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German Pages 292 Year 2015
Josef Fürnkäs, Masato Izumi, K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hrsg.) Medienanthropologie und Medienavantgarde
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.
Josef Fürnkäs, Masato Izumi, K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hrsg.)
Medienanthropologie und Medienavantgarde Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen
Medienumbrüche | Band 13
Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
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INHALT Einleitung Medienanthropologie und Medienavantgarde – Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen .................................................................................. 7
THEORIEGESCHICHTEN Sakiko Kitagawa
Asiatische Werte und Ethik des Zwischen................................................... 15 K. Ludwig Pfeiffer
Anarchie der Wissenschaftsgeschichte oder Logik der Theoriendynamik? Von der Materialität der Kommunikation zur Medienanthropologie .......... 27 Kanichiro Omiya
Das Psychische als Medium der Institution. Kosawa Heisakus Umbildung des Ödipuskomplexes ............................................................... 47
KÖRPER, RAUM, KULTUR Mario Kumekawa
Der Zusammenstoß der Körperkulturen in der japanischen Modernisierung ............................................................................................ 63 Masato Izumi
Bauhaus als Medium der Modernisierung. Eine Skizze der repräsentativen Rezeption und Verarbeitung der Bauhaus-Idee in Japan Anfang des 20. Jahrhunderts.......................................................... 73 Andreas Käuser
Das Gesicht zwischen Medium und Diskurs im frühen 20. Jahrhundert..... 97
AMBIVALENZEN: AVANTGARDE UND RETROGARDE Ralf Schnell
Die Avantgarde als Retrogarde. Aporien der Medienavantgarden ............ 121 Nicola Glaubitz
Absolute und anthropomorphe Form. Avantgarde und Animationsfilm um 1900...................................................................................................... 143 Kentaro Kawashima
Metamorphose, Wiederholung, Lächeln. Bezüge auf die Fotografie in den autobiographischen Schriften von Marcel Proust und Soseki Natsume.......................................................................................... 169 Hyunseon Lee
Opernatmosphäre und Stummfilmästhetik. Latente Avantgarde und innovative Performanz in den Opern Giacomo Puccinis ........................... 193
MEDIENGESCHICHTEN Yuko Yamaguchi
Was leisten Sammelveröffentlichungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts? Eine vergleichende Fallstudie (1918-1933) .................. 225 Josef Fürnkäs
Moderne Aphoristik. Mediale Möglichkeiten und literarische Form ........ 249
Autorinnen und Autoren ............................................................................ 289
EINLEITUNG MEDIENANTHROPOLOGIE UND MEDIENAVANTGARDE – ORTSBESTIMMUNGEN UND GRENZÜBERSCHREITUNGEN 1. Der vorliegende Band bündelt die Erträge einer seit mehreren Jahren zwischen der Universität Siegen und der Keio-Universität Tokyo bestehenden Forschungskooperation, die sich mit dem Rahmenthema „Medienanthropologie und Medienavantgarde“ befasst. Diese Kooperation geht zurück auf das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2002 geförderte Kulturwissenschaftliche Forschungskolleg „Medienumbrüche“, das ‚Medienkulturen und Medienästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert‘ (Untertitel) erforscht. Die hiermit verbundenen weitläufigen Fragestellungen haben die am Projekt beteiligten Forscherinnen und Forscher im Hinblick auf Entwicklung und Struktur deutscher und japanischer Konfigurationen von Medienumbrüchen pointiert und unter kulturkomparatistischer Perspektive vertieft. Dies erklärt die ausgeprägte, wenn auch nicht exklusive Ausrichtung des vorliegenden Bandes auf Kultur- und Medienvergleiche Deutschland/Japan. Die Kohärenz des Bandes wird durch eine dreifache Spannung ebenso gestiftet wie bedroht. Im herkömmlichen Verstande scheint erstens die Kopplung der Begriffe ‚Medienanthropologie‘ und ‚Medienavantgarde‘ Unvereinbares zu kombinieren. Demgegenüber möchten die Aufsätze demonstrieren, dass die Steigerung der Radikalität und Relativität vor allem von Medialisierungsprozessen zumindest latent in die Frage wenn nicht nach Konstanten und Beständen, so doch nach langfristigen Entsprechungen, Analogien und womöglich Kontinuitäten einmündet. Ähnliche Unterschiede und Analogien versucht der Band in der interkulturellen Konfrontation Deutschland/Japan aufzuspüren, durch welche die Medialisierungsprozesse konkreter gefasst werden sollen. Drittens kam und kommt ein solches Unternehmen nicht ohne kontinu-
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MEDIENANTHROPOLOGIE UND MEDIENAVANTGARDE
ierliche selbstreferenzielle Beobachtung aus, in deren Licht die Interaktion der Gruppe, vor allem der problematische Zusammenhang zwischen Diskurs und Performanz, selbst zu einer partiellen, aber instruktiven Illustration des Themas wird. Einleitende Überlegungen müssen zunächst den Begriff Medienanthropologie von der ihn belastenden Paradoxiedrohung befreien. Dies geschieht durch die Grundannahme, dass es keine menschlichen Konstanten oder Wesensbestimmungen geben kann, menschliche Selbstinterpretation und Selbstinszenierung sich aber gleichwohl nicht in bloßer empirischer Vielfalt erschöpfen. Wissenschaftsgeschichtlich erscheint daher die mediale Konturierung anthropologischer Denkformen, auch in Gestalt der Geschichte und Theorie von Medialisierungsprozessen, als eine jener seit langem notwendigen ‚Zusatzqualifikationen‘, die in zahlreiche geistes- und naturwissenschaftliche Disziplinen hineinwirkt. Die vorliegenden Untersuchungen möchten daher gerade in der von Medienavantgarden oft unbarmherzig vorgeführten Zuspitzung zeigen, dass auch die elaboriertesten experimentellen Technologien nicht gänzlich außer Kraft setzen, was man im Gefolge Simmels oder Plessners eine Art ‚Anthropologie der Lücke‘ nennen könnte. Simmel vor allem glaubte, die Lücke, die Zonen der Indifferenz zwischen Mensch und (technischen) Medien in teilweise sehr problematischen Weisen mit der ‚konservativen‘ Privilegierung traditioneller Kunstformen ästhetischanthropologisch, gleichsam medienfrei stabilisieren zu können. Diese Option steht dem vorliegenden Unternehmen nicht mehr zur Verfügung. Wohl aber legen die Untersuchungen der Forschergruppe die Annahme unbestimmter und gerade deswegen inszenierungsbedürftiger Dimensionen des Menschlichen nahe. Es handelt sich um Inszenierungen, die für ihre kulturell attraktive, das heißt auch und meist ästhetisch verfasste Prägnanzgewinnung der Medien bzw. dominant medial verfasster Modernisierungen bedürfen, aber nicht als bloße Medieneffekte gelten können. Ein – vielleicht das zentrale – Ergebnis gerade der den Avantgarden gewidmeten Untersuchungen des Bandes besteht gerade in der Einsicht, dass die technisch-medial-ästhetisch avanciertesten Inszenierungen in der Zerstörung von Traditionen auch moderne Versionen älterer humaner (gelegentlich auch: ‚inhumaner‘) Verhaltens- und Affektdispositionen freilegen. Die Avantgarde tritt – auch – als Anthropomorphes pflegende Retrogarde auf (vgl. vor allem die Beiträge von Nicola Glaubitz und Ralf Schnell). Und das aphoristische Schreiben – von Lichtenberg über Nietzsche bis Karl Kraus – kommt nicht ohne Formsemantik, nämlich die Fiktion/Tradition spruchhaften Redens, zu Papier (vgl. Josef Fürnkäs).
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Der gemeinsame theoretische Ausgangspunkt besteht daher in der Annahme, dass der Begriff ‚Medienanthropologie‘ als stark, eben medial motivierte Modellierung gegenwärtiger epistemologischer Trends zu verstehen ist. Anthropological turns in Wissenschaftsgeschichte, Kunstgeschichte, in der Kultur- und in der Medientheorie verschaffen einem nicht nur konjunkturellen, sondern wissenschaftslogisch gebotenen Interesse Geltung, welches sich den kulturellen und anthropologischen Bedingungen, Grenzen und Inszenierungsmodalitäten menschlicher Selbstinterpretation zuwendet. Medienanthropologie setzt nicht auf bestimmte menschliche Eigenschaften, sondern auf die selbst in ihrer Zertrümmerung wahrnehmbaren Analogien medial geprägter (Selbst-)Inszenierungsdispositive. Deren Modalitäten werden nicht durch bestimmte Werte, sondern durch die Spannweite intellektuell-affektiver Intensität und Distanz geprägt. Medienanthropologie ist anschließbar an Formen der (philosophischen, biologisch interessierten) Anthropologie (Modell A. Gehlen), der Kulturanthropologie (Modelle C. Geertz, M. Harris usw.), der heutigen Neurobiologie (vor allem Modell A. Damasio) und der Psychoanalyse. Im Blick auf die mediale Grundierung der Psychoanalyse wird man zunächst das Modell J. Lacan im Blick haben. Der Beitrag von Kan Omiya zeigt aber auch, dass und wie Freudsche Modelle und ihre interkulturelle Variation medientheoretisch präzisiert werden können, ohne ihre Relevanz als anthropologische Varianten des Psychischen gänzlich preiszugeben. Medienanthropologie fällt darüber hinaus schon deswegen nicht mit den Vorgaben der genannten Theoriehorizonte zusammen, weil diese kaum etwas über die medial-künstlerischen Erscheinungs- und Inszenierungsformen der von ihnen konstatierten menschlichen Dispositionen aussagen. Vielmehr werden medial profilierte Avantgarden zum ausgezeichneten Untersuchungsgegenstand einer Medienanthropologie, weil sie die Intensität anthropomorpher Restformen mit der drastischen Distanzierung anthropozentrischer Konvention verbinden und diese Verbindung in sowohl provozierenden wie prägnanten Formen darbieten. Für die vorgelegten Untersuchungen rückt daher eine gesteigerte Dichte, eine radikalisierte, bis zur Bruchspannung gesteigerte Spannweite der Bezüge zwischen Medien, Körper und Sinnen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In den neuen Formungen des Wahrnehmens stecken ältere Affekte und Intensitäten, zumindest deren Kerne und Reste; in den avantgardistisch freigesetzten, scheinbar beliebig disponiblen Wahrnehmungsformen schatten sich gemischte Modalitäten – die Metamorphosen der Wiederholung (Kentaro Kawashima) – ab.
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2. Die Herausgeber hoffen, dass die Kapitelgliederung des vorliegenden Bandes die Intentionen der Essays zumindest andeutet. Gleichwohl mögen einige zusätzliche Erläuterungen geboten sein. Die Theoriegeschichten steuern die mögliche Logik einer Medienanthropologie aus unterschiedlichen Richtungen an. Sakiko Kitagawas (Universität Tokyo) Darlegung der Ethik Watsujis eröffnet, vor allem im Vergleich mit Heidegger, eine implizite anthropologische Dimension, insofern sowohl ein im Westen oft als autonom gedachtes Subjekt wie auch das gesamtgesellschaftliche System ihren substanziellen Charakter verlieren. Das Selbst wird nicht beliebig ins Soziale hinein aufgelöst, sondern gewinnt darin, in ständigen Nachbildungen der Mutter-Kind-Beziehung, eine Art ‚Geborgenheit‘. Diese wird vor allem durch normativ gefasste Kunstgegenstände medial bebildert. K. Ludwig Pfeiffer zeigt, wie das in sich hochvariable Modell materialitätsorientierter Medientheorie mit gewisser Zwangsläufigkeit in anthropologische Horizonte einmündet (auch wenn sich nach wie vor nicht wenige Autoren um den Begriff Anthropologie herumdrücken). Kan Omiya seinerseits beharrt auf der kulturellen und medialen Verfasstheit psychoanalytischer Theorien, ohne wiederum deren anthropologischen Status preiszugeben. Die Beiträge zum Thema Körper, Raum, Kultur (Mario Kumekawa, Masato Izumi, Andreas Käuser) bringen den menschlichen Körper und seine ‚Kultur‘ als extrem form- und inszenierungsbedürftiges, als gleichzeitig leeres wie anthropomorphes Orientierungszentrum gerade in modernen Medialisierungsprozessen – bei denen der Komplex ‚(Innen-) Architektur‘ und die Frage des ‚idealen Designs‘ an wichtiger Stelle stehen – ins Spiel. Diese Spannung besteht besonders intensiv beim Medialisierungsschicksal des Gesichts, welches Andreas Käuser nachzeichnet. Die Kollaboration zwischen Visualitätsformen und anthropologischen Wissenschaften muss angesichts medialer Modellierung und Maskierung, aber auch angesichts diskursiver Durchdringung nahezu aufgegeben werden. Und doch deutet gerade die Inflation der Medialisierung auf ein mehr als nur nostalgisches und in gegenwärtigen Ansätzen evolutionärer Ästhetik auch sehr deutlich gemachtes Bedürfnis facialer Aussagekraft hin. Das Gesicht und seine medialen Schicksale stellen eine direkte Beziehung zum folgenden Kapitel dar, welches den Ambivalenzen zwischen Avantgarde und Retrogarde (Begriff nach Ralf Schnell) gewidmet ist. Die Essays behalten den Körper, speziell auch das Gesicht als Fluchtpunkt von Inszenierungen gerade da noch im Blickpunkt, wo er in avant-
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gardistisch hochgetriebener (Selbst-)Beobachtung von Medialität (Nicola Glaubitz), im futuristisch-technologischen overkill Marinettis oder gegenläufig dazu im Bekenntnis zu Form und Kontur bei W. Lewis (Ralf Schnell), im trügerischen Realismus des fotografierten Gesichts (Kentaro Kawashima) zu verschwinden scheint. Je entschiedener der Angriff auf ästhetische Konventionen (oder auch jene von Lebensformen) vorgetragen wird, umso entschiedener melden sich aisthetische Tiefenschichten (Ralf Schnell), paradigmatisch anthropologische Begriffe wie Stimmung und Universalität, Artikulationsformen anthropomorpher Faszinationskraft, spiritueller oder gar mystischer Vorstellungen (Nicola Glaubitz, Hyunseon Lee) zu Wort. In der Oper entspringen solche Wirkungen dem Durchschreiten eines Raumes, den Puccini – ihn interessiere, wie er sagte, nichts so sehr wie der große Schmerz kleiner Seelen – von der scheinbaren Einfachheit der Affektgesten, Schreie und Ausrufe, der erotischen Energien und kaum beherrschbaren Triebe bis hin zum höchsten musikalischen Raffinement dessen aufspannt, was verschiedene Interpreten als Bedeutungsimplikationen und Indirektheiten oder gar ästhetischen Voyeurismus beschrieben haben (Hyunseon Lee). Die Fotografie behält sich gerade in ihren Trugbildern den Verweis auf das – niemals identische – Dasein vor; die Kunst, in welchem Medium auch immer, hat dann die Aufgabe, aus der chamäleonartigen Variation Herzensfotos auch dann herauszupräparieren, wenn deren sicht- oder lesbare Schrift erkaltet ist (Kentaro Kawashima). Wenn Avantgarden im Zertrümmern der Konventionen gewollt oder ungewollt auf die Unversehrbarkeit der Tiefenschichten stoßen, so ist diese nicht vor jener Verwandlung in Sentimentalität gefeit, von der sich die avantgardistischen Strategien gerade absetzen möchten. Am Ende des Bandes stehen daher eher nüchterne, pathosferne, dabei ‚die Literatur‘ betreffende, mediengeschichtliche Fallstudien. Der Beitrag von Josef Fürnkäs thematisiert eine Schreibsituation, der Beitrag von Yuko Yamaguchi kulturvergleichend den auch ökonomisch deutbaren Funktionswandel eines Medienformats. Aber die pathosferne, gesteigerte Erkenntnisleistung des Aphorismus wie die Ökonomie der Anthologie besitzen auch einen anthropologischen Richtungssinn, weil sie gleichzeitig auf die Notwendigkeit des Schreibens wie das Ungenügen ‚bloßen‘ Schreibens (vgl. etwa die Ausführungen Yuko Yamaguchis zu Fotobüchern und neuer Visualität) im Kontext basaler medialer Wirkungsbedürfnisse abheben. J. F., M. I., K. L. P., R. S.
T HEORIEGESCHICHTEN
SAKIKO KITAGAWA
ASIATISCHE WERTE UND ETHIK DES ZWISCHEN1 1.
Ethik als Problem
Ethik ist heute eigenartig gefordert und herausgefordert; während es einerseits diverse Forderungen nach ethischen Kontrollen oder im Falle Japans nach einer neuen ethischen Volkserziehung gibt2, redet man andererseits von der ethischen Gewalt3, die im Namen der Ethik ein bestimmtes Menschenbild und bestimmte Werte erzwingt und dadurch das einzelne menschliche Dasein seines gesunden Selbstbewusstseins oder gegebenenfalls sogar seiner faktischen Existenz zu berauben droht. Ethik heute ist also eine Notwendigkeit und ein Gewaltakt zugleich. Über Ethik zu reden ist ein gewagtes Unternehmen und eine notwendige Aufgabe der Philosophen. Daher gibt es, abgesehen von dem fast heroischen Auftakt der Gattungsethik im Sinne von Habermas,4 wenige Versuche, über einzelne so genannte angewandte Ethiken hinaus noch eine universale Ethik des Menschseins zu denken.
1 Dies ist das Manuskript eines Vortrags, den ich im Forschungsinstitut für Geistes- und Sozialwissenschaft (figs) an der Universität Siegen gehalten habe. Für die großzügige Einladung möchte ich mich bei Herrn Prof. G. Ambrosius herzlich bedanken. 2 Die Forderung nach einer neuen ethischen Volkserziehung ist angesichts der wachsenden Jugendkriminalität – vor allem unter den Minderjährigen – nicht nur eine allgemeine Stimmung, sondern hat auch eine konkrete Großaktion des japanischen Kultusministeriums ins Leben gerufen. Das so genannte ‚Kokorono Note‘ (Das Lehrbuch für Seele) Projekt, in dem das japanische Kultusministerium für die Grund- und Mittelschule ein einheitliches Lehrbuch für den so genannten Moralunterricht eingeführt hat, ist auf eine umfangreiche Kritik gestoßen, verrät aber, wie das Ethische in der japanischen Gesellschaft verortet wird. 3 Vgl. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M. 2003. 4 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zur liberalen Eugenik, Frankfurt a.M. 2001.
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SAKIKO KITAGAWA
Dabei fragt man sich, ob eine angewandte Ethik, die zum Zweck der ethischen Tauglichkeit bestimmte Kontrollmaßnahmen vorschreibt oder legitimiert, sich nicht leicht instrumentalisieren lässt, insbesondere dort, wo Autonomie und Selbstbestimmung als rein formale Kategorien eingesetzt werden. In einer Gesellschaft wie der japanischen z.B., in der die moralische Sozialisation zur Autonomie hin gering entwickelt ist und die Sittlichkeit noch weitgehend ihre ritualisierte Form beibehält, kann die ethische Prüfung, die die angewandten Ethiken verlangen, leicht zu einem bloß formalen Verfahren werden, das die eigentliche Konfliktsituation gut zu verdecken weiß. Es hat vor allem den Anschein, wie die ethische Diskussion über Präimplantationsdiagnostik zeigt oder – wenn ich wieder ein japanisches Beispiel nennen darf – wie die Hilflosigkeit der japanischen Arbeitnehmer angesichts des Abbaus der traditionellen und teilweise feudalistischen Beschäftigungsverhältnisse zeigt,5 dass die einzelne Person zu Entscheidungsfreiheit gezwungen wird und damit zu viel Verantwortung tragen muss. Wir leiden alle ein bisschen unter der Last des autonomen Subjekts. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass mit der Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen die ethische Diskussion keineswegs beendet ist. So gesehen, kann die feministische Ethik der Fürsorge (care) als Korrekturversuch verstanden werden, der das autonome Subjekt in der Kantischen Tradition relativiert und einschränkt. Die Ethik der care, die mit Namen wie Gilligan oder Noddings verbunden ist, hat vor allem das Menschenbild als sorgendes und fürsorgliches Wesen geprägt, das von vornherein auf Konsens und Konformität angewiesen ist. Die Ethik der Fürsorge ist nicht so sehr eine normative Moraltheorie mit einem universalistisch-prinzipiellen Anspruch. Vielmehr kann sie als eine deskriptive Theorie der moralischen Kompetenz verstanden werden, die im konkreten zwischenmenschlichen Kontext den Ort des Ethischen sieht. Diese feministische Wende in der Ethik legt es also nahe, von den bereits vorhandenen ethischen Ressourcen Gebrauch zu machen. Noddings Theorie der Fürsorge geht z.B. von der natürlichen Tendenz zur Fürsorge (natural caring) aus, die als Grundlage der ethischen Fürsorge erachtet werden soll.6 Wird diese Wende im kulturphilosophischen Sinne verstanden, 5 Man denke daran, dass in Japan jährlich etwa 30.000 Menschen Selbstmord begehen, deren Mehrheit die Altersgruppe zwischen 50 und 60 ausmacht. Die psychische Unsicherheit, die mit den veränderten Beschäftigungsverhältnissen zusammenhängt, kann wohl als das häufigste Motiv für Selbstmord angegeben werden. 6 Vgl. Noddings, Nel: Caring, a feminine approach to ethics & moral education, Berkeley 1984.
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macht sie auf die Notwendigkeit aufmerksam, die ethischen Ressourcen der einzelnen Kulturen herauszuarbeiten. So wird die Ethik der Fürsorge auch im Zusammenhang mit der kulturellen Tradition Asiens vor allem im Zusammenhang mit der konfuzianischen Soziallehre betrachtet, in der der Mensch nicht als das autonome Subjekt angesehen wird, sondern als Träger der gemeinschaftlichen Beziehungen. Tu Wei-ming nennt z.B. als konfuzianische Grundwerte die folgenden drei Punkte: die Wahrnehmung der Person als Zentrum der Beziehungen und nicht als isoliertes Individuum, die Idee der Gesellschaft als Vertrauensgemeinschaft und der Glaube, dass der Mensch in seinem Verhältnis zu Familie, Gesellschaft und Staat pflichtgebunden sei.7 In solcher Betrachtung hofft man einerseits, in der asiatischen Sittlichkeit gewisse ideale fürsorgliche Koexistenzformen realisiert zu sehen und diese als Vorform der Ethik der Fürsorge verstehen zu können. Dabei ist natürlich gegenüber solch einer orientalistischen Idealisierung des Asiatischen große Vorsicht geboten. Andererseits weiß man aber nicht genau, ob diese begriffliche Affinität mehr als ein Zufall ist. Denn schließlich ist die traditionelle ostasiatische Gesellschaft, die noch von konfuzianischen Denkmustern geprägt ist, wie einst die koreanische oder die japanische Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der der Frau ein extrem niedriger Status zugeschrieben wird.
2.
Philosophische Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne als Ethik
Ich möchte hier auf einen japanischen Philosophen eingehen, der, stark von Heidegger beeinflusst, eine Ethik aus der Perspektive der japanischen Moderne zu konzipieren versucht hat, nämlich Watsuji Tetsuro (1889-1960). Watsuji, neben Nishida Kitaro einer der wichtigsten Philosophen der japanischen Moderne, prägte den Begriff der ‚Wissenschaft vom Menschen‘. Seine kurze Schrift „Ethik als Wissenschaft vom Menschen“ (1934)8, in der er sich vor allem mit der Kantischen Moral7 Vgl. Kim, Heisook: „Asian Values and Women: Tradition and Counter-Tradition“, in: Proceedings of the International Conference on Universal Ethics and Asian Values, Seoul 1999. 8 Watsuji, Tetsuro: Ningen no gaku toshino Rinrigaku (Ethik als Wissenschaft vom Menschen), Tokyo 1934. Im folgenden wird der Name der japanischen Autoren auf japanische Weise geschrieben: erst der Nachname und dann der Vorname.
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philosophie auseinandersetzt, und die große dreibändige Ethik – die ersten zwei Bände sind 1937 und 1941 erschienen, der letzte 1947 – stellen das mühsame Unternehmen Watsujis dar, eine umfangreiche ethische Theorie zu entwickeln, die den eigenen asiatisch-japanischen Erfahrungen gerecht werden könnte. Dabei geht es Watsuji vor allem darum, die in der eigenen Kultur vorhandene Reflexionskraft stets im Kontrast zur europäischen Moderne herauszuarbeiten. Aus diesem Grund gerät sein Denkstil oft in eine naive Affirmation des Traditionellen und des Bestehenden. Hinzufügen möchte ich, dass Watsujis Ethik ein umstrittenes Werk ist, dessen traditionalistische Grundeinstellung als Legitimationsversuch der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse immer wieder kritisiert worden ist. Erst in neuester Zeit wird dieses Werk unter dem moraltheoretischen Gesichtspunkt gelesen9 und nicht so sehr im Kontext der politischen Verantwortung der Intellektuellen. Unter gewissem Vorbehalt kann man sagen, dass seine ‚Ethik des Zwischen‘ heute durchaus noch beachtenswert ist, und zwar als Weg, der die Ethik aus der Sackgasse des modernen Individualismus heraus zu einer neuartigen universalen Ethik führt. Dabei spielt, wie ich bereits erwähnte, Heideggers Philosophie eine entscheidende Rolle. Watsuji gehört zur zweiten Generation der modernen japanischen Philosophen, von denen die meisten das damals noch große Privileg eines Studienaufenthaltes in Europa genießen konnten. Watsuji kam 1927 nach Berlin, wo er Heideggers gerade erschienenes Buch Sein und Zeit las. In welcher Form diese Lektüre von Sein und Zeit zum Schlüsselerlebnis für Watsuji geworden ist, sei kurz dargestellt. Im Vorwort seines klimatologisch-kulturphilosophischen Essays Fudo findet sich die folgende Stelle: Es war in Berlin im Frühsommer 1927, als ich begann, mich mit dem Problem des Fudo, Klima, zu beschäftigen. Damals las ich gerade Heideggers Sein und Zeit. Sein Versuch, menschliche Existenz in ihrer Zeitlichkeit zu verstehen, fesselte mich, aber ich fragte mich, weshalb er, wenn er der Zeitlichkeit als subjektiver Daseinsstruktur so viel Gewicht beimißt, nicht zugleich auch die Räumlichkeit als eine ebenso ursprüngliche Daseinsstruktur gelten läßt.
9 Als solche Interpretationsversuche sind vor allem Karibe Sunaos Buch Hikarino Ryoukoku – Watsuji Tetsuro (Das beleuchtete Reich – Watsuji Tetsuro, Tokyo 1995) und der Sammelband Yomigaeru Watsuji Tetsuro (Watsuji Tetsuro neu interpretieren, hrsg. v. Yasukuni Sato et al., Kyoto 1999) anzugeben.
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[…] Hier zeigte sich mir eine Grenze seines Denkens, denn Zeitlichkeit ohne Räumlichkeit ist nicht wirklich Zeitlichkeit.10
Es ist bemerkenswert, wie die Heideggersche Begrifflichkeit den meisten japanischen Philosophen dieser Zeit zur eigenen Fragestellung verholfen hat. Im Fall von Watsuji war es die Daseinsanalyse Heideggers, die ihm eine philosophische Reflexion ermöglichte, die mehr als eine Rezeption der deutschen Philosophie war. Die Daseinsanalyse Heideggers hat für Watsuji insofern großes Gewicht, als sie sich von der modernen Subjektphilosophie abwendet und das menschliche Dasein in seinem Seinsmodus des ‚In-der-Welt-Seins‘ betrachtet. Dabei ist natürlich fraglich, ob Heidegger tatsächlich das Prinzip ‚Räumlichkeit‘ außer Acht gelassen hat. Er hat schließlich solche Kategorien wie ‚In-Sein‘ oder ‚Nähe‘ eingehend analysiert und ist später immer wieder in Die Kunst und der Raum oder in Zollikoner Seminare auf das Thema Raum zu sprechen gekommen. Watsujis Kritik an Heidegger scheint auf den ersten Blick eher von einer formal-oberflächlichen Lektüre von Sein und Zeit zu zeugen als von einer ernsthaften Auseinandersetzung. Die Frage, wie Watsujis Kritik an Heidegger zu verstehen ist, kann allein im Zusammenhang mit der japanischen oder asiatischen Moderne beantwortet werden, die ein koreanischer Historiker als überwindende Übernahme der Moderne charakterisiert hat. Auch bei Watsuji findet man immer wieder so etwas wie eine radikalisierte Übernahme von Heideggers Fragestellungen. Mit seiner Lektüre von Sein und Zeit entdeckt Watsuji die Notwendigkeit der philosophischen Komplementarität zwischen Ost und West. Den Sinn der japanischen Rezeption von Heidegger sieht Watsuji also allererst darin, Heideggers Fundamentalontologie zu radikalisieren, und zwar in Richtung der totalen Auflösung der modernen Subjektivität. Man kann in seiner Ethik, die eher eine Sammlung von fragmentarischen Gedanken als ein systematisches Werk ist, an verschiedenen Stellen diesen Radikalisierungsversuch der Heideggerschen Denkansätze sehen. Man könnte sogar sagen, dass dies der leitende Gedanke seiner eigenen Ethik ist. Watsujis Intention, Räumlichkeit als eine ursprüngliche Daseinsstruktur zu analysieren, sollte man deshalb nicht im Zusammenhang mit fudo (Klima), d.h. seiner naiven klimatologischen Typologie der Kulturen im Stil eines Reiseberichtes, sondern mit seiner Ethik verstehen, in der er die exzentrisch-dezentralisierte Existenzform des menschlichen 10 Watsuji, Tetsuro: Fudo. Wind und Erde. Der Zusammenhang von Klima und Kultur, Darmstadt 1993, S. 4.
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Daseins im sozialen Raum thematisiert. Watsuji betrachtet das menschliche Dasein in seiner ekstatischen Beziehung zum Sozialen, nämlich in einem dialektischen Prozess, in dem das Selbst und das Soziale als verschmolzene einheitliche Situation erlebt wird, also eine soziologisch radikalisierte Parallele zur Analyse der Befindlichkeit bei Heidegger oder zur exzentrischen Positionalität bei Plessner.
3.
Der Mensch als Zwischendasein
In Hinwendung zu Heideggers ‚In-der-Welt-sein‘ führt Watsuji die Termini ningen (Mensch des Zwischen) und aidagara (Zwischen) ein, mittels derer die Erfassung des Menschen in seiner doppelten Natur als Individuum und gemeinschaftliches Wesen ermöglicht werden soll. Dem japanischen Wort ningen (Mensch), das die Zusammensetzung von Mensch und Zwischen ist, kommt in diesem Versuch eine zentrale Rolle zu, das individualistische Menschenbild der europäischen Moderne zu korrigieren. Betont wird immer wieder, dass das japanische Wort ningen niemals das einzelne Menschenwesen bedeute, geschweige denn das isolierte Subjekt. Das Wort ningen erfasst das menschliche Wesen in seiner unentrinnbaren Angewiesenheit auf Mitmenschen und in seiner notwendigen zwischenmenschlichen Abhängigkeit. Indem Watsuji auf die Anwesenheit des Wortes ningen in der japanischen Sprache als zwischenmenschliches Wesen und die Abwesenheit der sprachlichen Äquivalenz für ‚Individuum‘ oder das moderne Subjekt hinweist, will er behaupten, dass die japanische Philosophie als eine Philosophie jenseits des Subjekts zu charakterisieren ist. Es ist die Philosophie des Zwischen. Es ist dabei schwer klarzumachen, was eigentlich mit dem ‚Zwischen‘ gemeint ist. Das ‚Zwischen‘ (aidagara) wird als eigentliche Substanz jeder menschlichen Beziehung aufgefasst: Es ist die primäre Grundlage für jede Kommunikation und jede menschliche Interaktion, die aber nicht weiter analysiert werden kann. Watsuji weist in seiner Ethik nur auf sein faktisches Wirken in jeder menschlichen Beziehung hin. Dieses primäre Zwischen ähnelt zwar dem dialogischen Prinzip von Martin Buber, der das Wortpaar ‚Ich und Du‘ als Grundwort zum Ausgangspunkt seiner Ethik macht. Anders als Buber jedoch, der eine bestimmte Kommunikationsform unter Einzelnen im Auge hat, sieht Watsuji in dem Zwischen kein kommunikatives Moment. Betrachtet man die Grundstruktur des menschlichen Daseins von diesem primären Zwischen her, bedeutet dies vielmehr eine doppelte Negation, in der sowohl das In-
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dividuum als auch das gesamtgesellschaftliche System den Charakter der sozialen Substanz verlieren. Mit der Idee der doppelten Negation, in der die individuellen wie die sozialen Komponenten des menschlichen Daseins allein als graduelle Abgrenzungsmerkmale verstanden werden, weist Watsuji eine starke Affinität zu Heidegger auf, der den Begriff ‚Mensch‘ in eine reine Abgrenzungsfunktion zum Tier aufgelöst und damit als substanzielle Kategorie dekonstruiert hat.11
4.
Sprache als ethisches Moment
Die Ethik des Zwischen geht also von der Möglichkeit einer ekstatischen Existenzform des menschlichen Daseins aus, in der das Selbst in das Soziale aufgelöst wird und als subjektive Sphäre oder subjektive Spannung, nämlich als Ausdehnung im sozialen Raum erlebt wird. Die subjektive Sphäre ist so nur relativ von der sozial-gemeinschaftlichen Sphäre zu unterscheiden. Was geschieht aber in der Ethik, wenn das moderne Menschenbild, das den ausgeprägten Begriff des autonomen Subjekts mit seiner Urteilsund Zurechnungsfähigkeit voraussetzt, nicht mehr als Grundlage für das Normative gelten kann? Verkümmert sie dann nicht zu einer pragmatischen Sozialtheorie, die bloß einen Regelkatalog der faktischen Koexistenz aufzuweisen weiß? Kann die Ethik des Zwischen noch etwas Normatives aussagen? Ist der Begriff Zwischen überhaupt als ein ethischer Begriff leistungsfähig? Um diese Fragen zu beantworten, sei an eine Stelle in dem berühmten „Gespräch von der Sprache“ erinnert, in dem der japanische Gesprächspartner, von Heidegger provoziert, ein Bekenntnis zu einem Unvermögen der eigenen Sprache abgibt:
11 Heidegger, Martin: „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“, in: ders.: Gesamtausgabe, hrsg. v. Friedrich Wilhelm von Hermann, Frankfurt a.M. 1983, Bd. 29. Obwohl Heidegger hier in Anlehnung an die damaligen biologischen Diskussionen das Wesen des Menschen als umweltliches Wesen zu bestimmen scheint, besteht die eigentlich theoretische Leistung seines Menschenbegriffs darin, von der Weltarmut des Tiers her das Wesen des Menschen zu bestimmen. Es ist bemerkenswert, dass Heidegger hier den eigentlichen Sinn des Menschenbegriffs in seiner Abgrenzungsfunktion zum Tier sieht, wenn man an die hohe genetische Gleichheit zwischen Mensch und Affe denkt. Heideggersch gesagt: Man braucht einen radikalisierten Begriff der Grenze, wie etwa Abgrund, um das Menschwesen vor seiner genetischen Tierheit zu retten.
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SAKIKO KITAGAWA F: Benötigen Sie Begriffe? J: Vermutlich ja; denn seit der Begegnung mit dem europäischen Denken kommt ein Unvermögen unserer Sprache an den Tag. F: Inwiefern? J: Es fehlt ihr die begrenzende Kraft, Gegenstände in der eindeutigen Zuordnung zueinander als wechselweise über- und untergeordnete vorzustellen.12
Die berechtigte Frage Heideggers, warum Japaner so eifrig europäische ästhetische und philosophische Begriffe einführen, die ihre Wurzeln gerade in spezifisch europäischen Erfahrungen haben, kann auch vielen japanischen Philosophen nicht entgangen sein. Das Bekenntnis zur Abwesenheit der eigenen Begrifflichkeit ist das Leitmotiv geworden, das erst so etwas wie das japanische Denken hat hervortreten lassen, und zwar in klarer Abgrenzung zur modernen wissenschaftlichen Sprache. Watsuji thematisiert dieses Problem in seinem Essay Die japanische Sprache und das Problem der Philosophie13 folgendermaßen. Die japanische Sprache hat sich in ihrer literarischen Form einseitig emotionalen Bewegungen und Erfahrungen gefügt und im affektiven Bereich die eigentliche Ausdruckskraft entfaltet. Dabei sei die diskursiv-reflexive Kraft weitgehend unterentwickelt geblieben. Obwohl Watsuji als Grundzug der japanischen Kultur ihre fast unbegrenzte Aufnahme- und Verarbeitungskraft fremder Kulturen voraussetzt, stellt er mit seiner These fest, dass die japanische Sprache ein Teil der affektiv-emotionalen Kultur ist. Um diese seine These zu beweisen, führt Watsuji verschiedene Charakteristika der japanischen Sprache an: die morphologischen Eigenarten wie das Fehlen des ausgeprägten Subjekts und der Pluralform oder die Substantivierung, die vorzugsweise in Bezug auf die Verben, die emotionale Bewegungen ausdrücken, stattfindet und so keine Substanzform von kognitiven Handlungen hervorgebracht hat. Watsuji, der auch ein ausgezeichneter Kenner der japanischen Literatur und Kunst ist, sieht dieses Fehlen der reflexiv-philosophischen Kraft durch die japanische ästhetische Sensibilität kompensiert. Die Grundform der japanischen Aussage sei: Nicht ‚Ich sage etwas‘, sondern ‚Etwas wird gesagt‘. Wenn dort ein grammatisches Subjekt auftritt, ist es immer ein Subjekt, das bereits eine soziale Charakterisierung erfahren hat. Stellt man daher die ausdrückliche Frage nach dem 12 Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1993, S. 86-87. 13 Watsuji, Tetsuro: Nihongo to Tetsugaku no Mondai (Die japanische Sprache und das Problem der Philosophie), Tokyo 1929.
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Wer der Aussage, stößt man nur auf eine sozialisierte Person (Persona, Maske14), nämlich auf das ‚Wir‘, das Zwischen, das in einer gemeinschaftlich gegliederten Welt seinen Ort hat. Die Frage nach dem Wer tritt nur dort auf, wo noch kein sozialisiertes Subjekt vorhanden ist, also eine absolute Anonymität herrscht. Watsujis Beispiel ist folgendes: Wenn jemand nach Hilfe ruft, ruft er nicht nach der Hilfe einer bestimmten Person, sondern nach anonymer Hilfe, so dass jede Person angesprochen sein kann. Um diese Anonymität sicherzustellen, müssen Vertrauen und Vertrautheit gewährleistet sein.15 Diese Anonymität zwingt uns dazu, einen Prozess einzuleiten, in dem ein neu definiertes Zwischen antastend und anfragend herausgebildet werden soll. Jede unkonventionelle kommunikative Situation ist Watsuji zufolge als solche eine ethische Situation. Offenbar spielt die Mutter-Kind-Beziehung als Prototyp des Zwischen eine große Rolle.16 In solch einer Beziehung fließen die körperliche und sprachliche Kommunikation ineinander und bilden in einer gegenseitigen Einflussnahme das faktische Mutter-Kind-Verhältnis heraus – nämlich jenes Zwischen, das in der japanischen Geisteswissenschaft als amae (Geborgenheit) immer wieder betont wird.
5.
Kunst als normative Institution
Die starke Sensibilität der japanischen Sprache für gemeinschaftliche Involviertheit und die daraus resultierende ethische Qualität der japanischen Kommunikationskultur stellen also die wichtigste Grundlage für die Ethik des Zwischen dar. Es gibt aber noch einen anderen ethischen Aspekt der japanischen Kultur. Watsuji war zu Lebzeiten als Autor von kunstphilosophischen Essays sehr beliebt. Seine Popularität als kunsthistorischer Autor lässt sich gut erklären, wenn man die Tatsache ins Auge fasst, dass er die japanische Kunst als solche sowie einzelne Kunstwerke nicht so sehr vom ästhetischen oder historischen Standpunkt her betrachtet. Vielmehr sind einzelne kunsthistorische Gegenstände ästhetische Institutionen für das Normative.
14 Später schrieb er den philosophischen Essay Maske und Persona, den Sakabe Megumi als den Schlüsseltext für die gesamte Ethik von Watsuji deutet. 15 Vgl. Watsuji, Tetsuro: Rinrigaku (Ethik), Tokyo 1934, fünftes Kapitel „Vertrauen und Wahrheit“. 16 Tatsächlich wird in der Ethik immer wieder auf die Mutter-Kind Beziehung Bezug genommen, in der die emotionale, die körperliche und die sprachliche Kommunikation eng miteinander verbunden sind.
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SAKIKO KITAGAWA
In einer kunstphilosophischen Essaysammlung17 sind drei Erlebnisse dargestellt, in denen Watsuji auf die Besonderheit der japanischen Kultur aufmerksam macht, nämlich Linie, Maske und Hand. Linie bzw. Linearität als kunstanschauliches Element wird bei jedem Besuch eines Tempels betont. Der ganze Essay ist von dem Eindruck der schönen Linien durchdrungen: die Linien, die die Gestalt einer Buddha Statue umkreisen, die Linien der Tempel und die Linien der kulturellen Verbindungen. Watsuji ist der Auffassung, dass in der japanisch-buddhistischen Kultur eine hohe Sensibilität für Linearität entwickelt worden sei. Dagegen habe sie keine Kultur der Plastik herausgebildet. Die Vernachlässigung eines voluminösen Ausdrucks habe zu einer für den heutigen Betrachter nicht ausbalancierten, einseitigen Gestaltung des menschlichen Körpers geführt. So werde man beim Betrachten der meisten Buddha-Statuen stets auf die Gestaltung des Gesichts aufmerksam gemacht. Watsuji beschreibt minuziös die einzelnen Gesichter der BuddhaStatuen und stellt jeweils indische, chinesische, koreanische und japanische Elemente fest. Am Wandel der Gesichtszüge glaubt er ein eigenartiges Einfließen von indischen, chinesischen und koreanischen Elementen in die japanische Kultur erkennen zu können. Kultur besteht für ihn vor allem in dieser synthetisierenden, verschmelzenden Kraft. Dem Thema Maske ist ein unverhältnismäßig langes Kapitel gewidmet, in dem Watsuji eine historische Betrachtung über verschiedene Maskenspiele anstellt. Auffällig ist dabei, dass er nicht so sehr vom eigenen Eindruck redet, sondern das Wesen des Maskenspiels als solches ergründen will. Die Größe der Masken überrascht ihn. Sie entspricht gar nicht dem menschlichen Antlitz. Seine These lautet: Der Mensch trägt nicht eine Maske, sondern die übergroße Maske gewinnt erst dann eine lebendige und angemessene Gestalt, wenn sie von einem relativ kleinen Menschen getragen wird. Dies ist wieder eine Assoziation mit dem Begriff der Person als Träger verschiedener, einander widersprechender sozialer Rollen, wobei das Soziale zum Individuellen in keinem ausbalancierten Verhältnis steht. Solche ästhetisch vermittelten Erlebnisse sind auch für seine Konzeption der Ethik wesentlich. Denkt man an wachsende soziale Unsicherheiten, die mit dem rasch eingeführten Modernisierungsprozess in einer Kultur und Gesellschaft ohne das moderne autonome Subjekt die Oberhand zu gewinnen beginnen, versteht man sehr gut, dass solche kunstphilosophischen Essays von Watsuji in erster Linie als ethische Lehre gelesen wurden. Die 17 Watsuji, Tetsuro: Koji Junrei (Pilgerreise nach alten Tempeln), Tokyo 1919.
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Linie nicht als Kontur, die den Einzelnen von Anderen abhebt, sondern als Kontinuität, und die Maske nicht als Verdeckendes, sondern als Substanzielles – mit dieser normativen Hermeneutik der Kunstgegenstände wollte Watsuji einen Weg zur Ethik des Zwischen finden. So fasst er das Wesen der japanischen Kunst als dialektische Abstraktheit auf, die uns an konkreten Gegenständen immer wieder das absolute Nichts erblicken lässt. In der heutigen ethischen Diskussion werden die Grenzen des Machbaren thematisiert. Sie sollen die Menschen auf die eigenen Grenzen hinweisen. Vielleicht ist die Ethik des Zwischen, die inmitten unserer medial kommunizierten und aufgeklärten Welt an die Anwesenheit der absoluten Anonymität und damit an die Anwesenheit des absoluten Nichts erinnert, ein rettender Wink. Sie kann aber nur dort rettend sein, wo über das menschliche Leben und die ideale Koexistenz ernsthaft nachgedacht wird.
K. LUDWIG PFEIFFER
ANARCHIE DER WISSENSCHAFTSGESCHICHTE ODER LOGIK DER THEORIENDYNAMIK? VON DER MATERIALITÄT DER KOMMUNIKATION ZUR MEDIENANTHROPOLOGIE 1.
Woher kommt die Konjunktur der Medienwissenschaften?
Die folgenden Ausführungen versuchen sich an Skizzen kulturwissenschaftlicher Theoriedynamik. Für Experten ist ihre persönlich-autobiographische, ja vielleicht narzisstische Eintrübung unschwer zu erkennen. Sie bedürfen auch deswegen der Rechtfertigung. Die Rechtfertigung besteht erstens darin, dass mich die Zusammenarbeit mit japanischen Kollegen vor 15 Jahren im Verbund mit Verschiebungen in der westlichen Theorieszene zum ersten Mal zum einigermaßen einschneidenden Überdenken theoretisch-methodischer Orientierungen gezwungen hat. Die einschneidende Wirkung bestand damals in der Beschneidung hermeneutischer Traditionen zugunsten von Horizonten material-medial oder auch – angesichts heutiger Entwicklungen – ästhetisch bestimmter Kommunikation (‚Materialität der Kommunikation‘, dazu mehr weiter unten). Freilich war damals schon klar, dass derartige Horizontverschiebungen nicht unbedingt einem Kuhn’schen Paradigmenwechsel gleichkommen mussten: hermeneutische Restbestände wurden nicht vollständig getilgt. Der Fall eines Reorientierungsbedarfs ist in jüngerer Vergangenheit wieder eingetreten. Er entzündet sich diesmal an der Frage, wie man dem konturenlosen Ausufern materialer Vielfalt in ästhetischen Prozessen durch die relative Konstanz ästhetischer Wirkungen, wie sie vor allem japanische Künste, Medien und ihre Theorie oft unterstellen, gegensteuern kann. Im europäischen Kontext möchte ich das als den Drang zur
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Medienanthropologie reformulieren. Auch dieser Prozess läuft, wie es scheint, nicht als Paradigmenwechsel, sondern als neuerliche Verschiebung ab: Nach wie vor bevölkern auch hier hermeneutische und natürlich noch mehr material-mediale Wirkungselemente die Szene. Zweitens hat es Zeiten gegeben, in denen man die nicht unberechtigte Hoffnung hegte, Wissenschaftsgeschichte könne als ‚Innovationsvorgabe‘ dienen. Zwar mag dem ersten Blick auf die Wissenschaftsgeschichte oft scheinen, als biete sie kaum mehr als anarchische Zustände, als Wechselbäder der Theorien und Theoriemoden. Aber Wissenschaften können nicht nur von der je gegenwärtig akzeptierten Geltung einer Theorie und ihrer Kriterien, sondern müssen logischerweise auch von einer unterstellbaren, wie immer dynamisierten Logik der Theoriegeschichte leben.1 Natürlich geht es bei Bilanzierungen und Reorientierungen jetzt wie einst nur um eine, nicht etwa die Logik der Wissenschaftsgeschichte. Eine solche Unternehmung kann sich zunächst immer noch bei McLuhan einklinken, der unser Bewusstsein von der hochgradig technologischen Form der Kommunikation (nicht nur, aber auch in ästhetischen Kontexten) stärken wollte. Das scheint inzwischen banal. Aber schon die einfachste geschichtliche Besinnung stellt klar, dass sich Begriffe wie Medien und Massenmedien zwar heute in jedem Wörterbuch und jeder Enzyklopädie tummeln, dass man sie dort aber noch vor 50 Jahren meist vergeblich gesucht hätte. Jedenfalls nicht in den heute dominierenden Bedeutungen: Man wäre etwa beim Begriff Medium auf Informationen zu einer grammatischen Form des griechischen Verbs, zu Personen mit parapsychologischen Fähigkeiten und vielleicht einem Bestandteil der physikalischen Wellentheorie gestoßen.2 Die Idee, dass man so etwas wie Medientheorie oder flächendeckende, die verstehenden hermeneutischen 1 Pfeiffer, K. Ludwig: „Theorien und ihre ‚Dynamik‘ in den westlichen Geistes- und Literaturwissenschaften“, in: Die deutsche Literatur (Doitsu Bungaku), Kansai University (Osaka), 34 (1990), S. 1-50. Zu Wissenschaftsgeschichte und Innovationsvorgabe vgl. Cerquiglini, Bernard/Gumbrecht, Hans Ulrich (Hrsg.): Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Frankfurt a.M. 1983; Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004, S. 17-69. Der vorliegende Essay steht im Zusammenhang mit einer Reihe weiterer, die Möglichkeiten ästhetischer, im engeren Sinne literatur- und medienwissenschaftlicher Vergleiche zwischen Ost und West, speziell Deutschland und Japan auslotender Anstrengungen. 2 Vgl. Helmes, Günter/Köster, Werner (Hrsg.): Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002, S. 15; McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, S. viii-xi.
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Geisteswissenschaften mehr oder weniger ersetzende Medienwissenschaften brauche, hat sich erst vor ca. 20 Jahren durchgesetzt. Man könnte der Medientheorie eine längere, würdevollere Geschichte verschaffen und auf Harold Innis (1894-1952) hinweisen, von dem McLuhan eine Reihe von Inspirationen bezog. McLuhan gestand ein, sein Buch The Gutenberg Galaxy sei kaum mehr als eine Fußnote zu Innis’ Empire and Communications (1950). Und wenn man schon dabei ist: Warum nicht ins 19. Jahrhundert und seine Vielfalt an Formen der „Psychophysik“, später der „Kybernetik“ usw. wieder ausgraben, wie das mit einigem Erfolg und manchmal überraschenden Ergebnissen Stefan Rieger getan hat?3 Schlägt man diesen Pfad ein, sieht man sich jedoch bald mit der ungemütlichen Frage konfrontiert, ob material- und medieninteressierte Studien kommunikativer und ästhetischer Prozesse überhaupt Fortschritte gemacht haben. Denn schon im 19. Jahrhundert führt dieses Interesse, wenn wir uns an Rieger halten, zum Kollaps der Unterscheidung zwischen Medium und Mensch. Der Kollaps geht angesichts der Unzahl dessen, was als kommunikativ und ästhetisch relevantes Medium aufgefasst werden kann, mit der Explosion des Medienbegriffes selbst einher. Im 20. Jahrhundert hat das McLuhan mit seiner heterogenen, nahezu beliebig fortsetzbaren Medienliste und den auch daraus resultierenden begrifflichen Ungereimtheiten – beginnend mit der Vorstellung von Medien als Erweiterungen (extensions) des Menschen, der aber seinerseits unter den eigenen Voraussetzungen begrifflich gar nicht mehr dingfest zu machen ist – durchexerziert. Immerhin, und dies ist ein erstes Ergebnis, macht die Archäologie der (Medien-)Technologien verständlich, wie und dass es unter anderem deswegen zu jenen hermeneutisch-interpretierenden Phasen einer Art „Wut des Verstehens“ (Jochen Hörisch) gekommen ist, welchen material-mediale Bemühungen abkühlen oder ins Leere laufen lassen wollten. Auch angesichts dessen, was Nietzsche in der zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) über monumentalische, antiquarische und kritische Arten der Historie sagt, wird verständlich, warum die hermeneutisch-interpretierende 3 Zu Innis vgl. Barck, Karlheinz (Hrsg.): Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, Wien/New York 1997, S. 4; Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2000; Rieger, Stefan: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002; Rieger, Stefan: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a.M. 2003.
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Überreaktion auf geschichtlichen Wandel ihrerseits eine andere Überreaktion, etwa die Forderung nach der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften4 provoziert hat. Die auf hohen Touren laufenden hermeneutischen Zwischenspiele waren in nationalstaatlichen Konsolidierungszeiten stark motiviert. Inzwischen erscheinen sie wie auch die noch weitergehenden Konstruktionen abendländischer Kulturkontinuitäten teils defensiv, teils eskapistisch, markieren sie Rückzugspositionen angesichts der Varianten anti-historistischer (etwa globalisierender), antipsychologistischer, kurz antihermeneutischer Medienoffensiven. Wiederum beherrschen auch diese Offensiven die zeitgenössische Szene nicht vollständig. Als fast schon banaler Wink mit dem Zaunpfahl mag ein pauschaler Hinweis auf Fundamentalismen und Gewalt anmuten. Es kommt aber auch vor, dass ein alter Medienbegriff der Person als Medium absoluter Kommunikation mit dem Übernatürlichen überlebt, auch wenn er, wie beispielsweise in A. S. Byatts Romanen und Geschichten, als eine Art Selbstbefragung wie Parodie literarischer Möglichkeiten ein Nischendasein fristet. Die (Pseudo-)Repersonalisierung der Kommunikation findet in banaleren Formen auch in den technischen Medien selbst statt, weil diese den mangelnden Appeal der von ihnen selbst beförderten Formen der Globalisierung sehr wohl erkannt haben. Es konnte (Ernst Jünger und andere wären Beispiele) und kann ferner passieren, dass sich personalisierte Formen emphatischer Kommunikation mit technologischen, der des Krieges etwa, vermengen. Solche Vorstellungen münden unschwer in gegenwärtige Medientheorien ein, für welche der Krieg wie bei Heraklit der Vater und der König aller Dinge ist. Trotzdem könnte man sich, wenn man nicht Verdrängungstheoremen anhängt, gerade angesichts der Kriege des 20. Jahrhunderts, immer noch darüber wundern, dass die Generalisierung des Kriegs zur medientheoretischen These medialer und technologischer Penetration des Menschen erst relativ spät erfolgt. Was also ist sonst passiert, was die Ausdehnung medialer Bewusstheit angetrieben haben könnte? Hat sich die Zahl neuer Medien drastisch vermehrt, ihre Wirkung dramatisch gesteigert? Hat sich unser Verhältnis zu Medienenvironments als ebenso belastenden wie attraktiven, speichernden wie erinnerungszerstörenden Filtern und Gestaltern der Wahrnehmung, Erfahrung und Weltbilder verändert? Oder all das und mehr zusammen? 4 Vgl. Kittler, Friedrich (Hrsg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programmme des Poststrukturalismus, Paderborn/München u.a. 1980.
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2.
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Institutionen, Systeme, Medien
Medienbewusstsein oder -bewusstheit gibt es seit langem. In den Gesetzen (817b) konzipiert Plato den idealen Staat als ideale Tragödie, aus der er die nicht so ideale Bühnentragödie daher ausschließen möchte. Mit der Notwendigkeit und den kognitiven Fallstricken der Schrift hat er sich wiederholt auseinandergesetzt. Die vielfach anzutreffende Vorstellung, die Welt sei eine Bühne, zollt einer gewissen Verschmelzung von Medium und Realität Tribut. In verschiedenen Sprachen hebt der Begriff ‚Kunst‘ stärker auf Kunstfertigkeit, manchmal auf technisch-technologische, jedenfalls auf mediale und materiale Schichten ab. Es ist derzeit eine offene Frage, inwieweit die Ästhetik zu einer Medientheorie umgeschrieben werden oder inwieweit sie ästhetische, medial nicht reduzierbare Mehrwerte für Kunst bzw. künstlerische, das heißt ästhetisch stilisierende Verfahren reklamieren kann. Anerkennung oder gar Propagierung medialer Durchschlagskraft wandeln sich aber geschichtlich sehr stark. Will man das wiederum geschichtlich erklären, so befragt man am besten nicht die einzelnen Disziplinen, etwa das, was normalerweise als Geschichtsschreibung auftritt, sondern diskursive Mischformen. Philosophisch-historisch-soziologische Mischformen, auch im Verbund mit anthropologischen Ausrichtungen, hat es im deutschen Sprachraum vor allem von den 30ern bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts viele gegeben. Die betreffenden Autoren bezeugen ein akutes Bewusstsein der Wirkung von technischen, ökonomischen, juristischen und anderen Modernisierungsschüben, welche die Einzelperson aufzusaugen drohten. Freilich nannten sie die Wirkung dieser Schübe auf die Menschen meist nicht mehr wie Marx ‚Entfremdung‘. Man sprach, in Erweiterung des Bürokratisierungsbegriffs Max Webers, vom stählernen Käfig, in welchen das Individuum eingesperrt schien, dessen Lücken aber auch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten ganz neuer Art eröffneten (Helmut Schelsky). Man sah, wie das, was sich die Einzelperson als Erfahrung zuzuschreiben gewohnt war, vor allem auch durch Medien wie die Presse zur immer schon verdünnten, vorgekauten Erfahrung zweiter Hand abzusinken schien (Arnold Gehlen). Auch Gehlen glaubte freilich, dass die ‚Seele im technischen Zeitalter‘ im Gegenzug über früher nie gekannte individuelle Spielräume verfügte. Er hielt eine differenzierte und ausdrucksfähige Subjektivität geradezu für den normalen, dadurch allerdings von ständiger Retrivialisierung bedrohten Ausfällungsbestand moderner Gesellschaften. Ähnlich lagen die Dinge bei Hans Freyer, für den die un-
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erhört gesteigerte Machbarkeit der Sachen in jene des auf bloße interaktive Kasuistik, ein Verhalten von Fall zu Fall eingeschränkte Machbarkeit des Menschen umzuschlagen schien. Für diese und andere Analytiker bestand die Modernisierung also in systemischen Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen, welche die substanzielle Idee der Person nachhaltig beschädigten, wo nicht zerstörten. Andererseits trieben sie diese Diagnose nicht in das Extrem der späteren Systemtheorie vor, wo die Leitunterscheidung zwischen System und Umwelt mit fast logischem Zwang in die Folgerung umkippte, dass es nichts anderes als Systeme gebe: Was von einem System aus gesehen wie Umwelt aussah, musste sich selbst, da der Systembegriff über alle Wirklichkeitsbereiche ausgedehnt wurde, wohl oder übel seinerseits auch als System verstehen. Den Personen verblieb bestenfalls die Rolle von Akrobaten oder Virtuosen auf der Peripherie der Systeme. Zwischen imperial(istisch) sich verhaltende, heute meist global genannte Systeme und marginalisierte Individuen hatte die ältere Generation den Begriff der ‚Institution‘ geschoben. Sie wollte damit der Pauschalität bestimmter Entwicklungen vorbeugen und Problemspannungen nach allen Seiten aufrechterhalten. Karl Polanyi (1886-1964) beispielsweise beschrieb 1944 die ‚große Transformation‘ von 1814 bis 1914 als lange Periode relativen Friedens bei gleichzeitigen drastischen sozioökonomischen Veränderungen. Ihm galt das Aufkommen selbsttragender Märkte nicht nur als systemischer Schub. Dieser stieß vielmehr mit Institutionen zusammen, die er oft gewaltig in Mitleidenschaft zog, aber zumeist, mit Ausnahme autoritärer Monarchien, nicht vollständig zerstörte. Unter Institutionen verstand Polanyi durchregulierte, aber nicht (notwendigerweise jedenfalls) selbstregulierende Einheiten (Familie, kleinere Gemeinschaften als soziale Einheiten und personale Netzwerke, Schulen, die Kirchen, bürokratische Einrichtungen, kleinere und größere politische Einheiten, ja auch die gleichzeitig imaginäre und enorm real gewordene Welt der Nationen). Solange Institutionen gut funktionieren, regeln sie individuelles Verhalten in vergleichsweise konkreten Formen. Im Prinzip sind also Institutionen und Personen relativ eng aneinander gekoppelt. Im Vergleich dazu sind die operationalen Codes der Systeme für solche Kopplungsformen viel zu abstrakt. Der Angriff der Systeme baut Griffsicherheit wie Elastizität der Institutionen ab. Bis zu einem gewissen Grad gehen die Adressen verloren, an welche die Personen bislang ihre Wünsche und Bedürfnisse bzw. das, was sie dafür hielten, richten konnten. Natürlich wurden die Personen von den Institutionen oft schlecht genug behandelt.
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Schlechte Behandlung ist aber etwas anderes als ihre zunehmende Ungreifbarkeit, wie sie Kafka im Übergang zu systemischen Verhältnissen etwa auch versicherungsökonomischer Art schildert. Polanyi spricht daher von ‚institutioneller Degeneration‘, einem erfahrbaren Mangel an der selbst in der Unterdrückung durchschlagenden Erwartbarkeit und Zuverlässigkeit der Institutionen.5 Die weiter schwelenden, nunmehr so genannten persönlichen Probleme werden an neue, teilweise extra dafür erfundene Diskurse wie Psychologie, später Psychoanalyse und Psychotherapie weiter gereicht. Deren Problemlösungsvermögen stand und steht dahin. An dieser Stelle infiltrieren ‚die Medien‘ das systemisch-institutionell-persönliche Geflecht. Sie ordnen es insofern neu, als sie ‚Images‘ produzieren, die man als wünschbare Form des Geflechts (miss)verstehen kann. Im soziopolitischen Bereich machen sie sich anheischig, die institutionelle Degeneration der Nation und ihrer Einrichtungen zu reparieren, ihre Reparaturfähigkeit zumindest zu suggerieren oder die ‚eigentlichen‘ Probleme schlicht zu verdecken. Sie glätten, selbst in ihren Bildern und Diskursen der Konflikte, die Beziehungen zwischen Personen und einem Staat, der weder binnenpolitisch noch international seine Interessen und sein ‚Image‘ – es sei denn mit militärischer, ethischideologisch allerdings mehr und mehr verpönter Gewalt – zureichend, das heißt als einigermaßen akzeptable Verbindung von Ideal- und Realpolitik zur Geltung bringen kann. Dieser Aufgaben nimmt sich die Propaganda an, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts klar als (mediale) Macht zu erkennen ist. In den Lücken, die von einem oft autoritären Staat, von den mit sich selbst beschäftigten Systemen und ramponierten Institutionen aufgerissen werden, wuchern alle möglichen, sei es sozial, sei es ökonomisch, sei es politisch oder sonst wie motivierten und ideologisierten Interessengruppen, in welchen Subjekte noch am ehesten eine mehr als nur private Form der Konkretheit erblicken können. Dieser Interessen, manchmal auch, wer wollte es bestreiten, eines scheinbar verselbständigten Interesses objektiver Berichterstattung, nimmt sich eine vielfältig und massenhaft gewordene Presse an. Die Zeitungswissenschaft darf daher verständlicherweise zumindest in Deutschland wohl als die erste Medienwissenschaft im modernen Sinn 5 Vgl. Polanyi, Karl: The Great Transformation. The Political and Economic Origins of our Time (1944), Boston 1957, S. 3-5, 96. Zu einer einschlägigen systemtheoretischen Sicht des Verhältnisses von Systemen und Personen vgl. Luhmann, Niklas: „Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen“, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hrsg.): Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt a.M. 1994, S. 40-56.
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gelten. (Ich weiß natürlich, dass es Zeitungen mit analogen, bei weitem aber nicht so ausgedehnten Funktionen seit dem 17. Jahrhundert gegeben hat.) Bei ihren ‚Gründervätern‘, und nicht nur bei ihnen, sind ‚weltanschauliche‘ Dimensionen und deren Wandel, bei Emil Dovifat etwa zunächst christlicher, genauerhin katholischer (wie auch bei Karl d’Ester) und gewerkschaftlicher Art, sehr deutlich ausgeprägt.6 Man entdeckt dann rasch, dass nicht nur Zeitungen, sondern ein ständig umfangreicheres ‚publizistisches‘ Spektrum einen wie immer interessengeprägten Informations- und/als Unterhaltungsbedarf zu bedienen hat. Die Zeitungswissenschaft verwandelt sich schnell in die Publizistikwissenschaft. Von ihr nehmen zu einem Gutteil die Medienkunde, dann die Medienwissenschaft ihren Ausgang.
3.
Institutionelle Degeneration und der Roman
Das Schwinden stabiler Erwartungen im Wechselspiel zwischen Institutionen und Personen kann man sich heute in den unterschiedlichsten Bereichen – in der Politik, der Bürokratie, den Universitäten – ansehen. Die Personen nehmen das Schwinden zunächst vornehmlich als die eigene gesteigerte Unsicherheit mit entsprechenden inneren Turbulenzen wahr. Im diffusen Bereich der Kultur übernehmen daher wiederum andere Medien die theoretisch immer schwieriger werdende Aufgabe überzeugender menschlicher Selbstinterpretation. Eine Zeitlang werkeln sie auch an suggestiven Bildern gesellschaftlicher Wirklichkeiten herum, deren Totalität sich ebenso wie der Mensch einer umfassenden Theorie mehr und mehr entzieht. In Einzelfällen mag es Personen gelingen, Unsicherheit in megalomanische Dispositionen umzumünzen und diese sich selbst wie auch Anderen als beeindruckendes Selbstbewusstsein zu verkaufen. Die ‚Romantiker‘ haben diesen Balanceakt als kulturelles Modell wohl zuerst inszeniert; ihre Vertreter haben sich dafür etwa den Titel „the egotistical sublime“ eingehandelt. Für diese Selbstinszenierung zahlte nicht nur Wordsworth, auf den H. J. F. Jones das Etikett pointiert anwendet, sondern noch mehr die anderen (nicht nur) englischen Romantiker einen hohen Preis.7 Es ist dabei alles andere als ein erhabenes Ich herausgekom6 Dazu aufschlussreiche Materialien in Duchkowitsch, Wolfgang/Jausjell, Fritz/Semrad, Bernd (Hrsg.): Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Zeitungswissenschaft, Münster 2004. Für dieses Buch und weitere Hinweise danke ich Horst Pöttker. 7 Vgl. Jones, Henry J. F.: The Egotistical Sublime. A History of Wordsworth’s Imagination, London 1954. E. P. Thompson hat das Schwanken etwa von
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men. Als Modell für die Zukunft blieb es bestenfalls zwiespältig, schlimmstenfalls katastrophal. (Ein solches pauschales Bild muss üblicherweise zumindest differenziert werden. Das soll im letzten Abschnitt geschehen.) Im (wiederum beispielhaft gewählten) englischen Roman des 18. Jahrhunderts gerinnen hingegen die Spannungen zwischen schwer traktierbarer Komplexität und Subjekten zur zeitweilig viel versprechenden Form diskursiv enorm flexibler und doch geordneter Netze. Dafür waren die vergleichsweise einfachen Handlungsmuster des Dramas, dafür waren auch die lyrischen, später durch die romantischen Übersteigerungen ohnehin etwas diskreditierten subjektiven Sprecherrollen weniger geeignet. Der gleichsam philosophische Anspruch der Lyrik, wie er in Deutschland speziell von Schiller, in England im späteren 19. Jahrhundert von Tennyson, Browning oder noch Meredith gepflegt wurde, bot dafür keinen zureichend dynamischen Ersatz. Vielmehr wirkt die philosophische Lyrik vor allem bei Tennyson und Browning wie eine Flucht vor der Pathologie der Subjektivität, in welche die individuellen Sprecherrollen ihrer früheren Gedichte abzugleiten drohte. In England kam vor allem der industrielle Modernisierungsschub schnell voran. Seine unübersehbaren sozialen Folgen hat vor allem Friedrich Engels dokumentiert. Seine wichtigsten Bilder bietet freilich Charles Dickens, in dessen Romanen Interaktionen und Konflikte, Chancen und Katastrophen im Dreieck von verunsicherten Personen, veralteten Institutionen und aggressiven Systemen nicht nur die imaginativ eindrucksvollste, sondern auch eine informativ nicht zu unterschätzende Gestalt gewinnen. In manchen Hinsichten ist Dickens der beste Soziologe seiner Zeit; in anderen ihr schlimmster Medienmanipulator. Stärker als Dickens versieht – korreliert und konfrontiert – der so genannte realistische und naturalistische Roman die schwankenden Bilder subjektiver Innerlichkeit mit institutionell-systemischem Gegenhalt. Ähnlich wie bei Dickens lebt freilich jenseits derartiger Anpassungsleistungen die „wilde Ontologie“ der Phantasien weiter. In diesem Sinne gehören auch die Realisten und Naturalisten zu dem, was Gustave Thibon Wordsworth und Coleridge zwischen abstrakter Spekulation, demokratischen Impulsen und deren selbstmanipulativer Tilgung hervorgehoben. Thompson, Edward Palmer: The Romantics. England in a Revolutionary Age, New York 1997. Aufschlussreich, da Wordsworth und Coleridge auch zur indirekten Selbstreflexion einer Romanautorin des späten 20. Jahrhunderts dienen: Byatt, A. S.: Unruly Times. Wordsworth and Coleridge in their Time, London 1997. Die Fälle Byron und Shelley bedürfen im Blick auf das Thema „egotistical sublime“ keiner weiteren Erörerterungen.
