristo de Esquipulas an der Ostseite des Bernabela Ramos Sequeira gewidmeten Parks. Dieser Park wurde in den Jahren 1994-1998 von Mario Gutiérrez Garita, einem in Santa Cruz lebenden Bildhauer, neugestaltet, und zeugt vom Anliegen des Künstlers, aber auch der lokalen Regierung, das indigene Erbe und die ›Sabanero‹-Kultur Guanacastes zu würdigen. Im Zentrum des Parks befindet sich die Concha Acústica, die mit an mesoamerikanische autochthone Symbole angelehnten Motiven verziert ist. Ferner finden sich an jeder Ecke des Parks außer einem Denkmal für Bernabela Ramos Sequeira, der Wohltäterin der Stadt, weitere Denkmäler, die den Cacique Diría, die ›Mujer Campesina‹ (vgl. Abbildung 3.3) und den ›Montador y Vaquetero‹21 abbilden und somit wichtige Elemente der Geschichte und Kultur Guanacastes und Santa Cruz’ vereinen.
21 Die der ›Mujer Campesina‹ [Bäuerin] gewidmete Statue stellt eine Frau beim Klatschen von Tortillas dar, an ihren Füßen steht ein Metate, an ihrem Rockzipfel hängt ein Kind. Das Bildnis ›Montador y Vaquetero‹ zeigt Szenen aus dem Stierreiten, das die Hauptattraktion der ›Fiestas Cívicas‹ sind.
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Abbildung 2.3: Denkmal für die ›Mujer Campesina‹ im Park von Santa Cruz
Quelle: Mona Nikoli, 2011
Obwohl es sich bei Santa Cruz um eine Stadt handelt, ist das Leben der Bevölkerung stark rural geprägt. Die in Heredia und Puerto Viejo bestehenden gesetzlichen Beschränkungen der Nutztierhaltung kommen hier nicht zum Tragen, viele Familien halten daher zum Beispiel Hühner in ihren Hinterhöfen, die, ebenso wie Katzen, Hunde, aber zum Teil auch Pferde und Rinder, frei durch die Straßen laufen; was die von mir befragten Familien betrifft, so hatten alle selbst Land in der Region, welches sie bewirtschafteten, oder Familienangehörige auf dem Land. Viele Häuser verfügen darüber hinaus über Hinterhöfe, in denen auch eine Fogonera oder ein Horno de Barro aufgebaut sind. Bei diesen handelt es sich nicht um ›Überreste‹ aus der Vergangenheit, die Fogoneras werden auch in die Höfe neuer Häuser gebaut. Anstelle der traditionellen Bauweise, bei der die Fogonera auf einer Art Tisch platziert wird, dessen Oberfläche zum Schutz vor einem Übergreifen des Feuers mit Erde aufgefüllt ist, werden heute vor allem die Gehäuse von Kühlschränken und Waschmaschinen als Basis verwendet. Auch die von der Asche runde Form der Ziegelsteine und die weiße Farbe geben Aufschluss darüber, wie häufig auf den Fogoneras gekocht wird. Während diese Kochstellen also genutzt wurden, dienen Töpferwaren der Chorotega-Kultur22 und Metates vor allem der Dekoration der 22 Bei diesen Töpferwaren handelt es sich zum Teil um Stücke, die im für Keramikherstellung bekannten Dorf Guaitil erworben wurden und die zum Teil mit touristischen Motiven wie Tukanen oder auch dem Schriftzug Costa Rica versehen sind. Familien, die zum Beispiel alte Metates besaßen, die von Müttern, Großmüttern oder Großtanten genutzt
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Häuser. Das Mahlen des Mais wird heute nicht auf den Metates, sondern mithilfe von elektrischen Mühlen erledigt, meine Interviewpartner in Santa Cruz mahlten den Mais auch nicht mehr zu Hause, sondern brachten ihn zur Mühle.
2.3 K ONTAKTE
UND EIGENE
R OLLE
Während meiner Feldforschung lebte ich stets in lokalen Familien. Der Kontakt zu diesen Familien bestand im Fall der Familie in Heredia durch meine vorherigen Aufenthalte in Costa Rica in den Jahren 2005 und 2007. Im Fall der Familien in Puerto Viejo und Santa Cruz wurde er über costa-ricanische Freunde etabliert. Neben dem Vorteil, durch das Leben in den lokalen Familien deren Alltag miterleben und beobachten zu können, war ich auf diese Weise auch in das lokale Leben des Ortes einbezogen. Insbesondere in Puerto Viejo und in Santa Cruz wurde durch die Verbindung zu den lokalen Familien auch die Kontaktaufnahme zu weiteren Personen und Interviewpartnern erleichtert; denn gerade dort erfolgte die Kontaktaufnahme zu Interviewpartnern in der Regel über das Schneeball-Prinzip, indem andere Interviewpartner mir neue Kontakte vermittelten. Kontakte erhielt ich darüber hinaus über lokale Organisationen und Einrichtungen. In Heredia konnte ich über zwei Sprachschulen Kontakte zu Gastfamilien aufnehmen, genauso wie zu Veranstalterinnen von Kochkursen. In Puerto Viejo wurde es mir durch die Organisation ATEC ermöglicht, an Kochkursen für Touristen teilzunehmen und mit den Veranstaltern zu sprechen. Zu Wissenschaftlern, welche zum Thema der Bewahrung der traditionellen nationalen Küche arbeiteten, konnte ich unter anderem über meinen Aufenthalt an der UCR, mit der ich während des gesamten Feldforschungsaufenthaltes als ›Pasante Internacional‹ an der Escuela de Antropología in Verbindung stand, Kontakt aufnehmen. In den 1980er Jahren sprach sich Brigitta Hauser-Schäublin dagegen aus, Frauenthemen in der Ethnologie zu »verharmlosenden Küchen- und Kinderthemen« zu degradieren (Hauser-Schäublin 1985: 189). Zwar würde ich der Annahme widersprechen, Küchen- oder Kinderthemen seien ›harmlos‹, in Bezug auf den Bereich der die Nahrungszubereitung betreffenden Themen in Costa Rica kann man jedoch von ›Frauenthemen‹ sprechen, denn das Kochen fällt im Haushalt in den Tätigkeitsbereich der Frauen.23 Auch sind es in der Regel Frauen, die sich über die Zubereitung von Gerichten eine neue Einkommensquelle erschließen, zum Beispiel als Köchinnen in Sodas oder als Gastmütter. Vor diesem Hintergrund war der Anteil an wurden, hatten diese oft weniger gut sichtbar aufgestellt, aus Angst, diese von Repräsentanten des Kulturministeriums abgenommen zu bekommen. 23 Eine Ausnahme bildet die Region Limón, in der die Nahrungszubereitung geschlechtsund altersunabhängig erfolgt.
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Interviewpartnerinnen in meiner Forschung auch ungleich höher als der der männlichen Interviewpartner und machte etwa zwei Drittel aus. Trotzdem ist das Thema der Einflüsse der kulturellen Globalisierung auf das Essverhalten und die costaricanische Küche keineswegs als reines ›Frauenthema‹ zu betrachten. Der zunehmende Verlust der traditionellen Ernährungsweise und Küche sowie die Beeinflussung durch transnationale Fast-Food-Unternehmen besitzen zurzeit in der costaricanischen Öffentlichkeit große Aktualität und werden insbesondere vor dem Hintergrund der ›gesunden Ernährung‹ generationen- und geschlechterübergreifend diskutiert. In der Regel wurde es daher allgemein begrüßt, dass ich mich mit dem Thema der costa-ricanischen Küche und dem Essverhalten in Costa Rica beschäftigte, wodurch auch die Kontaktaufnahme zu potentiellen Interviewpartnern erleichtert wurde. Wie durch die Aktualität des Themas, wurde meine Forschung auch durch meine eigene Herkunft beeinflusst. Einerseits war sowohl die Tatsache, dass ich mich als Wissenschaftlerin mit dem lokalen Essverhalten und der Küche beschäftigte, als auch meine europäische Herkunft von Nachteil, da mich vor allem meine Interviewpartner im Valle Central zunächst als Ernährungsexpertin betrachteten. Dies ist der unter den Gastmüttern verbreiteten Ansicht geschuldet, Europäerinnen und auch Nordamerikanerinnen seien sehr gesundheitsbewusst; darüber hinaus wurden mir Kenntnisse über gesunde Ernährung auch wegen meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Küche und Ernährung zugeschrieben. Gerade in Bezug auf die Erforschung des Essverhaltens und des Konsumverhaltens im Alltag war dies für mich zunächst ein Hindernis, da ich von meinen Interviewpartnerinnen im Valle Central, die sehr an gesunder Ernährung interessiert waren, zum Beispiel in Hinblick auf Zubereitungsweisen und Zutaten gefragt wurde, welche die ›bessere‹ oder ›gesündere‹ sei, wodurch ich besonders zu Anfang meine Forschung durch das Problem der »reactivity« (vgl. Punkt 2.6.1) gefährdet sah. Dieses Problem ließ sich allerdings im Laufe der Feldforschung durch die länger mit meinen Interviewpartnerinnen verbrachte Zeit und die größere Vertrautheit ausgleichen. Zudem war es in erster Linie im Valle Central und vor allem in Bezug auf das konkrete Essverhalten, weniger im Zusammenhang mit den Diskursen oder Aussagen über die Nationalküche gegeben. Hier verstanden sich meine Interviewpartner als Experten. Die im Zusammenhang mit der Interviewführung mit Frauen oft thematisierte Problematik, dass die Interviewpartnerinnen kein Bewusstsein für den Wert ihres Wissens haben bzw. für die Tatsache, dass sie über Wissen verfügen, das von Bedeutung und für die Forschung von Interesse ist (vgl. z. B. Scheyvens/Leslie 2000: 125), bestand in meinem Fall aufgrund des ›Frauenthemas‹ Küche und Ernährung, aber auch wegen der öffentlichen Diskussion des Themas, nicht. Viele sahen die Interview- oder Forschungssituationen eher als Möglichkeit, ihre Ansichten und ihr Wissen mitzuteilen. Hier erwies sich mein eigener Hintergrund als Vorteil. Denn es bestand zwar ein Interesse daran, sich mitzuteilen und auch sein Wissen weiterzugeben, gleich-
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zeitig aber auch das Bedürfnis, das eigene Wissen, d. h. die Kenntnisse um Zubereitungsweisen und Rezepte, vor möglichen lokalen Konkurrenten zu schützen;24 der ›Geiz‹ hinsichtlich der Weitergabe von Rezepten wurde von meinen Interviewpartnerinnen wiederholt beklagt. Ich als Ausländerin stellte keine Konkurrenz dar, sondern eher eine Möglichkeit, Rezepte auszutauschen und ›deutsche‹ Rezepte kennenzulernen. Auch im Zusammenhang mit dem Aufbau von Kontakten zu Informanten war meine europäische Herkunft bzw. die Tatsache, dass ich keine Costa Ricanerin aus dem Valle Central war, oft hilfreich. Aufgrund der Konflikte zwischen der Provinz Limón und dem Valle Central bzw. auch zwischen Guanacaste und dem Valle Central war es mir in diesen beiden regionalen Kontexten als Ausländerin leichter möglich, Kontakte zur lokalen Bevölkerung zu etablieren. In diesen beiden Kontexten, aber auch in Hinblick auf die Gruppe der nicaraguanischen Haushaltshilfen, wurden auch in Interviews, möglicherweise aufgrund der Tatsache, dass ich keine Costa Ricanerin bzw. keine Costa Ricanerin aus dem Valle Central war, Meinungen freier geäußert. In diesen Kontexten wurden die Interviews zum Teil auch als Möglichkeit betrachtet, wahrgenommene Falschdarstellungen im Nationaldiskurs richtigzustellen.
2.4 I NTERVIEWPARTNER UND I NFORMANTEN 25 Aufgrund der verschiedenen Ebenen, auf welchen die costa-ricanische Küche konstruiert wird und diese Konstruktionen verhandelt werden, zählten, nicht nur in Hinblick auf die regionalen Kontexte, verschiedene Fokusgruppen zu meinen Interviewpartnern. Die Erforschung der Konstruktion der Küche im kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich begründete ich nicht ausschließlich auf der Analyse der von dieser Seite erfolgten Publikationen, sondern führte auch Interviews mit Wissenschaftlern, welche Projekte zur Bewahrung der ›costa-ricanischen‹ Küche initiiert haben, wie zum Beispiel Patricia Sedó Masís an der Universidad de Costa Rica und Mayela Solano Quirós im Museo de Cultura Popular. Hier interessierten mich neben der Frage nach der Motivation der unternommenen Versuche, die nationale Küche zu bewahren, auch die Frage danach, was nach Ansicht der Initiatoren zur costa-ricanischen Küche gehört, wobei nicht nur die Frage nach den regionalen Gerichten, sondern auch die Unterscheidung von ›Comida Típica‹ und ›Comida Popu24 In Puerto Viejo hatte sich die Situation in Bezug auf das Bewahren von Rezepten etwas geändert (vgl. Punkt 5.3.2). 25 Sofern sich meine Aussagen nicht ausschließlich auf Informantinnen und Interviewpartnerinnen beziehen, wird in der Arbeit der Begriff ›Informanten‹ bzw. ›Interviewpartner‹ geschlechter- und generationenübergreifend verwendet.
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lar‹, sowie nach den Einflüssen auf die nationale Küche (in der Vergangenheit und der Gegenwart) thematisiert wurden, sowie die von ihnen vertretene Ansicht zur nationalen Küche. In den regionalen Kontexten Santa Cruz und Puerto Viejo de Talamanca führte ich Interviews mit Personen, die sich für den Erhalt der lokalen (kulinarischen) Tradition, nicht in erster Linie der nationalen, einsetzten, wie Carolina Jiménez Acuña in Puerto Viejo und Mario Gutiérrez Garita in Santa Cruz. Zu meinen Interviewpartnern aus dem akademischen Beschäftigungsfeld mit der Nationalküche zählten auch Ernährungswissenschaftler, wobei diese ebenfalls oft an Projekten zur Erhaltung der traditionellen lokalen Küchen beteiligt waren. Es handelt sich also nicht um zwei vollständig unterschiedliche Gruppen von Interviewpartnern. Vertreter aus dem politischen Umfeld wurden nicht explizit befragt, da das akademische Feld sich in großem Maße mit dem politischen Feld überschneidet. Die Ernährungswissenschaftler arbeiten an staatlichen Institutionen und akademische Erhaltungsversuche werden durch politische Maßnahmen und Beschlüsse unterstützt. Andererseits ging der Impuls zur Bewahrung der Rezepte der Nationalküche zunächst von Seiten der Geschichtswissenschaftler aus und wurde von dort zum politischen Anliegen. Die Ernährungswissenschaftler und Personen, deren Anliegen die Bewahrung der traditionellen Küche ist, standen allerdings nicht im Zentrum meiner Feldforschung. Bei der Wahl meiner Interviewpartner konzentrierte ich mich auf Personen, für die der Verkauf der Gerichte der ›costa-ricanischen‹ oder auch einer Regionalküche im lokalen wie im transnationalen Kontext eine Einkommensquelle darstellte. Dieser Fokus entspricht in gewissem Grad einer Primärauswahl von Informanten nach Janice Morse. Neben der Bereitschaft, Interviews zu führen und der Disponibilität von Zeit zur Beantwortung der Fragen, nennt Morse weitere Kriterien zur Auswahl von Informanten. Zu den Kennzeichen ›guter Informanten‹ zählt Morse deren Kenntnisse in Hinblick auf die für das Forschungsinteresse wesentlichen Themen, welche ihnen die Beantwortung der vom Forscher gestellten Fragen ermöglichen, sowie praktische Kenntnisse der für die Forschung bedeutsamen Handlungen und die Fähigkeit, diese Handlungen zu reflektieren und darüber zu sprechen (vgl. Morse 1994: 228). In meinem Fall handelte es sich bei den für mein Forschungsinteresse wichtigen Kenntnissen um Wissen hinsichtlich der Zubereitung der als ›costa-ricanisch‹ oder ›Comida Típica‹ bzw. auch ›afrokaribisch‹ oder ›guanacastekisch‹ angesehenen Speisen im lokalen und transnational geprägten Kontext; darüber hinaus um Kenntnisse über Fremd- und Selbstbilder der ›costa-ricanischen‹ und/oder regionalen Kultur und Küche; um Wissen bezüglich der nicaraguanischen und US-amerikanischen Ernährungsweise (als den wichtigsten transnationalen Beziehungen), welche als Grundlage der Aushandlung des Bildes der eigenen Küche dienten; aber auch um den Zugang zu transnationalen Kontakten. Vor dem Hintergrund, dass mein Interesse dem transnationalen Einfluss des Tourismus und der Konstruktion der lokalen oder ›costa-ricanischen‹ Küche im touristischen Kontext
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galt, führte ich daher vorrangig Interviews mit Restaurantbesitzern und -köchen, mit Lehrern in Kochkursen für Touristen sowie mit Personen, die nur temporär, zum Beispiel während nationaler oder regionaler Feste, Gerichte der lokalen Küche anboten. Im Valle Central konzentrierte ich mich in diesem Zusammenhang verstärkt auf Frauen, die als Gastmütter insbesondere US-amerikanische Touristen bei sich aufnehmen, da hier der transnationale Kontakt noch direkter stattfindet als in Restaurants und Restaurants mit ›Comida Típica‹ im Valle Central, welche selten von Touristen besucht werden. Um das Fremdbild der ›costa-ricanischen‹ Küche zu erforschen, befragte ich zudem Touristen nach ihrer Meinung über die ›costa-ricanische‹ Küche und ihre Ansicht darüber, was zur ›costa-ricanischen‹ Küche gehört. Diese Fremdeinschätzung konnte ich dann mit der Einstellung, die unter meinen costa-ricanischen Interviewpartnern vorherrschte, vergleichen. Dem Fremdbild der costa-ricanischen Küche, in erster Linie in Abgrenzung zur nicaraguanischen Küche, sowie der Beeinflussung des Essverhaltens durch die nicaraguanische Transmigration galt auch mein Interesse in Interviews mit nicaraguanischen Transmigranten, darunter insbesondere nicaraguanische Haushaltshilfen, welche in den costaricanischen Familien die Zubereitung der Speisen übernommen hatten. Neben den Personen, die direkt in die Zubereitung von Speisen für den Verkauf involviert waren, führte ich Interviews mit deren Familienangehörigen sowie mit Familien, in denen lediglich im privaten Kontext, also für Familie und Freunde, gekocht wurde. Eine detaillierte Beschreibung meiner Interviewpartner werde ich in den jeweiligen Kapiteln vornehmen.