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„l’irréalisme moderne“ genannt hat: den Zwang, sich Bilder und Vorstellungen von allen möglichen Sachverhalten zu machen, über die man nicht (mehr) genügend weiß und nicht genügend wissen kann.8 Man kann daher heute sagen, dass der Roman des 19. Jahrhunderts bei aller Komplexität Innerlichkeitsmuster fortschreibt, für die es – in dem Sinne, in dem T. S. Eliot Hamlet kritisiert hat – kaum ‚objective correlatives‘ gibt. Schon für reflexionsbewusste bzw. -geplagte Lyriker des 19. Jahrhunderts schrumpft das ‚egotistical sublime‘ der Romantiker zu einem Innenleben, das man in der eigenen Brust begraben muss. Man kann es nicht einmal mehr der geliebten Person, geschweige denn systemischen und institutionellen Repräsentanten mitteilen (vgl. Matthew Arnolds „The Buried Life“). Der Roman des 20. Jahrhunderts kann daher eigentlich nur noch ‚Reduktionsformen der Subjektivität‘ (W. Iser), Figuren ohne Eigenschaften gebrauchen. Bestimmte Eigenschaften oder gar Identitätsentwürfe, sofern sie Relevanz- und Repräsentativitätsansprüche erheben, wirken zwangsläufig wie unangemessene, dogmatische Setzungen. Wozu aber sollte man auf Dauer Romane lesen, welche solche Ansprüche nicht mehr erheben können? Die Variation der Reduktionsformen und Eigenschaftslosigkeit erschöpft sich jedenfalls relativ schnell. Krisenfester ist da allenfalls der Kriminalroman, weil hier weniger subjektive Sinnbedürfnisse als vielmehr spannungsverpackte Informationen im Vordergrund stehen. In gewisser Weise hat das Medium ‚Romankunst‘ also geschichtliches Pech. Kaum wird der Roman endlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als ein auch der traditionellen Ästhetik würdiger Gegenstand anerkannt, kommt ihm im Blick auf seine Hauptfunktionen der Film in die Quere. In der allenfalls bei starkem Überziehen einer Art Botschaftsträchtigkeit auch der Bilder hinterfragbaren visuellen Dynamik des Films spielt das sprachliche Aushandeln der Positionen zwischen Personen und zwischen Personen und Realitäten im Normalfall nur eine zweitrangige Rolle. Wird das Aushandeln (scheinbar) wirklich thematisiert, gewinnt es im Blick auf Personen wie bei Woody Allen fast unweigerlich komische, im Blick auf Personen und Realitäten oft genug melodramatische Züge. Das Bewegungs-Bild des Films bietet sich (für Gilles Deleuze) in den drei Spielarten des Wahrnehmungs-, Aktions- und Affektbildes, bei de8 Zit. bei Freyer, Hans: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 111. Zur wilden Ontologie der Realisten und Naturalisten vgl. Warning, Rainer: Die Phantasie der Realisten, München 1999, vor allem S. 240-268 zu Zola.
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nen selbst in ihren Krisen die phänomenale Eindringlichkeit, nicht ihre semantisch-diskursiven Beziehungsmöglichkeiten im Vordergrund stehen. Wie der Roman wird auch der Film zunächst in Debatten um Kunst und Kulturwerte hin und her gezerrt. Im Blick auf mein Thema steht er jedoch vor einer ganz andere Herausforderung: Viel stärker als beim Roman, durch den das Buch vollends zum normalen psychokulturellen Medium wird, präsentiert sich der Film als die an sich unwahrscheinliche, aber in den bewegten Bilden umso unwiderstehlichere Fusion von Technologie und Imaginärem. Das heißt: Von nun an müssen Kulturdebatten auch, und bald vornehmlich, als Mediendebatten geführt werden.
4.
Bedeutungsvolle Medien?
Es lassen sich, wie gesagt, Perioden intensiver Interpretationstätigkeit, des unbedingten Verstehen- und Erklärenwollens von anderen, damit weniger ausgelasteten unterscheiden. Gelegentlich mag man den Eindruck gewinnen, als ließen sich damit ganze Kulturen voneinander unterscheiden. Gibt es etwa fernöstliche Hermeneutiken, und wenn ja, welche? In den letzten 20 Jahren scheint es jedenfalls auch dem Westen schwerer zu fallen, sich gegen das Diktum Baudrillards zu stemmen, wonach die Dinge einen Weg gefunden haben, der ihnen langweilig gewordenen Dialektik des Sinns zu entfliehen. Aber auch wenn man der „Privilegierung der semantischen Dimension“ (M. Frank) abschwört, bleiben die Dinge und Ereignisse in vielfacher Hinsicht bedeutungsvoll. Konrad Lorenz hat vermutet, wir könnten die Abwesenheit jeglicher Bedeutung und die Allmacht beliebiger Manipulierbarkeit schlecht ertragen und suchten daher immer nach offenen oder versteckten Bedeutungen oder zumindest dem irgendwie Bedeutungshaften.9 Denkt man an die elektrochemische Tätigkeit des menschlichen Gehirns, durch die aus dem sinnlosen Feuern der Neuronen unweigerlich Bedeutungen zu entstehen scheinen, so dürfte es schwierig sein, eine gewisse Bedeutungsaufladung selbst bei den vielfältigen Formen des stummen Wissens, der ebenso routinisierten wie kunstvollen performativen Fertigkeiten, der Kennerschaft und dergleichen zu vermeiden.
9 Vgl. Baudrillard, Jean: Die fatalen Strategien, München 1985, S. 7; Frank, Manfred: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten franzöisischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt a.M. 1980, S. 9; Lorenz, Konrad: Der Abbau des Menschlichen, München 1983, S. 21. Vgl. allgemein und auch zum Folgenden Polanyi, Michael: Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy, New York/Evanston 1964.
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Über sie hat sich ein anderer Polanyi, Michael, ausführlich und eindringlich in seiner ‚postkritischen‘ Philosophie geäußert. Dieses oszillierenden Bereichs bedeutungsvoller, aber nicht mehr präzise semantisierbarer Prozesse bemächtigen sich die neueren Medien. In ihrem Zentrum stehen daher, das Kino-Buch von Gilles Deleuze hat das sehr schön gezeigt, die suggestiven Bilder. (Daneben behält die Musik ihre mit dem Nervensystem sehr direkt gekoppelten wichtigen Funktionen, kann deren Wichtigkeit vielleicht sogar noch steigern, indem sie Personen gegen unerwünschte Wirklichkeiten teilweise abschirmt.) Die Bilder machen sich die Tatsache zunutze, dass wir referenz- und ausdrucksorientierte Semantik und semantisch zunächst neutrale, da material und verfahrensmäßig bestimmte Technologien nicht scharf trennen können. Attraktive Bild-Ton-Kombinationen etwa beuten unser Dilemma aus, dass Kommunikativität, kommunikatives Verhalten und ästhetischer Appeal, ‚Ansprechbarkeit‘ auf der einen und Bedeutungen auf der anderen Seite zwar immer wieder überlappen, aber beileibe nicht mehr zusammen fallen.
5.
Materialität und die Surrogate der Präsenz
Wie aber nähert man sich solchen Verhältnissen? Zunächst bleibt festzuhalten, dass in der Welt zwar genügend Katastrophen passieren, manchmal auch positiv packende Geschehnisse vorkommen, dass aber selbstreferenzielle Systeme selbst zumeist aus „ereignisverdünnten Räumen“ bestehen.10 Solchen Räumen fehlt es an imaginär attraktiver Sättigung, an eindrucksvollen Erscheinungen und emphatischer Gegenwärtigkeit. Schon deshalb ist es eine offene Frage, bis zu welchem Grade die neueren Medien sich selbst als System organisieren können, ohne ihre Chancen faszinierender Kreativität zu verspielen, ohne ihr Potenzial kultureller Präsenz und momentaner Evidenz aufzugeben. Zwar brauchen wir alle aktive wie passive Medienkompetenz. Aber damit ist der psychokulturelle Bedarf an „Produktionen der Präsenz“ (H. U. Gumbrecht, vgl. Anm. 1) nicht zureichend zu decken. An dieser Stelle erlaube ich mir, Wissenschaftsautobiogaphisches etwas ungebührlich in den Vordergrund zu schieben. ‚Materialität der Kommunikation‘11, das war einmal ein Programm, welches die reduktive 10 Zu diesem Begriff und weiteren Beschreibungen vgl. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 44-56, hier: S. 45. 11 Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988 (2. Aufl. 1995), hier vor allem meine
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Festlegung auf Mediensysteme und deren soziale Funktionen vermeiden und die ‚Kreativität‘, das heißt die suggestiven bedeutungsvollen Leistungen einer provokanten bis anarchischen Vielfalt material-medialer (d.i. auch technologischer) Dimensionen in Künsten und eben Medien einklagen wollte. Ein Ausgangspunkt war das Anliegen, nicht zum Gefangenen von McLuhans Dilemma zu werden. McLuhan wusste, dass die eigentliche Kraft der Medien nicht im Einzelmedium, in der einzelnen Technologie steckt. Ihn beeindruckte, lange bevor der Begriff in Mode kam, die Hybridität der Medien, das heißt das Sich-Hochschaukeln medialer Energie in einem ständigen Prozess, in welchem ein Medium als Inhalt eines anderen in dieses eingeht. Der Inhalt der Schrift, so lautete etwa die Formel, ist die gesprochene Sprache, so wie das geschriebene Wort der Inhalt des gedruckten ist. In einem solchen Verbund werden einzelne Prozesse enorm erweitert und beschleunigt. Die Eisenbahn etwa führte die auf dem Rad basierende Bewegung und den entsprechenden Transport nicht in die menschliche Gesellschaft ein. Aber sie erweiterte die betreffenden Funktionen gewaltig. Es entstanden neuartige Städte, Arbeits- und Freizeitformen. Trotz dieses erregenden Bildes einer offenen Dialektik von Medium und Inhalt (man könnte auch sagen: von Schichten der Materialität und Medialität) offerierte McLuhan eine verwirrende Vielzahl von heterogenen Medien. Er traktierte sie überwiegend als offenbar leicht zu identifizierende Einzelmedien, auch wenn binnenmediale und, in seinem Sinn, inhaltliche Schichtungen unverkennbar waren. So blieb mehr als offen, ob man etwa den Film für den ‚Inhalt‘ des Fernsehens halten sollte. Und was genau wäre der Inhalt des Films? Gegenüber dieser mechanischen und dann doch aus dem Ruder laufenden wiederholten Kopplung von Medium und Inhalt setzte der Ansatz ‚Materialität‘ auf ein abstraktes, und daher vielfältig formierbares Potenzial jeder material-technologischen Dimension. Schon McLuhans Vorgänger Harold Innis sah nach dem mühseligen Studium der von Stein, Papyrus, Ton, Pergament und Papier ‚geprägten‘ Kommunikationsverhältnisse ein, dass sich material-mediale und psychokulturelle Formen des Wandels auch dann nicht streng verknüpfen lassen, wenn man jeder dominierenden material-medialen Schicht eine bestimmte kommunikaEinleitung „Materialität der Kommunikation?“, S. 15-28. Vgl. auch den weiter unten kurz erwähnten Band Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991.
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tive ‚Drift‘ (bias) zugesteht. Er gab der zu seiner Zeit noch nicht existierenden Medienwissenschaft die Empfehlung mit auf den Weg, nicht zu vergessen, dass selbst Professoren und Studenten vorläufig noch Wesen aus Fleisch und Blut sind. Der Ansatz ‚Materialität‘ nimmt daher die gleichsam objekt-artige oder gar objektiv erscheinende Gegebenheit eines so genannten Mediums nicht einfach hin. Die Intensitätsgrade materialer Prägekraft variieren beträchtlich. Daher muss sich dieser Ansatz auch keine bestimmte Version der Medien(r)evolution zu eigen machen, auch wenn es natürlich beispielsweise Übergänge von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von da zur ‚Technologisierung‘ des Wortes (W. J. Ong) gibt. Die geschichtliche Spannweite vom alten Ägypten bis zur modernen Simulation, die der Band Materialität der Kommunikation wenn nicht in den Griff, so doch in den Blick zu nehmen versuchte, mag chaotisch anmuten. Aber wenn man das Vertrauen in material-medialer Relevanz mit dem Misstrauen vermeintlicher Mediengegebenheit verbindet, dann fällt vor allem die vielstufige Schichtung dessen auf, was man von biologischen Dispositiven bis hin zu Schreibgeräten und (im)materialer Elektronik und -technik, vom Tanz des Körpers bis zum ‚Fleisch‘ des Wortes als material medial bezeichnen kann. Unter den Begriff einer Materialität der Kommunikation sollten also all jene Phänomene und Bedingungen fallen, die insofern bedeutungsvoll, suggestiv sind, als sie zur weiteren Bedeutungserzeugung beitragen können, selbst aber keine bestimmten Bedeutungen tragen. Dafür gab es eine Reihe von Vorläufern oder gar Vorbildern. Die Rezeption Walter Benjamins schwankte seit einiger Zeit zwischen dessen marxistischen Perspektiven und einer davon anscheinend weitgehend unberührten Vorliebe für die physische Suggestivität kultureller Objekte. Die revolutionär anmutenden Arbeiten von Friedrich Kittler schienen den langen Arm von Schreib-, Erziehungs- und anderen Technologien mit dem gleichzeitigen Aufheizen psychischer Energien (etwa in der Psychoanalyse) und ihrer Eliminierung bzw. Irrelevanz (in der Herrschaft der Technologien selbst) zu verbinden. Schließlich waren, in verschiedenen Varianten, erst das Verschwinden, dann die Wiederkehr des Körpers und seiner (mit oder ohne McLuhan verstandenen) Extensionen angesagt. Auch die Systemtheorie ließ sich, wie es eine Zeitlang schien, materialitätstheoretisch eingemeinden, weil sie der Hegemonie hermeneutischer und ideologiekritischer Verfahren Einhalt gebot. Letzteres freilich änderte sich schnell, weil die Systemtheorie bald überall Sinn, wenn auch keinen in den älteren Weisen zu privilegierenden entdeckte.
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Und doch ist nur allzu klar, dass auch dem Materialitätsansatz keine zureichend kohärenten Perspektiven zu entlocken waren. Die daran Beteiligten verlegten sich, als sie nicht mehr weiter wussten, auf Paradoxien, Dissonanzen, semantische und andere Zusammenbrüche, das heißt auf die bruchartigen, oft wohl doch über Gebühr vernachlässigten Spannungen in Diskursen, Theorien, Kunstwerken und selbst der so genannten Realität. Zu diesem Thema fand 1990 eine Konferenz, erneut in Dubrovnik, statt. Ein paar Monate später holte die Realität die Konferenz ein, Dubrovnik wurde bombardiert. Man hätte es ahnen können, zählte zu den Zusammenbrüchen der Konferenz doch auch die ‚Klarheit des Tötens‘ in der korsischen Blutrache.
6.
Begrifflich-methodologische Logik – wohin?
War das Unternehmen also von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen? „‚Matter doesn’t exist‘, said Berkeley, who suffered terribly from diarrhea.“ Diesen aus J. O. Wisdoms [!] The Unconscious Origin of Berkeley’s Philosophy (1953) entnommenen Witz hatten Jean-François Lyotard und Andere in Les immatériaux zitiert.12 Auch dieses Unternehmen hatte sich zunächst an der Relevanzbestimmung aller möglichen materialen Aggregatszustände versucht. Als man jedoch bemerkte, dass die neuen Technologien mindestens ebenso sehr Verteilungs- wie Produktionstechnologien waren, änderte sich die Orientierung schnell: Die schöne neue Welt der Kommunikation bestand, wie es schien, vornehmlich aus immateriellen Elementen. Daneben schatten sich aber auch und weiterhin andere Geschichten ab. Mit dem Sturz der Semantik landet man nicht in bloßer Materialität; das Schwinden der Materie seinerseits verhilft nicht einfach der Immaterialität zur Herrschaft. Vielmehr waren nun bei Lyotard und Konsorten neue, im Englischen vielleicht sites, im Französischen supports zu nennende Unterscheidungen zwischen (nahezu) immateriellen Effekten und ihren materialen Unterfütterungen gefragt. Das Überangebot an immateriellen Bildern inszenierter Körper in Künsten wie dem Tanz oder dem Sport provoziert die Frage nach ihrer – anthropologisch erweiterbaren – kulturellen Rolle.13 Auch wenn TV-Geld und die entsprechenden Anforderungen ihren Ablauf weitgehend bestimmen, finden etwa die Olympi12 Lyotard, Jean-François (Hrsg.): Les Immatériaux (Epreuves d’écriture. Album. Inventaire), Paris 1985, S. 130. 13 Vgl. Lyotard (wie Anm. 12), S. 19, 26 f. Zu denken ist auch an eine Reihe von Fast-Kehrtwendungen Baudrillards.
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schen Spiele nach wie vor ‚wirklich‘ statt. Das allgegenwärtige Doping lässt sich auch und sogar vornehmlich als Versuch verstehen, die Realität der Leistung auf einer anderen als der medialen, vorläufig bei allen Exzessen wohl kaum als nur künstlich zu bezeichnenden Ebene zu steigern. Solange der gentechnische Sprung nicht vollzogen ist, gilt Mc Luhans Metapher von den Erweiterungen des Menschen, dem zu keiner Zeit eine Form selbstverständlichen Gegebenseins zu unterstellen ist. In solchen Rückkopplungsschleifen zwischen Medien (Technologien) und jeweils neu zu unterstellenden, jeweils aber auch irreduziblen Formen des Menschlichen hilft McLuhans Unterscheidung zwischen Medium und Inhalt nicht mehr weiter. Eine ähnliche und doch gleichzeitig ganz andere, weil dynamischere Unterscheidung zwischen Medium und Form gewinnt im Gegenzug eine produktive Reichweite. Der Psychologe Fritz Heider führte sie 1926 ein, Niklas Luhmann nach langer Latenzzeit weiter. Der Begriff des Mediums meint hier eine lose, der Begriff der Form eine darauf unter verschiedenen Bedingungen aufbauende feste Kopplung von Elementen. (Erst auf der Basis dieser ‚Dialektik‘ könnte man dann auch wieder von Inhalten reden.) Man kann Geräusche, Sichtbares, Schneeflocken usw. als Medium bezeichnen und beobachten, welche Präferenz- und Prägnanzformen sie bilden. Einmal gebildete Formen dienen dann als Medium für weitere Formprägungen. Daraus entspringt ein nicht still zu stellender Prozess der Medialisierung. Dessen Analyse macht nicht bei dem Halt, was das ökonomisch-technische System den Konsumenten jeweils als Medium aufdrängt. Solche Medienprodukte können nur als Abhub, Sedimentierung weitaus vielschichtigerer Medien-Form-Schichtungen gelten, die ihrerseits auf ein zwar wandelbares, aber nicht auf den jeweiligen Status quo von MedienForm-Beziehungen reduzierbares menschliches Potenzial, auf Formen menschlicher Inszenierung vornehmlich als nichtsubstantialistische Selbstinszenierung verweisen. Angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten erzeugt man damit, so scheint es, zunächst nur eine weitere, eine womöglich selbst McLuhan übertreffende Konfusion. Ein bereits von Lyotard unternommener und oben gerade angedeuteter Versuch der Gegensteuerung besteht darin, den menschlichen Körper und seine Inszenierung jenseits von Integrität (oder gar Authentizität) und Manipulation im Spiel zu halten. Lyotard spricht von einer neuen Performativität der Dinge und der Körper. Er folgt nicht jenen Verfechtern der künstlichen Intelligenz, die da glauben, man könne Denken und Körper trennen. Die heutige Hirnforschung, die entschlossen vom Computermodell des Gehirns abrückt, gibt ihm da sicher Recht. Der
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Körper schon der einfachsten Organismen seinerseits ist immer auch Produkt von Körpertechnologien.14 Wenn man also den Computer zum Modell eines gegenwärtigen Hypermediums erklärt, wird man an die Art der Aufmerksamkeitssteigerung als Aktivitätsreduktion denken müssen, zu welchen er die Personen zwingt. Man wird darüber nachdenken müssen, in welchen Präferenzformen Menschen gerade deswegen nach wie vor miteinander reden. Mit anderen Worten: Es wird immer einen systematischen Stellenwert für das geben, was Eric Havelock als die Medienromantik von Harold Innis bezeichnet hat. Ein älteres, aber kaum aus den Angeln zu hebendes Modell einer operationalisierbaren Medienromantik, die ich heute als Medienanthropologie bezeichnen würde, hat André Leroi-Gourhan ebenfalls schon vor längerer Zeit geliefert.15 Leroi-Gourhan beharrt darauf, dass Medien und Technologien unser Imaginäres bis in seine muskulären und viszeralen Schichten ansprechen müssen, wenn sie psychokulturell langfristig (und nicht nur ökonomisch kurz- bis allenfalls mittelfristig) erfolgreich sein wollen. Neutraler, aber doch in einer ‚menschlichen‘ Form der Systemtheorie hat James Grier Miller 1978 die Berücksichtigung von ‚coping devices‘ angemahnt: Eine Reihe von Technologien (wie etwa der Anrufbeantworter und seine gegenwärtigen Formen) würden erfunden, um die psychophysisch stressigen, weil allzu hegemonialen Wirkungen anderer Technologien zu bremsen.16 In der flow-Theorie optimaler Erfahrung von M. Csikszentmihalyi mischen sich daher extrem körpergebundene Aktivitäten wie Bergsteigen mit zumindest teilweise sehr stark technologieabhängigen ‚Operationen‘ (wie medizinischen Operationen) und mentalen Prozessen wie denen beim Schachspiel. Freuds Hauptirrtum, so An14 Lyotard, Jean-François: „Ob man ohne Körper denken kann“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 813-829. 15 Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980 (Le geste et la parole. I: Technique et language, II: La mémoire et les rythmes, Paris 1964-1965; amerikanische Ausgabe Gesture and Speech, Cambridge, Mass. 1993). 16 Vgl. Miller, James Grier: Living Systems, New York 1978. Zu den im Folgenden genannten Autoren vgl. Winnicott, D. W.: Playing and Reality, London 1971; Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. The Psychology of Optimal Experience, New York 1990; Storr, Anthony: Music and the Mind, London 1992; Borch-Jacobson, Mikkel: Lacan. The Absolute Master, Stanford, Cal. 1991; Foucault, Michel: Histoire de la sexualité. 3 Bde., Paris 1976-1984; Reemtsma, Jan Philipp: Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali, Stuttgart 1995; Gumbrecht, Hans Ulrich: In 1926. Living at the Edge of Time, Cambridge, Mass./London 1997.
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thony Storr, bestand folglich in der Annahme, dass die Menschen ihre psychophysischen Dispositionen letztlich in Ruhelage, nicht in erregende Bewegung versetzen wollen. Am Beispiel der Musik macht Storr gleichzeitig modellhaft ein Medium namhaft, dessen Erregungspotenzial intensiv, aber selten schwer zu ertragen ist. Damit – nicht mit dem Nervositätspotenzial vieler anderer Medien – hat es eine Medienanthropologie zu tun. In dieser Hinsicht bleibt ein systematisch anschließbares psychoanalytisches Modell wie jenes von Lacan material ambivalent. Wie Borch-Jacobson gezeigt hat, unterstellt Lacan, dass der menschliche, aus der körperlich-personalen Ganzheitsillusion resultierende Narzissmus prinzipiell nicht durch Formen eines medial-technologischen Narzissmus überbrückt, aber doch vorübergehend befriedigt werden kann. Es erstaunt daher wohl kaum, dass Hans Freyer in seiner Theorie des gegenwärtigen Zeitalters schon 1955 mit einem variablen, aber irreduziblen, sowohl in die Technologien eingelagerten wie auch gegen sie agierenden menschlichen Energie- und Aktivitätsüberschuss rechnet. Auch wenn dieser Überschuss von Medien und Technologien vorgeformt wird, bedarf es einer medienanthropologischen Neuauflage der diskursanthropologischen Wende, die Foucault in seiner Spätphase, vor allem im letzten Band (Le souci de soi) der Histoire de la sexualité vollzogen hat. Foucault drückt an dieser Stelle die von ihm gewohnten ‚harten‘ Begriffe wie Macht und Dispositiv (sowie die harte Version des Diskursbegriffs selbst) in den Hintergrund. Stattdessen widmet er sich den Implikationen dessen, was er eher tastend als „culture de soi“, „souci de soi“, als Stil oder gar Stilistik der Existenz umschreibt.17 Die Modelle der Alten haben, wie es scheint, in dieser Hinsicht keineswegs ausgedient. Einfach übernehmen lassen sie sich natürlich auch nicht. Aber eine sowohl mit Körper- und Psychotechniken wie Medien und Technologien rechnende Anthropologie könnte sie beispielsweise in die „kleine anthropologische Spekulation“18 einbauen, mit der Jan Philip Reemtsma sein Buch über Muhammad Ali beendet – oder auch, in wiederum deutlich anderer, für die vorliegenden Zwecke zu reichhaltiger Dimensionierung, in das psychophysische wie mediale Netzwerk, in welchem Hans Ulrich Gumbrecht das Boxen (und sehr viel mehr an mehr oder weniger analogen ‚Phänomenen‘) der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts einfängt. Reemtsma unterscheidet einen älteren Typ des ‚assoziierten‘ vom modern(er)en des ‚balancierten‘ und vom modernsten des ‚dissoziierten‘ Individuums. Die Odyssee bietet das erste kulturelle westliche Doku17 Foucault (wie Anm.16), S. 56-58, 89, 188, 191, 273. 18 Reemtsma (wie Anm. 16), S. 156-168.
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ment, in dem das balancierte (vor allem Odysseus selbst) das stammesund ritualregulierte Individuum ablöst. Die Balance muss, auch im Sinne des obigen Modells von Personen, Institutionen und Systemen (vgl. Kap. 2, 3), zu einem Teil von den Individuen selbst geleistet werden. Es fragt sich daher, was diese Balance jeweils kostet. Sie lohnt sich nicht immer – Abälard lässt sich als frühes Beispiel dafür deuten. In der Gegenwart taucht daher der Typ des dissoziierten Individuums – zum ersten Mal wohl in auffälliger Form – auf. Dieses Individuum verliert sich nicht in archaischer Regression, sondern kalkuliert mit allen mobilisierbaren Beständen. Dazu zählen freilich verstärkt jene, die man als archaisch zu bezeichnen sich notgedrungen angewöhnt hat. Dazu gehört aber auch ein ‚avanciertes‘ kulturell-mediales Repertoire. Für alle drei Typen gibt es dominierende und (eher) oppositionelle Formen. Das dissoziierte Individuum hat Proteus zum Arche- und den Psychotiker zum Gegentyp. Proteus kann auch, wie in Woody Allens Zelig, die Rolle des balancierten Individuums spielen. Ali präsentiert womöglich die Kombination von Proteus und Psychose in Form der Megalomanie (vgl. dazu auch oben Kap. 3). Auch diese, eine postromantische Form hat offenbar ihren Preis. Wenn Foucault – wohlgemerkt vor aller gegenwärtigen Biotechnologie – den griechischen Begriff ‚technƝ tou biou‘ anführt, um ihn in eine Stilistik der Existenz zu überführen, so muss Ali wohl oder übel auf die Fortschritte der heutigen Biotechnologie warten, die ihm das Parkinson-Los vielleicht irgendwann noch entscheidend erleichtern kann. Aber auch die heutige Biotechnologie wird das Bedürfnis nach ‚medienkompetenter‘, aber nicht nur mit Medien, sondern mit Körpertechniken und körpergebundenen Psychotechniken operierender Selbstkultur nicht stillen. Das ist die Lektion, die man mit Huxleys Brave New World gelernt haben sollte. Dort hat die Biotechnologie diesen Bedarf für die meisten Insassen dieser Welt zwar abgeschafft. Aber die Organisatoren dieser Abschaffung, die Weltkontrolleure und ihre leitenden Angestellten, können den Zwang zur Selbstkultur gleichwohl nicht abschütteln. Offen bleibt nur, inwieweit man beispielsweise Shakespeare oder selbst weniger erregende Monumente der literarisch-medialen Tradition noch dafür brauchen kann.
KANICHIRO OMIYA
DAS PSYCHISCHE ALS MEDIUM DER INSTITUTION KOSAWA HEISAKUS UMBILDUNG DES ÖDIPUSKOMPLEXES 1.
Kosawas Theorie des Ajase-Komplexes. Seine Entstehung und Entwicklung
Der erste praktizierende Psychoanalytiker in Japan, Kosawa Heisaku (1897-1969), der zeitweilig in Wien direkt bei Sigmund Freud lernte, ist als Namensvater des Ajase-Komplexes bekannt, den er als therapeutisches Erklärungsmodell für das Mutter-Sohn-Verhältnis im buddhistischen Kulturkreis, insbesondere im ,modernen‘ Japan, postulierte. Von 1932 bis 1933 erhielt Kosawa in Wien eine psychoanalytische Ausbildung. Im Laufe des Studiums bekam er die Idee, eine ostasiatische oder japanische Entsprechung für den Freudschen Ödipuskomplex zu entwerfen. Er schrieb ein Referat über „Zwei Arten des Schuldbewusstseins“ und gab dies Freud, der darauf jedoch nicht reagierte. Darin findet sich die erste Gestalt seiner Theorie des Ajase-Komplexes, dem eine buddhistische Lehrgeschichte zugrunde liegt. Kosawa beschäftigte sich weiter mit der Theoretisierung bis in die 1950er Jahre, wobei er aber die Quellengeschichte teilweise frei modifizierte. Die Geschichte von Ajase findet sich in verschiedenen buddhistischen Lehrsammlungen (Sutras), insbesondere im Nirwana-Sutra (auf Japanisch: nehan-kyo), welches die Rettung der einfachen Gläubigen in unkompliziertem Stil darstellt, jedoch seit der Entstehung im 2. Jahrhundert von verschiedenen Händen immer weiter mit Zusätzen ergänzt worden ist, weswegen man nicht feststellen kann, wie die Geschichte um Ajase in ihrer ursprünglichen Gestalt war. Die schlichteste Überlieferung über diese historische Person lautet:
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KANICHIRO OMIYA Geschichte 1 Ajase, korrekter: Ajatasatru, d.h. wörtlich: derjenige, dessen Feind noch nicht geboren ist, und der deshalb unbesiegbar ist, war König im alten Indien im Zeitalter von Buddha. Weil er aber seinen Vater Binbisara ermordet hatte, um dessen Königreich zu usurpieren, wird sein Name auch gedeutet: der bereits vor der Geburt Rachsüchtige. Von der Vorgeschichte dieses Vatermords ist im Nirwana-Sutra überliefert: Dem König Binbisara, der sich um seine Kinderlosigkeit sorgte, sagte der Weissager, er werde einen Sohn dann bekommen, wenn der heilige Eremit im Berg sterbe. Der Prinz sei dessen Wiedergeburt. Der König, der dann nicht länger warten konnte, ließ den Eremiten ermorden, der aber im Sterben den König verwünschte und drohte, er töte ihn, wenn er wiedergeboren werde. Sein Name sei die Rachsucht vor der Geburt (japanisch: misyo-on).1
Wenn es sich so verhält, wie gerade geschildert, ist die Geschichte um den Vater Binbisara und den Sohn Ajatasatru nichts als die eines SchuldBuße-Zusammenhangs von Mörder und Ermordetem. Man kann hierin zwar das ambivalente Vater-Sohn-Verhältnis suchen, aber von einem Mutter-Sohn-Verhältnis kann keine Rede sein. Diese Geschichte hat Kosawa jedoch zu einer anderen Variante umgestaltet, die aus seinen eigenen Erdichtungen zusammengesetzt ist: Geschichte 2 Die Königin Idaike war es, die nach der Weissagung ungeduldig den Eremiten tötete, um den Sohn zu bekommen, weil es ihr wegen der welkenden Schönheit um die Liebe des Königs bange war. Als nun der Sohn Ajatasatru später von Daibah-Dattah, der Buddhas Sekte usurpieren wollte, über die Geschichte um seine Geburt erfuhr, wurde er rachsüchtig und kerkerte seinen Vater ein. Er wollte ihn verhungern sehen. Weil aber die Mutter für ihren Mann heimlich Honig in den Kerker lieferte, blieb er lebendig. Ajatasatru, der dies erfuhr, verfluchte die Mutter und wollte sie töten, aber als er sein Schwert erhob, hinderte ihn einer seiner Untertanen daran, der meinte, in der Geschichte gebe es zahlreiche Vatermörder, jedoch keinen Muttermörder. Er würde eine unerhörte Sünde begehen, wenn er sie tötete. Ajatasatru hörte dies, tötete deshalb nur den Vater, kerkerte die Mutter ein und wurde selber König. Eines Tages fiel er plötzlich nieder und litt seitdem unter einem unheilbaren, furchtbar stinkenden Aussatz. Aus diesem Leiden wurde er 1 Nach Okonogi, Keigo/Kitayama, Osamu: Ajase Complex, Tokyo 2001, S. 91. In diesem Buch ist auch die japanische Fassung von Kosawas „Zwei Arten des Schuldbewusstseins“ (zaiaku ishiki no nisyu) enthalten. Vgl. S. 72-83. Alle Übersetzungen stammen, soweit nicht anders vermerkt, von Kan Omiya.
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erst durch seinen erneuten Glauben an Buddha gerettet. Der böse Daibah-dattah stürzte in die Hölle.2
Der Ajase-Komplex gliedert sich gemäß dieser zweiten, von Kosawa ausgearbeiteten Version in drei charakteristische Elemente: 1) der mütterliche Konflikt zwischen dem Wunsch, Kinder zu bekommen, und dem, das geborene Kind zu töten, d.h. die ambivalente Bedeutung des Kindes für die Mutter; 2) der Wunsch des Kindes, die eigene Mutter zu töten, als Rache für seine eigene befleckte Geburt und Herkunft. Ferner: die Verneinung seiner eigenen Existenz als Ergebnis der sexuellen Begierde der Mutter; 3) die Unterscheidung von zwei Arten des Schuldbewusstseins: Furcht vor Strafe (d.h. passives Schuldbewusstsein) einerseits, Reue nach der großzügigen Verzeihung (d.h. aktives Schuldbewusstsein) andererseits. Unter diesen dreien interessierte Kosawa vor allem der dritte, letzte Punkt, wie dies aus der Benennung seines Entwurfs in Wien: „Zwei Arten des Schuldbewusstseins“ ersichtlich ist. Dabei war für ihn wichtig, nicht nur dem passiven, sondern auch dem aktiven Schuldbewusstsein eine abstrakte, fast transzendentale Instanz zuzuerkennen, welche sich in ihrer Allgemeinheit von einer zwischenmenschlichen Verhandlung unterscheidet und dem Freudschen mythischen Schuldbegriff entsprechen könnte. Doch Kosawas Schüler Okonogi Keigo (1930-2003) ergänzte diese Kosawa-Variante mit anderen buddhistischen Quellen und ,vervollständigte‘ die Theorie des Ajase-Komplexes, allerdings nach seiner eigenen, bedenklichen Art. Seine Ergänzungen sind: Geschichte 3 1) Nach der verfluchten Geburt wollte die Königin Idaike doch das neugeborene Kind töten. Sie warf es von der Höhe des Palasts hin-
2 Kozawa, Heisaku: „Über die Geschichte von König Ajase (ajase ou no monogatarini tsuite)“. Nachwort zur japanischen Übersetzung von: Freud, Sigmund: „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (zoku seishinbunseki nyumon), in: ders.: Ausgewählte Schriften (huroito sensyu), Tokyo 1953, Bd. 3. Wiederaufnahme in: Okonogi/Kitayama (wie Anm. 1), S. 84-86.
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KANICHIRO OMIYA unter, aber es brach sich nur seinen Finger und überlebte (Motiv des Kindermords). 2) Den kranken Ajatasatru pflegte die Mutter voller Hingabe. Er bereute seine sündige Tat, versöhnte sich mit der Mutter und bekehrte sich erneut zu Buddha (Motiv der Rettung durch die Versöhnung mit der Mutter).3
Die Versöhnung des Sohns mit der Mutter, die ihn einst töten wollte, geht hier der Bekehrung zu Buddha voraus: Es ist nicht Buddha, sondern eben dieselbe Mutter, die dem Rachsüchtigen den Vatermord verzeiht. Diese Okonogi-Version stellt gleichsam die ewige Hegemonie der ambivalenten Mutter in der Familie dar, denn ihr gemäß ist es allein die Mutter, welche überhaupt die Konflikte in der Familie ins Fatale entwickelt und dieselben – allerdings erst nach dem Tod ihres Mannes (des Königs!) – auflöst. Dieser beinahe willkürlichen Ergänzung durch Okonogi liegen jedoch therapeutische Beobachtungen zugrunde, dass es in der Tat das Mutter-Sohn-Verhältnis ist, das in der modernen japanischen Familie am ambivalentesten ist und unter psychischen Konflikten am meisten leidet. Aus dieser Ambivalenz vermag der Sohn nur dadurch auszubrechen, dass er Schuld allein auf sich nimmt, und dies sogar als einzig mögliche Reaktion auf den (mehr oder weniger strategischen) Gestus der ,vollen Hingabe‘ mütterlicherseits, wogegen alle Widerstandsversuche nur sittlichkeitswidrig und ,unmenschlich‘ erscheinen müssten. Die Sache verhält sich also ganz anders als bei der Entstehung des passiven Schuldbewusstseins, wo die Strafbefugnis dem Vater vorbehalten ist und deswegen die mögliche Spannung zwischen Gehorsam und Widerstand stets präsent ist. Dieses Schema Okonogis entspricht der viel besprochenen Erklärung, dass in der japanischen Familie die symbolische Ordnung ,im Namen des Vaters‘ fehlt oder zumindest sehr schwach ist, und deshalb das imaginäre Mutter-Kind-Verhältnis auf Dauer herrscht. Mit anderen Worten hat Okonogi aus Kosawas ursprünglicher Idee einen anderen Familienroman, in dem weder die väterliche Autorität noch der Vatermord irgendeinen dramatischen Konflikt hervorrufen, entwickelt. Auch Kosawa wollte mit seiner Ajase-Theorie keineswegs die Eigenschaften der buddhistisch-japanischen Kultur überhaupt beschreiben, sondern eine Grundlage für seine klinische Tätigkeit schaffen, die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Japan praktizierte. Und er hat geglaubt, eine solche Grundlage in der buddhistischen Lehre, die ihm 3 Okonogi/Kitayama (wie Anm. 1), S. 6-7.
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noch aktuell zu sein schien, gefunden zu haben. Dabei wollte er diese Grundlage keineswegs mit der modernen japanischen Familienstruktur gleichsetzen, wie dies Okonogi tut. Der moderne, berufsmäßige Empirist Okonogi hat wahrscheinlich in der Gestaltung Buddhas durch Kosawa nur die Projektion der Mutterschaft in der japanischen Familie beobachtet. Aber bei Kosawa ist die Argumentation genau umgekehrt. Buddha steht bei Kosawa für eine solche Transzendenz, die nicht etwa durch Zusammensetzung und Vereinigung bereits vorhandener sittlicher Gewohnheiten in der Familie entstanden ist, sondern vielmehr jedem empirischen Familienleben und jeder menschlichen Umgangsform vorausgeht und ihnen überhaupt erst eine Ordnung gibt. Diese Einsicht verleiht Kosawas Theorie des Ajase-Komplexes eine ideengeschichtliche, und darüber hinaus eine medientheoretische Dimension. Als Kosawa die Instanz des aktiven Schuldbewusstseins in der asiatischen, vor allem buddhistischen Tradition suchte, hat er offensichtlich die Existenz einer metagenealogischen Ordnung als Überlieferungs- und Übertragungsmechanismus des aktiven Schuldbewusstseins angenommen, welche in dieser oder jener konkret vorhandenen Familie nur repräsentiert wird. Demzufolge ist die jeweilige Familie oder das jeweilig besondere familiäre Verhältnis von Vater, Mutter, Sohn, Tochter u.a. kein wirklich entscheidender, sondern nur ein Schein-Faktor des aktiven Schuldbewusstseins. In der genannten buddhistischen Lehrgeschichte soll nämlich die Urform der Entstehung des aktiven Schuldbewusstseins dargestellt werden. So betrachtet, erscheint es äußerst bedeutsam, dass im Mutter-Sohn-Verhältnis selber, das auch in Kosawas Version besonders hervorgehoben scheint, das Motiv der Rettung nicht zu finden ist. Die Verzeihung kommt nicht von der Mutter her, sondern von einem transzendenten Anderen, d.h. von Buddha, der als das Rettende stets außerhalb jedes Verhältnisses steht. Sowohl als Rezeption der Erzählung als auch als Interpretation der Lehre war Kosawas Umgang mit den Quellentexten gewiss nicht frei vom Verdacht, dass dieser doch selektiv oder sogar arbiträr sei. Aber hier geht es weder um die Beurteilung seiner psychoanalytischen Praxis noch um die Erwägung der Gültigkeit seiner theoretischen Annahmen. Vielmehr handelt es sich zuerst um die Bedingung der Entstehung einer Theorie des Ajase-Komplexes, nämlich darum, wie solche Theoretisierung zustande gebracht werden konnte und sollte und um ihre Tragweite in medientheoretischer Hinsicht.
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2.
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Das Psychische im Zeitalter der allgemeinen Medialisierung
Es ist kein Zufall, dass Kosawas Ajase-Theorie 1932 ihre erste Gestalt in der Wiener Berggasse bekam. Mit einem gewissen Zeitverzug erfuhr Japan in den 1920er Jahren eine (neu-)romantische Bewegung, genannt Japanische Romantik. Als Reaktion auf die rasche Modernisierung, durch die dreimaligen Erfolge bei Kriegen (d.h. 1894 gegen das chinesische Kaiserreich Ching; 1905 gegen das zaristische Russland und 1918 im Ersten Weltkrieg) und durch den Beitritt zu den Kolonialmächten (statt ein von der Kolonisierung bedrohtes Land zu bleiben) rückte die Diskussion um eine Aufwertung der japanischen Tradition oder des ,Japanischen‘ als Antipoden der euroamerikanischen Moderne in den Vordergrund. Weil aber diese Bewegung, die ja vor allem von den einst europhilen Intellektuellen betrieben wurde, selbst durch die Modernisierung und vor allem durch die technische Medialisierung bedingt und stark geprägt worden ist, sollte man sie nicht ohne weiteres als die Wiederkehr des traditionellen Bewusstseins bezeichnen. Ihre traditionsverbundenen Gesinnungen sind nämlich erst als Effekt des Auftretens der audiovisuellen Medien wie Grammophon, Fotografie und Film aufgetaucht, die ein sinnlich-imaginäres Verhältnis mit dem Schein der ästhetisierten Vergangenheit möglich machten. So entstanden war das Japanische eine durch das Andere vermittelte Imagination seiner selbst. Denn das geschichtsphilosophische Schema als das Andere, das übrigens deutschromantischer Herkunft ist, ermöglicht erst den Diskurs der Heimat- und Ursprungsuche, nämlich den Diskurs der Genese, dessen sich die japanischen Intellektuellen bedienten, um eigene mimetische Wünsche zu erfüllen. Das Japanische in der japanischen Romantik ist selber ein medienvermittelter, ästhetischer Selbst-Exotismus, der von den gesellschaftsstrukturellen Außenseitern, den ,Intellektuellen‘, selbsttrügerisch für Japans Eigenstes gehalten wurde. In Wirklichkeit war darin die Karikatur ihrer eigenen Existenz enthalten. Dass auch Kosawa von dieser romantischen Strömung in seiner Schul- und Studienzeit beeinflusst worden sein dürfte, könnte seinen ambitiösen Theoretisierungsversuch erklären. Aber er war schließlich kein Romantiker, sondern ein undogmatischer Arzt, der Kranke vor Augen hatte. Mit anderen Worten: er war kein Neu-Romantiker, sondern NeuroMantiker wie sein Lehrer in der Berggasse. Für ihn gilt also der Satz, den Castruccio Castracani – laut Machiavelli – an einen seiner Soldaten ge-
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äußert haben soll, welcher eines Morgens aus dem Bordell herauskommend ihm begegnete und sich schämte: „Jetzt, wo Du herauskommst, brauchst Du Dich nicht zu schämen; Du hättest Dich schämen sollen, als Du hineingingest.“4 Kosawa wollte nie wieder „hineingehen“, um der inzestuösen Versuchung des Japanischen zu erliegen. Die Theorie, die aus der romantischen Japan-Schwärmerei eines in der Fremde verweilenden japanischen Intellektuellen entstanden sein mag, ist selber keine bloß romantische Imagination mehr. Sie funktioniert wirklich als Darstellung des psychischen Konflikts, der nicht nur im buddhistischen Kreis zu beobachten ist, sondern auch dort, wo das Mutter-Sohn-Verhältnis Schwierigkeiten bereitet. Mit den therapeutischen Beobachtungen nichtbuddhistischer, nichtasiatischer Fallstudien ist die Theorie des Ajase-Komplexes (genauer: deren Okonogi-Version) ziemlich konsistent. Durch Kosawas und Okonogis missbräuchliche Anwendungen von buddhistischen Quellen ist die Theorie vielmehr zu einer besser erklärenden Apparatur optimiert worden. Wenn Kosawas Theorie immer noch speziell japanisch aussehen sollte, liegt es daran, dass sein Ajase-Komplex zugleich die verdrängte Kehrseite der japanischen Mutterschaftsideologie bildet. Die Mutter, die sich nichts wünscht als Glück und Erfolg des Sohnes und dafür alles erduldet und zu Hause wartet, wurde zu einem Ideal, das in der Schulerziehung offiziell empfohlen und durch zahlreiche Erzählungen und Kinderlieder emotionell verstärkt wurde. Dem Mythos, die Mutter sei selbstlose Zuarbeiterin der japanischen Modernisierung gewesen, setzt sich Kosawa mit seinem AjaseKomplex entgegen. Das Verdienst, in der japanischen Mutter eine begehrende Mutter zum ersten Mal im modernen Sinne erblickt zu haben, ist Kosawa zuzuschreiben. Diese Entdeckung lässt sich aber nicht bloß als Ideologiekritik betrachten, sondern sie bildet vielmehr den Ansatzpunkt der Analyse psychischer Störungen von Japanern. Für den japanischen Kontext würde hierbei weitere Erwähnung verdienen, dass das so verstandene Psychische oder der Diskurs der Psychoanalyse überhaupt den Begriff des freien, selbstverantwortlichen Subjekts auch schon dort in Frage stellt, wo dasselbe Subjekt noch nicht zustande gebracht worden ist. Kein Wunder, dass der heutige AjaseKomplex eher Affinität zu Melanie Kleins Theorie der Objektbeziehung hat als etwa zur so genannten Ichpsychologie. Wenn Japan immer noch 4 Machiavelli, Niccolò: The Life of Castruccio Castracani of Lucca, in: ders.: The Chief Works and Others, Durham/London 1989, Bd. 2, S. 556. Die meisten Anekdoten, einschl. der zitierten, sind allerdings Diogenes Laertius’ Die Leben der Philosophen entlehnt.
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die Welt der Objektbeziehung ist, kann von deren Überwindung oder der Entwicklung und Beherrschung des Ichs keine Rede sein, geschweige denn von einer ,postmodernen‘ Auflösung des Subjektbegriffs. Neben ihrem therapeutischen Wert bietet Kosawas Theorie auch einen kritischen Gesichtspunkt, unter welchem sich die unheimliche Gestalt der japanischen Institution zeigt. Aber es wäre irreführend, wenn man – wie Okonogi – diese Gestalt mit der Mutter gleichsetzen würde. Als Okonogi aus Kosawas ursprünglicher Idee, die gewiss theoretisch nicht hinreichend entwickelt war, einen Familienroman herstellte, indem er das Drama der Anfeindung und Versöhnung zwischen Mutter und Sohn inszenierte, statt die Rettung des Sohns allein Buddha zu überlassen, wie in Kosawas Konzept, hat er sich zwar bemüht, Kosawa endlich aus dem theoretischen Exotismus zu retten. Durch dieses therapeutisch notwendige Verfahren der Verallgemeinerung ist jedoch das religionspsychologische Substrat in Kosawas Theoriebildung weitgehend verloren gegangen. Hatte Kosawa doch nicht nur durch Freuds Lehre vom Ödipuskomplex die Anregung bekommen, sondern auch durch Totem und Tabu und „Das ökonomische Problem des Masochismus“. Kosawa nahm sich diese Arbeiten von Freud zum Vorbild, um selber ein traditionsumfassendes psychisches Schema zu gewinnen. Dabei hat er das Psychische nicht mehr als etwas Individuelles, in sich Geschlossenes oder Ontogenetisches aufgefasst, sondern eben als Medium eines metagenealogischen Paradigmas. Dieser Effekt der Medialisierung von Seelen war es eben, den die Psychoanalyse als Wissen des 20. Jahrhunderts mit sich brachte. Was Kosawa in diesem Medium des Psychischen gefunden zu haben glaubte, war die Rettung durch das äußerlich Andere, nämlich durch Buddha, der jedoch Ajase deshalb verziehen haben soll, weil Ajase als Rächer eben unrettbarer Verbrecher bleibt. In diesem Umschlagsmechanismus, der auch ‚die unbegründbare Rettung des abgründigen Sünders‘ (auf japanisch: mukonshin) genannt wird, kann man ohne Schwierigkeit den Ausdruck des buddhistischen Nihilismus erkennen. Aber der von Kosawa so verstandene buddhistische Nihilismus hat mit der Nietzscheanischen ‚Umwertung aller Werte‘ nichts zu tun. Eben darin besteht die Möglichkeit der Erweiterung der Theorie Kosawas zum Ajase-Komplex in die Richtung einer Medientheorie des Psychischen.
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Das Psychische als Medium der Institution
Eine unmittelbare, rohe Botschaft gibt es genauso wenig, wie die unvermittelte Wahrheit. „The medium is the message.“5 Not its contents but the media itself – diese Botschaft (message) hätte Kosawa mit seiner Theorie des Ajase-Komplexes vorweggenommen, da die Heilsbotschaft der buddhistischen Ajase-Erzählung, welche sich erst nach allen Heimsuchungen am Ende ereignet, heißt: Akzeptiere deine eigene Sinnlosigkeit! Das Psychische bei Kosawa ist schließlich das Medium dieser ursprünglichen Sinnlosigkeit des individuellen Lebens. Aber dieses Medium ist kein bloßes Sprachrohr, wodurch diese Botschaft unmittelbar zu hören wäre, sondern selber die Form, in der der Umgang mit der Botschaft erst möglich wird. Verglichen mit der Form, welche jedem Einzelleben trotz oder wegen seiner Sinnlosigkeit einen institutionellen Status gewährt, ist die so mitgeteilte Botschaft der Sinnlosigkeit selbst sinnlos; denn nicht der Inhalt, sondern die Form ist die eigentliche Botschaft. So verstanden ist der Buddhismus bei Kosawa eine solche Institution, die eine besondere, wenn man will ostasiatische oder japanische Art des Umgehens mit der nur vorläufig gewährten Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens mitsamt ihrer endgültigen Sinnlosigkeit für die menschliche Seele darstellt. Das jeweilige, Konflikt heraufbeschwörende Mutter-Sohn-Verhältnis ist nicht die Erscheinung dieser Institution, sondern bloß eine der möglichen Erscheinungen, und zwar speziell in der Moderne. Wenn man diese moderne Erscheinung selbst für die alleinige Institution oder sogar für japanische Tradition hält, wird Kosawas gesamte Einsicht in das ,Psychische‘ wieder in die romantische Vorstellung des Japanisch-Traditionellen transformiert. Als Freud mit seinem Schema des aus dem Mythos gespeisten Ödipuskomplex die ihr vorangehende Verführungstheorie, welche die Ursache der psychischen Störungen im faktisch feststellbaren Ereignis in der individuellen Lebensgeschichte von Kranken suchen wollte, widerrufen hat, wollte er jedoch dadurch keineswegs den psychischen Konflikt kausal auf die moderne, speziell europäische Kernfamilie zurückführen. Vielmehr unternahm er es nun, das Psychische als Medium der in die Genealogie hinübergreifenden Institution aufzufassen, statt in ihm die Darstellung der fehlerhaften Konstitution als der genetischen Szene in einer jeweiligen Familie zu sehen. Seine spät entstandene religionspsychologische Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion 5 Vgl. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, Cambridge, Mass. 1964.
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(erschienen 1939) zeigt mit der Hypothese der ,archaischen Erbschaft‘, dass auch Freud auf dem Wege war, über die Phylogenese des Psychischen hinaus das mediale Wesen desselben zu denken, obwohl er schließlich auf das genetische Modell des Psychischen nicht völlig verzichten konnte. Sollte die Kernfamilie dennoch der vorrechtliche Ort des psychischen Konflikts sein, müsste man dann nicht auch berücksichtigen, dass sie selber das bruchstückhafte Ergebnis des Zerfallsprozesses des Hauses als des organischen Grundelements der alteuropäischen Verfassung ist? Das Psychische als Medium der Institution reicht tiefer ins Vergangene, wo erst die institutionellen Grundlagen des europäischen, ,passiven Schuldbewusstseins‘ ans Licht gebracht wurden: Die hausherrliche Gewalt älterer Art hatte bis ins 18. Jahrhundert wenig verändert bestanden. Der absolute Staat, der Friedensschutz und Polizei in seiner Hand konzentrierte, griff bis zum Haus, in der älteren Verfassung die unterste Stufe originärer Gewalt, durch. Sein Gegenpol, das moderne Naturrecht, suchte es daher als bereits vorstaatlich gegeben und daher ‚natürlich‘ vor dem Zugriff des Staates zu retten (S. Pufendorf). Schließlich fand der Hausfriede Aufnahme in die modernen Grundrechte, die ‚Mensch- und Bürgerrechte‘, da der Staat und seine Polizeigewalt nur auf richterlichen Befehl in seine Sphäre eingreifen dürfen. Hier geht es um das Verhältnis des Hauses nach außen. Aber in den Rechtskodifikationen des aufgeklärten Absolutismus tritt bereits ein tiefgreifender Wandel im inneren Gefüge des Hauses zutage.6
Die Grundrechtsidee garantiert demzufolge zwar normalerweise die Rechte staatsfreier Individuen, die Anspruch gegen die Staatsgewalt erheben können. Tatsächlich aber war diese Grundrechtsidee nicht so sehr zum Schutz solcher Individuen eingeführt worden, sondern im Anschluss an eine traditionelle, konkrete Institution, nämlich das Haus als ,Freiung‘. Verglichen mit diesem Haus, in dessen Ordnung die göttliche Rechtsordnung des pater familias wörtlich repräsentiert worden ist, bleibt im modernen ,sentimentalen‘ Familienbegriff seit dem 18. Jahrhundert nur noch sein sehr beschränkter Bestandteil üblich, bei einer Kernfamilie seit Beginn des 19. Jahrhunderts sogar nur noch dessen kleinstes Bruchstück. Jedoch ist der größere Teil jener großen Familie nicht einfach verloren gegangen, sondern dahinter im weiten Feld des geschichtlich überlieferten Hauses als unbewusster, ,alteuropäischer‘ Ordnungszwang verbor6 Brunner, Otto: „Das ,ganze Haus‘ und die alteuropäische ,Ökonomik‘“, in: ders.: Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956, S. 41.
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gen, der lange imstande war, jedem Konflikt im Hause zu widerstehen und ihn zu unterdrücken. So gesehen haben die scheinbar persönlichen Ereignisse auch eine lange, vergessene Geschichte hinter sich. Sonst könnte von einer mythischen Verbundenheit des einzelnen Familienlebens, wie diese der Ödipus-Komplex darstellen soll, keine Rede sein. Ödipus war Königssohn und einmal selbst König. Als Ödipus-Komplex soll dann die komplexe Institution einer königlichen Familie von ‚originärer Gewalt‘ überliefert werden. Natürlich ist die mythische Überlieferung weder mit dem Weiterbestehen der normativen Kraft des einst Vergangenen noch mit der bloßen Rückkehr derselben identisch. Was die Theoriebildung der Psychoanalyse durch Freud und deren Weiterentwicklung von der Verführungstheorie zur Theoretisierung der überlieferten Ödipus-Geschichte um 1900 erst möglich macht, sind eben die alten neuen technischen Medien wie Grammophon, Film oder Schreibmaschine, wie dies Friedrich Kittler eingehend dargestellt hat.7 Der Ödipus-Komplex selbst ist nichts als ein Medieneffekt; er hat eigentlich mit der ,Originalgeschichte‘ von König Ödipus kaum etwas zu tun. Freuds Ödipus ist sozusagen das Gespenst der uralten Konfliktverhältnisse, die als Anfang der Kultur gelten. Dieser Zusammenhang kehrt, durch die Medien beschworen, dort wieder, wo sich die alteuropäische normative Kraft des ,Ganzen Hauses‘ unwiderruflich auflöste – eben als revenant. Und das Psychische, welches durch das Erscheinen der technischen Medien als Analysierbares entdeckt worden ist, erscheint selbst eben als das Medium, nämlich das Medium der zerstückelten Ordnung bzw. der Institution. Freud, der sich nach dem 1. Weltkrieg mit dem Phänomen Masochismus eingehender beschäftigt und zwischen dem erogenen, dem femininen und dem moralischen Masochismus unterscheidet, betrachtete jedoch zuvor den Sadismus und den Masochismus noch in der Terminologie von Macht und Herrschaft. So erklärte er beide in seinem Aufsatz „Triebe und Triebschicksale“ von 1915 als Reihenfolge eines Vorgangs der Machtausübung, wonach der Sadismus primär sei und Masochismus 7 Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986. Vor allem nennt Kittler den Phonographen „Ebenbild oder Gegner“ der Psychoanalyse (S. 139). Die technische Entwicklung vom Phonographen als RAM zum Grammophon als ROM ist mit dem Freudschen Übergang von der Verführungstheorie in die Theorie des Ödipus-Komplexes vergleichbar. Die Seele, die bei Joseph Delboeuf „ein Heft phonographischer Aufnahmen“ hieß, wird nun als Grammophon-Typ aufgefasst, wo die ursprüngliche Aufnahme von den Individuen entfernt und nur institutionell vermittelt zugänglich gemacht wird.
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als seine sekundäre, entwickelte Form aus diesem abgeleitet werden könne: Beim Gegensatzpaar Sadismus – Masochismus kann man den Vorgang folgendermaßen darstellen: a) Der Sadismus besteht in Gewalttätigkeit, Machtbetätigung gegen eine andere Person als Objekt. b) Dieses Objekt wird aufgegeben und durch die eigene Person ersetzt. Mit der Wendung gegen die eigene Person ist auch die Verwandlung des aktiven Triebzieles in ein passives vollzogen. c) Es wird neuerdings eine fremde Person als Objekt gesucht, welche infolge der eingetretenen Zielverwandlung die Rolle des Subjekts übernehmen muss. Fall c ist der des gemeinhin so genannten Masochismus.8
Nach dem 1. Weltkrieg versucht Freud, dem Sadismus eine andere Definition zu geben als die des nietzscheanischen ‚Willen zur Macht‘ wie es oben in a dargestellt ist, nämlich als Destruktionstrieb. Er beginnt dementsprechend, neben dem sekundären Masochismus über einen primären Masochismus nachzudenken, welcher auch nicht mehr als freiwilliger Gehorsam gegenüber dem projizierten ,Machtsubjekt‘ zu deuten wäre. Die beiden gelten nunmehr jeweils als eine Darstellung des Konflikts zwischen zwei Arten des Triebes, d.h. zwischen dem Sexualtrieb und dem so genannten Todestrieb. 1920 schreibt Freud nun: Klinische Beobachtungen haben uns seinerzeit zur Auffassung genötigt, daß der dem Sadismus komplementäre Partialtrieb des Masochismus als eine Rückwendung des Sadismus gegen das eigene Ich zu verstehen sei. Eine Wendung des Triebes vom Objekt zum Ich ist aber prinzipiell nichts anderes als die Wendung vom Ich zum Objekt, die hier als neu in Frage steht. Der Masochismus, die Wendung des Triebes gegen das eigene Ich, wäre dann in Wirklichkeit eine Rückkehr zu einer früheren Phase desselben, eine Regression. In einem Punkte bedürfte die damals vom Masochismus gegebene Darstellung einer Berichtigung als allzu ausschließlich; der Masochismus könnte auch, was ich dort bestreiten wollte, ein primärer sein.9
8 Freud, Sigmund: „Triebe und Triebschicksale“, in: ders.: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt a.M. 1975, Bd. 3, S. 75-102, hier: S. 90f. 9 Freud: „Jenseits des Lustprinzips“, in: ders.: (wie Anm. 8), Bd. 3, S. 213272, hier: S. 263.
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Aufgrund dieses gedanklichen Umschlags führt nun Freud im Aufsatz „Das ökonomische Problem des Masochismus“ von 1924 die genannten drei Formen des Masochismus ein, von denen der dritte, d.h. der moralische Masochismus sehr wahrscheinlich Kosawa zur Annahme des aktiven Schuldbewusstseins, das sich auch nicht mit dem Schema von ,Herrschaft und Gehorsam‘ deuten lässt, veranlasst hat. Nun wissen wir, daß der in Phantasien so häufige Wunsch, vom Vater geschlagen zu werden, dem anderen sehr nahe steht, in passive (feminine) sexuelle Beziehung zu ihm zu treten, und nur eine regressive Entstellung desselben ist. Setzen wir diese Aufklärung in den Inhalt des moralischen Masochismus ein, so wird dessen geheimer Sinn uns offenbar. Gewissen und Moral sind durch die Überwindung, Desexualisierung, des Ödipuskomplexes entstanden; durch den moralischen Masochismus wird die Moral wieder sexualisiert, der Ödipuskomplex neu belebt, eine Regression von der Moral zum Ödipuskomplex angebahnt.10
Die Affinität zum aktiven Schuldbewusstsein im Ajase-Komplex liegt auf der Hand. Aber während der moralische Masochismus die seelische Regression darstellt, wo Gewissen und Moral in deren ödipal-sexuellen Ursprung, welcher zugleich der Ursprung der Kultur überhaupt sein soll, zurückgebracht werden, führt das aktive Schuldbewusstsein weiter jenseits des ödipalen Urzustands zur Erkenntnis der zweifachen Abgründigkeit des individuellen Lebens, d.h. dessen faktischer Kontingenz und moralischer Unbegründbarkeit. Ferner wird diese Erkenntnis nicht als Bestrafung für die eigene Ursprungssuche eines Ödipus angeführt, sondern eben durch die selbst unbegründbare Rettung, welche dem Rächer-Vatermörder Ajase weder als Bestrafung noch als Belohnung zuteil wird. Die Rettung mitsamt der Erkenntnis bedeutet keineswegs, dass das individuelle Leben, mag es rechtschaffen gewesen sein oder sündhaft, am Ende einfach unterschiedslos als vergeblich erklärt werden würde. Vielmehr setzt die buddhistische Rettung ein solches Prinzip voraus, dass selbst das nichtigste Leben eines Schächers oder eines Vater- und Muttermörders – buddhistisch institutionell – nicht ungeschehen gemacht werden kann. Gleichermaßen heißt dies auch, dass es keinen ursprünglichen Wert gibt, der dem individuellen Leben die Rettung im Voraus gewährte. Durch diese ,Urlosigkeit‘ unterscheidet sich Kosawas Ajase von Freuds Ödipus. Nie würde man aus Ajases Mund ‚me phunai‘ hören können. Der Buddhismus als Institution der zeitweiligen Sinngebung al10 Freud: „Das ökonomische Problem des Masochismus“, in: ders.: (wie Anm. 8), Bd. 3, S. 339-354, hier: S. 353.
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les Sinnlosen – dies ist eben das, was das Psychische als Medium überliefert. Was Kosawa von Freud übernahm, ist die Haltung gegenüber dem, was ihm für das japanische Seelenleben kollektiv von verbindlicher Kraft zu sein schien. Das hat gewiss therapeutische Relevanz gehabt. Aber das führte bei Kosawa nicht zur Hypostasierung des Ursprungs, sei es als Urszene eines Kranken, sei es als Urkonflikt in der Urhorde, sondern zur Medialisierung des Psychischen. Das Psychische kann aber nicht als Statthalter der (vermeintlich) für eigen gehaltenen ,Tradition‘ betrachtet werden, da es in Wirklichkeit die Tradition ist, die als Effekt dieser Medialisierung erst konstruiert und hypostasiert wurde. Das Psychische ist nicht der Garant solch einer Tradition, sondern der der Institution als äußerer Form, wo Sinn und Sinnlosigkeit durch bloßes Umschalten oszillieren, ohne dadurch etwas ursprünglich oder endgültig auszuschließen. Durch Kosawas Idee des Ajase-Komplexes wird so – über seine eigene Intention hinaus – der medientheoretische Horizont des Psychischen eröffnet.
K ÖRPER , R AUM , K ULTUR
MARIO KUMEKAWA
DER ZUSAMMENSTOSS DER KÖRPERKULTUREN IN DER JAPANISCHEN MODERNISIERUNG 1.
Modernisierung – Europäisierung – Zentralisierung
Mit der sogenannten Restauration von 1868 ging die Zeit der Samurai zu Ende. Es begannen Modernisierung und Europäisierung der japanischen Gesellschaft, und die feudalistische Kultur der Samurai, die ursprünglich Krieger auf dem Schlachtfeld gewesen waren, schien jede Daseinsberechtigung verloren zu haben. Der neue Lebensstil erforderte auch eine neue Körperauffassung. Im Prozess der Modernisierung entdeckte man so in Japan auch einen neuen Körper des Menschen. Das bedeutete aber nicht, dass die kämpferische Körperkultur, die die Samurai alltäglich ausüben sollten, mit untergegangen wäre. Vielmehr fing man erst mit der Restauration an, absichtlich den eigenen Körper zu trainieren und die Jugendlichen körperlich zu disziplinieren. Sport und körperliche Erziehung sind in Japan ein ganz modernes Phänomen. Es ist wahr, dass die Samurai in einem gewissen Sinne strenge Disziplin übten, aber sie kannten kein systematisch organisiertes Training. Für die Samurai in der Zeit der Edo-Regierung im 17. und 18. Jahrhundert war Wissenskultur viel wichtiger als körperliche Disziplinierung. Auch im Alltagsleben gab es kaum sportliche Spiele zur Unterhaltung. Bei den Bürgern der Edo-Zeit waren z.B. Theater und Puppentheater viel beliebter und wichtiger als körperliche Spiele. Sport und die körperliche Disziplinierung wurden erst mit der Modernisierung und der Europäisierung der Gesellschaft aus Europa und Amerika in Japan eingeführt. Außerdem musste sich der Sport als neue Kultur in Japan, dem rückständigen ostasiatischen Land mit dem Zentrum der neuen Hauptstadt Tokyo, in einem zentralisierten System entwickeln. Zur Zeit der Modernisierung spielte Tokyo die Rolle eines Umschlagplatzes der neu eingeführten europäischen oder amerikanischen Kultur.
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Vor der Restauration und der Kulturerneuerung war die Stadt Edo, die 1868 in Tokyo umbenannt wurde, zwar als Sitz des Shogunats schon die größte und wichtigste Stadt in Japan, aber damals waren die Systeme der japanischen Herrschaft und Kultur wesentlich vielschichtiger und multipolarer. Der Tenno, der Kaiser in Kyoto, hatte die höchste rituelle und kulturelle Macht und konnte auch den Shogun ernennen. Jeder Klan war wie ein deutsches Land im Föderalsystem viel selbständiger als die Präfekturen im modernen Japan. Jedes Gebiet oder jeder Klan hatte seine eigene Kultur und Tradition. Da das Shogunat große Angst vor der christlichen Expansion hatte, war die Einführung der europäischen Kultur streng beschränkt worden. Nur auf einer Insel vor Nagasaki konnten Europäer wohnen und Geschäfte machen. Aber diese Situation machte Nagasaki zu einer interessanten und eigentümlichen Stadt mit internationaler Kultur. Alle diese Verschiedenheiten wurden durch die sogenannte Restauration und Zentralisierung der japanischen Gesellschaft auf einmal aufgehoben, indem die zwei stärksten Anti-Tokugawa-Klans, Satsuma und Choshu, das Shogunat abschafften und den Tenno zum Umzug nach Tokyo, dem ehemaligen Edo, veranlassten. Seitdem wohnt der Tenno, der bis dahin im Palast der prächtigen klassischen Hochkultur Japans in der tausendjährigen Hauptstadt Kyoto heimisch gewesen war, in der Burg mit dem breiten Graben in der Stadtmitte von Tokyo als Nachfolger des Shoguns. Der Ortswechsel von Tenno und Hauptstadt war ein Symbol für die Vereinigung und die Zentralisierung der beiden Mächte von Tenno und Shogun. Seitdem gehen fast alle wichtigen Erneuerungen der kulturellen Welt von der Hauptstadt Tokyo aus. Die anderen Städte oder Präfekturen mussten jeweils dem Vorbild Tokyos folgen. Vom Umschlagplatz Tokyo aus breitete sich die neu importierte Kultur in alle Gebiete Japans aus. Sowohl die alltägliche Kultur im Land wie auch der Körper des Menschen wurden in einem einzigen Vorgang modernisiert, europäisiert, diszipliniert und zentralisiert. Dieser Prozess ähnelte dem Vorgang, den Michel Foucault anhand der Entstehungsgeschichte des modernen Gefängnisses und der Disziplinargesellschaft beschrieben hat. Die geschichtlichen Vorgänge in Japan waren allerdings viel radikaler und rapider. Die wichtigste Institution, die diesen Prozess vorantrieb, war die Schule, weil die neue Kultur in Japan nicht spontan entwickelt, sondern zunächst einmal nach Tokyo importiert und dann auf aufklärerische Weise in jeder Präfektur, jeder Stadt und jedem Dorf vorgestellt und gelehrt wurde. Interessant ist, dass die traditionelle japanische Kultur trotz der plötzlichen und gründlichen Kulturer-
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neuerung nicht ganz und gar durch die europäische ersetzt worden ist. So ist es möglich, die Auseinandersetzung der alten Kultur mit der neuen zu betrachten, als eigentlichen Faktor der Kulturerneuerung. In der folgenden Darstellung sollen also zunächst die Einführung und die Entwicklung der europäischen Körperkultur in Japan von den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben werden, d.h. von der Öffnung des Landes zur europäischen Außenwelt bis zum vorläufigen Sieg im russisch-japanischen Krieg. Dann sollen einige wichtige Pädagogen und Schulen von damals vorgestellt werden, bei denen der Zusammenstoß der Körperauffassungen zur Zeit der japanischen Modernisierung deutlich zu beobachten ist. Die Bereiche des Sports und der Körpererziehung werden in Betracht gezogen, weil hier die Veränderung der Auffassung und Theorie des Körpers dargestellt werden kann.
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Vorgeschichte: Langsame Bewegungsart der Japaner
Im Jahr 1868 begann in Japan plötzlich eine radikale Modernisierung. Der Shogun verzichtete auf die feudalistische Herrschaft und gab dem Tenno – dem Kaiser – die militärische Regierung zurück. Die Klans wurden abgeschafft und an deren Stelle Präfekturen gegründet, um so die Regierung und den Staat zu zentralisieren. Die feudalistische Ordnung der Stände wurde aufgegeben und die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Auch kam es zu einer grundsätzlichen Kulturerneuerung. Die Männer schnitten sich ihre Haare ab und fingen an, europäische Kleidung zu tragen. Verschiedene Häuser im europäischen Stil wurden gebaut und die erste Eisenbahnlinie angelegt. In solch einer rapiden Veränderung des Lebensstils gab es Kollisionen verschiedener Anschauungen und Vorstellungen über den menschlichen Körper. Der europäische Lebensstil erforderte auch eine europäische Auffassung vom Körper des Menschen. Allerdings wurde der Alltag der Bürger in Japan nicht völlig europäisiert. Es gab also zwei unterschiedliche Ebenen der Kultur, die auf verschiedene Weise mit- oder gegeneinander wirkten: eine neu eingeführte europäische und die traditionell japanische. Die neue europäisierte Ebene der Kultur entsprach ungefähr der modernen europäischen Körperauffassung, wogegen die alte japanische immer noch auf der traditionell ostasiatischen Anschauung des menschlichen Körpers basierte.
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Obwohl das Shogunat ursprünglich ein Militärregime gewesen war, gab es vor der Restauration von 1868 in Japan eigentlich keine systematisierte Körpererziehung. Nur in Ausnahmefällen versuchte man den Körper absichtlich zu trainieren, zu stärken und zu disziplinieren. Denn nach der traditionellen japanischen Körperauffassung sollte man den Körper nicht trainieren, sondern dafür sorgen, dass die natürliche Kraft des Körpers keinen Schaden erleide. Einer der wichtigsten Denker und Kenner der Kräuterkunde des 18. Jahrhunderts, Kaibara Ekiken, der in der gesamten Edo-Zeit einen starken Einfluss ausübte, schrieb: Der Körper des Menschen hat in den Eltern sein Wesen, in Himmel und Erde seinen Ursprung. Mit dem Segen der Eltern und geboren und ernährt von Himmel und Erde, gehört der Körper nicht zu mir. Die Gabe von Himmel und Erde, das Erbe der Eltern, muss man ehrfürchtig und sorgfältig erhalten, gut schützen und eine lange Lebensdauer bewahren. Das ist das Wesen der Kindespflicht den Eltern und Himmel und Erde gegenüber.1
Kaibara behauptete auch, die wichtigste Aufgabe der Kinder in SamuraiFamilien sei ohne Zweifel Pflege und Erlernung des Wissens. Militärische Tätigkeiten wie Bogenschießen oder Schwertkampf sollten nur in der Freizeit zur Entspannung ausgeübt werden. Nach der mehr als 100 Jahre dauernden Zeit ohne Krieg waren die Samurai nicht länger Kämpfer auf dem Schlachtfeld, sondern vielmehr Beamte im Büro. Unter den alltäglichen Vergnügungen gab es nur einige wenige sportliche Momente. In der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts genoss man KabukiTheater, Puppen-Theater, komisches Monologtheater wie rakugo oder koudan, Magie, traditionelle Saiteninstrumente usw. Auch im Alltagsleben gab es nur wenige sportliche Betätigungen. Edward Morse, ein amerikanischer Zoologe, der damals in Japan lebte, beschrieb, wie langsam Japaner sich bewegten: Kurz nach dem Erfinden der Rikscha verstehen ältere Leute nur schwer, dass man sie auf der Straße vermeiden soll. Der Fahrer läuft hier ganz schnell und fährt beinahe die Menschen um, trotzdem scheint man es da nicht für nötig zu halten, ihm auszuweichen. [...] Da findet man keine Reflexe, die Leute bewegen sich nur langsam dahin, auch wenn wir Europäer innerhalb einer Sekunde wegspringen würden.2
1 Kaibara, Ekiken: Yojo-kun (Die Lehre der Pflege des Lebens), Tokyo 1983, S. 258. Alle Übersetzungen stammen, soweit nicht anders vermerkt, von Mario Kumekawa. 2 Morse, E. S.: Nihon sono hi sono hi (Alltag in Japan), Tokyo 1994, S. 250.
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Sportliche Aktivitäten aus Europa sahen die Japaner zum ersten Mal in den Ausländervierteln der Hafenstädte. Man sah dort die Europäer oder die Amerikaner boxen, rudern, laufen oder turnen. Allmählich wurde dann in allen Klans die europäische Methode der militärischen Jungenerziehung eingeführt, vor allem die Gymnastik. Aus welchem Land man die Methode importierte, war je nach Klan verschieden, wobei es jedoch keinen nennenswerten Unterschied z.B. zwischen der englischen und der französischen Gymnastik gab. Aber die Gymnastik treibenden Samurai sahen lächerlich aus. Ein Bericht in einer Zeitschrift beschreibt die Szene der ersten Gymnastikübung im Rahmen der Wehrpflicht, die in Tokyo stattfand: Wenn der Turnlehrer sagt, man soll den Kopf schwingen, schütteln die Jungen ihn häufig wie Kinder. Wenn der Lehrer sagt: „Nein“, dann nicken sie. Wenn man einen Befehl zum Laufen gibt, laufen sie nur zweimal herum, dann hören fünf Jungen auf, dann sieben, wegen der Beriberi.3
Obwohl es Startschwierigkeiten gab, gründete die neue Regierung nach der Restauration nationale Streitkräfte nach europäischem Stil. Im letzten Bürgerkrieg von 1877 besiegte die Regierungsarmee, die im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht entstanden war, die legendäre, aus den stärksten Samurai bestehende Einheit des Satsuma-Klans, die aber militärisch bezeichnenderweise über keine vernünftige Strategie verfügte. Es war im Grunde der Sieg der neu eingeführten militärischen Jungenerziehung aus Europa über den traditionellen Geist des Samurai. Im Film THE LAST SAMURAI, der 2004 auch in Japan gut besucht war, wird dieser letzte Krieg zwischen Bürgern und Samurai dargestellt.
3.
Das Verbot nackter Körper
Nicht nur im Krieg, sondern auch im Alltagsleben setzte sich die europäische Kultur durch. Sie galt nun als Kriterium der Hochkultur, und im Vergleich erschienen manchmal die alten japanischen Sitten barbarisch oder peinlich. Auch japanische Körper sollten fortan wissenschaftlich ernährt und trainiert werden, um so groß und kräftig wie die Körper der Europäer werden zu können. Körper durften nun auch nicht mehr nackt gezeigt werden. Vor der Kulturerneuerung konnte man sowohl in den Städten als auch auf dem Land viele nackte Körper sehen. Der Amerika3 Kinoshita, Hideaki: Sports no kindai nihon-shi (Die Geschichte des Sports in der japanischen Moderne), Tokyo 1970, S. 3.
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ner Morse fand es sehr seltsam, dass Japaner, die sonst immer sehr höflich sind, sich auf der Straße nackt zeigen konnten. Als die Regierung den nackten Körper verbot, verbreitete sich langsam die Anschauung, dass ein nackter Körper etwas Schändliches sei. Sogar der beliebte alte Kampfsport Sumo wurde nun als altmodisch und hässlich angesehen. Diese traditionelle Kampfkunst, die heute sogar international zwar nicht als ‚schön‘ betrachtet, aber doch akzeptiert wird, wäre untergegangen, hätte man sie nicht dadurch gerettet, dass man den Kaiser manchmal zum Turnier einlud. Nach dem Untergang der Samurai galt nämlich der wieder entdeckte Kaiser auch als Symbol für die erneuerte Kultur. Die neue Regierung förderte das Essen von Fleisch, besonders Rindfleisch, anstelle von Getreide. (Auch über den Kaiser wurde berichtet, dass er gern Rindfleisch aß.) Die Körpererziehung wurde nach europäischem Vorbild durchgeführt. Das ‚umgekehrte Dreieck‘ wurde zum Symbol des idealen männlichen Körpers.
4.
Kanǀ Jigorǀ: Zweifache Körperauffassung
Der berühmte Pädagoge und Sportlehrer Kanǀ Jigorǀ, der aus den traditionellen Kampfkünsten Jujutsu den modernen Kampfsport Judo entwickelte, übte als Theoretiker auf die Körpererziehung einen starken Einfluss aus. Kanǀ fand den Körper des japanischen Jungen zu klein und zu schwach. Er schlug vor, nach dem Prinzip des amerikanischen Sporttheoretikers E. Sandow den Körper mit modernen Geräten zu trainieren. Es ist zu schade, dass unsere Jungen eine Kanone zu fünft tragen müssen, während Amerikaner zu dritt eine tragen können. Wir müssen die Jungen wissenschaftlich ernähren und trainieren, wie es die Amerikaner oder Europäer tun.4
Aber die Körperauffassung von Kanǀ war doppelschichtig. Beim Judo lehrte er den Sport nach einem ganz anderen Prinzip. Das Ideal des Judo ist der natürliche Zustand des Körpers und dessen unbewusste Bewegung, durch die man den Gegner ganz leicht umwerfen kann, ohne die Kraft des Körpers zu benutzen. Dabei wird der Körper des Menschen nicht als Gegenstand des Trainings betrachtet, sondern mit den Bewegungen und dem Zustand der Seele identifiziert. Diese Körperauffassung gehört zwar einer tieferen Schicht der japanischen Kultur an, konnte je4 Kanǀ, Jigorǀ: „Sandow no tairyoku youseihou ni tsuite“ (Über das System der körperlichen Erziehung von E. Sandow), in: Kokushi, 1 (1899), S. 20-30, hier: S. 28.
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doch in der modernen Gesellschaft keine reale Anwendung finden. So ist sie auf den kleinen Bereich der Judo-Kultur beschränkt geblieben. Diese Doppelschichtigkeit bei Kanǀ symbolisiert die Schwierigkeiten, die Japaner im Prozess der Modernisierung erfahren mussten. Es ist Kanǀ zwar gelungen, Judo als eine moderne und internationale Sportart zu entwickeln, aber in der Judowelt wurde später immer wieder diskutiert, nach welchem Prinzip Judo gelehrt und wie gekämpft werden sollte. Kurz nach der Restauration gab es unter den japanischen Intellektuellen ein Motto, das besagte: ‚wakon yosai‘ (japanischer Geist, europäische Wissenschaft). Der Versuch von Kanǀ ist auch ein Beispiel für die Bemühungen, dieses Motto zu verwirklichen.
5.
Die Ritualisierung des Ballspiels
Im Jahr 1887 wurde in Japan die staatliche Hochschule für Sport TaiikuDenshujo gegründet, an der Sportlehrer erzogen werden sollten. Dort wurden die Studenten nach dem rationalistisch-medizinischen Prinzip der schwedischen Gymnastik ausgebildet und trainiert. Spielerische Momente wie Ballspiele wurden nur gelegentlich zur Entspannung ausgeübt. Sport war eigentlich ein ganz ernstes Fach, welches die Jungen streng und gut disziplinieren sollte. Die Studenten der allgemeinen Hochschulen hingegen spielten etwas entspannter diverse Ballspiele, vor allem Baseball. Dennoch wurde dieses amerikanische Ballspiel bei ihnen auch ritualisiert. In das Baseballspiel haben die Studenten der Universität Tokyo strenge Höflichkeitsregeln eingeführt. Vor dem Spiel standen alle Spieler in einer geraden Reihe und verbeugten sich. Wenn sie das Spielfeld betraten oder es verließen, verbeugten sie sich – die Mütze dabei abnehmend – sogar noch tiefer, wie es die japanischen Baseballkids heute noch praktizieren. Weil die Modernisierung in Japan auch als Restauration der Macht des Tenno stattfand, der sowohl die Rolle des ersten Aufklärers und Repräsentanten der europäischen Kultur als auch die des höchsten shintoistischen Priesters spielte, ging die Einführung der westlichen Kultur in manchen Fällen mit ihrer Ritualisierung einher.
6.
Fukuzawa Yukichi: der Aufklärer und die Spiele
Die Keio-Universität spielte eine interessante Rolle in der Geschichte der japanischen Körpererziehung und des japanischen Sports. Ihr Gründer Fukuzawa Yukichi war der erste Pädagoge in Japan, der die Körpererziehung für besonders wichtig hielt. Er betrachtete jedoch sportliche Betäti-
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gungen in Schulen nicht als Disziplinierung, sondern als Spiel. Als Fukuzawa 1868 den Campus der Keio-Schule, die 1890 zur heutigen KeioUniversität wurde, in der Nähe des heutigen Standorts in Mita (Tokyo) anlegte, richtete er auch einen Schulhof ein und stattete diesen mit Wippen und Schaukeln aus. Als „Regeln für die Mensa“ legte er fest: Sowohl nach dem Mittagessen als auch nach dem Abendessen soll man nach dem Gesetz der Gymnastik auf Bäume klettern, mit dem Ball spielen und verschiedene Spiele treiben. Dabei soll man seinen Körper gut bewegen.5
In seiner Autobiographie beschrieb Fukuzawa 1889 sein Prinzip: „Ich zwinge die Kinder nicht zum Lesen. Zuerst soll man den animalischen Körper ausbilden, dann die Seele des Menschen.“6 Als die Keio-Schule nach Mita umzog, ließ Fukuzawa wieder einen Spielplatz mit Wippen, Schaukeln und Recks einrichten; leider gibt es heute diese Turngeräte nicht mehr. Im Jahr 1886 fand das erste Sportfest in Japan auf dem Campus statt. Interessanterweise waren die Sportarten, die beim Sportfest ausgeübt wurden, keine ernst zu nehmenden Sportarten, sondern unterhaltsame Spiele wie Sackhüpfen oder Rennen mit einer Tragbahre. Danach wurden solche Sportfeste regelmäßig auch in den anderen Hochschulen und Volksschulen veranstaltet. Das Sportfest an der Keio-Universität war besonders beliebt. Nach Zeitungsangaben von 1894 gab es dort mehr als 10.000 Zuschauer. Die europäische Gymnastik wurde zwar auch in den Volksschulen in ganz Japan eingeführt, aber viel langsamer als bei den Hochschulen, weil die Kleidung der Japaner nicht in ausreichendem Maß europäischen Standards entsprach. Die angestellten Männer trugen zwar einen europäischen Anzug, aber nur im Büro. Zu Hause fühlten sie sich in japanischer Kleidung wohler. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts trugen die Schülerinnen meistens traditionelle Kimonos. Man fand es recht peinlich, in Kimonos Gymnastik zu treiben, besonders für die Mädchen. Die Eltern holten manchmal ihre Töchter nach Hause, weil sie nicht wollten, dass die Mädchen an der Gymnastikstunde teilnahmen. Fukuzawa jedoch förderte auch die Sportspiele von Frauen: „Frauen dürfen auch wilde Spiele treiben, nur wenn sie nicht verletzt werden.“7 Nach einigem Zögern kleideten sich immer mehr Schülerinnen europäisch und die so ge5 Shirahata, Yozaburo: „Nihonjin to sports“ (Japaner und Sport), in: Sports to iu bunka (Sport als Kultur), Tokyo 1992, S. 165-187, hier: S. 179. 6 Fukuzawa, Yukichi: Fukuou Jiden (Autobiographie des alten Fukusawa), Tokyo 2004, S. 286. 7 Fukuzawa, Yukichi: Zenshuu, Tokyo 2003, Bd. 10, S. 306.
ZUSAMMENSTOSS DER KÖRPERKULTUREN
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nannte ‚englische Frisur‘ kam in Mode, so dass immer mehr Mädchen in der Schule Sport treiben konnten. Zusammenfassend ist festzustellen: Die Körperauffassung von Fukuzawa ist ebenso wie die von Kanǀ Jigorǀ zweischichtig, jedoch auf unterschiedliche Weise. Als aufklärerischer Denker und Repräsentant der europäischen Kultur betonte er nach dem Vorbild des King’s College in London die Wichtigkeit der Körpererziehung. Aber was in der KeioUniversität tatsächlich praktiziert wurde, war keine disziplinierende moderne Gymnastik, sondern eher Unterhaltung im asiatischen Stil: Danach reicht es schon aus, wenn man im Alltagsleben den Körper gern und mit Freude bewegt. Die Keio-Schule spielte eine Pionierrolle bei Sportspielen. Manche neuen europäischen Sportarten wie Rugby oder Ruderrennen wurden von ihren Schülern zum ersten Mal in Japan ausgeübt. Der sportliche Wettkampf mit der anderen Privathochschule Waseda, deren Vorbild die Konkurrenz zwischen Oxford und Cambridge ist, war die beliebteste sportliche Veranstaltung in Japan, auch dann noch, als die Profi-Baseball-Liga 1936 gegründet worden war. Keio und Waseda haben so den Grundstein zur Entwicklung des Sports als Massenvergnügung gelegt. Fukuzawa importierte zwar die europäische Körpererziehung, aber nur die Methode und die Geräte. Sein Ziel war nicht die moderne Disziplinierung des Menschenkörpers, sondern eher das traditionelle Prinzip, den Körper zu nähren und zu schützen als Geschenk der Eltern und Himmelsgabe, oder die Kinder und Jugendlichen durch Spiele gesund und stark aufzuziehen. Fukuzawa verband in diesem Sinne japanische Konzeptionen mit europäischen Wissenschaften und verbesserte sie dadurch. Darin findet man auch ein Beispiel für den Leitgedanken der Meijizeit: ‚Japanischer Geist, europäische Wissenschaft‘.
7.
Die Vollendung oder das Ende des Spiels
Trotz der originellen Versuche von japanischen Aufklärern wie Fukuzawa wurde die Tendenz immer stärker, auch den Körper der Japaner modern und systematisch zu disziplinieren. Die körperliche Kultur in Japan wurde immer mehr europäisiert und durch Tokyo sowie den Tenno zentralisiert. Mit dem neuen Mythos, alle Japaner seien Kinder des Tennos, ist es den Herrschenden in Japan gelungen, die ganze Nation im Bild eines einzigen menschlichen Körpers zu mobilisieren. Schüler und Schülerinnen übten immer geschickter und ordentlicher Gymnastik aus. Der vorläufige Sieg im russisch-japanischen Krieg von 1905 war in die-
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sem Sinne der erste Höhepunkt der Erneuerung der körperlichen Kultur in Japan. Die ganze Nation war begeistert, dass in so kurzer Zeit eine radikale Modernisierung hatte verwirklicht werden können. Aber die Versuche der ersten sensiblen Aufklärer, diese besondere Dialektik der Aufklärung zu überwinden, indem die japanische Natur des Menschen mit der Spontaneität der menschlichen Seele durch die Modernisierung verbunden werden sollte, war gescheitert. Der Körper des Volkes war kein Menschenkörper, sondern ein zentralisierter Mechanismus.
MASATO IZUMI
BAUHAUS ALS MEDIUM DER MODERNISIERUNG EINE SKIZZE DER REPRÄSENTATIVEN REZEPTION UND VERARBEITUNG DER BAUHAUS-IDEE IN JAPAN ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS 1.
Die Bauhaus-Idee und der japanische Modernismus
In den 1930er Jahren trat der japanische Modernismus, vor allem die moderne Architektur, in eine neue Phase. Seit ungefähr 1915 hatte sich die japanische Architektur von dem bis dahin herrschenden historistischen Stil entfernt und eine expressionistische Schule entwickelt, wie es das Gefängnis Toyotama (1915) von Keiji Gotǀ zeigt. Dies war zugleich der Anfang des japanischen modernen Designs. Unter den starken Einflüssen von Gotǀ und der Wiener Sezession wurde 1920 die architektonische Sezession (Bunri Ha) mit sechs Gründungsmitgliedern gebildet. Nicht der Gedanke der Sezession1, sondern die Tatsache, dass die Sezession als eine Art von ideologischer Bewegung errichtet wurde, war für die junge Architektengeneration schockierend. Von der Sezession angeregt, formierten sich kleinere avantgardistische Architekten-Gruppen wie Sǀusha (1923), Barakku-Sǀshokusha (1923), Meteor (1925), Intanashonaru Kenchiku-Kai (Internationaler Architektenbund, 1927) und ASKenchiku-Kai (Architekturverein AS, 1929), die den Beginn des Moder1 In ihrem Manifest erklärte die Sezession die Trennung von den bisherigen Architekturstilen und die Schaffung eines neuen. Vgl. Kurata, Chikatada: Kindai kenchiku shi (Geschichte der modernen Architektur), Tokyo 1965, S. 189. Der Gedanke selbst ist natürlich aus heutiger Sicht nicht außergewöhnlich bemerkenswert. Dass die Gruppe sich als Sezession bezeichnete und sich zu einer quasi-ideologischen Bewegung erklärte, war nur neu und anregend im Rahmen der japanischen Zeitumstände.
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nismus als ideologische Bewegung in Japan zeigten. Das Charakteristikum des japanischen frühen Designs liegt in der Tatsache, dass fast alle Gruppierungen ohne Ausnahme Manifeste formulierten. Die Sezession bestand aus den Absolventen des Fachs Architektur an der Kaiserlichen Universität Tokyo, was bedeutet, dass alle Mitglieder der Sezession zur Top-Elite der japanischen 1920er Jahren gehörten. Scheinbar revoltierten sie gegen die traditionelle, akademische historistische Architektur, doch nach dem Examen an der Kaiserlichen Universität bekamen alle Mitglieder gut dotierte Positionen in staatlichen Behörden oder Großkonzernen, und in der Folgezeit wurden Gebäude wie die Bibliothek und das Auditorium der Universität Waseda (1925), das GakuynjGemeindehaus (1925), die Villa Shiin (1926), das Haupttelegrafenamt Tokyo (1927), die Zentrale der Asahi Zeitung (1927) oder das Gefängnis Kosuge (1930) nach ihren expressionistischen Entwürfen gebaut. Diese Bauwerke machten die architektonische Hauptströmung aus und enthielten entsprechend dem Motto ‚Architektur als Schönheit‘ eine Vielzahl stilistischer Stimmungen. Im Unterschied zu der Bunri Ha, die die Ästhetik der Architektur und das Erwachen des Selbstbewusstseins forderte, orientierten sich die kleineren avantgardistischen Gruppen mehr an Ideologien. So zielte Sǀusha, die aus Entwurfzeichnern der elitären Sezessions-Mitglieder bestand, unter den Einflüssen des Marxismus auf eine Architektur für die Massen. Aber die eigentlichen Träger der japanischen avantgardistischen Bewegung waren die Gruppen Mavo und Barakku Sǀshokusha. Mavo wurde 1922 von dem Avantgardisten Tomoyoshi Murayama, der in Europa Dada und andere avantgardistische Bewegungen kennen gelernt hatte, und seinen Anhängern gegründet. Neben dadaistisch-exzentrischen Aktivitäten – einer ‚Kunst‘-Ausstellung von Montagewerken aus Frauenhaaren, Hölzchen, Nägeln und Zeitungspapier; Nackttänzen oder einer Aktion, bei der sie auf einem LKW Plakate zeigten und pistolenschießend durch das Ginza-Viertel marschierten (und natürlich von Polizisten verfolgt und verhaftet wurden) – entwarfen sie nach dem großen Tokyoter Erdbeben auch dadaistische baracken-ähnliche Architektur, wie es Barakku Sǀshokusha versuchte. Gegen die heftige Kritik von Seiten der Sezession übte der Vertreter der Barakku Sǀshokusha, Kazujirǀ Kon, eine Antikritik und behauptete, die Architektur solle nicht nur aus Schönheit, Anmut und Würde, sondern auch aus dem Lebensbild, dem Leben selbst, den Stimmungen der Masse bestehen. Ihre Architektur beruhte also auf einer breiteren Basis als bei der Sezession. Doch trotz der Richtigkeit der Antikritik vermochte die architektonische Tätigkeit der
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Gruppen Mavo und Barakku Sǀshokusha kaum angemessenes Verständnis unter den anderen Architekten zu finden. Der Blick auf die Masse allerdings wurde in den 1930er Jahren wichtiger, und zwar nicht in Form der utopisch-exzentrischen Projekte oder Aktivitäten der japanischen Avantgarden der 1920er Jahren, sondern in den konkreteren, sozialpolitisch-linksorientierten Bewegungen. Gegen Ende der 1920er Jahre wandten sich die Architekten rasch dem neuen Design zu. Die De Stijl- und Bauhaus-Zeit in Japan begann. De Stijl, charakterisiert durch Rechtwinkligkeit und die Verwendung der Farbe Weiß, brachte die geometrische Form in der Architektur nach Japan, repräsentiert etwa durch die Villa Motomitsu Yoshikawa von Sutemi Horiguchi oder die Villa Antonin Raymond von Antonin Raymond. Bald wurde De Stijl vom Bauhausstil mit seinen Glasfassaden und viereckigen Kastenformen abgelöst. Bis zum Jahr 1939, dem letzten Jahr, in dem noch frei entworfen werden durfte, setzte sich der Bauhaus-Stil immer mehr durch. Nicht nur elitäre Gruppen wie die Sezession, sondern verschiedenste Architekten der unterschiedlichsten Richtungen begannen in den 1930er Jahren, ihre Aufmerksamkeit auf den Bauhausstil zu richten. Von großen Bauten wie Kraftwerken oder Schulen bis zum kleinen Haus für Durchschnittsbürger baute man in dieser Art, und damit gelang es den Architekten der Bauhausschule, ihren Stil in der Gesellschaft einzubürgern. Die kleineren Häuser hatten allerdings durch japanische Gegebenheiten bedingte Schwachstellen: so etwa, wenn die Architekten aus Kostengründen gezwungen waren, statt Beton und Eisen als Baumaterial Holz zu verwenden und diese Häuser im Bauhaus-Stil dann in der Regenzeit undicht waren. Der erste Vermittler umfassender Informationen über Bauhaus in Japan war Sutemi Horiguchi, der 1923 das Bauhaus besuchte. Doch die ersten japanischen Bauhausbesucher überhaupt, die darüber ausführlich und korrekt berichteten, waren Teinosuke Nakata und Kikuji Ishimoto. Angeregt davon folgten viele junge Architekten ihrem Beispiel, darunter Bauhaus-Studenten wie Takehiko Mizuguchi, Iwao Yamawaki und seine Frau Michiko Yamawaki. Bunzǀ Yamaguchi, der früher ein Mitglied der Sǀusha war, arbeitete im Büro von Gropius. Die architektonische Nachahmung und Japanisierung des Bauhausstils hatte bei engagierten Architekten einen gewissen Erfolg. Aber die Realisierung der Bauhaus-Idee als eine Möglichkeit sozialer Verbesserungen stand noch aus: nämlich Aspekte wie Modernisierung des alltäglichen Lebens bzw. Lebensverbesserung für die Arbeiter und Kleinbürger, die Aufklärung der Durchschnittsbürger im Bereich von Alltagsge-
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genständen und Industriedesign oder die Reform der Kunstausbildung allgemein. Diese Seite des Bauhauses wurde hauptsächlich durch zwei Institutionen aufgenommen und weiter entwickelt. Die beiden Einrichtungen zeigten eine alternative Rezeption des Bauhauses in Japan, indem sie nicht allein den Bauhausstil, sondern das ‚Gesamtkonzept Bauhaus‘, bewusst oder unbewusst, in ihrer Tätigkeit widerspiegelten und damit neue Möglichkeiten im Möbelbau und in der Kunstausbildung indizierten. Die Institutionen waren Keiji-Kǀbǀ und Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin.
2.
Keiji-Kǀbǀ als avantgardistische Bewegung der Lebensverbesserung
Abb. 1: Junpei Nakamura, Plan für den Wiederaufbau, Tokyo 1924 Nach dem großen Erdbeben, das Tokyo und seine Umgebung 1923 sekundenschnell vernichtete, bestand bei der jüngeren Generation der japanischen Architekten und Industriedesigner Unzufriedenheit mit den japanischen Lebensverhältnissen. Anfang des 20. Jahrhunderts war Japan im Stadium der schnell vorangehenden Industrialisierung und Urbanisierung. Zwangsläufig entstanden dadurch ein ernsthafter Wohnungsmangel und eine Verschlechterung der Wohnbedingungen. Wohnungen waren meistens auf japanische Art gebaut, so dass der allgemeine Lebensstil in
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Japan mit einigen Ausnahmen traditionell war. Kleinbürger hatten nicht einmal Stühle, sondern sie lebten wie früher auf Tatami. Die Verwüstung der Hauptstadt Tokyo bot die einmalige Gelegenheit zum planmäßigen Wiederaufbau der Stadt und zugleich zur schnellen Verbesserung und Rationalisierung der bürgerlichen Lebensumstände, d.h. Europäisierung des Lebens. In diesem Zusammenhang gab es einige Gesamtentwürfe für die Neugestaltung der Hauptstadt. Zum Wiederaufbau wurde die Stiftung Dǀjunkai durch Spenden für die Erdbebenschäden eingerichtet. Diese Stiftung baute viele für japanische Verhältnisse große Siedlungen aus Stahlkonstruktionen in Tokyo.2 Insgesamt waren es 2.508 Nachahmungen europäischer Siedlungen, zwar kleine, aber immerhin moderne Wohnungen im europäischen Stil. Damit wurde die europäische Technologie dem Bewusstsein der Durchschnittsbevölkerung in konkreter Form vorgestellt. Dǀjunkai baute auch circa 10.000 Wohnungen aus Holz, aber es waren europäische Stahlbauten, die an den großen Straßen standen und den Wiederaufbau nach dem Erdbeben symbolisierten. Zuständig für das gesamte Stahlbauprojekt war Shǀzǀ Uchida, ein Professor für Architektur an der Kaiserlichen Universität Tokyo. Er empfahl der Regierung seinen Schüler Ryǀichi Kawamoto als Chefarchitekt der Dǀjunkai. Der erste Grundsatz bei dem Entwurf war Standardisierung, was zugleich Rationalisierung der Kosten bedeutete. Jedes Gebäude hatte einen ähnlichen Grundriss. In jeder Wohnung wurden ein Gaskocher und Gasheizung, ein Wasserklosett und ein Müllschlucker installiert. Zu jedem Gebäude gehörten ein Waschhaus, ein Wintergarten, ein Spielplatz für Kinder, eine Kantine3 und ein Badezimmer. Auch die Einrichtung der Innenräume wurde standardisiert. Die Anordnung der Gebäude, die Planung der einzelnen Wohnungen bzw. Treppenhäuser standen unter dem Einfluss von Siedlungen, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland gebaut worden waren.
2 Einer der Gründe, warum die Stiftung Dǀjunkai sich für Stahl entschieden hatte, lag in der Überlegung, dass Gebäude aus Stahlbeton als Brandmauer fungieren sollten. Von 638.860 Häusern wurden durch das Feuer, das direkt nach dem Erdbeben ausbrach, 407.992 Häuser zerstört. Das waren 64 % der Gesamtbebauung. 3 Es gab auch ein Dǀjunkai-Apartment, in dem nur ledige Mieter wohnen durften. Diese Personengruppe konnte in der Kantine essen.
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Abb. 2: Dǀjunkai, Edogawa Apartmenthaus, Wasserklosett Diese durch neueste europäische Technologien unterstützten Einrichtungskonzepte und Gebäude, die durch Benutzung der gemeinsamen Räume entstehenden Lebensgemeinschaften faszinierten den Mittelstand, die Intellektuellen und insbesondere die jüngere Generation. Hinter dem Projekt ‚Dǀjunkai-Apartmenthouse‘ stand ganz offensichtlich der Gedanke, einen Umbruch der japanischen konventionellen Lebensverhältnisse zu erreichen, d.h. Rationalisierung/Standardisierung/Europäisierung. Vor dem Erdbeben in Tokyo gab es auch auf Initiative des japanischen Kultusministeriums eine ‚Lebensverbesserungsbewegung‘ in Anlehnung an das, was nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen Bereichen des Lebens und der Künste schon in Amerika und Europa entstanden war. Die Bewegung, die in Japan schlicht eine Europäisierung bedeutete, hatte jedoch zahlreiche Schwierigkeiten, z.B. beim Erwerb von bereits bebauten Grundstücken für Parkanlagen oder Grundschulen. In diesem Sinne war die Verwüstung von Tokyo eine der Grundbedingungen für den Erfolg, den Dǀjunkai im Bereich der Wohnungsreform er-
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reichte. Dǀjunkai mit ihrer modernen Architektur bereitete die Grundlage für die weitere Entwicklung der Idee der Lebensverbesserung. In einer Wohnung der Dǀjunkai-Apartmenthaus-Anlage in Shibuya trafen sich 1927 regelmäßig junge Architekten und Industriedesigner zu Diskussionen über Realisierungsmöglichkeiten dieser Idee. Im Mittelpunkt stand dabei Chikatada Kurata, der damals als Architekt im Stil der architektonischen Sezession Japans tätig war. Aus dieser Gruppe entstand gegen 1928 eine private Forschungsgruppe namens Keiji-Kǀbǀ (‚Keiji‘ bedeutet ‚unbestimmte Formen‘, ‚Kǀbǀ‘ ‚Werkstatt‘).4 Die Gründungsmitglieder der Gruppe waren Chikatada Kurata5, Yoshiatsu Ikebe6, Ikujirǀ Itǀ7, Ryǀji Iwai8, Katsuhei Toyoguchi9, Kenji Nakajima10, Masao Matsumoto11, Noboru Kobayashi12, Keiji Satǀ13 und Shirǀ Saitǀ. In ihrem Manifest zur Gründung schrieben sie: Keiji-Kǀbǀ hat das Ziel, gegenüber Architekturen und Manufakturwaren, die unser Leben umgeben, einen bewussten Standpunkt zu vertreten. Wir haben angefangen, durch eine Verbindung getrennter Techniken vom Standpunkt der Architekten, Kunstgewerbetechniker und Hersteller die Rationalisierung des wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und produktiven Wertes zu realisieren.14
4 Siehe Gruppe 5 und Toyoguchi, Katsuhei (Hrsg.): Keiji-Kǀbǀ kara. Toyoguchi Katsuhei to dezain no hanseiki (Über Keiji-Kżbż. Toyoguchi Katsuhei und sein Design im letzten halben Jahrhundert), Tokyo 1987, S. 63f. Diese Veröffentlichung ist eine der wenigen Quellen, die Informationen über Keiji-Kǀbǀ enthalten, da Dokumente oder Materialien im Zusammenhang mit Keiji-Kǀbǀ fast alle im Krieg vernichtet wurden. 5 1895-1966. Architekt, Dozent an der Höheren Schule für Kunstgewerbe Tokyo. 6 Absolvent der Kunstschule Tokyo, Fach Graphik. 7 Designer für Holzkunstgewerbe. Betrieb eine Möbelfabrik und war zuständig für Prototyp-Herstellung und Produktion. 8 Angestellter der Möbelfirma Ozawa Shintarǀ Shǀten. 9 Möbel-Zeichner. Er entwickelte die Idee der Keiji-Kǀbǀ. Wurde 1933 im Institut für Kunstgewerbe des Ministeriums für Handel und Industrie eingestellt und recherchierte dort aus dem Aspekt der Ergonomie, insbesondere Stühle. Spielte nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorläufer für Möbel-Design eine wichtige Rolle. 10 Möbel-Zeichner. Angestellter der Baufirma Shimizu Gumi. Vermittler der neuen Kenntnisse über deutsche Möbel. 11 Initiator der Keiji-Kǀbǀ. Vermutlich Verfasser des Manifests für KeijiKǀbǀ. 12 Möbel-Zeichner. 13 Wie Iwai Angestellter einer Möbelfirma und für den Entwurf von Versuchsmodellen zuständig. 14 Gruppe 5 und Toyoguchi (wie Anm. 4), S. 64.
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Ihr Vorhaben lässt sich deutlich erkennen: Nach der erfolgreich durchgeführten Modernisierung der Wohnungen im Dǀjunkai-Projekt intendierte Keiji-Kǀbǀ eine Modernisierung auf alltäglicher Ebene, d.h. Verbesserung der Lebensverhältnisse durch Europäisierung, durch Herstellung schön entworfener, funktionstüchtiger und billiger Alltagsgegenstände. Im Rahmen der Ideen, die die ‚Lebensverbesserungsbewegung‘ entwickelt hatte, wollte Keiji-Kǀbǀ ihre Ideale im Bereich aller alltäglich gebrauchten Gegenstände realisieren.15 Der Gruppe liegt ohne Zweifel die Bauhaus-Idee zugrunde.16 Masao Matsumoto, einer der ersten Mitglieder der Keiji-Kǀbǀ, erinnert sich an die Gründungszeit der Gruppe: Wir haben zum Beispiel geplant, (nach Abschluss der Schule17) entsprechend dem Deutschen Werkbund oder Bauhaus Grafiken, Innenarchitektur oder Alltagsgegenstände als Industrieerzeugnisse durch organisierte Arbeit und (neue) Design-Technologien zu entwerfen und herzustellen und damit eine neue Richtung einzuschlagen.18
Um zu verstehen, wie revolutionär die Idee damals in Japan war, muss man die sozialen Umstände im Japan der 1920er und 1930er Jahre berücksichtigen. In der Tat wurde Kunstgewerbe allmählich als Kunst anerkannt, wie etwa die Tatsache zeigt, dass die jährliche Kaiserliche Kunstausstellung – die damals renommierteste und einflussreichste Ausstellung – 1927 Kunstgewerbe als vierte Abteilung aufnahm oder auch, dass das Ministerium für Handel und Industrie das Institut für Kunstge15 Keiji-Kǀbǀ plante eine Massenherstellung ihrer Produkte, doch kaum eine Fabrik war im Stande, ihr Vorhaben zu verstehen und mit ihr zu kooperieren, zumal Anzeichen für den Japanisch-Chinesischen Krieg, der neun Jahre nach der Gründung der Keiji-Kǀbǀ ausbrach, immer deutlicher und viele Fabriken zur Kooperation mit dem Militär gezwungen wurden. Außerdem wirkte sich die Weltwirtschaftskrise von 1929 in den dreißiger Jahren in Japan deutlich aus. 16 Der Architektur-Kritiker Hiroshi Kashiwagi meint: „Man kann an den Ideen von Kurata Einflüsse des Bauhauses erkennen, das durch Maschinensysteme die Umgebung synthetisch gestalten wollte.“ Siehe Kashiwagi, Hiroshi: Geijutsu no fukusei gijutsu jidai (Kunst im technischen Zeitalter der Reproduktion), Tokyo 1996, S. 33. 17 Matsumoto war Mitschüler von Toyoguchi an der Höheren Schule für Kunstgewerbe Tokyo, wo sie von Chikatada Kurata, dem späteren Leiter der Keiji-Kǀbǀ, unterrichtet wurden. 18 Siehe Toyoguchi, Kappei/Shimazaki, Makoto: „The Keiji Kǀbǀ (The Experimental Workshop for Modern Furniture Design) and their Furniture Design Research“, in: Bulletin of the Musashino Art University, 13 (1980), S. 1-46, hier: S. 25.
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werbe einrichtete. Aber das zeitgenössische Interesse an Kunstgewerbe beschränkte sich noch auf diese Ebene von Ausstellungen oder Forschungsinstituten. Eine Reform oder Modernisierung des Kunstgewerbes im Alltag war zunächst kaum denkbar. Mit der Zeit vermehrte sich besonders die Schicht der Angestellten. Sie lebten überwiegend in Mietwohnungen mit zwei Tatamizimmern. Meist hatten zwei Wohnungen eine gemeinsame Küche und Toilette, jedoch kein Bad. Gasherde oder Gasheizung waren die Ausnahme. Die Angestellten hatten in ihrer Wohnung keine Möbel außer einem japanischen Esstisch und einer Kleiderkommode. Frauen trugen immer noch – sechzig Jahre nach dem Zusammenbruch des feudalistischen Systems – japanische Kimonos, nicht nur im Privatleben, sondern auch im Büro.19 Die neu entstandenen Massen in Tokyo und in anderen Großstädten lebten einerseits in schlechten Wohnverhältnissen und kamen andererseits jeden Tag mit den Vorstellungen über ein neues urbanes europäisches Leben in Berührung, die ihnen neue Medien wie das Radio und der (Ton-)Film vermittelten. In dieser Situation der Wohnkultur in Japan entstand die ‚Lebensverbesserungsbewegung‘, deren Ziel war, hygienisch, gesund und bequem leben zu können. Konkreter gesagt: ein Leben mit Stühlen, Rationalisierung der Küche, eine an der Familie orientierte Wohnung, zentral gelegene Apartments und die Entwicklung von ‚Gartenstädten‘ in den Vororten. Ein Teil davon wurde erst nach dem großen Erdbeben in Tokyo durch das DǀjunkaiProjekt realisiert. Ebenso revolutionär wie dieses Projekt für die damaligen Lebensverhältnisse in Japan war, war auch die Idee der Keiji-Kǀbǀ. Durch die Modernisierung der Möbel zielte Keiji-Kǀbǀ auf die Modernisierung der Lebensverhältnisse, anders gesagt, eine Befreiung von den schlechten traditionellen Lebensverhältnissen. Die Aktivitäten der Keiji-Kǀbǀ bestanden in Recherchen, Herstellung von Versuchsmodellen20, Kursen, Ausstellungen, Produktionen und Verkäufen. Die Ergebnisse der Recherchen und die Versuchsmodelle wurden in den Broschüren Raport21 vorgestellt: 19 Auf Grund von Fotos von Grundschülerinnen wird vermutet, dass sich die Umstellung der Frauenkleidung von Kimonos zu westlicher Kleidung 1932 vollzog. Vgl. Toyoguchi/Shimazaki (wie Anm. 18), S. 15. 20 An Recherchen und Versuchsmodell-Herstellung beteiligten sich nicht alle, sondern nur einzelne Mitglieder der Keiji-Kǀbǀ. 21 Insgesamt lediglich drei Ausgaben. Ideengeber des Titelnamens war Keizǀ Tezuka. Der Leiter der Gruppe, Kurata, kommentierte dazu, dass das Esperanto-Wort „Raport“ zeigen solle, dass man nicht unter dem Einfluss eines bestimmten Landes stehe. Vgl. Gruppe 5 und Toyoguchi (wie Anm. 4), S. 68. Bei den Rohrprodukten wurde jedoch deutlich, dass die Gruppe stark vom Bauhaus-Stil beeinflusst war.
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MASATO IZUMI Thema Rohrmöbel22 Stühle Zahlen und illustrierte Innenarchitektur von Apartments
Autoren Tezuka23, Matsumoto Kobayashi,Toyoguchi, Saitǀ Toyoguchi
Jg. 1933 1933 1934
Zwischen 1925 und 1928 wurden Rohrmöbel – sehr wahrscheinlich nur durch Fotografien – in Japan vorgestellt. Die modernen Eigenschaften der Rohrmöbel, die sich leicht auch von Fotos ablesen ließen, imponierten den Mitgliedern der Keiji-Kǀbǀ. Insbesondere die Rohrstühle machten einen rationalistischen und intellektuellen Eindruck auf sie. Zentral für die Vermittlung von Informationen über europäisches Möbel-Design fand 1932 im Tokyoter Kaufhaus Matsuzakaya die „Ausstellung über Neue Architektur und Kunstgewerbe in Deutschland“ statt, deren Demonstration verschiedener Gegenstände und Möbel-Modelle den japanischen Architekten und Industriedesignern einen großen geistigen Schock versetzte. Auch Bruno Taut war einer der wichtigen Vermittler. 1933 besichtigte Taut die erste Ausstellung von Versuchsmodellen des Instituts für Kunstgewerbe und kritisierte freimütig vor dem Leiter des Instituts dessen „oberflächliche“ Modernisierung des traditionellen japanischen Kunstgewerbes.24 Der Leiter des Instituts, Kunii, der die Bedeutung der Kritik von Taut einsah, stellte ihn als Lehrbeauftragten des Instituts ein. Taut arbeitete dort nur drei Monate, doch er zeigte anhand der Prototypmodelle von Stühlen und Beleuchtungsobjekten den jungen Studierenden, wie die Materialien, Struktur, Gestaltung, Funktion und Wirtschaftlichkeit von Möbeln in engem Zusammenhang stehen sollten. Unter den von Taut beeindruckten Studierenden war auch Katsuhei Toyoguchi, Mitglied der Keiji-Kǀbǀ, der in Raport 2 über die Stühle berichtete.
22 Toyoguchi versuchte 1930 die ersten Versuchsmodelle des ‚Rohrstuhls’ herzustellen, aber hatte keinen Erfolg. Die Verarbeitungstechnik war schlecht. Unter dem Eindruck dieser Erfahrungen wurde Raport 1 geschrieben. Vgl. Toyoguchi, Katsuhei: „Anmerkung zum Artikel ‚Keiji-Kżbż‘ von Chikatada Kurata“, in: Dezain. Tokyo, Bijutsu shuppansha, 30 (1962), S. 36. 23 Keizǀ Tezuka war Absolvent des Fachs Metallkunstgewerbe an der Höheren Schule für Kunstgewerbe Tokyo (1929) und Namengeber von Raport. Er recherchierte über Rohrmöbel im Allgemeinen und fertigte als Abschlussarbeit einen Lehnstuhl und einen Teetisch aus Rohren im Stil von Mies van der Rohe an. 24 Vgl. Gruppe 5 und Toyoguchi (wie Anm. 4), S. 473f.
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Raport 1 war der Bericht über die verschiedenen Recherchen zu den Rohrstühlen und die Herstellung der Versuchsmodelle.25 Raport 2 berichtet über die Ergebnisse der Herstellungsversuche von Stühlen aus Holz und Metall. Keiji-Kǀbǀ beschäftigte sich vor allem mit Stühlen aufgrund der Überzeugung, dass das konventionelle Leben damit gesund und hygienisch reformiert würde.26 In ihrem Streben nach sozialen Verbesserungen durch die Modernisierung der Möbel stellte sich die Gruppe vor, dass Stühle die Lebensverhältnisse rationalisierten, weil man schneller in die nächste Bewegung (nämlich Stehen bzw. Gehen) übergehen könne, wenn man nicht auf Tatami auf dem Boden, sondern auf Stühlen sitze.27 Die heute exzentrisch wirkende Vorstellung der Rationalisierung des Lebens durch ein Möbelstück entsprang aber auch den Zeitumständen Anfang der 1930er Jahre, deren Stimmung Toyoguchi, einer der Verfasser von Raport 2, in Stichworten zusammenfasste: Vom Kimono zur westlichen Kleidung, von japanischen Haarschnitten zu europäischen, vom Gehen zur Straßenbahn oder zum Flugzeug, von der japanischen Architektur zur europäischen und zur Siedlung.28
Hier sieht man deutlich, wie die Objekte bürgerlichen Lebens und damit auch das Bewusstsein der Kleinbürger allmählich geändert wurden durch europäische Technologien, die schon im Bereich des Militärs und der öffentlichen Verwaltung realisiert worden waren. Doch der Alltag der Durchschnittsbürger war weit von Modernisierung und Europäisierung entfernt. Die meisten Leute lebten in Mietwohnungen mit Tatamizimmern, wie oben schon beschrieben. Und eben das wollte Keiji-Kǀbǀ mit ihren Stühlen, wenn auch geringfügig, ändern.29
25 Das Inhaltsverzeichnis von Raport 1 lautet: 1) Entstehung der Rohrmöbel, 2) Eigenschaften der Rohrmöbel, 3) Konstruktionen der Rohrmöbel, 4) Fragen der Strukturen, 5) Herstellung der Rohrmöbel, 6) Verarbeitung der Oberfläche, 7) Schluss. 26 Toyoguchi/Shimazaki (wie Anm. 18), S. 31. 27 Vgl. Gruppe 5 und Toyoguchi (wie Anm. 4), S. 70. 28 Vgl. Gruppe 5 und Toyoguchi (wie Anm. 27). 29 Toyoguchi behauptet sogar in seinem Buch Hyojun Kagu (Standardisierte Möbel) auf Grundlage eines Vergleichs der Körpergröße der Japaner mit deren der Hawaiianer und Amerikaner nach den Altersgruppen, Japaner seien kleiner als Hawaiianer und Amerikaner, weil Japaner keine Stühle benutzten. Siehe Toyoguchi, Katsuhei: Hyojun Kagu, Tokyo 1935, S. 3.
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Abb. 3: Keiji-Kǀbǀ Testchair In den metallenen Rohrmöbel-Versuchsmodellen von Keiji-Kǀbǀ sind einerseits die Einflüsse der Bauhaus-Rohrmöbel evident. Sie könnten schlicht als Nachahmung der Bauhaus-Rohrmöbel von Marcel Breuer oder Mies van der Rohe bezeichnet werden. Darüber hinaus aber versuchte die Gruppe, die für japanische Körpermaße optimalen Dimensionen der Stühle herauszufinden. Aus diesem Vorhaben entwickelte sie einen ‚Testchair‘, ein Versuchsmodell, das mit Mechanismen zur Verstellung von Sitzhöhe, Sitztiefe, Höhe der Lehne und Winkel zwischen Lehne und Sitz versehen war. Mit diesem ‚Testchair‘ wollte man extrem präzise Zahlen der optimalen Dimensionen für Japaner herausfinden, als könne man damit alle Schwierigkeiten überwinden. Die Präzisionsbegeisterung indiziert aber, dass Keiji-Kǀbǀ naiv genug glaubte, sie werde durch die Präsentation der genauesten Zahlen praktische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Konsequenzen haben. Auf Grundlage der Daten, die man durch den ‚Testchair‘ bekam, wurden einige Versuchsmodelle von Stühlen entwickelt. Das Charakteristikum dieser Modelle besteht darin, dass sie aus Gründen der Wirtschaftlichkeit aus Holz gezimmert wurden und durch schmale Bretter jeweils zwischen dem vorderen und hinteren Stuhlbein eine Art von Kufen erhielten, die verhindern sollten, dass sich die Stuhlbeine in die Tatami eindrückten. Diese Verarbeitung zeigt, dass Keiji-Kǀbǀ damit rechnete, dass ihre Stühle von Durchschnittsbürgern und Arbeitern gekauft und in kleineren japanischen Häusern auf Tatami benutzt würden.
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Abb. 4: Keiji-Möbel Das Vorgehen der Keiji-Kǀbǀ, die Bauhaus-Idee vom japanischen Standpunkt aus aufzunehmen und die Bauhaus-Möbel den japanischen (klein)bürgerlichen Lebensverhältnissen anzupassen, muss hoch gewertet werden, da Bauhaus keine oberflächliche Nachahmung seiner Formen im Ausland fordert, sondern den Geist der Modernisierung und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse durch die Herstellung billiger, funktionstüchtiger und schöner Industrieerzeugnisse. In diesem Sinne folgte Keiji-Kǀbǀ exakt den Bauhaus-Ideen. Raport 3 enthält die Ergebnisse von Recherchen zum Leben der Durchschnittsbürger. Auf Grundlage einer entsprechenden Untersuchung, die die renommierte Zeitschrift für Hausfrauen Fujin no tomo im Januar 1926 veröffentlicht hatte, versuchte Toyoguchi, den Lebensraum inklusive der Einrichtung und Alltagsgegenstände durch Zahlen zu erfassen. Das Zahlenmaterial sollte zeigen, wie die Möbel und andere Objekte in einem Zimmer oder einer Wohnung benutzt und angeordnet sind. Dahinter stand die Überzeugung der Keiji-Kǀbǀ, dass die japanischen Lebensverhältnisse anhand der Verwendung der Einrichtungsgegenstände erkannt werden könnten und dass man dadurch einen Standard für ein neues, gesundes und ‚kulturelles‘ Leben finden könne. Ausstellungen von Keiji-Kǀbǀ fanden insgesamt viermal statt. Während die erste (1928) und zweite Ausstellung (1930) für Architekten und Intellektuelle konzipiert waren, waren die dritte (1934) und vierte
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(1937) für Käufer im Allgemeinen.30 Nach der zweiten Ausstellung begann Keiji-Kǀbǀ in Kooperation mit der Zeitschrift Fujin no tomo31, die damals wie Keiji-Kǀbǀ auf die Verbesserung der Lebensumstände der Hausfrauen abzielte, mit der mail order.32 In einer Anzeige, die im Juli 1930 in dieser Zeitschrift erschien, beschrieb Keiji-Kǀbǀ ihr Vorhaben: „Keiji-Kǀbǀ hat das Ziel, die unten angegebenen, ursprünglich als Versuchsmodelle hergestellten Möbel möglichst zahlreich und billig auf den Massenmarkt zu liefern.“33 Wie groß der Umsatz war, lässt sich allerdings nicht mehr ermitteln, da fast alle Materialien über Keiji-Kǀbǀ im Krieg vernichtet wurden. Mit diesen beiden Versuchen – Käufer-Ausstellungen und mail order – intendierte Keiji-Kǀbǀ offensichtlich wie Bauhaus, einen größeren Markt zu erschließen und damit die Ideen von der Modernisierung des Lebens bei der ‚Masse‘ zu verbreiten. Toyoguchi schrieb gegen 1930 einen kleinen Essay über das neue Kunstgewerbe. Darin vergleicht er die „neue Form des Kunstgewerbes für die Masse“ mit dem „dekorativen“ Kunstgewerbe für die „Privilegierten“ und behauptet am Ende: Das neue Lebenskunstgewerbe für die Masse muss eine Form haben, die durch die totale Benutzung der Maschine und die Spezifik der Maschine produziert wird. […] Kann man nicht die neue, vereinfachte, vereinheitlichte Schönheit in den Gegenständen […], die durch die Erforschung neuer Materialien und Funktionen produziert sind? Wir beklagen das klägliche Leben der Masse, die kritiklos in unwirtschaftlichen, unzweckmäßigen Häusern wohnt, die kritiklos den japanischen Haarschnitt und den Kimono trägt, die kritiklos den feudalistischen japanischen Geschmack verherrlicht. Die neue Form des Kunstgewerbes für die Masse hat keine andere
30 Siehe Gruppe 5 und Toyoguchi (wie Anm. 4), S. 88f. 31 Durch diese Frauenzeitschrift versuchten Kurata und Matsumoto, die Leserinnen in Sachen der modernen Architektur und Möbel aufzuklären. Vgl. z.B. Kurata, Chikatada: „Gendai no shnjgǀ jnjkyo“ (Siedlungen in der Gegenwart) und Matsumoto, Masao: „Atarashii shitsunai sżchi to kżgei ni tsuite“ (Über neue Apparate im Innenraum und Möbel.), in: Fujin no tomo, 25, 9 (1931), S. 200-208 und S. 209-217. 32 Ab 1936 verkaufte Keiji-Kżbż ihre Möbel in Kooperation mit der Frauenzeitschrift Fujin-Kżron. Aber Keiji-Kżbż konnte damit keinen Gewinn erzielen, da sie nur 5 % des Umsatzes bekam. Toyoguchi erinnert sich: „Der gute Umsatz schien die Tätigkeiten der Keiji-Kǀbǀ zu erleichtern, aber in Wirklichkeit konnten wir mit 5 % nichts anfangen. Arbeit in den zehn Jahren wurde einfach durch den Eifer der Mitglieder und die Genossenliebe unterstützt.“ Siehe Toyoguchi (wie Anm. 22), S. 36. 33 Siehe Gruppe 5 und Toyoguchi (wie Anm. 4), S. 89.
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Möglichkeit als die der rationellen, wissenschaftlichen Produktion.34
Neben den Einflüssen des Bauhauses und des Deutschen Werkbundes lassen sich aus dem Essay auch die des Marxismus ablesen. Im Jahr 1937, in dem der Japanisch-Chinesische Krieg ausbrach, wurde die Japanische Kommunistische Partei verboten, aber bis zu diesem Jahr durfte man zensierte marxistische Bücher u.Ä. lesen, und die Lektüre solcher Publikationen wurde manchmal als ein Merkmal Intellektueller betrachtet. Es ist wohl nicht weit hergeholt, in der Idee der Lebensverbesserung von Toyoguchi und den anderen Mitgliedern der Keiji-Kǀbǀ auch marxistische Einflüsse zu sehen. Trotzdem hatte Keiji-Kǀbǀ, wie die Bedeutung des Namens ‚Keiji‘ (formlos) zeigt, offensichtlich nicht die Intention, einen bestimmten ideologischen Standpunkt zu vertreten: Sie wollten Möbel herstellen. Doch in der Zeit zwischen 1936 und 1937, als sich Japan schnell auf den Krieg hin zu orientieren begann, konnte KeijiKǀbǀ den Zeitumständen nicht entgehen. Es existieren bedauerlicherweise weder Erinnerungen noch Dokumente, die uns mitteilen könnten, wie Keiji-Kǀbǀ sich auflöste. 1937 existierte die Gruppe nicht mehr. Ihre Idee, durch die Standardisierung der Möbel auch die Modernisierung der japanischen Lebensverhältnisse zu erreichen, und ihre Herstellung standardisierter Möbel machten Keiji-Kǀbǀ zum Vorläufer des japanischen Industriedesigns. Ihre Mitglieder waren nach dem Zweiten Weltkrieg an zentralen Stellen im Bereich des Industriedesigns tätig. Dem Bauhaus-Gedanken folgte Keiji-Kǀbǀ dadurch, dass sie die Idee der Lebensverbesserung oder der Modernisierung, Rationalisierung und Europäisierung der japanischen Lebensverhältnisse mit der Idee der Standardisierung von Möbeln verknüpfte sowie dadurch, dass Keiji-Kǀbǀ ihre Tätigkeit auf Recherchen, Versuchsmodell-Herstellung, Ausstellungen, Kurse und Verkauf ausstreckte und die von ihr verstandene Bauhaus-Idee auf japanische Art und Weise zu verwirklichen versuchte. Ihre japanisierten Bauhaus-Möbel wurden zwar nicht umfassend populär, erreichten jedoch manche Sympathisanten. Die Idee der Modernisierung der japanischen Lebensverhältnisse durch die standardisierten Möbel konnte keinen direkten Nachfolger finden, aber sie übte ihren Einfluss aus auf engagierte Architekten, Industriedesigner und Studenten, deutlich zu sehen an der Tatsache, dass die Möbelstandardisierung nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan zur Hauptströmung wurde. Offensichtlich
34 Toyoguchi, Katsuhei: „Form des neuen Kunstgewerbes“, in: Tomotaka Nishikawa (Hrsg.): Kżgeibijutsu (Kunstgewerbe), Tokyo 1936, S. 77.
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kamen die Versuche der Keiji-Kǀbǀ zu früh für die damalige Situation in Japan.
3.
Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin (Neue Schule für Architektur und Kunstgewerbe) und ihr Ausbildungssystem
Im Jahr 193135 veranstaltete Keiji-Kǀbǀ in der Buchhandlung Kinokuniya in Tokyo einen zehntägigen Abendkurs für Architekten und Studenten über Möbel und Innenarchitektur.36 Referent war der Architekt Renshichirǀ Kawakita (1902-1975), der zehn Vorträge zu den Themen Möbel, Beleuchtung, Siedlung, Innenarchitektur u.a. hielt. Später fasste Kawakita seine Vorträge in Buchform zusammen und veröffentlichte sie bei Kǀyǀsha. Im ersten Kapitel des Buches wird „Der Standard der Möbel, insbesondere Stühle“ behandelt. Ähnlich wie Keiji-Kǀbǀ versuchte darin auch Kawakita, die für japanische Körpermaße ergonomisch optimalen Dimensionen von Stühlen herauszufinden. Im letzten Kapitel behandelte er wieder dasselbe Thema. Aus diesen Gemeinsamkeiten lässt sich schließen, dass Kawakita – allerdings nur Möbel betreffend – einen Keiji-Kǀbǀ sehr nahen Standpunkt einnahm.37 Renshichirǀ Kawakita, der heute als Vorläufer des japanischen Modernismus bekannt ist, gründete die erste Designschule im Stil des Bauhauses in Japan. Unter den Absolventen dieser Schule bzw. unter den Teilnehmern der Kurse an der Abendschule waren u.a. Ynjsaku Kamekura (geb. 1915)38 und Yǀko Kuwazawa (1910-1977)39. Der Name der 35 Diese Jahresangabe beruht auf Recherchen des Autors in der japanischen Parlaments-Bibliothek, wo sich ein Exemplar von Kawakitas Veröffentlichung befindet. Kawakita spricht darin vom „Jahrgang 1931“, in dem der Abendkurs veranstaltet worden sei. Siehe Kawakita, Renshichirż: Kagu to shitsunai kżsei (Möbel und die Gestaltung des Innenraums), Tokyo 1931, Vorwort. 36 Ein zweiter, fünftägiger Kurs wurde 1931 unter der Leitung von Kurata, der gerade aus Europa zurückgekommen war, in der Buchhandlung Kinokuniya veranstaltet. 37 Später gründeten Kawakita und Kurata gemeinsam einen „Verein für Trockenbau“. 38 Nach dem Zweiten Weltkrieg als einer der repräsentativsten Graphik-Designer Japans tätig. Entwarf u.a. die Plakate für die Olympischen Spiele in Tokyo 1964, die Weltausstellung in Osaka 1970 und das Symbol für den Good-Design-Preis. 39 Bekannt als Gründerin des Kuwazawa Design-Instituts (1954) und der Hochschule für Kunst und Design Tokyo (Tokyo Zǀkei Daigaku, 1966).