2.5 ANONYMISIERUNG
DER I NTERVIEWPARTNER
Für das Gelingen meiner Forschung war der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu meinen Interviewpartnern zentral. Vor diesem Hintergrund war es mir wichtig, dass meine Interviewpartner und die Personen, mit denen ich während der Feldforschung vorrangig verkehrte, genau über mein Forschungsprojekt und den Umgang mit den von mir erhobenen Daten Bescheid wussten und damit einverstanden waren. Vor dem ersten Interview erklärte ich meinem/n Interviewpartner/n mein Forschungsprojekt sowie die Themenbereiche, die im Interview angesprochen werden sollten und die Art der Verwendung der Informationen aus den Interviews. Diese Information stellte ich ihnen auch in schriftlicher Form auf einem Handzettel zusammen, der zudem meine Kontaktdaten enthielt, als eine Möglichkeit für meine Interviewpartner, sowohl während als auch nach der Forschung Kontakt zu mir aufzunehmen. Zusammen mit einer Kopie der ihrerseits und meinerseits unterschriebenen Einverständniserklärung zur anonymisierten Verwendung der Informationen
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aus den Interviews überreichte ich ihnen diesen im Verlauf der Forschung. Für die Anonymisierung bat ich meine Interviewpartner, sich einen Namen auszudenken, unter dem sie in der Arbeit erscheinen wollten, auch dies vor dem Hintergrund, dass sie so die eigenen Aussagen im Fall einer Publikation wiedererkennen könnten. Nur bei denjenigen, die sich selbst keine Namen aussuchten, wählte ich selbst Namensalternativen. Die Anonymisierung betrifft allerdings nicht meine Interviewpartner aus dem akademischen Bereich, also die Ernährungswissenschaftler, Künstler und Historiker, die der namentlichen Erwähnung zustimmten. Obwohl meine Interviewpartner der Verwendung der von ihnen in den Interviews gemachten Aussagen zustimmten, ist festzuhalten, dass letztendlich ich darüber entschied, welche Statements ich in die Arbeit aufnehme. Meine Auswahl orientierte sich dabei auch an den möglichen Folgen, die eine Veröffentlichung der Aussagen trotz Anonymisierung für meine Interviewpartner haben könnte, weshalb ich auf die Wiedergabe einiger bestimmer Aussagen verzichtete.
2.6 F ELDFORSCHUNGSMETHODEN Im Folgenden werde ich auf das methodische Vorgehen während des Feldforschungsaufenthalts eingehen und die im Rahmen der Feldforschung eingesetzten Techniken der Teilnehmenden Beobachtung, des Halbstrukturierten Interviews und der innerhalb der Interviews angewandten Techniken des Pile-Sorting und des FreeListing erläutern. Auf spezifische Besonderheiten und spezielle Anpassungen der Forschungstechniken werde ich im Rahmen der Beschreibung der Forschungssituation meiner drei Forschungsorte gesondert zu sprechen kommen. 2.6.1 Teilnehmende Beobachtung Menschliches Handeln ist sinnhaftes Verhalten, seine Beobachtung immer mit Interpretation verbunden. Trotzdem reicht ein sprachliches Erfassen der Bedeutungssysteme, die dem Handeln zugrundeliegen nicht aus; um das Verhalten von Menschen erforschen zu können, ist die Methode der Beobachtung unerlässlich (vgl. Spittler 2001: 18). Die Beobachtung ermöglicht es, die Handlungen sozialer Akteure in ihrem alltäglichen Umfeld zu erfassen und somit einen Einblick in das diesen Handlungen zugrundeliegende Wissen zu erhalten (vgl. Bonilla Castro/Rodríguez Sehk 2005: 227). Während man sich mittels der direkten Beobachtung gerade zu Beginn der Feldforschung einen Überblick über den lokalen Kontext verschaffen kann, birgt diese Methode die Gefahr, dass die Beobachteten, weil sie sich der Tatsache des Beobachtet-Werdens bewusst sind, ihr Verhalten ändern, es also dem Forschenden nicht möglich ist, das alltägliche Verhalten zu beobachten (vgl. Ber-
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nard 1994: 310). Dieses Problem der ›reactivity‹ kann mit Hilfe der Methode der Teilnehmenden Beobachtung reduziert werden (vgl. Bernard 1994: 141). Als zentrales Element dieser Methode beschreibt Harvey Russell Bernard »[…] getting close to people and making them feel comfortable enough with your presence so that you can observe and record information about their lives« (Bernard 1994: 136) Ein Teilnehmender Beobachter muss den Menschen, die er beobachten will, also so vertraut sein, dass diese ihr Leben führen, ohne sich durch seine Anwesenheit gestört zu fühlen. Die hier zitierte Aussage Bernards verdeutlicht eine mit dem zentralen Element der Feldforschung verbundene Problematik: Mit der Teilnehmenden Beobachtung ist in gewisser Weise eine Täuschung der Interviewpartner verbunden, ein Ausnutzen der Tatsache, dass diese sich ›unbeobachtet‹ fühlen. Gerade aus diesem Grund ist ein verantwortungsvoller Umgang mit den mittels der Teilnehmenden Beobachtung erhobenen Daten besonders zentral. Als Argumente für die Teilnehmende Beobachtung führt Bernard neben der Tatsache, dass manche Themen nur durch Teilnehmende Beobachtung richtig untersucht werden können und man als Forscher über diese Methode ein intuitives Verständnis der beobachteten Gesellschaft erlangen und mit größerer Sicherheit über die erhobenen Daten sprechen kann (vgl. Bernard 1994: 142) unter anderem die Möglichkeit an, mit Hilfe der Teilnehmenden Beobachtung eine andere Art von Informationen zu erhalten. Dies ist auch in der bereits angesprochenen Tatsache begründet, dass man den Menschen, die man erforschen will, als Teilnehmender Beobachter stärker vertraut ist und daher auch Zugang zu anderen, auch privateren Bereichen hat (vgl. Bernard 1994: 140-1). Da mein Forschungsthema mit der Erforschung des Konsum- und Essverhaltens einen durchaus persönlichen Bereich des Alltagslebens betrifft, ist die Methode der Teilnehmenden Beobachtung sehr bedeutend. Gerd Spittler nennt mit der Möglichkeit, Dinge und Verhalten zu beobachten, welche in Interviews bzw. nicht über die Sprache erklärt werden können, einen weiteren Aspekt, der für die Kombination aus Teilnehmender Beobachtung und Interview spricht (vgl. Spittler 2001: 16). Gewissermaßen in Relation mit der Beobachtung nicht sprachlich erfassbarer Verhaltensweisen und Bedeutungen hinter diesen Verhaltensweisen stehen auch sinnliche Erfahrungen, die im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung gesammelt werden können (vgl. Spittler 2001: 19-20). Im Zusammenhang mit meinem Forschungsthema war zum Beispiel die Berücksichtigung geschmacklicher Unterschiede wichtig. Während meiner Forschung war die Methode der Teilnehmenden Beobachtung besonders bei der Untersuchung des Ess- und Konsumverhaltens der lokalen Bevölkerung von Bedeutung. So konnte zum Beispiel erforscht werden, welche Gerichte zubereitet wurden, auf welche Art die Zubereitung erfolgte, wodurch die Entscheidung für ein Produkt beeinflusst wurde und es konnte unter anderem ermittelt werden, wie bedeutend die Gerichte der lokalen Küche im Alltag oder bei Familienfeiern sind. Auch für die Erforschung der Konstruktion der ›costa-ricanischen‹ Na-
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tional- oder einer Regionalküche und der nationalen oder regionalen Identität im Rahmen des Verkaufs der Küche, z. B. bei Kochkursen oder in Restaurants, oder der Interaktion von Touristen und Costa Ricanern in Home Stays bot sich die Teilnehmende Beobachtung an; ebenso zur Untersuchung der Auswirkungen der transnationalen Beziehungen auf das Essverhalten, die Zubereitungsweisen und das Bild und die Bewertung der lokalen Küche. Die Beobachtungen wurden schriftlich festgehalten. Die mithilfe der direkten und der Teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse konnten bei der Formulierung eines endgültigen Leitfadens für die späteren Interviews genutzt werden. Im weiteren Verlauf der Forschung konnte die Teilnehmende Beobachtung vor allem dazu beitragen, das Verhalten der untersuchten Personen und Familien zu beobachten und dieses mit Ergebnissen aus den Interviews zu vergleichen. Auf diese Weise konnte zum Beispiel das Problem, dass in Interviews zum Verhalten, und zum Essverhalten im Besonderen, eher Normen und ein ›Soll-Zustand‹ anstelle eines ›Ist-Zustandes‹ ausgesprochen werden (vgl. Goode et al. 2001: 67, auch Spittler 2001: 16), ausgeglichen werden. 2.6.1.1 Natürliche Gespräche Neben der Erforschung des Alltagsverhaltens ist die Teilnehmende Beobachtung auch für die Erforschung von Alltagsorientierungen hilfreich (vgl. Helfferich 2005: 36). Alltagsorientierungen kommen unter anderem in natürlichen Gesprächssituationen zum Ausdruck. Auch die ›natürlichen Gespräche‹, an denen ich im Rahmen meiner Feldforschung teilhaben konnte, waren von besonderer Bedeutung für die Forschung. Als ›natürliche Gespräche‹ bezeichnet Gerd Spittler »Unterhaltungen, Austausch von Neuigkeiten, Zeugnisaussagen, historische Erzählungen, Streitgespräche und Beratungsgespräche« (Spittler 2001: 18). Einen Vorteil des ›natürlichen Gesprächs‹ sieht der Autor darin, dass in diesem Kontext Themen zur Sprache kommen, die dem Forscher von selbst nicht eingefallen wären und damit verbunden die Chance, neue, weiterführende Erkenntnisse zu erlangen. Über ›natürliche Gespräche‹, darunter insbesondere Unterhaltungen, dem Mitteilen von Neuigkeiten, auch in Form von Telefonaten, aber auch Streitgespräche, welche ich während der Teilnehmenden Beobachtung miterlebte, erhielt ich Einblick in Gesundheitsdiskurse, Einstellungen gegenüber der nationalen und regionalen Küchen, und gegenüber dem zum Beispiel im Fernsehen vermittelten Bild der eigenen Küche, sowie gegenüber transnationalen Beziehungen wie dem internationalen Tourismus, der transnationalen nicaraguanischen Migration und dem Angebot transnationaler Restaurantketten. Neben der Teilnehmenden Beobachtung dienten auch die Informationen aus diesen Gesprächen zur Ergänzung und Ausformulierung des Leitfadens für die späteren Interviews. Darüber hinaus waren besonders die ›natürlichen Gespräche‹
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wichtige Informationsquellen in Bezug auf Aspekte, welche in Interviews nicht angesprochen wurden oder auch nicht angesprochen werden konnten. 2.6.1.2 Listen Während der Teilnehmenden Beobachtung erstellte ich Listen mit den in den Familien konsumierten Lebensmitteln. Ich konzentrierte mich hierbei auf die Familien, bei denen ich selbst wohnte, und nutzte die so entstandene Liste als Vergleichsbasis für die von meinen anderen Interviewpartnern gemachten Angaben zu ihrem Essverhalten während einer Woche sowie zu meinen eigenen Beobachtungen zum Essverhalten meiner anderen Interviewpartner. Neben den konsumierten Produkten und den gekochten Gerichten interessierte mich auch die Herkunft der Produkte, d. h. wo sie gekauft wurden bzw. wo gegessen wurde und von wem die Gerichte zubereitet wurden. Auf diese Weise verschaffte ich mir einen Überblick über das alltägliche Essverhalten und die Bedeutung transnationaler Beziehungen für dieses. Im Kontext der Restaurants orientierte ich mich, sofern vorhanden, an den Speisekarten bzw. fertigte diese auf Grundlage der Aussagen der Köchinnen und Restaurantbesitzer sowie eigener Beobachtung an. Ich erhielt so einen Überblick über das Angebot und darüber, was als Teil der lokalen Küche präsentiert wurde bzw. wie die lokale Küche konstruiert wurde. 2.6.2 Leitfadeninterviews Die zweite zentrale Technik zur Datenerhebung, auf die ich im Rahmen meiner Feldforschung zurückgriff, ist die Methode des qualitativen Interviews. Die gewählte Interviewform war, aufgrund ihrer für mein Forschungsinteresse vielfältigen Vorteile, die des Halbstrukturierten Interviews bzw. des Leitfadeninterviews. Nach Judith Schlehe oder auch Harvey Russell Bernard ermöglicht das Leitfadeninterview den Interviewten, im Interview auf Themen, die ihnen besonders wichtig sind, genauer einzugehen bzw. auch selbst Themen in das Interview einfließen zu lassen. Gleichzeitig bleibt aber für den Interviewer die Möglichkeit bestehen, das Gespräch mit Hilfe des Leitfadens zu kontrollieren. Im Gegensatz zum strukturierten Interview muss man sich dabei nicht an einen festen Fragenkatalog halten, sondern ist weitgehend flexibel und hat als Interviewer auch die Möglichkeit, vertiefend nachzufragen (vgl. Bernard 1994: 209-11, Schlehe 2003: 78-9). Ähnlich beschreibt Cornelia Helfferich Leitfadeninterviews als geeignete Technik zur Erforschung subjektiver Theorien und zur Rekonstruktion von Alltagswissen, da über sie einerseits eine größtmögliche Offenheit der Interviewsituation gewährleistet, andererseits die Einflussnahme durch den Interviewer möglich ist (vgl. Helfferich 2005: 159).
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Ein vorläufiger Leitfaden wurde basierend auf meinen Erfahrungen aus vorherigen Studienaufenthalten in Costa Rica aus den Jahren 2005 und 2007 und den aus der vor der Feldforschung begonnenen Literatur- und Medienanalyse gewonnenen Informationen formuliert. Im Verlauf der Forschung wurde dieser, wie bereits erwähnt, anhand der Daten aus den ›natürlichen Gesprächen‹ und der Teilnehmenden Beobachtung erweitert oder spezifiziert.26 Der Leitfaden enthielt die wichtigsten Themen, die während des Interviews zur Sprache kommen sollten, und stellte somit sicher, dass in allen Interviews die gleichen Aspekte angesprochen wurden. Auf diese Weise kann, wie u. a. Elssy Bonilla Castro und Penélope Rodríguez Sehk betonen, die Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet werden (vgl. Bonilla Castro und Rodríguez Sehk 2005: 162), und in meinem Fall sichergestellt werden, dass die Ergebnisse der Interviews innerhalb der einzelnen Gruppen von Interviewpartnern und in Hinblick auf die zentralen Themen auch die Forschungsgruppen überschreitend vergleichbar waren. Neben Einzelinterviews führte ich auch Gruppeninterviews, an denen mehrere Mitglieder einer Familie oder miteinander befreundete Interviewpartner teilnahmen. Für Schlehe besteht ein Vorteil der Diskussion in Gruppeninterviews in natürlichen Gruppen darin, dass die Situation für die Interviewten alltagsnäher ist und das Interview damit freier verläuft. Als ›natürliche Gruppe‹ definiert Schlehe eine »auch im Alltag bestehende Gruppe« (Schlehe 2003: 82). Da die von mir im Gruppeninterview befragten Familienmitglieder, Freunde oder Arbeitskollegen auch in ihrem Alltag als Familie, Freundes- oder Bekanntenkreis eine Gruppe bilden, betrachte ich diese als ›natürliche Gruppen‹, in denen die Durchführung des Gruppeninterviews von Vorteil sein kann. Während der Gruppeninterviews konnte ich sowohl Einzelmeinungen als auch Ansichten erfahren, die von der gesamten Gruppe geteilt wurden. Zudem konnte ich die Reaktionen der einzelnen Personen auf das Gesagte beobachten. Dieses Beobachten wurde dadurch erleichtert, dass ich als Interviewer durch die Gruppensituation nicht so stark im Vordergrund stand. Ein weiterer Vorteil des Gruppeninterviews ist, dass Aspekte zur Sprache kommen und diskutiert werden können, die man als Interviewer selbst nicht angesprochen hätte, die aber für das Forschungsinteresse von Relevanz sein können. Das Problem, dass manche Meinungen vielleicht weniger offen geäußert werden, versuchte ich durch das Führen von Einzelinterviews auszugleichen. Die Interviewsprache war mit wenigen Ausnahmen Spanisch. Die Ausnahme bildeten einige in Puerto Viejo de Talamanca mit afrokaribischen Interviewpartnern geführte Interviews, bei denen meine Interviewpartner die englische Sprache bevor26 Da ich mit verschiedenen Gruppen von Interviewpartnern zusammenarbeitete, wurden die Fragen des Leitfadens je nach Interviewpartnergruppe spezifiziert. Trotz der Aufnahme von auf die Forschungsorte und Gruppen von Interviewpartnern zugeschnittenen Fragen in den Leitfaden wurde jedoch auf eine größtmögliche Übereinstimmung geachtet.
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zugten, sowie einige Interviews und Unterhaltungen mit Touristen. Alle Interviews wurden mit Einwilligung meiner Interviewpartner aufgezeichnet und transkribiert. Neben der Frage nach der Konstruktion der ›costa-ricanischen‹ oder der Regionalküche im Rahmen des Verkaufs und der dabei stattfindenden Aushandlung des Bildes dieser Küchen interessierten auch das alltägliche Essverhalten als Ausdruck der nationalen und regionalen Identität und die Einflüsse, welche dieses Essverhalten bestimmen. In den einzelnen regionalen Kontexten wurde zudem die Beziehung zwischen Regional- und Nationalidentität und Küche untersucht. 2.6.2.1 Pile-Sorting Im Rahmen der Interviews setzte ich, in Anlehnung an die Methode des PileSortings (vgl. Bernard 1994: 249-51), Bild-Kärtchen aus dem von der Escuela de Nutrición herausgegebenen Bingo Spiel La Cuchara Tica (2009) ein. Auf diesen insgesamt 75 Kärtchen sind Zeichnungen von costa-ricanischen Speisen und Getränken abgebildet27 sowie deren Namen. Auf der Rückseite findet sich die Beschreibung des abgebildeten Gerichts oder Getränks, welche jedoch im Rahmen der Pile-Sortings eher von geringerer Bedeutung war, da die meisten meiner Interviewpartner die Kärtchen nur aufgrund des Bildes und des Namens auf der Vorderseite ordneten. Während der Interviews bat ich meine (costa-ricanischen) Interviewpartner, die Kärtchen zu ordnen, indem sie Gerichte, welche ihrer Meinung nach Teil der costa-ricanischen Küche waren, auf einen Stapel legten, getrennt von den Gerichten, welche sie nicht als Teil der nationalen Küche ansahen. Unbekannte Gerichte wurden ebenfalls gesondert abgelegt, so dass in der Regel drei Stapel gebildet wurden. Beim Bilden der Stapel ließ ich meinen Interviewpartnern freie Hand, so dass es auch zur Bildung von vier Stapeln (›Cocina Costarricense‹, ›Cocina Limonense‹ oder ›Cocina Guanacasteca‹, ›nicht Teil der costa-ricanischen Küche‹ und ›unbekannt‹), fünf Stapeln (›Cocina Costarricense‹, ›Cocina Limonense‹, ›Cocina Guanacasteca‹, ›nicht Teil der costa-ricanischen Küche‹ und ›unbekannt‹) und in einem Fall sechs Stapeln (›Cocina Costarricense‹, ›Cocina Típica del Valle Central‹, ›Cocina Limonense‹, ›Cocina Guanacasteca‹, ›nicht Teil der costaricanischen Küche‹ und ›unbekannt‹) kam. Die unterschiedliche Anzahl der Stapel
27 Dieses Spiel wurde mit dem Anliegen, die ›traditionelle‹ costa-ricanische Küche zu bewahren, entwickelt. Daher waren neben alltäglichen Speisen auch bereits im Vergessen begriffene, kaum zubereitete oder lokalspezifische Gerichte abgebildet. Patricia Sedó Masís, die das Spiel mitentwickelt hatte, erklärte, dass ein Großteil der Gerichte der costa-ricanischen Bevölkerung nicht mehr bekannt sei. Entgegen dieser negativen Einschätzung kannten meine Interviewpartner die meisten dieser Speisen und Getränke und konnten sie, ohne die Erläuterung auf der Rückseite zu lesen, erklären. Eine Ausnahme bildeten meine afrokaribischen Interviewpartner in Puerto Viejo (vgl. Punkt 5.1).