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Abendschule war Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin (im Folgenden abgekürzt SKKG). Sie gilt heute als Sammelpunkt und Ausbildungsstätte der damaligen Avantgardisten bzw. Modernisten, ebenso wie Keiji-Kǀbǀ. Während Keiji-Kǀbǀ jedoch dem Bereich der theoretischen Vertiefung und der Herstellung von Versuchsmodellen großen Wert beimaß, fokussierte SKKG ausschließlich auf Ausbildung und Aufklärung. Die Gemeinsamkeit der beiden Institute war der Begriff ‚Bauhaus‘, unabhängig davon, wie korrekt der Begriff von ihnen verstanden wurde. Diese erste Designschule in Japan änderte mehrmals ihren Namen und damit auch ihren Inhalt bzw. ihre Organisation. 1931 eröffnete Kawakita in seinem Haus das Institut für Shin(Neu)-Kenchiku(Architektur)Kǀgei(Kunstgewerbe).40 Es wurde 1932 als Fach (Shin-Kenchiku-KǀgeiWar auch erfolgreich als Designerin bzw. Design-Kritikerin in Bereichen der Architektur, Innenarchitektur und Mode. Kuwazawa, die im Frühling 1933 von der Design-Schule Kawakitas erfuhr, erinnerte sich später an die damalige Zeit: „Die Schüler waren meist ältere Leute. Darunter gab es auch einen selbständigen Architekten. Auch Herr Ynjsaku Kamekura hatte hier studiert, was mir später bekannt wurde. Diese Abendschule hat mich fasziniert. Wenn ich Zeit hatte, dann kam ich ins Büro von Herrn Kawakita und las dort eifrig deutsche Zeitschriften. Die Anziehungskraft und die Anregungen zur Gestaltung, die von Gakuin ausgingen, erregten ein völlig neues Gefühl in mir.“ Siehe Takamatsu, Tarǀ: „Kuwazawa Dezain Kenkyujo“, in: Akiyama, Kuniharu (Hrsg.): Bunka no shikake nin (Initiatoren der Kultur), Tokyo 1985, S. 249. Durch Kawakitas Vermittlung wurde Kuwazawa 1933 Berichterstatterin bei der Zeitschrift Jnjtaku (Wohnungswesen) und lernte dort viele modernistische Architekten kennen wie Sutemi Horiguchi, Chikatada Kurata, Kameki Tsuchiura, Iwao Yamawaki, Yoshirǀ Taniguchi, Isohachi Yoshida und Bunzǀ Yamaguchi. Sie arbeitete später in der Redaktion der Zeitschrift Kenchiku-Kǀgei AishƯǀru (I SEE ALL) und übernahm redaktionelle Arbeit für Kawakitas Standardwerk Kǀsei Kyǀiku Taikei. Durch ihren Ehemann, den Fotograf Shigeru Tamura, kam sie mit repräsentativen Fotografen wie Yǀnosuke Natori (Gründer der Gruppe Nihon Kǀbǀ, der damals wichtigsten Fotografengruppe) in Kontakt. Auch modernistische Grafiker wie Takashi Kawano, Fumio Yamana, Kinkichi Takahashi und Jinjirǀ Takamatsu lernte sie um diese Zeit kennen. Diese verschiedenen Beziehungen zu den Modernisten vor 1945 schufen die Grundlage für die Gründung ihrer epochemachenden Design-Ausbildungsinstitutionen nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit wurde sie die geistige Nachfolgerin Kawakitas und „Synthetisiererin“ der Strömungen der in Japan akzeptierten Bauhaus-Ideen. Walter Gropius, der mit seiner Frau am 15. Juni 1954 ihre Schule besuchte, schrieb mit Recht in Kuwazawas Gästebuch: „There I have found genuine Bauhaus-spirit, the desirable trend I am looking for – the traditional creative bridge between east and west. Great success to you!“ 40 Das Institut – mit lediglich 17 Schülern – war keine eigentliche Bildungsanstalt, sondern hatte das Charakteristikum eines Treffpunkts von Interessier-
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Ka) an der Schule für Gebrauchsgraphik neu organisiert, dann in demselben Jahr in Ginza41-Shin-Kenchiku-Kǀgei-Kenkyu(Studium)-Kǀshnjjo(Kursus) umbenannt, 1933 in Ginza-Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin (Schule) und schließlich ab Januar 1934 geführt als Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin. Im ersten Stadium bis zum Dezember 1933 hatten die Lehrpläne kein präzises System. Erst danach wurde allmählich eine gewisse Ordnung in das Ausbildungssystem gebracht. Nach Hiromitsu Umemiya42 lauteten die Lehrpläne folgendermaßen: 1. Periode Shin-Kenchiku-Kǀgei-Ka an der Schule für Gebrauchsgraphik Juni 1932 - Okt. 1932 1.Semester Vorlesung: Einführung in Architektur und Möbelentwurf / Strukturlehre / Geschichte der neuen Architektur Praktikum: Grundausbildung für Gestaltung im System der Bauhausausbildung 2.Semester Vorlesung: Wohnungen / Siedlungen (Sonnenscheinfrage, Wohnungshygiene, Beleuchtung) / Geschäftshäuser / Restaurants / Hotels / Möbelentwurf (1) Praktikum: Realisierung des Möbelentwurfs 2. Periode Ginza-Shin-Kenchiku-Kǀgei-Kenkyu-Kǀshnjjo Nov. 1932 - März 1933 Tageskurs Abendkurs 1.Semester Gestaltungsausbildung im Wohnungen / Möbel / Bauhaussystem / Design / u.a. Geschäftshäuser / Geschichte der neuen Architektur / Deutsch 2.Semester
Gestaltungsausbildung / Einführung in den Wohnungsentwurf / Wohnung
3.Semester
Entsprechend der Wünsche der Teilnehmer
Kino / Theater / Geschichte der neuen Architektur / Schalllehre
3. Periode Ginza-Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin Mai 1933 - Dez. 1933 1.Semester Grundausbildung (Übung in Spannung43/ Gestaltung durch Spannung / Übung zu Plakaten / Übung in der Vereinfachung (mit Kroki) / Übung zu Helldunkel / Farbenlehre und Übung / Übung zu Plakaten mit Farben und Spannung / Übung in der Vereinfachung der Schriftzeichen / Übung zu Materialien / Übung zu plastischen Plakaten / Übung im Tastsinn / Übung zu Fotomontagen / Übung in Papierkunst wie Kirigami, Origami, Lochpapier / Synthetische Übungen / Übung in der plastischen Gestaltung / Schaufenster / Theaterausstattung)
ten an avantgardistischen Richtungen der europäischen Architektur, Kunst und Design. Vgl. Kenchiku-Kǀgei AishƯǀru (I See All), 2, 1 (1932), S. 82. 41 Name des lebhaftesten Geschäftsviertels in der Stadtmitte von Tokyo. 42 Siehe Umemiya, Hiromitsu: Shin-Kenchiku-Kohgei-Gakuin no seiritsu-katei to kyoiku-katsudǀ. 1930 nendai nihon ni okeru minkan dezain-kyoiku no jirei (Educational system and its change of Shin-Kenchiku-Kohgei-Gakuin [School for modern architecture and craft]. A private school of design in 1930’s Japan), in: Ningen Kagaku Kenkyu, 6, 1 (1998), S. 20. 43 Ein zentraler Begriff Kawakitas, den er an Kandinsky anlehnte.
BAUHAUS ALS MEDIUM DER MODERNISIERUNG Sommerkurs 2.Semester
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Ausbildung für Gestaltung Graphik / Handarbeit / Kleidung / Möbel / Fotografie / Druck / Theaterausstattung / Schaufenster / Gartenbaulehre / Einfacher Entwurf für Wohnungen und Geschäftshäuser im Allgemeinen / Geschichte der neuen Architektur / Geschichte des neuen Theaters / Kurs für Graphik, Gestaltung und Architektur (nur Abendkurs)
(Es gab darüber hinaus Sonderkurse für Theater und Malerei) 4. Periode Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin Jan. 1934 - Dez. 1935 Fächer im Tageskurs Fächer im Abendkurs 1934 Semester A Gewebe / Europäische Ausbildung für Gestaltung / Kleidung Architektur / Malerei / Theater Semester B Semester C 1935
Semester A Semester B Semester C
Gewebe / Europäische Kleidung
Ausbildung für Gestaltung / Architektur / Kunstgewerbe Ausbildung für Gestaltung / Kunstgewerbe / Theater Ausbildung für Gestaltung / Theater Ausbildung für Gestaltung Ausbildung für Gestaltung
Die Übersicht der Lehrpläne im Anfangsstadium der Schule vermittelt den Eindruck, die Unterrichtsinhalte seien beliebig nach Kawakitas Interesse ausgewählt. Doch umso deutlicher teilen sich darin Kawakitas Enthusiasmus und seine Erwartungen an das neue Ausbildungssystem mit. In der ersten Periode zeigt sich eine starke Orientierung zur Architektur, während die Grundausbildung im Stil des Bauhaussystems in der dritten Periode dominant wurde. In der Werbeanzeige für das Studium am Shin-Kenchiku-Kǀgei-Ka nannte Kawakita 1932 als minimale Bewerbungsvoraussetzung Grundkenntnisse in Architektur.44 Aber ein Jahr später, in der dritten Periode, lautete die Bedingung für die Bewerbung an der Ginza-Shin-Kenchiku-Kǀgei-Gakuin lediglich ‚Abschluss der dritten Mittelschulklasse‘ (was etwa der heutigen Höheren Schule entspricht).45 Architekturkenntnisse wurden nicht erwartet. Die zweite Periode macht die Übergangszeit dazwischen aus. In der vierten Periode, der Zeit der SKKG, existierte dann endlich ein gut durchdachter, systematischer Lehrplan. In der ersten Hälfte der vierten Periode findet man in den Lehrplänen Fächer wie Architektur, Kunstgewerbe und Theater neben dem Fach Gestaltungsausbildung, doch in der zweiten Hälfte gab es nur noch die ‚Ausbildung für Gestaltung‘. Im Prozess dieser Erweiterungen und Reduzierungen der Lehrpläne von der Architektur zur Gestaltungs44 Vgl. Kenchiku-Kǀgei AishƯǀru (I SEE ALL), 2, 4 (1932), auf der Reklameseite. Zit. nach Umemiya (wie Anm. 42), S. 21. 45 Vgl. Kenchiku-Kżgei Aishūżru (I SEE ALL), 3, 3 (1933), S. 69.
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lehre spiegelt sich das sich verändernde Interesse der Zeit und auch die Finanzlage der Schule wider. Man kann darüber hinaus vermuten, dass nicht die Lehrinhalte, sondern die Aufklärungstätigkeit durch die SKKG an sich für Kawakita von großem Belang war.
Abb. 5: Kawakita, Projektentwurf für Asakusa Das Lehrziel der SKKG in der ersten Periode hieß: „Theoretische und praktische Ausbildung von guten Designern, die in einer neuen Zeit für Architektur und Kunstgewerbe tätig sein können.“46 Die Phrase „in einer neuen Zeit“ impliziert die modernisierte Epoche, von der die avantgardistischen Architekten und Künstler in den 1920er Jahren in Japan träumten. Der Blick auf eine Utopie war eine Gemeinsamkeit zwischen den marxistisch orientierten Architekten und den Sezessionsarchitekten, in deren Umkreis sich Kawakita befand. Aus seinem Projektentwurf für Asakusa, ein Geschäftsviertel in Tokyo, ist diese Tendenz deutlich abzulesen. Seine Fähigkeit als Architekt bewies er auch dadurch, dass er den vierten Preis im internationalen Entwurf-Wettbewerb für ein Theater in der Ukraine gewann.47 Vor diesem Wettbewerb hatte Kawakita 1929 den AS-Kenchiku-Kai (Architekturverein AS) gegründet und 1930 mit anderen Architekten zusammen den Shinkǀ-Kenchikuka-Renmei (Verband für neue Architekten).48 Da die beiden Architektengruppen links46 (wie Anm. 45). 47G Bei diesem Wettbewerb erreichte Walter Gropius den achten Platz. 48 Die Überschrift eines Artikels dazu in der Yomiuri-Zeitung vom 13. Nov. 1930 lautete: „,Rote‘ Propaganda im Bereich Architektur. Napf-Tätigkeit
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orientiert waren, galt auch Kawakita als Marxist. Sein Erfolg in dem internationalen Wettbewerb – selbst der vierte Platz war für einen japanischen Architekten damals ein großer Erfolg – wurde in diesem ideologischen Kontext betrachtet.49 Angesichts der seiner Meinung nach ungerechten Kritiken erklärte Kawakita enttäuscht und wütend bald danach sein neues Ziel in der Fachzeitschrift Kenchiku Shincho: Ich will als ein Protestierender (gegen solch ungerechte Tendenzen) im Bereich der Technik im japanischen Architekturwesen für eine aufklärende Bewegung bis zu meinem Tod kämpfen.50
Hierin ist der Grund zu sehen, warum er sich nicht als Architekt, sondern als aufklärender Initiator im Ausbildungswesen für Architektur und Kunstgewerbe betätigte. Dabei spielte Takehiko Mizutani, der im Bauhaus in Dessau studiert hatte und 1930 nach Japan zurückgekommen war, die Mittlerrolle: Mizutani gab Kawakita, der eine neue Position suchte, die aktuellen, ausführlichen Informationen über das Bauhaus. Kawakita benutzte offensichtlich das Bauhaus, dessen Konzept ihn besonders interessierte, als Vorlage für seine neue Aufklärungstätigkeit – der Möglichkeit, seinen Modernismus in der Gesellschaft zu realisieren. Daraus erklärt sich wohl, dass einzig die Ausbildung für Gestaltung bis zum Ende der SKKG in den Lehrplänen blieb. Zu den Lehrplänen in der dritten Periode kommentierte Kawakita, SKKG sei „die Schule, die den Lernenden eine Lösung der Fragen der Gestaltungsprinzipien in allen Bereichen der neuen Künste“ biete oder „ein Versuchsinstitut für die neuen Künste im Allgemeinen, an dem man am progressivsten und einfachsten lernen kann“.51 Es war deutlich sein Ziel, die Kunst allumfassend zu modernisieren, und zur Erreichung dieses Ziels diente die Grundausbildung verbreitet sich überall.“ Zit. nach Umemiya, Hiromitsu: „Tżmei na kinżshugi to hanbigaku. Kawakita Renshichirż no 1930 nendai“ (Transparenter Funktionalismus und Anti-Ästhetik. Kawakita Renshichirż in den 1930er Jahren), in: Toshiharu Omuka (Hrsg.): Modanizumu/Nashonarizumu. 1930 nendai nihon no geijutsu (Modernismus/Nationalismus. Japanische Kunst in den 1930er Jahren), Tokyo 2003, S. 110. „Napf“ ist die Abkürzung der Esperanto-Übersetzung von „Zennihon Musansha Geijutsu Renmei“ (Nippona Proleta Artista Federacio). Anlässlich der Verhaftung fast aller Mitglieder der Kommunistischen Partei Japans am 15. März 1930 wurde Napf gegründet. Der Bericht der Yomiuri-Zeitung verursachte den massenhaften Austritt der Mitglieder aus dem Verband, so dass der Verband schon im Dezember desselben Jahres zur Auflösung gezwungen war. 49 Vgl. Umemiya (wie Anm. 42), S. 112. 50 Siehe Kenchiku Shinchż, 12, 6 (1931), S. 9. 51 Kenchiku-Kżgei Aishūżru (I SEE ALL), 3, 3 (1933), S. 69.
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an der SKKG – eben ‚Kǀsei Kyoiku‘ (Ausbildung für Gestaltung) –, unabhängig von Zeitströmungen oder den finanziellen Überlegungen, als unentbehrlichstes Aufklärungsmittel. Dies ist auch Kawakitas Manifest zu entnehmen, das auf der Titelblatt-Innenseite der Zeitschrift I SEE ALL52, dem Sprachrohr und Medium für Ferndidaktik der SKKG, stand. Es lautet: In der ganzen Welt hat das Zeitalter der Technik begonnen. Alle Künste und Wissenschaften sind im Begriff, sich technisch miteinander zu verknüpfen. / Wir, umgeben von Architektur und Kunstgewerbe, rufen aus diesen neu entstandenen Künsten und Wissenschaften die Massen auf. / Hier werden alle schwierigen geschwollenen Phrasen und Gleichungen ausgetilgt. Stattdessen werden neue Architektur und Kunstgewerbe mit verständlichen illustrativen Methoden erklärt. / Es ist eine von wichtigtuerischem Unterricht und allen alten Fesseln befreite freie Schule unter freiem Himmel. / In einem oder zwei Jahren könnt ihr diese Zeitschriften binden lassen und ein neues synthetisches Lehrbuch für Architektur und Kunstgewerbe machen. Das Binden der Zeitschriften übernehmen wir provisionsfrei.53
Kawakitas SKKG-Konzept bestand aus drei Teilen: der SKKG als Schule, der Zeitschrift I SEE ALL und Kursen für die Gestaltungsausbildung in Provinzstädten. Kawakitas „Ausbildung für Gestaltung“, die Mizutani aus der materiellen Formenlehre von Josef Albers, der abstrakten Formenlehre von Wassily Kandinsky und der sinnlichen Konstrukion von Moholy-Nagy als „Grundausbildung für Gestaltung“ synthetisiert und Kawakita vermittelt hatte, wurde zwar von japanischen Architekten als eine Nachahmung des Konstruktivismus abgelehnt, aber besonders begrüßt von den für Kunstausbildung zuständigen Lehrern an Grundschulen. Entsprechend der Nachfrage nach dieser neuen Methode gab Kawakita Kurse über seine Ausbildung für Gestaltung in Provinzstädten. Dabei benutzte er die Beziehungen von I SEE ALL-Ortsgruppen – etwa in Takasaki, Kǀfu und Wakayama –, die er mit Abonnenten der Zeitschrift gegründet hatte. Veranstalter der Kurse waren immer die Lehrergruppen vor Ort. Der Erfolg der Kurse bestärkte Kawakita darin, sich auch in der SKKG immer mehr auf die Ausbildung für Gestaltung zu konzentrieren. Die Finanzlage der Schule wurde jedoch zusehends schwierig. 1934 schrieb Kawakita sein Kǀsei Kyoiku Taikei, ein umfang52 Kawakita schrieb fast alle Artikel der Zeitschrift allein. Sein Ziel war „Die Organisation einer neuen überregionalen Schule durch diese Zeitschrift“. Siehe Kenchiku-Kżgei Aishūżru (I SEE ALL), 2, 4 (1932), S. 82. 53 Siehe Kenchiku-Kżgei Aishūżru(I SEE ALL), 1, 1 (1931), dritte Innenseite des Titelblatts.
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reiches Lehrbuch für Ausbildung in Gestaltung, das über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus als repräsentativ galt. 1935 errichtete er zusätzlich ein neues Institut für die Geschäftshausplanung, zog sich allmählich von der Lehrtätigkeit an der SKKG zurück und übernahm mehr Entwurfsaufträge für Geschäftshäuser. Im Dezember 1935 wurde die SKKG geschlossen, und im August des nächsten Jahres wurden auch die anderen I SEE ALL-Kurse beendet. Kawakita kehrte in die Welt der Architektur zurück, nun aber nicht in die Projekt-Architektur wie in den 1920er Jahren, sondern zur realen Architektur. Was Kawakita jedoch in seinem neu gegründeten Institut für Geschäftshausplanung entwarf, hatte nichts mehr gemein mit den klaren Bauhaus-Linien, sondern überschritt teilweise die Grenze zum Kitsch. Dies lässt sich nur durch den Pragmatismus Kawakitas und ein niedriges Budget erklären.54 Es war aber auch die japanische Wirklichkeit im Architekturdesign, in die sich Kawakita aus der für die jungen Modernisten als eine Art Salon angesehenen SKKG zurückbegab. Doch der Geist Renshichirǀ Kawakitas fand Nachfolger in Teshigawara, Kamekura und vor allem Kuwazawa und erreichte nach dem Zweiten Weltkrieg seine volle Entfaltung.
4.
Funktion der Bauhaus-Idee als Medium in Japan
Aus der Analyse der beiden als Haupt-Rezipienten der Bauhaus-Idee in Japan geltenden Institutionen Keiji-Kǀbǀ und SKKG ergibt sich, dass beide zum Ziel hatten, keine schlichte Nachahmung zu produzieren, sondern die Bauhaus-Gedanken, die sie richtig verstanden zu haben glaubten, der japanischen Situation anzupassen und dadurch die Realisierung ihres ‚idealen Designs‘ von Kunstgewerbe und Architektur zu erreichen. Bei beiden Realisierungsversuchen übte der jeweilige ideologische Hintergrund seinen Einfluss aus: im Falle von Keiji-Kǀbǀ die linksorientierte ‚Lebensverbesserungsbewegung‘ bei der Möbelherstellung, bei SKKG die ebenfalls linksorientierte Aufklärungstätigkeit im Bereich der Architektur und der Grundausbildung für Gestaltung. Beide Institutionen sahen die Bauhaus-Idee – im Unterschied zu Künstlern in den USA und anderen Ländern – nicht nur als eine Frage der architektonischen und kunstgewerblichen Formen, sondern auch als Quasi-Ideologie mit sozialverbessernder Wirkung. Dies ist wohl der Grund, warum die Bauhaus-Idee nur in Japan so tief greifend akzeptiert wurde, sich weit verbreitete und bis heute entwickelte. ‚Das Bauhaus‘ war für die japanischen Avantgar54 Vgl. Umemiya (wie Anm. 42), S. 123.
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disten eine wirkungsvolle Lösungsmöglichkeit der sie umgebenden sozialen, ästhetischen und ideologischen Fragen. Eine Besonderheit bei der Rezeption der Bauhaus-Idee durch Repräsentanten der zwei Einrichtungen wie Kurata, Toyoguchi und Kawakita war, dass sie ihre Informationen ausschließlich durch sekundäre Medien wie Bücher, Kataloge und Fotografien erhielten. Sie hatten auch nur wenig Gelegenheit, die Produkte des Bauhaus im Original zu begutachten. Ehemalige Bauhaus-Schüler wie Iwao Yamawaki, Michiko Yamawaki und Takehiko Mizutani teilten ihnen zwar mündlich ihre Erfahrungen in Deutschland mit und übergaben ihnen wohl auch Vorlesungsmaterialien, doch das änderte nichts am sekundären Status der Informationen, auf die sich die Vertreter von Keiji-Kǀbǀ und SKKG beriefen. Die Hauptsache für die Mitglieder der beiden Institutionen war aber nicht die Korrektheit der Informationen, sondern deren Ausstrahlungskraft, weil ‚das Bauhaus‘ in dem Sinne für sie nur ein Konzept war: das Medium, durch das sie zu neuen Einsichten zu kommen glaubten. In den 1920er und 1930er Jahren funktionierte das Konzept ‚Bauhaus‘ in den japanischen architektonischen, kunstgewerblichen und didaktischen Bereichen ähnlich einem begrifflichen Transformationsapparat, der die eigenen künstlerischen Ideen der Avantgardisten an den beiden Institutionen zur Realität bringen konnte. Terunobu Fujimori fasste diese Situation in seinem Nihon no kindai kenchiku55 (Geschichte der modernen Architektur in Japan) kurz und bündig zusammen: „Das Design des Bauhaus hat (in Japan) das Charakteristikum, dass sich alle modernen Designformen ohne jeden Zwang darin sammeln wollen.“ Über das Beispiel von Keiji-Kǀbǀ und SKKG hinaus funktionierte das Konzept ‚Bauhaus‘ in Japan als ein begrifflich offenes System, ein offenes Medium. Aus diesem Grund ist die Frage ‚Bauhaus‘ in Japan auch heute noch unverändert aktuell.
55 Die wohl beste Übersicht über die sehr komplexen Zusammenhänge der japanischen modernen Architektur und eine Einführung in die Geschichte der japanischen Architektur S. Fujimori, Terunobu: Nihon no gendai kenchiku (=Reihe Iwanami shinsho, 309), Tokyo 1993, Bd. 2, S. 219.
ANDREAS KÄUSER
DAS GESICHT ZWISCHEN MEDIUM UND DISKURS IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT1 Die faciale Gesellschaft2, also die allgegenwärtige Präsenz und mediale Normalisierung bzw. Normierung des Gesichts, operiert in paradoxer Weise damit, dass der Gesichtsausdruck von Gefühlen, Seelenzuständen oder Charaktereigenschaften als unmittelbar und natürlich, evident verstehbar und wegen unwillkürlicher Hervorbringung als unverfälschbar gilt. Gesichter in Film und Fernsehen propagieren trotz ihrer medialen Gemachtheit die Aura des Lebendigen und Authentischen, denen sie ihren Erfolg verdanken. Fernsehen gilt am besten dann, wenn es ‚live‘ übertragen wird. Dazu gehören die lachenden und weinenden Gesichter der Akteure. In Diskrepanz zu diesen Evidenz- und Authentizitätsangeboten steht die doppelte Medialisierung des Gesichts durch diese visuellen Medien sowie theoretische Diskurse, welche ihm entgegen seiner Natürlichkeit eine historische Spezifik und Semantik verleihen. Visuelle Medien und theoretische Diskurse des Gesichts sind dabei miteinander verwoben, so dass erst in dieser Konstellation von Medium und Diskurs das Gesicht eine Lesbarkeit und Wissensform erhält. Ohne die bildlichen und textuellen Medien, die sich mit dem Gesicht beschäftigt haben, hätten wir keine Dokumente, kein empirisches Material für die Wissensform, die das Gesicht repräsentiert. Die kommunikative und hermeneutische Leistung des Gesichtsausdrucks in seiner flüchtigen Präsenz wird durch mediale Aufzeichnung nicht nur fixiert, aufbewahrt und gespeichert, sondern auch form- und deformierbar, damit anschließbar an historisch je differente Wissensformen.
1 Der Beitrag ist der um Anmerkungen erweiterte Vortragstext, den ich auf dem Workshop „Das Gesicht im frühen Film“ (November 2004) am Forschungskolleg „Medienumbrüche“ der Universität Siegen gehalten habe und für dessen produktiven Verlauf Prof. Dr. Walburga Hülk-Althoff und Prof. Dr. Klaus Kreimeier verantwortlich waren. 2 Vgl. Löffler, Petra/Scholz, Leander (Hrsg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation (=Mediologie, Bd. 10), Köln 2004.
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ANDREAS KÄUSER
Abb. 1: Schattenriss Demzufolge wird durch Porträt, Schattenriss, Fotografie und Film dem Gesicht das anthropologisch Universale und naturhaft Konstante entzogen, indem es kulturell und medial verformt wird. Schattenriss und Silhouette sind solche Formungen des Gesichts, welche recht genau beschränkt sind auf das späte 18. Jahrhundert und dabei den Grundsätzen der physiognomischen Deutungs- und Verstehenslehren dieser Epoche folgen. Demnach zeigt sich im Gesicht die Identität des ‚ganzen Menschen‘3, der Charakter, ein Grundsatz, der aber nur in der einfachen Schematisierung von Schattenriss und Silhouette die geforderte Visibilität erhält. Die Fotografie des 19. Jahrhunderts, noch weitgehend der Wissenschaft dienstbar und nicht als eigenes, künstlerisches Medium anerkannt, entspricht in der visuellen Deformation des Gesichts den Grundsätzen dieser Wissenschaften, ihrem Interesse an einer Normalisierung des Devianten durch Klassifizierung, sei es in der Kriminalanthropologie mit ihren phrenologischen (Lombroso, Gall) und anthropometrischen (Bertillon) Verfahren4, sei es in der biologischen Anthropologie Darwins mit ihrem tierphysiognomischen Vergleich als Beweis der Analogie der Expressions of Emotions with Man and Animal. Der Statik der Fotografie 3 Vgl. Schings, Hans Jürgen (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (DFG-Symposion 1992), Stuttgart/Weimar 1994. 4 Zur Anthropometrie Theile, Gert (Hrsg.): Anthropometrie. Vermessung des Menschen von Lavater bis Avatar, München 2003.
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korrespondiert der Deutungsgrundsatz der Stabilität des Charakters, wenn auch nunmehr als Verbrecher oder in anderen devianten, pathologischen Formen. Insofern geben die Theorien nicht nur Lesbarkeits- und Verständnisanweisungen des Gesichts, sondern enthalten immer auch Aussagen über dessen mediale Form bzw. Verformung.5
Abb. 2: Jesuitenkarikatur Lavaters Aversion gegen die Karikatur als Verfälschung des wahren Gesichts improvisiert ebenso mit dieser Differenz von natürlicher und medialer Form wie Darwins Fotograf Duchenne de Boulogne, der mit den zu Gesichtsverformungen führenden Muskelreizungen experimentiert. Die bewegliche Verformung dient dem Nachweis der stabilen Normalform, die individuelle Abweichung ist der klassifizierenden Identität unterworfen; durch visuelle Verfahren wie Geometrisierung oder Ähnlichkeit des Gesichts werden diese semantischen Grundsätze visuell nachweisbar. 5 Vgl. zur Fotografie und Verbrecherphysiognomik sowie deren „Politik der Sichtbarkeit“ im 19. Jahrhundert Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999.
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Abb. 3: Duchenne de Boulogne Durch die enge Kollaboration zwischen medialen Visualitätsformen und anthropologischen Wissensformen des Gesichts transformieren Umbrüche der medialen Form auch die Art und Weise, in der über das Gesicht nachgedacht wird. Mediale Innovationen verändern die anthropologischen Denkmöglichkeiten, so dass Theorien des Gesichts immer dann Konjunktur haben, wenn Medientechniken Bild und Erscheinungsweise des Gesichts verändern. Im Umfeld des ersten wie des zweiten Medienumbruchs ist dies so: Wird das Gesicht durch neue Medientechniken anders gezeigt oder dargestellt, so inspiriert dies die Wissenschaft vom Menschen zu neuen Denkanstrengungen, zum Entwerfen und Konstruieren anderer „Menschen-Bilder“6. Führen mediale Innovationen wie die Fotografie oder der Film zu Konjunkturen der Gesichtsdarstellung, durchaus im Sinne einer facialen Gesellschaft, so erfahren durch diese Akkumulation des medialen Gesichts dessen physiognomisch-anthropologische Reflexionsweisen eine Aufwertung und Steigerung. Medienumbrüche sind auch epistemologische Krisen, in denen ein Menschen-Bild im doppelten Sinn von visueller Erscheinung und anthropologischer Semantik verändert wird. Insofern beschränken die bewegungslosen Medien von Porträt, Skulptur und Fotografie die Semantik des Gesichts, der dadurch bis ins 19. Jahrhundert nur statische Grundsätze von Identität, Normalität und 6 Vgl. Barsch, Achim/Hejl, Peter M. (Hrsg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914), Frankfurt a.M. 2000.
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Charakter möglich sind und gelingen. Dies ändert sich erst durch die Erfindung und Ausbreitung des Films um 1900, der Gesichter in Bewegung als Abbild nervöser und mobiler Individualität zeigt, wodurch Gestik und Mimik die starre Physiognomik des Gesichts ersetzen.7 Dadurch bewirkt der Medienumbruch um 1900 zugleich einen anthropologischen, epistemologischen Bruch, der als Krise der Identität und ihrer medialen Präsentationsform des Gesichts bestimmt werden kann. In der Psychoanalyse, im Kubismus, im 1. Weltkrieg, in der großstädtischen Masse verliert das Gesicht seine individuelle Einzigartigkeit.
Abb. 4: Fotografische Identifikation Die Identifizierung, die im Passfoto immer noch Ausweis von Identität ist, erweist sich als Relikt der photografischen Identifizierung im 19. Jahrhundert; sie wird erst heute durch genetische Biometrie und informatische ‚face detection‘ verdrängt. Diese Destruktion des Gesichts zu 7 Vgl. Löffler, Petra: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld 2004; Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004.
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Beginn des 20. Jahrhunderts ist eng mit medialen Entwicklungen verknüpft. Im Film wird das Gesicht in ganz neuer Weise ökonomiefähig und hält ganze Zweige von Schönheitsindustrien am Leben: von der Kosmetik bis zum ‚face lifting‘ der Schönheitschirurgie.8 Korrespondierend liefern die medizinischen und biologischen Wissenschaften Begründungen und Techniken für diesen Vorgang der Medialisierung des Gesichts: durch Medialisierung lassen sich Gesicht und Körper zerlegen und diese amputierten Körperteile können durch Prothesen oder Masken ersetzt werden.9 Auch wenn es Rückwendungen klassizistischer oder anthropologischer Art gibt,10 so zeigt doch die ältere Koppelung von stabiler Identität, bewegungslosem Gesicht und statischem Medium ihre Überholtheit gerade an ihren mitunter kriminellen Depravationen. Die Typisierung in die Sichtbarkeit von gut und böse, die bei Lavater begann, behält ihre sozialhygienische Relevanz bis in den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese antimoderne Problemlösung verweigert sich der Medialisierung des Gesichts, indem dessen moderne Beweglichkeit negiert wird zugunsten der feststehenden Unbeweglichkeit des Rassentypus. Interessant ist der Kontrast zwischen den starren germanischen und skulpturalen Gesichtsprofilen in den Fotos von Erna Lendvai-Dirksens, Helmar Lerskis oder den Filmen Leni Riefenstahls zum eher herumfuchtelnden als gestikulierenden Hitler, den sein Fotograf Hoffmann in selbstkarikierend-pathologischer Weise ablichtete.11 Der politisch unverdächtige August Sander bemüht in einer erneuten physiognomischen Typenlehre und Klassifikationsweise das ältere Medium der bewegungslosen Fotografie und des statischen Porträts. 8 Vgl. zu den 1920er Jahren Schmölders, Claudia/Gilman, Sander (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000 und zu heute Bolz, Norbert: „Die Expedition ins Virtuelle und die Entdeckung des Körpers“, in: Guido Zurstiege/Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Werbung, Mode und Design, Wiesbaden 2001, S. 17-34. 9 Vgl. zur Medialisierung des Körpers in den Menschen-Wissenschaften des 20. Jahrhunderts Rieger, Stefan: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002; Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2000; Keck, Annette/Pethes, Nicolas (Hrsg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001. 10 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. Canto d’amore. Classicism in Modern Art and Music 1914-1935 [Ausstellungskatalog Kunstmuseum Basel], hrsg. v. Gottfried Boehm/Ulrich Mosch/Katharina Schmidt, Basel 1996. 11 Vgl. Schmölders, Claudia: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000.
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Benjamin sieht demzufolge im fotografierten Gesicht die Aura des vormodernen klassischen Kunstwerks ein letztes Mal aufscheinen, bevor durch die Beweglichkeit der Reproduzierbarkeit von Film und Foto die Koppelung von Fotografie und Physiognomik beendet wird.12
Abb. 5: Lendvai-Dirksen: Fotos
Abb. 6: Sander: Fotos
Balázs’ Filmtheorie unternimmt zunächst ebenfalls den nahe liegenden Versuch, das Gesicht des Stummfilms physiognomisch zu resymbolisieren; das heißt, die alte Entsprechung von Gesicht und Seele, Innen und Außen zu (re-)stabilisieren.13 Auch im Kino Hollywoods findet in der Großaufnahme des Porträts eine solche physiognomische Rückwendung der „photografischen Einstellung“ (Kracauer) im Film statt.14 Hatte Balázs bereits 1924 das ganzheitliche Gesicht zur partiellen Geste und Gebärde partikularisiert, so ist diese bewegliche Geste sinnvoll mit dem Begriff der filmischen und perspektivischen Einstellung zu kombinieren. Diesen filmtheoretisch und anthropologisch bedeutsamen Schritt wird Balázs 1930 vollziehen und dadurch Film und Gesicht von12 Vgl. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1980, Bd. I/2, S. 471508, hier: S. 485. 13 Vgl. Balázs, Béla: Schriften zum Film. Bd 1: Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922-1926, hrsg. v. Helmut H. Diedrichs/Wolfgang Gersch/Magda Nagy, München u.a. 1982. 14 Vgl. Kaes, Anton: „Das bewegte Gesicht. Zur Großaufnahme im Film“, in: Schmölders (wie Anm. 11), S. 156-173; Löffler/Scholz (wie Anm. 2).
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einander distanzieren. Nicht mehr das physiognomische und symbolische Entsprechungs- und Ersetzungsverhältnis von Gesicht und Identität verleiht dem Körper/Gesicht Bedeutung, sondern das syntagmatisch-metonymische Prinzip der filmischen Montage konstituiert Sinn durch lineare Reihung der gestischen Einstellungen.15 Diese Trennung unternimmt Deleuze in seiner Film- und Kinotheorie: „Ein Affektbild ist eine Großaufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht“.16 Die Großaufnahme des Gesichts ist aber ein eigentlich filmfremdes oder zumindest herausgehobenes singuläres Mittel, dessen Identitätssuggestion17 in Gegensatz tritt zum filmadäquaten Realismus des Aktions- und Bewegungsbildes18, dessen mimisch-gestische Beweglichkeit Situationen und „Verhalten verkörpert“19. Verhalten als moderne und filmadäquate, weil beweglichgestische Kategorie ersetzt das statisch-fotografische Gesicht des inneren Affekts und Charakters. Das serielle Prinzip des Films der Aneinanderreihung von Einzelbildern, der Montage von Einstellungen findet Vorläufer in den Gesichtsreihen der Karikatur wie auch der Anthropometrie.
Abb. 7: Karikatur
15 Vgl. Käuser, Andreas: „Von der Einstellung zur Einstellung. Filmtechnik und Diskursformation“, in: Nicola Glaubitz/ders./Hyunseon Lee (Hrsg.): Akira Kurosawa und seine Zeit, Bielefeld 2005, S. 253-276. 16 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a.M. 1998, S. 123. 17 Deleuze (wie Anm. 16), S. 134-136. 18 Deleuze (wie Anm. 16), S. 171. 19 Deleuze (wie Anm. 18). 19 Deleuze (wie Anm. 16), S. 193.
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Wird das mimisch bewegte und verzerrte Gesicht zunächst noch in der Grimasse typologisiert oder in der Karikatur schematisiert, so setzen sich „mimische Exzesse“20 auch wegen gestiegener Möglichkeiten der Fotografie und des Films durch, die jedes Detail der Bewegung exakter aufzeichnen können. Die Steigerung mimischer Bewegung und Verformung unterläuft die mediale Basis der Ich-Identität des ruhenden, konstanten Gesichtsausdrucks. Diese Semantik wird ersetzt durch die singuläre und nervöse Beweglichkeit der Individualität, die wegen ihrer ständigen Gesichtswechsel kaum mehr identifizierbar ist: Mimik substituiert im frühen 20. Jahrhundert Physiognomik. Identität verliert so das Medium ihrer Visibilisierung zugunsten beweglicher Individualität.21
Abb. 8: Mimisches Alphabet (1900) Bemerkenswert ist eine weitere Folge dieser Umwandlung der semiotischen und symbolischen, der facialen und anthropologisch-physiognomischen Ordnung. Sukzessive und akzelerierend wird der visuelle Teilbereich der Physiognomik dekadent, also der Glaube an die Korrespondenz von visueller Form und textueller Semantik, von Körperform und Bezeichnung. Gerät die visuelle Physiognomik im frühen 20. Jahrhundert 20 Löffler, Petra: „,Mimische Störungen‘. Zum Bild der Grimasse“, in: Albert Kümmel/Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Signale der Störung, München 2003, S. 173-197, hier: S. 194. 21 Vgl. Löffler (wie Anm. 7); zu Geste und Gebärde Egidi, Margreth et al.: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild (=Literatur und Anthropologie, Bd. 8), Tübingen 2000; Bickenbach, Matthias/Klappert, Annina/ Pompe, Hedwig (Hrsg.): Manus Loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien (=Mediologie 7), Köln 2003.
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gleich mehrfach in eine Krise, so überlebt Physiognomik als Textgenre in schriftlicher Form. Sie erfährt eine Konjunktur dadurch, dass sie sich vom Geschäft der Gesichtsdeutung absentiert und von dessen medialen Visualisierungen entfernt. Hatte die Korrespondenz von Text und Bild die hermeneutisch-semantischen Grundsätze der Identität von Innen und Außen, Körper und Seele semiotisch garantiert, so entzieht sich das durch den Film beweglich gewordene Gesicht dieser Ordnung der Zeichen und ihrer Bedeutung, der Zuordnung von Bild und Text. Nicht nur bei Plessner wird im frühen 20. Jahrhundert in der verstellbaren und verformbaren Maske ein anthropologisch-physiognomisches Kontrastmodell zum Gesichtsmodell entworfen. Die Maske als theatrales Basismaterial des Schauspielers, des mimischen Darstellers steht dabei in enger Beziehung zur schriftlichen Darstellung des Textes.22 Masken sind nicht mehr aufs Theater beschränkt, sondern beherrschen die Lebenswelt durch maskierte Individuen, die medial hervorgebracht werden durch „Techniken der Körperperfektion wie Diätetik, Sport, Kosmetik, Gentechnik und Medizin“, Werbung und Mode.23
Abb. 9: Gesichtstypisierung 22 Vgl. die Darstellung der Zusammenhänge bei Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004. 23 Bolz (wie Anm. 8), S. 24.
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So findet im frühen 20. Jahrhundert eine doppelte Entgrenzung und Erweiterung zur theatral-medialen Performanz sowie zum epistemologischen Diskurs statt. Die Maskierungen des Schauspielers sind Leitbild der infrage gestellten epistemologischen Unterscheidung von Innen und Außen, Schein und Sein in den Schriften Wittgensteins oder in der Sozialanthropologie Plessners. Nicht mehr die substanzialistische Differenz von Innen und Außen bestimmt die Denklogik, an der nur die depravierten und kriminellen Diskursformen festhalten, sondern die Denkweise einer „Form der Unterscheidung“.24 Dadurch wird die medialisierte Form des Gesichts in die Reflexion aufgenommen. Diese Reflexion der medialen Form des Gesichts verhindert den naturalistischen Jargon, der, wie Lichtenberg bemerkte, die Verbrecher bereits als Kinder an ihren Nasen erkennen zu können glaubt. Die immer wieder kritisierte Naivität von Lavaters Physiognomik besteht darin, dass die mediale Form der Gesichter als deren empirische Wirklichkeit gilt und analoge Schlussfolgerungen ermöglicht. Auch die wissenschaftliche Indienstnahme der Photografie im 19. Jahrhundert behauptet deren mimetische, ‚realistische‘ Abbildlichkeit, und ignoriert die mediale, die ästhetische Form. Wenn die mediale Form von Körper- und Gesichtsbildern beachtet wird, führt dies über Distanzierung zur Reflexion; werden Gesichter durch realistische und mimetische Ähnlichkeit gelesen und gesehen, so wird diese distanzierende Reflexion durch analoge Nähe abgebaut. Der Analogieschluss von „Körperbau und Charakter“ (Kretzschmar) behauptet sich in der trivialen Massenkultur der facialen Gesellschaft; deren unseriöse Dekadenz wird kulturkritisch konterkariert in der reflektierten Form physiognomischer Theorien. Darstellung und Maske sind die Eckpunkte dieser Konzeption. Das symbolisch-physiognomische Verweissystem zwischen Körper (-Medien), Bild und Mensch wird durch eine Krise der Repräsentation infrage gestellt.25 Die Begriffsverwendung ‚Körper‘ impliziert bereits, dass physiognomische oder phänomenologische Bedeutungsträger wie Gesicht oder Leib durch den medial sichtbar gemachten Körper ersetzt werden. Körper und Bild sind zu differenzieren, entsprechend der Unterscheidung von image und picture. Als materialer Bildträger sind Körper und Medium sinnlich wahrnehmbar im Unterschied zum Bedeutungsträger Bild. Bis ins 19. Jahrhundert war der Verweis zwischen Körper, Bild und Mensch im Sinne einer semantischen Stufenfolge der Symbolisie24 Weihe (wie Anm. 22), S. 35-51. 25 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.
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rung gelungen, etwa durch geometrisch-schematisierende Verfahren der Anthropometrie. Im 20. Jahrhundert werden die Bereiche getrennt: Körperdarstellung und Menschendarstellung, Menschenbild und Menschenkörper verweisen keineswegs mehr aufeinander.26
Abb. 10: Schematisierung (1795)
26 Belting (wie Anm. 25), S. 89. Hagner, Michael: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Eliteforschung, Göttingen 2004 weist die merkwürdige Verwechslung von Gehirn und Schädel als Signifikanten im 19. Jahrhundert nach. Zwar wurde an physiognomisch-phrenologischen Vermessungen des Schädels festgehalten, man meinte aber damit das Gehirn analysiert zu haben. Eine neuronale Semantik hatte sich freigesetzt vom Medium und Diskurs des Physiognomischen, an denen aber methodisch restriktiv festgehalten wurde.
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Abb. 11: Geometrisierung Wird der Körper medialisiert, wodurch seine beschleunigten Bewegungen wie Herzrhythmen und Laufbewegungen aufgezeichnet werden können, dann verweisen diese Körperfragmente nicht mehr symbolisch auf einen anthropologischen Ganzheits- und Identitätsbegriff des Menschen. Permanent sich verändernde gestisch-mimische Einstellungen verhindern Konstanz und Kontinuität von Person und Charakter und zeigen eher Wahnsinnige, so bei Charcot. Vom Körperteil der Geste kann nicht mehr auf das Ganze der Person geschlossen werden. Die mimischen Teile verselbständigen sich durch kosmetische Prothesen oder mediale Maskierungen. Filmschauspieler werden identisch mit ihrer Rolle, die an wenigen Signalen und Zeichen wie Stimme (Rühmann) oder Gehweise (Chaplin) erkennbar, vor allem wiedererkennbar sind. Dies stellt eine Parzellierung des ganzen Menschen dar, der in körperliche Teile zerlegt wird, welche ersetzbar und modellierbar sind.27 Die Medialisierung des Körpers im Film wie im digitalen Medium beendet und verdrängt die Verschriftlichung des Körpers, die etwa in der rhetorischen ‚actio‘ eine lange abendländische Tradition hatte. Visuelle Medien als andere „Graphie“28, geschieden von Sprache und Schrift, schieben sich zwischen Körper und Bedeutung. Weil diese Medien sichtbar-gestische und unsichtbar-nervöse Bewegungen des Körpers besser oder überhaupt erst aufzuzeichnen in der Lage sind, werden sie mit dem Urteil ausgestattet, authentischer, natürlicher, realistischer zu sein. Spra27 Vgl. zu Begriff und Vorgang der (medialen) Ersetzung Rieger 2000 (wie Anm. 9); zur Substitution Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. 28 Vgl. Schanze, Helmut: Kapitel „Integrale Mediengeschichte“, in: ders. (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 213.
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che und Text als Träger von Bedeutung und Semantik geraten in eine polare Spannung zum Körper und dessen Ausdruck. Diese Entsprachlichung des Körperausdrucks durch visuelle Medialisierung verändert in anderer Richtung die epistemologische und semiotische Situation der Sprache, des Textmediums als zentraler Darstellungsform für Wissenschaft. Karl Bühler trennt Ausdruck und Darstellung, Symbol und Symptom in einer für die Sprachtheorie folgenreichen Weise. Die überraschende Wendung, der Bruch mit der bisherigen Wissenschaftstradition ist dabei, dass der Ausdruck der Sprache theoriebedürftig wird, wenn der Körperausdruck durch visuelle Medien entsprachlicht wird. Körperausdruck und Sprachausdruck, die bisher in Grundsätzen wie „Rede, dass ich dich sehe“ oder „Le style, c’est l’homme même“ identifiziert worden waren29, werden differenziert.30 Die Debatten um Körperausdruck und Physiognomik zeitigen erhebliche Wirkungen in der Sprachwissenschaft, etwa als Theorie der Darstellung. Physiognomik betreibt nicht mehr Gesichtsdeutung, sondern wird Teil dieser Debatten um textuelle Darstellung. Das gestische Fundament der Schriftsprache erfährt in der Graphologie im 20. Jahrhundert eine Aufwertung. Für die Musik versucht Adorno den Nachweis einer ursprünglichen und notwendigen Abhängigkeit von Mimik und Musik; auch die Sprache der Musik sei von der Gestik abhängig. Mit dieser Idee einer gestisch-musikalischen Basis der Schrift lässt sich eine physiognomische Theorie der Darstellung begründen. In Analogie zum Schauspieler und seiner mimischen (Selbst-)Darstellung wird der Text als durch die schriftliche Geste hervorgebrachte Darstellung begriffen. Diese Darstellung ist dadurch immer noch physi29 Im 18. Jahrhundert werden bei Herder und Lichtenberg Ausdruckstheorien der literarischen Sprache entworfen, die in Korrespondenz zum Körperausdruck stehen wie das Projekt einer Stilphysiognomik, vgl. Käuser, Andreas: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1989; zur parallelen Verschriftlichung von Subjektivität als Korrektiv der Gesichtsphysiognomik Koschorke (wie Anm. 27). 30 Bühler, Karl: Ausdruckstheorie, Jena 1933 stellt dort die Geschichte der Physiognomik dar und konstatiert „das auf den ersten Blick überraschende Faktum nämlich, daß hier [in der Geschichte der Physiognomik] der Ausdruck als eine Art von Sprache behandelt wird, aber der sprachliche Ausdruck kat’exochen des Menschen in den Hintergrund verschoben bleibt; [...] Wundt versuchte diese Tradition zu brechen und erreichte dabei das eine, daß ein Bruch im Gefüge seiner Sprachtheorie auftrat.“ (S. III) Den „lautsprachlichen Ausdruck“ verdrängt Bühler aus seinem Buch über den Körperausdruck, was die Konkurrenz zwischen einer Physiognomik der Stimme (und Sprache) sowie einer Physiognomik des Gesichts deutlich werden lässt.
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ognomisch, unternimmt aber keine Physiognomik des Gesichts, sondern eine Physiognomik der Bahnhöfe (Adorno) und Großstadt-Passagen (Benjamin). Eine Physiognomik der Sprache und der Stimme31 rückt ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses und verdrängt im 20. Jahrhundert die Physiognomik der Nase und Stirn. Bereits im späten 18. Jahrhundert beginnen angesichts der offenkundigen Mängel von Lavaters Physiognomik Erörterungen um alternative Ausdrucksbereiche von Individualität und Subjektivität. Die im 19. und 20. Jahrhundert ausgiebig erörterten Physiognomiken von Interieurs und Dingen, Wohnungen und Kleidern nehmen bei Goethe und Lichtenberg ihren Ausgangspunkt. Honoré de Balzac und Georg Simmel bemühen sich um eine solche Versachlichung der des Irrationalismus verdächtigen Physiognomik des Gesichts. Die Physiognomik von Landschaft und Natur bei Carus und Goethe ist eine wirkungsvolle und einflussreiche Alternativkonzeption: Verdinglichung soll den Subjektivismus vermeiden, aber das physiognomische Symbolisieren erhalten.32 Diese Erweiterungen des Ausdrucksbereichs von Subjektivität enthalten als Reaktion auf die Ausdrucks- und Authentizitätskrise des Gesichts bereits Reflexionen einer Physiognomik des Stils bei Lichtenberg oder der Sprache als Ausdruck bei Herder. Das Verhältnis von Körper-Ausdruck und SprachDarstellung tritt im 20. Jahrhundert an exponierte Stelle von Theoriediskussionen um Sprache, Darstellung und Hermeneutik.33
Abb. 12: Thomas Ruff: Andere Porträts 31 Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001. Benjamin, Walter: „Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sammelreferat“, in: ders. (wie Anm. 12), Bd. III, S. 452-480 bündelt diese Versuche einer physiognomischen Sprachtheorie. 32 Vgl. Müller-Tamm, Jutta: Kunst als Gipfel der Wissenschaft: ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus, Berlin/New York 1995. 33 Christians, Heiko: „Gesicht, Gestalt, Ornament: Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte“, in: DVjs, 74 (2000), S. 84-110.
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Diese Verlagerung folgt der Intention, durch Reflexion von Medium und Diskurs die Analogie und Identität von Körperausdruck und Bedeutung zu zerstören. Diese mediale Differenzierung als Basis medialer Reflexion ist kennzeichnend für die Gesichtspraktiken der Gegenwart. Wird die Medialität der Verbrecherfotografie durchschaut, dann wird der Trugschluss von Bild und Charakter entlarvt; mediale Innovationen wie der genetische Fingerabdruck verstärken diese Entschleierung einer realistischen Evidenz der Fotografie. Heutzutage wird die Herrschaft der medialen Reproduktion und Kopie als dominierende „Praxis des Sekundären“34 positiv und unhintergehbar konstatiert. Lavater, Bertillon und Duchenne de Boulogne hatten sich im 18. und 19. Jahrhundert zwar derselben Medientechnik der Reproduktion bedienen müssen, doch unter der Herrschaft einer Ideologie des Primären und Wahren diesen Charakter der Medialität der Kopie ignoriert.35 Bilder und Fotografien gelten im 19. Jahrhundert als mimetische Abbilder von Realität und nicht als Produkte medialer Technik. Noch beim Filmtheoretiker Balázs ist dieser naive Realismus einer Euphorie der Anschaulichkeit des Gesichts anzutreffen; insbesondere gelingt ihm keine kritische Reflexion des Diskurses der Physiognomik, dessen Tradition seit Lavater er deswegen unkritisch auf den Film anwendet: „Beim Film wirkt die Schönheit der Gesichtszüge als physiognomischer Ausdruck“.36 Medium und Diskurs, Gesicht und Physiognomik, Körper-Ausdruck und Sprach-Darstellung treten auseinander und in eine veränderte Konstellation zueinander. Während das Gesicht als mediale Maske die faciale Gesellschaft bestimmt, und dort auch – etwa in den Massenmedien – die physiognomischen Analogien von schön und gut oder hässlich und böse eine triviale Existenz behalten, verkümmert die ältere Semantik vom Gesicht als Spiegel der Seele oder als Ausdruck des Charakters. Hatte diesen Nachweis traditionellerweise die Physiognomik geführt, so verliert diese Deutungsform durch diesen Gesichtsverlust ihren Gegenstand und erhält neue Aufgaben, die jenseits der Gesichtsdeutung liegen, aber methodische Operationen wie den Schluss vom Teil aufs Ganze, die Identität des Inneren und Äußeren beibehalten. Die Aufwertung der 34 Vgl. Fehrmann, Gisela et al. (Hrsg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären (=Mediologie, Bd. 11), Köln 2004. 35 Bei Lavater belegt dies insbesondere seine Sammelleidenschaft von Gesichtern, die aber oft nur als Kopie zugänglich waren. Die ca. 20.000 Blätter umfassende Sammlung Lavaters wurde teilweise ediert: Mraz, Gerda/ Schögl, Uwe (Hrsg.): Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater (=Edition Lavater, 1), Wien 1999. 36 Balázs (wie Anm. 13), S. 74.
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Geste ist im 20. Jahrhundert gekoppelt an die Exponierung von Darstellung, durchaus im Sinne der handwerklichen Kombination von ‚geste et parole‘ (André Leroi-Gourhan). Darstellung als Konstruktionsleistung der schreibenden Hand verlegt das für jede Physiognomik zentrale Problem des Verhältnisses von Teil und Ganzem auf die Ebene der Textkohärenz, desjenigen ganzheitlichen Zusammenhangs der Teile, der erst durch die Textur etwa des Essays etabliert wird. Hatten moderne Medien die vormalige Ganzheit von Körper und Gesicht durch Bewegung und Schnitt fragmentiert, so dass diese Körperteile keine Suggestion oder Assoziation einer im Gesicht anschaubaren Identität mehr zuließen,37 so tritt der Text der Theorie als konstruierte, filmanalog montierte Ganzheit an die Stelle dieser KörperGanzheit. Diese Wendung ins Theoretische und Textuelle deutet sich 1900 bereits an, als der Soziologe Cooley die face to face-Konstellation als Basis sozialer Interaktion entdeckt, was eben ‚nur‘ eine soziologische, theoretische, keine empirische Entdeckung ist.38 Das Gesicht erhält eine wissenschaftliche Darstellungsform, die seine soziale und kommunikative Kompetenz auch ohne Bilder in Form diskursiver Beschreibungen plausibilisiert, wie ein Blick ins Werk des vielleicht bekanntesten face to face-Theoretikers Alfred Schütz deutlich macht. Ein weitgehend bilderloser und soziologischer Diskurs über das Gesicht wird im 20. Jahrhundert – beginnend bei Georg Simmel – etabliert, der deswegen auch weniger im naturalen Gesicht, sondern in der konstruierten Maske, der soziologischen Rolle, seinen adäquaten Gegenstand erkennt. Maske ist in Plessners Kritik der Gemeinschaftsideologie in „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) der Gegenbegriff zur naturhaften Nähe des Gesichts und seiner falschen Identitätsgarantie, deren „Tyrannei der Intimität“ (Richard Sennett) durch die Künstlichkeit und Distanziertheit des performativen Aktes der ‚exzentrischen Positionalität‘ ersetzt wird. Insofern gehen Darstellung und Maske eine bemerkenswerte Kombination ein: „In dem Satz ‚Das soll er sein‘ liegt nach einer These Ludwig Wittgensteins ‚das ganze Problem der Darstellung‘.“39 Die Maske 37 Vgl. Blümlinger, Christa/Sierek, Karl: „Gesichtsverlust, ein Vorwort“, in: dies. (Hrsg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien 2002, S. 7-16. 38 Streck, Bernhard: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie: Eine Führung, Wuppertal 1997, S. 209. Vgl. auch Rusch, Gebhard: „From Face-To-Face to Face-to-‚Face‘. Zehn Schritte von der mündlichen Kommunikation zum Cyberspace“, in: LUMIS-Schriften 53 (1998), S. 3-22. 39 Weihe (wie Anm. 22), S. 66.
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erreicht wie die Darstellung eine Präsenz des Abwesenden, aber auch eine Form, die mit Inhalt gefüllt werden muss: Darstellung ist die Herstellung des Bezugs zwischen Form als Maske und dem abwesenden Inhalt, dem anderen, das die Maske sein soll. Eine Geste des Zeigens reguliert diese Korrelation. Sagen und Zeigen verfügen deswegen über eine enge Affinität, weil damit dieses gestische und anschauliche Fundament von Darstellen und Darstellung bestimmt werden kann.40 Wie das Sagen immer auch ein Zeigen ist, so ist Darstellen mit der Mimik des Schauspielers und der Gestik des Schreibens verbunden. Die Physiognomik des Stils, welche Lichtenberg als bessere Alternative gegen Lavater entwarf, hatte in der Geste des Schreibens eine körperliche Ausdrucksform von Individualität als Stilus entdeckt, welche der Neuzeit angemessener sei als die physiognomische Statik des Porträts. Wenn die Gesichtsphysiognomik im 20. Jahrhundert durch Medialisierung weitgehend dekuvriert wird und degeneriert ist, dann erfährt diese Physiognomik der Schrift und Schreibweise eine Erweiterung zum Diskurs. Dadurch wird der individuelle Ausdruck des Stils um den diskursiven Zusammenhang der Erstellung von Ganzheit ergänzt. Diese Erweiterung wird begleitet durch einen Wechsel der Sinne: Diskurs und Theorie orientieren sich mehr am Akustischen der Musik als am Visuellen des Körpers. Physiognomiken der Stimme41, der Musik (Adorno) und Handschrift (Klages) treten im frühen 20. Jahrhundert in eine kreative Konkurrenz zu denjenigen des Gesichts. Adorno entdeckt in der mimischen Geste den Ursprung von Sprache der/und Musik und von Darstellung als Reproduktion, Aufführung und Inszenierung. Musik ist als Geste Ausdruck, sie ist in der Sprache der Notenschrift und in deren Reproduktion durch die Aufführung Darstellung und Konstruktion. Die Beziehung von Mimik und Musik, zentral, wird offenbar in der Sphäre der Reproduktion. Musizieren und schauspielen sind nächstverwandt, wie denn oft in derselben Familie Schauspieler und Musiker vorkommen. [...] Der Wirkungsdirigent à la Toscanini ist der Massenregisseur à la Reinhardt. In all solchen Momenten reduziert sich die Musik auf Gesten.42
40 Krämer, Sybille: „Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren“, in: Zeitschrift für Germanistik, 8, 3 (2003), S. 509-519, hier: S. 510-511. 41 Vgl. zur Physiognomik der Stimme Meyer-Kalkus (wie Anm. 31). 42 Vgl. Adorno, Theodor W.: „Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion“, in: ders.: Nachgelassene Schriften, hrsg. v. Adorno Archiv, Frankfurt a.M. 2001, Bd. I.2, S. 206.
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Die Medialisierung des Gesichts bewirkt im 20. Jahrhundert seine ubiquitäre Präsenz und Normalisierung. Der Vorgang bringt als Gegenbewegung die Diskursivierung und Theoretisierung des Gesichts hervor: Körper und Gesicht verlieren durch ihre allfällige Medialisierung, Modellierung und Maskierung unmittelbare Lesbarkeit und natürliche Evidenz, also dasjenige, was gerade die Differenzqualität des Gesichts ausgemacht hatte und die Faszination des Gesichts nach wie vor ausmacht. An die Stelle des objektiven Ausdrucks tritt der subjektive Eindruck43, mediale Wirkung und Rezeption des Gesichts werden entscheidend und verdrängen den Grundsatz vom Schein als Ausdruck von Wesen und Sein. Diese Komplexitätserhöhung erbringt erhöhten Theoriebedarf, so dass über Körper und Gesicht gerade in Zeiten von Medienumbrüchen verstärkt reflektiert wird. Die Konjunkturen und Innovationen von Körper- und Gesichtstheorien hängen mit denjenigen von Medienumbrüchen, die durch eine Akkumulation des Medialen bestimmbar sind, ursächlich zusammen. Die „Wiederkehr des Körpers“ ist so wesentlich ein diskursiver, ein theoretischer Akt der Reflexion.44 Medialisierung des Körpers findet doppelt statt, zum einen in audiovisuellen Medien, zum andern in Diskursen und Theorien von Körper und Gesicht. Beide Formen unterhalten ein kontrastreiches Verhältnis der wechselseitigen kritischen Kommentierung. Je mehr die Glaubwürdigkeitssuggestionen und Lebendigkeitsangebote der Fernsehgesichter sich verfestigen, umso stärker wächst der Reflexionsbedarf von Medientheorien, die diesen Schein entlarven oder zumindest darstellen. Das Textgenre der Physiognomik, das im 20. Jahrhundert von Simmel, Spengler, Klages, Kassner, Benjamin oder Adorno errichtet wird, bewahrt deswegen seine kulturkritische Attitüde als Zugehörigkeit zu einem bestimmten Diskurs. Interessant ist diese körpersprachliche Infiltrierung von Theorien aber vor allem im formalen Aspekt der Darstellung, der Schreibweise. Theorien werden nicht nur über den Körper metareflexiv oder deskriptiv geschrieben. Vielmehr macht der gestisch-mimische Ursprung des Darstellens als spielende Maske und Zeigegeste ein körperhaftes Moment 43 Vgl. Frey, Siegfried: Die Macht des Bildes. Der Einfluß der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik, Bern u.a. 1999. 44 Vgl. Barkhaus, Annette/Fleig, Anne (Hrsg.): Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle, München 2002; Bolz (wie Anm. 8); Becker, Barbara/Schneider, Irmela: Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit – Identität – Medien, Frankfurt a.M. 2002; Böhme, Hartmut: „Konjunkturen des Körpers“, in: Margrit Frölich/Reinhard Middel/Karsten Visarius (Hrsg.): No body is Perfect. Körperbilder im Kino, Marburg 2002.
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von Theorie an ihrer Materialität als schriftlich-textueller Darstellung deutlich. Auch ohne das im 20. Jahrhundert diskreditierte Geschäft der Gesichtsdeutung, welches durch die mediale Präsenz der Gesichter verdrängt wird, bleibt die Physiognomik als Darstellungsweise deswegen bestehen, weil sie die Körperhaftigkeit von Schreiben, das Gestische der Theorie als Kombination von Sagen und Zeigen manifestiert. Damit sollte gezeigt werden, wie das anthropologisch ausgewiesene Gesicht durch mediale und avantgardistische Innovationen seine bisherige Semantik und Erscheinungsweise aufzugeben hat. Aber auch der umgekehrte Vorgang einer konservativ-beharrenden Medieninnovation wie der Photografie im 19. Jahrhundert und eines hierzu kontrastiv progressiven Diskurses ist nachweisbar. Dieser diskursive Entzug wird konterkariert und kompensiert in Entwürfen um eine Physiognomik als Textund Darstellungsweise, die den anthropologischen Diskurs ohne das visuelle Gesicht rettet und stabilisiert.
Abbildungsnachweis Abb. 1: Aus: Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Förderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe, Bd. 2, Zürich 1776. Abb. 2: Johann Rudolf Schellenberg nach Carlo Maratta: Jesuitenkarikatur, aus: Gerda Mraz/Uwe Schlögl: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, Wien 1999, S. 379. Abb. 3: Duchenne de Boulogne, aus: Jean Clair/Cathrin Pichler/Wolfgang Pircher: Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, S. 174. Abb. 4: Aus: Sabiene Autsch: Erinnerung – Biographie – Fotografie. Formen der Ästhetisierung einer jugendbewegten Generation im 20. Jahrhundert, Potsdam 2000, S. 371. Abb. 5: Erna Lendvai-Dirksen, aus: Claudia Schmölders: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000, S. 20. Abb. 6: August Sander, Hirte 1913 (Antlitz der Zeit 1929), aus: Claudia Schmölders: Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 1999, S. 151. Abb. 7: Daniel Chodowiecki: Narrenköpfe, aus: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, S. 294.
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Abb. 8: Fritz Möller: Mimisches Alphabet (1900), aus: Petra Löffler: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld 2004, S. 156. Abb. 9: Aus: Gesichter der Weimarer Republik, S. 185. Abb. 10: Aus: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater, S. 545. Abb. 11: Girolamo Cardano: Metopscopie (1558), aus: Wunderblock, S. 169. Abb. 12: Thomas Ruff: Andere Porträts.
A MBIVALENZEN : A VANTGARDE UND R ETROGARDE
RALF SCHNELL
DIE AVANTGARDE ALS RETROGARDE APORIEN DER MEDIENAVANTGARDEN „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück“, hat Karl Kraus einmal gesagt, und Alexander Kluge hat in seinem Film DIE PATRIOTIN an diesen Aphorismus das Wort ‚Deutschland‘ montiert.1 Man könnte auch das Wort ‚Avantgarde‘ damit verbinden. Denn je eingehender man sich mit avantgardeorientierten Theoriekonzeptionen befasst, desto geringer ist die Chance, zu einem überzeugenden, zudem verbindlichen Avantgarde-Begriff zu gelangen. Lexika und Wörterbücher vermitteln – dem jeweiligen Ansatz entsprechend – eine kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringende Vielfalt von Bestimmungen, die ein bisweilen heterogenes, bisweilen ein von Überschneidungen und Überlappungen geprägtes Bild politischer und sozialer, philosophischer und künstlerischer Avantgarden vermitteln. Und vollends die Versuche einer gleichsam transzendentalpragmatischen Letztbeschreibung aller denkbaren Avantgardemodelle münden in aporetische Definitionen, die mehr Fragen aufwerfen als Irritationen beseitigen, da sie sich im wesentlichen Entdifferenzierungen des komplexen Phänomens verdanken. Beispielhaft hierfür sei der jüngste Versuch genannt, ein „historisches Konzept Avantgarde“ zu konturieren. Im Einleitungsbeitrag zu dem Avantgarde-Band Aufbruch ins 20. Jahrhundert findet sich zu diesem Zweck die Pointierung von vier Aspekten, die als markante Charakteristika der klassischen Avantgarden gelten sollen: „eine forciert kairologische Zeitschematisierung“, eine „politikdominierte Retotalisierung im Sinne einer integralen Zukunftsgesellschaft“, ferner die Intention, „‚Kunst‘ und ‚Leben‘ zu entdifferenzieren“, und schließlich, die „Differenz von Form und Medium unsichtbar machen [...] zu wollen, indem sie [die Avantgardisten] entweder Medien ohne erkennbaren Formgewinn exponierten oder in Aussicht stellten, Medien – wie die Gesellschaft selbst – so zu organisieren, dass ihnen gegenüber Kunstwerke keinen 1 Kluge, Alexander: Die Patriotin. Text/Bilder 1-6, Frankfurt a.M. 1979, S. 129.