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erschwerte es zwar, die einzelnen Zuordnungen miteinander zu vergleichen28 und zu ermitteln, ob es allgemein geteilte Vorstellungen hinsichtlich des Bildes der costa-ricanischen National- oder Regionalküchen gibt. Andererseits wurden durch diese Zuordnungen und die anschließenden Erklärungen zur Verteilung der Kärtchen auch die Ansichten zum Verhältnis von Regional- und Nationalküche deutlich sowie die Unterschiede und Übereinstimmungen in den Auffassungen meiner Interviewpartner gegenüber dem im akademischen Diskurs vertretenen Bild der Nationalküche. Zusätzlich dienten die Abbildungen auf den Kärtchen als Stimuli und regten meine Interviewpartner insbesondere zur Schilderung von mit den abgebildeten Gerichten verbundenen persönlichen Erinnerungen, zu positiven oder negativen Bewertungen der Gerichte oder, neben regionalen, auch zu sozialen Verortungen der Gerichte an. Falls darüber hinaus auch die Informationen auf der Rückseite der Kärtchen gelesen wurden, kam es oft auch auf Basis dieser gegebenen Informationen zu Diskussionen. Die Technik stellte daher eine sinnvolle Unterstützung zu den Interviews dar. 2.6.2.2 Free-Listing In der Anfangsphase des ersten Interviews bat ich meine Interviewpartner, die zuvor meine Frage nach der Existenz einer Nationalküche in Costa Rica positiv beantwortet hatten, die Gerichte, welche ihrer Meinung nach zu dieser Küche gehörten, aufzuzählen. Mit Hilfe dieses Free-Listing konnte ich ermitteln, welche Gerichte meine Interviewpartner aus dem Stegreif zur Nationalküche zählten, und so einen ersten Einblick in das lokale Bild der Nationalküche erhalten. Die einzelnen Auflistungen konnte ich im Anschluss untereinander, aber auch mit dem Bild der Nationalküche im akademischen und touristischen Diskurs, vergleichen und herausarbeiten, wie sich in den individuellen Auflistungen auch das unter Aushandlung transnationaler und translokaler Einflüsse und Fremdbilder konstituierte Selbstbild widerspiegelt. Auch konnte ich einen Eindruck davon gewinnen, welchen Gerichten diskursiv besondere Bedeutung als Teil der Küche zukam. So kann neben der Häufigkeit der Nennung der einzelnen Objekte beim Free-Listing auch die Position der einzelnen Objekte in der Liste Aufschluss über die diesen zugesprochene Relevanz geben (vgl. Bernard 1994: 241-2). Insbesondere an den beiden Forschungsorten Puerto Viejo und Santa Cruz wurde die Aussage, es gäbe eine Nationalküche, bei der Aufzählung der Gerichte revidiert und die genannten Gerichte der eigenen, lokalen Küche zugeordnet, wodurch sich während des Free-Listing auch die Bedeutung der innergesellschaftlichen Unterschiede abzeichnete, und anstelle eines Bildes der nationalen Küche das Bild der Regionalküchen zum Ausdruck kam. 28 Weller und Romney sprechen hierbei vom »lumper-splitter problem« (Weller/ Romney 1988: 22, in Bernard 1994: 250).
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2.7 Z USAMMENFASSUNG Im vorliegenden Kapitel wurden die in der Forschung angewendeten Methoden beschrieben, wobei ein besonderer Fokus auf der Darstellung der Feldforschung lag. Nach einer Schilderung der Rahmenbedingungen der Feldforschung wurde die Anwendung der einzelnen Forschungsmethoden in Relation zur Fragestellung erläutert. Im nächsten Kapitel soll nun die Konstruktion der costa-ricanischen Nationalküche in den akademischen und touristischen Diskursen dargestellt und mit den Diskursen der Nationalidentität in Beziehung gesetzt werden. Angesichts der historischen Relevanz des Essverhaltens zur Kennzeichnung sozialer, kultureller und regionaler Unterschiede in Costa Rica gilt mein vorrangiges Interesse dabei der Aushandlung regionaler und kultureller Unterschiede im Rahmen dieser Konstruktionen der costa-ricanischen Nationalküche.
3. Konstruktion von Nationalküche und -identität in Costa Rica
Im folgenden Kapitel wird die Konstruktion der costa-ricanischen Nationalküche thematisiert und dabei auf das Verhältnis von National- und Regionalküchen eingegangen werden. Ausgehend von der im vorangehenden Kapitel dargelegten Diskussion der Küche als Identitätsmarker wird zunächst die Konstruktion der costaricanischen Nationalidentität und die damit einhergehende regionale Verortung kultureller Unterschiede in der Vergangenheit erläutert sowie der Wandel in der Identitätskonstruktion nachgezeichnet werden. In diesem Zusammenhang wird auch das Verhältnis regionaler, sozialer oder nationaler Identität und Küche in der Vergangenheit besprochen werden. Im Anschluss an diese historische Einordnung wird die Neukonstruktion der costa-ricanischen Nationalküche im akademischen und touristischen Diskurs diskutiert.
3.1 K ONSTRUKTIONEN DER COSTA- RICANISCHEN N ATIONALIDENTITÄT Die Erfindung der costa-ricanischen Nation bildete Ende des 19. Jahrhunderts angesichts der wachsenden Unterschiede zwischen der urbanen, ›kosmopolitischen‹ Bevölkerung und der ländlichen Bevölkerung Costa Ricas ein zentrales politisches Anliegen (vgl. Molina Jiménez 2008: 16-17). Im Zuge dieser Erfindung der Nation kam es auch zur Konstruktion einer costa-ricanischen Nationalidentität. Wie unter Punkt 1.1.1 für die Herausbildung von nationalen Identitäten und Nationalstaaten allgemein geschildert (vgl. Irvine/Gal 2000: 37-8), war auch im costa-ricanischen Kontext die Erschaffung einer homogenen Nation Ziel der Identitätskonstruktionen, die in der Regel in Abgrenzung zu Nicaragua gebildet wurden. Auf diese relationale Identitätskonstruktion in Abhängigkeit zu einem gleichermaßen konstruierten ›Anderen‹ (vgl. Punkt 1.3) weist u. a. Carlos Sandoval García hin, wenn er erklärt, dass
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alle als nicht erstrebenswert geltenden Eigenschaften den Nicaraguanern als imaginierten ›Anderen‹ zugeschrieben wurden (vgl. Sandoval García 2004: 89, 109, 157, 160, 174; auch Campos Zamora/Tristán Jiménez 2009: 37). Aufgrund der Relevanz der Nivellierung innergesellschaftlicher Unterschiede zugunsten der Herausbildung einer homogenen nationalen Identität einerseits und der Bedeutung interner wie externer ›Anderer‹ im Rahmen der relationalen Herausbildung der Nationalidentität andererseits werde ich mich in den folgenden Ausführungen zu den Identitätskonstruktionen im 19. und 20. Jahrhundert sowie zur Krise der Nationalidentität verstärkt auf das Verhältnis der drei Regionen Valle Central, Guanacaste und Limón konzentrieren. 3.1.1 Identitätsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts Die Nationalidentität, welche im Rahmen der Bildung der costa-ricanischen Nation Ende des 19. Jahrhunderts konstruiert wurde,1 basierte nach Sandoval García auf drei Merkmalen: Zum einen wurde die costa-ricanische Bevölkerung als egalitär und demokratisch betrachtet. Im Zentrum stand hier das Bild der ›ruralen Demokratie‹, das das Selbstverständnis der Costa Ricaner als ländliche Bevölkerung zum Ausdruck bringt. Neben der frühen Demokratisierung war die Stabilität der Demokratie ein weiteres Merkmal, über welches die Einzigartigkeit Costa Ricas innerhalb des zentralamerikanischen regionalen Kontextes begründet wurde. Insbesondere nach Abschaffung der costa-ricanischen Armee wurde das Merkmal der politischen Stabilität auch durch die Eigenschaft der ›Friedfertigkeit‹ ersetzt. Als drittes Identitätsmerkmal ist die ›weiße Hautfarbe‹ der costa-ricanischen Bevölkerung anzuführen, welche ebenfalls als Beweis für die Einzigartigkeit Costa Ricas in Zentralamerika herangeführt wurde. Die costa-ricanische Bevölkerung wurde Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts also als weiß, egalitär, friedlich, demokratisch und auf dem Land lebend definiert (vgl. Sandoval García 2004: XV-VI, 62, 67; auch Chacón Gutierrez 2000: 84-5; Molina Jiménez 2008: 20, 37; Molina Jiménez/Palmer 2009: 72-3, 92). Während die Identitätskonstruktion der Abgrenzung gegenüber anderen zentralamerikanischen Ländern und insbesondere Nicaragua diente – die Nicaraguaner wurden den Costa Ricanern im Rahmen der Identitätsdiskurse als ›arm‹, ›streitsüchtig‹ und ›dunkelhäutig‹ gegenübergestellt (vgl. Sandoval García 2004: 89, 109, 157, 160, 174; auch Campos Zamora/Tristán Jiménez 2009: 37) – fand zugleich eine Identifikation mit europäischen Nationen statt. Hierbei spielte vor allem das ethni1
Die mit der Herausbildung der costa-ricanischen Nation Ende des 19. Jahrhunderts verbundene Nationalidentität ist nicht nur die erste Nationalidentitätskonstruktion, das in dieser Zeit konzipierte Bild der Costa Ricaner und Costa Ricas ist in aktuellen Diskursen weiterhin relevant. Daher wird es hier detaillierter dargestellt.
K ONSTRUKTION VON N ATIONALKÜCHE UND - IDENTITÄT
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sche Element bzw. die der costa-ricanischen Bevölkerung zugeschriebene ›weiße Hautfarbe‹ eine wichtige Rolle. In Selbst- wie in Fremdwahrnehmung wurde Costa Rica als das zentralamerikanische Land mit dem geringsten Anteil an autochthoner Bevölkerung angesehen und die Costa Ricaner als direkte und ›reine‹ Nachkommen der spanischen Kolonialherren (vgl. Molina Jiménez 2008: 20-1; auch Chacón Gutierrez 2000: 85; Soto 1999: 90-2; Wagner/Scherzer 1856: 142).2 Auf die Darstellung der ›Ticos‹ in einem in der Zeitung La Nación im Jahr 1999 veröffentlichten Artikel und Foto verweisend, stellt Iván Molina Jiménez fest, dass diese Konstruktion der costa-ricanischen Identität auch Ende des 20. Jahrhunderts die Selbstwahrnehmung prägt: »La imágen de una república agrícola, igualitaria, pacífica y blanca, aunque ubicada en una geografía equívoca, (es decir no en el corazón de Europa o por lo menos cerca de Chile, Argentina o Uruguay, sino a la par de la »plutónica« [Hervorhebung im Original] Nicaragua), es una construcción cultural que se resiste a desaparecer, pese a los decisivos cambios experimentados por la sociedad costarricense a partir de 1950.«3 (Molina Jiménez 2008: 132)
Trotz des weiterhin großen Einflusses dieser Identitätskonstruktion wurde sie zunehmend als problematisch erkannt, insbesondere aufgrund ihres ausschließenden Charakters (vgl. Sandoval García 2004: 18, 103, 109). Dieser basiert in erster Linie auf der Dominanz der Region des Valle Central als Bezugspunkt der Identitäts- und Nationalitätsdiskurse im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Zentral ist in diesem Zusammenhang wiederum das Gewicht, welches auf die ›weiße Hautfarbe‹ gelegt wird. Über diese Betonung wird ein Großteil der costa-ricanischen Bevölkerung vom Identitätsdiskurs ausgeschlossen; neben autochthonen Bevölkerungsgruppen betrifft diese Marginalisierung aufgrund ethnischer Eigenschaften auch die Angehörigen der afrokaribischen Bevölkerung sowie die Guanacastecos, da diese nicht nur als ›Nicaraguaner‹4 bzw. als mit diesen verwandt, sondern auch, gleich den Bewohnern anderer zentralamerikanischer Staaten, als stark mit autoch2
Auf ähnliche Weise drückt nach Ansicht Sandovals auch die populäre Metapher der ›Schweiz Mittelamerikas‹ die größere Affinität zu Europa sowie die Einzigartigkeit Costa Ricas in Zentralamerika aus (vgl. Sandoval Garcia 2004: 66-7).
3
Übersetzung: »Das Bild einer bäuerlichen, egalitären, pazifistischen und weißen Republik, wenn auch im falschen geographischen Umfeld angesiedelt (d. h. nicht im Herzen Europas oder wenigstens in der Nähe Chiles, Argentiniens oder Uruguays, sondern an der Seite des plutonischen Nicaraguas) ist ein kulturelles Konstrukt, welches sich, trotz der entscheidenden Veränderungen, die die costa-ricanische Gesellschaft seit den 1950er Jahren erfahren hat, hartnäckig hält.«
4
Von Bewohnern des Valle Central werden die Guanacastecos auch pejorativ als ›nicas regalados‹ bezeichnet (vgl. Chacón Gutierrez 2000: 84).
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thonen mesoamerikanischen Bevölkerungsgruppen vermischt gelten (vgl. Chacón Gutierrez 2000: 84; auch Campos Zamora und Tristán Jiménez 2009: 39-40; Molina Jiménez 2008: 21; Sandoval García 2004: 18, 103, 109). Diese Exklusion der ›nicht-weißen‹ Bevölkerung verdeutlicht nicht nur die damalige Vormachtstellung des Valle Central, sie stellt zugleich eine territoriale Einschränkung der Nation Costa Rica auf diese Region dar. Denn die ›nicht-weißen‹ Bewohner Costa Ricas waren in erster Linie außerhalb des Valle Central angesiedelt, wobei sich die Afrokariben auf die Atlantikküste und die Provinz Limón konzentrierten und die ebenfalls ›nicht-weißen‹ Guanacastecos die Pazifikküste und die heutige Provinz Guanacaste bewohnten (vgl. Molina Jiménez 2008: 21, 106).5 Die regionale Konzentration dieser Bevölkerungsgruppen auf die Peripherie sowie die Verteilung auf jeweils unterschiedliche Regionen kann wiederum als eine Folge der Marginalisierung aufgrund ethnischer bzw. kultureller Kriterien verstanden werden. So war zum Beispiel für die afrokaribischen Einwohner Limóns ein Umzug an die Pazifikküste mit der Verabschiedung des Companion Law 1934, über das u. a. die United Fruit Company verpflichtet wurde, keine ›Farbigen‹ an der Pazifikküste zu beschäftigen, unattraktiv (vgl. Harpelle 2001: 86-7; Palmer 2005: 207-8). Kulturelle Unterschiede sind also regional verortet. Diese Verbindung von Kultur und Region spiegelt auch die politischen, sozialen und ökonomischen Machtverhältnisse wider; die Abwertung der vom Nationalitätsdiskurs ausgeschlossenen Gruppen wird durch ihre Verortung in ländlichen und/oder isolierten Regionen deutlich (vgl. Sandoval García 2004: 18). In Bezug auf Costa Rica lässt sich daher von einer ›kulturellen Geographie‹ sprechen, die Peter Wade in Anlehnung an Taussig für Kolumbien beschreibt (vgl. Wade 1995: 43, 51-2; Walmsley 2004: 201).6 Die Lokalisierung im ländlichen Gebiet ist in diesem Zusammenhang oft als 5
Andere ›nicht weiße‹ Bevölkerungsgruppen, zu denen z. B. die indigene Bevölkerung, aber auch Chinesen und Inder zählen, lebten ebenfalls hauptsächlich in diesen Regionen, vor allem Limón zeichnet sich durch große Multikulturalität aus. Allerdings ist anzumerken, dass auch im Valle Central einige autochthone Gruppen ansässig sind und dass die Bewohner der ebenfalls an der Pazifikküste gelegenen Provinz Puntarenas die phänotypischen Merkmale der Guanacastecos teilen. Zudem verfügt Puntarenas über eine große chinesische Gemeinde. In den Diskursen findet allerdings eine Betonung der Unterschiede zwischen dem afrokaribischen Limón, dem mesoamerikanischen Guanacaste und dem europäischen oder spanischen Valle Central statt, die Provinz Puntarenas sowie die Multikulturalität der einzelnen Regionen bleibt unberücksichtigt.
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Wade weist im Konzept der ›cultural geography‹ darauf hin, dass in der räumlichen Verteilung nicht nur die kulturelle und ethnische Ordnung eines Landes sichtbar wird, sondern dass kulturelle Unterschiede über diese konstituiert werden. Die kulturelle Geographie eines Landes basiert nach Wade immer auf den Ideologien und Diskursen der dominanten Gesellschaftsmitglieder und drückt damit auch deren Geringschätzung für die ge-
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Hinweis auf die Geringschätzung und den Ausschluss der betroffenen Gruppe aus dem Nationalitätsdiskurs zu werten. Auf den ersten Blick scheint das Element der ländlichen bzw. ruralen Demokratie als Grundpfeiler der Konstruktion der costaricanischen Identität dieser Ansicht zu widersprechen. Allerdings wirkt, wie u. a. Molina Jiménez zeigt, die Zentralität des Ruralen im costa-ricanischen Identitätsdiskurs weder der Diskriminierung der ländlichen Bevölkerung noch der regional marginalisierten Gruppen entgegen (vgl. Molina Jiménez 2008: 67; auch Cabrera Padilla 2007: 301-2). Sandoval García geht darüber hinaus darauf ein, dass dieses Bild der ländlichen Demokratie immer stärker auf die Ebene ›nationaler Folklore‹ verdrängt wird, zugunsten eines neuen Identitätsmerkmals, der Zugehörigkeit zur urbanen Mittelschicht (vgl. Sandoval García 2004: 76). Die Wertschätzung, die der ländlichen Demokratie in der Identitätskonstruktion zuteilwird, schließt die Marginalisierung der auf dem Land lebenden Menschen nicht aus; in Bezug auf die Regionen Guanacaste und Limón stellt die Ruralität daher ein zusätzliches Merkmal der Ausgrenzung dar. In der Regionalisierung von Kultur manifestieren sich die Diskurse über die nationale Identität sowie die Ansichten der dominanten Gesellschaftsschichten hinsichtlich der ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen; geographische und kulturelle Merkmale bedingen sich dabei gegenseitig. Die isolierte Lage, fehlende Erschließung und Naturbelassenheit der Provinz Limón hatten eine Bewertung der Region als ›ungesund‹ und ›ungastlich‹ (vgl. Palmer 2005: 206) und ihrer Bewohner als ›fremd‹, ›unzivilisiert‹ und ›feindlich‹ zur Folge.7 Ebenso wird im Fall Guanacastes die den Guanacastecos zugeschriebene kulturelle Nähe zu Zentralamerika und besonders Nicaragua (vgl. Cabrera Padilla 1989: 13-15; Chacón Gutierrez 2000: 84; Molina Jiménez 2008: 21) auch über die geographische Nähe ausgedrückt (siehe ographisch
und
sozial
marginalisierten
Gesellschaftsgruppen
aus
(vgl.