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Formvorsprung mehr beanspruchen und verwirklichen könnten“.2 Zwar wird man kaum bestreiten können, dass diese Charakteristika für einen Teil der historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts zutreffen. Fragwürdig aber erscheint der Versuch, mit ihnen Grundzüge und Kernelemente aller Avantgarden des 20. Jahrhunderts zu umreißen. Es handelt sich vielmehr um einen Definitionsversuch, der sich erkennbar am italienischen Futurismus orientiert. Er lässt sich jedoch, als anspruchsvolle umfassende Bestimmung, im einzelnen differenzieren und widerlegen. Die kulturelle Entwicklung in Europa, insbesondere jene avantgardistischen Tendenzen, die wir mit den vielfältigen postnaturalistischen Ismen um die Jahrhundertwende in Verbindung bringen – Symbolismus, Impressionismus, Expressionismus, Konstruktivismus, Futurismus, Jugendstil, l’art pour l’art, Dadaismus –, diese zum Teil genuin literarischen Tendenzen des fin de siècle3 stehen in einem oszillierenden, vibrierenden Raum, der erfüllt ist von Impulsen, die ihrerseits den Begriff einer spezifisch nationalen Kultur fragwürdig erscheinen lassen, zumindest ihn relativieren. Es handelt sich um geistesgeschichtliche, kulturphilosophische und naturwissenschaftliche Leitgedanken und Ereignisse europäischen Zuschnitts. Sie verbinden sich in den Jahren zwischen 1895 und 1905 zu einer Art Gründungsdekade des 20. Jahrhunderts und kulminieren – inmitten des erwachten Kapitalismus, des Imperialismus und des hegemonialen Anspruchsdenkens – in jenem „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer), mit dem die Geburtsstunde der europäischen Avantgarden historisch zusammenfällt. !AVANTGARDEN! in mitteleuropa 19101930. transformation und austausch4 lautete treffend der programmatische Titel einer Ausstellung, die 2002/2003 in München und Berlin dem nationalstaatlich verstellten Blick ein europäisches Terrain eröffnete. Nicht allein Deutschland, sondern auch das heutige Jugoslawien, Tschechien, Kroatien, Slowenien, Ungarn, Österreich, Rumänien und Polen traten in den Vordergrund, auf eine Weise, die auf medienästhetische Vernetzungen verwies, wo bislang künstlerische Spezialprofile erschienen waren, die subkutane Kommunikationen zwischen Prag, Budapest, Wien und Berlin, zwischen Weimar und Bukarest, Dessau und Zagreb 2 Plumpe, Gerhard: „Avantgarde. Zum historischen Ort ihrer Programme“, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden, München 2001, S. 9f. 3 Vgl. hierzu Schnell, Ralf: „Vom fin de siècle bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs“, in: Franz-Josef Holznagel et al.: Geschichte der deutschen Lyrik, Stuttgart 2004, S. 471-580. 4 !AVANTGARDEN! in mitteleuropa 1910-1030. transformation und austausch [Ausstellungskatalog], München/Berlin 2002/2003.
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ans Licht brachte, Prozesse des Austauschs, die das Verschwinden eines hegemonialen Kulturdiskurses plausibel machten. Eine Ausstellung, die Belgrad und Ljubljana, Poznán und Krakau, Warschau und àódz so miteinander ins Spiel brachte, dass die mittlerweile legendären Entwicklungen in der Schweiz, Italien und Frankreich, mit den signifikanten Strömungen Dadaismus, Futurismus und Surrealismus und den AvantgardeLeuchttürmen Zürich und Paris, ein Gegengewicht erhielten, wie es wenige Jahre zuvor mit der Einbettung des Londoner Imagismus und Vortizismus5 ins Spektrum der klassischen Avantgarden gelungen war. Dass in diesen Zusammenhang auch der russische Futurismus der Jahre 19171925 einzubeziehen ist, die kulturrevolutionären Aktivitäten von LEF bis Majakowski, und ebenso die in Südamerika, insbesondere in Brasilien entstehenden Avantgardebewegungen, versteht sich von selbst. Ihre europäischen Dimensionen sind eines der beiden Gütesiegel der klassischen Avantgarden6 – ihr zweites ist der Medienumbruch, der mit ihnen einhergeht. Eine Bestimmung der Avantgarden anhand der programmatischen Zielsetzung einer Revolutionierung der menschlichen Lebensverhältnisse insgesamt, wie sie Peter Bürger verschiedentlich unternommen hat7, erscheint einzig im Hinblick auf die zuletzt hervorgetretene unter den klassischen Avantgarden legitim, den Surrealismus. Doch dieses Merkmal ist nicht verallgemeinerbar. Die avantgardistischen Bewegungen haben, freilich im Sog des ersten futuristischen Manifests aus dem Jahr 1909, die Sprache der Künste und mit dieser die Wahrnehmungsformen der Menschen verändert. Die Dynamik der bewegten Bilder wies ihnen dabei die Richtung und bestimmte die Signatur der neuen Ästhetik. Diese führt zur Auflösung der Texte in Bilderschriften, zur typographischen Subvertierung diskursiver Kohärenz. Das heißt: Es sind nicht politisch-soziale, es sind nicht einmal in erster Linie literarische Avantgarden oder Avantgardebewegungen der bildenden Kunst, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Veränderungen der Wahrnehmungsformen von epochalen Dimensionen hervorrufen; sondern es sind Medienavantgarden, in einem emphatischen und umfassenden Sinn des Wortes, deren Strategien auf die Destruktion ästhetischer Konventionen zielten, auf die Unterminierung linearer Strukturen, die Dynamisierung der Perzeption 5 Vgl. Orchard, Karin (Hrsg): BLAST. Vortizismus – Die erste Avantgarde in England 1914-1918 [Ausstellungskatalog], Hannover 1996. 6 Vgl. hierzu auch die umfassende Dokumentation von Weisgerber, Jean (Hrsg.): Les avant-gardes littéraires au XXe siècle. Bd. I: Histoire. Bd. II: Théorie, Budapest 1984. 7 Vgl. zuletzt Bürger, Peter: Das Altern der Moderne. Schriften zur bildenden Kunst, Frankfurt a.M. 2002.
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und die Neuformierung von Ausdrucksmöglichkeiten im Zeichen der – damals – neuen Medien. Der Erkundungs- und Artikulationsraum der Avantgarden ist denn auch erheblich breiter, als die zeitgenössische Rezeption des Futurismus und – in seiner Nachfolge – die medienwissenschaftlich wie kunst- und literaturgeschichtlich dominante Traditionslinie der kulturrevolutionären Strömungen nahe legen möchte. Tatsächlich lässt sich eine Bestimmung der klassischen Avantgarden nur dann sinnvoll treffen, wenn die immanenten Widersprüche der Avantgardebewegungen als widersprüchliche Bewegungen innerhalb der Avantgarden mit einem eigenen Aktionsradius und -impetus wahrgenommen werden. Dies soll im Folgenden am Beispiel des Erkundungs- und Artikulationsraums geschehen, den sich die Medienavantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts erobert haben: in kulturgeschichtlicher Hinsicht, unter programmatischen und kulturtheoretischen Aspekten und im Hinblick auf die wechselweise Durchdringung von Effekten literaler und visueller Kultur.
Generationenkonflikte und Konkurrenzmechanismen Beginnen wir mit einer Anekdote. Im November 1913 kommt es im Londoner Restaurant Florence zu einem bemerkenswerten Dinner. Zu den Teilnehmern zählen Edward Wadsworth, Christopher Nevinson, Frederick Ethcells und Cuthbert Hamilton, allesamt Avantgarde-Künstler der ‚Omega Workshops‘, die 1912 von Roger Fry gegründet worden waren, ferner – als Anreger des Treffens – Wyndham Lewis, und last but not least der Ehrengast des Gastmahls: Filippo Tommaso Marinetti. Die Speisenfolge ist bedauerlicherweise nicht überliefert, wohl aber die Absicht, welche die Initiatoren mit ihrer Einladung an den berühmten Gast aus Italien verbinden. Es geht um Politik, um Spaltung und Abspaltung, um Emanzipation und Ablösung aus dem Einflusszusammenhang des Kunst-Promoters Roger Fry, einer der mächtigsten Figuren des Londoner Kunstlebens. Fry – „Künstler, Theoretiker, Kritiker, Impresario und tonangebend in allen Geschmacksfragen“8 – hatte nicht nur bedeutende Ausstellungen, in London wie in Paris, organisiert, sondern auch die Patronage für einen großen Kreis begabter junger Schriftsteller und Künstler übernommen. Ihnen sollten die ‚Omega Workshops‘ Arbeitsmöglichkeiten verschaffen, Aufträge privater wie öffentlicher Mäzene, um die
8 Schmied, Wieland: „Ezra Pound, Wyndham Lewis und der Vortizismus“, in: Karin Orchard (wie Anm. 5), S. 93.
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Existenz zu sichern und den Ruhm zu mehren, nicht zuletzt den des Kunststrategen Roger Fry selber. Was folgt, lässt sich unschwer erraten: Die Jungen proben den Aufstand. Ein Vorwand genügt. In diesem Fall besteht er in einem Vorwurf, den Wyndham Lewis, der Wortführer der von Fry geförderten Künstlergruppe, an den spiritus rector der ‚Omega Workshops‘ richtet: dieser (Fry) habe im Oktober 1913 zu Unrecht Gestaltungsaufträge für sich und die Werkstatt reklamiert, anstatt sie an Lewis selber und andere zu vergeben. Dieser Vorwand genügt, um den noch kaum gebildeten Kreis zu sprengen. Die Dynamik des Zerfalls lässt auf Anhieb erkennen: Es geht ganz offenbar nicht um die Sache, um einen Konflikt und dessen immer noch mögliche Lösung, sondern es geht um eine Befreiung aus Abhängigkeiten und Dominanzen. Es ist das alte Muster, nach dem sich Generationenkonflikte zu dynamisieren pflegen, und deshalb könnte man geneigt sein, die Sache als Kulturbagatelle auf sich beruhen zu lassen – gäbe es nicht jene Einladung an Marinetti ins Restaurant Florence vom November 1913. Marinetti hat zu diesem Zeitpunkt auch in London bereits Furore gemacht. Zum ersten Mal 1910, dann, in unregelmäßigen Abständen, wiederholt in den Jahren 1912 und 1913, hat er Gelegenheit gesucht und gefunden, seine Ideen in Aufsehen, ja Skandal erregenden Manifestationen zu propagieren, die künstlerischen Avantgarden der britischen Metropole anzusprechen und für sich zu gewinnen und – dies vor allem – Einflusssphären zu generieren. Die Einladung zum Dinner durch Wyndham Lewis und die Seinen bringt dies zum Ausdruck. Sie gilt dem bewunderten, ingeniösen Zermalmer aller kontinentalen künstlerischen Werte, der sich nun auch in London anschickt, den abendländischen kulturellen Traditionen den Garaus zu machen, ausgestattet mit einem voluminösen Instrument, das auf die klangvolle Bezeichnung Intonarumori hört, eine Art Megalophon, mit dem Marinetti 1914 im Londoner Coliseum Triumphe der Verstörung und Verklärung feiert. Ihn, Marinetti, die Inkarnation einer in die Zukunft weisenden künstlerischen Destruktionsprogrammatik, braucht man, um eigenen avantgardistischen Boden unter die Füße zu bekommen. Das Vorhaben gelingt. Im März 1914, vier Monate nach dem gemeinsamen Dinner, wird in der Londoner Great Ormond Street das ‚Rebel Art Center‘ gegründet, fraglos ein sprechender Name. Zu den Gründungsmitgliedern zählen die bereits genannten Teilnehmer des Gastmahls um Wyndham Lewis, ferner die Malerinnen Helen Saunders und Jessica Dismorr, der Dichter Richard Aldington, der Fotograf Malcolm
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Arbuthnot, und die Maler Lawrence Atkinson und William Roberts, dazu als Anregerin, Mäzenatin und Geschäftsführerin die Malerin Kate Lechmere – junge, zum überwiegenden Teil noch wenig bekannte Künstler unterschiedlicher Sparten, geeint durch das strategische Ziel, „by public discussion, lectures and gatherings of people [...] familiarise those who are interested with the ideas of the great modern revolution in Art“.9 Und ein weiterer Name noch ist zu nennen, wenn von den Gründungsmitgliedern des Rebel Art Center die Rede ist, der Name eines avantgardistischen Schriftstellers aus den Vereinigten Staaten, der seit 1908 in London lebte und ebenfalls Furore machte: Ezra Pound. Er unterstützt die programmatischen und publizistischen Initiativen seiner avantgardistischen Freunde, freilich immer mit eigenen Akzenten und prägnanten Konturen, zu denen auch die ebenfalls 1914 erschienene Anthologie Des Imagistes zählt, die der von Pound begründeten poetischen Richtung Titel und Profil verliehen hat. Auf den ersten Blick mag, was in dem 1996 erschienenen Ausstellungskatalog BLAST: Vortizismus – Die erste Avantgarde in England 1914-1918 so materialreich wie anschaulich zusammengetragen worden ist, wie eine von hunderten vergleichbarer Anekdoten aus der Geschichte des Kunst- und Literaturlebens erscheinen, die bekanntlich eine unendliche Geschichte der Generationenkonflikte und Konkurrenzmechanismen ist, der Eitelkeiten, Streitigkeiten und Intrigen. Aufschlussreich im Hinblick auf die Konstitution von Medienmentalitäten der Medienavantgarden wird dieses Material, wenn man sich den zweiten Akt des kleinen kunstsoziologischen Dramas ansieht, der auf die eben geschilderte Exposition folgt. Er verdeutlicht nicht allein den kunstmarktstrategischen Mehrwert jener Abspaltung von Roger Fry, dem Gründungsvater der englischen Avantgarde, sondern legt vor allem die weitreichende programmatische Perspektivik offen, die sich mit dieser Aktion verbindet. Es geht – man muss annehmen: von Anfang an – um das Freiräumen eines historisch verminten Kulturgeländes, um die Öffnung von künstlerischen Zukunftsräumen, um die Entdeckung neuer Welten in Literatur, Malerei, Fotografie und Architektur. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es freilich noch eines weiteren Befreiungsschrittes, nämlich des Abwerfens autoritativen Ballasts. Das Opfer heißt Filippo Tommaso Marinetti. Er hat seine Schuldigkeit getan, man bedarf seiner nicht länger, er wird sogar hinderlich, weil er den aufbrechenden Avantgardisten in England die Schau stiehlt. Und auch hier 9 Prospekt des ‚Rebel Art Center‘, zit. nach Orchard, Karin: „Ein Lachen wie eine Bombe“, in: dies. (wie Anm. 5), S. 21.
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ist die Choreographie des Zerwürfnisses lehrreich. Im Juni 1914 erscheint in mehreren englischen Tageszeitungen ein Pamphlet mit dem Titel „Vital English Art. Futurist Manifesto“. Gemeinsam verfasst haben es Christopher Nevinson aus dem Kreis um Wyndham Lewis und Marinetti selbst. Ein Manifest, so könnte man sagen, à la Marinetti, das sich in einem Punkt von den bekannten Vorläufern auf signifikante Weise unterscheidet: Es nennt Namen von jungen Künstlern, und zwar eben derjenigen, die zum Rebel Art Center zählen. Wyndham Lewis erkennt die sich bietende Chance, sich von Marinetti zu trennen, auf Anhieb. Da Marinetti sich zum Fürsprecher und Propagandisten jener Künstlergruppe gemacht hat, ohne diese auch nur zu fragen, ob sie sich als Ableger des kontinentalen Futurismus denn auch verstanden wissen wolle, schlägt Lewis zurück. Verletzt ist in seiner Person, auf paradoxe Weise, der britische Nationalstolz, das Traditionsbewusstsein des weltumspannenden Empire. Gekränkt sieht sich aber auch ein technikgeschichtliches Selbstbewusstsein, das sich dem Technikkult, wie ihn die futuristischen Programme und Manifeste repräsentieren, bereits vor mehr als hundert Jahren entwachsen sah. In seiner Autobiographie aus dem Jahr 1937 hat Lewis diesen point of view ausdrücklich markiert. Er führt dort einen Dialog mit Marinetti, ein vermutlich fiktives, vielleicht nachgestelltes Streitgespräch, in dem er den italienischen Futuristen sagen lässt: ‚Futurism is good. It is all right‘. Die Antwort des Gesprächspartners Wyndham Lewis lautet: ,Not too bad. It has its points. But you Wops insist too much on the Machine. You’re always on about these driving-belts, you are always exploding about internal combustion. We’ve had machines here in England for a donkey’s years. They’re no novelty to us‘. ,You have never understood your machines. You have never known the ivresse of travelling at a kilometre a minute‘, empört sich Marinetti. Die Antwort des Engländers lautet: ,I loathe anything that goes too quickly. If it goes too quickly, it is not there. [...] I cannot see a thing that is going too quickly‘. ,See it – see it!‘ empört sich abermals Marinetti – in der Skizze seines Opponenten –: ,Why should you want to see? But you do see it. You see it multiplied a thousand times. You see a thousand things instead of one thing‘. Und wieder Lewis: ,That’s just what I don’t want to see. I am not a futurist [...]. I prefer one thing. [...] Je hais le mouvement qui déplace les lignes‘.10 Sollte diese Anekdote auch unwahr sein – so ließe sich ein italienisches Sprichwort abwandeln –, so bleibt sie doch gut erfunden. Sie relativiert die Technikemphase der künstlerischen Avantgarden Kontinental10 Zit. nach Orchard (wie Anm. 9).
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europas, insbesondere der Futuristen, indem sie sie historisiert. Sie entzieht ihr nicht den Boden, aber sie perspektiviert ihren Standort. Was sich Avantgarde nennt, wird im Hinblick auf den futuristischen Zentralbegriff ‚Technik‘ neu positioniert. Dieser tritt in einen Hintergrund, der dem historischen Wandel geschuldet ist. Und die Weisheit der britischen Avantgarde – wie sie selber sich sieht – besteht darin, im Bewusstsein dieses Wandels und auf dem Boden eines gesicherten Technik-Fundaments einem weiteren Zentralbegriff der italienischen Futuristen mit jener Gelassenheit entgegenzutreten, die der Aura eines geschichtsmächtigen Imperiums angehört. ,Je hais le mouvement qui déplace les lignes‘ – das gibt auf eine angemessene Weise wieder, was die Manifestliteratur der Medienavantgarde in England von der ihrer italienischen Kombattanten unterscheidet. Wo Marinetti sein furioso der Destruktionen zu einer Art programmatischem Sturzflug bündelt und zum Generalangriff auf Werte und Verbindlichkeiten ansetzt, wo er zum Krieg aufruft und die Bilder stürmt, wo er auf Frauen, Kunst und Konventionen schießt, das Flugzeug feiert, das Metall verherrlicht und die Geschwindigkeit verklärt, da reagiert Lewis mit dem kühlen Bekenntnis des Engländers zu Form und Kontur. Wie jede Anekdote – auch die gut erfundene – enthält auch diese jenes Quäntchen Transzendenz, das über den äußerlich geschilderten Anlass hinaus theoretisch dimensionierte Einsichten in die Geschichte und Struktur künstlerischer Debatten bietet: nämlich die Frage nach dem künstlerischen, womöglich anthropologischen Beharrungspotential inmitten von Medienumbrüchen.
Programme und Perspektiven Der Futurismus eines Marinetti war Nährboden und Impulsgeber für die englische Avantgarde in einem, wie Ezra Pound zwanzig Jahre später ohne Zögern eingeräumt hat: Marinetti und der Futurismus haben der ganzen europäischen Bewegung einen großen Schub voran gegeben. Die Bewegung, die ich, Eliot und Joyce in London initiierten, wäre ohne den Futurismus nie in Gang gekommen.11
Doch es bedurfte, um zu eigenen künstlerischen Ufern aufbrechen zu können, ebenso einer programmatischen Abgrenzung vom großen Anreger Marinetti. Die Umrisse dieser Abgrenzung hat Pound mit den Worten umschrieben: „Dem Vortizismus fehlte jener eigenartige Tick, die Herr11 Pound, Ezra: Personae/Masken, München 1992, S. 81.
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lichkeiten der Vergangenheit auszumerzen.“12 „Herrlichkeiten der Vergangenheiten“ – man darf diese Verklärungsformel mit der nüchternen Metapher der ‚Linien‘ gleichsetzen, von denen Wyndham Lewis zur gleichen Zeit gesprochen hat. Interessanter als die produktiven Impulse des Futurismus scheinen vor diesem Hintergrund die argumentativen und künstlerischen ‚Linien‘ der Beharrung auf einem eigenen Profil zu sein, an denen sich die avantgardistische Bewegung in England orientiert hat, gerade dann, wenn es um ein medienavantgardistisches Differenzkriterium gehen soll. „Man braucht sechs oder acht Jahre für die Erziehung zu seiner Kunst und noch mal zehn, um diese Erziehung wieder loszuwerden“13, hat Pound an anderer Stelle gesagt. Wenn es so ist, dann ist medientheoretisch wie mediengeschichtlich die Frage nach Signatur und Datum des Umschlags zwischen diesen beiden evolutionären Phasen von Interesse. Für die Avantgarde in England lässt sich beides, Signatur und Datum, vergleichsweise präzise angeben: Es ist die Bewegung des Vortizismus, in der sich die englische Medienavantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwirft. Es ist die Zeitschrift BLAST, die 1914 und 1915, in nur zwei Ausgaben, erscheint. Der Begriff ‚Vortizismus‘ – um ihn zunächst zu gewichten – leitet sich vom lateinischen ‚vortex‘ her, auch ‚vertex‘, ein Wortstamm, der noch in ‚vertigo‘ = ‚Drehen, Kreisen, Schwindel‘ erkennbar ist. ‚Vortex‘ bedeutet Wirbel oder Strudel, aber auch Gipfel und Pol, verweist mithin auf Unruhe und Ruhe zugleich, Dynamik und Stillstand, ein Überleben inmitten des Orkans oder der Flut in deren Zentrum. Marshall McLuhan hat bezeichnenderweise diesen Aspekt anlässlich von Wyndham Lewis hervorgehoben: Die Kunst erscheint Lewis [...] als ein natürlicher Wirbel strukturierter Energie, der uns die kreativen Kerne und Vortices der Kausalität vor Augen hält. Im Zentrum dieser Kerne und Wirbel ist absolute Stille, aber an der Peripherie herrscht Gewalt, die den unverkennbaren Charakter großer Energie hat. Diese ‚tumultuosen Kraftwirbel‘ befinden sich im Zentrum jedes entscheidenden Kunstwerkes, wie sie auch in jeder bedeutenden Zivilisation zu finden sind.14
12 Pound (wie Anm. 11). 13 Pound, Ezra: Literary Essays, hrsg. v. T. S. Eliot, London 1985, S. 194. 14 McLuhan, Marshall: „Wyndham Lewis. Seine Kunst- und Kommunikationstheorie“, in: ders.: Die innere Landschaft. Literarische Essays, Düsseldorf 1974, S. 107.
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Die vieldeutige metaphorische Qualität des Wortfeldes ‚vortex‘ hat Pound hellsichtig für seine und die Kunstkonzeption seiner Kombattanten im ersten Londoner Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu nutzen gewusst: als orientierendes, wegweisendes Zeichen, das zugleich ruhender Pol und Flutwelle sein sollte. Dieses Konzept bedurfte wegen seiner augenscheinlichen Nähe zur Programmatik der Futuristen allerdings einer entschiedenen Abgrenzung. In seinem Programmtext „Vortex. Pound“, der in der ersten Nummer von BLAST erschienen ist, schreibt Pound deshalb in einer entschieden polemischen Abgrenzungsgeste: Futurismus ist die Sprühentladung eines Vortex ohne Schwung, STREUUNG. [...] Impressionismus, Futurismus, der nur eine beschleunigte Spielart des Impressionismus ist, VERNEINEN den Vortex. Sie sind KADAVER von WIRBELN. VOLKSEMPFINDEN, Kunstrichtungen sind KADAVER VON WIRBELN. Marinetti ist ein Kadaver.15
Man kann diesen Versuch, eine höchst lebendige, aktuelle und wirkungsmächtige zeitgenössische künstlerische Bewegung für historisch obsolet zu erklären, mit Hilfe individualpsychologischer, kunstsoziologischer oder marktökonomischer Kriterien zu beschreiben versuchen. Man kann ihn aber auch unter literarischen Aspekten diskutieren – dann jedenfalls, wenn man seine Metaphorik zum Ausgangspunkt der Analyse macht. Die Vorwürfe, übersetzt man sie in Verbformen lauten: sprühen, streuen, beschleunigen, wirbeln. Es handelt sich durchweg um Bewegungsverben. Die paradoxale Figur, in der diese Verben als Metaphern fungieren, heißt ‚Kadaver‘. Die Bewegungslosigkeit des Todes, die damit insinuiert wird – zumal im synästhetischen Kontext des Leichengeruchs –, spricht der konkurrierenden Bewegung das Urteil. Sie verabschiedet sie in die Geschichte, in der unübersehbaren Absicht, die eigenen Potentiale an ihre Stelle zu setzen. Den Gegenpol, von dem aus diese Operation durchgeführt wird, markiert ein Symbol. Es heißt Vortex. Seine Bestimmung lautet: „Der Vortex ist der Punkt der maximalen Energie.“16 Es handelt sich abermals um ein Paradox: Der symbolische Ruhe-‚Punkt‘ umfasst in sich zugleich ein Potential, dessen Sprengkraft und Dynamik unbeschränkt ist: Ein Mann läßt sich als etwas vorstellen, auf das die Wahrnehmung zukommt. Man kann sich ihn als SPIELBALL der Verhältnisse vorstellen, als formbare Masse, die Eindrücke EMPFÄNGT. 15 Pound, Ezra: „Vortex. Pound“, in: BLAST, 1, 1 (1914), S. 153-154. Zit. nach Orchard (wie Anm. 5), S. 293. 16 Pound (wie Anm. 15).
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ODER man kann sich ihn als etwas vorstellen, das eine bestimmte bewegliche Kraft gegen die Verhältnisse RICHTET, als BEGREIFEND, nicht bloß als beobachtend und reflektierend. […] Jeder Einfall, jede Gemütsregung stellt sich im lebendigen Bewußtsein in irgendeiner Grundform ein. Sie ist das Bild, das einhundert Gedichte in sich birgt, die Musik, die einhundert Bilder in sich birgt, die am stärksten mit Energie aufgeladene Aussage, die Aussage, die sich noch nicht im Ausdruck ENTLADEN hat, die am ehesten geeignet ist, den Ausdruck zu tragen. […] Alle Erfahrung schießt in diesen Vortex ein. All die mit Energie aufgeladene Vergangenheit, die lebendig und lebenswert ist. Alle WUCHT der Vergangenheit, die auf uns eindrängt, die GATTUNG, GATTUNGSERINNERUNG, die in die PASSIVE NICHT AUFGELADENE ZUKUNFT vorstößt. Den ENTWURF der Zukunft hat der menschliche Vortex im Griff. Alle Vergangenheit, die vital genug und noch zukunftsträchtig ist, ist schwanger im Vortex, JETZT. Hedonismus ist die Leerstelle im Vortex, kraftlos, verkürzt um Vergangenheit und Zukunft, der Vortex einer Spule oder eines Kreisels im Stillstand.17
Man wird diesem Text offenbar dann nicht gerecht, wenn man ihn nur als das versteht, was er sein will: ein Programm, ein Manifest, ein Gründungsdekret mit polemischer Tendenz. Das alles ist er zweifellos – doch er geht darin nicht auf. Er ist, kraft der Bildersprache, der Metaphorik, der allegorischen Zuschreibungen, die er in seinen rhetorischen Strukturen ausagiert, in erster Linie ein Stück Literatur. Seine Wahrheit – man könnte auch sagen: seine Identität oder das Bemühen darum – besteht in seiner Ästhetik. Er hat mit allen Gründungsmanifesten, vom Futurismus bis zum Dadaismus, den Anspruch auf eine programmatische Exkommunikation gemein, so wie er mit diesen ihre quasi-religiösen Suggestionen teilt, die auf Neugründung einer Gemeinschaft von Verschworenen zielen. Doch all diese Impulse dürften nur dann angemessen wahrgenommen sein, wenn zugleich der Inszenierungsgrad erschlossen wird, der ihren literarischen Figuren – unausgesprochen, doch unübersehbar – eingeschrieben ist. Es sind Pamphlet-Gedichte von hoher poetischer Kraft. Sie wären – wie alle Poesie, die diesen Namen verdient – missverstanden oder verkannt, reduzierte man sie auf ihre krude Inhaltlichkeit oder auf den Aspekt der Autor-Intention.
17 Pound (wie Anm. 15).
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Diskurs und Performanz Um die avantgardistische Qualität der im Umkreis der Zeitschrift BLAST entstandenen Arbeiten genauer bestimmen zu können, dürfte deshalb eine Strukturanalyse der ästhetischen Charakteristika, die für die erste Ausgabe der Zeitschrift entwickelt worden sind, denn auch aufschlussreicher sein als die der programmatischen Elemente. Herausgeber der Zeitschrift BLAST und damit verantwortlich für Layout, Typographie, den Großteil der Texte und vermutlich auch für den Titel war Wyndham Lewis. Die erste Ausgabe bietet Programmatisches, Essays, Gedichte und Prosatexte, u.a. von Ezra Pound, einen Einakter von Wyndham Lewis und Reproduktionen künstlerischer Werke (Druckgrafiken, Gemälde). Mit der Programmatik des Titels verbindet sich die Vielfalt textueller und bildkünstlerischer Ausdrucksformen nur sehr vermittelt. ‚To blast‘ – in der Bedeutung von ‚in die Luft sprengen‘ oder ‚zerstören‘, aber auch den Ausdruckswert von ‚verdammt‘ einschließend – ist ein unmissverständliches Pejorativ, ein negativer Kampfbegriff und damit ein Signifikant für die programmatisch lancierten Destruktionsimpulse, die freilich häufig genug kontrastiv unterlaufen werden. MANIFESTO ist der erste, programmatische Teil überschrieben. Doch um ein ‚Manifest‘ im Sinn des Futurismus handelt es sich nur dem Namen nach. Denn der polemische Imperativ BLAST wird im laufenden Text durch sein versöhnliches Pendant BLESS wiederholt aufgehoben, ein Effekt, den die erste Nummer der Zeitschrift an unterschiedlichen Gegenständen, Themen, Namen und Begriffen wiederholt spielerisch exekutiert: beispielsweise von „BLAST First (from politeness) ENGLAND“ über „OH BLAST FRANCE“ zu „BLAST HUMOUR“ und „BLAST SPORT“, mit den entsprechenden Gegengewichten, von „BLESS ENGLAND BLESS ENGLAND“ über „BLESS the HAIRDRESSER“ und „BLESS ENGLISH HUMOUR“ bis zu „BLESS FRANCE for its BUSHELS of VITALITY“. Entscheidend bei der Durchführung der Themen und Namen, Kontraste und Kontrapositionen ist offenbar das Spiel mit einer diskursiven Absurdität, einer A-Logik und immanenten Widersprüchlichkeit der Aussagen. Die jeweils aneinander gereihten Stichworte, Namen, Begriffe und Verlautbarungen sind nach dem Nicht-Prinzip der Arbitrarität von Negation und Positivität montiert. Ihr Impuls ist der des Non-Sense, der dennoch nicht einfach Unsinn ist. Denn die grammatische Logik ist ebenso erhalten wie die Sätze einen Sinn und die aufgeführten Namen und Begriffe Referenten aufweisen. Doch der Lakonismus, mit dem die Selbstwidersprüche an-
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hand von Themen wie Kultur, Klima oder Lebensformen durchgeführt werden, bedeutet zugleich eine Subversion des Common Sense. Die Unterminierung des offiziellen kommunikativen Diskurses erfolgt in den Subversionsfiguren des Schein-Diskurses selber. Die Sprengkraft des MANIFESTO von BLAST liegt, pointiert gesprochen, in seiner Ironie. Deren Qualität trägt die Züge einer Art ‚Englishness‘. Bisweilen polemisch und aggressiv, bisweilen larmoyant und arrogant sich gerierend, entspringt den diskursiven Elementen der Teile BLAST und BLESS eine Äquivalenz, die nicht Indifferenz bedeutet, sondern Nonchalance, wenn nicht Négligeance. Ihr literarischer Wert besteht in der Nicht-Dechiffrierbarkeit des eigentlich Gemeinten.
Abb. 1: Titelblatt Diese inhaltlichen Aspekte lassen sich im Hinblick auf die Strukturelemente der Gestaltung deutlicher noch bestimmen.18 Die im Format 30,5x24 cm erschienene Zeitschrift wurde auf schwerem, rauem Papier 18 Die nachfolgend aufgeführten Beispiele finden sich in BLAST (wie Anm. 15), S. 9-28. Zit. nach Orchard (wie Anm. 5), S. 105f. – Meine Überlegungen wurden durch den Katalogbeitrag von Karin Orchard (Anm. 9, v.a. S. 16f.) angeregt.
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gedruckt. Augenfällig ist die wuchtige, wenn nicht aggressive Typographie, die sich ersichtlich von konventionellen typographischen Formen abheben will, mit unterschiedlichen Schrifttypen und -größen arbeitet, ein Geflecht aus horizontalen und vertikalen Druckzeilen montiert, deren Layout, im wechselvollen, kontrastreichen Spiel von Hell und Dunkel, weißem Raum und schwarzen Figurationen, verschiedenartige Gewichtungen und Verdichtungen favorisiert, von der farbig unterlegten Diagonalen BLAST (Abb. 1), die das Titelblatt bildet, über die zum Teil durch vertikale Linien untergliederten seriellen Sprachspiele (Abb. 2) bis zur Auflistung von Namen, die über eine ganze Seite verstreut sind (Abb. 3).
Abb. 2: Serielle Sprachspiele
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Abb. 3: Sprachspiel mit Namen Es handelt sich um typographische Gestaltungen, die offenbar von den nahezu gleichzeitig entstehenden Bildentwürfen der Herausgeber und Autoren inspiriert sind. Beispielhaft lassen sich in diesem Zusammenhang die diversen Entwürfe zu Timon of Athens von Wyndham Lewis (Abb. 4) nennen, deren kompositorische Struktur dem grafischen Design der Zeitschriftenseiten homolog ist.
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Abb. 4: Wyndham Lewis: Timon of Athens Auch der diskursive Text erscheint mithin in einem Layout, dem man mit Recht die Qualität einer „abstrakten Komposition“19 zuerkannt hat. Die Textelemente erscheinen demnach als Bildsegmente mit einer denotativen Komponente: Nicht ihrer programmatischen Inhaltlichkeit, sondern deren visueller Organisation kommt signifikante Bedeutung zu.
19 Orchard (wie Anm. 9), S. 16.
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Die Entdeckung von Zeit und Raum Zieht man an dieser Stelle die eingangs zitierten definitorischen Bestimmungen zu einem Vergleich heran, so wird man keine von ihnen als ein dominantes Merkmal der ‚Vortizisten‘ in Anspruch nehmen können. Weder enthalten sie eine „forciert kairologische Zeitschematisierung“ noch eine „politikdominierte Retotalisierung im Sinne einer integralen Zukunftsgesellschaft“, weder besitzen sie die Intention, „‚Kunst‘ und ‚Leben‘ zu entdifferenzieren“, noch haben sie die Absicht, die „Differenz von Form und Medium unsichtbar machen [...] zu wollen“. Zwar lassen sich im Einzelfall, etwa bei Pound, kairologische Distinktionen ausmachen, zwar finden sich Spurenelemente der Politik in den avantgarde-internen Auseinandersetzungen, doch haben die Vortizisten sich andererseits in erster Linie als Künstler verstanden und die soziale Sphäre als Resonanzraum und Reproduktionskonstituens. Gerade deshalb haben sie durchaus auf der ‚Differenz von Form und Medium‘ bestanden. Auf den Internationalismus der europäischen Avantgarden zu pochen, wäre ihnen als ein Akt falsch verstandener Solidarität erschienen. Sie waren vor allem und in erster Linie Engländer – ein dominanter Zug ihres Selbstverständnisses, den Wieland Schmied mit der Pointierung von fünf Differenzkriterien zur Unterscheidung von Vortizismus und Futurismus nachdrücklich betont hat: Distanz der Engländer als Weltmacht und nationale Entität gegenüber den nationalchauvinistischen und präfaschistischen italienischen Impulsen; keine Feier des Krieges durch Angehörige einer imperialistischen Weltmacht, für die der Krieg Teil des politischen Alltags war; das englische „Make it new“ (Ezra Pound) hieß zu keinem Zeitpunkt: radikale Preisgabe der Antike; der futuristische Maschinenkult ließ sich in England nicht mit gleicher Emphase durchsetzen; schließlich die deutlichste Differenz zur Beschleunigungsideologie der italienischen Futuristen: Es gab keine „Glorifizierung des Funktionalen und Mechanischen“, sondern eher eine „Freisetzung geistiger Energien“.20 All dies sind Kriterien, die im Wesentlichen anhand von Negationen gewonnen wurden. Als ihr gemeinsamer positiver Nenner ließe sich die Exploration künstlerisch neuer und neu zu erobernder Areale bestimmen. Hierin – und nicht in der problemlosen Bilanzierung programmatischer Elemente und Entwürfe – liegt die Linie der Übereinstimmung mit einzelnen Strömungen anderer Avantgarde-Bewegungen. Die avantgardistischen Operationen im ersten Drittel des 20. Jahrhun20 Schmied (wie Anm. 8), S. 94.
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derts sind – stärker als in den gängigen Analysen künstlerischer, politischer oder intellektueller Avantgarden erkennbar wird – durch die visuellen Medien strukturiert. Deren Exploration bildet den experimentellen Gegenpol des avantgardistischen Dynamismus. Hier geht es nicht allein, nicht einmal in erster Linie um Beschleunigung, sondern, im Gegenteil, um Entschleunigung, und zwar bezeichnenderweise gerade bei jenen Künstlern, die den produktiven Impuls des neuen Mediums im Experiment aufnehmen.21 Hans Richter, Viking Eggeling, Walter Ruttmann, Oskar Fischinger, nahezu zeitgleich mit ihnen auch Man Ray, Marcel Duchamp, Fernand Léger oder Max Ernst – sie machen sich mit Hilfe des Films auf die Entdeckungsreise in abgedrängte Kontinente ästhetischer Erfahrung, auf eine Weise, wie sie erst Robert Wilson in seinen Video-Kunststücken wieder aufgenommen hat. Die Medienavantgarden entdecken nach 1900 zuallererst nicht narrative Strukturen, sondern die Dimensionen von Raum und Zeit. Sie begeben sich auf eine ebenso geduldige wie entdeckungsreiche Suche nach Funktions- und Variationsmöglichkeiten geometrischer Figuren, die im Bewegungsraum des visuellen Mediums den Parametern einer neuen Raum- und Zeitwahrnehmung ausgesetzt werden: die Avantgarde als Retrogarde. Hans Richters RHYTHMUS 21/RHYTHMUS 23, Oskar Fischingers STUDIE 6, 7, 8 und MOTION PAINTING NR. 1 oder die experimentellen Arbeiten Walter Ruttmanns aus den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts lassen sich als musikalische Illustrationen von Bewegungsimpulsen verstehen, als Etüden einer Rhythmisierung, die konstruktivistischen Modellierungen entspricht. Sie folgen den neu – oder wieder – entdeckten Parametern von Raum und Zeit mit einer Beharrlichkeit und Ausdauer, die an den Kantischen Darstellungsgestus in der Kritik der reinen Vernunft gemahnt. Was Kant dort im Hinblick auf die ans Subjekt gebundenen raumzeitlichen Vorstellungen ausführt: „daß alle unsere Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei; daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern
21 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nicola Glaubitz im vorliegenden Band, insbesondere die Hinweise auf die technischen Verfahrensweisen sowie Abb. 3.
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nur in uns existieren können“22 – diese im Duktus eines philosophischen Gründungsmanifests konzentrierten und profilierten Einsichten werden in den filmischen Experimenten der Medienavantgarden zu höchster künstlerischer Anschaulichkeit erhoben. Dabei geht es freilich nicht – um Missverständnisse zu vermeiden, sei dies nachdrücklich betont – um eine Wiederholung des philosophischen Diskurses auf der Ebene des künstlerischen. Zweifelhaft – und für den Befund wie die Bewertung der hier zur Diskussion stehenden avantgardistischen künstlerischen Praxis ohne jeden Belang – ist, ob die frühen Experimentalfilmer Kant je zur Kenntnis genommen haben. Und doch finden die erkenntnis- und wahrnehmungstheoretischen Einsichten des Philosophen eine Art Widerhall in den Arbeiten der Medienavantgardisten, insoweit die von Kant inaugurierte Instanz des wahrnehmenden Subjekts bei Richter, Fischinger und Ruttmann zum gestaltenden Organisator und Multiplikator des ästhetischen Spiels wird. Von Belang ist in den ästhetischen Licht-Spielen der Medienavantgarden um 1900 das, was erscheint, was verschwindet und neu entsteht und abermals erlischt, um anderen Figuren Kontur und Raum zu geben. Um im filmästhetischen Experiment zu solch neuen, elementaren Erfahrungen vordringen zu können, werden Flächen in Bewegung versetzt, Positiv-Negativ-Effekte genutzt, Mehrfachbelichtungen eingesetzt, Kamerabewegungen erprobt und veränderte Aufnahmeperspektiven so miteinander ins Spiel gebracht, dass inmitten der visuellen Entdeckungsfahrten eine Art filmischer Selbstreflexion entsteht: Eine Reflexion der ästhetischen Mittel im Prozess ihrer Generierung und eine Reflexion auf die ästhetischen Möglichkeiten, die mit diesen Mitteln zur Verfügung stehen – eine praktische Probe aufs Exempel des philosophischen Grund-Satzes: Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts, als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist [...]. Mit dieser haben wir es lediglich zu tun. Raum und Zeit sind die reinen Formen derselben, Empfindung überhaupt die Materie.23
Die filmischen Entdeckungen und Erschließungen der ‚reinen Formen’ sind weder narrativen Mustern verpflichtet noch wollen sie Gegenständliches wiedergeben. Sie erarbeiten vielmehr ein Repertoire an kategorialen technischen und ästhetischen Elementen, die in unterschiedlichen 22 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Werke III, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1968, S. 87. 23 Kant (wie Anm. 22).
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Folgen und Reihen zusammengesetzt werden, gelenkt einzig durch den Impulsgeber eines intermittierenden Rhythmus, der bislang unbekannte Horizonte erschließt. Der Entdeckung von Raum und Zeit im frühen Experimentalfilm liegt ein neues, ästhetisch begründetes Realitätsverständnis zugrunde, dessen Innovationskraft jener des mehr als hundert Jahre zurückliegenden philosophischen Diskurses vergleichbar ist.24 Innovativ daran ist die gewissermaßen erkenntnispraktisch orientierte Basisarbeit, die mit der Entdeckung und Erprobung der ästhetischen Valeurs eines neuen Mediums einhergeht: Man muss, um herauszufinden, welche neuen künstlerischen Möglichkeiten sich bieten, in aisthetische Tiefenschichten zurückgehen, welche die Erarbeitung einer bislang unbekannten Sprache und ihrer Grammatik ab ovo erlauben. Die Akzelerationen des dominanten Avantgarde-Parameters, des Futurismus, und, in seinem Gefolge, des Dadaismus bewegen sich im diskursiven Beschleunigungskontext ihrer Zeit, mit den Materialschlachten des Weltkriegs als der ultima ratio militärischer wie ästhetischer Überbietungsanstrengungen und -leistungen. Darin dürfte der Grund für den bemerkenswerten Umstand liegen, dass die künstlerischen Leistungen der klassischen Avantgarden gerade nicht auf den Gebieten der – damals – neuen Medien liegen, sondern im Bereich der bildenden Kunst und der Malerei: Sie haben sich nicht den Film erarbeitet, sondern sie haben die Impulse der visuellen Medien auf die tradierten Künste ausstrahlen lassen. Dieser Impuls ist es, der nach 1900 auch das Kontinuum des Schriftuniversums angreift und es dissoziiert, bis in die typographischen Destruktionen und Dekonstruktionen des Layouts dadaistischer Zeitschriften, Manifeste und Programme hinein. Dass diese Impulse in kulturgeschichtlich vergleichsweise kurzen Entwicklungssprüngen ästhetisch und strukturell absorbiert worden sind – etwa in den argumentativen Figuren der Reklame und der politischen Propaganda –, sagt über das Beharrungsvermögen von Wahrnehmungskonventionen ebenso viel wie die Tatsache, dass die Anfänge des experimentellen Films unter dem Fundus des narrativen Films verschüttet worden sind.
24 Zum Verhältnis von künstlerischer Praxis und epistemologischer Reflexion siehe Greenberg, Clement: „Modernist Painting“ (1960), in: ders.: The Collected Essays and Criticism. Modernism with a Vengeance, 1957-1969, hrsg. v. John O’Brian, Chicago/London 1993, Bd. 4, S. 85-93. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen von Nicola Glaubitz im vorliegenden Band.
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Störungen Lässt sich Kultur als symbolischer Verständigungszusammenhang von Menschen verstehen, dann liegt die Frage auf der Hand, nach welchem Zeitmaß und in welchen Rhythmen sich der Prozess kultureller Entwicklungen organisiert. Wann, so kann man diese Frage pointieren, kommt es in der Kulturgeschichte zu Umbrüchen, die qualitative Veränderungen mit sich führen, Veränderungen, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es einmal war? Immer dann, so könnte die Antwort lauten, wenn eine ‚Störung‘ des je gegenwärtigen kulturellen Systems eintritt – ein milderer Terminus wäre etwa ‚Irritation‘, ein schärferer ‚Krise‘–, immer dann also, wenn sich ein kulturelles System oder Subsystem erschöpft hat, wenn es leer geworden ist, wenn es aus sich heraus keine Antworten mehr findet auf die Fragen, die sich ihm stellen, auch dann, wenn es zu langsam geworden ist im Verhältnis zu den Beschleunigungsfaktoren, welche die umgebenden Teilsysteme bestimmen – immer dann setzen Störungen ein, die das kulturelle System oder das Subsystem in Frage stellen. An diese systemtheoretisch orientierte Beobachtung ließe sich eine chaostheoretisch orientierte Folgerung anschließen: Die Richtung der Veränderung des kulturellen Systems oder Subsystems ist grundsätzlich unbestimmt. Es kann zu Dynamisierungen, aber auch zu Rückwendungen kommen, selten zum Stillstand, bisweilen zur Implosion, und häufig entstehen Mischformen, aus denen Kräftekonstellationen nicht vorhersehbaren Ausmaßes hervorgehen. Die Antwort der in diesem Beitrag diskutierten Medienavantgarden auf die Störungen kultureller Systeme in Europa bestand in einer Regression. Diese wurde ihrerseits Objekt und Opfer einer globalen Störung, die zugleich ihr Ende bedeutete: durch den Ersten Weltkrieg nämlich, der einer ganzen Generation von Künstlern und Intellektuellen, der Bewegung der Vortizisten wie zahlreichen der konkurrierenden Avantgardebewegungen, den Boden entzieht. Sucht man Gründe für den auch auf die Künste durchschlagenden Erfolg dieser weltgeschichtlichen Störung innerhalb der Avantgarden selbst, so lassen sich diese in einem beredten Text des aus Frankreich stammenden Vortex-Bildhauers Henri GaudierBrzeska (1891-1915) finden. In der zweiten Ausgabe von BLAST ließ Gaudier-Brzeska einen Brief veröffentlichen, den er als 24jähriger – kurze Zeit, bevor er als Soldat der französischen Armee den Tod fand – in einem der Schützengräben des Ersten Weltkriegs geschrieben hatte:
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RALF SCHNELL Ich habe ein Experiment gemacht. Vor zwei Tagen habe ich dem Feind ein Maschinengewehr gestohlen. Seine plumpe Form überwältigte mich durch das einsetzende BILD der Brutalität. Lange Zeit hindurch war ich nicht sicher, ob es mir gefiel oder nicht. Ich beschloß, daß ich es nicht mochte. Ich brach den Kolben ab und schnitzte mit meinem Messer ein Muster in das Holz, wodurch ich einen sanfteren Gefühlsbegriff auszudrücken versuchte. ABER ICH WILL BETONEN, DASS MEIN MUSTER DURCH EINE SEHR EINFACHE KOMPOSITION VON LINIEN UND EBENEN wirksam war (genauso wie das Gewehr es gewesen ist).25
Muster, Gefühl, Komposition, Linien, Ebenen und, nicht zuletzt, der Glaube an die ‚Wirksamkeit‘ der Kunst – dies sind die Argumentationsfiguren des jungen Künstlers. Er gehörte jener Generation von Medienavantgardisten an, die der Poesie eines Hugo von Hofmannsthal ein Ende bereitet hat. Ihr Ende fand diese kurze, intensive Phase lyrischer Produktivität durch jene Antriebsenergien, die dem avantgardistischen Destruktionsimpuls des Futurismus zugrunde lagen, der seinerseits den Anfang der vortizistischen Selbstbewusstwerdung bildete, ein Faktum, das an den Titel eines großen Essays Hugo von Hofmannsthals aus dem Jahr 1921 erinnert: Die Ironie der Dinge.
Abbildungsnachweis Alle Abbildungen aus: Orchard, Karin (Hrsg): BLAST. Vortizismus – Die erste Avantgarde in England 1914-1918 [Ausstellungskatalog], Hannover 1996. Abb. 1: Blast Nr. 1, 1914 (Kat.-Nr. 203), Kat. S. 153. Abb. 2: Aus: Manifesto, Kat. S. 277. Abb. 3: Aus: Manifesto, Kat. S. 278. Abb. 4: Percy Wyndham Lewis: 1. Timon of Athens, Umschlag, Rückseite, 1913 (Kat.-Nr. 109), Kat. S. 120.
25 Zit. nach Orchard (wie Anm. 5), S. 298f.
NICOLA GLAUBITZ
ABSOLUTE UND ANTHROPOMORPHE
FORM
AVANTGARDE UND ANIMATIONSFILM UM 1900 Filmtechnik und Kino konfigurierten in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Feld nicht nur der visuellen Medien neu. Als kommerziell genutztes Unterhaltungsmedium trat der Film in Konkurrenz zu den traditionellen Medienangeboten. Er intensivierte die Bemühungen um eine Selbstverortung und Selbstvergewisserung der Künste, die bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatten. Künstler stießen sich am bildlichen ‚Naturalismus‘ des Films, während sie andererseits seine Fähigkeit zur Abbildung von Zeitkontinuen und schockartig montierten Zeitsprüngen faszinierte. Sie nahmen in Folge zum Teil die Medienkopplung Film zum Vorbild, um die Grenzen konventioneller Kunstformen zu sprengen. Zum Teil konzentrierten sie sich in Abgrenzung vom Film auf die (vermeintlich) spezifischen Leistungen einzelner literarischer oder bildlicher Kunstformen und Medien. Auch die diskursiven Reaktionen auf die Umbruchsituation nach 1900 orientieren sich an diesen beiden Optionen. Die Frage nach den besonderen Eigenschaften, Möglichkeiten und Grenzen der traditionellen und der neuen Medien ist (begrifflich meist implizit) eine Frage nach der Medienspezifik. Diese Frage motiviert also – das ist meine Ausgangsthese – sowohl die künstlerisch-avantgardistische Praxis als auch die Diskurse über sie. Wenn diese Vorstellung von Medienspezifik historisierbar ist, müsste ihre Tauglichkeit zur Beschreibung vergangener und gegenwärtiger Medienkonstellationen überprüft werden. Dazu liefert der vorliegende Text erste Überlegungen. Medienspezifik wird seit dem späten 19. Jahrhundert als Gegenstand künstlerischer Selbstreflexivität thematisch. Die Selbstmarkierung des Kunstwerks als Kunstwerk ist Peter Bürger zufolge die historische (aber auch die systematische) Voraussetzung dafür, dass „bestimmte all-
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gemeine Kategorien des Kunstwerks in ihrer Allgemeinheit“1 überhaupt erst erkannt und theoretisch beschrieben werden können. Erst der Verweis auf sich selbst, auf die eigenen ästhetischen Strategien macht ein Kunstwerk zu einem modernen Kunstwerk.2 Selbstreflexion und Autonomisierung der Kunst sind auch – und wesentlich – ein Resultat der Ausdifferenzierung des Kunstsystems im 19. Jahrhundert.3 Als bewusste Strategie eingesetzt, sucht künstlerische Selbstreflexivität den Anschluss an epistemologische Kategorien und treibt damit einen engen Anschluss an diskursive Artikulationsformen voran. Sie codiert sich etwa als naturwissenschaftliches Experiment4 oder als historische Reflexion auf ihre eigene Geschichte. Eine solche theorieanaloge Reflexion auf ästhetische Strategien, Konventionen und Medieneigenschaften steht daher in einem 1 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 24, vgl. 25. Für Anregungen, Hilfe bei der Recherche und konstruktive Kritik danke ich Jens Schröter. 2 Bürger bezieht sich hier auf den Ästhetizismus. Dessen formalästhetische Orientierung nimmt eine Avantgardevorstellung vorweg, die sich in den 1920er und 1930er Jahren in den USA etabliert und sich mit der Bezeichnung ‚Modernismus‘ überschneidet. Eine experimentelle oder aber stark formalisierte Ästhetik ist hier wenig oder gar nicht mit politischen Programmen verbunden. Vgl. dazu Barck, Karlheinz: „Avantgarde“, in: ders. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2000, Bd. 1, S. 544576, hier: S. 569. 3 Der entscheidende Faktor für die Herausbildung der Avantgarden und des Modernismus ist die Autonomisierung des Kunst- und des Literatursystems seit 1800. Vgl. Bürger (wie Anm. 1) und Plumpe, Gerhard: „Avantgarde. Zum historischen Ort ihrer Programme“ in: Heinz-Ludwig Arnold (Hrsg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden, München 2001, S. 7-16. Die tatsächliche Entlastung dieser Systeme von wertorientierten Zwecken (wie Geselligkeit, moralischer Bildung, politischer Identitätsbildung des Bürgertums) führt im 19. Jahrhundert zu Wiederbesetzungsversuchen mit eben solchen Werten. Die Angestrengtheit solcher Bemühungen schlägt sich in extremen Abkapselungsversuchen (l’art pour l’art, Formalismus), aber auch in Entdifferenzierungsbemühungen (‚Leben als Kunst‘ z.B. in der décadence, Spiritualisierung der Kunst im russischen Symbolismus, ihre Politisierung im Naturalismus) nieder. Beide Extreme werden für die Avantgarden im 20. Jahrhundert relevant. Vgl. zur Medienkonkurrenz Segeberg, Harro: „Technische Konkurrenzen. Film und Tele-Medien im Blick der Literatur“, in: York-Gothart Mix (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München/Wien 2000, Bd. 7, S. 423-430. 4 Vgl. zu weitergehenden systematischen Überlegungen Venus, Jochen: „Kontrolle und Entgrenzung. Zum Funktionswandel der ästhetischen Kategorie des Experiments“, in: Marcus Krause/Nicolas Pethes (Hrsg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 19-41.
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der einflussreichsten Avantgardediskurse des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Ab 1939 sieht Clement Greenberg in diesen Kriterien den Inbegriff fortschrittlicher, avantgardistischer Kunst. Avantgardistische künstlerische Verfahren gelten bei Greenberg als Beobachtungsinstanz für Medialität. Medienreflexion, verstanden als Spiegelung oder Artikulation medialer Eigenschaften durch das Kunstwerk, wäre insofern integraler Bestandteil einer (Medien-)Avantgarde. Künstlerische Projekte wären ohne weiteres als Seismographen neuester Medienentwicklungen anzusehen. Die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als Periode der historischen Genese einer solchen Argumentationslinie geben Aufschluss über ihre Voraussetzungen, Strategien und auch über ihre Grenzen. Der Animationsfilm steht deswegen im Mittelpunkt, weil er im Umbruch zu den Analogmedien um 1900 sowohl in das Feld des populären Unterhaltungskinos als auch in den Bereich der abstrakten Avantgardekunst hineinreicht (1) und weil sich entsprechend unterschiedliche Diskurse mit ihm auseinandersetzen. Die Avantgardekünstler Hans Richter, Walther Ruttmann und Viking Eggeling verwenden Animationstechniken, um Film auf seine elementaren, ‚absoluten‘ Bedingungen zu reduzieren und um so eine spezifische, auch programmatisch formulierte Auffassung von Kunst umzusetzen (2). Das Interesse einiger Filmtheoretiker in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhundert gilt ebenfalls dem Animationsfilm und seinem Kunstpotenzial. Balázs, Eisenstein, Arnheim und Panofsky jedoch halten kommerzielle, mimetische Zeichentrickfilme für den Inbegriff des Filmischen (3). In diesen Ansätzen zeichnen sich zwei Vorstellungen von Medienspezifik bzw. Medium ab: eine spezialisierte und eine weiter gefasste, anthropologisch grundierte. Die aktuelle Wiederaufnahme und Neuverhandlung beider Denkrichtungen bei Rosalind Krauss, aber auch die aktuelle Entwicklung des digitalen Kinos wirft abschließend die Frage nach der systematischen Aktualität dieser Ansätze auf (4).
1.
Frühe Animationsfilme: Aneignungsformen einer Technik
Eines vorweg: Die zahlreichen Versuche, den Animationsfilm zu definieren und ihn klar von Realfilm, Cartoon, Comic und Zeichnung abzugrenzen, sind Kompromisse. Dennoch ist ‚Animationsfilm‘ kein beliebig füllbarer Begriff. Sein kleinster gemeinsamer Nenner ist eine bestimmte
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Umgangsweise mit der Filmtechnik.5 Diese Umgangsweise teilen die heterogenen Gebilde, die der Terminus Animationsfilm ab etwa 1920 zusammenfasst. Was ihre technischen Grundlagen angeht, haben Animationsfilm und Realfilm dieselben Vorläufer. Mit Apparaturen wie dem Phenakistiskop, dem Zoetrop oder dem Daumenkino wurden seit 17996 einzelne, gemalte oder gezeichnete, bald auch fotografierte Bilder in schneller Folge hintereinander geblendet und riefen eine Bewegungsillusion hervor. Unterschiedlich ist beim Real- und Animationsfilm aber die Art und Weise, wie die Bewegungsphasen zustande kommen. Die Einzelbilder, aus denen der Realfilm besteht, werden von der Kamera in regelmäßigen und automatisch ausgewählten Zeitabständen aufgezeichnet.7 Beim Zeichentrickfilm werden die Phasen eines Bewegungsablaufs vom Zeichner oder Animateur (und nicht von der Apparatur) abgeschätzt und eingeteilt: der Zeichner entwirft nach seiner Vorstellung Einzelmomente einer Bewegung und fertigt separate Zeichnungen an. Die Filmkamera, auf Einzelbildaufnahme geschaltet, bringt die vorbereiteten Bilder in richtiger Reihenfolge auf einen projektionsfähigen Filmstreifen.8 Der Animationsfilm zeichnet keine außerfilmische Bewegung auf, sondern erzeugt oder generiert Bewegung. Da nahezu jedes Filmbild einzeln hergestellt werden muss, ist das Verfahren enorm arbeits- und zeitintensiv.9 Deswegen waren die ersten Animationsfilme sehr kurz und blieben in den Kinoprogrammen eine Randerscheinung. Aber sie wurden schon sehr früh in Bereichen eingesetzt, die sich später zu special effects, Vorspanngestaltung oder zum
5 Es hat sich eingebürgert, Animation auf diese Weise von ihren technischen Voraussetzungen her zu definieren, die phänomenologisch mal mehr, mal weniger als Differenz zum Realfilm auffallen. Vgl. Furniss, Maureen: Art in Motion. Animation Aesthetics, London u.a. 1998, S. 5; Small, Edward S./Levinson, Eugene: „Toward a Theory of Animation“, in: The Velvet Light Trap, 24 (1989), S. 68; Denslow, Philip Kelly: „What is animation and who needs to know? An essay on definitions“, in: Jayne Pilling (Hrsg.): A Reader in Animation Studies, London 1997, S. 1-4. 6 Manovich, Lev: The Language of New Media. Cambridge, Mass. 2001, S. 296 nennt Robertsons Laterna-magica-Aufführung mit bewegten Projektionen als frühestes Beispiel. 7 Vgl. Manovich (wie Anm. 6), S. 296f. 8 Vgl. Furniss (wie Anm. 5), S. 5. 9 Pro Sekunde Film werden mindestens 9 verschiedene Bilder benötigt, damit überhaupt ein Bewegungseindruck entsteht, und für flüssige Bewegungen sind mindestens 18 Bewegungsphasen erforderlich. Zeichnungen und Collagetechniken bieten sich daher als Vorlagen an. Vgl. Furniss (wie Anm. 5), S. 136.
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Werbefilm weiterentwickelten.10 Animierte Gegenstände tauchten 1897 in einem englischen Werbefilm für Bird’s Custard Powder auf, George Méliès animierte (ebenfalls für einen Werbefilm) 1898 Buchstaben, und Arthur Melbourne Cooper ließ ein Jahr später Streichhölzer zum Appell antreten.11 Die frühesten Zeichentrickfilme verwendeten oft Kombinationen von gezeichneten und fotografierten Bildern: Der amerikanische Comickünstler Winsor McCay zeichnete zwischen 1911 und 1914 animierte Versionen seiner Little Nemo-Serie und integrierte die gezeichnete Figur in gefilmte Hintergründe. Aber die Kombination von gezeichneten und gefilmten Komponenten wurde auch eigens thematisiert. In James Stuart Blacktons THE ENCHANTED DRAWING (USA, 1900) und HUMOROUS PHASES OF FUNNY FACES (1906), in Émile Cohls FANTASMAGORIE (Frankreich, 1908) und in der Serie OUT OF THE INKWELL (USA, 1915) der amerikanischen Gebrüder Fleischer setzt sich ein Motiv fort, das bis in die 1920er Jahre höchst beliebt war: Zeichnungen und die zeichnende Hand (bzw. der Künstler) wurden gleichzeitig aufgenommen, mit dem Stopptrick wurde jedoch der Eindruck erweckt, dass sich die Zeichnung von selbst verändere.12
Abb. 1: Drame chez les Fantoches
Abb. 2: Koko Chop Suey
10 Vgl. Thompson, Kristin: „Implications of the Cel Animation Technique“, in: Teresa de Lauretis/Stephen Heath (Hrsg.): The Cinematic Apparatus, Houndmills/Basingstoke/London 1980, S. 106-121, hier: S. 106. Selbst der abstrakte Film der 1920er Jahre entwickelte sich im engen Austausch kommerzieller und künstlerischer Funktionszusammenhänge – im Falle Walther Ruttmanns, der Werbefilme drehte, sogar in Personalunion. Vgl. Wilmesmeier, Holger: Deutsche Avantgarde und Film: Die Filmmatinee ‚Der absolute Film‘ (3. und 10. Mai 1925), Münster/Hamburg 1994, S. 140. 11 Leslie, Esther: Hollywood Flatlands. Animation, Critical Theory, and the Avant-Garde, London/New York 2002, S. 9. 12 Dieses Motiv nimmt die auf Jahrmärkten beliebte Attraktion des Schnellzeichnens auf. Vgl. Leslie (wie Anm. 11), S. 2, 9f., 13; Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 148.
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Was aus heutiger Sicht wie eine Reflexion auf die Grenzen und Möglichkeiten von gezeichnetem und fotografiertem Film aussieht, war bis in die frühen 20er Jahre des 20. Jahrhunderts noch eine durchaus übliche Genre- und Stilmischung. Kristin Thompson zeigt, dass bis 1912 im englischen Sprachraum animation noch alle Arten von Film oder Spezialeffekten bezeichnete.13 Erst danach – nachdem mit der Erfindung der Folienanimationstechnik (cel animation) durch John Bray und Earl Hurd 1913 Animationsfilme arbeitsteilig produziert und sinnvoll vermarktet werden konnten – etablierte sich eine deutlichere Trennung. Im Zusammenwirken von Diskursen, institutionellen Aneignungs- und Produktionsweisen und Publikum bürgerte sich die Trennung von Realfilm und Animationsfilm, Spielfilm und Dokumentation, aber auch von Experimentalfilm und kommerziellen Filmen ein. Der kommerzielle Animationsfilm nutzte die Möglichkeiten aus, fotografisch nicht oder kaum Darstellbares zu zeigen: tempo- und slapsticklastige Grotesken arbeiten mit verzerrten, zerteilten und sich verwandelnden Körpern; tricktechnisch werden irreale Märchen- und Fabelwelten visualisiert. Thompson wertet dies als Verweis auf das Gemachtsein und die Inszeniertheit des Trickfilms und schreibt ihm daher ein Potenzial zur Subversion repräsentationaler Strategien zu.14 In den 1920er Jahren wurden Animationsfilme durchaus so wahrgenommen: man brachte seine formalen und technischen Eigenheiten mit avantgardistischen Tendenzen in Verbindung. In Deutschland etwa fasste man kommerzielle Zeichentrickfilme mit ihren ‚anarchischen Bilderwelten‘ in den 20er Jahren „als amüsantes, in mancherlei Hinsicht dada-ähnliches Stück Gegenkultur“15 auf. Die grotesk-humorvollen Filme aus dem Umfeld des Dadaismus selbst waren allerdings keine Zeichentrickfilme: Hans Richter, Fernand Léger, Man Ray und Marcel Duchamp verwendeten Realfilmaufnahmen, um mit Erzählkonventionen zu brechen und fotografische Bildsequenzen zu dekontextualisieren. Die Distanz zum Abbildhaften und die stärker ‚handwerkliche‘, an Malerei und Zeichnung direkt anknüpfende Produk13 Thompson (wie Anm. 10), S. 106f. und passim. 14 Vgl. Thompson (wie Anm. 10), S. 108. Erzähl- und Schnittkonventionen sowie Kamerabewegungen wurden im klassischen Hollywood-Spielfilm hingegen so eingesetzt, dass die Handlung im Vordergrund steht. Spielfilme halten einen kontinuierlichen Erzählfluss durch und lenken die Zuschaueraufmerksamkeit vom technischen Prozess der Bildaufzeichnung ab. Die Inszeniertheit der Handlung tritt in den Hintergrund. Vgl. Thompson (wie Anm. 10), S. 106-108 und Bordwell, David/Thompson, Kristin/Staiger, Janet: The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960, London 1985. 15 Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 143.
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tionsweise des Animationsfilms erwiesen sich aber in einem anderen Bereich als anschlussfähig: in der Entwicklung des abstrakten Films.16
2.
Animationsfilm als abstrakter Film
Die Aneignung der Animationsfilmtechnik vollzieht sich in Form von wiederholten Neuansätzen und Neuentdeckungen. Ein solcher Neuansatz, der mit besonderer Konsequenz weiterentwickelt wird, ist die Entstehung des absoluten Films in Deutschland.17 Zwar hatte es im italienischen Futurismus seit 1912 Versuche gegeben, Filme nichtnarrativ und abstrakt zu gestalten18, doch erst ab 1919 gelangten diese Versuche mit Viking Eggeling, Hans Richter, Walther Ruttmann und Oskar Fischinger über vereinzelte Ansätze hinaus. Richter, der wie Eggeling aus dem Umfeld der Zürcher Dadaistengruppe kam, streicht im Rückblick die Querlage der ersten Filmexperimente zur Filmtradition heraus: „Fünfundzwanzig Jahre nach Entdeckung der Kameramöglichkeiten entdeckte die Avantgarde sie neu.“19 Wie Duncan Grant in England hatten auch Egge16 Die Zurechenbarkeit auf einen Einzelkünstler oder zumindest eine überschaubare Kleingruppe gilt immer noch als Unterscheidungskriterium zwischen Filmkunst und Kommerzfilm. Vgl. Scheugl, Hans/Schmidt jr., Ernst: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, Frankfurt a.M. 1974, Bd. 1, S. 81; Furniss 1998 (wie Anm. 5), S. 5. 17 Die Unterscheidung abstrakt-absolut findet sich in zeitgenössischen Diskursen, bleibt aber auf Deutschland beschränkt. Absolute Filme sind dabei solche, die sich völlig von der Gegenständlichkeit lösen und sich in ein Programm absoluter Kunst einfügten. Vgl. Scheugl/Schmidt (wie Anm. 16), S. 204f. 18 Diese Filme blieben nicht erhalten. Vgl. Rees, A. L.: History of Experimental Film. London 1999, S. 28 und Lista, Giovanni: „Futuristischer Film und futuristische Fotografie“, in: Norbert Nobis (Hrsg.): Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909-1918 [Ausstellungskatalog], Hannover 2001, S. 294-31. Für diesen Hinweis danke ich Marijana Erstic. 19 Richter, Hans: Der Kampf um den Film. Für einen gesellschaftlich verantwortlichen Film (MS 1939), hrsg. v. Jürgen Römhild, München/Wien 1976, S. 42. Diese Verspätung verweist noch einmal darauf, dass der Dadaismus sich vorwiegend der traditionellen literarischen und malerischen Medien bediente. Walter Benjamin pointiert das in der Beobachtung, der Dadaismus habe versucht, „die Effekte, die das Publikum heute im Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (bzw. der Literatur) zu erzeugen“. (Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.“ [1935], in ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972-1989, Bd. I/2, S. 463.) Thomas Elsaesser und Jeanpaul Goergen nehmen gleichfalls die Nichtbeziehung Dadas zum Film zur Kenntnis. Vgl. Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte und
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ling und Richter zunächst mit Bildrollen aus Papier experimentiert, um Form- und Farbkompositionen zu sequenzieren und ihre Veränderung zu visualisieren.20 Richter, Ruttmann, Eggeling und Fischinger verwendeten später Pappschablonen, Wachs- oder Kaolinformen oder auf Glasplatten aufgetragene Farb- oder Sandschichten. Diese ließen sich verschieben und wurden Einzelbild für Einzelbild auf Film fotografiert.21 Die abstrakten Filme, die daraus resultierten, erinnern an konstruktivistische Malerei in Bewegung. Geometrische Figuren werden in ihrer Größe und Position zueinander verändert. In RHYTHMUS 21 (1921/24) konzentriert sich Richter auf die Bewegung zweidimensionaler Figuren. Das graduelle Verschieben, Anschneiden und Überschneiden erzeugt dabei den Eindruck eines dreidimensionalen Tiefenraums.