Wade
1995: 43, 51-2). Dies verdeutlicht er am Beispiel der schwarzen Bevölkerung Kolumbiens: »The black tropical coasts are looked down on by the temperate Andean white and mestizo interior, which speakes with a shudder of the Pacific coast’s snakes, humidity, malaria, and blackness.« (Wade 1995: 52). Für Ecuador beschreibt Emily Walmsley die kulturelle Geographie und die mit der regionalen Isolation und Verortung im ländlichen Bereich verknüpfte Bewertung der schwarzen Bevölkerung als »uncivilised and unproductive« (Walmsley 2004: 20). 7
Diese Annahmen stehen auch in Relation zu den geschichtlichen Ereignissen in der Region. So waren die Provinz Limón und besonders die Region Talamanca oft Schauplatz sozialer Widerstandsbewegungen, u. a. der Widerstand Antonio Saldañas, des letzten Caciques der Bribri gegen die United Fruit Company, und die staatlichen Interventionen im Gebiet Talamanca Anfang des 20. Jahrhunderts, oder der Aufstand der Arbeiter auf den Bananenplantagen 1934 (vgl. Harpelle 2001: XVIII, 56, 77-89; Ibarra 1998: 419; Molina Jiménez 2008: 60-1; Molina Jiménez und Palmer 2009: 100, 183).
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Punkt 2.2.3). Die landwirtschaftliche Prägung der Region führte zudem zur Bewertung der Bevölkerung als ›hinterwäldlerisch‹ und ›einfach‹, eine Abwertung, die auch in der Bezeichnung der Guanacastecos als ›Maiceros‹, Maisbauern, impliziert ist.8 Die Identitätsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts verdeutlichen die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz des Valle Central und die Diskriminierung der Guanacastecos und Afrokariben. Beide sind gleichermaßen vom Identitätsdiskurs ausgeschlossen und auch geographisch marginalisiert. Aufgrund der regionalen Verortung kultureller Unterschiede kann man von einer kulturellen und geographischen Dreiteilung Costa Ricas sprechen, auf die ich mit der Wahl meiner Forschungsregionen Bezug genommen habe. Regionale Identitäten implizieren in diesem Zusammenhang immer auch eine zugeschriebene kulturelle Identität. 3.1.2 Krise der Nationalidentität und die neuen Identitäts konstruktionen Die durch die Wirtschaftskrise der 1980er Jahre bedingte wachsende ökonomische Unsicherheit und soziale Ungleichheit, das durch Korruptionsaffären gestiegene Misstrauen in die Demokratie, die Krise der Moralvorstellungen, welche auch als Folge globaler Einflüsse insbesondere der internationalen Migration verstanden wird, riefen eine Krise der costa-ricanischen Identität hervor (vgl. Campos Zamora/Tristán Jiménez 2009: 45; Molina Jiménez 2008: 112-13, 122-6; Molina Jiménez/ Palmer 2009: 174-5; Sandoval García 2004: XVI-VII).9 Diese Krise der Nationalidentität schaffte Raum für neue Identitätskonstruktionen, über die das Außergewöhnliche der costa-ricanischen Nation auf neue Weise ausgedrückt wird. Dabei sind diese neuen Identitätsentwürfe, wie Sandoval García am Beispiel der Konzeption Costa Ricas als »Ecodemocracy« (Sandoval García 2004: 103) zeigt, zunehmend an den Vorstellungen der Touristen, am ›Tourist Gaze‹ orientiert (siehe Punkt 1.2.1). Das Bild der demokratischen costa-ricanischen Gesellschaft wird um das der naturverbundenen Gesellschaft erweitert (vgl. Sandoval García 2004: 103). Eine weitere Veränderung stellt das Bekenntnis zur Multikulturalität des Landes dar. Wie bereits angemerkt, wurde der ausschließende Charakter der Identitätskon8
Eine Bezeichnung, die heute zwar immer noch abwertend verwendet wird, die allerdings gerade in Guanacaste auch mit gewissem Stolz gebraucht wird und das Selbstverständnis der Zugehörigkeit zur mesoamerikanischen Kultur, der ›Cultura del Maíz‹ ausdrückt (vgl. García Murillo/García Briceño 1981: 4).
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Die Einzigartigkeit des costa-ricanischen Staates wird zudem durch die rückläufigen Staatsausgaben in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Wohnungsbau als gefährdet betrachtet (vgl. Sandoval García 2004: 137-8, 164-5).
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struktion des 19. Jahrhunderts vor allem im sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs zunehmend problematisiert. Ausgehend von dieser Diskussion fand das Thema der ethnischen Pluralität Costa Ricas in den 1980er Jahren Eingang in den politischen Diskurs (vgl. Molina Jiménez 2008: 111-12). Im Gegensatz zur Darstellung Costa Ricas als ›homogener weißer Nation‹ wird heute im politischen Diskurs die Multikulturalität des Landes betont. Wie Sandoval García in Bezug auf das in aktuellen Schulbüchern verbreitete Bild der costa-ricanischen Nation erklärt, wird die Homogenität durch den Appell zu Diversität und Gleichheit ersetzt (vgl. Sandoval García 2004: 109; auch Molina Jiménez 2008: 112-13). Im Zusammenhang mit der Anerkennung der kulturellen Vielfalt steht auch das Unterstreichen der multikulturellen Ursprünge der costa-ricanischen Nation und Nationalidentität. In diesem Sinne erklärt Anayensy Herrera in der Einleitung zu ihrem an costa-ricanische und insbesondere guanacastekische Schulkinder gerichteten Buch Al Reencuentro de los Ancestros: »La población costarricense [...] está mezclada y como tal presenta elementos culturales diversos y heredados.«10 (Herrera 2007: V). Anstelle der einseitigen Akzentuierung europäischer bzw. spanischer Einflüsse wird die Nationalidentität nun als Ergebnis des Verschmelzens verschiedener Kulturen betrachtet, wobei neben den europäischen vor allem die indigenen und, in geringerem Maße, die afrikanischen Einflüsse thematisiert werden. Sowohl im Fall der unter Punkt 3.1.1 beschriebenen costa-ricanischen Nationalidentität als weiß, friedlich, homogen, demokratisch und urban, als auch im Fall der hier dargestellten Neukonstruktionen handelt es sich in erster Linie um Konstruktionen aus dem akademischen und politischen Bereich, die in gewisser Weise als Identitätskonstruktionen der herrschenden Institutionen und in Anlehnung an Castells als ›legitimierende Identitäten‹ verstanden werden können. Allerdings ist mit Castells zu berücksichtigen, dass Identitätskonstruktionen erst zu Identitäten werden, wenn sie von sozialen Akteuren internalisiert worden sind und diese Akteure ihre Bedeutungssysteme auf Basis dieser Identitäten gebildet haben (vgl. Castells 1999: 7). In Bezug auf die costa-ricanischen Identitätsdiskurse ist festzustellen, dass, obwohl diese neuen Identitätskonstruktionen den aktuellen akademischen und politischen Diskurs prägen, die Identitätskonstruktion des 19. Jahrhunderts durch die Neukonstruktionen nicht vollständig ersetzt wurde und mit den Neukonstruktionen koexistiert. Man kann also noch nicht von der Internalisierung einer dieser Neukonstruktionen sprechen. Die trotz der Krise und des zunehmenden Bewusstseins für ihre Unvereinbarkeit mit der Realität weiterhin große Bedeutung der Nationalidentitätskonstruktion des 19. Jahrhunderts kann allerdings ebenfalls als Folge der weitreichenden sozialen, wirtschaftlichen und demographischen Veränderungen und den damit verbundenen 10 Übersetzung: »Die costa-ricanische Bevölkerung [...] ist eine gemischte Bevölkerung und weist als solche verschiedene und ererbte kulturelle Merkmale auf.«
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wachsenden Gefühlen von Unsicherheit und Unzufriedenheit verstanden werden. Denn wie z. B. Campos Zamora und Tristán Jiménez zeigen, sind auch die nostalgische Verklärung der Vergangenheit und das Leugnen der kulturellen Vielfalt Reaktionen auf die Enttäuschung über die gegenwärtigen Bedingungen (vgl. Campos Zamora/Tristán Jiménez 2009: 219). Die Krise der Nationalidentität steht in engem Zusammenhang mit den aktuellen Debatten über die Krise der costa-ricanischen Kultur. Im Mittelpunkt dieser Diskurse steht, angesichts der zunehmenden Transnationalisierung des Konsumverhaltens, die Angst vor dem Verlust der eigenen nationalen Kultur. Diese Ängste werden insbesondere in Bezug auf die kulinarische Kultur artikuliert, wobei in erster Linie die wachsende Verbreitung und Beliebtheit von Gerichten fremder kulinarischer Traditionen und explizit von Fast Food als »pérdida del gusto«11 (Sedó Masís 2008a: 13; auch Álvarez Masís 2005: 16; 2007: 26-7; Casanueva 2004: 3-4; Ross de Cerdas 1986: 52-5) thematisiert wird. Der Verlust der Gerichte der eigenen Küche wird mit dem Verlust der eigenen nationalen Identität gleichgesetzt (vgl. Ross de Cerdas 1986: 56; Ross González 2001: IX, 31; 2008: 10). Analog zur Diskussion über die Neukonstruktion der nationalen Identität findet im Rahmen der Versuche zur Bewahrung der eigenen kulinarischen Tradition auch eine Rekonstruktion und Neukonstruktion der costa-ricanischen Küche statt. Bevor ich nun das in diesen Kontexten vorherrschende Bild der costaricanischen Küche thematisiere und dabei insbesondere der Frage nach der Behandlung kultureller und regionaler Unterschiede im Rahmen der Neukonstruktion der costa-ricanischen Nationalküche nachgehe, werde ich im folgenden Abschnitt darauf eingehen, wie die Konzepte der Nationalidentität in der Vergangenheit in den Konstruktionen der costa-ricanischen Küche ihren Ausdruck fanden.
3.2 AUSDRUCK DER N ATIONALIDENTITÄT ÜBER N ATIONALKÜCHE UND K ONSUMVERHALTEN IM 19. UND 20. J AHRHUNDERT Anhand historischer und geschichtswissenschaftlicher Beschreibungen der costaricanischen Küche und des Konsumverhaltens der Costa Ricaner wird die Zentralität von Speisen und Essverhalten im Rahmen der Konstruktion nationaler, aber auch sozialer und regionaler Identitäten erkennbar. Hier werde ich mich parallel zur vorangegangenen Diskussion über die Konstruktionen der nationalen Identität auf den Zeitraum vom Ende des 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts konzentrieren und ausschließlich diejenigen in diesem Zeitraum veröffentlichten Berichte und Werke
11 Übersetzung: »Verlust des Geschmacks«
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heranziehen, in denen die costa-ricanische Küche als Nationalküche thematisiert wird.12 Wie auch heute, wurde in der Vergangenheit die Beziehung von nationaler Identität und Nationalküche in erster Linie im Zusammenhang mit der Furcht vor dem Verlust derselben angesprochen. Diese Angst äußerte Gonzalo Chacón Trejos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel anlässlich des zunehmenden Konsums ausländischer Produkte (vgl. Chacón Trejos 1982: 53).13 Mittels der historischen Darstellungen der Küche und historischer Kochbücher lässt sich auch auf das vorherrschende Bild der Nationalidentität schließen. So zeigt sich die im Rahmen der Diskussion über die Nationalidentität beschriebene Betonung der europäischen Einflüsse klar im Kochbuch La Cocina Costarricense,14 welches Ende des 19. Jahrhunderts von Juana Ramírez Carrera de Aragón verfasst wurde. Wie die Autorin einleitend erwähnt, enthält das Buch »Instrucciones para la preparación de los platos más usados en Costa Rica, así como las recetas de otros lugares que más se acomodan al gusto del país« (Ramírez Carrera de Aragón 2003: 1).15 Die über vierhundert verschiedenen Gerichte16 in ihrem Buch gliedert sie nach ihrer Art, der Hauptzutat oder der Zubereitungsweise (vgl. Punkt 1.4.1). Neben den üblichen Kategorien für Suppen, Salate, Geflügel, Fleisch- und Fischgerichte enthält das Buch daher auch Kapitel zu Picadillos und Bohnengerichten. Über zwei Drittel des Buches nehmen Rezepte der Kategorie ›Pastelería, Postres, Dulces‹, also Gebäck, Nachspeisen und Süßigkeiten ein. Während einzig die 12 Die Anzahl der Beschreibungen der costa-ricanischen Küche ist insofern begrenzt, als dass sich zwar in zahlreichen Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert Hinweise auf die angebauten, gehandelten und verzehrten Nahrungsmittel finden (vgl. u. a. Meagher 1939; Wagner/Scherzer 1856), allerdings weniger explizit auf die daraus zubereiteten Gerichte eingegangen wird. 13 In ähnlicher Weise beklagt auch Carlos Gagini Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Diccionario de Costarriqueñismos den Übergang zu Picknick und Teegesellschaften zu Lasten der costa-ricanischen Mazamorras und Melcochas (vgl. Gagini 1919: 179; Ross de Cerdas 1986: 50). 14 Bei diesem Kochbuch handelt es sich um die erste publizierte Rezeptsammlung zur costaricanischen Küche. Es ist nicht nur die umfassendste Sammlung, sondern war bis Mitte des 20. Jahrhunderts neben dem 1936 von Julia Pastor veröffentlichten Una Semana Campestre, Recetas de Cocina das einzige Kochbuch mit Rezepten der lokalen Küche (vgl. Ross de Cerdas 1986: 52). Im Jahr 2003 wurde die dritte Auflage von 1914 neu aufgelegt. 15 Übersetzung: »Anleitungen zur Zubereitung der in Costa Rica am häufigsten verwendeten Gerichte sowie Rezepte von anderen Orten, die am ehesten dem Geschmack des Landes entsprechen.« 16 Unter Berücksichtigung aller von ihr erwähnten Variationsmöglichkeiten der Gerichte enthält das Buch über 750 Rezepte.
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schwarzen Bohnen von ihr mit dem Titel Nationalgericht versehen werden (vgl. Ramírez Carrera de Aragón 2003: 27) und weitere Hinweise auf nationale oder regionale costa-ricanische Gerichte fehlen,17 wird über die Auswahl und eindeutige geographische Zuordnung derjenigen Gerichte fremder Küchen, welche dem costaricanischen Geschmack entsprechen, die imaginierte, kulturelle Nähe zu Europa sichtbar. Die Auflistung wird dominiert durch europäische Gerichte, es finden sich u. a. Rezepte für die spanische »Olla Podrida«18 (Ramírez Carrera de Aragón 2003: 51), aber auch für Buey a la Moda, Filet Piqué, Beefsteaks, Roast Beef und Magdalenas (vgl. Ramírez Carrera de Aragón 2003: 36, 40, 46, 106). Darüber hinaus verweist eine Vielzahl der Gerichte über die den Namen zugefügten Ländernamen auf einen europäischen Ursprung, wobei insbesondere eine Zuordnung zu Spanien bzw. bestimmten Regionen Spaniens, zu Frankreich und Italien, aber auch England und Portugal erfolgt.19,20 Auch in Hinblick auf die zu verwendenden Zutaten deutet sich die Relevanz der Beziehung zu Europa an, wenn die Verwendung von Vino de Jerez (vgl. Ramírez Carrera de Aragón 2003: 14, 29, 56, 136, 138) Vinagre de Castilla (vgl. Ramírez Carrera de Aragón 2003: 38-9 ,53, 155), oder Käsesorten wie Gruyère, Schweizer Käse oder Käse aus Flandern empfohlen wird (vgl. Ramírez Carrera de Aragón 2003: 4, 8, 51, 60-1). In weit geringerem Maß finden sich Rezepte, über deren Namen eine Verbindung zum amerikanischen regionalen Kontext besteht. Ist dies der Fall, wird vor allem auf Mexiko oder Kuba Bezug genommen. 17 Das Fehlen jeglicher Hinweise auf regionale Besonderheiten oder Gerichte kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass sie analog zur Darstellung der costa-ricanischen Identität in den Diskursen nur auf das Essverhalten im Valle Central Bezug nimmt. Diese Annahme wird, abgesehen von der Absenz von Rezepten der afrokaribischen kulinarischen Tradition, auch durch die Tatsache bekräftigt, dass ausschließlich die für das Valle Central typischen Zubereitungsweisen und zum Teil auch regionaltypische Gerichte des Valle Central angeführt werden. 18 Constantino Láscaris Comneno vertritt die Ansicht, dass die costa-ricanische Olla de Carne aus der ›Olla Podrida‹ hervorgegangen ist (vgl. Láscaris Comneno 1977: 273; auch Ross González 2001: 50). 19 Das Buch enthält insgesamt 63 Rezepte, deren Namen Ortsbezeichnungen zugefügt sind. 44 dieser Rezepte verweisen auf eine europäische Herkunft, 17 lassen dabei einen Bezug auf Spanien erkennen, 8 auf Frankreich, 6 auf Italien, 3 auf England und je 2 auf Portugal und Deutschland. 20 Neben der Verwendung von Ländernamen, Ortsbezeichnungen und deren adjektivischen Ableitungen drückt sich die kulturelle Nähe zu Europa auch über den Bezug zum (spanischen) Königshof, über die Zusätze ›real‹ [königlich] oder ›de la Reina‹ [der Königin], ›de la Corte‹[vom Hof] aus, welche vor allem die Namen von Gebäck und Süßspeisen ergänzen (vgl. Ramírez Carrera de Aragón 2003: 86, 110, 113, 116, 117, 127, 150).