Abb. 3: Rhythmus 21 frühes Kino: Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 252; Goergen, Jeanpaul: „Viking Eggeling’s Kinorphism: Zurich Dada and the Film“, in: Stephen Foster/Brigitte Pichon/Karl Riha (Hrsg.): Crisis and the Arts. The History of Dada, Bd. 2: Dada Zurich: A Clown’s Game from Nothing, New York 1996, passim. Vgl. auch Kaes, Anton: „Verfremdung als Verfahren: Film und Dada“, in: Wolfgang Paulsen/Helmut G. Herrmann (Hrsg.): Sinn aus Unsinn: Dada International, Bern/München 1982. 20 Leslie (wie Anm. 11), S. 36f.; vgl. Goergen (wie Anm. 19), S.171f. 21 Vgl. Furniss (wie Anm. 5), S. 54.
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Der Film veranschaulicht die elementaren Bedingungen, die für die Illusion von Räumlichkeit in einem zweidimensionalen Bewegtbild notwendig sind. Richter macht in einem erst 1939 verfassten Buch deutlich, dass sich diese Experimente zunächst aus einer Problemstellung der Malerei ergeben hatten: Die Avantgarde entstand schrittweise aus der Weiterführung der in der bildenden Kunst gestellten Probleme: rhythmische Vorgänge nicht nur im Raum und auf der Fläche, sondern darüber hinaus in der Zeit darzustellen. Diese Probleme führten zum Film. Ihren Vertretern gemeinsam ist der Versuch, eine reine […] Sprache des Films zu schaffen.
schreibt Richter und betont noch einmal die Diskontinuität zur eher theatralisch-spektakulär geprägten Kinotradition: [D]er Geist der Avantgarde war nicht der von Méliès; es war der Geist moderner Malerei und Literatur. Von dorther kommend, versuchten die Avantgardisten, die kinematographische Technik dem vulgären, naturalistischen Theater des Spielfilms entgegenzusetzen.22
Ähnliche Überlegungen stellt Walther Ruttmann an. Obwohl er vom Film zusätzlich die modellhafte Vorprägung einer neuen Wahrnehmungshaltung erwartet, interessiert er sich in erster Linie dafür, Film als eine „Kunst für das Auge“ von der Malerei abzugrenzen. Film unterscheide sich insofern, als er „sich zeitlich abspielt (wie Musik), und daß der Schwerpunkt des Künstlerischen nicht (wie im Bild) in der Reduktion eines (realen oder formalen) Vorgangs auf einen Moment liegt, sondern gerade in der zeitlichen Entwicklung des Formalen“.23 Film legitimiert sich bei Ruttmann und Richter also als Kunst durch spezifische Leistungen, die andere Künste nicht erbringen können. Für die filmkünstlerische Praxis leitend ist die konsequente Reflexion und Reduktion auf seine kleinsten konstitutiven Einheiten (Formen und Bewegung). Zu diesen konstitutiven Einheiten gehört auch die Spezifizierung desjenigen Wahrnehmungssinnes, an den sie sich richtet. Film könne, so Ruttmann, nur dann „zum künstlerischen Erlebnis werden, wenn er optisch konzi-
22 Beide Zitate Richter (wie Anm. 19), S. 42f. 23 Beide Zitate Ruttmann, Walther: „Aus dem Nachlaß“ (um 1919), in: Birgit Hein/Wulf Herzogenrath (Hrsg.): Film als Film. 1910 bis heute. Vom Animationsfilm der zwanziger zum Filmenvironment der siebziger Jahre, Köln 1978, S. 64.
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piert“ sei.24 Die Ausdrucksmittel der Kinematographie sind „Formen, Flächen, Helligkeiten und Dunkelheiten mit all dem ihnen innewohnenden Stimmungsgehalt, vor allem aber die Bewegung dieser optischen Phänomene, die zeitliche Entwicklung einer Form aus der anderen.“25 Literarische, das heißt narrative und verweisende Elemente sind für Ruttmann im künstlerischen Film fehl am Platze, während er ‚Stimmungswerten‘ gegenüber aufgeschlossen blieb. Um die Gefühlsassoziationen optischer Effekte zu intensivieren, ließ er musikalische Untermalung zu. Richter und Viking Eggeling dagegen lehnten Musik als Verunreinigung des optisch-kinetischen Wesens des Films strikt ab.26 Richter und Eggeling verstehen Kunst explizit als ‚elementare Gestaltung‘ und damit als rationale, wissenschaftsanaloge und entindividualisierte Praxis.27 Diese Reduktion auf das Elementare ist der Zielsetzung untergeordnet, eine formalisierte ‚Sprache‘ zu entwickeln: Viking Eggeling sucht eine optisch-visuelle Universalsprache zu entwickeln, in der Formen als Kommunikationszeichen oder ‚plastisches Alphabet‘ fungieren sollten.28 In den gerade beschriebenen Beispielen Eggelings, Richters und Ruttmanns fielen Praxis und Programmatik des abstrakten Films weitgehend in eins.29 Sie lassen sich nicht mit einem Avantgardebegriff 24 Ruttmann in einem zwischen 1913 und 1918 entstandenen Text, der bei Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 59 als „Kunst und Kino“ zitiert wird. 25 Ruttmann, Walther: Kunst und Kino, zit. nach Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 61. 26 Ihre Filmtitel RHYTHMUS 21, RHYTHMUS 23 oder SYMPHONIE DIAGONALE zapfen die Suggestivität des Musikalischen dennoch an, indem sie zumindest einen solchen Assoziationshorizont eröffnen. Vgl. auch Sobchak, Thomas/Sobchak, Vivian C.: An Introduction to Film, Boston/Toronto 1987, S. 398f. 27 Vgl. Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 63f. Richter formulierte die Forderung nach elementarer Gestaltung in der ersten Nummer der von ihm herausgegebenen Zeitschrift G. Material zur elementaren Gestaltung im Juni 1923. In derselben Nummer findet sich ein Beitrag des de Stijl-Mitglieds Theo van Doesburg. Richter fordert „Ökonomie. Reines Verhältnis von Kraft und Material. Das bedingt elementare Mittel, völlige Beherrschung der Mittel. Elementare Ordnung, Gesetzmäßigkeit.“ (Richter, Hans: G. Material zur elementaren Gestaltung, München 1986, Anhang). Vgl. zur eher konstruktivistischen als dadaistischen oder expressionistischen Einordnung Richters Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 67. Auch Eggeling hielt auf dem 8. DadaAbend (9.4.1919) einen so orientierten Vortrag über elementare Komposition und abstrakte Kunst. Vgl. Goergen (wie Anm. 19), S. 170. 28 Vgl. Goergen (wie Anm.19), S. 172. 29 Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 89, geht davon aus, dass sich in der Aufführungspraxis ein anfangs propagierter „filmische[r] Purismus“ schon sehr bald verflüchtigt habe, das heißt die meisten abstrakten Filme mit musikalischer Begleitung gezeigt wurden. Auch für andere Arbeiten gilt diese
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beschreiben, der am Modell von Futurismus, Dadaismus, Expressionismus, russischem Konstruktivismus und Surrealismus entwickelt wurde. Diese Bewegungen hatten formale Experimente als Stil- und Traditionsbrüche inszeniert, politisch semantisiert und performativ-aktionistisch verstärkt. Im Zentrum ihrer Programmatik stand die Aufhebung der Grenze von Kunst und Leben: Kunst sollte aus ihrer zunehmend mit Bedeutungs- und „Folgenlosigkeit“30 erkauften Autonomie ausbrechen, ihre Ausrichtung auf kontemplativ-erbauende Rezeption gegen Interaktion und Performativität vertauschen und gesamtgesellschaftliche Umwälzungen begleiten bzw. initiieren. Während Futurismus, Dadaismus und Surrealismus ihre Aktionen unter die Leitvorstellung der Politik gestellt hatten, bildete sich mit Bewegungen wie dem niederländischen Konstruktivismus, dem Bauhaus und dem Suprematismus eine andere Richtung heraus. Diese Avantgarden geben einen Gesellschafts- und Zeitbezug nicht vollständig auf, stellen ihn aber unter die hochgradig generalisierte (und oft sehr vage) Leitvorstellung der ‚Universalität‘: Die Suche nach einer allgemeinverständlichen Formsprache motiviert Kandinsky31, Mondrian, Malewitsch und nicht zuletzt Viking Eggeling, Hans Richter und Walther Ruttmann. Ihnen gemeinsam ist (bei allen gravierenden Differenzen) das Ideal einer Kunst als einem formalisierten Code: sie gilt als sprach- bzw. wissenschaftsanaloge, das heißt verallgemeinerbare und allgemein nachvollziehbare Artikulationsform spiritueller oder mystischer Vorstellungen (Kandinsky, Malewitsch) oder als Artikulationsform von Empfindungen, Stimmungen oder Sinneserfahrungen (Ruttmann, Richter, Eggeling). Kunst zeichnet sich in diesem Kontext also insgesamt als Erkundung spezifischer Wahrnehmungsformen, als Resultat einer Reflexion auf ihre elementarsten Bedingungen und als möglichst ökonomische Verwendung ihrer Mittel aus. Innerhalb dieses Rahmens geht es – wie die Beispiele der Experimentalfilmer aus den 1920er Jahren gezeigt haben – um das Differenzieren unterschiedlicher Kunstformen (oder Medien) und um die Bestimmung ihrer jeweiligen Möglichkeiten. Richter, Ruttmann und Eggeling bewegen sich in Richtung einer einzelsinnlich
Programmatik nicht: Ruttmann etwa hatte abstrakte Werbefilme gedreht (vgl. Wilmesmeier [wie Anm. 10], S. 140), Richter auch eher surrealistische Realfilme wie z.B. VORMITTAGSSPUK (1923) oder RENNSYMPHONIE (1928). 30 Bürger (wie Anm. 1), S. 29. 31 Vgl. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, Bern 1952, S. 66-112.
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und einzelmedial32 spezialisierten Kunstvorstellung, die sich in den 1940er Jahren in einem anderen Kontext etabliert. Der Kunstkritiker Clement Greenberg entwickelt für die US-amerikanische abstrakte Malerei Beschreibungskategorien, die den Programmen der Avantgardefilmer analog sind. Für Greenberg verbinden sich reflexive, ja systematischwissenschaftliche künstlerische Methode und Avanciertheit aufs engste. Die Avantgarde verkörpert sich bei Greenberg gerade nicht im Infragestellen der Autonomie und Institutionalisierung von Kunst, sondern in ihrer Bekräftigung. Eine auf sich selbst bezogene Kunst kann, folgt man Greenberg, ihre eigenen Grundlagen eruieren, ihre spezifischen Möglichkeiten erkennen und diese konsequent ausschöpfen. Greenberg konstruiert eine lineare Geschichte der Kunst und der Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Kunst reflektiert sich zunehmend selbst und distanziert sich immer weiter von den Darstellungszielen Mimesis und Expressivität. Damit erwacht das Bewusstsein der Künstler für das ‚Medium‘, in dem sie jeweils arbeiteten.33 Avantgardekunst konzentriert sich auf die Visualisierung der Mittel und Methoden, die vormals zur Repräsentation und zum Ausdruck verwendet wurden: Gegenstand der Kunst ist nicht Wirklichkeit, sondern „the very processes or disciplines by which art and literature have already imitated the former“.34 Die Geschichte der Malerei ist für Greenberg keine Serie von Umstürzen, sondern eine immer konsistentere „Konsolidierung ihres eigenen Gegenstandsbereichs“.35 Avantgardekunst grenzt sich für Greenberg mit dieser (medien-)reflexiven und (medien-)historischen Orientierung von effektorientierten und spektakulären Gestaltungsformen (Kitsch) ab. Sie wird damit elitär und intellektuell anspruchsvoll.36 Diese Wiederbele-
32 Vgl. zu dieser Bezeichnung und zu dem Gedanken, dass einzelmediale/einzelsinnliche Spezialisierung nur ein Trend in der Medien- und Kunstgeschichte ist, Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.M. 1999, S. 23, 27. 33 Vgl. Greenberg, Clement: „Avant-Garde and Kitsch“ (1939), in: ders.: The Collected Essays and Criticism. Bd. 1: Perceptions and Judgments, 19391944, hrsg. v. John O’Brian, Chicago/London 1988, S. 5-22, hier: S. 9. 34 Greenberg (wie Anm. 33); vgl. Barck (wie Anm. 2), S. 569. 35 de Duve, Thierry: Kant nach Duchamp (=Texte zur Kunst, Bd. 4), München 1993, S. 196; vgl. Greenberg, Clement: „Modernist Painting“ (1960), in: ders.: The Collected Essays and Criticism. Bd. 4: Modernism with a Vengeance, 1957-1969, hrsg. v. John O’Brian, Chicago/London 1993, S. 85-93, hier: S. 85. 36 Vgl. Greenberg (wie Anm. 33), S. 11, 17. Greenberg identifiziert die gebildete und solvente „ruling class“ als Zielgruppe der Avantgardekunst, be-
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bung des intellektuellen Ansehens der Malerei hält Thierry de Duve für einen der wichtigsten Gründe für den Erfolg des Greenberg-Paradigmas bei Kritikern und Malern.37 Greenberg spitzt seine epistemologisch orientierte Avantgardekonzeption extrem weit zu. Diese Zuspitzung erklärt sich zum Teil aus dem traditionell schärferen Gegensatz zwischen ‚high‘ und ‚low culture‘ in den USA, die wiederum mit dem dort historisch kaum etablierten Status avantgardistischer Kunst zusammenhängt.38 Abgesehen davon kommt aber auch eine Mediendifferenz ins Spiel und damit verschiedene Mediendiskurse. Das formalästhetische Projekt der Intellektualisierung künstlerischer Praxis blieb bis in die 1960er Jahre auf die Malerei und andere traditionell ‚hohe Kunst‘ bezogen. Für den Film dagegen konnte sich die Kopplung des Kriteriums Avantgarde/Kunst an das Kriterium Medienreflexion nicht durchsetzen. Die deutschen Avantgardefilmer hatten sie zwar konzeptionell vorbereitet, aber eine rein optische Bewegungskunst fand kaum Anklang bei Publikum und Kritikern. Bei der Berliner Matinee Der absolute Film (1925) zogen Zuschauer und Kritiker vielfach die technisch ausgefeilteren, abstrakten Reklamefilme dem vor, was Eggeling, Richter und Ruttmann ihnen dort präsentierten. Herbert Ihering, ein Kritiker, schrieb 1925: „Ruttmanns Kreis- und Dreieckspiel ist längst durch Propagandafilme für Autoreifen überholt.“39 Auch Bernhard Diebold, Rudolf Schneider und Ernst Kállai nahmen eher die Kombination aus abstraktem Formspiel und Musik als Wegweiser zu einer neuen Kunstform wahr.40 Eine solche Kombination erreichte mit Oskar Fischinger vorübergehend große Popularität (1940 gestaltete er eine abstrakte, musikuntermalte Sequenz in dem Disney-Film FANTASIA).
37
38 39 40
klagt aber bereits 1939 ihre mangelnde Bereitschaft, sich mit den aktuellen Entwicklungen auseinanderzusetzen (S. 10). Sein Buch Art and Culture (1961) und der Essay „Modernist Painting“ (1960) wurden zu einem vielgelesenen Buch unter Künstlern (de Duve [wie Anm. 35], S. 195). „Er gab eine kühne und einfache Interpretation der Geschichte der modernen Malerei, geeignet, der Malerei intellektuelles Ansehen zu verschaffen und der Avantgarde das Gefühl eines neuen Anfangs zu vermitteln“ (de Duve, wie Anm. 35). Vgl. Varnedoe, Kirk/Gopnik, Adam: High and Low. Moderne Kunst und Trivialkultur, München 1990. Der Kritiker Herbert Ihering, zit. nach Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 140142. Vgl. Bernhard Diebold: „Eine neue Kunst - Die Augenmusik des Films“, in: Frankfurter Zeitung, 2.4.1921; Rudolf Schneider: „Formspiel durch Kino“, in: Frankfurter Zeitung, 12.7.1926, S. 1; Ernst Kállai: „Abstrakter Film“, in: Sozialistische Monatshefte, 2 (1932), S. 726-727, hier: S. 726; wiederabgedruckt in: Hein/Herzogenrath (wie Anm. 23), S. 28f., 30, 81f.
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Gegenwärtige Filmhistoriker greifen bei ihren Beurteilungen des abstrakten Films und seiner Weiterentwicklung nach den 1920er Jahren auf ganz ähnliche Argumente zurück. Sie würdigen zwar Stan Brakhage, Len Lye, John und James Whitney, schätzen aber die Potentiale filmischer Abstraktion gering ein: „Trotz der technischen Fortschritte stagnierte der abstrakte Film insofern, als er immer nur die alten Formen variierte. […] Im New American Cinema und im unabhängigen europäischen Film wurde der traditionelle abstrakte Film gänzlich aufgegeben“.41 Thomas und Vivian C. Sobchak und A. L. Rees halten den abstrakten und strukturalen Film für zu konzeptorientiert und für zu wenig fesselnd.42 Offensichtlich haben sich auch für den künstlerischen Film andere Beschreibungskategorien und andere Erwartungen herausgebildet als für abstrakte Malerei. Deren Wurzeln in den frühen Filmtheorien der 1930er und 1940er Jahre erneut aufzusuchen kann hier die Ähnlichkeiten und Unterschiede, aber schließlich auch die systematische Reichweite dieser konkurrierenden Entwürfe schärfer konturieren.
3.
Frühe Filmtheorie und Animationsfilm
Erwin Panofsky, Sergej Eisenstein, Rudolf Arnheim und Béla Balázs scheinen zunächst von denselben Interessen und Problemlagen auszugehen wie Richter, Ruttmann und Eggeling. Sie fragen, ob und wann Film Kunst sein könne. Für sie ist (im Unterschied zu Siegfried Kracauer und später André Bazin) der indexikalische Wirklichkeitsbezug des Realfilms eher ein Argument gegen seinen Kunststatus. Ihrer Ansicht nach sollte Film als voll entwickelte Kunstform nicht Abbildung, sondern gestaltete Wirklichkeitsdarstellung sein. Gleichzeitig solle er auf filmische Mittel (Einstellung, Montage, Schnitt, Zeitstruktur) reflektieren. Dieses Ideal des Filmischen, die konsequente Ausschöpfung filmischer Mittel, exemplifiziert dabei fast immer der Animationsfilm.43 Béla Balázs identifiziert – ganz im Sinne Kandinskys und der klassischen Moderne – die Eigengesetzlichkeit der Form als Kriterium des Künstlerischen.44 Aber Balázs spricht sich deswegen nicht für eine Reduzierung auf absolute Formen aus. Reine Formen, so Balázs, verlieren ihre Bedeutsamkeit. Nur in einer dialektischen Spannung zwischen Form und 41 42 43 44
Scheugl/Schmidt (wie Anm. 16), S. 31. Sobchak/Sobchak (wie Anm. 26), S. 395 und Rees (wie Anm. 18), S. 40. Vgl. Wilmesmeier (wie Anm. 10), S. 142. Balázs, Béla: Der Geist des Films (1930), Frankfurt a.M. 1972, S. 132. Vgl. Kandinsky (wie Anm. 31), passim.
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zu Formendem (einem Gegenstand oder Inhalt) könne sich eine solche Bedeutsamkeit manifestieren: „Formen spannen sich wie Zügel und sind Macht über einen Widerstand“.45 Eine solche Differenzspannung zwischen wirklichem Gegenstand und dessen gestalteter Wiederholung lassen die abstrakten Formspiele des absoluten Films in Balázs’ Einschätzung vermissen. Eggelings Filme verspottet er als theoretische Kopfgeburten, die bestenfalls bei „den Pedanten der Kunsttheorie“46 Anklang fänden. Der Titel ‚absoluter Film‘ gebührt für Balázs allein dem mimetischen Animationsfilm. Wie filmische Grotesken entfalten Animationsfilme „eine in sich geschlossene, andere Gesetzmäßigkeit einer anderen Welt.“47 Die Puppenfilme von Starewitsch oder die Silhouettenfilme Lotte Reinigers etwa realisieren dies, so Balázs, indem sie ihre Erzählung aus den Limitationen der visuellen Gestaltungsmöglichkeiten entwickeln. „Nicht die Handlung bestimmt den Märchencharakter, sondern die Form der Gestalten.“48 Formen sollen zwar ihrer Eigenlogik folgen, doch diese Eigenlogik wird in den Dienst einer Erzählung gestellt; Strukturen bauen sich aus einem komplexen Wechselspiel mehrerer Parameter auf. Für Balázs steht daher insgesamt der Fiktionscharakter im Mittelpunkt – der ästhetisch sowohl schlüssige als auch überraschend-irritierende Aufbau einer Als-Ob-Welt. Er beschreibt einen der Zeichentrickfilme über die Cartoonfigur FELIX THE CAT von Pat Sullivan als eine Ebene, auf der unterschiedliche Signifikations- und Repräsentationskonventionen narrativ nebeneinander gestellt werden und einander suspendieren: 49 Dem Felix reißt bei einem Abenteuer der Schweif ab. Er grübelt: Was nun? Die bange Frage wächst als Fragezeichen aus seinem Kopf. Felix betrachtet das schön geschweifte Fragezeichen. Er greift danach und steckt es sich hinten an. Alles ist wieder in Ordnung. Linie ist Linie und alles ist möglich, was gezeichnet werden kann. […] Weil zwischen Sein und Schein kein Unterschied ist, wird
45 Balázs (wie Anm. 44). 46 Balázs (wie Anm. 44), S. 129, 132. Weniger polemisch greift Rudolf Arnheim dieses Argument 1932 auf: Der Film sei zwar erst dann konkurrenzfähig mit den anderen, etablierten Künsten, wenn er sich ‚von den Fesseln der photographischen Reproduktion‘ löse. Aber diese Loslösung führt auch für Arnheim nicht in die Abstraktion, sondern in Richtung der Malerei und des animierten Cartoons. Vgl. Small/Levinson (wie Anm. 5), S. 213. 47 Balázs (wie Anm. 44), S. 123, vgl. 124. 48 Balázs (wie Anm. 44), S. 122. 49 Balázs (wie Anm. 44), S. 128.
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NICOLA GLAUBITZ Ähnlichkeit zur Identität. Das sind absolute Bilder. Das ist absoluter Film.50
Abb. 4: Felix the Cat Auch Erwin Panofsky fasst den Film keineswegs in erster Linie als optisch-kinetische Kunstform auf. Obwohl er die Spezifik des Films in seiner Fähigkeit zur Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung des Raums sieht, reduziert er ihn nicht darauf. Im Gegenteil: Der Realfilm ist für ihn eine Konfiguration von bewegten Bildern, Musik und Sprache. Wie in der Oper, so Panofsky, seien die einzelnen Komponenten in etwa gleichgewichtig und ergänzten einander.51 Zeichentrickfilme setzen Panofsky zufolge nicht nur die besonderen Möglichkeiten des Filmischen um, sondern intensivieren diese auch noch zu einer quasi-synästhetischen Erfahrung.52 Allerdings ist, wie Panofsky ausführt, der Realfilm mit seiner Fähigkeit, Dinge mit anthropomorpher Faszinationskraft auszustatten und so einen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen, näher an den Erfordernissen der Gegenwartskultur mit ihrem materialistischen Welt50 Balázs (wie Anm. 49). 51 Vgl. Panofsky, Erwin: „Stil und Medium im Film“, in: ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, Frankfurt a.M./New York 1993, S. 27, 28. (Dank an Andreas Käuser, der mich auf diesen Text aufmerksam machte.) Der Aufsatz erschien zuerst als „Style and Medium in the Motion Pictures“, in: Critique, I, 3 (1947), S. 528 und basiert auf dem noch früheren Vortrag „On Movies“, in: Princeton University. Department of Art and Archaeology Bulletin, (1936), S. 5-15. Mir war der Vortragstext zum Zeitpunkt des Schreibens nicht zugänglich; ob sich die Änderungen und Erweiterungen für die Aufsatzfassung auch auf den Trickfilm bezogen, bleibt also hier offen. 52 Panofsky (wie Anm. 51), S. 22, vgl. 28, 35.
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verständnis. Dem angemessen ist, so Panofsky, auch die Tatsache, dass seine Symbolqualitäten unbeabsichtigt – nämlich technisch bedingt – entstehen und nicht durch künstlerische Intention.53 Wichtiger jedoch ist ihm der ‚vitale‘ Charakter der Kunstform Film: Heute ist offensichtlich, daß Spielfilme nicht nur ‚Kunst‘ sind – selten große Kunst, sicherlich, aber das ist in anderen Gattungen ebenso –, sondern außer der Architektur, der Karikatur und der Gebrauchsgraphik auch die einzig bildende Kunst, die wirklich lebt. Der Film hat wieder eine lebendige Beziehung hergestellt zwischen Kunstschaffen und Kunstgebrauch, eine Beziehung, die auf vielen anderen Gebieten künstlerischer Tätigkeit sehr gelockert, wenn nicht gänzlich unterbrochen ist.54
Elemente und Appellqualitäten der Volkskunst haben sich, so Panofsky, im frühen Film (1904-1906) und etwas später im Zeichentrickfilm besonders prägnant entfaltet: Innerhalb ihrer selbstgewählten Grenzen stellen die frühen Disneyfilme und einzelne Passagen aus den späteren das sozusagen chemisch reinste Destillat der filmischen Möglichkeiten dar. Sie enthalten die wichtigsten Folklore-Elemente – Sadismus, Pornographie, den Humor, der aus beiden entspringt, und moralische Gerechtigkeit.55
Solche Appellqualitäten findet auch der sowjetische Regisseur Sergej Eisenstein in besonders deutlicher Weise im Zeichentrickfilm verkörpert. In den 1920er Jahren hatte er, zunächst ausgehend von eng umrissenen praktischen Problemen des Filmemachens, Überlegungen zu einem ‚intellektuellen Kino‘ angestellt. In den 1930er und 1940er Jahren veränderte und systematisierte er diese Gedanken, die im Kontext des russischen Formalismus und Konstruktivismus entstanden waren. Das ist teils dem Zwang geschuldet, sie an die Forderungen des sozialistischen Realismus anpassen zu müssen, teils aber auch seinem verstärkten Interesse, in den Schriften Ideen und Prinzipien für erst noch zu verwirklichende Projekte zu entwickeln.56 Intellektuelles Kino – das heißt Kino mit erzieherischem, zum kritischen Denken anregendem Potential – ist Eisenstein zufolge darauf angewiesen, ein hohes Reflexionsniveau in prälogischen kognitiven Vorgängen und sinnlich-affektiver Attraktivität zu 53 54 55 56
Panofsky (wie Anm. 51), S. 47. Panofsky (wie Anm. 51), S. 20. Panofsky (wie Anm. 51), S. 28, vgl. 22. Ich folge hier Bordwell, David: The Cinema of Eisenstein, Cambridge, Mass./London 1993, S. 111 ff., 114, 123f., 163-168.
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verankern.57 Auslöser oder Assoziationskerne für Emotionen sind für Eisenstein Formen. In den 1920er Jahren hatte er dazu auch nichtmimetische, abstrakte Formen gezählt.58 Zwischen 1941 und 1946, als er am Disney-Animationsfilm demonstriert, wie Film die prälogischen Voraussetzungen des Denkens aktiviert, schreibt er jedoch anthropomorphen Formen größere Wirkung zu. An sie knüpfen sich, wie er darlegt, erstens starke und zuweilen atavistische Affekte und zweitens eine erhöhte Aktivität der Phantasie. Die tierischen Protagonisten in Disneyfilmen und die sich ständig ineinander verwandelnden Formen (Pflanzen werden zu Tieren und Objekten und umgekehrt) gemahnen, so Eisenstein, ständig an Menschliches. Natürlich wisse man um die Künstlichkeit, Unbelebtheit und den kinematographisch-technischen Ursprung der animierten Figuren; gleichzeitig sei man gefühlsmäßig davon überzeugt, dass sie dennoch belebt und beseelt seien.59 Das Anthropomorphe stellt also den Horizont formaler Variation dar; es erzeugt eine Differenzspannung zwischen ‚gefühltem‘ und ‚gesehenem‘ Gegenstand und fordert so emotional-imaginäre Teilnahme heraus. Der Zeichentrickfilm als gleichberechtigte Kopplung von Musik und Bild60 verkörpert für Eisenstein darüber hinaus eine sehr unterhaltsame, zweckfreie Affektivität („affect freed from any purpose“61). Affekt wird hier nicht zum Vehikel für Bedeutung, und das annulliert für Eisenstein sogar nahe liegende ideologische Probleme mit Disneys Filmen: Gerade weil er sie für rein eskapistische Traumwelten hält, kommen sie 57 Vgl. Sergej Eisenstein: Eisenstein on Disney, hrsg. v. Jay Leyda, London 1988, S. 2, 9, 23 und Naum Kleimans Einleitung („Introduction“, S. ix-xii, hier: S. x); vgl. Bordwell (wie Anm. 56), S. 169. Eisensteins Notizen zu Disney entstanden zwischen 1941 und 1946, wurden aber nicht, wie geplant, in Form eines Aufsatzes veröffentlicht. 58 Vgl. Bordwell (wie Anm. 56), S. 117. 59 Vgl. Eisenstein (wie Anm. 57), S. 55. Eisenstein argumentiert (wenn auch nicht strikt) im Rahmen einer Pavlovschen Psychologie und auf der Basis einer Gleichsetzung von Psycho- und Ontogenese. Der Animationsfilm kommt für ihn dem frühkindlichen Wunsch nach Allmacht und Verschmelzung mit der Objektwelt entgegen, figuriert aber auch als zeitgenössischer Atavismus: Die Verwandelbarkeit von Menschen in Pflanzen, Tiere und Objekte, die Beseelung aller Dinge und Lebewesen ähnelt animistischen und totemistischen Glaubenssystemen und aktiviert – so Eisenstein – ihre verschütteten Reste in der modernen Psyche (S. 21, 23, 43-54). Auf subtilere Weise führt Edgar Morin (Der Mensch und das Kino, Stuttgart 1958) die Faszination am Kino auf dessen anthropomorphisierendes Potential zurück. 60 Eisenstein (wie Anm. 57), S. 41. 61 Eisenstein (wie Anm. 57), S. 10.
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für ihn nicht als Verblendungswerkzeuge der kapitalistischen Industrie in Frage. „Disney is simply ‚beyond good and evil‘“.62 Eisenstein argumentiert hier mit dem Konzept einer kognitiven und psychischen Ökologie, innerhalb derer die Psyche kurze, von den Zumutungen der Realität freie Verschnaufpausen und sinnlich-emotionale Ansprache braucht.63 Solche Überlegungen rücken den Zeichentrickfilm zwar aus dem Bereich der Politik heraus, drohen ihn aber auch seines intellektuellen Anspruchs zu berauben. Der Zeichentrickfilm ist bei Eisenstein auch Beispiel für ein Massenmedium, das ausschließlich auf einem kalkulierten Ansteuern basaler psychologischer und anthropologischer Reiz-Reaktionsmuster beruht. Emotionale Appellqualitäten können, wie dann die kritische Theorie warnt, zum Vehikel für Klischees und Ideologeme werden. In diese Richtung weist bereits Walter Benjamins Einschätzung des Trickfilms als wesentlich therapeutisches Mittel der Entlastung von der Wirklichkeit und als präventive Abfuhr „sadistischer Phantasien oder masochistischer Wahnvorstellungen“ durch kollektives Lachen.64 Horkheimer und Adorno nehmen das subversive Potential zumindest der frühen Trickfilme ernster (als Bastion der Phantasie gegen den übermächtigen Rationalismus), verabsolutieren dann aber auch die ideologische Funktion eines kulturindustriell vereinnahmten Trickfilms: Er diene nur mehr zur Gewöhnung des Publikums an Geschwindigkeit und Gewalt.65 Diese Aspekte haben die kritische Theorie und ihr folgend die Forschung zu Massenmedien, Populärkultur und Spektakel (Debord) aufgegriffen. Tendenziell kommen hier recht einseitig nur Medieneffekte in ihrer statistisch häufigsten Erscheinungsweise in den Blick.66 Damit wird eine scharfe Trennung von Kunst und Kitsch ebenso dezidiert und ebenso problematisch festgeschrieben wie bei Clement Greenberg.
4.
Eine historische Debatte?
In der historischen Entwicklung haben sich die Hoffnungen, die zwischen den 1920er und 1940er Jahren in den mimetischen Zeichentrickfilm gesetzt wurden, ebenso wenig erfüllt wie die Erwartungen, die man in den absoluten Film gesetzt hatte. Der Trickfilm nahm einen der unte62 63 64 65
Eisenstein (wie Anm. 57), S. 9. Eisenstein (wie Anm. 62). Benjamin (wie Anm. 19), S. 462. Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt a.M. 1998, S. 146f. 66 Vgl. Venus (wie Anm. 4).
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ren Ränge in der sich rasch konsolidierenden filmischen Gattungshierarchie ein.67 Die (westlichen) Filmstudios legten ihn auf die Funktion der harmlosen Kinderbelustigung fest, deren Potenzial aber für das Kino in den 1980er Jahren ausgereizt war und z.B. das Disney-Studio in eine Krise stürzte. Der abstrakte, aber auch der strukturale Film blieb auf Nischen im Kunstbetrieb beschränkt, ohne – wie erhofft – als eigenständige Kunstform die Malerei zu beerben. Mit neuen Massenmedien und erst recht mit der flächendeckenden Ausbreitung digitaler Medien allerdings scheint sich das zu ändern: Lightshows, Werbung und Musikvideos greifen schon seit langem Oskar Fischingers sowie John und James Whitneys abstrakte, rhythmisierte Kompositionen auf. Die Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung bringen plötzlich Animationsfilm und Malerei wieder vehement in die Diskussion um Filmästhetik. Computeranimation und digital hergestellte Spezialeffekte passen sich in der fotorealistischen Optik des Realfilms an; z.B. in Steven Spielbergs JURASSIC PARK (1993) oder George Lucas’ weitgehend computergenerierter Episode 1 der StarWars-Serie DIE DUNKLE BEDROHUNG (1998). Das gilt auch für die viel beachteten, völlig computergenerierten Trickfilme des Pixar-Studios. Die Verformbarkeit und der gelockerte Abbildcharakter der Bilder legt nahe, sie als Animation oder Malerei zu beschreiben: Digitales Kino ist Lev Manovich zufolge zu einer Sonderform des Animationsfilms geworden, und selbst seine Produktionsweise ähnele der Handarbeit des Malers.68 Wie nicht nur das Beispiel Manovich zeigt, hat die Diskussion um digitale Bilder auch zu einer erneuten Konjunktur der Kategorie ‚Medienspezifik‘ geführt, gleichgültig ob man diesen Bildern Eigenschaften älterer Bildformen zuschreibt (wie Manovich es hier tut) oder ob man eine neue, eigene Spezifik digitaler Bilder präjudiziert.69 Wie im Umbruch zu den analogen Medien nach 1900 erwartet man auch um 2000 von der Medienkunst Aufschluss über die Besonderheit digitaler Bilder – in der Annahme, dass sie experimentell die Grenzen der technischen Grundlagen auszutesten und zu reflektieren vermag. Es wäre allerdings zu fragen, ob Kunst nicht die ihr zugeschriebene Vorreiterposition an die
67 Vgl. Thompson (wie Anm. 10). 68 Manovich (wie Anm. 6), S. 300. 69 Vgl. auch Manovich, Lev: „,Reality‘ effects in computer animation“, in: Pilling (wie Anm. 5), S. 5-15; Kittler, Friedrich: „Computergrafik. Eine halbtechnische Einführung“, in: Herta Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2002, Bd. 1, S. 178-194; Mitchell, William J.: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge, Mass./London 1998.
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ökonomisch bedingte Innovationsdynamik der Technik verloren hat.70 In Verbindung damit ist die Zuschreibung ‚Medienspezifik‘ erneut problematisch geworden – oder schon immer problematisch gewesen, wenn man sich an die Schwierigkeiten erinnert, sie auf den Film zu übertragen.71 Trotz aller Einwände erscheint sie weiterhin attraktiv. Das überrascht nicht, denn sie stellt eine Möglichkeit dar, dem Mediendiskurs Objektivität zu garantieren. Wenn man medialen Produkten Medienspezifik sowie Reflexion auf ihre eigenen Ermöglichungsbedingungen und formalen Grenzen unterstellen kann, kann der Diskurs seinerseits vorgeben, diese Reflexionen nur neutral zu beobachten und zu artikulieren. Von eben dieser Annahme geht eine neuere Reaktivierung der Greenbergschen Vorstellung von Medienspezifik aus. Die amerikanische Kunsttheoretikerin Rosalind Krauss erarbeitete zwischen 1999 und 2000 ein erweitertes Konzept von Medienspezifik, um Kunst mit neuen Medien gerecht zu werden – Fotografie, Video und z.B. den Animationsfilmarbeiten des südafrikanischen Künstlers William Kentridge. Der Ansatzpunkt für Krauss ist die enge und teleologische Bestimmung von Medienspezifik bei Greenberg. Historisch steuert avantgardistische Kunst, so Greenberg, auf eine philosophieanaloge Kritik ihrer Medien zu.72 Die Malerei etwa vergewissert sich rückblickend ihrer spezifischen Medieneigenschaften Fläche und Farbe sowie der Adressierung des Sehsinns (opticality). Sie nähert sich damit der Operationsweise der Kunstund Mediengeschichte aufs engste an – einzig ihre Konkretheit unterscheidet sie von Sprache oder Begriff.73 Als Künstler wie Frank Stella mit monochromen Leinwänden seine Konzeption tatsächlich umsetzten, schlug die malerische Untersuchung spezifischer Eigenschaften der Malerei, wie Thierry de Duve herausarbeitet, in eine Untersuchung ihrer ge70 Vgl. Barck (wie Anm. 2), S. 573, der dieses Argument von Eric Hobsbawm bezieht; auf den ökonomischen Aspekt bezogen vgl. Bürger (wie Anm. 1), S. 73. Vgl. auch Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M. 2003, S. 97. 71 Vgl. Krauss, Rosalind: „A Voyage on the North Sea.“ Art in the Age of the Post-Medium Condition, London 1999a. Eine zuweilen spitzfindige begriffliche Demontage unterschiedlicher Medienspezifikbegriffe hat Noël Carrol vorgelegt („Medium Specifity Arguments and Self-Consciously Invented Arts: Film, Video and Photography“, in: Millenium Film Journal, 14/15 [1984/85], S. 127-153). 72 Greenberg (wie Anm. 33); vgl. Barck (wie Anm. 2), S. 569. 1960 zieht Greenberg eine Analogie zwischen der Vorgehensweise modernistischer Kunst und Kants kritischer Philosophie; die Tendenz, sich der Grenzen und Möglichkeiten der eigenen ‚Disziplin‘ zu vergewissern, ist ihre gemeinsame Basis. Vgl. Greenberg (wie Anm. 35). 73 Vgl. Greenberg (wie Anm. 35), S. 92.
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nerellen Mindestbedingungen um. Greenbergs Geschichte der Malerei kommt damit an ihr Ende, und der funktionale Unterschied zwischen generalisierendem Diskurs und konkretem Kunstobjekt kollabiert.74 Rosalind Krauss dagegen ist bei dem Versuch, die Medienspezifik der Foto-, Film- und Videokunst zu bestimmen, auf kurze Traditionen, vielfältige, vor allem nichtkünstlerische Pragmatiken und intermedial angelegte Darstellungskonventionen gestoßen.75 Fragt man, welche spezifischen Eigenschaften und welche Geschichte sie reflektieren, gelangt man immer zu einer Pluralität an Spezifiken und Traditionen, die überdies mehrere ‚Einzelmedien‘ übergreifen. Krauss entwirft daher ein differenzielles Konzept von Medienspezifik: the specificity of mediums […] must be understood as differential, self-differing, and thus as a layering of conventions never simply collapsed into the physicality of their support.76
Materialien, Techniken, praktische und darstellerische Konventionen sowie ‚Expressivität‘ sind die Parameter, die (so Krauss) eine selbstreflexive, rekursive Struktur aufzubauen erlauben. Diese Struktur gilt als ‚Medium‘. Mit diesem Medienbegriff weicht Krauss’ Entwurf dem Greenbergschen Problem einer Medienteleologie aus:77 Kunst kann sich auch im Modus der Selbstbeobachtung weiter neues Material einspeisen, indem sie ‚Medien neu erfindet‘, das heißt historische und sogar obsolet gewordene Praktiken und Techniken (das frühe Kino, die Zeichnung78) erneut aufsucht und neu gestaltet. Krauss liest z.B. die animierten Kohlezeichnungen William Kentridges als eine solche Neuerfindung. In seinen animierten Filmen, die als Installationen gezeigt werden, verbinden sich narrative Elemente mit einer Veranschaulichung des zeichnerischen Arbeitsprozesses. 74 Vgl. de Duve (wie Anm. 35), S. 198-202, Krauss 1999a (wie Anm. 71), S. 10, 29; Bernstein, J. M.: „Aporia of the Sensible. Art, Objecthood and Anthropomorphism“, in: Ian Heywood/Barry Sandywell (Hrsg.): Interpreting Visual Culture. Explorations in the Hermeneutics of the Visual, London/New York 1999, S. 221. 75 Krauss 1999a (wie Anm. 71), S. 31; vgl. Krauss, Rosalind: „Reinventing the Medium“, in: Critical Inquiry, 25 (1999b), S. 289-305, hier: S. 292-294. 76 Krauss 1999a (wie Anm. 71), S. 53. 77 In diese Richtung argumentierte bereits de Duve in seinem Reparaturversuch der Greenbergschen Ästhetik durch eine konsistenzorientierte Lesart der Begriffe content und subject matter. Vgl. de Duve (wie Anm. 35), S. 207. 78 Vgl. Krauss, Rosalind: „‚The Rock‘: William Kentridge’s Drawing for Projection“, in: October, 92 (2000), S. 3-35.
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Abb. 5:William Kentridge
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Abb. 6: William Kentridge
Krauss’ Version avantgardistischer künstlerischer Medienreflexion ist ein Angelus Novus, der die Kunst-, Bild- und Mediengeschichte rückgewandt voranschreitend nach unbeachteten Ansatzpunkten durchkämmt.79 Als Beobachtungsinstanz für historische Medienpotenziale reflektiert sie nicht nur einzelne traditionelle Gattungen80, sondern auch neue Medien bzw. Medienkopplungen. Übergreifende Kategorien wie ‚Fiktionalität‘ können den Horizont künstlerischer Gestaltung bilden.81 Indem Krauss den Purismus Greenbergs gegen eine Vielzahl von Kriterien vertauscht, setzt sie eine Vielzahl von Kunst/Mediengeschichten an. Krauss’ Entwurf führt vor, dass nicht der Medienspezifikbegriff an sich problematisch ist, sondern die Rigidität seiner Eingrenzung. Problematisch wird allerdings, dass ihr Modell in eine Ansammlung von Einzelfällen – je individuellen Neuerfindungen jeweils singulärer Medienkopplungen – zu zerfallen droht, deren Zusammenhang unklar bleibt. Wozu diese zumeist in die Vergangenheit zurückgreifenden Neuerfindungen gut sein und worüber sie letztendlich Aufschluss geben sollen, was der Mehrwert einer ästhetisch durchgeführten Medienhistorie sein soll, ist fraglich. Krauss nimmt etwa die Vorliebe William Kentridges für längst obsolete Techniken ziemlich ratlos zur Kenntnis. Kentridge verwendet Kohle- und 79 Oder auch mit den Worten Ralf Schnells in diesem Band: eine ‚Retrogarde‘. Vgl. die Anfangsüberlegungen in Krauss 1999b (wie Anm. 75) zu Benjamin. Wenn sich ihre Analysen insgesamt eher auf Gestaltungsformen in eine historische Tiefe hinein konzentrieren, räumt sie dort durchaus ein, dass sich Medienreflexion auch in mögliche Zukünfte hinein erstrecken könnte (vgl. S. 296). 80 Rebentisch wirft Krauss aus systemtheoretischer Perspektive einen unscharfen Gebrauch der Termini Medium und Gattung vor, vgl. Rebentisch (wie Anm. 70), S. 89. Dieser Vorwurf träfe aber eher Greenberg. Ich halte ihren zur Kunst und zu ‚den Massenmedien‘ offenen Medienbegriff hier für durchaus brauchbar. 81 Vgl. Krauss 1999a (wie Anm. 71), S. 47.
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Kreidezeichnungen und alte Kameras; seine Ikonographie ruft die 1940er Jahre auf und einige seiner Animationen erinnern an die Anfänge des Kinos bei Émile Cohl (vgl. Abb. 6). Krauss deutet diese vermeintliche Nostalgie aber dann als absichtliche Retrogression, die das Ziel habe, unter der ‚zweiten Natur‘ der Technik wieder die ‚erste‘ Natur des von Hand Gefertigten sichtbar zu machen. Sie findet außerdem in Kentridges thematischer Fokussierung auf Körperdarstellungen ein vereinheitlichendes Prinzip, das die Verwendung altertümlicher Trägermedien bedeutsam macht: „There is a sense in which the body’s rhythms have penetrated into Kentridge’s support, to slow it down, to thicken it, to give it density.“ 82 Gegenstandsinteresse und argumentative Struktur Krauss’ bewegen sich an dieser Stelle offensichtlich wieder in Richtung der Überlegungen Panofskys, Balázs’ und Eisensteins aus den 1930er und 1940er Jahren. Deren Bestimmung des Filmischen knüpfte zunächst an das klassische Ideal einer Entsprechung von Form, Inhalt und Ausdruck an. Sie setzen mit einem formalästhetisch begründeten Versuch der Differenzierung des Films von anderen Medien/Künsten ein und nehmen ihren Ausgangspunkt bei den traditionellen, nichtindexikalischen Künsten Malerei und Zeichnung. Sie konzentrieren sich deswegen auf Aneignungsformen der Animationstechnik und nicht auf den Realfilm. Formale Strenge und Orientierung an Eigenschaften des Mediums sind aber besonders bei Balázs, Panofsky und Eisenstein nur die Bedingungen für weit wichtigere ‚Gesamteffekte‘: die Adressierung der Phantasie durch die Differenzspannung von Form und Gegenstand, der Appell an Affekte durch anthropomorphe (aber nicht abbildhafte) Formen und Musik. Dies und die Zentralität des Anthropomorphen als Horizont von Formvariation und imaginativer Rezeption erweist sich im historischen Rückblick als Denkfigur einer medialen Anthropologie. Filmkunst wäre für die frühen Filmtheoretiker mit dem verwandt, was K. Ludwig Pfeiffer mit ‚Phänomenalisierung‘ bezeichnet: einer Verschmelzung von Tatsächlichkeit und Imaginärem, die „über die mental-affektiv koppelbare Inszenierung von Körperbildern und Körperorientierungen läuft“.83 In diesem Aspekt der Körperorientierung berühren sich mediale Anthropologie (und ihre Vorformen) und Krauss’ aktuelle Wiederaufnahme eines formalistischen Avantgardediskurses. Für Krauss ist der 82 Krauss (wie Anm. 78), S. 20. 83 Pfeiffer, K. Ludwig: „Phänomenalisierung und Sinnsuggestion: Performative Intermedialität und die Oper“, in: Sybille Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 334.
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Körperbezug bei Kentridge der eigentliche Fluchtpunkt des Interesses an Medien- und Technikgeschichte: Technik verweist zurück auf technƝ und Handarbeit; die Reflexion auf das Medium findet ihren eigentlichen Zweck nicht in einer bildlichen Historiographie, sondern in einer expressiven Körperinszenierung. Krauss macht damit ein kleines Zugeständnis in Richtung des ‚Spektakulären‘, das die Formalästhetik bei narrativen, emotional fesselnden oder nur intermedialen Medienkopplungen strikt ablehnte.84 Sie konkretisiert aber auch den sehr allgemeinen Bezug zu (körperbasierter) Wahrnehmung und Erfahrung bei Greenberg wieder in Richtung mimetischer, anthropomorpher Formen. Umgekehrt legt der medienanthropologische Ansatz nicht unmittelbar eine Öffnung zu medienavantgardistischen Modellen nahe.85 Aber er kann solche Modelle als nutzen, um Konturen zu gewinnen. Dies zeigt das Beispiel Eisenstein. Während er Film als Kunst auffasste, die eine reflexiv-epistemologische Ebene mit sinnlicher und imaginärer Attraktivität verbindet, geht es in seiner Diskussion der Disneyfilme letztlich nur noch um eine generelle, psychologisch-anthropologisch begründete Wirkungsweise von Massenmedien. Animationsfilm als ausschließlich affektive und psychoökonomische Bedürfnisbefriedigung ohne intellektuell faszinierende oder stimulierende Elemente verkörpert damit exakt das, was Greenberg als Kitsch bezeichnete. Ihm fehlt die Reflexionsebene, die ihn als Kunst qualifizieren könnte. Eisensteins Modell erfasst damit die Mehrzahl der Massenprodukte. Seine hier zu pauschale Generalisierung klammert aber ein im Einzelfall durchaus vorhandenes Kunstpotenzial des Trickfilms aus, dem er in anderen Überlegungsrichtungen ebenso wie Panofsky und Balázs eher gerecht wurde. Deren eher komparatistischer Ansatz zog Vergleiche zur Oper, zur filmischen Groteske und zur Volkskunst. Er sucht nach äquivalenten Medienkopplungen und -effekten in unterschiedlichen Erscheinungsweisen und gleicht einzelne mediale Phänomene gleichfalls mit einem transhistorischen Muster ab.86 Zumindest tendenziell illustriert dann der Einzelfall nur mehr eine generelle These kultureller und medialer Dynamik. Die Möglichkeit, deskriptiv stärker zu differenzieren, kann sich etwa durch die Orientierung an einer flexiblen Vorstellung von Medienspezifik (nach dem Vorbild Ro84 Dazu vgl. allgemein Pfeiffer (wie Anm. 32), S. 45-47; zur modernistischen Formalästhetik Rebentisch (wie Anm. 70), S. 84. 85 Vgl. zum Verhältnis Anthropologie/Avantgarde Pfeiffer, K. Ludwig/ Schnell, Ralf: „Medienanthropologie und Medienavantgarde“, in: SPIEL, 20, 2 (2001), S. 183 und passim. 86 Vgl. zum Projekt einer solchen Suche nach äquivalenten Medienkopplungen Pfeiffer (wie Anm. 32), S. 27, 29 und passim.
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salind Krauss’) eröffnen. Das Verhältnis von Medienanthropologie und Medienavantgarde wäre dann insgesamt nicht in Form einer Fusion, sondern als wechselseitige Begrenzung fruchtbar zu machen.87
Abbildungsnachweis Abb. 1: Émile Cohl: Drame chez les Fantoches (Frankreich 1908), aus: John Halas/Roger Manvell: The Technique of Film Animation, London/New York 1971, S. 33. Abb. 2: Koko Chop Suey (Copyright Max Fleischer, USA 1917), aus: The Technique of Film Animation, S. 34. Abb. 3: Hans Richter: Rhythmus 21 (1921/1924), aus: Birgit Hein/Wulf Herzogenrath (Hrsg.): Film als Film. 1910 bis heute. Vom Animationsfilm der zwanziger zum Filmenvironment der siebziger Jahre, Köln 1978, S. 54. Abb. 4: Felix the Cat (Copyright Pat Sullivan, USA 1917), aus: The Technique of Film Animation, S.34. Abb. 5: William Kentridge: Zeichnung aus Sobriety, Obesity & Growing Old (1991), Kohle und Pastell auf Papier, 120 x 150cm, aus: Dan Cameron/Carolyn Christov-Barkagiev, J. M. Coetzee: William Kentridge, London 1999, S. 63. Copyright William Kentridge 1999. Abb. 6: William Kentridge: Zeichnung aus Ubu tells the truth, 19961997, animierte 35-mm-Filmcollage aus Kreidezeichnungen auf schwarzem Papier, aus: William Kentridge, S. 80. Copyright William Kentridge.
87 Vgl. Pfeiffer/Schnell 2001, S. 174.
KENTARO KAWASHIMA
METAMORPHOSE, WIEDERHOLUNG, LÄCHELN BEZÜGE AUF DIE FOTOGRAFIE IN DEN AUTOBIOGRAPHISCHEN SCHRIFTEN VON MARCEL PROUST UND SOSEKI NATSUME Nicht die Ähnlichkeiten, sondern die Differenzen ähneln einander. (Claude Lévi-Strauss)
Einleitung Die Fotografie ist spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein historisches Apriori für das autobiographische Schreiben. Seit 100 Jahren etwa hat die Fotografie in nahezu alle Bereiche des modernen Lebens Eingang gefunden. Ohne große Übertreibung könnte man sagen, dass die Fotografie seither einen notwendigen Bestandteil der modernen Institutionen – Familie, Bürokratie, Massenmedien, Kunst, Wissenschaft usw. – ausmacht. So beteiligt sich die Fotografie auch mehr und mehr an „dem Archiv“1, das den autobiographischen Diskurs regelt. Die Archivfunktion der Fotografie liegt nicht einfach darin, Bilder aus der Vergangenheit technisch zu konservieren und sie je nach Bedarf der Erinnerung zur freien Verfügung zu stellen. Sie liegt vor allem in der selektiven Entscheidung dessen, was registriert und (re)präsentiert werden soll. Die Fotografie wirkt eben in diesem Sinne in der modernen Gesellschaft als Formation des Gedächtnisses, welche die autobiographische Praxis mit bestimmt. Der deutlichste Beleg dafür ist das Fotoalbum, das vorgibt, was über die Biographie eines Subjekts gesagt werden kann. In dem ‚Fotoalbum-Roman‘ Spione von Marcel Beyer – der Roman sei hier als Beispiel für den Rekurs auf die Fotografie in der zwar fiktionalen, doch 1 Vgl. zum philosophischen Archiv-Begriff im Singular Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 183-190.
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biographischen bzw. Biographie simulierenden Literatur genannt – rekonstruiert der Erzähler die Lebensgeschichte seines Großvaters anhand eines alten Fotoalbums,2 wie auch wir es zuweilen tun mögen. Freilich beginnt die eigentliche Handlung des Romans bezeichnenderweise mit dem Verschwinden der Fotos der Großmutter, mit einer Lücke im Album, durch die hindurch die Lebensgeschichte der Großmutter ausspioniert wird. Das Fotoalbum als „Medium loser Kopplung“3, dessen Prinzip variable Anordnung ist, setzt Selektion voraus. Erst die Auswahl der Bilder verleiht der Familiengeschichte Erzählbarkeit, die aus einer amorphen Bildermasse eine gewisse stabile Ordnung, etwa einen Familienroman, herstellt. Dagegen setzt Beyers Roman damit ein, dieses mediale Verfahren des Ein- und Ausschlusses in Frage zu stellen. Beyers Roman ist im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts erschienen. Wenn man nun den Blick auf die autobiographischen Schriften dieses Jahrhunderts zurückwirft, wird augenfällig: Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Schriftstellern hat die Fotografie (und das Fotoalbum) in ihre autobiographische Selbstthematisierung mit einbezogen. Dazu zählen etwa Marcel Proust, Walter Benjamin, Rolf Dieter Brinkmann, Roland Barthes und Winfried G. Sebald. Auch L’Amant, der autobiographische Text von Marguerite Duras aus dem Jahr 1984, ist einem Plan entsprungen, private Fotografien zu versammeln und mit eigenem Kommentar in Buchform zu veröffentlichen.4 Die Tatsache, dass die Autobiographen des 20. Jahrhunderts selber immer wieder auf die Fotografie rekurrieren, bekräftigt einerseits den mediengeschichtlichen Befund vom historischen Apriori der Fotografie für das autobiographische Schreiben. Andererseits muss aber genau untersucht werden, was daraus resultiert, wenn die autobiographische Literatur anfängt, sich auf die Fotografie als auf ihr eigenes historisches Apriori zu beziehen. Dass nämlich für die Autobiographie die hohe Auflösungsgenauigkeit des technischen Bildmediums vorausgesetzt wird, muss auf das Schreiben selbst zurückwirken. Und dies ereignet sich – das ist gerade die These des vorliegenden Beitrags – so radikal, dass sich das autobiographische Schreiben grundlegend verändert und man vom Umbruch der Autobiographik angesichts der Foto2 Beyer, Marcel: Spione, Köln 2000, S. 32f. 3 Bickenbach, Matthias: „Das Dispositiv des Fotoalbums: Mutation kultureller Erinnerung. Nadar und das Pantheon“, in: Jürgen Fohrmann/Andrea Schütte/Wilhelm Vosskamp (Hrsg.): Medien der Präsenz. Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln 2001, S. 87-128, hier: S. 101. 4 Blazejewski, Susanne: Bild und Text – Photographie in autobiographischer Literatur. Marguerite Duras’ „L’Amant“ und Michael Ondaatjes „Running in the Family“, Würzburg 2002, S. 141f.
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grafie sprechen kann. Darauf kommt es uns auch an, wenn wir uns mit Marcel Proust und Soseki Natsume beschäftigen. Denn diese beiden Autoren sind besonders interessante Fälle, in denen der Bezug auf die Fotografie jeweils zu einer Neuorganisation der Autobiographik führt. Metamorphose, Wiederholung und ironisches Lächeln werden im Folgenden als signifikante Figuren dieser reorganisierten Autobiographik herausgearbeitet.
1.
Identifizierung und Metamorphose
Über Prousts Leidenschaft für das fotografische Porträt wird von seinen Biographen eingehend berichtet.5 Im Blick auf seine manische Sammlung von Porträtfotos liegt die Annahme sehr nahe, dass das fotografische Gedächtnis einen unentbehrlichen Schauplatz der Suche nach der verlorenen Zeit darstellt. In diesem autobiographischen Roman findet sich in der Tat eine Menge von Textstellen, in denen es um das fotografische Bildnis geht. Worin besteht aber die Faszination des fotografischen Bildes, in dessen Zentrum der Mensch zu sehen ist? Was für eine Erscheinung oder was für ein Ereignis auf der Oberfläche des Fotoporträts fasziniert Proust oder den Erzähler Marcel dermaßen, dass die Recherche so viele Fotoporträt-Szenen beinhaltet? Im Roman taucht ein Fotoporträt oft im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität der Romanfiguren auf. Eine Funktion, die auf der Ebene der Erzählung diesem Medium zukommt, ist daher die Identifizierung. Im Schatten junger Mädchenblüte gibt uns ein Beispiel dafür. Nur eine Fotografie erklärt dem Erzähler, warum seine ‚Recherche‘ nach dem schönen Zug der jungen Mädchen, die er bei verschiedenen Hotelgästen in Balbec anstellt, immer wieder leer ausgeht. Auf einer alten Photographie, die sie [die Mädchen, K.K] mir später eines Tages zum Geschenk machten und die ich aufbewahrt habe, weist ihre Schar schon als Kinder die gleiche Zahl von Figurantinnen auf wie später der Zug junger Frauen; man ahnte, daß sie bereits damals am Strand als ein Fleck besonderer Art die Blicke auf sich gezogen haben mußten, aber man konnte sie im einzelnen darin nur durch eine verstandesmäßige Rekonstruktion erkennen, indem man nämlich allen möglicherweise in der Jugend eingetretenen Veränderungen weitgehend Rechnung trägt: Verwandlungen, die während der Jugend bis zu dem Augenblick eintreten, in dem diese neu geschaffenen Formen Besitz von einer anderen Individu5 Vgl. hierzu insbesondere Brassaï: Proust und die Liebe zur Photographie, Frankfurt a.M. 2001.
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KENTARO KAWASHIMA alität ergreifen, die auch wieder zu identifizieren war, und bei der das schöne Antlitz wegen des gleichzeitigen Vorhandenseins einer großen Gestalt und gelockter Haare dann in unseren Augen einige Chancen hat, früher einmal das künstliche, zusammengeschrumpfte Gesicht aus dem Photographiealbum gewesen zu sein.6
Das Foto ruft im Betrachter fast automatisch die Begierde nach Identifizierung hervor, umso mehr, als sich ein gewisser kriminalistischer Code in der gesamten Recherche Prousts findet. Sowohl in den großen voyeuristischen Szenen als auch in den Ermittlungen, die Albertine und dem Verdacht ihres Lesbianismus gelten, entfalten sich die detektivischen Spurensicherungstechniken des Erzählers.7 Mit dieser kriminalistischen Codierung erscheint die Identität des Daseins als Frage der Identifizierung. Wenn in einer derartigen Recherche die Fotografie als privilegiertes Identifizierungsmittel auftaucht, dann ist Proust zunächst dem Aufschreibesystem um 1900 treu. Längst vorbei ist, wie Friedrich A. Kittler sagt, die Zeit, wo Georg Büchner durch einen parodistischen Steckbrief in Leonce und Lena die schriftliche Erfassung des Körpers lächerlich machen konnte: Der von zwei Polizisten Verfolgte „geht auf 2 Füßen, hat zwei Arme, ferner einen Mund, eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren. Besondere Kennzeichen: ist ein höchst gefährliches Individuum“8. Spätestens ein Jahr vor dem Geburtsjahr Marcel Prousts, nämlich 1870, als Teilnehmer an der Pariser Kommune anhand von Hunderten von Fotografien von Louis Adolphe Thiers Polizei identifiziert und erschossen wurden9, begann die Zeit der ‚fotografischen Erfassung‘. Kriminelle konnten fortan nicht nur mit Hilfe der hohen Bildauflösung der Fotografie identifiziert, sondern auch durch die systematische Entwicklung der fotografischen Identifizierungsmethode namentlich von Alphonse Bertillon medientechnisch „konstruiert“ werden.10
6 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt a.M. 2000, Bd. I, S. 1083. 7 Vgl. Link-Heer, Ursula: „Zwischen Ödipus und Anti-Ödipus. Bemerkungen zur psychoanalytischen Lektüre Prousts“, in: Edgar Mass/Volker Roloff (Hrsg.): Marcel Proust. Lesen und Schreiben, Köln/Frankfurt a.M. 1983, S. 67-82. 8 Büchner, Georg: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, hrsg. v. Henri Poschmann, Frankfurt a.M. 1992, Bd. 1, S. 138. Siehe auch Kittlers Kommentar zu dieser Stelle. Kittler, Friedrich A.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 91f. 9 Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft, Reinbek 1979, S. 119. 10 Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999.
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Darüber hinaus ist es bezeichnend, dass der Roman Prousts die fotografische Identitätsfahndung zum Anlass nimmt, eine andere Thematik in den Vordergrund zu rücken, nämlich die Metamorphose der Menschen in der Zeit. Diese macht der Kommentar des Erzählers zur ‚alten Photografie‘ lesbar: Das Erwachsenwerden der Mädchen ist kein linearer Vorgang, den man im Nachhinein ohne weiteres nachvollziehen könnte. Es muss vielmehr als Metamorphose angesehen werden, denn der Übergang von einer Phase zu der anderen vollzieht sich wie die Entpuppung des Schmetterlings so sprunghaft, dass zwischen beiden Phasen keine Art von Kontinuität mehr zu bestehen scheint. In der Tat „kam es öfter vor“, so setzt der Erzähler fort, „daß sogar die besten Freundinnen auf dieser Photografie einander zuweilen verwechselten“11. Die Problematik der Metamorphose, die sich am Ende des Romans als Apotheose des ZeitDramas in vollem Umfang offenbart, scheint in der zitierten FotografieSzene auf der Mikroebene durch. Prousts kommentatorischer Bezug auf die Fotografie setzt also eine Doppelbewegung in Gang: die Identifizierung des Fotografierten einerseits und seine Metamorphose andererseits. Dadurch, dass die Fotografie einen Augenblick fixiert, wird die Identifizierung ermöglicht. Die fotografische Stilllegung der Zeit ist die Bedingung dafür, dass man zwei Phänomene von getrennten zeitlichen Punkten, einem vergangenen und dem gegenwärtigen, durch die Vermittlung ihrer Ähnlichkeiten auf eine Identität hin prüfen kann. Aber nicht auszuschließen ist die Möglichkeit, dass es sich ganz anders verhält. Wenn nämlich dem Fotografierten nichts in der Gegenwart ähnelt, somit die Vermittlung überhaupt fehlt, kennzeichnet die Fotografie nichts als die irrreduzible Kluft der Zeit schlechthin, die den gegenwärtigen vom vergangenen Punkt scheidet. Dieselbe Operation, die fotografische Fixierung des Augenblicks, macht also unter diesen Umständen die Kraft der Zeit kenntlich, die alles Dasein einer gewaltigen Veränderung unterzieht. Das gilt auch für das fragliche Foto aus Prousts Roman. Es versichert keine Ähnlichkeit der Porträtierten von damals mit Personen aus der Gegenwart des Erzählens. Stattdessen unterstreicht es die Zeit, in der die Metamorphose eingetreten ist. Deshalb ist der Erzähler gezwungen, seine Spurensicherungstechnik mit größter Aufmerksamkeit auf die Details zu mobilisieren. Die Doppelbewegung von Identifizierung und Metamorphose wird somit aus dem einzigen Bild geboren. Dort wird ein Paradox zur Schau gestellt: die Mädchen sind ‚andere‘ geworden. Dennoch sind sie dieselben Personen geblieben, für die etwa im bürgerlichen Leben gewöhnlich dieselben Namen stehen. 11 Proust (wie Anm. 6).
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Diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Identität und Metamorphose taucht wiederholt auf, wenn Proust auf das Fotoporträt zu sprechen kommt. Beispielsweise gelingt es dem Erzähler, anhand eines Fotos Odette Swann zu identifizieren. Er bittet einmal Elstir darum, ihm „eine Photographie von dem kleinen Porträt der Miss Sacripant“12 zur Verfügung zu stellen, da er von der Identität der porträtierten Operettensängerin mit Madame Swann überzeugt ist. Die gewünschte Fotografie fällt ihm unversehens in die Hand, als sein Onkel Adolphe stirbt und ihm eine Sammlung von Fotografien berühmter Schauspielerinnen und großer Kokotten hinterlässt. Darunter findet der Erzähler ein Foto von Elstirs Porträt der Miss Sacripant (= Odette). Hinzu kommt eine andere Entdeckung, dass nämlich Miss Sacripant jene Halbweltdame ist, die er als Kind einmal bei dem Onkel als die ‚Dame in Rosa‘ kennen gelernt hatte. So muss der Erzähler zum Schluss kommen: Ich hingegen dachte [...] an Madame Swann und suchte mir mit Staunen – so weit waren sie in meiner Erinnerung verschieden und entfernt voneinander – klarzumachen, daß ich fortan die ‚Dame in Rosa‘ mit ihr zu identifizieren habe.13
Während das Foto endgültig zutage bringt, dass Miss Sacripant, die ‚Dame in Rosa‘ und Odette Swann ein und dieselbe Person sind, stellt es gleichzeitig das Indiz für den inzwischen von ihr vollzogenen Namensund Identitätswechsel dar: von der Halbwelt zur Bürgerwelt. Neben der unhintergehbaren Kraft der Zeit, die den Menschen verändert, gibt es noch ein anderes Moment, das die fotografische Identitätsfahndung unterlaufen kann. Es hängt mit der Geschichte der Fotografie eng zusammen: Es geht nämlich in der Romanwelt Prousts um die Zeit, in der „jene Ateliers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten“14. In der Kleinen Geschichte der Photographie konstatiert Walter Benjamin im Blick auf solche phantasmagorischen Inszenierungen im Fotoatelier am Ende des 19. Jahrhunderts die „Verfallsperiode“15 der Fotografie, in der die „Aura“ um so unwiderruflicher verloren gegangen ist, als das Fin-de-siècle-Port-
12 Proust (wie Anm. 6), S. 1131. 13 Proust (wie Anm. 6), Bd. II, S. 1608. 14 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, Bd. II/1, S. 375. 15 Benjamin (wie Anm. 14), S. 376.
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rät die Pseudo-Aura erkünstelte.16 Aus dieser „Verfallsperiode“ erhebt sich bei Proust die unvergleichliche Bühne zum Spiel der Metamorphosen: In jenem Jahre hatten meine Eltern den Termin unserer Abreise nach Paris etwas vorverlegt; am Morgen des Aufbruchs hatte man mir, weil ich photographiert werden sollte, die Locken eingewickelt, mir vorsichtig einen Hut darauf gesetzt, den ich noch nie getragen hatte, und einen Samtkittel angezogen [...].17
Das Fotografieren bedeutete am Ende des 19. Jahrhunderts weniger ein Dokumentieren des Alltags, als vielmehr ein karnevaleskes Verkleidungsfest im Atelier.18 Die Kamera zielt überhaupt nicht auf eine Ähnlichkeit des Knaben mit sich selbst, sondern auf sein „Prinz“-Werden.19 Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Faszination der Fotografie besteht für Proust in ihrer Trugbildlichkeit. Sein Augenmerk richtet sich immer auf den Augenblick, in dem sich zeigt, dass Fotos in einer trügerischen Relation zur fotografierten Person stehen. Die Fotografie erfüllt nicht mehr ihre altbekannte Aufgabe, das Ebenbild des Fotografierten zu verwirklichen. Sei es durch die theatralische Inszenierung im Fotoatelier, sei es durch die unhintergehbare Kraft der Zeit, in der das Dasein die Gestalt unablässig wechselt: immer stiftet die Repräsentationsfunktion der Fotografie Verwirrung. In diesen Wirrungen der fotografischen Repräsentation zeigt die Metamorphose ihre Spuren. Zwar kann die Fotografie die dynamische Bewegung der Metamorphose nicht festhalten oder (re)präsentieren. Im Zustand des Trugbildes, das nichts repräsentiert, behält sie sich dennoch den Verweis auf das niemals identische Dasein vor. Wann hielt die Metamorphose ein und still? Wo hört der Mensch auf, ein Chamäleon zu sein? Wie lässt sich eine zeitlose Wahrheit des Daseins denken und finden? Es sind diese Fragen, die im Roman vor allem die Liebenden – Swann und Marcel etwa – stellen. Denn von stürmi16 Zur Unterscheidung verschiedener Ebenen des Aura-Begriffs vgl. Fürnkäs, Josef: „Aura“, in: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hrsg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt a.M. 2000, S. 95-146. 17 Proust (wie Anm. 6), S. 193. 18 Einige Beispiele für die Fotografie als solche finden sich in Adams, William Howard: Prousts Figuren und ihre Vorbilder, Frankfurt a.M. 1988. 19 „Hast du nicht“, so sagt Céleste Albaret zu Marie Gineste in Sodom und Gomorra, „in seiner Schublade die Photographie gesehen, auf der er als Kind abgebildet ist? Er hat uns immer einreden wollen, er sei ganz einfach angezogen gewesen. Da aber sieht man ihn mit seinem kleinen Spazierstock, und alles ist nur Spitzen und Plüsch, wie kein Prinz es gehabt hat.“ Proust (wie Anm. 13), S. 2380.
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scher Eifersucht getrieben müssen sie notgedrungen eine Wahrheit der geliebten Person suchen. Was sie erfahren, ist jedoch wiederum nichts anderes als die unablässige Metamorphose der Geliebten, und zwar in jeweils gesteigerter Intensität. Wenn der Erzähler Albertine aus der ununterscheidbaren Mädchenschar als Liebesobjekt auswählt, nimmt er wahr, dass sich Albertine nicht nur in der Dauer verwandelt hat, sondern niemals identisch erscheint: Genaugenommen hätte ich jedem einzelnen Ich, das künftighin an Albertine in mir dachte, einen von den anderen unterschiedlichen, neuen Namen geben müssen; noch mehr aber jeder der Albertinen, die – niemals einander ganz gleich – in mir heraufbeschwor, wie auch das, was ich aus Bequemlichkeit einfach ‚das Meer‘ nannte und was in Wirklichkeit viele verschiedene Meere waren, die einander folgten und vor denen Albertine sich wie eine Nymphe löste.20
Indem Liebe den Blick schärft, wird das Liebesobjekt in paradoxer Verkehrung weniger eindeutig erkannt, vielmehr in so zahlreiche Gestalten zerstreut, dass einzig die metonymisch eingeführte Mythosfigur als vage Einheit auf das Verwandlungswesen verweisen kann. Und dieser Vorgang wird unmittelbar mit dem Selbstverständnis des Erzählers rückgekoppelt: Er begreift sich nämlich als Besitzer mehrerer neuer Namen. Metamorphose bedeutet die Unmöglichkeit, mit sich selbst identisch zu sein. Das macht die einzige Konstante der Proustschen Romanfiguren aus. Die hartnäckigen Ermittlungen hinsichtlich der Identität des Anderen und des Selbst, die der Erzähler in denkbar vielen Bereichen der Menschenbeziehungen anstellt, bringen als ihr negatives Resultat erst diese Erkenntnis. Eine enorme Zeitvergeudung, die sich jedoch völlig produktiv auswirkt. Denn dadurch gelingt es Proust, sich ins Feld des autobiographischen Diskurses einzuschreiben und diesen Diskurs im selben Zug, genauer: im selben Duktus des Schreibens zu problematisieren. Auf eine solche genuin dekonstruktive Doppelheit des autobiographischen Schreibens bei Proust weist Manfred Schneider hin: Der unbestreitbare autobiographische Gestus der Suche nach der verlorenen Zeit trägt einen Romandiskurs, der nicht nur die Vergeblichkeit jeder Bemühung erweist, eine Wahrheit des Subjekts zu erfassen, sondern der sich selbst, seine Medialität, seine Schrift als die Urkunde dieser Unerkennbarkeit offeriert. Unerkennbarkeit heißt die Unzugänglichkeit, die die Beziehung eines erzählenden
20 Proust (wie Anm. 6), S. 1243f.
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Bewußtseins zu sich selbst und zu den anderen, die es benennt, ausmacht.21
Die „Unerkennbarkeit“ des Menschen lässt sich dabei niemals auf die fehlende Sehschärfe des Erzählers zurückführen. Im Gegenteil, sei es durch die Fotografie, sei es durch die Liebe, der geschärfte Blick liefert diesen Befund. Der „hochauflösende Blick“ zerstreut die Lebensgeschichte auf die Differenzen hin. Denn der sprunghaft gesteigerte Exaktheitsgrad des Blickes, für den die Fotografie das technische Maß darstellt, löst auf, was bis dahin als Einheit galt.22 Um diese Zerstreuung in alle Richtungen auszuschöpfen, muss der Erzähler immerfort viertausend Seiten lang erzählen.
2.
Unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung
Bisher stand die Metamorphose in Rede, die immer wieder in Sicht kommt, wenn das Fotoporträt in Prousts Roman in Szene tritt. Prousts Bezugnahme auf die Fotografie beschränkt sich jedoch weder auf dieses Ereignis, das den Erzähler auf der Ebene der Wahrnehmung überfällt, noch auf das fotografische Porträt. Im Roman findet sich nämlich eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Foto-Metaphern für das Gedächtnis. Das bedeutet schon viel, wenn man nur daran denkt, dass die ganze Recherche auf der Erinnerung basiert. In dem Maße, wie die Fotografie nicht nur in der Handlung des Romans, sondern auch auf der Ebene von Gedächtnis und Erinnerung den Bezugspunkt darbietet, wird das Medium ein unentbehrlicher Schauplatz der Suche nach der verlorenen Zeit. Was hat es aber mit diesem metaphorischen Bezug auf die Fotografie auf sich? Welchen Begriff der mémoire hat Proust, wenn er sie mit der Fotografie vergleicht? In der folgenden Passage aus Im Schatten junger Mädchenblüte wird eine eigenartige Funktionsweise des Gedächtnisses anhand der Fotografie metaphorisiert:
21 Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 54. 22 Diesen Begriff der „Auflösung“ übernehme ich aus Virilio: „Vor einiger Zeit hat die Zeitschrift Raison présente bereits die Frage gestellt: ‚Schafft die heutige Physik die Realität ab?‘ Sie schafft sie ganz sicher nicht ab! Sie löst sie auf, gewiß, aber in dem Sinne, in dem man heute von einer besseren ‚Bildauflösung‘ spricht. Tatsächlich hat sich die zeitliche und räumliche Auflösung des Realen seit Einstein, Niels Bohr und einigen anderen immer schneller vollzogen!“ Virilio, Paul: Die Sehmaschine, Berlin 1989, S. 168.
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KENTARO KAWASHIMA Da außerdem die Erinnerung sogleich beginnt, Aufnahmen herzustellen, die unabhängig voneinander bestehen, und jede Verbindung, jede fortschreitende Ordnung zwischen den vorgestellten Szenen zu verhindern weiß, hebt innerhalb der Sammlung, die es uns vorlegt, die letzte nicht notwendigerweise die vorhergehenden auf. Der unbedeutenden und rührenden Albertine, mit der ich gesprochen hatte, stand die geheimnisvolle gegenüber, die ich vor dem Meer als Hintergrund zuerst gesehen hatte.23
Die Eigentümlichkeit der mémoire24, die den Erzähler verwundert, liegt darin, dass sie ohne Anteil des Bewusstseins selbständig funktioniert. Das Bewusstsein ist dem Gedächtnis gegenüber überhaupt nicht souverän, insofern es keinen Einfluss auf die Arbeit des Gedächtnisses ausüben kann. Es nimmt sogar bloß hin, was das Gedächtnis auf diese Weise herstellt. Es ist diese Passivität des Bewusstseins gegenüber dem Gedächtnis, die verursacht, dass das Bewusstsein angesichts der Gedächtnisbilder weder (ihr) System noch (ihre) Ordnung vorfindet. Diese Bilder sind also so beschaffen, dass sie dem Bewusstsein zusammenhanglos bleiben. Diese Eigentümlichkeit der Gedächtnisfunktion wird auch im nächsten Zitat aus der Wiedergefundenen Zeit vorausgesetzt. Aber hier wird sie interessanterweise in Zusammenhang mit der berühmten Unterscheidung von willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung gebracht: Ich bemühe mich jetzt aus meinem Gedächtnis andere Augenblicksphotographien hervorzuholen, besonders solche, die ich in Venedig aufgenommen hatte. Aber schon dieses Wort allein ließ mir die Stadt langweilig erscheinen wie eine Lichtbildausstellung.25
Das Gedächtnis fotografiert, und die willkürliche Erinnerung, die der Erzähler durch das eigene Bewusstsein anstellt, ist das Anschauen der Fotos, die das Gedächtnis gemacht hat.26 Wenn es darum geht, dass das Be23 Proust (wie Anm. 6), S. 1150. 24 Vgl. Proust, Marcel: A la recherche du temps perdu, hrsg. v. Jean-Yves Tadié et al., Paris 1989, Bd. II, S. 230. Die mémoire im Original wird von Eva Rechel-Mertens durch die ‚Erinnerung‘ übersetzt. Wie die ‚mémoire involontaire‘ meistens durch die ‚unwillkürliche Erinnerung‘ übersetzt wird, weigert sich Prousts Begriff der mémoire, einfach durch das deutsche Wort ‚Gedächtnis‘ wiedergegeben zu werden. Mit Recht teilt Rechel-Mertens der mémoire bei Proust je nach Kontext entweder das Gedächtnis oder die Erinnerung zu, wobei für die zitierte Stelle die Übersetzung durch das ‚Gedächtnis‘ angemessener zu sein scheint. 25 Proust (wie Anm. 6), Bd. III, S. 3943. 26 Im Original ist es deutlich, dass nicht „ich“, sondern „mein Gedächtnis“ fotografiert: „J’essayais maintenant de tirer de ma mémoire d’autres ‚instantanés‘, notamment des instantanés qu’elle avait pris à Venise, mais rien
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wusstsein die Gedächtnisbilder willentlich „hervorzuholen“ hat, das heißt, über sie verfügen vermag, ist dies erst unter der Bedingung möglich, dass das Gedächtnis vorher unabhängig von ihm gearbeitet hat. Deshalb ist das Ich als Instanz des Verstandes mit den Gedächtnisbildern gar nicht unmittelbar verbunden. Folglich ist es nicht zu umgehen, dass ihm die Bilder des Gedächtnisses langweilig erscheinen. Dass Proust in der oben zitierten Passage die Fotografie und die damit vergleichbare mémoire volontaire herabsetzt, bedeutet keineswegs, dass er die Bedeutung dieses Gedächtnismediums gering schätzt, wie Susan Sontag annimmt.27 Spricht doch Proust von der mémoire volontaire sowieso immer im herabsetzenden Ton. Das Entscheidende ist vielmehr das Folgende: Die eigentümliche Gedächtnisfunktion, die – wie wir gesehen haben – mit der Fotografie verglichen wird, ist nichts anderes als ein notwendiges Erfordernis für die mémoire involontaire. Dass das Gedächtnis unabhängig vom Bewusstsein arbeitet, dass es sich ihm nicht ganz erschließt, dass es infolgedessen ein unbewusstes Gedächtnis gibt, ist nämlich davon untrennbar, dass das bisher nie Erinnerte plötzlich wachgerufen werden kann. Insofern eine solche Eigentümlichkeit der Gedächtnisarbeit sich bei Proust einer fotografischen Metaphorik unterwirft, kann es nicht verwundern, wenn die Fotografie auch mit dem Konzept der mémoire involontaire in Beziehung tritt. Die folgende Passage zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Fotografie imstande ist, nicht nur die willkürliche Erinnerung, sondern auch zumindest einen wichtigen Aspekt der unwillkürlichen Erinnerung zu metaphorisieren: Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte, ist die Literatur: jenes Leben, das in gewissem Sinne bei allen Menschen so gut wie dem Künstler in jedem Augenblick wohnt. Sie sehen es nicht, weil sie es nicht zu dem Licht auszusetzen versuchen, infolgedessen aber ist ihre Vergangenheit von unzähligen Photonegativen angefüllt, die ganz ungenutzt bleiben, da ihr Verstand sie nicht ‚entwickelt‘ hat. Das bezieht sich auf unser eigenes Leben sowohl wie auf das der anderen, denn der Stil ist für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der Technik, sondern seine Art zu sehen. Er bedeutet die durch direkte und bewußte Mittel unmöglich zu erlangende Offenbarung der qualitativen Verschiedenheit der Weise, wie uns die Welt erscheint, einer Verschiedenheit, die wenn
que ce mot me la rendait ennuyeuse comme une exposition de photographies.“ Proust (wie Anm. 24), Bd. IV, S. 444. 27 Sontag, Susan: Über Fotografie, München 1980, S. 156.
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KENTARO KAWASHIMA es die Kunst nicht gäbe, das ewige Geheimnis jedes einzelnen bliebe.28
Hier stellen wir noch einmal die Kontinuität der betreffenden Metaphorik bei Proust fest: Im Dasein ist gleichsam eine Kamera mit einem pausenlos arbeitenden Selbstauslöser installiert. Der Verstand allein kann jedoch über diese latenten Gedächtnisbilder nie ganz verfügen. Nur der Künstler vermag diese „Herzensphotos“29 zu „entwickeln“. Es geht also bei dieser Metaphorisierung nicht mehr um fotografische Bilder als fertige Produkte, sondern um die Dynamik der Entwicklung, das heißt, die augenblickliche Genese der Bilder. Um unsere Überlegungen über die fotografische Entwicklung der Gedächtnisbilder weiter zu vertiefen, gilt es zuerst, Sigmund Freuds Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gedächtnis heranzuziehen. Bereits in den 1930er Jahren ist Walter Benjamin auf die Idee gekommen, Jenseits des Lustprinzips als Proust-Kommentar zu lesen30, weil die psychoanalytische Hypothese der systematischen Unverträglichkeit von Gedächtnis und Bewusstsein auch der Recherche immanent zu sein scheint.31 Außerdem bedient sich Freud selbst einige Male der fotografischen Metaphorik, um die nur schwer zu fassende Bewusstwerdung des Unbewussten zu erklären.32 Es ist dabei bemerkenswert, dass weniger das fotografische Bild selbst, als vielmehr dessen Entwicklungsprozess dem Psychoanalytiker genauso wie dem Autor der Recherche das Denkmodell der eigentümlichen Erinnerungsarbeit liefert. Man kann beispielsweise im Kapitel von der „Wiederkehr des Verdrängten“ in Der Mann Moses und die monotheistische Religion lesen: Dass „die stärkste zwangsartige Beeinflussung von jenen Eindrücken herrührt, die das Kind zu einer Zeit treffen, da wir seinen psychischen Apparat für noch nicht vollkommen aufnahmefähig halten müssen“, sei verständlich „durch den Vergleich mit einer fotografischen Aufnahme [...], die nach einem belie28 29 30 31
Proust (wie Anm. 25), S. 3985. Schneider (wie Anm. 21), S. 103. Benjamin (wie Anm. 14), Bd. IV, S. 580. Vgl. zu Benjamins Proust-Lektüre mit Freuds Gedächtnistheorie seinen Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire, in: Benjamin (wie Anm. 14), Bd. I/3, S. 605-653. Verwiesen sei unsererseits auf die folgende Stelle aus Sodom und Gomorra: „Wir behalten alle unsere Erinnerungen, wenn auch nicht die Fähigkeit, sie uns zurückzurufen, sagt in Anlehnung an Bergson der große norwegische Philosoph […]: aber was ist schon eine Erinnerung, die man sich nicht zurückrufen kann?“ Proust (wie Anm. 13), S. 2565. 32 Vgl. hierzu Kofman, Sarah: „Freud – Der Fotoapparat“, in: Herta Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2002, S. 60-66.
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bigen Aufschub entwickelt und in ein Bild verwandelt werden mag“33. Was vom Kind nicht verstanden, aber aufgenommen wurde, kehrt zu irgendeiner späteren Zeit wieder. Um von der ‚nachträglichen‘ Arbeit des psychischen Apparates, durch die ein unbewusst aufgenommenes Kindererlebnis „zwangsartig“ wiederkehrt, eine anschauliche Schilderung zu geben, bedient sich Freud des Modells der fotografischen Entwicklung. Denn das Foto-Negativ bleibt ebenfalls ohne die nachträgliche Arbeit in der Dunkelkammer nichts anderes als ein schwarzes, verkehrtes Gedächtnis-Indiz bzw. ein unbewusstes Gedächtnisbild. Dies impliziert, dass der Übergang vom Negativ zum Positiv nicht einen immer schon gegebenen Gedächtnisinhalt wachruft, sondern eine Erinnerung hervorbringt, die als solche nie existiert hat. Wenn das für die Funktionsweise des psychischen Apparates auch zutrifft, dann muss eben der psychischen Nachträglichkeit die entscheidende Bedeutung für die zwangsartige Wiederkehr des Kindererlebnisses zukommen. Die von der Romantik noch mythologisierte Ursprünglichkeit der Kindheit wird folglich in Frage gestellt. „Es gibt“, so kommentiert Sarah Kofman, „den Wiederholungszwang, weil der volle Sinn nie vorhanden war. Die Wiederholung ist ursprünglich.“34 Zweifellos muss hierin eine fundamentale Umwertung des Wiederholungsbegriffes gesehen werden. Die Wiederholung darf nicht mehr als so etwas wie eine Kopie verstanden werden. Statt das Selbe wiederkehren zu lassen, bringt die Wiederholung Differenz hervor.35
33 Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: ders.: Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1999, Bd. 16, S. 234. 34 Kofman (wie Anm. 32), S. 65. Vgl. hierzu auch Derrida, Jacques: „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1976, S. 302-350. 35 Deleuze konstatiert in der abendländischen Philosophie seit Platon wieder und wieder eine Unterwerfung der Wiederholung unter das Identitätsprinzip, die mit dem Begriff der materiellen Wiederholung, in der das Selbe sich wiederholt, einhergeht. Demgegenüber konzipiert er eine Philosophie der tiefer reichenden Wiederholung, nämlich die Wiederholung der Differenz, als deren Effekt die materielle Wiederholung angesehen wird. In dieser tiefer greifenden Wiederholung, die Deleuze in Nietzsches Philosophie gipfeln sieht, geht es um „exzessive Systeme, die das Differente ans Differente binden, das Viele ans Viele, das Zufällige ans Zufällige“. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 153. Vgl. zur Unterscheidung von zwei Wiederholungstypen S. 37f. Allerdings weist Deleuze nicht selten auf Freuds Hang zur negativen, unproduktiven Interpretation der Wiederholung hin. Vgl. zu seiner Kritik an Freud und zur Umschreibung der Theorie des Unbewussten S. 31f., 130f.
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Diese psychoanalytische Gedächtnistheorie fordert mit dem fotografischen Modell dazu auf, uns an den Wiederholungscharakter der mémoire involontaire zu erinnern: An die berühmteste der unwillkürlichen Erinnerungen anlässlich der in eine Tasse Tee getauchten Madeleine schließen sich mehrere vergleichbare Erfahrungen an; beim Anblick der drei Bäume in der Nähe von Balbec, beim Vernehmen der petite phrase von Vinteuil, beim Bücken zum Aufknöpfen seiner Schuhe etc., bis schließlich in Le temps retrouvé durch unebene Pflastersteine im Hof des Palais der Guermantes unwillentlich eine intensive Erinnerung an Venedig veranlasst wird. Gleich danach ereignen sich in der Bibliothek der Princesse de Guermantes – wieder anlässlich zufälliger Begegnungen mit unscheinbaren Dingen wie Löffel und Teller, Serviette, George Sands François le Champi – eine unwillkürliche Erinnerung nach der anderen. Diese wie Meereswellen aufeinander folgenden Erinnerungen bringen dem Erzähler seinen Glauben an die Literatur zurück und machen ihm seine Berufung zum Schriftsteller deutlich. Anders als bei dem von Freud beobachteten Wiederholungszwang dreht sich Prousts unwillkürliche Erinnerung nicht um eine einzige traumatische Erfahrung. Aber genau wie bei den psychoanalytischen Fällen kehrt die unwillkürliche Erinnerung unabhängig vom Bewusstsein mehrmals wieder, ohne das ihr eigene Geheimnis zu verraten: Bis zum letzten Augenblick der Wiedergefundenen Zeit bleibt die Botschaft des unwillkürlichen Gedächtnisses unklar, seine Sprache unentzifferbar, sein Ort unlokalisierbar. Darüber hinaus ist, wenn man auf den zweiten, dem psychoanalytischen Wiederholungsphänomen gemeinsamen Aspekt hinweist, die Wiederholung der mémoire involontaire auch eine ursprüngliche im Sinne Sarah Kofmans: Combray wird zum Beispiel nicht so erinnert, wie es gewesen ist. Die Wiederholung ist demnach kein Nochmals-Holen, sondern ein überhaupt Erstmals-Holen von etwas, was eigentlich immer schon ‚geholt‘ hätte sein sollen. Im Jetzt der mémoire involontaire holt es von sich selbst aus den Tagträumer endlich ein. Während der Geschmack der Madeleine mit Combray als Ort der Kindheit nur metonymisch verbunden ist, umfasst er in der mémoire involontaire den ganzen Lebenszusammenhang Combrays.36 Erst die unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung konstruiert den vollen Sinn Combrays, den es nie gegeben hat. So ist Proust mit Freud nicht nur darin einig, die fotografische Entwicklung als Metapher für die Erinnerung zu verwenden, sondern auch die Erinnerung als Wiederholung zu denken.
36 Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen, Berlin 1993, S. 51.
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Andererseits werden, indem wir die Erinnerungsästhetik der Recherche auf die psychoanalytische Theoretisierung des Gedächtnisses beziehen, auch Unterschiede auffällig. Bei Proust ist die Wiederholung kein psychischer Zwang. Sie wird nicht als Gegenstand des Leidens erlebt. Die unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung bringt, ganz im Gegenteil, eine außergewöhnliche, überirdische Freude. In dieser Hinsicht steht Proust einem anderen Theoretiker der Wiederholung bzw. einem experimentierfreudigen „Meister der Wiederholung“37 näher: Sören Kierkegaard, der 1843 Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie veröffentlichte, plädierte dort dafür, die Wiederholung als „moderne“ bzw. „neue Kategorie“38 zu entdecken, um sie der antiken Konzeption der Erinnerung entgegenzustellen. Es gilt, die Wiederholung als Erinnerung „in entgegengesetzter Richtung“ zu begreifen und diese Erinnerung „in Richtung nach vorn“39 für eine Philosophie der Zukunft zu gewinnen. Das führt dazu, dass das, was im geschichtsphilosophischen Denken Hegels als Erinnerung verstanden wird, nämlich die Vermittlung von der Position der Minerva her, durch die Kategorie der Wiederholung ersetzt wird. Die Wiederholung, wie sie aus einem Experiment nach dem anderen mit der Wiederholung hervorbricht, ist ein augenblicklicher Sprung, der ohne vermittelnde Arbeit des Begriffs vollzogen werden muss, damit die Existenz ihre eigene Grenze überschreitet. Was Kierkegaard unter dem bedeutsamen Pseudonym Constantin Constantius als ein immer wieder von neuem beginnendes Abenteuer der Wiederholung inszeniert, ist also eine singuläre Bewegung der Ausnahme, die der begrifflich vermittelten Allgemeinheit des dialektischen Denkens widersteht. Genauso ist die unwillkürliche Erinnerung die abenteuerliche Wiederholung im Augenblick. Wir wissen, dass bei Proust der Gegensatz von unbewusstem Gedächtnis und gedächtnislosem Bewusstsein keineswegs durch die Vermittlung des Begriffs dialektisch versöhnt wird. Die Wiederkehr des unwillkürlichen Gedächtnisses ist vollkommen asymmetrisch. Das unwillkürliche Gedächtnis kehrt dem Bewusstsein dermaßen unvermittelt, plötzlich und ohne verstandesmäßig erkennbare Gründe wieder, dass nur die religiöse Metapher der „Offenbarung“40 seine Glückseligkeit zum Ausdruck bringen kann. Der taumelnde Exzess des
37 Deleuze (wie Anm. 35), S. 128. 38 Kierkegaard, Sören: Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, Düsseldorf 1955, S. 21f. 39 Kierkegaard (wie Anm. 38), S. 3. 40 Proust (wie Anm. 28).
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Glücksgefühls, der die unwillkürliche Erinnerung begleitet, ist also die Freude an der blitzartigen Wiederkehr im Jenseits des Begriffs. Was sich als derartige Offenbarung wiederholt, ist die Differenz, die sich niemals dem Prinzip der Repräsentation unterwirft. Die Repräsentation gibt ein immer schon gegebenes Gedächtnis wieder, indem sie Vergangenheit und Gegenwart unter der Kategorie der Identität oder Gleichheit vermittelt. Von dieser Vermittlung im Dienst der Identität befreit, kommt das unwillkürliche Gedächtnis als die nicht reduzierte Differenz wieder, die einzig in sich selbst ihren Grund hat. Die Differenz und der Bezug des Differenten auf das Differente verallgemeinern sich. Deshalb taucht nicht nur das so glanzvolle Combray auf, das niemals gegeben war, sondern im intensivsten Augenblick der Wiedergefundenen Zeit sind auch der „Stil“, die Vision des Schriftstellers und die „qualitative Verschiedenheit“ der Welt in einem Atemzug mit gegeben. Die Literatur macht sich bereits latent im erleuchtenden Moment der wiedergekehrten Differenz bemerkbar. Während bei Augustinus Gottes Wahrheit erleuchtet wird, bringt die unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung den Glauben an die Literatur zurück.41 Allerdings handelt es sich nicht mehr um jene Literatur, die zu dem die Wirklichkeit repräsentierenden Realismus des 19. Jahrhunderts gehört, der, wie das Pastiche des Tagebuchs der Goncourt42 zeigt, den Erzähler völlig enttäuscht. Stattdessen kommt es auf eine Literatur an, die die Differenz von innen heraus hervorbringt. Mit diesem Umschlag zur Ordnung des Differenten korrespondiert der andere des Raum-Zeitlichen in der Romanwelt. Die unwillkürliche Erinnerung als Wiederholung bricht mit einer linearen Zeitordnung des vorher, jetzt und nachher. Wie die echte Revolution ihren eigenen Kalender hervorbringt, erzeugt die Wiederholung aus einem unerklärlichen Sprung im Nu eine neue Zeitordnung, für die bei Proust eine emblematische Mädchenfigur steht: Mlle de Saint-Loup als Zeugin der Verschränkung von zwei Wegrichtungen, nämlich Du côté de chez Swann und Le côté de Guermantes. Proust verdient es, als Avantgardist der Erinnerung bezeichnet zu werden, insofern er die Erinnerung als Repräsentation durch die Erinnerung als Wiederholung ersetzt.
41 Vgl. dazu Schneider, Manfred: „Das Ereignis der Zeit. Proust und die Theorie des Erhabenen“, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hrsg.): Marcel Proust und die Philosophie, Köln 1997, S. 121-137. 42 Proust (wie Anm. 25), S. 3721-3733.
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Nun soll ein japanischer Schriftsteller in die Diskussion einbezogen werden. Dieser Zeitgenosse Prousts, „Soseki“ Natsume Kinnosuke43 (18671916), gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller in der als Meiji-Zeit bezeichneten Modernisierungsphase Japans. Seine Geltung erstreckt sich jedoch nicht nur auf den literarischen Bereich, sondern auch auf den wirtschaftlichen: Auf den 1000-Yen-Schein übertragen, zirkuliert sein fotografisches Porträt noch heute im gesamten Land. Und diese Zirkulation nicht nur der Schriften, sondern auch der Bilder ist beinahe ein Schicksal dieses Schriftstellers: Denn wie kein anderer setzt sich Soseki in seinem autobiographischen Text mit der Frage nach dem „Recht auf das eigene Bild“44 im Zeitalter der Fotografie auseinander, in dem die „Bildwerdung“45 genauso unvermeidlich wie problematisch wird; unvermeidlich einfach deswegen, weil die Kamera allgegenwärtig ist. Wie wir im Eingang der Diskussion unterstrichen haben, sind moderne Institutionen von dem starken Willen geprägt, unsere Bilder einzufangen. Familie, Bürokratie, Massenmedien, Wissenschaft hören niemals auf, unsere Fotografien zu wollen. Ein solcher Bilderfang ist inzwischen nicht zuletzt durch automatisierte Überwachungskameras, wie sie in Banken, Supermärkten, Straßen, Flughäfen etc. installiert sind, weiter vorangetrieben worden. Problematisch wird die Bildwerdung deshalb, weil sie fast notwendig das Bild des Selbst beschränkt, erschüttert und möglicherweise völlig zerstört. Roland Barthes schreibt in der Hellen Kammer: „[W]as die Gesellschaft mit meinem Bild anstellt, was sie darin liest, weiß ich nicht (schließlich läßt sich so vieles in ein und demselben Gesicht lesen).“46 In dem Maße, wie die anderen über mein fotografisches Bild verfügen, wird das Recht auf das eigene Bild in Frage gestellt. Kann man im Zeitalter der Fotografie noch ein Bild von sich beanspruchen, auf dem man mit sich selbst identisch ist? Wenn das zuviel verlangt ist, kann man ein fotografisches Selbstbildnis haben, durch das man, wenn nicht ganz, so doch bis zu einem gewissen Grad mit sich selbst identifiziert werden 43 „Soseki“ ist der Schriftstellername für Kinnosuke Natsume: Dieser unterzeichnete seine literarischen Texte mit dem Namen Soseki Natsume. Weil ihn japanische Leser, Kritiker, Literaturhistoriker normalerweise einfach „Soseki“ nennen, bedienen wir uns im folgenden dieser Form. 44 Risthaus, Peter: „Überwachen, Speichern, Zirkulation. Vom Recht auf das eigene Bild“, in: Konstellationen. Zeitschrift für Literatur, Kultur & Gesellschaft, 1 (2001), S. 84-86. 45 Risthaus (wie Anm. 44), S. 84. 46 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989, S. 23.
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kann? Auf diese Frage würde Thomas Pynchon zum Beispiel entschlossen mit Nein antworten. Er bleibt darum bis heute ein Autor, von dem keine Fotografie existiert. Maurice Blanchot und Jacques Derrida untersagten lange Zeit die Veröffentlichung ihrer Fotos.47 Die Sache betrifft also die ganz moderne Frage der Bilderpolitik von Schriftstellern. Wie beschäftigt sich die autobiographische Schrift von Soseki Hinter Glastüren (Garasudo no uchi)48 mit dieser Frage? Der Titel verweist auf die Situation bzw. die Erzählposition des autobiographischen Subjekts. 1915 erschien dieser autobiographische Text, der aus 39 Teilen besteht, zuerst nacheinander als Zeitungsartikel. In diesem Jahr hatte sich der Schriftsteller noch nicht ganz von seinem Krankenlager in Tokyo befreien können. Seit 1910, als die Krankheit ausbrach, litt er unter einer Magenkrankheit und einer damit zusammenhängenden Dysfunktion der Nerven. Durch dieses körperliche Unwohlsein wird ihm eine Zurückgezogenheit in den Innenraum auferlegt, die sich bis zum Todesjahr des Schriftstellers nicht ändern sollte. Das ist die Bedingung dafür, dass von einem beschränkten Gesichtskreis ‚hinter Glastüren‘ aus über die „uninteressanten Sachen“ geschrieben wird, die „niemanden als mich angehen“, obwohl „die Welt durchaus turbulent ist“49. So wird im ersten Teil, der als Vorwort das autobiographische Vorhaben Sosekis einleitet, erzählt. Darauf folgt die Fotografie-Szene im zweiten Teil. Soseki wird eines Tages, so fängt der zweite Teil an, ans Telefon gerufen: Ein Fotograf will für seine Zeitschrift Aufnahmen von ihm machen. Der Schriftsteller lehnt es zunächst ab, weil er sich daran erinnert, dass die Zeitschrift einmal einen unangenehmen Eindruck auf ihn gemacht hat. In der Zeitschrift waren nämlich viele Gesichter mit einem gekünstelten Lächeln zu sehen. Diese dumme Künstelei will Soseki, ein würdiger, hochintelligenter und selbstbewusster Mann der Meiji-Zeit, nicht mitmachen. Er ist aber dann mit den Aufnahmen einverstanden, unter der Bedingung, dass er vor der Kamera nicht künstlich lächeln müsse. Nach ein paar Tagen kommt der Fotograf in sein Haus in Tokyo 47 In einem Interview von 1986, dessen Nebentitel schon den unmittelbaren Zusammenhang mit unserer Problematik ankündigt, expliziert Derrida sein Verbot eigener Fotografien. Derrida, Jacques: „Es gibt nicht den Narzissmus“ (AutobioFotografien), in: Auslassungspunkte. Gespräche, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 1998, S. 209-227. 48 Soseki, Natsume: Garasudo no uchi (Hinter Glastüren), in: ders.: Soseki Zenshu (Gesammelte Werke), Tokyo 1936, Bd. 10, S. 500-615. Die Übersetzung stammt von mir, K. K. 49 Soseki (wie Anm. 48), S. 502.
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und macht zwei Aufnahmen. Dabei geht nicht alles reibungslos zu. Denn das „PHOTOGRAPHISCHE PORTRÄT ist“, wie Roland Barthes schreibt, ein geschlossenes Kräftefeld. Vier imaginäre Größen überschneiden sich hier, stoßen aufeinander, verformen sich. Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der, für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen.50
Genau als ein derartiges Kräftefeld, in dem imaginäre Größen vor und hinter der Kamera sich versammeln, um gegeneinander zu kämpfen, zeigt sich die fotografische Bildwerdung des 1914 bereits sehr erfolgreichen Schriftstellers. Der Fotograf sagt nämlich: „Trotz unseres Versprechens, könnten Sie vielleicht ein bisschen lächeln?“ Soseki findet es lächerlich und lehnt die Bitte des Fotografen ab. Bei der zweiten Aufnahme wiederholt der Fotograf dieselbe Bitte. Soseki lächelt natürlich nicht. Allem Anschein nach ist es ihm also gelungen, das Bild von sich selbst, das seinem Willen zufolge niemals durch einen lächelnden Gesichtsausdruck dumm erscheinen darf, zu behalten, das imaginäre Bild gegen den schlauen Kunstgriff des Fotografen im Dienst gewünschter Bilder zu schützen. Als ihm aber nach einigen Tagen die Fotos per Post zugeschickt werden, stellt Soseki fest, dass er auf den Fotos lächelt. Er wundert sich, prüft die Bilder genau und vermutet, dass der Fotograf die Bilder retuschiert habe. Mehrere Bekannte, die sich die Fotos ansehen, urteilen ähnlich. Die Geschichte der Photographie von Beaumont Newhall lehrt uns zwar, dass das Fotoporträt ohne Retusche undenkbar ist. Diese Technik war bereits um 1850 „eine Routinesache, denn nun verlangten die Kunden, daß die oft gefühllos direkten Aufnahmen ihrer Züge abgemildert, kleine Verunzierungen im Gesicht beseitigt und Altersfalten geglättet werden sollten“51. Weil die Fotografie nicht mit dem Selbstbewusstsein gekoppelt ist, aus diesem Grund leider keinen „Spiegel mit Gedächtnis“52 darstellt, kurzum nicht uns zuliebe lügen kann, zerstückelt sie das imaginäre Selbstbild. Deshalb hat man die Retusche nötig. Sie fungiert gleichsam als Puffer zwischen dem Narzissmus und dem Medium. Das ist jedoch bei Soseki gar nicht der Fall. Dem Anschein nach 50 Barthes (wie Anm. 46), S. 22. 51 Newhall, Beaumont: Geschichte der Photographie, München 1998, S. 73. 52 Holmes, Oliver Wendell: „Das Stereoskop und der Stereograph“, in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Theorie der Fotografie, München 1999, Bd. 1, S. 113121, hier: S. 116.
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verwirklicht gerade die Retusche die Bilder, die seinen Narzissmus beträchtlich stören. Soseki reagiert jedoch in besonderer Weise auf diese Retusche. Der zweite Teil von Hinter Glastüren schließt mit der folgenden Selbstreflexion des Schriftstellers: Er habe bisher unzählige Male vor den Leuten sein lächelndes Gesicht gezeigt, obwohl er eigentlich nicht lächeln wollte. Die retuschierte Fotografie ist, so Soseki, als „Rache“53 für diese Unehrlichkeit zu verstehen. Gibt er also das Recht auf das eigene Bild auf? Weder klagt er den Fotografen an, noch versucht er, die Foto-Negative zurückzubekommen. Obwohl die Fotos seinem Willen entgegenstehen, nimmt er sie als ‚Rache‘ für seine unehrliche Lebensweise hin. Er akzeptiert, dass die Bilder, die ihm unlieb sind, die er für Täuschung hält, als Symbol für sein kompromissvolles Leben in der Öffentlichkeit zirkulieren. Hinter Glastüren ist so genau komponiert, dass der zweite, die autobiographische Selbstthematisierung eröffnende Teil gerade im 39., also letzten Teil seine Entsprechung findet. Dort geht es um die Unmöglichkeit ehrlicher Bekenntnisse. Rückblickend auf das, was er inzwischen aufgezeichnet hat, schreibt Soseki: Ich habe bisher meine Angelegenheiten und die der anderen vermischt beschrieben. Wenn ich über die anderen schrieb, sorgte ich dafür, dass sie dadurch keine unangenehmen Folgen hätten. Wenn ich über mich schrieb, konnte ich relativ frei atmen. Dennoch erreichte ich den Grad nicht, alle Schmeichelhaftigkeit mir selbst gegenüber zu beseitigen. Wenn ich auch keinen Mut hatte, die Welt zu belügen, so machte ich endlich meinen gemeineren Charakter, den schlechteren Charakter und unehrenhaftere Fehler doch nicht bekannt.54
So räumt Soseki ein, ein schlechter Bekenner zu sein. Anschließend nennt er einige exemplarische Bekenntnisse im Abendland, und zwar die von Augustinus, Rousseau und Thomas de Quincey, jedoch nur, um dadurch seine Einsicht anzudeuten, dass die Ehrlichkeit literarischer Bekenntnisse die Wahrheit des Menschen letztendlich nicht zu erreichen vermag. So verdeutlicht er, dass seine autobiographische Prosa keine Bekenntnisliteratur darstelle. Das ist einerseits interessant, wenn man die Geschichte der japanischen Literatur berücksichtigt. Der japanische Naturalismus im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der im Unterschied zu seinem europäischen Vorbild die Tendenz zur Verinnerlichung des schreibenden Subjekts beschleunigte, ist vom Bekenntnis nicht zu tren53 Soseki (wie Anm. 48), S. 505. 54 Soseki (wie Anm. 48), S. 614.
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nen. Das Bekenntnis ist gleichsam ein Schlagwort für Autoren wie Doppo Kunikida, Toson Shimazaki, Katai Tayama, die nicht zufällig Christen waren.55 Von dieser herrschenden Strömung der Literatur am Ende der Meiji-Zeit, aus der die Tradition des für die japanische Literatur eigentümlichen Ich-Romans entspringt, distanziert sich Soseki ausdrücklich. Andererseits ist Sosekis Verzicht auf literarische Bekenntnisse interessant im Zusammenhang mit den retuschierten Fotos. Es geht um den Wert der Ehrlichkeit, die sich sowohl auf die Bekenntnisliteratur als auch auf das Fotoporträt bezieht. Wenn ein Autobiograph darauf verzichtet, ‚heiße‘, ehrliche Bekenntnisse zu schreiben, dann hat er auch kein Recht, die unehrliche Täuschung des Fotografen anzuklagen. Die Ehrlichkeit der Selbstthematisierung ist also keine Bedingung für das wahre Selbstbildnis, das ohnehin weder schriftlich noch fotografisch darstellbar wäre. Diese nüchterne Erkenntnis Sosekis stellt sicher, dass Hinter Glastüren als eine japanische Version jener ‚erkalteten Herzensschrift‘ angesehen werden kann, die Manfred Schneider zufolge die Autobiographie im Zeitalter der multimedialen Datenspeicherung auszeichnet. Die Selbstreflexion über das eigene autobiographische Schreiben im letzten Teil von Hinter Glastüren schließt mit einem Lächeln. Was ich schrieb, sind außerdem keine Bekenntnisse. Meine Schuld, wenn sie überhaupt als Schuld bezeichnet werden kann, wurde wahrscheinlich nur von der hellsten Stelle her nachgezeichnet. Darüber empfinden einige vermutlich eine Art Unbehagen. Aber ich selbst lächele nun, auf diesem Unbehagen reitend und die allgemeine Menschheit weit überblickend. Ebenfalls mich, der bisher uninteressante Sachen geschrieben hat, überblickend, und das Gefühl hegend, diese habe ein anderer geschrieben, lächele ich noch.56
Am Ende wiederholt sich das Lächeln. Und die Wiederholung ist hier auch ein Umschlag. Denn das durch die Retusche gezwungene Lächeln schlägt nun um in die literarische Ironie gegen den Fotografen, gegen die japanische Naturalismusbewegung mit ihren heißen Bekenntnissen, gegen seine eigene Schreiberei ohne Wahrheit. Das Lächeln, das hier den Fluchtpunkt des Textes ausmacht, ist die Eröffnung dessen, was die strukturalistische Rezeption der Psychoanalyse das Reich der Signifikanten nennt, da das Lächeln – das weiß jeder im Zeitalter der Fotografie 55 Vgl. zur relevanten Rolle des Christentums, insbesondere des Protestantismus in der Meiji-Zeit das Kapitel „Institution namens Geständnis“ von Karatani, Kojin: Ursprünge der modernen japanischen Literatur, Basel/Frankfurt a.M. 1996, S. 83-106. 56 Soseki (wie Anm. 54).
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– alles bedeuten kann und folglich nichts bedeutet. Hinsichtlich der Zeichenökonomie ist Sosekis ironisches Lächeln avantgardistisch. Hier haben wir die Chance, das Vorangehende auf Proust zurückzubeziehen. Die Begegnung von ‚Soseki‘ Natsume Kinnnosuke und Marcel Proust findet auf dem lächelnden Gesicht statt. Denn der Autor der ‚erkalteten Herzensschrift‘ ermisst die Kälte der Recherche auch am „allgegenwärtigen Zeichen des Lächelns“, das als „physiognomischer Reflex des modernen Mediums Photographie“57 zu begreifen ist. Das Lächeln, das die autobiographische Schrift Prousts durchzieht, macht sie kalt, da das Gesicht, das früher um 1800 als Schreiboberfläche göttlicher Buchstaben auf die innere Wahrheit des Subjekts hin entziffert werden konnte, mit den lächelnden Zügen unlesbar wird. Das Lächeln blockiert aufgrund des signifikanten Exzesses die hermeneutische Lektüre der Physiognomik. So liegt der Verdacht nahe, dass die Inkarnation der Physiognomiker um 1900, Polizeibeamter und Kriminologe, zugunsten der Lesbarkeit des Gesichts das Lächeln verboten: Niemand lächelt auf den zahlreichen Fotos, die Susanne Regener aus dem kriminologischen Archiv sammelte.58 Sowohl Marcel Proust als auch Soseki Natsume werden in der literaturhistorischen Beschreibung nicht für Avantgardisten gehalten. Obwohl ihre autobiographischen Schriften auf den ersten Blick wirklich nicht avantgardistisch erscheinen, stecken darin subversive Figuren: Metamorphose, Wiederholung, ironisches Lächeln. Sie sind subversive Figuren im Verhältnis zur klassischen Autobiographik, insofern sie die Grenze der Bekenntnisliteratur markieren und überschreiten. Diese Figuren, die sich jeweils durch die parasitäre Bezugnahme auf die Fotografie artikulieren, wenden sich jedoch im selben Zug subversiv gegen ihren Bezugspunkt, nämlich die Fotografie selbst. Denn die Metamorphose erschüttert die fotografische Fixierung des Subjekts, die Wiederholung unterläuft das System der Repräsentation, das ironische Lächeln stellt den massenmedialen Betrieb der technischen Bilder in Frage, der nicht umhin kann, ein schreibendes Subjekt auf eine eigensinnige Weise zu codieren. Was fotografische Bilder angeblich festmachen, wird dadurch wieder verflüchtigt und instabil, so dass sich ihre sozialen Funktionen (Identifizierung, Repräsentation, Bildung des Images) nur als Effekte des tiefer liegenden, komplexen Kräftefeldes erweisen. Jede Figur stellt die Namen eines solchen Feldes dar, in dem noch nicht kanalisierte differente Kräfte miteinander kommunizieren. Als eine solche Freisetzung der 57 Schneider (wie Anm. 21), S. 67 und S. 66. 58 Regener (wie Anm. 10).
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Differenzen ereignet sich der Umbruch des autobiographischen Schreibens. Wenn die Fotografie eine medienhistorische Wende im 19. Jahrhundert darstellt, die die bildliche Gedächtnisspeicherung technisiert und damit präzisiert, so organisiert sich die Autobiographik des beginnenden 20. Jahrhunderts dadurch neu, dass sich aus den fotografischen Gedächtnissen das Differente freisetzt und mithin sich selbst als Bewegung der Differenz konstruiert.
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OPERNATMOSPHÄRE UND STUMMFILMÄSTHETIK LATENTE AVANTGARDE UND INNOVATIVE PERFORMANZ IN DEN OPERN GIACOMO PUCCINIS1 1.
„Meistermachwerk“
„Meistermachwerk“2 – so schlicht äußerte sich einmal Gustav Mahler über Giacomo Puccinis Oper TOSCA (Uraufführung 1900). Dieses harsche Urteil fiel nicht zufällig über die Oper TOSCA, die noch im 19. Jahrhundert komponiert worden ist und zusammen mit LA BOHÈME (1896) und MADAMA BUTTERFLY (1904) als Synonym für die Oper italienischer Prägung schlechthin3 und darüber hinaus wegen des ‚in Schreien transformierten Singens‘ als Paradebeispiel der veristischen Oper gilt. Es ist ein prononciertes und zugleich ein ambivalentes Urteil. Dieses fällte ausgerechnet der Komponist Mahler, der Puccinis erste Oper LE VILLI (1884) im Jahr 1892 in Hamburg dirigierte, sich dann jedoch über viele Jahre hinweg aus einer tiefen Abneigung heraus weigerte, nachfolgende Opern von Puccini in Wien aufzuführen, wo er Direktor an der Hofoper war. Gleichzeitig sicherte die TOSCA dem damals noch nicht ganz etablierten Musiker Giacomo Puccini (1858-1924) einen großen nationalen
1 Der folgende Beitrag ist eine erweiterte Form meines Vortrages „Wort, Bild, Stimme, Atmosphäre. Zu Opern von Giacomo Puccini“, den ich am 12. Dez. 2003 im Rahmen des Workshops „Literale und visuelle Kultur“ am Forschungskolleg Medienumbrüche (in Verbindung mit dem ZfL Berlin) der Universität Siegen gehalten habe. 2 Vgl. Carner, Mosco: Puccini. Biographie, Frankfurt a.M./Leipzig 1996, S. 292. Im Buch von Michele Girardi heißt es „a masterly piece of trash“. Vgl. Girardi, Michele: Puccini. His International Art, Chicago/London 2000, S. 190. 3 Vgl. Leukel, Jürgen J.: Studien zu Puccinis IL TRITTICO. IL TABARRO – SUOR ANGELICA – GIANNI SCHICCHI, München/Salzburg 1983, S. 7.
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wenn nicht internationalen Ruhm und das Renommee eines Opernkomponisten aus Italien. Mahlers Urteil steht symptomatisch für eine jahrzehntelange zwiespältige Rezeption der Opernkunst Puccinis: Trotz des bereits zu Lebzeiten erreichten großen Erfolgs auf globalen Opernbühnen wurden seine Opern von der Musikkritik lange wenig positiv aufgenommen. Schon während seines Schaffens gab es kritische Stimmen, die seiner Musik „Konzessionen an den Publikumsgeschmack, Sentimentalität, ja sogar Verlogenheit vorwarfen und in seinen Opern den Niedergang des italienischen Musiktheaters“4 zu sehen glaubten. In der neueren Forschungsliteratur sowie in den Biographien über Giacomo Puccini wird deshalb häufig diskutiert, warum Puccini trotz der ungebrochen nachhaltigen Popularität seiner Musik dennoch nicht zu den Allergrößten seiner Zunft zählt, wie etwa Verdi, Mozart oder Beethoven. Im Zusammenhang mit Giacomo Puccini sprach man nicht von einem musikalischen Genie, sondern vielmehr von einem Grenzfall, wie es in Gustav Mahlers Kritik angedeutet wird.5 Es ist noch nicht lange her, dass man begann, sich ernsthaft wissenschaftlich damit auseinander zu setzen, wie Giacomo Puccini ein gewichtiger Platz in der italienischen Operngeschichte eingeräumt werden könnte. Dies belegen Aussagen wie „Puccini ist nicht nur eine bedeutende Figur der Operngeschichte, er repräsentiert auch einen entscheidenden und konsequenten Standpunkt des musikdramatischen Denkens“6 oder „die interessanteste Erscheinung unter den italienischen Komponisten nach Verdi“, mit dem „die in einer langen Tradition gereifte italienische Oper ihren vorläufigen Abschluss erreicht“.7 Es stellt sich die Frage, woher eine solch zwiespältige Rezeption der Opern Puccinis kommt und ob diese nicht mit einem programmatisch angelegten Opernkonzept des Komponisten zu tun hat. Die kritische Aufnahme der Opern Puccinis hat offenbar mit den Diskontinuitäten zu tun, welche die Fortentwicklung der Oper um 1900 mit sich brachte. Man könnte diese Phase als ‚Traditionszerfall‘ bezeichnen, der der traditionsbewusste Komponist Puccini sich nicht entziehen konnte, oder aber auf einen medialen Umbruch zurückzuführen ist, der um 1900 sowohl mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Veränderungen als auch mit einem beschleunigten technischen Fortschritt einherging, beispielsweise 4 Vgl. Marggraf, Wolfgang: Giacomo Puccini, Wilhelmshaven 1979, S. 5. 5 Vgl. Korfmacher, Peter: Exotismus in Giacomo Puccinis TURANDOT, Köln 1993, S. 12-13. 6 Vgl. Carner (wie Anm. 2), S. 435. 7 Bögel, Hartwig: Studien zur Instrumentation in den Opern Giacomo Puccinis, Tübingen 1978, S. 4f.
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der Entwicklung von Ton- und Bildträgern. Edison hatte Methoden zur Tonaufzeichnung erfunden, und die Gebrüder Lumière stellten in Paris 1895 zum ersten Mal den Film vor, der mediengeschichtlich ein Novum darstellte und die menschlichen Wahrnehmungsformen verändern sollte. Obwohl Puccini häufiger Kinobesucher war, lehnte er verschiedene Angebote, Filme zu vertonen, strikt ab.8 Seine Berufung war eindeutig die Oper, und zwar im Sinne eines Künstlers, dessen künstlerische Wurzeln im 19. Jahrhundert lagen und der seine Aufgabe im Musiktheater sah. Festzuhalten bleibt allerdings, dass das Medium Oper auf gesellschaftlichen Wandel und tief greifende Umbrüche stets reagiert, diese antizipiert, spiegelt, verarbeitet und „keineswegs abgeschlossen eine Eigenentwicklung durchmacht, die ausschließlich innerästhetischen Gattungsgesetzen folgen würde, sondern vielfach beeinflusst ist von jenen Bedingungen, unter denen sie entsteht und realisiert wird“.9 So hat auch Puccini auf solche Umbrüche reagiert, und zwar subtiler, als man bisher angenommen hat. Um Puccinis musikalische Reaktion auf den Wandel der Medienlandschaft, insbesondere auf das neue Medium Film, zu beschreiben, scheint es angebracht, die Kritiken zu seinen Opern ernst zu nehmen. Einer der wichtigsten Kritikpunkte betraf die Begrenztheit der Sujets: sie seien ‚kitschig und melodramatisch‘, ‚trivial‘, sogar ‚vulgär‘. Wegen der Nähe zur Unterhaltungsmusik klinge seine Musik, ‚banal, sentimental, hohl‘. Dieser über einen langen Zeitraum währende Vorwurf des Kitsches (‚Puccini habe ohne Rücksicht auf Mögliches oder Unmögliches dem Kitsch die Bahn gebrochen‘) ist für die folgende Argumentation in zweierlei Hinsicht interessant. Der Vorwurf hat zum einen, wie Hartwig Bögel konstatiert, mit einer allgemeinen Geringschätzung der südländischen – sprich italienischen – Oper im deutschsprachigen Raum zu tun. Bereits Friedrich Nietzsche hat in seiner Polemik, die sich gegen Richard Wagner als den „modernen Künstler par exellence“ richtete, vor „Leidenschaft“ und „Melodie“ heftig gewarnt, die die Massen überwältigen: Das Haschen nach niederem Sinnesreiz, nach der sogenannten Schönheit hat den Italiener entnervt: bleiben wir deutsch! […] Lassen wir niemals zu, dass die Musik ‚zur Erholung diene‘, dass sie
8 Vgl. Girardi (wie Anm. 2), S. 327. 9 Bermbach, Udo/Konold, Wulf: „Überlegungen zur Entwicklungsgeschichte der Oper. Eine Einleitung“, in: Udo Bermbach/Wulf Konold (Hrsg.): Der schöne Abglanz. Stationen der Operngeschichte (=Oper als Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen: Hamburger Beiträge zur öffentlichen Wissenschaft, Bd. 9), Berlin/Hamburg 1992, S. 9-28, hier: S. 14.
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HYUNSEON LEE ‚erheitere‘; dass sie ‚Vergnügen mache‘. Machen wir nie Vergnügen! […] Das ist schlechtes achtzehntes Jahrhundert.10
Zum anderen drückt sich in der bewussten Übernahme von Kitsch11 ein sehr modernes Element, sogar ein avantgardistisches Potenzial damaliger Oper aus, das mit dem Enthusiasmus der frühen Avantgarde für die populäre Kunst oder den Film zu tun haben dürfte. Die um die Jahrhundertwende gerade entstehende Massenkultur bot einer mit den traditionellen Künsten nicht vertrauten Zuschauerschaft neue Reize, und es war gerade die exhibitionistische Qualität der Populärkunst um die Jahrhundertwende, ihr „Freisein von jeglicher Diegese, ihre Betonung des direkten Reizes“12, welche sie für die Avantgarde so attraktiv machte. Dass die populäre Unterhaltung zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine gewaltige Befreiung bot, wird durch die rasante Entwicklung der Unterhaltungsindustrie seit 1910 und ihre wachsende Akzeptanz durch die Kultur der Mittelschicht deutlich. So wie Marinetti und Eisenstein sich diesen künstlerischen Stimulus von den volkstümlichen Künsten ausleihen und ins Kino verpflanzen wollten, um so die populäre Energie für radikale Zwecke nutzen zu können, wollten Opernkomponisten wie Giacomo Puccini oder Alban Berg umgekehrt genau die neuen Reize des Films in die Oper einführen, um einem drohenden Stillstand in der Entwicklung der Oper entgegenzuwirken. Die Oper, im 18. und 19. Jahrhundert insbesondere in Italien das herausragende Massenmedium, drohte zu Beginn des 20. Jahrhunderts u.a. durch neu hinzukommende Medien wie Film und Grammophon ihr Publikum zu verlieren. Daher suchte Puccini ganz gezielt die Nähe zur Masse, mit den verschiedensten ästhetischen – darunter auch filmischen 10 Nietzsche, Friedrich: „Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem“, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988, Bd. 6, S. 11-53, hier: S. 26f. 11 Siehe Ueding, Gert: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt a.M. 1973, S. 12: „Der Kitsch ist weder eine latente Möglichkeit der Kunst als solcher noch auch ‚eine latente Möglichkeit des Menschen überhaupt‘ – wie Ludwig Giesz meint –, also keine von der Geschichte getrennte Abstraktion oder anthropologische Konstante. Als ein in Kunst und Literatur erfassbares und aufweisbares Phänomen ist er Bestandteil der geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtentwicklung und nur als solcher adäquat darstellbar. Sämtliche Versuche, allein mit ästhetischen Systematisierungen (mit dem Ziel, eine Ästhetik des Kitsches zu begründen) den Kitsch zum Gegenstand zu machen, müssen scheitern.“ 12 Gunning, Tom: „Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde“, in: Meteor, 4 (1996), S. 25-34, hier: S. 30.
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– Mitteln, um den oft prophezeiten ‚Tod der Oper‘ zu verhindern. Während seiner Arbeit an der FANCIULLA DEL WEST (1910) brachte Puccini in einem Brief diese bedrohliche Situation der Oper bzw. seine Versuche, sie zu ‚retten‘, wie folgt zum Ausdruck: Sich erneuern oder sterben? […] ich habe mir geschworen, wenn ich den richtigen Stoff finde, es immer noch besser zu machen auf dem Weg, den ich eingeschlagen habe, und sicher nicht zurückzubleiben.13
Es war kein Zufall, dass die in Amerika vielfach gefeierte Oper LA WEST, die ein unmittelbares Ergebnis dieses Umbruchs darstellt, nach der umjubelten New Yorker Premiere im Jahr 1910 von den europäischen Musikkritikern als „Wildwest“ wie auch als „Kinomachwerk“14 zerrissen wurde. Im Film, der im Laufe des 20. Jahrhunderts zum dominanten Medium avanciert, wird der trash – das Kitschige – vor allem in Verbindung mit der Populärmusik aufblühen. Es liegt nahe, dass die Übergänge eines solchen Opern-Melodramas, oder ‚Meistermachwerks‘, zum modernen bzw. avantgardistischen Kitsch, wie ihn Hollywood-Filme bieten, fließend sein können.15 FANCIULLA DEL
2.
Latente Avantgarde? Eigentlich will die Avantgarde das wenige retten, was noch zu retten ist. Sie sucht nicht den Untergang der Tradition, sondern umgekehrt eine Rettung vor diesem unvermeidlichen Untergang – wenn auch mit leichtem Gepäck. Nur derjenige, der nicht merkt, dass sein historisches Haus brennt, kann den Retter, der das wenige retten will, was noch zu retten ist, für den Brandstifter halten. Genau
13 Puccinis Brief an Clausetti vom 9. Juli 1911. Vgl. Carner (wie Anm. 2), S. 305; Girardi (wie Anm. 2), S. 327. 14 Leukel, Jürgen J.: „Puccinis kinematographische Technik“, in: Neue Zeitschrift für Musik, 143, 6/7 (1982), S. 24-26, hier: S. 24. 15 Dagegen zog Clement Greenberg noch im Jahr 1939 klare Grenzen zwischen Kitsch und Kunst. Er betrachtete Kitsch als „rearguard“ (Nachhut) von „avant-garde“ und nannte solche kulturellen Artefakte wie „popular, commercial art and literature with their chromeotypes, magazine covers, illustrations, ads, comics […] Hollywood movies, etc.“ (S. 11). Vgl. Greenberg, Clement: „Avant-Garde and Kitsch“, in: ders.: The Collected Essays and Criticism, hrsg. v. John O’Brian, Chicago/London 1988, Bd. 1, S. 5-22.
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HYUNSEON LEE diese Verwechselung liegt der Lyotard’schen Theorie der Avantgarde aber zugrunde.16
So interpretiert Boris Groys das Avantgarde-Verständnis von Jean-François Lyotard als eine Art Achterbahn, die den Betrachter ständig erneut erschreckt und ihm damit Atem und Zeit raubt. Für Groys selbst ist die Avantgarde jedoch keine Achterbahn, sondern er versteht sie gerade als eine Form der Erlösung von einer Achterbahn – als ‚Errettung‘ aus einer Lage, in der das Gefühl herrscht, dass es nicht mehr dauert, dass man am Ende ist, weil man immer nur mit Überraschungen und Schocks konfrontiert wird. Im Sinne einer avantgardistischen Achterbahn mit immer neuen Schocks und einer ewigen Wiederholung der Überraschung lassen sich Puccinis Opern nicht begreifen. Aber auch zu einer radikalen Avantgarde, wie Groys darlegt, die vielmehr „eine unendliche Perspektive der monotonen, medialen Langeweile“ darstellt, „die sich einstellt, nachdem alles Überflüssige, Zufällige, historisch Bedingte und Unterhaltsame reduziert oder ganz entfernt wird, um Platz für die reine Botschaft des Mediums zu schaffen“17, lassen sich Puccinis Opern schwer rechnen, weil man bei ihm genauso wenig von einem ‚Fundamentalismus der Zukunft‘ sprechen kann, der alle Avantgarden auszeichnet. Bei Puccini kann man auch nicht ohne weiteres den Versuch erkennen, das Medium freizulegen, um die Kunst der Institution zu entziehen und damit zukunftsresistent zu machen; jene Programmatik der Avantgarde, „den Fortschritt der Kunst durch Reduktion ihrer veränderbaren historischen Merkmale auf einen Nullpunkt zu bringen“.18 Puccini ging seinen eigenen Weg und hinterließ seine originelle ‚Visitenkarte‘ in der Operngeschichte. Er fühlte sich in der italienischen Operntradition zutiefst verwurzelt. Der Tradition verpflichtet blieb er in seiner Musiksprache. Trotz seines lebhaften Interesses an dem Neuen, Fremden verließ er nicht die traditionellen tonalen Grundlagen seiner Musik, wie es andere Zeitgenossen vollzogen. Exotismen, Ganztonskala und Pentatonik dienten akzidentiell der jeweils entsprechenden Farbgebung und Charakterisierung von Personen und Situationen. So konnte Alfredo Colombani im Februar 1893 anlässlich der Aufführung der MANON LESCAUT schreiben:
16 Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München/Wien 2000, S. 197. 17 Groys (wie Anm. 16), S. 202. 18 Groys (wie Anm. 16), S. 198.
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If any of our young composers has understood the famous motto ‚Let us return to the past‘, it is Puccini. […] Manon is, in a sence, an opera of classic character. Its music has the developmental character and style of the great symphonists, without relinquishing the expression needed by the drama, and without giving up what might be called an ‚italianità‘ of melody. Puccini is a true Italian genius. His lyricism is born of our paganism, our artistic sensualism.19
Trotz seiner Bewunderung für manche stilistischen Merkmale der Musik Debussys, Strawinskys und Schönbergs konnte Puccini den Weg zur ‚Neuen Musik‘, aber auch den des Futurismus, nicht mitgehen, dessen Grundlage darin lag, „im Geräusch eine zeitbedingte Erweiterung des musikalischen Klangs zu finden und dem Menschen eine ihn an die akustische Umgebung seiner Zeit erinnernde Musik als Ausdruck seines Erlebens zu geben“.20 Während die Futuristen die Musikentwicklung um 1900 mit dem neuen Klang- und Geräuschbewusstsein ‚revolutionieren‘ wollten, versuchte Puccini die Oper zu ‚reformieren‘, zumal diese allgemein als die Krönung der traditionellen italienischen Musik galt, was sie zum Hauptangriffsziel der italienischen Musikavantgardisten machte. Dennoch kommt man nicht umhin, Puccinis Opernkunst mit der Bewegung der italienischen Avantgarde in Zusammenhang zu bringen, weil er nicht nur mit dem Umfeld der musikalischen Avantgardisten um 1900 direkt konfrontiert war, sondern seine Opernkunst auch an die medienavantgardistische Kunstpraxis grenzt. Um diesen Zwischenraum des nicht manifesten Avantgardismus, das heißt die über die Modernität hinausgehenden unterschwelligen innovativen Verfahren, besser zu erläutern, benutze ich den von K. Ludwig Pfeiffer eingeführten Begriff der latenten Avantgarde.21 Die geläufige Meinung bzw. Unterstellung, dass Puccini kaum theoretisch über das Medium Oper reflektiert habe, unterstützt meine These einer latenten Avantgarde, weil die medienreflexive Ebene seiner Opernkunst in diesem Falle unbewusst oder latent mit ein19 Zit. nach Girardi (wie Anm. 2), S. 60. 20 Fellerer, Karl Gustav: Studien zur Musik des 19. Jahrhunderts. Bd. 4: Vom Musikdrama zum Futurismus, Regensburg 1989, S. 266. Ferner zum musikalischen Futurismus im Kontext der Futurismusbewegung, Tisdall, Caroline/Bozzolla, Angelo: Futurism, London 1996, S. 111-120. Balilla Pratella („Manifesto die musicisti futuristi“) und Luigi Russolo („L’arte dei rumori“) sahen die Aufgabe der neuen Musik darin, radikal-neue Klänge sowie Geräusche zu schaffen, da das Ohr in der vom Maschinen- und Verkehrslärm erfüllten Umgebung andere Voraussetzungen hat, als sie dem Menschen des 18. Jahrhunderts gegeben waren. 21 Pfeiffer, K. Ludwig: „Medienanthropologie im Horizont programmatischer, latenter, konservativer Avantgarde“, Symposion Gegenwart: Schnell. Ralf Schnell zum 60. Geburtstag, Universität Siegen, 17.10.2003.