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Das hier erkennbare größere Gewicht europäischer Gerichte entspricht der Bedeutung, die den europäischen Wurzeln im Identitätsdiskurs des 19. Jahrhunderts zugesprochen wurde. Wie anhand geschichtswissenschaftlicher Studien zum Konsumverhalten deutlich wird, war vor allem den gutsituierten Gesellschaftsschichten der Konsum europäischer Importgüter nicht nur finanziell möglich, sondern auch ideell ein Anliegen. Die Orientierung an der europäischen Kultur und damit verbunden der Konsum europäischer Waren diente zur sozialen Differenzierung (vgl. Vega Jiménez 1991: 54-8; auch Chang Vargas 2001a: 65-6; Molina Jiménez 2008: 15). Das Buch Ramírez Carrera de Aragóns, welches nicht nur von einer Angehörigen der sozioökonomisch dominanten Gesellschaftsschicht geschrieben wurde, sondern auch an eine Leserschaft dieser Gesellschaftsschicht gerichtet ist, lässt sich als Anleitung zum Lebensstil der damaligen Ober- bzw. oberen Mittelschicht verstehen. Die hier als ›costa-ricanisch‹ beschriebene Küche ist die Küche der sozioökonomisch Bessergestellten. Wie die sozial und kulturell marginalisierten Gruppen im Identitätsdiskurs bleibt auch deren Küche im Rahmen der Konstruktion der Nationalküche unberücksichtigt, zur costa-ricanischen Küche wird die Küche der sozioökonomisch dominanten Bevölkerung des Valle Central erklärt. Demgegenüber kommt in Beschreibungen der costa-ricanischen Küche im 19. und 20. Jahrhundert über die Auswahl der Gerichte in erster Linie das Bild einer egalitären costa-ricanischen Gesellschaft zum Ausdruck.21 So unterscheidet Constantino Láscaris Comneno in seinem Abriss über die costa-ricanische Küche in den 1970er Jahren zwischen notwendigen und typischen Gerichten und bemerkt in Bezug auf die notwendigen Gerichte: »El costarricense tiene unos platos necesarios, indispensables. Con ellos vive feliz. Sin ellos, muere. Son: el arroz con frijoles, el gallo pinto, el puré de frijoles, la tortilla de maíz. La lista podría alargarse ligeramente, pero ya sin condición de necesariedad. La sopa negra, el arroz con pollo ofrecen problemática diferente.«22(Láscaris Comneno 1977: 251)
21 Dieses Bild der egalitären Gesellschaft zeichnet sich bereits bei Moritz Wagner ab, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Eintönigkeit des costa-ricanischen Essens beklagt: »Tortillas, Bohnen, Eier und Bananen, mit etwas Milch, sind hier zu Lande die einzigen Speisen, welche der Reiche, wie der Arme genießt.« (Wagner/Scherzer 1856: 118) 22 Übersetzung: »Der Costa Ricaner hat einige notwendige, unerlässliche Gerichte. Mit diesen lebt er glücklich. Ohne sie stirbt er. Es sind: Der Reis mit Bohnen, der Gallo Pinto, pürierte Bohnen, die Maistortilla. Diese Liste könnte man leicht erweitern, aber ohne dass dies nötig wäre. Die Sopa Negra und der Arroz con Pollo stellen ein anderes Thema dar.«
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Neben den schwarzen Bohnen,23 welche in keinem Gericht fehlen dürfen und die unabhängig von sozialer Klassenzugehörigkeit von allen Costa Ricanern täglich gegessen werden (vgl. Láscaris Comneno 1977: 252-3), bildet der Reis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die zweite zentrale Zutat costa-ricanischer Gerichte. Die costa-ricanische Esskultur definiert Láscaris Comneno als »[…] la Cultura del Frijol, encontrada con la Cultura del Arroz« (Láscaris Comneno 1977: 251).24 Über den Hinweis auf den klassenübergreifenden Verzehr schwarzer Bohnen kommt die soziale Gleichheit der Costa Ricaner zum Ausdruck. Darüber hinaus spiegelt die Beschreibung Láscaris Comnenos das Bild der ländlichen Demokratie wider. Denn er versteht die Costa Ricaner als über die einzelnen Komponenten der Gerichte mit ihrem Land, aber vor allem auch dem Landleben verbunden, wie er am Beispiel des Casados beschreibt: »Frijoles, arroz, son el fundamento; luego, puede ir tomate, chiles dulces, chayote, alguna raíz, un huevo duro, un trozo de carne. A una orilla del plato, un trozo grande de maduro (plátano grande). Este será el postre. Todo lo demás será el plato que establece la raíz umbilical entre la tierra y el costarricense: su sentido telúrico de la vida.«25 (Láscaris Comneno 1977: 260)
Ein ähnliches Verständnis der costa-ricanischen Gesellschaft als ›bäuerlich‹ liegt der bereits erwähnten Kritik Chacón Trejos’ am Wandel des Essverhaltens zugrunde. Den Erzeugnissen aus eigenem Anbau stellt er die europäischen Importwaren gegenüber, deren Verzehr er mit dem Niedergang der costa-ricanischen Gesellschaft gleichsetzt:
23 Hier besteht eine Parallele zu Ramírez Carrera de Aragóns Hinweis, die schwarzen Bohnen seien costa-ricanisches Nationalgericht (vgl. Ramírez Carrera de Aragón 2003: 27). Dagegen findet sich bei Ramírez Carrera de Aragón, mit Ausnahme der Tortilla de Maíz und der Sopa Negra, keinerlei Hinweis auf die anderen von Láscaris Comneno genannten Gerichte, eine Tatsache, die auch darin begründet ist, dass sich Speisen wie Casado und Arroz con Pollo erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit der zunehmenden Industrialisierung entwickelten bzw. an Bedeutung gewannen (vgl. Láscaris Comneno 1977: 261-3). 24 Übersetzung: »Die Kultur der Bohne zusammengetroffen mit der Kultur des Reis« Láscaris Comneno wendet sich damit gegen die Bezeichnung der costa-ricanischen Esskultur als ›Cultura del Maíz‹ (vgl. Láscaris Comneno 1977: 250). 25 Übersetzung: »Bohnen, Reis bilden die Grundlage; dann können folgen: Tomate, Paprika, Chayote, irgendeine Knolle, ein hartgekochtes Ei, ein Stückchen Fleisch. An einem Tellerrand ein großes Stück ›Maduro‹ (große Kochbanane). Das ist die Nachspeise. Alles andere ist Teil des Gerichts, das die Nabelschnur zwischen dem Costa Ricaner und dem Land bildet: Sein tellurisches Verständnis vom Leben.«
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»Por desnacionalizar nuestra cocina y nuestra repostería, la raza desmejora, se empobrece y se envilece. Preferimos comer cosas importadas; [...] Volvamos, pues contritos y alborozados, a los guisos nacionales; por encima de todo, exaltemos la grandeza del autóctono arte del comal y la cazuela, tal como nos legaron nuestros robustos, nobles y venerados abuelos.«26 (Chacón Trejos 1982: 53)
Seine Darstellung basiert auf dem Bild der ländlichen Demokratie, seine Kritik richtet sich in erster Linie an die urbane Bevölkerung des Valle Central, deren Abkehr von der eigenen Tradition er beklagt. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Aufzählung der vom Verlust bedrohten Speisen an regional auf das Valle Central beschränkten Gerichten orientiert.27 Dem Verlust im urbanen Valle Central stellt er den Bestand der traditionellen Gerichte auf dem Land gegenüber. Indem er hier die Zubereitung auf dem Comal anspricht, nimmt Chacón Trejos auf die autochthonen mesoamerikanischen Ursprünge der costa-ricanischen Küche Bezug (vgl. Chacón Trejos 1982: 52). Demgegenüber kritisiert Láscaris Comneno in den 1970er Jahren die Selbstund Fremdbeschreibung der costa-ricanischen kulinarischen Kultur als ›Cultura del Maíz‹ als nicht mehr dem alltäglichen Essverhalten entsprechend (vgl. Láscaris Comneno 1977: 250). Weitaus größere Bedeutung misst er den Zutaten Bohnen und Reis bei. Dabei sieht er die Bohnen als universelles Nahrungsmittel an, welches bereits in der römischen Antike und auch in Spanien verbreitet war. Er sieht also in den Bohnen keinen Hinweis auf ein mesoamerikanisches Erbe; dagegen nimmt er für den Reis an: » Esta segunda, supongo, guarda relación con el origen siberiano de los habitantes precolombinos del continente.«28 (Láscaris Comneno 1977: 251). Zwar stellt er somit einen Bezug zu den autochthonen Gesellschaften her, wendet sich jedoch, durch die Negation der Relevanz des Mais, gegen die Einordnung der costa-ricanischen Kultur in den mesoamerikanischen Kontext. Auch in dieser Kritik offenbart sich ein Verständnis der costa-ricanischen Nation als regional auf das 26 Übersetzung: »Indem wir unsere Küche und unsere Backwaren entnationalisieren, verfällt, verarmt und verkommt die Rasse; wir ziehen es vor, importierte Waren zu essen. [...] Lasst uns also reumütig und vergnügt zu den nationalen Schmorgerichten zurückkehren. Lasst uns die Größe der autochthonen Kunst des Comals und des Schmortopfs über alles erheben, wie es uns unsere robusten, edlen und ehrwürdigen Vorfahren vererbt haben.« 27 Als vom Verlust bedroht erwähnt er insbesondere Backwaren aus dem Valle Central, weist aber auch über die Nennung Santo Domingo de Heredias auf diese Region hin. Obwohl er im Anschluss lediglich von ›Campo‹ spricht (vgl. Chacón Trejos 1982: 52), ist anzunehmen, dass er sich auch hier vornehmlich auf das Valle Central bezieht. 28 Übersetzung: »Diese zweite ist vermutlich auf den sibirischen Ursprung der präkolumbischen Bewohner des Kontinents zurückzuführen.«
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Valle Central beschränkt. Denn im Verlauf seiner Beschreibung hebt Láscaris Comneno die zentrale Stellung des Mais in der Alltagsernährung der Guanacastecos hervor, deren Küche er von der des Valle Central unterscheidet. Über die Unterschiede in den Zubereitungsweisen von Gerichten wie den Tamales geht er zudem auf die kulturelle Nähe Guanacastes zu Mexiko und Zentralamerika ein (vgl. Láscaris Comneno 1977: 269). Ebenso erklärt er, dass die Region Limón aufgrund ihrer afrokaribischen Prägung und der geographischen Gegebenheiten über eine vom übrigen Costa Rica verschiedene exotische Kultur verfügt (vgl. Láscaris Comneno 1977: 274, 278). Seine Darstellung der costa-ricanischen Küche spiegelt also, wie auch die anderen besprochenen Charakterisierungen, die Vormachtstellung des Valle Central wider. Im Gegensatz zum Kochbuch Juana Ramírez Carrera de Aragóns und der Beschreibung Chacón Trejos’ bleiben jedoch auch die regionalen Unterschiede nicht unerwähnt, es findet eine regionale Verortung der kulturellen Unterschiede in Form der Dreiteilung Costa Ricas in die Regionen des Valle Central, Guanacaste und Limón statt. Entsprechend der Dominanz der Region des Valle Central in den Identitätsdiskursen des 19. und 20. Jahrhunderts wird auch in den ab Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre veröffentlichten Darstellungen und Kochbüchern zur costaricanischen Küche die regionale Küche dieser Region als costa-ricanische Nationalküche verstanden. Zudem lässt sich das jeweils vorherrschende Bild der costaricanischen Gesellschaft und Nationalidentität an diesen Darstellungen ablesen. Sie geben Hinweis auf das soziale und politische Selbstverständnis als egalitäre, ländliche, demokratische Gesellschaft sowie auf die kulturelle Selbstverortung. Gleichermaßen werden die Konflikte zwischen und die Aushandlung von unterschiedlichen Selbstbildern deutlich, so in der Kritik an der Lebensweise der urbanen Mittelschicht oder in der Diskussion um die Zugehörigkeit zum mesoamerikanischen oder europäischen kulturellen Kontext. Im nächsten Abschnitt wird die aktuelle Konstruktion der costa-ricanischen Nationalküche im akademischen sowie im touristischen Diskurs untersucht. Ein besonderes Interesse gilt, vor dem Hintergrund des unter Punkt 3.1.2 beschriebenen Wandels in den Identitätskonstruktionen, der Frage, welches Bild der costa-ricanischen Nation und Identität in diesen Diskursen zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle der Regionalküchen bzw. der Umgang mit regionalen Unterschieden im Nationalküchendiskurs ein wichtiges Thema bilden.
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3.3 N EUKONSTRUKTION DER COSTA- RICANISCHEN N ATIONALKÜCHE IM AKADEMISCHEN D ISKURS 29 Der geringen Zahl an historischen Beschreibungen und Werken zur costaricanischen Küche des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht ein Anstieg der dieses Thema betreffenden Publikationen ab den 1980er Jahren und besonders ab dem 21. Jahrhundert gegenüber. Ich werde vorrangig auf die Werke zur costa-ricanischen Küche von Marjorie Ross (Ross de Cerdas 1986; Ross González 2001), Patricia Sedó Masís (2008b; 2009)30 und Giselle Chang Vargas et al. (2001)31 Bezug nehmen, sowie auf die von Yanori Álvarez Masís im Anschluss an die vom Ministerio de Cultura, Juventud y Deportes veranstalteten Wettbewerbe herausgegebenen Rezeptsammlungen. Auf diese Weise ist, durch die Berücksichtigung der Darstellungen aus dem ethnologischen, geschichts- und ernährungswissenschaftlichen Bereich, größtmögliche Interdisziplinarität gewährleistet. Darüber hinaus handelt es sich bei diesen Autorinnen um diejenigen, die sich aktuell und, im Fall von Giselle Chang Vargas und Marjorie Ross, bereits seit den 1980er Jahren, am stärksten mit dem Thema der National- und Regionalküchen beschäftigen und die zudem diejenigen Autorinnen sind, die nicht nur am meisten zum Thema publiziert haben, sondern deren Werke auch in Costa Rica am weitesten verbreitet sind.
29 Ich beziehe mich hier auf die Darstellung der costa-ricanischen Nationalküche im akademischen Diskurs. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der akademische Diskurs in hohem Maße mit dem politischen Diskurs und dem darin vorherrschenden Bild der Nationalküche übereinstimmt und die Akteure aus dem akademischen Bereich ihrerseits den politischen Bereich beeinflusst haben und aktuelle akademische Akteure ebenfalls durch das politische Bild beeinflusst sind. 30 Die Ernährungswissenschaftlerin Sedó Masís veröffentlichte und gestaltete im Zusammenhang mit dem von ihr initiierten Projekt zur Bewahrung der costa-ricanischen Küche eine Reihe von Materialien, unter anderem das Glosario de Cocina Popular Costarricense (2008a), dem eine CD-Rom mit Rezepten (2008b) beigefügt ist, auf die ich mich hier vorrangig beziehen werde. Darüber hinaus das Lernspiel La Cuchara Tica (2009), das ebenfalls einen Einblick in ihr Verständnis der costa-ricanischen Küche ermöglicht und deswegen auch berücksichtigt wird. 31 Die Ethnologin Chang Vargas gab gemeinsam mit anderen Autoren das Buch Nuestras Comidas (2001) heraus, das von der Coordinación Educativa y Cultural Centroamericana herausgegeben wurde. Dieses Buch enthält Beiträge von Chang Vargas über die internationalen Einflüsse auf die costa-ricanische Küche (2001a) und die Regionalküchen Costa Ricas (2001b; 2001c) sowie Artikel von Fernando González Vasquéz zu den präkolumbischen Einflüssen (González Vasquéz 2001) und einen Rezeptteil. Hier werde ich mich in erster Linie auf diese Artikel beziehen.
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Sie sind darüber hinaus nicht nur Vorbilder für andere Autoren zum Thema costaricanische Küche, sondern auch diejenigen, deren Werke meinen Interviewpartnern am ehesten zugänglich und bekannt waren. Dass der Kampf gegen den Verlust der eigenen Küche, gegen die Aufgabe und das Vergessen der eigenen kulinarischen Kultur der Anlass für die Veröffentlichungen ist, kann als eine Form des Widerstandes gegen globale Einflüsse gedeutet werden (vgl. Punkt 1.1.2.3), denn als Grund für den als negativ bewerteten Wandel im lokalen Essverhalten wird vornehmlich die Ausbreitung transnationaler FastFood-Unternehmen genannt (vgl. Álvarez Masís 2005: 16; 2007: 161; Ross de Cerdas 1986: 55-6; Ross González 2001: IX-X; 2008: 10; Sedó Masís 2008a: 13; auch Casanueva López 2004: 2-3; Pérez-Yglesias 2008: 9). Gleichermaßen kann das in den letzten Jahren gestiegene Interesse an der eigenen nationalen Küche im Sinne des unter Punkt 1.1.1 beschriebenen ›kulturellen Nationalismus‹ als Konsequenz der Krise der costa-ricanischen Nation und Nationalidentität interpretiert werden, als ein Versuch, über die Schaffung oder Bewahrung einer gemeinsamen Kultur die nationale Gemeinschaft zu erhalten (vgl. Punkt 1.1.1). Hierfür spricht, dass die akademischen Versuche, die National- und Regionalküchen zu erhalten, stark durch politische Initiativen unterstützt werden, wobei dann aber auch politische Vorgaben umgesetzt werden. 3.3.1 Kochbücher und Beschreibungen der costa-ricanischen Küche als Literatur der Nostalgie? In Bezug auf die Hintergründe des Interesses an der Nationalküche ist auch die von Appadurai oder Sutton vertretene Ansicht relevant, Kochbücher bzw. Abhandlungen über National- oder Regionalküchen gehörten zur Art der Literatur der Nostalgie (vgl. Appadurai 2008: 302; Sutton 2001: 142-56). Da in den zur costaricanischen wie auch zu den einzelnen costa-ricanischen Regionalküchen herausgegebenen Büchern das Anliegen geäußert wird, die Gerichte der Nationalküche vor dem Vergessen zu bewahren und die bereits im Verschwinden begriffene kulinarische Kultur wiederzubeleben, ist die Charakterisierung dieser Literatur als Literatur der Nostalgie naheliegend. In den Publikationen aus dem akademischen Bereich finden sich zahlreiche Hinweise, die für ein solches Verständnis sprechen. Zu diesen zählen die oft romantisierende Darstellung der costa-ricanischen Vergangenheit, wie sie u. a. im Werk von Ross, aber auch bei Álvarez Masís vorkommt, die ihre einleitenden Ausführungen zur Küche Heredias mit der Beschreibung des Landlebens im 19. Jahrhundert und den traditionellen Gerichten beginnt, um das Buch mit der Klage, dass ein Verzehr dieser Speisen nur noch in auf ›Comida Típi-
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ca‹32 spezialisierten Restaurants und auf dem Land möglich ist, zu beenden (vgl. Álvarez Masís 2007: 22-4, 161-2).33 Neben den schriftlichen Darstellungen wird diese Nostalgie auch über die verwendeten Bilder ausgedrückt. Ins Werk von Ross sind vermehrt Zeichnungen von ruralen Landschaften oder den Küchen und Küchenutensilien in Bauernhäusern des 19. Jahrhunderts integriert, aber auch Zeichnungen von Metates und Töpferware, die das präkolumbische Erbe abbilden. Den einzelnen Rezepten sind Abbildungen beigefügt, die die Grundzutaten in großen Mengen darstellen, zum Teil in Verbindung mit den bei der Zubereitung verwendeten Küchengeräten (vgl. u. a. Ross de Cerdas 1986: 7, 11, 13, 22, 27, 41, 45; Ross González 2001: VII, 9, 77, 79, 80, 91, 116-21, 130, 158-60, 197, 262-4).34 Durch diese
32 Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff ‚›Comida Típica‹ in Costa Rica zur Bezeichnung der Gerichte der costa-ricanischen Küche verwendet, wobei es sich meist um Gerichte handelt, die Patricia Sedó als ›Comida Tradicional‹ bezeichnet, d. h. in Costa Rica weit verbreitete und von der lokalen Bevölkerung als Teil der eigenen Küche angesehene Gerichte, die aber nicht im eigentlichen Sinn typisch, d. h. der costa-ricanischen Küche eigen sind (vgl. Sedó Masís 2008a: 74). Da es sich allerdings größtenteils durchaus um lokale Versionen dieser in Mittel- und Lateinamerika verbreiteten Gerichte handelt, kann man trotzdem von ›Comida Típica‹ sprechen. 33 In ähnlicher Weise stellt auch Marjorie Ross in ihren Arbeiten das Bild einer idyllischen Vergangenheit dem Wandel des Essverhaltens kritisch gegenüber (vgl. Ross de Cerdas 1986: 52-6; Ross González 2001: 105, 111-12; Ross González 2008: 9-10). Sedó Masís dagegen spricht zwar auch den Wandel als negativ an (vgl. Sedó Masís 2008a: 13), verschweigt in ihren Darstellungen an anderer Stelle aber auch die schwierigen Lebensbedingungen in der Vergangenheit nicht (vgl. Sedó Masís 2006: 10). Für Limón wird die Nostalgie auch im 1984 erstmalig veröffentlichten Limón y su Cocina deutlich, wenn Elena Pardo Castro ihre einleitende Erzählung über die Straßenverkäuferinnen und ihre Produkte in Limón mit der Aussage: »Todos ellos, la salsa del Limón de entonces, pasaron.« (Pardo Castro 2003: 19) beendet. Übersetzung: »All diese, die Würze Limóns von damals, sind Vergangenheit.« Sedó Masís’ Glosario de Cocina Popular Costarricense enthält neben den im Buch verteilten Bildern einen Extra-Abschnitt mit Bildern und Kurzbeschreibungen zu in der costa-ricanischen kulinarischen Tradition wichtigen Gerichten, Küchengeräten und Kochtechniken sowie Institutionen wie dem Almuerzo Campestre oder den Comidas en el Tren. 34 In gleicher Weise drückt sich dies in ihrem Buch La Magia de la Cocina Limonense: Rice and Beans y Calalú (2002) aus. Hier sind den einzelnen Kapiteln Bilder von Ölgemälden des costa-ricanischen Malers Ricardo Rodriguez, genannt Negrín, vorangestellt, die Alltagsszenen aus der Provinz Limón, wie den Kauf und Verkauf von Lebensmitteln, aber auch die Zubereitung des Rondóns zeigen (vgl. Ross de Cerdas 2002: 21, 47, 63, 81, 95, 159).
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Auswahl wird in besonderem Maße das Bild der idyllischen Vergangenheit aufrechterhalten. Die Artikel Giselle Chang Vargas’ dominieren Fotos und Zeichnungen, auf denen die traditionellen Zubereitungsweisen abgebildet sind: Es werden zum Beispiel Frauen bei der Bedienung eines Horno de Barro in der CoopeTortillas R.L. in Santa Cruz gezeigt; eine Gruppe von Frauen bei der Zubereitung von Tamales in Santa María de Dota; eine ältere Afrokaribin bei der Herstellung von Pan Bon in Siquirres (vgl. Chang Vargas 2001c: 124-5, 128, 131, 139) oder ein Jugendlicher bei der Gewinnung von Coyol in Liberia (vgl. Chang Vargas 2001b: 233). Mehr als eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten drücken diese Fotos allerdings das Fortbestehen der schützenswerten Tradition aus. Trotz der nostalgischen Verklärung ist die Bezugnahme auf die Vergangenheit nicht ausschließlich als ein Sehnen nach einer verlorenen Welt zu verstehen. Die starke Orientierung an der Vergangenheit dient auch der Begründung und Legitimation der Nationalküche. Bei Ross ist dieses Anliegen daran zu erkennen, dass sie eine Reihe der in ihre Werke aufgenommenen Rezepte mit Angaben zu Jahreszahlen oder dem Jahrhundert ihrer Entstehung versieht. In ihrem Buch Al Calor del Fogón publiziert sie so u. a. Rezepte für »Mantequilla Casera (Siglo XVIII)«, für »Mazamorra (Siglo XIX, de Doña Julia Zamora, Sto. Domingo de Heredia)« oder »Especias para dulce (1930)« (Ross de Cerdas 1986: 187, 209, 280).35 Durch diese Angaben zur Herkunft wird das Bestreben der Autorin deutlich, möglichst alte Rezepte in ihr Kochbuch aufzunehmen. Dieses Anliegen ist einerseits im Wunsch begründet, diese Speisen vor dem Vergessen zu bewahren; über die Hinweise auf das Alter der Rezepte wird der kulinarischen Tradition ferner eine gewisse historische Tiefe verliehen und es werden Rezepte als Teil der costa-ricanischen kulinarischen Tradition legitimiert, wie zum Beispiel der Ceviche, für den Ross ein Rezept aus dem 19. Jahrhundert angibt, oder auch das Chow Mein, welches sie in ihrem Buch La Magia de la Cocina Limonense mit einem Rezept aus dem Jahr 1906 als Gericht der Küche Limóns deklariert (vgl. Ross de Cerdas 2002: 211; auch Chang Vargas et al. 2001: 284). Wie Ross stellt auch Chang Vargas die historischen Quellen, in ihrem Fall aus den 35 In diesem Buch finden sich insgesamt 13 solcher expliziten Angaben, implizit wird das Alter der Gerichte aber auch durch die Angabe der Herkunft der Rezepte, u. a. aus dem Kochbuch Juana Ramírez Carrera de Aragóns oder aus unveröffentlichten Rezeptsammlungen von Privatpersonen, zehn weitere Male angegeben. Im Artikel »Metáforas de la Cocina: Mi viaje de descubrimiento por la cocina costarricense« gibt sie für alle acht veröffentlichten Rezepte Jahreszahlen an. Hier reicht die Zeitspanne von Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts (vgl. Ross González 2008: 19-29), in ihrem Werk zur Küche Limóns La Magia de la Cocina Limonense gibt sie Jahreszahlen von 1900-1906 an (vgl. Ross de Cerdas 2002: 181, 193, 265-7).
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1920er und 1930er Jahren, auf die sie sich in ihrer Arbeit bezieht, heraus (vgl. Chang Vargas 2001c: 129). Die Arbeiten Sedó Masís’ (2006; 2008a; 2008b; 2009) und Álvarez Masís (2005; 2007) unterscheiden sich insofern von den zuvor besprochenen, dass die Versuche der Erhaltung der costa-ricanischen Küche hier auf der aktiven Teilnahme der lokalen Bevölkerung basieren. Auch in den im Rahmen dieser Unternehmungen publizierten Werken zeigt sich aber das Anliegen, die Gerichte historisch zu begründen. Dies geschieht über die mit den Rezepten verbundenen Anekdoten und Erinnerungen, welche die von Sedó Masís befragten Senioren zu den Gerichten erzählen, ebenso wie über die Erklärung, dass die Frauen diese Rezepte von ihren Schwiegermüttern, Großmüttern und Urgroßmüttern erlernt haben (vgl. Sedó Masís 2006: 33; 2008a: 13). Auf die lange Familientradition wird auch von den Köchinnen der in Álvarez Masís Büchern publizierten Rezepte Wert gelegt, die ihre Rezepte mit Zusätzen wie ›de mi abuela‹ [von meiner Großmutter], oder ›de mi bisabuela‹ [von meiner Urgroßmutter] versehen (vgl. Álvarez Masís 2005; 2007).36 Die an den Wettbewerben teilnehmenden Personen wurden außerdem im Vorfeld dazu angehalten, ihre Gerichte auf ›traditionelle‹ Art, d. h. unter Verwendung von gusseisernen Kochtöpfen, hölzernen Kochlöffeln oder auch Bananenblättern, zu präsentieren (vgl. Álvarez Masís 2005:18).37 In den Werken zur costa-ricanischen Küche wird also ein Bezug zur Vergangenheit hergestellt und sie sind ein Versuch, die Vergangenheit zu bewahren. In den Arbeiten wird diese Vergangenheit aber auch konstruiert und diese Konstruktion zur Begründung der Nationalküche genutzt. Mehr als rein nostalgisch motivierte Versuche zur Erhaltung der traditionellen Küche stellen die Kochbücher und Beschreibungen der costa-ricanischen Küche daher Versuche der Re-Konstruktion und Legitimation der costa-ricanischen Küche dar.
36 Weitere Ergänzungen, über die vor allem die Zugehörigkeit der Rezepte zur costaricanischen Nationalküche ausgedrückt wird, sind die Adjektive ›tradicional‹ und ›típico‹, aber auch Adverbien wie ›antiguamente‹ [früher], die in den Anmerkungen zu den Rezepten bei Álvarez Masís oder in den Erläuterungen zu den Gerichten im Spiel La Cuchara Tica von Sedó Masís vorkommen (vgl. Sedó Masís 2009). 37 Dieser Aufforderung wurde, wie an in den von Álvarez Masís herausgegebenen Büchern veröffentlichten Fotos der Wettbewerbe zu erkennen ist, in unterschiedlichem Maße Folge geleistet. In der Provinz Heredia sind zahlreiche Gerichte in Tontöpfen, Körben, in emaillierten Metallkännchen oder auf Bananenblättern angerichtet oder Elemente wie eine Tapa de Dulce, Kaffeebohnen und Nationalsymbole wie die Flagge und die Nationalblume ›Guardia Morada‹ zur Dekoration genützt worden. In Guanacaste sind auf wenigen Fotos Tontöpfe mit abgebildet, in Limón zum Teil Kalebassen, aber wesentlich weniger häufig als in Heredia.
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Der folgende Abschnitt dient der Diskussion der Darstellung der costa-ricanischen Nationalküche in den Projekten und Erhaltungsversuchen mit einem Fokus auf den Werken von Marjorie Ross (Ross de Cerdas 1986; Ross González 2001), Yanori Álvarez Masís (2005; 2007), Patricia Sedó Masís (2008b und 2009) und Giselle Chang Vargas (2001). 3.3.2 Darstellung der costa-ricanischen Küche als ›Cocina Criolla‹ Allen im Rahmen der Bewahrungsversuche herausgegebenen Rezeptsammlungen, ungeachtet dessen, ob regionalspezifische Unterschiede berücksichtigt werden oder nicht, ist eine einleitende Beschreibung der costa-ricanischen Küche vorangestellt. Die costa-ricanische Küche wird darin als ›Cocina Criolla‹ definiert, als eine Küche, die sich aus dem Zusammenfließen verschiedener Kulturen entwickelt hat, wobei die autochthonen und die europäischen bzw. spanischen kulinarischen Kulturen hervorgehoben werden.38,39 Bis auf Patricia Sedó Masís, die in der Einleitung zum Glosario de Cocina Popular Costarricense auf diese verschiedenen kulturellen Einflüsse lediglich hinweist (vgl. Sedó Masís 2008a: 11; auch Sedó Masís 2008b),40 beschreiben die Autorinnen sie detailliert.41 Dabei werden unter den präkolumbi-
38 ›Criollo‹ wird in diesem Zusammenhang im Sinne von Hannerz’ Verständnis des Kreolisierungsprozesses und der daraus hervorgehenden Kulturen verwendet (vgl. Punkt 1.1.2.1). Dieser Auffassung der ›Cocina Criolla‹ als gleichwertig, positiv und kreativ im akademischen Diskurs steht allerdings ein eher abwertender Gebrauch des Adjektivs in der costa-ricanischen Gesellschaft gegenüber. 39 Die Darstellung der costa-ricanischen Nationalküche im akademischen Kontext folgt also dem Beispiel der Neukonstruktion der Nationalküche als ›Cocina Criolla‹ unter Betonung bzw. Neuaushandlung der autochthonen Einflüsse, wie es für Mexiko, Chile, Peru und weitere lateinamerikanische Staaten beschrieben ist (vgl. Bauer 2001: 187-99; Pilcher 1998). Im Fall Costa Ricas ist diese Neukonstruktion auch als eine Neuverortung im zentralamerikanischen Kontext zu verstehen. Es wird nicht versucht, die eigene Küche als verschieden von anderen mittelamerikanischen Küchen zu beschreiben, sondern es werden Gemeinsamkeiten hervorgehoben. 40 Verweise auf diese Ursprünge finden sich im Glossar gegebenenfalls innerhalb der Erläuterungen der einzelnen Gerichte. Auch beschreibt sie auf der zu diesem Glossar gehörenden CD-ROM die Tamales als ein Ergebnis der Kombination mesoamerikanischer, europäischer und afrikanischer Einflüsse. 41 Im Rahmen der Aufschlüsselung der Einflüsse wird deutlich, dass es weniger um den tatsächlichen regionalen Ursprung einer Zutat geht, sondern die Zutaten den kulinarischen Kulturen der Bevölkerungsgruppen zugeordnet werden, durch die sie zuerst nach Mittelamerika gebracht wurden. Viele aus Asien stammende Zutaten wie Reis, Knoblauch, Zit-
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schen Einflüssen vor allem die mesoamerikanischen Ursprünge hervorgehoben, die sich unter anderem in den Grundnahrungsmitteln Mais und Bohnen und den Gerichten auf Maisbasis wie Tortillas, Tamales, Atol und Pozol ausdrücken. Auch die Verwendung von Metate und Comal wird als von den autochthonen Gesellschaften übernommen verstanden, wobei diese Kochtechniken nicht allein dem mesoamerikanischen Erbe zugeschrieben werden, sondern auch als südamerikanischer Einfluss gelten (vgl. Álvarez Masís 2005: 23-5; González Vásquez 2001: 22-5; Ross de Cerdas 1986: 15-20; Ross González 2001: 33-44). Insgesamt wird den südamerikanischen Wurzeln der costa-ricanischen Küche weit geringere Bedeutung zugesprochen (vgl. Álvarez Masís 2005: 24), allerdings wird die Verwendung von Knollenfrüchten wie Maniok, Tiquisque und Süßkartoffel ebenso wie der Verzehr von Pejibaye und einiger wildlebender Tiere als Erbe der südamerikanischen autochthonen Gesellschaften besprochen (vgl. Álvarez Masís 2005: 24-5, 27, 34; González Vásquez 2001: 26-7; Ross de Cerdas 1986: 20-2; Ross González 2001: 42-4). Die Beschreibung der präkolumbischen Ursprünge der Küche Costa Ricas erfolgt in der Regel unter Bezugnahme auf allgemeine Darstellungen. Ross nutzt u. a. die Historia General de las Cosas de la Nueva España von Fray Bernadino de Sahagún und den Popol Vuh, aber auch Fernandez de Oviedos Historia General y Natural de las Indias mit dessen Bericht über Nicoya als Quellen und zieht Parallelen zwischen dem Essverhalten der costa-ricanischen Bevölkerung und der kulinarischen Kultur der Maya und Azteken (vgl. Ross de Cerdas 1986: 9-18; Ross González 2001: 34-42; auch Álvarez Masís 2005: 24). Von besonderer Bedeutung sind vor diesem Hintergrund die autochthonen Gruppen der Chorotega und Nicarao,42 die vor der Kolonisierung durch die Spanier in der Region Gran Nicoya43 siedelten. Über den Hinweis auf deren regionale Herkunft aus dem südlichen Mexiko und ihre Zugehörigkeit zur Sprachfamilie der Mangue-Sprachen im Fall der Chorotega bzw. ihre Bezeichnung als Sprecher eines Náhuatl-Dialekts im Fall der Nicarao wird die kulturelle Nähe Costa Ricas zu den mesoamerikanischen Kulturen begrünrusfrüchte, Zuckerrohr oder auch Kokosnüsse (vgl. Janer 2007: 398) werden so als europäische oder afrokaribische Einflüsse gewertet. 42 In ihrem Werk Entre el Comal y la Olla weist Ross auch auf die ebenfalls in Nicoya ansässigen Corobicí hin. Während sie diese aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Sprachfamilie der Chibcha als von südamerikanischer Herkunft ansieht (vgl. Ross González 2001:36), nennt González Vasquéz die Corobicí zusammen mit den Chorotega und Nicarao und erklärt: »Su vínculo cultural y lingüistico con las naciones indígenas mexicanas es claro.« (González Vasquéz 2001: 25). Übersetzung: »Ihre kulturelle und linguistische Verbindung zu den indigenen Nationen Mexikos ist klar.« 43 Das mit dem Namen ›Gran Nicoya‹ bezeichnete Gebiet umfasst den Nordosten Costa Ricas und die Pazifikküste Nicaraguas. In Costa Rica erstreckt es sich über die Peninsula de Nicoya, bis an den Río Tempisque und die Cordilleras de Guanacaste bzw. Tilarán.
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det (vgl. Ross González 2001: 35-6; auch González Vasquéz 2001: 24). So hebt Ross unter anderem am Beispiel der Zubereitung von Tamales bei den Chorotega die Gemeinsamkeiten der costa-ricanischen und der aztekischen Kultur hervor: »Los aztecas rellenaban los tamales con chile dulce, tomate y semillas de zapallo molidas, mezcladas a la carne de faisanes, cordonices y pavos. Los chorotegas aliñaban los tamales con semillas de ayote molidas y otros condimentos, lo mismo que con carnes - de xulo o perro mudo, chompipe, venado, tepeizcuintle, etc.- con tomate, miel de abeja o caracoles. Esa salsa, de tomate, pepitas de ayote y chile rojo, se utilizaba también profusamente en la comida azteca. En México, y en la Meseta Central costarricense, esta salsa ha conservado su pureza, y se sigue usando lo mismo que entonces, llamada con el mismo nombre náhuatl: pipián.«44 (Ross de Cerdas 1986: 17-18; vgl. auch Ross González 2001: 41)
Ross weist hier explizit auf das Fortbestehen der auf die Azteken zurückzuführenden Tradition im Valle Central hin. Diese Betonung stellt insofern eine Neuerung dar, als dass der mesoamerikanische Einfluss üblicherweise als der vor allem die Region Gran Nicoya und damit verbunden die Provinz Guanacaste prägende Einfluss angesehen wird. González Vasquéz verwendet für diese Region zum Beispiel die Bezeichnung ›Cultura del Maíz‹ und versteht sie als kulturell klar vom Rest des Landes abgrenzbar, eine Auffassung, die auch die anderen Autorinnen teilen (vgl. González Vasquéz 2001: 22; auch Álvarez Masís 2005: 15; Chang Vargas 2001c: 124-5). Gleichwohl wird in den Arbeiten die Zentralität des mesoamerikanischen Erbes für die costa-ricanische Küche als Ganze betont und diese so in den kulturellen Kontext Mittelamerikas eingeordnet. Der Vorrang, der den mesoamerikanischen gegenüber den südamerikanischen autochthonen Einflüssen gegeben wird, drückt sich in Ross’ Unterstreichen der autochthonen Wurzeln der costa-ricanischen Küche aus: »Profunda y duradera ha sido la influencia en nuestra arte culinario, lo que nos da un primer elemento para comprender nuestra inmediata identificación con la cocina mexicana y, en el pasado, la enorme y sorprendente similtud con las cocinas criollas de Guatemala y Honduras, 44 Übersetzung: »Die Azteken füllten die Tamales mit Paprika, Tomate und gemahlenen Flaschenkürbiskernen, gemischt mit dem Fleisch von Fasanen, Wachteln und Truthähnen. Die Chorotega bereiteten die Tamales mit gemahlenen Kürbiskernen und anderen Gewürzen sowie mit Fleisch - von Xulo oder Perro Mudo, Truthahn, Hirsch, Paca, etc.mit Tomate, Bienenhonig oder Schnecken. Diese Sauce, aus Tomaten, Kürbiskernen und rotem Paprika, wurde auch ausgiebig in aztekischen Gerichten verwendet. In Mexiko und in der Meseta Central Costa Ricas blieb diese Sauce in ihrer Reinheit erhalten und wird weiterhin auf dieselbe Weise verwendet wie damals und mit demselben Nahuatl-Begriff ›Pipián‹ bezeichnet.«
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así como los nexos con las experiencias culinarias de Panamá, Colombia, Ecuador y, en menor medida, de otros países suramericanos.«45 (Ross González 2001: 32)
Zwar sieht sie das autochthone Erbe sowohl als Grund für die Ähnlichkeiten mit der mexikanischen und den zentralamerikanischen Küchen als auch für die Gemeinsamkeiten mit der panamaischen und den südamerikanischen Küchen und verortet die eigene kulinarische Tradition auf diese Weise im lateinamerikanischen Kontext; gleichzeitig steht ihrer Hervorhebung der großen Übereinstimmungen mit der mexikanischen, der guatemaltekischen und der honduranischen Küche allerdings ein bloßes Anerkennen der Verbindungen zu den südamerikanischen Küchen gegenüber. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Auslassung Nicaraguas, die als Hinweis auf die Zentralität der Abgrenzung gegenüber dem Nachbarland verstanden werden kann. Die Ankunft der Spanier und die durch diese eingeführten Produkte werden als zweiter zentraler Faktor bei der Herausbildung der costa-ricanischen Küche begriffen. Zu den wichtigsten von den Europäern eingeführten Nahrungsmitteln zählen der Reis, der Weizen, Gerste, Zuckerrohr, Zitrusfrüchte und einige Gemüsesorten; zu den Nutztieren die Rinder, Schafe, Schweine und Ziegen. Besonders der Konsum von Milch und Milchprodukten wird auf das europäische Erbe zurückgeführt (vgl. Álvarez Masís 2005: 37-40; Chang Vargas 2001a: 64-5; Ross de Cerdas 1986: 29; Ross González 2001: 45-55). Der europäische Einfluss ist jedoch nicht auf diese Nahrungsmittel beschränkt; ebenso wenig endete er mit der Unabhängigkeit. Marjorie Ross arbeitet für einige costa-ricanische Gerichte ihre spanischen Wurzeln heraus und führt u. a. die Picadillos, die Olla de Carne und in besonderem Maße die Backwaren auf spanische Ursprünge zurück (vgl. Ross González 2001: 48-55). Im 20. Jahrhundert wurden der französische und italienische Einfluss immer relevanter. Obwohl Nudeln bereits während der spanischen Kolonialherrschaft eingeführt wurden, wurden sie erst mit dem Anwachsen der italienischen Gemeinde in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts integraler Bestandteil der costa-ricanischen Küche (vgl. Ross de Cerdas 1986: 52-3; Ross González 2001: 68-70; Chang Vargas 2001a: 67). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden mit der Einrichtung von Kochschulen, in denen die französische Küche gelehrt wurde, ferner eine Reihe von
45 Übersetzung: »Tiefgreifend und nachhaltig war der Einfluss [der autochthonen Kulturen, M. N.] auf unsere kulinarische Kultur. Dies gibt uns eine erste Grundlage, um unsere unmittelbare Identifikation mit der mexikanischen Küche zu verstehen und die in der Vergangenheit große und überraschende Ähnlichkeit mit den ›Cocinas Criollas‹ Guatemalas und Honduras’ sowie die Verbindungen mit den kulinarischen Erlebnissen Panamas, Kolumbiens, Ecuadors und, in geringerem Maß, mit anderen südamerikanischen Ländern.«
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französischen Backwaren Eingang in die costa-ricanische Küche (vgl. Ross González 2001: 70-2). Als dritte zentrale Wurzel der costa-ricanischen Küche benennt Ross in ihrem Buch Entre el Comal y la Olla die afrikanischen kulinarischen Traditionen (vgl. Ross González 2001: 32).46 Sie, und weniger explizit Patricia Sedó Masís, sind die einzigen, die den afrikanischen Einflüssen Bedeutung für die Herausbildung der costa-ricanischen Küche beimessen. In anderen Studien wird der afrikanische und in besonderem Maße der afrokaribische Einfluss zwar benannt, allerdings wird er nicht ausführlich dargelegt. Auch wird diese kulinarische Tradition nicht so sehr als Wurzel der costa-ricanischen Küche, sondern vor allem der afrolimonensischen Küche und damit auf die Region Limón beschränkt, verstanden (vgl. Chang Vargas 2001a: 66; 2001c: 133-4). Anders als die anderen Autorinnen setzt Ross den Beginn dieser Einflüsse nicht im späten 18. Jahrhundert, in Verbindung mit der Konstruktion der Eisenbahn in Limón, an, sondern zeitgleich mit der spanischen Eroberung im frühen 16. Jahrhundert (vgl. Ross González 2001: 55-8). Auf die afrikanischen Kulturen führt sie Zubereitungstechniken wie das Frittieren zurück und stellt vor allem über eine Analyse auf sprachlicher Ebene eine Verbindung einzelner Gerichte und Zutaten zu den afrikanischen Traditionen her. Als Beispiele zieht sie u. a. den Arroz con Pollo, die Sopa de Mondongo, das Angú und die Cocadas sowie die Guineos heran (vgl. Ross González 2001: 59-61, 64-8). Besonders viel Raum nimmt in diesem Zusammenhang ihre Diskussion des Gallo Pinto ein (vgl. Ross González 2001: 61-4).47 Anstelle einer einseitigen Betonung der europäischen Wurzeln wird nun also, entsprechend der aktuellen Identitätsdiskurse und der Neukonstruktion der nationalen Identität, ein multikultureller Ursprung der costa-ricanischen Kultur und Küche anerkannt. In gewisser Weise werden in diesem Zusammenhang auch die drei zuvor in unterschiedlichen Regionen verorteten kulturellen Einflüsse miteinander verbunden. Dieses neue Verständnis der costa-ricanischen Küche als ›Cocina Criolla‹ schlägt sich auch in der Auswahl der Gerichte nieder, die exemplarisch für diese Küche angeführt werden.
46 In ihrem in den 1980er Jahren herausgegebenen Buch Al Calor del Fogón geht auch Ross nicht auf die afrikanischen Einflüsse auf die costa-ricanische Nationalküche ein, sondern betont die regionale Verschiedenheit der Küche Limóns (vgl. Ross de Cerdas 1986: 54). 47 In ihrer Diskussion des Gallo Pinto kritisiert Theresa Preston-Werner die unter anderen costa-ricanischen Wissenschaftlern bestehende Ablehnung der afrokaribischen Wurzeln des Gerichts und führt diese auf die Ressentiments gegenüber der afrokaribischen Bevölkerung zurück (vgl. Preston-Werner 2009: 20-4; 2012: 186-90).
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3.3.3 Gerichte der ›Cocina Criolla Costarricense‹ In Zusammenhang mit der Neuauffassung der Nationalküche als ›Cocina Criolla‹ werden in den Beschreibungen einige Gerichte in besonderem Maße hervorgehoben. Als Paradebeispiel der ›Cocina Criolla‹ und der aus der Verbindung verschiedener kultureller Traditionen entstandenen Nationalkultur und -identität wird dabei in erster Linie das Nationalgericht Gallo Pinto angeführt. Ross versteht den Gallo Pinto als Ergebnis des Zusammenfließens der drei zuvor thematisierten kulturellen Strömungen: Die schwarzen Bohnen sind Teil der autochthonen mesoamerikanischen Tradition, der Reis ein von den Spaniern eingeführtes Lebensmittel und die Zubereitungsweise ist afrikanischen Ursprungs (vgl. Ross González 2001: 61-4; auch Álvarez Masís 2005: 46; Sedó Masís 2008a: 118-20; Vega Jiménez 2012). In Anlehnung an Ayora-Díaz und seine Annahme, dass die Herausbildung von nationalen Symbolen entscheidend zum Ent- und Bestehen von Nationalstaaten beiträgt (vgl. Ayora-Díaz 2010: 400; Irvine/Gal 2000: 37-8), kann der Gallo Pinto somit als ein Gericht verstanden werden, das wie kein anderes die costa-ricanische Nation symbolisiert. Im Fall anderer Gerichte, die ebenfalls als Resultat der Kombination der drei Kulturen beschrieben werden, wird dem afrikanischen Beitrag eine geringere Bedeutung zugemessen. In Bezug auf die Sopa de Mondongo erklärt Ross zwar deren afrikanische Herkunft, sieht allerdings nur den Namen als afrikanischen Beitrag zu dieser costa-ricanischen Suppe an, in der die Gemüsesorten als mesoamerikanischer kulinarischer Anteil mit dem Rindfleisch als spanischem Erbe verbunden sind (vgl. Ross González 2001: 67). Auf ähnliche Weise vollzieht sich die Analyse der Tamales, denen ebenfalls eine wichtige Stellung in der Nationalküche zukommt: Sie werden als Gericht mesoamerikanischen Ursprungs, dessen Zubereitung im Verlauf seiner Geschichte modifiziert wurde, einerseits durch die Integration spanischer Elemente, andererseits durch die Verwendung der Blätter der Guineos, die als afrokaribischen Ursprungs betrachtet werden, erläutert (vgl. Sedó Masís 2008b; auch Ferrero 2001: 68-70); im Zentrum steht allerdings der mesoamerikanische Einfluss bzw. die Verbindung mesoamerikanischer und europäischer Traditionen (vgl. Ross González 2001: 42). Gleiches trifft auf weitere exemplarisch angeführte Gerichte wie den Casado, die Picadillos und die Olla de Carne zu. Auch diese Speisen werden als Speisen der ›Cocina Criolla‹ skizziert, der Akzent jedoch auf die Kombination europäischer und autochthoner Einflüsse gesetzt (vgl. Ross González 2001: 48-51, 113; auch: Chang Vargas 2001a: 67; Sedó Masís 2008a: 68, 160, 180-1). Die hier aufgelisteten Gerichte zählen zu den in Costa Rica sehr beliebten und weitverbreiteten Speisen und sind somit als ›Comida Popular‹ oder auch ›Comida Tradicional‹ zu verstehen. Was die verbreitete Bezeichnung dieser Speisen als ›Comida Típica‹ betrifft, so weist Sedó Masís in Hinblick auf diese Gerichte sowie eine Reihe weiterer zur costa-ricanischen Küche gezählter
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Speisen, Nachspeisen und Getränke48 auf das weitgehend universelle Vorkommen dieser Gerichte in Zentral- bzw. Lateinamerika hin. Während sie die über diese Gemeinsamkeiten hergestellte Einbettung der costa-ricanischen Küche in den lateinamerikanischen Kontext nicht in Frage stellt, empfindet sie diese Auswahl als stark vereinfacht, zu Lasten der Besonderheit der costa-ricanischen Küche. Sie plädiert daher für eine stärkere Konzentration auf ›traditionelle‹ lokaltypische Gerichte und auf die der costa-ricanischen Küche eigenen Zubereitungsweisen (vgl. Sedó Masís 2008a: 12; Sedó Masís 2008b). 49 Die costa-ricanische Küche, wie sie im akademischen Diskurs dargestellt wird, erhebt weniger den Anspruch auf Einzigartigkeit im mittelamerikanischen Kontext, sondern eher auf Zugehörigkeit zu diesem, auf Ähnlichkeit mit den anderen mittelamerikanischen sowie der mexikanischen Küche. Sie entspricht damit der neuen Betonung des mesoamerikanischen Erbes in den Nationalidentitätsdiskursen und spiegelt die Neuverortung Costa Ricas im kulturellen Kontext Mittelamerika wider. Neben der von Sedó Masís beklagten fehlenden lokalen Spezifität der zur Nationalküche zugeordneten Gerichte lässt sich allerdings auch eine weiterhin große Dominanz der Region des Valle Central erkennen. Denn in den Rezeptteilen der Publikationen sind vornehmlich die für das Valle Central typischen Varianten aufgenommen: Das Rezept der Olla de Carne wird unter dem Namen ›Olla de Carne‹ angegeben und nicht, wie in Guanacaste oder auch Limón üblich, einfach nur als Sopa, also Suppe bzw. Sopa de Res bezeichnet. Auch lässt sich das Rezept hinsichtlich der verwendeten Zutaten der Küche des Valle Central zuordnen. Ebenfalls anhand der Zutatenliste, mit den der Füllung hinzuzufügenden Rosinen, Kichererbsen und Erbsen, den Kapern und Oliven, sind die Rezepte der Tamales de Cerdo als regionale Version dieser Gerichte aus dem Valle Central zu identifizieren (vgl. Chang Vargas et al. 2001: 273, 288; Ross González 2001: 73-4). Und anders als Ross, die das Rezept des Gallo Pinto als »Gallopinto Sabanero« anführt und damit nicht nur über die verwendeten Zutaten bzw. das Beschränken auf Reis, Bohnen und Zwiebeln, sondern auch den Namen in der Provinz Guanacaste verortet (vgl. Ross González 2001: 75), wird auch für dieses Gericht in der Regel die Variante des Valle Central angegeben, mit den Gewürzen Koriander, Paprika, Sellerie, Zwiebel,
48 Sie nennt in diesem Zusammenhang unter anderem den Arroz con leche, die Chorreadas und die Mazamorra (vgl. Sedó Masís 2008a: 12; Sedó Masís 2008b). 49 Hier hebt sie insbesondere die Picadillos wie auch die einheitliche Verwendung der ›Olores‹, der Gewürze Zwiebel, Sellerie, Paprika, Knoblauch und Koriander hervor (Sedó Masís 2008a: 12; Sedó Masís 2008b). Mit den ›Olores‹ definiert sie damit den für eine Nationalküche zentralen, einheitlichen Geschmack (vgl. Punkt 1.4), der aber, wie unter Punkt 3.3.4.2 und 3.3.4.3 gezeigt wird, nicht der Geschmack der Regionalküchen Guanacastes und Limóns ist.
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Knoblauch und Salsa Lizano (vgl. Chang Vargas et al. 2001: 274-5; Sedó Masís 2008b).50 Auch bezüglich der Verbreitung der beispielhaft für die costa-ricanische Küche genannten Gerichte ist festzuhalten, dass diese Auswahl nicht für alle Regionen gleichermaßen repräsentativ ist. Allerdings bildet die Beschreibung der costa-ricanischen Küche als Ganzem nur einen Teil der Darstellung der costa-ricanischen Küche im akademischen Kontext. Im nächsten Abschnitt wird daher der Umgang mit den Regionalküchen in den Werken zur costa-ricanischen Küche thematisiert. 3.3.4 Umgang mit den Regionalküchen Dass die ›Cocina Criolla Costarricense‹ nicht auf diese kleine Anzahl von Gerichten zu reduzieren ist, verdeutlicht auch Ross’ Zusammenstellung von Rezepten der costa-ricanischen Nationalküche. In ihrem Buch Al Calor del Fogón (1986) ordnet sie über 180 Rezepte nach ihren Hauptzutaten 15 Kategorien zu. Hinweise auf die Regionen fehlen bis auf drei Verweise auf das Valle Central, im Fall des Pan de Rosa de la Meseta, der Cocadas de Santo Domingo und der Cocadas Josefinas (vgl. Ross de Cerdas 1986: 112, 139-40);51 anstelle einer regionalen Zuordnung findet eine zeitliche Einordnung der Gerichte statt, denn, wie unter Punkt 3.3.1 beschrieben, ergänzt Ross die Namen der Rezepte zum Teil durch die Angabe des Jahrhunderts oder Jahrzehnts ihrer Entstehung bzw. durch die von ihr genutzten Quellen. Auf Grundlage dieser Angaben ist neben der zeitlichen auch eine regionale Lokalsierung möglich, da die von ihr für dieses Buch untersuchten Manuskripte ausschließlich aus dem Valle Central stammen.52 Trotz ihres starken Fokus auf Gerichte auf Maisbasis – die Kategorie ›Del amplio reino del maíz‹ [Aus dem großen (König-)Reich des Mais] ist mit 34 Rezepten die größte (vgl. Ross de Cerdas 1986: 193-228) – und damit verbunden auch die 50 In der Auflistung Sedó Masís ist die Herkunft der Gerichte aus dem Valle Central auch an der von ihr vorgenommenen Aufteilung der Rezepte nach Provinzen offensichtlich. Sie bildet das Rezept der Olla de Carne als Beispiel für eine Suppe aus San José ab und führt das Rezept des Gallo Pinto für Heredia an (vgl. Sedó Masís 2008b). 51 Die Hinweise, dass es sich bei den Cocadas um Variationen aus dem Valle Central handelt, sind insofern interessant, als mit dem Begriff ›Cocada‹ auch Backwaren der afrokaribischen Küche bezeichnet werden. 52 Wie im Fall des Kochbuchs von Juana Ramírez Carrera de Aragón, aus welchem Ross auch sieben Rezepte übernimmt, kann man davon ausgehen, dass es sich bei diesen um Rezepte der Küche der sozioökonomisch dominanten Gesellschaftsschicht handelt. Allerdings enthält das Kochbuch auch Rezepte von Gerichten, welche Ross und andere als ›Arme-Leute-Küche‹ ansehen, unter anderem das Angú oder auch das Picadillo de Chicasquil (vgl. Ross de Cerdas 1986: 121, 246; Ross González 2001: 66).
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Integration von Gerichten, welche heute für die Region Guanacaste stehen, wie der Atol de maíz pujagua (morado), oder die Tanelas53 (vgl. Ross de Cerdas 1986: 198, 223-4), bleibt die Region des Valle Central dominant. Gerichte der Provinz Limón fehlen gänzlich. Wie unter Punkt 1.4.1 für die Konstruktion von Nationalküchen allgemein beschrieben, wird hier also eine Regionalküche, die des Valle Central, als für ganz Costa Rica repräsentativ verstanden. In ihrem 2001 erschienen Buch Entre el Comal y la Olla, in welchem sie die Regionalküchen Guanacastes, des Valle Central, Limóns und Puntarenas getrennt behandelt, geht sie auf diesen Vorrang des Valle Central für die Nationalküche ein. Neben der Tatsache, dass viele der Gerichte der heutigen Nationalküche aus dieser Region stammen, sieht sie deren Dominanz auch durch die hohe Bevölkerungskonzentration in dieser Region und die sich dort befindende Landeshauptstadt als legitim an (vgl. Ross González 2001: 79-80). Trotzdem lässt sich in den Publikationen ab der Jahrtausendwende eine stärkere Berücksichtigung regionaler Unterschiede erkennen. In diesem Sinne gibt Chang Vargas in ihren Ausführungen zu Bedenken: »No podemos hablar de una cocina tica, sino al menos de tres variedades: la guanacasteca, la del Valle Central y la afrolimonense, [...]«54 (Chang Vargas 2001c: 123) und äußert damit eine Ansicht, die auch mit der kulturellen Geographie Costa Ricas übereinstimmt.55 Chang Vargas zählt die einzelnen Speisen und Getränke in ihrem beschreibenden Kapitel jeweils den Abschnitten der Regionen zugeordnet auf. Im Rezeptteil trennt sie jedoch nur nach ›Platos Salados‹ [herzhafte Gerichte], ›Platos Dulces‹ [süße Gerichte], und 53 Dass die Tanelas in der Vergangenheit nicht so eindeutig der Region Guanacaste zuzuordnen waren, bemerkt Ross in ihrem Buch Entre el Comal y la Olla, wenn sie dieses Gebäck im Kapitel über das Valle Central anspricht : »Las tanelas, en San José como en Guanacaste, se hacían con masa de maíz, dulce de tapa y queso seco o leche cuajada.« (Ross González 2001: 93). Übersetzung: »Die Tanelas wurden, in San José wie in Guanacaste, aus Maismehl, trockener Zuckerrohrmelasse und trockenem Käse oder Dickmilch hergestellt.« 54 Übersetzung: »Wir können nicht von einer costa-ricanischen Küche, sondern müssen mindestens von drei verschiedenen sprechen: Die guanacastekische, die des Valle Central und die afrolimonensische.« 55 Chang Vargas ist die einzige, die in ihre Darstellung der costa-ricanischen Küche darüber hinaus auch einen Abschnitt über die Küchen der indigenen Bevölkerungen Costa Ricas und die Küche der chinesischen Migranten integriert (vgl. Chang Vargas 2001c: 140-4). Auch gibt sie einige Chicha-Rezepte im Rezeptteil als Rezepte der indigenen Bevölkerung an. In ihrem Kapitel über die Getränke Costa Ricas behandelt sie die chinesischen Getränke nicht. Ross geht ihrerseits auf die chinesische sowie die Küche der Culies ein, beschreibt diese aber als Teil der Regionalküche Limóns (vgl. Ross González 2001: 24455).
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›Bebidas‹ [Getränke] (vgl. Chang Vargas et al. 2001: 274-301). In höherem Maße differenzierend gehen Sedó Masís sowie Álvarez Masís vor, wenn sie alle sieben Provinzen Costa Ricas separat behandeln. Álvarez Masís widmet dabei in den in Folge der Wettbewerbe des Ministerio de Cultura, Juventud y Deportes herausgegebenen Rezeptsammlungen der jeweiligen Provinz ein nach den provinzspezifischen Wettbewerbskategorien aufgebautes Kapitel und weist einleitend auf die regionalen Besonderheiten der behandelten kulinarischen Tradition hin; Sedó Masís (2008b) erstellt Überkategorien, welche die Art der Speisen betreffen und schlüsselt diese Überkategorien noch einmal nach den Provinzen auf. Sie gruppiert die Rezepte nach ›Sopas‹ [Suppen], ›Picadillos‹, ›Tamales‹, ›Tortillas‹, ›Dulces‹ [Süßspeisen], ›Otros Platillos‹ [andere Gerichte], ›Panes y Repostería‹ [Brote und Backwaren] und ›Bebidas‹ [Getränke] (vgl. Sedó Masís 2008b).56 In den Rezeptteilen stehen die Gerichte der einzelnen Regionen in den aktuellen Veröffentlichungen gleichberichtigt nebeneinander. Manchmal erfolgt die Auflistung mit Angabe der Provinz (vgl. Ross González 2001; Sedó Masís 2008b) bzw. nach Provinzen (vgl. Álvarez Masís 2005, 2007); zuweilen werden aber auch alle Rezepte als costa-ricanisch, ohne Hinweis auf die Herkunftsregion, aufgelistet, wie bei Chang Vargas et al. (2001). Während Sedó Masís (2008b) zwar eine Unterscheidung nach Provinzen vornimmt, erläutert sie nur die namensgebenden kulinarischen Kategorien näher, ohne explizit auf die Eigenheiten der einzelnen Provinzen einzugehen. Von Álvarez Masís (2005; 2007), Chang Vargas (2001b; 2001c) und Ross (Ross González 2001) werden die einzelnen Regionen und ihre Besonderheiten dagegen einleitend besprochen. Da ich mich in meiner Feldforschung auf die Regionen des Valle Central bzw. Heredia im Valle Central, auf Guanacaste und Limón beziehe, werde ich hier auf die Schilderungen dieser drei Regionalküchen in den oben genannten Arbeiten von Álvarez Masís57 (2005; 2007), Chang Vargas (2001b; 2001c) und Ross (Ross González 2001) eingehen. 3.3.4.1 Die Küche Heredias und des Valle Central Die Küche der Provinz Heredia beschreibt Álvarez Masís in ihrer Einleitung als auf kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft basierend sowie auf dem in Folge des Kaffeebooms erlangten Wohlstands. Sie zeichnet das Landleben im 19. Jahrhundert 56 Mithilfe dieser Einteilung stellt sie Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Regionen her. Allerdings ist diese Art der Darstellung aufgrund der regionalen Besonderheiten schwierig, weshalb auch die Kategorien sehr weit gefasst sind und in der Rubrik ›Tortillas‹ für Limón zum Beispiel Arepas de Yuca angeführt werden (vgl. Sedó Masís 2008b). 57 Da Álvarez Masís die Region des Valle Central in die einzelnen Provinzen unterteilt, werde ich mich hier auf die Provinz Heredia konzentrieren, in der ich auch meine Feldforschung durchgeführt habe.
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nach, skizziert die Küche als wichtigsten Raum des Hauses und geht neben der Cocina de Leña und dem Fogón als Herdstellen auch auf den Metate zum Mahlen des Mais, den Comal zum Backen der Tortillas und auf die Cafetera als wichtige Utensilien ein (vgl. Álvarez Masís 2007: 22-3). Durch diese Aufzählung betont sie gleichzeitig die Zentralität von Kaffee und Tortillas für die Alltagsernährung. In ihrer Schilderung des alltäglichen Essverhaltens stellt sie, neben den Tortillas con Queso oder Pan con Queso als Frühstück und der Olla de Carne als typischem Abendessen, insbesondere das Almuerzo Campesino heraus. Picadillos und Gallos erwähnt sie als typische Gerichte zu Festen und Agua Dulce und verschiedene Frescos als typische Getränke (vgl. Álvarez Masís 2007: 24-5). Als die Provinz charakterisierende Gerichte hebt sie Backwaren und Nachspeisen hervor: »Entre estos platillos se encuentran las conservas, cajetas, mieles, torta de arroz, torrejas, arroz con leche y gran variedad de pan como: pan casero, pan de elote, pan relleno, pan de yuca, tamal asado, arrollados, budines, variedad de tosteles, roscas y muchos más, dándole sabor y belleza a su gastronomía.«58 (Álvarez Masís 2007: 23)
Im Anschluss korrigiert sie dieses romantische Bild des Landlebens, indem sie den mit dem Kaffeeanbau verbundenen Anstieg des Wohlstandes und in diesem Zusammenhang die soziale Differenzierung des Konsumverhaltens ab Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert. Für die zu Wohlstand gelangten Bevölkerungsteile war es möglich, Importwaren ins Essverhalten sowie die Küche zu integrieren. Die zunehmende Urbanisierung und Industrialisierung führten ab Mitte des 20. Jahrhunderts darüber hinaus zur Entstehung und/oder Verbreitung von Gerichten wie Gallo Pinto und Casado unter der Arbeiterklasse, die diese Speisen als Kunden der Sodas konsumierten. Zugleich begünstigten nach Ansicht Álvarez Masís die Eingliederung der Frauen in den Arbeitsmarkt und die Veränderungen im Tagesablauf eine Verdrängung der traditionellen Gerichte und die Ausbreitung von Fast Food (vgl. Álvarez Masís 2007: 25, 27). Dieses Bild der Küche Heredias entspricht den Darstellungen der Küche des Valle Central bei Ross und Chang Vargas und ist mit den von Sedó Masís den Provinzen des Valle Central zugeteilten Rezepten vereinbar (vgl. Tabelle 3.1). In allen Arbeiten wird die Bedeutung der Solares, also der den Häusern angeschlossenen Gärten, betont, über die die Subsistenz, aber auch die regionale Besonderheit der Küche gewährleistet ist bzw. die Gefahr des Verlusts der regionalen 58 Übersetzung: »Unter diesen Gerichten sind Conservas, Cajetas, Mieles, die Torta de Arroz, Torrejas, Arroz con Leche und eine Vielzahl an Broten, wie: Pan Casero, Pan de Elote‚ Pan Relleno, Pan de Yuca, Tamal Asado, Arrollados, Budines, verschiedene Tosteles und Roscas zu finden, die ihrer Küche [der Küche der Provinz Heredia, M. N.] Geschmack und Schönheit geben.«
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Spezifität aufgrund des Verschwindens der Solares angesprochen wird (vgl. Chang Vargas 2001c: 128; auch: Sedó Masís 2008a: 13). Zudem wird die Region als das am stärksten durch internationale Einflüsse wie Fast-Food-Unternehmen beeinträchtigte Gebiet angesehen, die Küche dieser Region damit als in besonderer Weise gefährdet (vgl. Chang Vargas 2001c: 131). Unter den für die Region typischen Gerichten finden Backwaren und Süßspeisen Erwähnung, wobei auf das zur Zubereitung vieler Gebäckvariationen verwendete Weizenmehl sowie die Relevanz von Obstsorten für die Herstellung dieser Backwaren wie auch von Marmeladen, Kompott und Süßigkeiten hingewiesen wird (vgl. Chang Vargas 2001c: 131; Ross González 2001: 85-91). Darüber hinaus wird die Bedeutung von Gemüsegerichten hervorgehoben und Picadillos werden als die Region charakterisierende Gerichte bestimmt. Chang Vargas listet 12 Picadillo-Gerichte auf und merkt an: »Casi se puede decir que se puede hacer picadillo de cualquier hortaliza o verdura, pero los más comunes son el de papa, el de arracache, el de papaya verde, el de vainica con zanahoria, y el de chayote con maíz«59 (Chang Vargas 2001c: 129, vgl. auch Ross González 2001: 107-8). Den Gallos und dem Casado werden eigene Abschnitte gewidmet (vgl. Ross González 2001: 112-15; auch Chang Vargas 2001c: 130). Des Weiteren werden Tamales de Cerdo als typische regionale Weihnachtsgerichte angeführt (vgl. Chang Vargas 2001c: 132; Ross González 2001: 96) und Speisen wie Lomo Relleno oder Olla de Carne als typische Festtagsgerichte (vgl. Chang Vargas 2001c: 131; auch Ross González 2001: 82). Anhand dieser Speisenauswahl und ihrer Diskussion zeichnet sich die von Ross angesprochene Relevanz dieser Regionalküche für die costa-ricanische Nationalküche bzw. die weitgehende Kongruenz beider Küchen ab. Über den Bereich der Gerichte hinaus erläutern die Autorinnen diese Küche zudem explizit als ›Cocina Criolla‹: »Costa Rica es puente biológico y natural entre el norte y el sur, por lo que también en las comidas se manifiesta esta diversidad y presencia de tradiciones mesoamericanas, suramericanas y caribeñas. Y, es precisamente en el Valle Central donde esta múltiple herencia es más evidente.«60 (Chang Vargas 2001c: 127)
59 Übersetzung: »Man könnte beinahe sagen, dass man aus jedem Gemüse Picadillo machen kann, aber am weitesten verbreitet sind die aus Kartoffeln, Arracache, grüner Papaya, grünen Bohnen und Karotte, und Chayote und Mais.« 60 Übersetzung: »Costa Rica bildet die biologische und natürliche Verbindung zwischen Nord und Süd. Aus diesem Grund drücken sich diese Diversität und die mesoamerikanischen, südamerikanischen und karibischen Traditionen auch in den Speisen aus. Und gerade im Valle Central ist dieses vielfältige Erbe am deutlichsten.«
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Die Küche des Valle Central wird also nicht nur wie die anderen Regionalküchen Costa Ricas und die Nationalküche als ›Cocina Criolla‹ bezeichnet, sie wird in gewisser Weise als ›kreolischer‹ als die anderen Regionalküchen beurteilt. Diese Auffassung steht im Kontrast zur im Rahmen der Identitätsdiskurse des 19. Jahrhunderts vertretenen Ansicht der Bevölkerung und der Kultur des Valle Centrals als ›weiß‹ und als direkte Nachfahren der Spanier (vgl. Punkt 3.1.1). Andererseits ist sie vereinbar mit der Vorstellung der Nationalküche als ›Cocina Criolla‹ und steht nicht im Widerspruch zu dem dieser Regionalküche zugeschriebenen bedeutenden Beitrag zur Nationalküche. Tabelle 3.1: Darstellung der Küche des Valle Central im akademischen Kontext: Gerichte und Getränke
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Quelle: Mona Nikoli9; auf der Basis der Darstellungen bei Álvarez Masís 2007; Chang Vargas 2001b,c; Ross González 2001 und Sedó Masís 2008b; Mehrfachnennungen
3.3.4.2 Die Küche Guanacastes Die kulinarische Kultur Guanacastes wird in den Ausführungen, wie bereits unter Punkt 3.3.2 dargelegt, als ›Cultura del Maíz‹ und die am stärksten durch autochthone mesoamerikanische Einflüsse geprägte kulinarische Tradition des Landes dargestellt (vgl. Álvarez Masís 2005: 51; Chang Vargas 2001c: 124; Ross González 2001: 121). Trotz des Konsenses über die größeren Gemeinsamkeiten dieser Küche mit den Küchen anderer zentralamerikanischer Nationen wendet sich Ross explizit gegen die Annahme, die guanacastekische Küche sei als Verlängerung der nicaraguanischen zu verstehen (vgl. Ross González 2001: 124) und widerspricht damit auch der in Costa Rica verbreiteten Ansicht, die guanacastekische Kultur entsprä-
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che der nicaraguanischen Kultur. Vor dem Hintergrund der Wahrnehmung dieser Provinz als ›Wiege der Chorotega-Kultur‹ wird den mesoamerikanischen Einflüssen ein besonderer Stellenwert in der guanacastekischen Küche zuerkannt. Dies zeigt sich an der Häufung von Gerichten auf Maisbasis ebenso wie anhand spezieller Hinweise auf die Zubereitungsweisen und/oder verwendeten Kochutensilien. Álvarez Masís deutet den Bezug zur mesoamerikanischen Tradition im Rahmen ihrer Auflistung regionaltypischer Speisen für den Tamal an: »[...] los tamales, que por sus características son los de mayor tradición mesoamericana de nuestro territorio«61 (Álvarez Masís 2005: 52), Ross in ihrer Erörterung der Tortilla Guanacasteca, die sich in erster Linie in ihrer Größe und Dicke von den Tortillas im Valle Central unterscheidet und die sie auf die ›veiltexcalli‹ der Azteken zurückführt (vgl. Ross González 2001: 126-7 auch Sedó Masís 2008b). Tamales und Tortillas werden als für die costa-ricanische Nationalküche charakteristische Gerichte angesehen. Hier werden sie jedoch als Beispiele für die Besonderheit der guanacastekischen Küche in Abgrenzung zur Küche des Valle Central herangezogen. Innerhalb der Gemeinsamkeiten werden also die Unterschiede betont. In ähnlicher Weise erfolgt die Aufzählung der guanacastekischen Gerichte in der Regel unter Auslassung derjenigen Gerichte, die in ganz Costa Rica verbreitet sind62 und wird, wie bereits erwähnt, durch Speisen auf Maisbasis, dominiert. Zu den auf Grundlage des Mais hergestellten regionaltypischen Backwaren, Nachspeisen und Getränken zählt Álvarez Masís: »rosquillas de maíz, empanadas, tanela, marquesotes [...], sopa borracha [...], buñuelos [...], tamal asado, [...], atol de maíz pujagua, tamal de elote, [...], tamal relleno de dulce [...], tortillas, tamal pisque, el yol tamal [...] chicheme elaborado con maíz pujagua, [...] el pinol, el pinolillo [...]« (Álvarez Masís 2005: 52), eine Auswahl, die durch die in den Rezeptteil aufgenommenen Gerichte um Chicha de Maíz Nacido, und Perrerreque erweitert 61 Übersetzung: »Die Tamales, die wegen ihrer Eigenschaften die am stärksten auf die mesoamerikanische Tradition zurückführbaren in unserem Staatsgebiet sind.« 62 Dies trifft nicht nur auf die Ausführungen über Regionalküchen innerhalb der Arbeiten über die Nationalküche zu, sondern auch auf die Werke, in denen ausschließlich die guanacastekische Küche behandelt wird. So erklären zum Beispiel Guillermo García Murillo und Luis Efren García Briceño in der Einleitung zu ihrem Buch Comidas y Bebidas Típicas de Guanacaste: »Haremos omisión de las comidas que son demasiado comunes o cotidianas [...] y de las que se confeccionan también en otras provincias de Costa Rica como es el caso del famoso »gallo pinto« [...], plato que quizá debiera ser llamado mediante decreto comida nacional [Hervorhebung im Original]« (García Murillo/García Briceño 1981: 18). Übersetzung: »Wir lassen die Speisen aus, die zu verbreitet und zu alltäglich sind und diejenigen, die auch in den anderen Provinzen Costa Ricas zubereitet werden, wie es beim berühmten Gallo Pinto der Fall ist, einem Gericht, das vielleicht per Gesetzentschluss zum Nationalgericht erklärt werden sollte.«
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werden kann (vgl. Álvarez Masís 2005: 75, 91; vgl. auch Tabelle 3.2). Auf diese Weise wird, ebenso wie über die einigen Rezepten beigefügten Anmerkungen, das autochthone Erbe der Küche besonders hervorgehoben.63 Sowohl über den Perrerreque als auch über Gerichte wie Carne en Vaho oder Vino de Coyol, welche im Rahmen der Beschreibungen der anderen Autorinnen nicht nur als für die Provinz Guanacaste zentrale Speisen und Getränke, sondern auch als Beispiele für das indigene Erbe thematisiert werden (vgl. Chang Vargas 2001c: 126; Chang Vargas 2001b: 232-4), stellt Ross auch eine Verbindung zum afrikanischen Erbe der kulinarischen Tradition Guanacastes her (vgl. Ross González 2001: 137-8, 142). Die Kultur der Provinz ist ihrer Ansicht nach als Vorbild für die costa-ricanische Kultur und beispielhaft für eine ›Cocina Criolla‹ zu verstehen, da sich auch die guanacastekische Küche aus der Verbindung der spanischen, mesoamerikanischen und afrikanischen kulinarischen Kultur entwickelt hat (vgl. Ross González 2001: 121-4). Obwohl die guanacastekische Küche auch in der Vergangenheit als ›Cocina Criolla‹ bezeichnet wurde, steht Ross’ Auffassung der mit diesem Begriff einhergehenden historischen Abwertung der guanacastekischen Küche als stark durch indigene Einflüsse geprägt entgegen. Neben der Betrachtung als ›Cocina Criolla‹ und mesoamerikanische kulinarische Kultur wird die guanacastekische Küche ferner als Beispiel einer ländlichen Küche thematisiert. Anders als in den Abrissen zur Küche des Valle Centrals wird diese dabei als (noch) intakt begriffen. Ross beschreibt die Cuajada als wichtigen Ausdruck der ruralen, auf Rinderzucht basierenden Kultur Guanacastes (vgl. Ross González 2001: 130-3). Ebenso wird der Gallo Pinto als typisches Frühstück und als Zeichen dieses ländlichen Lebensstils interpretiert (vgl. Álvarez Masís 2005: 51; Chang Vargas 2001c: 126; Ross González 2001: 141). Wie im Zusammenhang mit den Tamales oder den Tortillas wird auch im Fall des Gallo Pinto die Abweichung von der im Valle Central gegessenen Variante betont, die u. a. in der für die Region Guanacaste als charakteristisch angesehenen Verwendung von Schweineschmalz und dem Fehlen von im Valle Central üblichen Zutaten wie Paprika, Koriander und Salsa Lizano liegt (vgl. Ross González 2001: 141). Trotz der ihr einerseits zuerkannten Bedeutung für die Nationalküche wird die guanacastekische Küche in den Diskursen als verschieden von der Nationalküche dargestellt, indem für die Region einzigartige Gerichte in die Diskussion aufgenommen werden, Übereinstimmungen zwischen den Küchen unerwähnt bleiben oder bei ähnlichen Gerichten die Unterschiede herausgestellt werden. Auf diese Weise werden guanacastekische Gerichte zu einer Abweichung von der costa63 Diese Hinweise sind in erster Linie wenig verbreiteten Rezepten hinzugefügt. Es wird zum Beispiel das Carne Naly mit den Worten: »Esta receta es una tradición de nuestros padres indios« erklärt (vgl. Álvarez Masís 2005: 60). Übersetzung: »Dieses Rezept ist eine Tradition unserer indigenen Väter.« Bei Maisgerichten fehlen derartige Hinweise.
K ONSTRUKTION VON N ATIONALKÜCHE UND - IDENTITÄT
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ricanischen Norm, während die Region andererseits als ›Wiege der mesoamerikanischen Einflüsse‹ gilt, über die die Einordung der costa-ricanischen Küche in den mittelamerikanischen kulturellen Kontext möglich wird. Tabelle 3.2: Darstellung der guanacastekischen Küche im akademischen Kontext:Gerichte und Getränke ,
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