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fließen würde. Z.B. betont Marggraf „das Unreflektierte, Unproblematische an Puccinis Musikertum“.22 Die radikalen Versuche, die Null-Ebene der Kunst zu erreichen – im Sinne von Boris Groys – , wurden bekanntlich von den historisch als klassisch geltenden Avantgarden wie Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus oder Futurismus usw. unternommen. Und in der Geschichtsschreibung verband man lange Zeit mit dem Begriff der Avantgarde ausschließlich jene Linie, die hauptsächlich einen radikalen Bruch mit dem traditionellen Prinzip der Mimesis in der Kunst vollzog wie im Fall der bildenden Kunst oder der Literatur. Im Vergleich zu dieser Art manifestem Avantgardismus, den ich mainstream- oder elitäre Avantgarde nennen möchte, hat die postmoderne Entwicklung den Blick für eine andere, weniger elitäre und mehr populäre Avantgarde geöffnet, die man als latente Avantgarde bezeichnen könnte.23 Zu dieser ‚anderen‘ Avantgarde gehören bestimmte Stummfilm-Genres, z.B. ‚das Kino der Attraktionen‘, dessen Verzicht auf Semantik und Betonung des Performativen die Avantgarden faszinierte. Mein Versuch, Puccini unter dem Aspekt einer latenten Avantgarde zu betrachten, rührt in erster Linie von dem Eklektizismus her, der für seine Opernkunst charakteristisch ist. Puccini stand – sowohl biographisch als auch künstlerisch – an der Schnittstelle zwischen Tradition und Moderne. Er hat konsequent versucht, einerseits die herkömmliche italienische Operntradition beizubehalten und andererseits all die zeitgenössischen modernen Impulse produktiv aufzunehmen, so dass man von ihm als dem letzten Vertreter der italienischen romantischen Oper sprechen kann, ihn aber gleichzeitig als einen modernen und darüber hinaus latent avantgardistischen Opernkomponisten bezeichnen könnte. Die traditionelle italienische Opernästhetik, aber auch die moderne internationale Musik- und Kunstentwicklung nahm Puccini stets zur Kenntnis, und diese befruchteten seine Opernkunst. Er ließ sich jedoch keineswegs von einer bestimmten Richtung vereinnahmen, auch nicht von der italienischen Avantgarde. Puccini hatte von Beginn seiner Karriere an enge Berührungen mit den italienischen Avantgardisten. Vor allem sind es lokale Musikergruppen, die Puccinis Verhältnis zur Avantgarde-Bewegung seiner Zeit prägen. Die erste Gruppe bestand aus jungen Musikern, der die Mailänder den Spitznamen La Scapigliatura gaben, was so viel bedeutet wie ‚La 22 Marggraf (wie Anm. 4), S. 201. 23 Siehe zum Begriff der (Medien-)Avantgarde den Beitrag von Ralf Schnell im vorliegenden Band.
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Bohème‘. Zu diesen jungen Bilderstürmern, die sich gemeinsam als eine innovative Künstlergruppe verstanden, gehörten neben Puccini u.a. Fontana, der Librettist der ersten Puccini-Oper LE VILLI, ferner Ponchielli, Leoncavallo, Mascagni und Franchetti.24 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Puccini sowohl institutionell als auch künstlerisch von der ersten Oper an ein Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne in der italienischen Operngeschichte ermöglicht wurde. Nicht nur der Verleger Giulio Ricordi, der sich ausdrücklich für die Erhaltung der Tradition in der italienischen Oper engagierte, stand an seiner Seite, sondern auch Arrigo Boito, der während der kurzen Scapigliature-Bewegung mit seiner modernen Ästhetik einen Bruch mit der Tradition verursachte. Dagegen repräsentierte Ponchielli im Vergleich zu Boito eine Kontinuität zwischen Tradition und Moderne. Die zentralen Mitglieder der Scapigliature sind in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu Vertretern des italienischen Opernrealismus oder – noch treffender – des Naturalismus, bekannt als Verismo (vero=wahr), geworden.25 Pietro Mascagnis Einakter CAVALLERIA RUSTICANA (1890) und Ruggero Leoncavallos I PAGLIACCI (1892) bekommen eine zentrale Funktion für die Entwicklung des Verismo. Das vordringliche Merkmal des Verismus ist das Übermaß, das ungehemmte Aufblähen jedes dramatischen und emotionalen Moments. In schneller Folge jagt ein Höhepunkt den anderen, und kaum ist eine Atmosphäre hergestellt, wird sie auch schon wieder zerstört. Und da die exzessive Spannung nicht über lange Zeit aufrechterhalten werden kann, wird der Einakter die bevorzugte Form der veristischen Oper. Auch Puccini hatte sich über den veristischen Einakter Gedanken gemacht, deren Ergebnisse erst Jahre später als die drei Opern-Einakter IL TRITTICO (1918) erschienen, zu denen GIANNI SCHICCHI, IL TABARRO und SUOR ANGELICA gehören. Ob diese als veristische Opern überhaupt gelten, ist umstritten, wie auch Puccinis Position innerhalb der veristischen Bewegung. Im Gegensatz zum Großteil der veristischen Komponisten konnte er eine umfassende und ungebrochene Aufführungstradi24 Siehe zur literarischen Scapigliature und deren Verhältnis zur Oper Mähder, Jürgen: „Die italienische Oper des Fin de siècle“, in: Udo Bermbach/Wulf Konold (Hrsg.) (wie Anm. 9), S. 181-210. 25 Das Libretto ist das eigentlich realistische Element der realistischen Oper. Die charakteristischen Merkmale eines solchen Librettos lassen sich aus Émile Zolas Passage über den realistischen Roman entnehmen. Vgl. Carner (wie Anm. 2), S. 449f.; ferner Hemmings, F.W.J.: Émile Zola, London 1953.
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tion entwickeln und legte großen Wert darauf, dass die Oper anderen Gesetzen unterliegt als das Schauspiel und dass das Libretto den poetischen Erfordernissen der Musik entsprechen muss. So sieht Hans Joachim Wagner bei Puccini einen Modus der Reflexivität, den er ‚vermittelten Verismo‘, einen ‚Meta-Verismo‘ nennt.26 Obwohl Puccini seine Karriere als Verist weder begann noch beendete, galt er im Bewusstsein der Zeitgenossen – insbesondere in den Augen der Avantgardisten wie Boito oder Torrefranca – als Verist. Puccini wurde zum Hauptangriffsziel jener heftigen Attacken, die italienische Avantgardisten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gegen den Verismus und gegen die Oper schlechthin richteten. Der Angriff des Musikwissenschaftlers Fausto Torrefranca – er war der geistige Führer dieser Gruppe und Autor des Buches Giacomo Puccini e l’opera internazionale (1912) – basierte auf der Prämisse, dass die italienische Musik ihre große Tradition nicht in der Oper, sondern in der Instrumentalmusik des 17. und des 18. Jahrhunderts habe. Die Oper sei überhaupt eine ‚Promenadenmischung‘ und ungeeignet, den heimischen musikalischen Genius zu repräsentieren. Die Verderbnis hatte nach seiner Meinung mit Monteverdi begonnen, und Puccini sei ein Beispiel für „die ganze Dekadenz der gegenwärtigen italienischen Musik“ mit ihrer „zynischen Kommerzialität, ihrem Mitleid erregenden Unvermögen und dem Triumph des Internationalismus“.27 Puccinis hoher Grad an Professionalität, d.h. sein vielfach anerkanntes handwerkliches Können, die Begabung für die lyrische Melodie, die leidenschaftliche dramatische Phrase, für eine gut ausgearbeitete und geschmeidige Harmonik sowie sein Sinn für farbigen Orchesterklang – diese Eigenschaften zusammengenommen erheben Puccini über die meisten Opernkomponisten seiner Zeit und sicherten seinen Opern zur Lebzeit wie auch bis in die heutige Zeit hinein eine hohe Popularität. Diese Popularität beruht letztendlich auf dem Eklektizismus Puccinis, der sich im Spannungsverhältnis zwischen der traditionellen Opernästhetik und den modernen innovativen Verfahren bewegt. Bereits Puccinis erste Oper zeigt die für ihn charakteristische Mischung aus italienischer passione (Verdi, Catalani) und französischem Sentiment (Gounod, Thomas); sie zeigt aber auch den Einfluss Richard Wagners. In solcher Offenheit gegenüber dem Neuen gründet die bislang skeptische Rezeption seiner Opern im ernsten Musikerkreis, aber auch deren Modernität, die bei sei26 Vgl. Wagner, Hans Joachim: Fremde Welten. Die Oper des italienischen Verismo, Stuttgart/Weimar 1999, S. 325. 27 Zit. nach Carner (wie Anm. 2), S. 465f.
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nen nach 1900 komponierten Stücken, und zwar immer unterschiedlich pointiert, deutlich zu bemerken ist. Puccini war zwar ein Vertreter der traditionsreichen italienischen Volkskunst, der nicht den Weg der Kunst in die Avantgarde mitgehen konnte oder wollte. Doch seine ästhetischen Strategien bzw. die Erneuerungsversuche seines Stils (wie auch der kompositorischen Techniken) führten zu einer Art latenter Avantgarde, in der die Grenze zwischen Unterhaltungs- und Ernstmusik schillert, der ein Keim der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entfaltenden Popularmusik und -kultur innewohnt. Die Oper MADAMA BUTTERFLY (1904) markiert geradezu die ambivalente Schnittstelle zwischen Tradition und Moderne, Offenheit und Zurückhaltung, Ernst und Unterhaltung. Dem latent-innovativen Versuch mit MADAMA BUTTERFLY folgen in noch verstärkter Form die anderen Opern wie LA FANCIULLA DEL WEST und IL TRITTICO und die letzte Oper TURANDOT (1924), sein wahrscheinlich ‚modernstes‘, doch unvollendet gebliebenes Experiment. In diesen Opern kommt die eklektizistische Modernität nicht nur auf musikalischer Ebene, sondern auch thematisch bzw. stofflich – beispielsweise durch den Exotismus – und stilistisch verschieden zum Ausdruck.
3.
Histrionic cinema oder die performative Dimension des Stummfilms
Die Nutzbarmachung des Visuellen, der Akt des Zeigens und Ausstellens kennzeichnet das Kino vor 1906. Das frühe Kino war nicht von dem narrativen Impuls geprägt, der wenig später Macht über das Medium gewinnen sollte. Die Pointe dieses ‚Kinos der Attraktionen‘ lag in der ‚Fähigkeit, etwas zu zeigen‘, statt zu erzählen. Durch den Begriff der ‚Attraktion‘ verbindet Tom Gunning das frühe Kino mit Eisenstein und Marinetti, die sich für das neue Verhältnis zum Zuschauer interessierten. Auf der Suche nach einer „Einheit der Wirksamkeit […] des Theaters überhaupt“, einer analytischen Grundlage, mit der sich das realistische Theater aufbrechen ließ, stieß Eisenstein – inspiriert vom Rummelplatz oder der Achterbahn – auf die „Attraktion“, die den Zuschauer in aggressiver Weise „einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt“.28 Für Eisenstein sollte Theater aus einer Montage solcher Attraktionen bestehen und so eine Beziehung zum Zuschauer 28 Vgl. Eisenstein, Sergej: „Montage der Attraktionen“, in: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2003, S. 58-69, hier: S. 60.
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aufbauen. Marinetti betonte in seinen Schriften über das Varieté-Theater nicht nur dessen „Ästhetik des Staunenmachens“ und der visuellen Reize, sondern die Tatsache, dass es einen neuen Typus des Zuschauers hervorbrachte, der im Gegensatz zum „statischen, stupiden Voyeur“ des traditionellen Theaters stand. Der Zuschauer im Varieté-Theater fühlt sich vom ‚Spektakel‘ direkt angesprochen und nimmt auch daran teil, indem er mitsingt oder sich über die Komiker lustig macht.29 Das Kino der Attraktionen versucht unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen, indem es die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sehr direkte Weise fordert. Es erweckt die visuelle Neugier und bereitet vermittels eines aufregenden Spektakels Vergnügen – an einem einmaligen interessanten, fiktiven oder dokumentarischen Ereignis. Die gezeigte Attraktion kann auch filmischer Natur sein, so wie die frühen Nahaufnahmen oder Tricks, bei denen eine kinematische Manipulation (Zeitlupe, Rückwärtslauf, das Ersetzen von Bildern, Mehrfachbelichtung) das Reizvolle und Neue ausmacht. Die fiktionalen Situationen sind zumeist auf kleine Gags und Vaudeville-Aktionen beschränkt. Diese Art des Filmemachens ist durch das direkte Ansprechen des Publikums gekennzeichnet. Im Gegensatz zum voyeuristischen Aspekt des narrativen Kinos, das nach 1906 zunimmt, ist das Kino der Attraktionen also ein exhibitionistisches Kino, das seine Sichtbarkeit zur Schau stellt. So verwendet das Kino der Attraktionen nur wenig Energie darauf, Figuren mit psychologischer Motivation oder individueller Persönlichkeit auszustatten und die Schauspieler blicken immer wieder direkt in die Kamera.30 Die Periode von 1907 bis ungefähr 1913 repräsentiert die Narrativisierung des Kinos und kulminiert im Aufkommen von Spielfilmen, die das Varieté-Format radikal veränderten. Somit beginnt die Geschichte des Kinos als ein erzählerisches Medium. Seitdem nahm sich das Kino deutlich das herkömmliche Theater zum Vorbild und stellte berühmte Schauspieler in berühmten Stücken vor. Der Blick in die Kamera wird zum Tabu. Die enge Verzahnung zwischen der Oper und dem frühen Kino – also dem Stummfilm – war sozusagen von vornherein auf einer performativen Ebene des Spektakels angelegt. Das frühe Kino der Attraktionen öffnete den Weg zum narrativen Film, und zwar in Verbindung mit den populären Melodramen, die wiederum von der Bühnenkunst auf die 29 Zit. nach Gunning (wie Anm. 12), S. 31. Vgl. Marinetti, Filippo Tommaso: „The Variety Theater 1913“, in: Umbro Apollonio (Hrsg.): Futurist Manifestos, New York 1973, S. 127. 30 Vgl. Gunning (wie Anm. 12), S. 29f.
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Leinwände transferiert worden sind. Das Interesse der frühen Kinematographen an der Oper steht in Verbindung mit der Zuschauerschaft, die sowohl vom Spektakel als auch von der Narration angesprochen werden sollte. Wie Ben Singer am Beispiel des frühen amerikanischen Kinos ausführlich dargelegt hat, spielte der Geschmack des Publikums eine zentrale Rolle in der Übertragung der Melodramen von der Bühne auf die Leinwand.31 Die Synthese von Attraktion und Narration widerspricht also keineswegs der engen Beziehung beider Medien. Und die Oper bot dem Film während der frühen transitorischen Augenblicke der Filmgeschichte die Möglichkeit, flexibel mit den widersprüchlichen Zielen von Spektakel und Narration umzugehen.32 Das Konzept des frühen Kinos, das auf der Attraktion beruht, hat mit der späteren Avantgarde die exhibitionistische Konfrontation anstelle der diegetischen Versunkenheit gemeinsam. Paradox ist allerdings, dass die ‚exhibitionistische Konfrontation‘, anders formuliert: die performative Dimension des Stummfilms, ausgerechnet aus der alten (musik-) theatralischen Tradition hergeleitet wird, von der die Avantgardisten, jene „frühen Modernen (Futuristen, Dadaisten und Surrealisten)“, wie sie Gunning nennt, gerade dieses neue Medium befreien wollten, fasziniert vom Potenzial eines neuen Mediums. In Bezug auf die diversen Verquickungsformen jener traditionellen Künste – hier insbesondere der Oper – mit dem Kino betont Noël Burch vor allem, dass das Bedürfnis nach der Reproduktion der theatralischen, literarischen, visuellen, aber auch teilweise opernhaften Repräsentation ein Teil der komplexen kulturellen Fantasien war. Kino war, so Burch „a series of researches whose ultimate aim remained the reproduction of life [...] an analogue of reality and, at the same time, ‚a lyrico-theatrical dream for a perfectly reproduced reality‘ no less than operatic in its effect“.33 Symptomatisch für solche opernhaften Filme bzw. die transitorischen Augenblicke zwischen Oper und Film stehen die Umstände, dass zahlreiche Opern in der so genannten Stummfilm-Ära verfilmt wurden34 31 Vgl. Singer, Ben: Melodrama and Modernity. Early Sensational Cinema and Its Contexts, New York 2001, S. 167f. 32 Vgl. Theresa, Rose: „From Méphistophélés to Méliès“, in: Jeongwon Joe/dies. (Hrsg.): Between Opera and Cinema, New York/London 2002, S. 1-18. 33 Vgl. Burch, Noël: Life to Those Shadows, Berkeley/Los Angeles 1990, S. 49. 34 Als Beispiele dienen u.a. PARSIFAL (Regie: Edward S. Porter/1904), eine stumme Version von LA BOHÈME (Regie: King Vidor/Mitte 1920er Jahre)
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und dass die Filmhauptrollen häufig von berühmten Schauspielerinnen oder Opernsängerinnen besetzt wurden. Diese Ära der großen europäischen (Stummfilm-)Diven nannte Salvador Dalí „the grandiose époque of hysterical cinema“ und machte auf einen „arroganten weiblichen Exhibitionismus“ in diesem theaternahen Kinogenre aufmerksam.35 Damit meinte er die italienischen Diven der Vor- und Nachkriegszeit wie Bertini, Serena, Carminati, Menichelli u.a. Auch nichtitalienische Stummfilmdiven gab es reichlich, deren Filmrollen charakteristisch für die enge Beziehung zwischen der Oper und dem Stummfilm sind, und zwar mit dem dafür charakteristischen ‚histrionic acting‘: jene unnatürliche, auffällige, übertriebene Performance. Zu betonen ist, dass der Stummfilm sich von Anfang an bestimmter Elemente der Oper bedient hat, deren anschauliches Beispiel Lesley Stern in Sarah Bernhardts theatralischen, übertriebenen, extravaganten, kurz: ‚caricaturedly histrionic‘ Performanzen im Stummfilm erläutert. Stern sieht in den durch die Fotografie still gestellten Gesten Bernhardts ein klares Beispiel der speziellen Dimension des ‚histronic acting‘, das sie ‚operality‘ (Opernhaftigkeit) nennt.36 Sarah Bernhardt, deren Performanz in Sardous Theaterstück LA TOSCA bereits Puccini sehr beeindruckte, gilt als am wenigsten filmisch unter den europäischen Diven und markiert ein transitorisches Moment, wenn die als anachronistisch geltende Theatralität von ihr deutlich zum Einsatz gebracht wird. Bernhardt hat in den vier Filmen, die bereits als Opern inszeniert worden sind – darunter LA TOSCA – gespielt, und ihre heute exzessiv wirkenden Darstellungen wurden eher als opernhaft denn als theatralisch empfunden. Ihre angehaltene Pose wie auch ihre DivaGestik betonen die im Körper still gestellte Leidenschaft. Solche Gestik spiegelt keinen Charakter wider, und der Verzicht auf eine Semantik weist auf eine performative Dimension der Oper des 19. Jahrhunderts hin, die mit dem frühen ‚Diva-Kino‘ einhergeht. Dieses Kino, das die intermediale Kreuzung von tänzerischen, opernhaften und theatralischen Avantgarde-Praktiken mit den speziell filmischen Performanz-Codes ilund ROSENKAVALIER (Regie: Robert Wiener/1926). Vgl. Citron, Marcia, J.: Opera on Screen, New Haven 2000, Chapter 2. 35 Dalí, Salvador: „Abstract of a Critical History of the Cinema“, in: Paul Hammond (Hrsg.): The Shadow and Its Shadow: Surrealist Writings on the Cinema, Edinburgh 1991, S. 70. Zit. nach Stern, Lesley: „The Tales of Hoffmann. An Instance of Operality“, in: Jeongwon Joe/Rose Theresa (Hrsg.): Between Opera and Cinema, New York/London 2002, S. 39-58, hier: S. 46f. 36 Zit. nach Stern (wie Anm. 35), S. 40.
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lustriert, nennt Lesley Stern in Anlehnung an ‚die richtige kinematographische Theatralität‘ von Gilles Deleuze ‚histrionic cinema‘.37 In diesem pointierten, emotional beladenen affektiven Kino geht es unter anderem darum, wie die Gestik artikuliert wird, wie sie performiert wird, und zwar nicht nur von den Schauspielern, sondern auch durch den gesamten Kinoapparat, der die Schauspieltechnik und die kinematographischen Techniken überhaupt mit einbezieht. Zu diesem Kinoapparat gehört in der Stummfilmära vor allem ein Kinematographentheater, in dem der Stummfilm von verschiedenartigen Live-Musiken begleitet wurde. Die Live-Musik in Verbindung mit dem applaudierenden Publikum verleiht der Filmaufführung einen Gesamtkunstcharakter. Es stellt sich nun die Frage, wie sich solch ein ‚histrionic cinema‘ oder die performative Dimension des Stummfilms zum Melodrama verhält, das hauptsächlich von den Handlungen lebt, die bei der Sinnsuggestion wie -konstitution eine zentrale Rolle spielen sollten. Lesley Stern versucht ‚melodramatic cinema‘ und ‚histrionic cinema‘ deutlich zu differenzieren.38 Ben Singer zeigt dagegen einen Ansatz, eine solch scharfe Trennung zu eliminieren, indem er eine – mittlerweile breit akzeptierte – Korrespondenz zwischen Melodrama und expressionistischem Exzess betont.39 Die in den traditionellen Bühnenmelodramen durch das ‚histrionic overacting‘ vermittelten Emotionen und Exzesse seien nach wie vor in den populären frühen Hollywood-Melodramen zu finden, trotz der Transformation des sensationellen Melodramas und verursacht durch die moderne Technik – stumm, schwarz-weiß, und reproduzierbar. Ein gutes Hollywood- Melodrama sollte das Publikum zum Weinen bringen und starke Emotionen wie Pathos hervorrufen. Bei Singer heißt es: Whatever the stylistic and structural differences between stage melodrama and film melodrama, there is no question that movies succeeded in capturing the essence of sensational melodrama. Movies delivered abundant rapid action, stimulating violence, spectacular sights, and the thrills of physical peril, abductions, and suspenseful rescues. On a narrative level, film melodramas relied on similar story lines emphasizing pure villainy and heroism cata37 Vgl. Stern (wie Anm. 35), S. 41. 38 Stern (wie Anm. 35), S. 43-44. 39 Singer schlägt vor, den Begriff Melodrama als eine Art cluster concepts zu betrachten, d.h. „to view melodrama as a term whose meaning varies from case to case in relation to different configurations of a range of basic features or constitutive factors“. Als fünf konstitutive Schlüsselfaktoren eines Melodramas nennt er pathos, overwrought emotion, moral polarization, non-classical narrative structure, sensationalism. Vgl. Singer (wie Anm. 31), S. 44f.
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HYUNSEON LEE lyzed by the villain’s jealousy and/or greed and often relying on extraordinary coincidents, sudden revelations, and unexpected twists of circumstance. […] The earliest film melodramas were too brief to allow developed stories, but nevertheless they emulated stage melodrama in their use of artificial stagecraft to render sensation scenes.40
Um eine solche Schnittstelle bzw. Synthese zwischen dem Bühnenmelodrama und dem Kinomelodrama, ‚melodramatic cinema‘ und ‚histrionic cinema‘, aber auch zwischen dem Spektakel (bzw. der Attraktion) und der Narration zu lokalisieren, ist es angemessen, mit dem Verhältnis zwischen Performanz und Sinn zu argumentieren. Man kann auch im ‚histrionic cinema‘ ein sinnkonstituierendes Moment nicht ausschließen, genauso wenig wie man beim Melodrama auf die performative Ebene verzichten kann. Diese Lage hat K. Ludwig Pfeiffer folgendermaßen beschrieben: Medialisierte Ritualisierung steigert ihre Wirkungsmöglichkeiten jenseits ökonomisch-massenmedialer Konjunkturen in dem Maße, in dem sie sich auf die technisch raffinierte Inszenierung kaum ausblendbarer, insofern anthropologischer (das heißt auch körperlicher) Dimensionen verlegt. Entscheidend ist dabei deren performativer Primat. Die Performanz treibt den von ihr erzeugten Formen einen möglichen (oft sogar konventionellen) Sinn nicht aus. Aber Performanz und Sinn sind nicht zwangsläufig, nicht hermeneutisch kontrolliert oder parallel geschaltet, sondern kontingent, oft in der Weise der Nachträglichkeit gekoppelt.41
Zu vermuten ist, dass der Handlungskitsch solch ein kontingentes Moment markieren kann, und zwar sowohl im Stummfilm wie auch in der Oper, in der häufig das Libretto allein den realistischen Aspekt darstellt. Die Stummfilmdiva Asta Nielsen, die mit „ihren zugegebenermaßen oft recht kitschigen Filmen“ ungeheure Popularität genoss, schrieb rückblickend dazu im Jahr 1928: Auch die zumeist kitschige Handlung meiner damaligen Filme, die nahezu ausschließlich sentimentale Motive enthielten, hat sicherlich geholfen, mich in so weiten Kreisen populär zu machen. Der Handlungskitsch war eine, wenn auch bedauerliche, so doch für
40 Singer (wie Anm. 31), S. 192. 41 Pfeiffer, K. Ludwig: „Phänomenalisierung und Sinnsuggestion: Performative Intermedialität und die Oper“, in: Sybille Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 325-346, hier: S. 337.
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den Anfang unerlässliche Konzession zur Popularisierung des Films.42
Béla Balázs suchte die damals oft bezweifelte „Berufenheit des Films, eine eigene, wirkliche Kunst zu werden“, weniger im Textbuch – d.h. Drehbuch –, als in der Performativität des Gesichts Asta Nielsens. Die Asta-Nielsen-Erotik würde darin durch die Augen und Mimik ‚vergeistigt‘ bzw. ‚spiritualisiert‘: Das Textbuch dieses Films ist gleichgültig. Es ist gut, denn es gibt Spielgelegenheit für Asta Nielsen. Es ist ausgezeichnet, weil der wesentliche Inhalt nicht eine auch novellistisch erzählbare Fabel ist, sondern ein Schicksal, dessen Stürme auf einem Gesicht sichtbar werden. Und dieses Gesicht wird zu einer dramatischen Bühne, die aus den Fugen geht vor den auf ihr tobenden Leidenschaften, es wird zu einem Schlachtfeld, auf dem sich aufregendere Kämpfe abspielen als zwischen den Komparsenmassen der Hindenburg-Regisseure. Es ist das Gesicht Asta Nielsens.43
4.
Atmosphäre, Performanz und Melodrama
Puccinis Suche nach einem interessanten Thema ist gleichbedeutend mit einer Jagd nach einem guten inspirierenden Libretto (Textbuch), wie er sich selbst als „einen passionierten Jäger auf Wasservögel, gute Texte und schöne Frauen“44 genannt hatte. Die Jagd nach einem Libretto ‚voller Leidenschaft und Schmerz‘ mit ‚reizenden Episoden‘ bedeutete bereits die halbe Arbeit. Er widmete dann die größte Aufmerksamkeit seiner Ausarbeitung, d.h. der dramaturgischen Bühnenadaption. Da Puccini das gewünschte Libretto selber nicht schreiben konnte, war er stets auf seine Librettisten angewiesen.45 Diese intensive Suche nach einem
42 Beide Zitate Habel, Frank-Burkhard: „Verrückt vor Begehren“. Die Filmdiven aus der Stummfilmzeit. Ein leidenschaftlicher Blick zurück in die Zeit der ersten Stars von F.-B. Habel, Berlin 1999, S. 17-18. 43 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M. 2001, S. 110. 44 Krause, Ernst: Puccini. Beschreibung eines Welterfolges, Berlin 1984, S. 134. 45 In seiner Untersuchung zur „Gestaltung des Bühnenraumes in der Phantasie der Autoren“ wie zum Verhältnis der Geschichte des italienischen Opernlibrettos und der ‚Literaturoper‘ in nichtitalienischen Ländern schildert Jürgen Mähder, dass Fragen der szenischen Darstellbarkeit des Stoffes in den Diskussionen zwischen Puccini und den Librettisten häufig eine entscheidende Rolle spielte. Vgl. Mähder, Jürgen: „Szenische Imagination und Stoffwahl“, in: ders./Jürg Stenzel (Hrsg.): Zwischen Opera buffa und Me-
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passenden Libretto deutet bereits darauf hin, für wie wichtig Puccini andere Elemente neben der Musik in der Oper hielt. Grundgerüst war eine einfache dramatische Handlung, die ungeachtet des Textverständnisses das Publikum zu packen vermochte. Häufig führte diese Reduktion auf das Melodramatische, das Kitschige wie das Fehlen von Ethos zu vehementer Kritik. Wenn die semantischen Momente, wie Carl Dahlhaus schreibt, „in der Musik, sogar in der Programmmusik und im Musikdrama, […] lediglich intermittierend wirksam [sind]“46, stellt sich die Frage, wozu sich Puccini solche Mühe um ein Libretto gemacht hatte. Anders gefragt: Welche Funktion kommt dem Textbuch in seiner Oper zu? Diese Frage kann hier im Hinblick auf eine anthropologische Dimension des Mediums Oper behandelt werden, die als ‚affetto‘ (Affekt) bereits in Claudio Monteverdis Musikdenken eine zentrale Rolle spielte.47 Die Affektstruktur des Menschen wurde von der Geburt der Oper um 1600 an auf vielfältige Weise thematisiert, und die anthropologische, sinnlich-körperliche Instanz ist den jeweiligen historisch variablen Recodierungs- und Reinszenierungsversuchen ausgesetzt worden. Jene bis zum Ende des 19. Jahrhunderts oft von den Operntheoretikern bzw. -reformern geforderte menschliche ‚Wahrheit‘ besteht, so K. Ludwig Pfeiffer, nicht im Handlungszusammenhang, im Konflikt, im Text und in seinen wie immer tiefgründigen Bedeutungen, also in einer normalisierten, oft normativen Sprachform, sondern in performativ-affektiven Intensitäten, die mit Bedeutung assoziiert und aufgeladen werden können, diese aber nicht selbst ausdrücken.48
Pfeiffer macht bei der Recodierung des zentralen anthropologischen Themas ‚Affekt(-ausdruck)‘ in der Oper auf das „Zusammenspiel von sprachlich vereinfachter, aber musikalisch intensivierter Körpertechnik
lodramma: Italienische Oper im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York u.a. 1994, S. 187-241, hier: S. 188. 46 Dahlhaus, Carl: „Allgemeine Theorie der Musik I. Historik – Grundlagen der Musik – Ästhetik“, in: ders.: Gesammelte Schriften in 10 Bänden, hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2000, Bd. 1, S. 380. 47 Vgl. Ehrmann, Sabine: Claudio Monteverdi. Die Grundbegriffe seines musiktheoretischen Denkens (=Musikwissenschaftliche Studien, Bd. 2), Pfaffenweiler 1989, S. 42f. 48 Pfeiffer, K. Ludwig: „Akira Kurosawa: Konturen einer medialen Anthropologie“, in: Nicola Glaubitz/Andreas Käuser/Hyunseon Lee (Hrsg.): Akira Kurosawa und seine Zeit, Bielefeld 2005,,S. 33-50.
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(Gesang) und Inszenierung“49 aufmerksam, dessen Metamorphosen in der Kino- bzw. in der Filmkunst in zugespitzter Form zu finden sind. Diese „Umschichtungsprozesse innerhalb historischer Medienkonfigurationen“ bezeichnet er bei entsprechender Radikalität der Verschiebungen als „Medienumbrüche“: Als drastische Eingriffe in den kulturellen Markt sind sie nicht nur mit anderen historisch-gesellschaftlichen Veränderungen verschaltet; sie müssen oft auch und dürfen wohl manchmal vornehmlich als Recodierungs- und Reinszenierungsversuche anthropologischer Intuitionen gelten, deren überlieferte und meist kulturell-medial auch irgendwie weiter gepflegte Codes unter die Räder des geschichtlichen Wandels geraten.50
Im Anschluss an die Kinotheorien von Edgar Morin und Gilles Deleuze betont Pfeiffer die Kopplung von sprachlichem Ungenügen und affektiver Intensivierung. Bei dieser Kopplung ist eine (medien-)anthropologische Dimension des Films zu situieren. Diese wird im Film – im Gegensatz zur Körper- bzw. Stimmtechnik des Gesangs in der Oper – durch die mit Filmtechniken wie der Großaufnahme ermöglichte suggestive Psychisierung und affektive Intensivierung akzentuiert. Wie Balázs am Gesicht Asta Nielsens dargelegt hat, geht es im Film um die visuelle Inszenierung seelischer Intensität, nicht um die Eigenschaften der Seele. Puccinis berühmte Suche nach einem inspirierenden Libretto ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Puccini verlangte von seinen Librettisten „etwas Leidenschaftliches und Ergreifendes“, nicht zu viel Psychologie, aber Diagnose der leidenden Seele, und eine Handlung, die sich „ohne Unterbrechung, schnell, wirkungsvoll und schrecklich auf das Ende zubewegt“.51 Die Handlung bekommt deshalb weniger Signifikantencharakter; sie dient viel eher als eine Grundlage für die musikalische Komposition, und zwar im Sinne der Erzeugung eines wirkungsorientierten performativ-affektiven Rahmens. Während der Arbeit an TURANDOT schrieb Puccini an seinen Librettisten Giuseppe Adami: Ich sehe ein, dass das Sujet nicht sehr tragfähig ist – aber gerade deshalb müssen wir weniger Worte machen und mehr darauf ach-
49 Vgl. Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.M. 1999, S. 371-436. 50 Pfeiffer (wie Anm. 48), S. 35. 51 Carner (wie Anm. 2), S. 445.
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HYUNSEON LEE ten, dass die Vorgänge sonnenklar sind, reich an Kontrasten und dass sie mehr zu den Augen als zu den Ohren sprechen.52
Die Handlung der SUOR ANGELICA, die zu den drei Opern-Einaktern IL TRITTICO (1918) gehört, zeigt den für Puccini charakteristischen klaren und logischen Aufbau. Dargestellt ist eine verzweifelte Nonne im mittelalterlichen Frauenkloster, die als Mutter an der Trennung von ihrem Kind leidet und sich selbst in den Tod begeben will. Verstoßen von ihrer adeligen Familie, büßt sie im Kloster schon sieben Jahre lang für ein Vergehen: die Liebe. Hoher Besuch ist für sie gekommen. Ihre Tante, eine Fürstin, will das Familienerbe aufteilen. Sie klagt Angelica an, die Familie durch ein uneheliches Kind in Schande gebracht zu haben. Als Angelica vom Tod des Kindes erfährt, bricht sie verzweifelt zusammen. Allein durch Selbstmord glaubt sie, ihr Elend auf Erden beenden zu können, um ihr Kind wieder zu sehen. Das eigentliche Ereignis der Oper ist das Gedankenspiel über einen Selbstmord der Schwester Angelica. In einem langen Todeskampf quält sie die Reue über die Sünde des Selbstmords. Sie bittet die Jungfrau Maria um Errettung vor der Verdammnis. Ihr Gebet wird erhört und mit einem Wunder beantwortet. Ein himmlischer Chor intoniert eine feierliche Hymne, die nahe Kapelle wird plötzlich von einem hellen Licht erleuchtet, die die Erscheinung der Jungfrau Maria symbolisiert. Aufmerksamkeit verdient hier der Begriff der ‚Atmosphäre‘, der in Puccinis Opernästhetik einen zentralen Platz einnimmt und seinen Opern einen latent avantgardistischen Charakter verleiht, der einer (Stumm) Filmästhetik nahe kommt. In seinen „Skizzen zu einer Dramaturgie des Films“ definiert Béla Balázs die Atmosphäre als die Filmsubstanz. Die Atmosphäre sei „Luft und Duft, die wie eine Ausdünstung der Formen alle Gebilde umgibt und ein eigenes Medium einer eigenen Welt schafft“53 Über die Filmsubstanz bzw. Filmspezifik hinaus markiert die Atmosphäre „die Seele jeder Kunst“, wie Balázs einräumt, wie der nebelhafte Urstoff, der sich in den einzelnen Gestalten verdichtet. Sie ist die gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde, sie ist die letzte Realität jeder Kunst. Wenn diese Atmosphäre einmal da ist, kann die Unzulänglichkeit der einzelnen Gebilde nicht mehr verderben. Die Frage nach dem ‚Woher‘ ist immer die Frage nach der tiefen Quelle der Kunst.54
52 Vgl. Adami, Giuseppe (Hrsg.): Giacomo Puccini. Briefe des Meisters, Lindau 1948, S. 226. 53 Balázs (wie Anm. 43), S. 30. 54 Balázs (wie Anm. 43).
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Die Stummfilmatmosphäre, die „durch die große Rolle und Bedeutung der sichtbaren Dinge“55 greifbar wird, geht einher mit Puccinis „empfindsame[r] Antenne für die cose piccole, die kleinen Dinge im Leben der unbedeutenden Leute“56, wie er sie zu Beginn der SUOR ANGELICA zur Schau stellt. Die Atmosphäre wird hier durch die lyrische Entfaltung des Geschehens hergestellt. Wichtig sind dabei ‚eine kleine gefühlvolle Phrase‘ oder ‚feine, zarte, leuchtende, exquisite Episoden‘ wie die Putzarbeit der Nonnen im Klostergarten oder gesammelte Pflanzen. Gerade diese Oper lebt von der konzentrierten dramatischen Wirkung eines atmosphärischen Kontrastes.57 Sie lebt aber auch sowohl von den Bildern als auch von den Frauenstimmen und der Orchestermusik und erzeugt eine wenig spannungsreiche, fast todesnahe Stimmung. Allein die Handlung und das auf eine Hauptfigur reduzierte Personal erzeugen bereits eine hoch aufgeladene Atmosphäre. Der Charakter der Angelica wird sich erst allmählich als eigenständige Persönlichkeit aus der Gruppe der Nonnen herauslösen, ohne dass dies mit einer besonderen Entwicklung der Figur verbunden wäre. Der Antagonist erscheint im bösen und komplexen Charakter der Tante, eine kalte und grausam-bigotte Frau. Die Visualisierung der Charaktere zeigt sich im Schwarz-WeißKontrast der Kostüme (etwa die weiß gekleidete unschuldige gute Schwester Angelica als Mitleid erweckendes Opfer mit Sopran-Singstimme versus die grausame, starke Fürstin als Täterin in schwarzem Kleid mit tiefer Frauenstimme) in einem weiß gehaltenen Raum. In dieser Oper durchdringt die besondere Atmosphäre das gesamte Drama und auch die Figuren, die nur Ausformung der Atmosphäre zu sein scheinen. Puccini bemühte sich insbesondere um eine spezielle Opernatmosphäre. Die Atmosphäre war für ihn ein ebenso wesentlicher Teil seiner dramatischen Welt wie die Handlung selbst, also die ‚Luft‘, die seine Figuren atmeten. Unter dem Begriff der Atmosphäre verstand Puccini 1. die realistische Dokumentation des Geschehens; 2. die poetische Stimmungsbeschwörung; 3. das Nervenzentrum des Dramas.58 An Adami schrieb er einmal: „Das Schwierigste ist für mich der Beginn einer Oper, d.h. ihre musikalische Atmosphäre zu finden. Wenn der Beginn festge55 Balázs (wie Anm. 43), S. 31. 56 Carner (wie Anm. 2), S. 464. 57 Ich beziehe mich hier auf eine zeitgenössische Inszenierung am 1. November 2003 an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf sowie die Videoaufnahmen der Inszenierungen an der Mailänder Scala (1983) und an der Staatsoper Hamburg (1996). 58 Vgl. Carner (wie Anm. 2), S. 469-471.
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legt und komponiert ist, braucht man keine Angst mehr zu haben.“59 Moscow Carner erklärt ein charakteristisches Merkmal der musikdramatischen Technik Puccinis damit, dass er die Atmosphäre schon mit dem ersten Takt bestimmt, beginnend mit einem musikalischen Motto, das mit einem Schlag die gesamte atmosphärische Wesensart einer Oper aufzeigt. Jürgen Leukel fasst die atmosphärischen Stimmungsbilder als „technische Konstanten“60 auf, die im Gesamtwerk Puccinis greifbar sind. Die Atmosphäre beeinflusst das musikalische Leben der Figuren und bestimmt den individuellen Charakter jeder einzelnen Oper. Es ist richtig, dass die dramatische Welt Puccinis begrenzt ist und sich immer um die gleiche Achse dreht: Liebe als tragische Schuld, dargestellt in einem zwanghaft wiederkehrenden Muster, so wie es die liebenden Mütter Butterfly und Angelica exemplarisch zeigen. Darüber hinaus aber verfügt jede Oper über einen besonderen musikalischen Ton, ein spezielles Klima, eben eine eigene Atmosphäre, die trotz der stilistischen Ähnlichkeit ein Werk vom anderen abgrenzt und ihm eine eigenständige Aura gibt. Fast jede Oper Puccinis hat eine Szene mit besonders spektakulären visuellen Effekten, was seinen untrügerischen Blick für die visuelle Bühnenwirkung einer Szene unter Beweis stellt. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das Wunder am Schluss der Oper SUOR ANGELICA. Um diese spezielle Atmosphäre zu kreieren, bediente sich Puccini jener Appellqualitäten, d.h. eines komplexen, sorgfältig aufeinander abgestimmten Sets an dramatischen Elementen wie Libretto (Handlung und Sprache), Darsteller, Kostüme, Kulissen und Lichteffekte. Seine Opern erfordern von den Sängern hohe schauspielerische Qualitäten: Sie müssen darstellerisch wesentlich mehr leisten als die Sänger in den meisten Opern Verdis. Das Zusammenspiel all dieser Komponenten eines Inszenierungsraumes dient zwar zur Schaffung einer spezifischen Atmosphäre, aber von Bedeutung sind hier die Lichteffekte, die auf das musikalische Ereignis reagieren und dabei mit aufmerksamem Ohr zu arrangieren sind. Dem Licht kommt bei der Schaffung von Opernatmosphäre eine besondere Funktion zu und verändert diese in Sekundenbruchteilen, und zwar in Verbindung mit dem weiteren atmosphärischen Wirkungspotential wie Laute, Geräusche, Klänge und Musik. Orchester und Singstimme dienen der Gestaltung der Atmosphäre am Schluss der Oper. Und in dieser fast religiösen Todesatmosphäre sind lediglich die Frauenstimmen zu hören. 59 Zit. nach Carner (wie Anm. 2), S. 472. 60 Leukel (wie Anm. 3), S. 7f.
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Sie dienen der religiösen Färbung der Musik durch ein starkes Zusammenwirken von Musik und visuellen Elementen. Gernot Böhme macht auf etwas Unbestimmtes und Diffuses beim Atmosphäre-Begriff aufmerksam und bestimmt Atmosphären als „Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, ‚tingiert‘ sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raum“.61 Böhmes „Ästhetik der Atmosphäre“ steht als Antithese zu einer semiotischen Ästhetik, die von der Voraussetzung ausgeht, dass Kunst als Sprache zu verstehen sei, weswegen sie Prozesse der Bedeutungsgenerierung fokussiere. Mit der Ästhetik der Atmosphäre, wie sie Böhme ausführt, wird die Aufmerksamkeit auf die leibliche Erfahrung gelenkt. Diese Verlagerung des Schwerpunkts von den Bedeutungen zur leiblichen Erfahrung korreliert mit der ‚performativen Wende‘ in der westlichen Kultur, die seit den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur in den einzelnen Künsten einen Performativierungsschub erbrachte, sondern auch zur Herausbildung einer neuen Kunstgattung, der sogenannten avantgardistischen Aktions- und Performancekunst geführt hat. Erika Fischer-Lichte beobachtet, dass seit jener performativen Wende der Körper- bzw. Materialstatus den Signifikanten- bzw. Zeichenstatus überlagert hat.62 Jene Wende hat den performativen Raum als einen zugleich atmosphärischen entstehen lassen: Der Atmosphäre kommt für die Hervorbringung von Räumlichkeit in einer Aufführung eine vergleichbare Bedeutung zu wie der Präsenz für die Erzeugung von Körperlichkeit. In der Atmosphäre, die der Raum und die Dinge auszustrahlen scheinen, werden diese dem Subjekt, das ihn betritt, in emphatischem Sinne gegenwärtig. Nicht nur, dass sie sich ihm in ihren sogenannten primären und sekundären Qualitäten zeigen und in ihrem So-sein in Erscheinung treten, sie rücken dem wahrnehmenden Subjekt in der Atmosphäre auch in bestimmter Weise auf den Leib, ja dringen in ihn ein. Denn es findet sich nicht der Atmosphäre gegenüber, nicht in Distanz zu ihr, sondern wird von ihr umfangen und umgeben, taucht in sie ein.63
Der Aspekt des performativen Raumes als atmosphärischer Raum ist in Bezug auf die Affinität zwischen der Oper und dem Stummfilm interessant, weil diese Medien „nicht in der Übernahme bestimmter Inhalte 61 Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995, S. 33. 62 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 24f. 63 Fischer-Lichte (wie Anm. 62), S. 203.
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(Stoffe und Themen der Oper, die vom Film begierig aufgegriffen werden) oder einzelner formaler Elemente (Bildrhythmus, Kadrierung, Schnitt und Montage)“, sondern in der „Entwicklung eines imaginären Raumes“, jenes zentralen Prinzips der Oper, verwandt sind.64 Als ‚Inszenierungs(inter)medium‘ lebt die Oper von den Aufführungen, für die Noten und Libretto die Grundlage bieten, deren (Re-)codierung bzw. Interpretation aber den Inszenatoren überlassen sind. Die Oper kann ihre Medialität nur durch die Aufführung entwickeln, deren Kern im Gesang als anthropologisch basale Verkörperung von Performativität zu suchen ist. Die Intermedialität der Oper, so Pfeiffer, jenes Zusammenspiel medialer Appellqualitäten (Wort, Gesang, Schauspiel, Inszenierung) ist komplex. Die Appellqualitäten sind überwiegend performativ, das heißt in unterschiedlichen Weisen dynamisch organisiert. Elementarer ist die basale und entscheidende Ebene der Performativität, der Gesang, medial komplex bereits freilich sein Medium, die Singstimme.65
Im Hinblick auf eine „Ästhetik des Performativen“ betont Fischer-Lichte, dass mit der Verschiebung des performativen Raumes als eines atmosphärischen Raums dreierlei geleistet wird: 1. Räumlichkeit kommt in Aufführungen kein Werk-, sondern ein Ereignischarakter zu, da sie flüchtig und transitorisch ist; 2. der Zuschauer empfindet im atmosphärischen Raum seine Leiblichkeit auf ganz spezifische Weise. Er erlebt sich als einen lebendigen Organismus, der im Austausch mit seiner Umwelt steht. Die Atmosphäre dringt in seinen Leib, durchbricht seine Körpergrenzen. Damit wird 3. der performative Raum als „ein liminaler Raum ausgewiesen, in dem Verwandlungen durchlaufen werden und Transformationen stattfinden“66. Eine solche Ästhetik der Atmosphäre korrespondiert mit der Stummfilmästhetik, die der Musikwissenschaftler Lothar Pox wie folgt zusammenfasst: 1. das sensuelle Potenzial der stummen Dokumente: ihre suggestive Bildsprache, ihr melodramatischer „Gestus“ und ihre schwer zu beschreibende Rhythmizität (die Hugo von Hofmannsthal als „atmosphärisches Geheimnis, das unter den Sinnen schwingt“67, […] charakterisierte); 2. die Live-Musik, deren Mitwirkung für die Akzeptanz 64 Schädler, Thomas: „Für eine neue Avantgarde. Oper und Film – Film und Oper“, in: Musikalische Zeitfragen 17 (1986), S. 73-83, hier: S. 76. 65 Pfeiffer (wie Anm. 41), S. 338. 66 Vgl. Fischer-Lichte (wie Anm. 62), S. 208. 67 Hofmannstahl, Hugo von: „Der Einsatz für die Träume“ (1921), in: Anton Kaes (Hrsg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929, Tübingen 1978, S. 149f.
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der stummen Filme (METROPOLIS, CALIGARI, NAPOLÉON oder PANZERKREUZER POTEMKIN) ausschlaggebend war und deren Bedeutung Ernst Bloch darin erkannte, dass sie für die „Gesamtsinnlichkeit“68 des Filmerlebnisses einzustehen habe; 3. die Auditorien bzw. die Räumlichkeiten der Hochkultur als Spielstätten des Films, die den theatralischen Anspruch des frühen Kinos erfüllen konnten.69 In den Filmpalästen wurden jene ‚anderen‘ populären avantgardistischen Stummfilm-Genres wie ‚das Kino der Attraktion‘, ‚hysterical cinema‘ oder ‚histrionic cinema‘ gezeigt, deren latenter Avantgarde-Charakter sich nicht zuletzt in seiner Aufnahme und Verarbeitung im Surrealismus erweist. Zu diesem Komplex gehören gewisse pathetisch übersteigerte popular-kulturelle Elemente des Varietés und des Melodramas, überzogene kitschige Gesten und Chocks (Walter Benjamin)70, deren Stereotypie sozusagen spontan durch den Stummfilm entwickelt und dann in anderen Künsten in Form von Zitaten verarbeitet wurde. Um Puccini im Kontext dieser Strömung zu einer latenten Avantgarde zu rechnen, ist letztlich das musikalische Element von Bedeutung: Die Stummfilme wurden von stereotyper, pathetischer Musik begleitet, woraus ein multimediales Konstrukt aus pathetischen Bildern und pathetischer Musik entstand. Bei Puccini spielt eine ähnliche Kombinatorik eine Rolle. Er bemühte sich weniger um ein Musikdrama als um ein in Musik gesetztes Drama. Puccini wollte ein Gesamtkunstwerk (nicht zu verwechseln mit Richard Wagners ‚Gesamtkunstwerk‘), eine ‚multimediale Show‘, in der auf seine Art der gesamte Bühnenapparat, d.h. Gesang, Darstellung, Text, Mimik, Gestik, Bewegung, Kostüm, Bühnenbild und Licht zusammen mit den Sängern und dem Orchester ein Maximum an dramatischer Wirkung erreichen. Die visuellen Effekte in den publikumswirksamen, spektakulären, pathetischen Bildern waren für die Herstellung der eindringlichen Atmosphäre eines imaginären Raumes genauso notwendig wie die vokalen Intensitäten. 68 Zit. nach Pox, Lothar: „Musik und Stummfilm“, in: Ursula von Keitz (Hrsg.): Früher Film und späte Folgen. Restaurierung, Rekonstruktion und Neupräsentation historischer Kinematographie (=Schriften der F.W. Murnau-Gesellschaft, Bd. 6), Marburg 1998, S. 84-94, hier: S. 84. Vgl. Bloch, Ernst: „Die Melodie im Kino oder immanente und transzendente Musik“, in: Jörg Schweinitz (Hrsg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig 1992, S. 329. 69 Vgl. Pox (wie Anm. 68), S. 84-85. 70 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972-1989, Bd. III, S. 744.
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In seinem Versuch, ein Gesamtkunstwerk wie eine Multimedia-Show zu inszenieren, d.h. die dem Medium Oper von seiner Geburt im 17. Jahrhundert an immanenten intermedialen Aspekte mit avancierten technischen Mitteln in Vollzug zu bringen, drückt sich (so würde ich Puccinis Opernästhetik nennen) eine Ästhetik der Atmosphäre aus. Gerade mit einer solchen Ästhetik der Atmosphäre verknüpft sich jenes „Gesamtkunstwerk der Effekte“, das Siegfried Kracauer „als eine ereignishafte und kommunikative Form der Filmpräsentation mit Vorprogramm, Orchester- und Orgelmusik, Tanz- und Gesangseinlagen inmitten des aufwendigen Komforts der städtischen Premierenpaläste“ Anfang des letzten Jahrhunderts beschrieben hatte.71 Allerdings wird die pathetische Musik in der Tradition der italienischen Oper in originellen ‚Klangsymbolen‘ (Moscow Carner) zu einer eigenen Kunstsprache von Intensitäten und Chocks elaboriert und gesteigert, verkörpert in den herzzerreißenden, elektrisierenden Belcanto-Arien aus MADAMA BUTTERFLY, MANON LESCAUT oder TURANDOT u.a. Diese Opern wie auch SUOR ANGELICA verhalten sich in ihrer narrativen Simplizität und ihren melodramatischen Konfigurationen und Chocks im Zuge der Handlung analog zum Stummfilm. Die Rolle der pathetischen Bilder, Körper, Kostüme und Gesten ist ebenfalls von zentraler Bedeutung, und kommt in den exotistischen Opern wirkungsvoll zum Ausdruck. Nicht zufällig wählte Fritz Lang die Oper MADAMA BUTTERFLY als Vorlage seines Stummfilms HARAKIRI (1919), in dem stumme extravagante ‚histrionic performances‘ massiv eingesetzt werden, so dass die Grenzen zwischen der Oper und dem Stummfilm fast verschwinden würden, wenn dieser Film in einem Lichtspielhaus mit einem Orchester und Sängerensemble (oder auch mit Stimme und Ton) gezeigt würde. Die latente Avantgarde der Oper Puccinis kulminiert in der Anwendung der Filmtechniken sowie in der Verstärkung der Visualität. In der Oper LA FANCIULLA DEL WEST, die Puccinis Suche nach einer neuen Poesie um 1900 dokumentiert, rückt, wie Jürgen Leukel betont, unter anderem deren „klingende Bildhaftigkeit und Visualität“ ins Zentrum.72 Auch Girardi sieht in dieser Oper den bis dahin modernsten Versuch, eine neue und stärker ausbalancierte Beziehung zwischen Musik und mise-en-scène zu schaffen. Girardi macht darauf aufmerksam, dass Puccini während seines ersten Amerika-Besuchs 1907 nicht nur mit dem 71 Kracauer, Siegfried: „Kultur der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser“ (1926), in: Karsten Witte (Hrsg.): Theorie des Kinos, Frankfurt a.M. 1972, S. 230f. Zit. nach Pox (wie Anm. 68), S. 84. 72 Leukel (wie Anm. 3), S. 27f.
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neuen Medium Film – beispielsweise der Montage-Technik im Westernfilm und dem ‚happy ending‘ im Film THE GIRL FROM MONTANA (1907) – konfrontiert wurde, sondern auch mit den cowboy shows. Dies sollte Spuren hinterlassen, denn, wie Girardi schreibt, Puccini wanted to believe that, by blending elements from great romantic theater with those from fashionable shows, combining them with quotations and raw realistic elements, he had found points of new departure for his dramaturgy, novelties emphasized by the unusual happy ending.73
Ein Grundprinzip des Schnitts, jener genuin filmischen Technik, hat Kracauer wie folgt formuliert: [J]ede Filmerzählung sollte so geschnitten werden, dass sie sich nicht nur einfach darauf beschränkt, die Story zu verbildlichen, sondern sich von ihr auch abkehrt, den dargestellten Objekten zu, damit diese in ihrer suggestiven Unbestimmbarkeit erscheinen können.74
In der Oper SUOR ANGELICA wird dieses Grundprinzip des Schnitts bemerkbar, wenn diese Technik in Verbindung mit dem starken Gewicht der Visualität dem Szenenwechsel der ohnehin modernen Opernform des Einakters dient. Hier ging Puccini meisterlich mit der Pause um: Wenn er sie auf dem Punkt höchster Spannung einsetzte, erreichte sie eine Beredtheit, die Wort und Musik bei weitem übertrifft. Puccini selbst bezeichnete diese Pause als unausgesprochene Musik. Die Inszenierung der Hamburger Staatsoper 1996 hat diese Pause mit manifester Verwendung der Schnitttechnik auf die Spitze getrieben. In jener Pause, in der die Tante Angelicas auf- später wieder abtritt, verändern sich die Kulissen, die aus Wänden bestehen, indem sie von links nach rechts leuchtend eine Kamerafahrt simulieren. Auf diese Weise wird zeitliche Parallelität konstruiert, die es unter den gezeigten Umständen realiter nicht geben kann. Darin ist also ein eindeutiger Rückgriff auf die filmische Überblendungstechnik zu erblicken. Im Verlauf der Aufführung dieser Oper an der Rheinoper in Düsseldorf 2003 kehrt – trotz Einsatzes vieler Singstimmen – eine gewisse eindrucksvolle Ruhe auf der Bühne ein. Die Atmosphäre wird verstärkt 73 Girardi (wie Anm. 2), S. 326. 74 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, in: ders.: Schriften, hrsg. v. Karsten Witte, Frankfurt a.M. 1973, Bd. 3, S. 109. Siehe zum Verhältnis von Schnitt und Montage Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar 2000, S. 51-102.
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durch intensive optische Eindrücke. Das erinnert an den Stummfilm und dessen Sehnsucht nach dem Ton. Es entstand eine Atmosphäre, die mit gekonnt inszenierten visuellen Mitteln eine eher monotone Musik nicht nur zu ergänzen, sondern sie sogar in den Schatten zu stellen schien. In einer solchen Annährung der Medien Oper und Stummfilm vollzog sich eine subtile Wendung der Oper, die auf die zwei stärksten menschlichen Sinne – Auge und Ohr – abzielt. In dieser Konfiguration des Umschwungs von der akustischen auf die bildliche Inszenierung verbirgt sich die latente Avantgarde der Oper SUOR ANGELICA. Aufgrund des Zurücktretens der Musik in der Wahrnehmung des Rezipienten drückt sich die Selbstreflexivität des Mediums Oper aus. „Ein einfaches, aber intensives Gefühl in einer prägnanten Gesangmelodie konzentriert auszudrücken und damit die Herzen zu erreichen“75 gilt als eine der Grundregeln der italienischen Opernkunst. Auch Puccini wollte mit seiner effektvollen Oper [das Publikum] „zu Tränen rühren: darin liegt alles“.76 Sein Ziel war es, das Publikum der ganzen Welt zu bezaubern. Ich schreibe nämlich für sämtliche menschliche Rassen! Einschließlich der Neger, wenn sie sich erst einmal entwickelt haben (was für Prätentionen!).77
Diese Zeile schrieb Puccini im September 1915, also zur Zeit der Arbeit an der Oper SUOR ANGELICA an Giuseppe Adami. Solcher Anspruch auf Massenwirksamkeit mag aus dem 19., sogar dem 18. Jahrhundert stammen, doch seine Versuche, die Masse für die Oper weiterhin zu gewinnen, haben um 1900 zu einem stilistisch innovativen Weg geführt. Jürgen Leukel betont die Tatsache, dass Puccini – das letzte Glied in der 300jährigen Belcanto-Geschichte – in seinen Opern gewisse kinematographische Techniken vorwegnahm und damit den nahtlosen Übergang, der die Massen behutsam aus den Opernhäusern in die Lichtspieltheater führte, unbewusst mitzuvollziehen half, was kein Vorwurf sein kann, sondern von der Zeitaktualität Puccinischen Komponierens zeugt.78
Umgekehrt möchte ich Puccinis Versuch so betrachten, dass er mit solchen massenwirksamen innovativen Verfahren die zunehmend weniger vom Publikum nachgefragte Oper ‚retten‘ und darüber hinaus diese neu 75 76 77 78
Vgl. Carner (wie Anm. 2), S. 443f. Carner (wie Anm. 2), S. 443. Adami (wie Anm. 52), S. 179. Leukel (wie Anm. 14), S. 24. Nach Leukel gehören Schnitt und Überblendung essentiell zu Puccinis Dramaturgie.
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popularisieren wollte. Mit diesem Rettungsversuch nähert sich Puccini nicht nur den Avantgarden in der Ausprägung des Retter-Typus (im Sinne Boris Groys’), sondern auch den aktuellen „Versuche[n], der Oper durch Anlehnung an ein wesentlich mächtigeres Medium (sprich Film) wieder ein Interesse, eine Daseinsberechtigung, zu verschaffen“79. Genau wie der Stummfilm benötigte die Oper des ausgehenden 20. Jahrhunderts die wirksamen Mittel, um dem Publikum zu gefallen. Entschieden wollte Puccini die dem Untergang geweihte Oper um die Jahrhundertwende ‚retten‘. Dabei schlug er nicht den elitären ‚mainstream‘ des Avantgardismus ein, sondern suchte Annährung an die populäre Kunst. Er wollte eine emphatisch aufgeladene Atmosphäre erzeugen, die eine neue Qualität in der performativen Ästhetik darstellt.
79 Schädler (wie Anm. 64), S. 79.
M EDIENGESCHICHTEN
YUKO YAMAGUCHI
WAS LEISTEN SAMMELVERÖFFENTLICHUNGEN ZU ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS? EINE VERGLEICHENDE FALLSTUDIE (1918-1933) Anthologie als Spiegel der Lesekultur „Anthologien sind ein Scheul bezw. [sic] ein Greul. Diese zusammengehauenen Sammlungen spiegeln meistens nur den Geisteszustand des Herausgebers wieder und selten das zu beleuchtende Gebiet.“1 So kritisch formuliert Tucholsky noch 1925 seine Abneigung gegenüber der Edition von Anthologien. Unter den Bezeichnungen „Anthologie“, „Auswahlband“ sowie „Sammelband“ sind tatsächlich Anfang des 20. Jahrhunderts Sammelveröffentlichungen fast inflationär produziert worden, so dass man sich unter diesen generischen Begriffen konkret keine bestimmte Form mehr vorstellen kann. Im Folgenden möchte ich versuchen, die Produktionslage dieser Sammelveröffentlichungen im Hinblick auf die damalige Lesekultur zu interpretieren, welche sich gerade in der globalen Konkurrenz zwischen audio-visuellen und schriftlichen Medien rasch und radikal zu verändern begann. Von einem kulturgeschichtlichen Überblick im deutschsprachigen Kulturraum ausgehend soll dann die Frage nach den jeweils programmierten bzw. intendierten Leistungen der Sammelveröffentlichungen, vor allem nach den Reflexionen der Herausgeber zu Autorschaft und Wirkung, in Betracht gezogen werden. Schließlich versucht diese Arbeit, eine vergleichende Analyse zu zeitgenössischen Sammelveröffentlichungen in Japan vorzunehmen. Die oben zitierte Aussage Tucholskys gegenüber dem Anthologien-Unwesen lässt sich nämlich zugunsten der nachkommenden Erörterungen in unter1 Panter, Peter (d.i. Kurt Tucholsky): „Welthumor“, in: Die Weltbühne, 1.12.1925, zit. nach Tucholsky, Kurt: Gesamtausgabe. Texte und Briefe, hrsg. v. Michael Hepp et al., Reinbek 1996f., Bd. 7, S. 526f., hier: S. 526.
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schiedlichen Lebensräumen so umformulieren: Der Zustand der Lesekultur im Zeitalter globaler Medienumbrüche lässt sich auch durch die Analyse der Anthologie-Konjunktur an jeweils verschiedenen Produktionsorten veranschaulichen und möglicherweise vergleichen.
1.
Was war damals eine Sammelveröffentlichung?
Soweit sich Sammelband sowie Auswahlband als Sammelveröffentlichung ausgewählter Texte in Buchform bezeichnen lassen, beruhen sie im westlichen Kulturraum auf der Tradition der Anthologie, welche aus dem griechischen Altertum (mit der Bedeutung „Blütenlese“) stammt.2 Im Hinblick auf die neuere deutschsprachige Literatur verbreitet sich die Anthologie spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr nur als Lyriksammlung, sondern auch als Sammlung von Prosa sowie als mehrbändige Reihe aus verschiedenen Werken klassischer und/oder zeitgenössischer Autoren. Im Laufe der Zeit können sie immer verschiedenartiger je nach Motivationen, Thematiken, Zeiträumen, Leserschaften oder Herausgebern konzipiert werden. Beschränkt auf Lyrik hatten Anthologien bereits im 19. Jahrhundert, besonders seit den 1840er Jahren, ihre Blütezeit: Im Zuge des expandierenden Buchmarktes wurden Anthologien in großer Zahl hergestellt und waren meist für neuere Leserschichten, nämlich für Mädchen und Frauen, entworfen. Einschließlich der meist veränderten Neuauflagen sollen in Deutschland von 1840 bis 1914 über 4.000 Titel auf den Markt gebracht worden sein.3 Im Gegensatz zu solcher massenhaften Anthologieproduktion entstanden seit 1900 auch Projekte von konservativen wie kulturpolitischen ‚Anthologisten‘, die die Form der Anthologie für die literarische Kanonisierung bzw. für die neue Bekräftigung einer bestimmten ästhetischen Tradition einsetzen wollten. Ein Paradebeispiel stellt Deutsche Dichtung dar, die Stefan George zusammen mit Karl Wolfskehl 1902 herausgegeben hat. Anthologien tauchten dann in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch neben ästhetischen Manifesten, besonders in avantgardistischen Projekten, häufiger auf. Hier braucht nur an die expressionistische LyrikSammlung Menschheitsdämmerung (hrsg. v. Kurt Pinthus, 1920) oder an den Dada Almanach (hrsg. v. Richard Huelsenbeck, 1920) erinnert zu werden. 2 Zur Terminologie des Begriffs ‚Anthologie‘ vgl.: Reallexikon der Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin 1997-2003, Bd. 1, S. 98f. 3 Vgl. Häntzschel, Günter (Hrsg.): Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840-1914, 2 Bde., München u.a. 1990.
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Die Form der prosaischen Anthologie ist innerhalb des deutschsprachigen Kulturraumes besonders in der Weimarer Republik, wo man zunehmend von einer Funktionskrise der klassisch-humanistischen Bildung und des aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Bildungsbürgertums spricht, von verschiedenen Herausgebern für unterschiedliche Richtungen favorisiert worden. Zu erwähnen sind zunächst Projekte der literarischen Kanonisierung, bei denen die Herausgeber literarische Werke von ausgewählten Klassikern, jeweils ganz oder in Auszügen, als Anthologie präparierten. Unter kulturkonservativem Aspekt beschäftigt sich z.B. Hofmannsthal äußerst selektiv mit dem klassisch-bürgerlichen Zeitalter (1750-1850), wenn er seine zweibändige Sammlung deutscher Prosa unter dem Titel Deutsches Lesebuch zusammenstellt.4 Als quantitativ extrem umfangreicher Fall ist hier wohl auch die literaturgeschichtliche Reihe Deutsche Literatur zu erwähnen.5 Dieses Unternehmen wird nach einigen gescheiterten Versuchen 1929 vom Reclam-Verlag übernommen und fortgesetzt. Dabei war geplant, literarische Werke aus möglichst vielen Gattungen und sowohl aus alten als auch neueren Epochen auszuwählen und sie systematisch darzustellen. Um monatlich einen Band von ca. 300 Seiten zu veröffentlichen, waren zunächst 300 Bände vorgesehen, wovon bis 1945 tatsächlich 110 Bände erschienen.6 An dieser Stelle lässt sich wohl nicht davon absehen, dass die Monumentalität des projektierten nationalliterarischen Kanons als Schriftenreihe nicht nur den Rahmen bisheriger Anthologien sprengte, sondern nationalsozialistischer Kunstpolitik und ihrer Wertschätzung der Germanistik vorarbeitete. Außerdem sind die literarischen Projekte des Reclam-Verlags auch im Zusammenhang mit seinen großen Werbeaktivitäten in den späten zwanziger Jahren zu sehen, auf die ich mich im nächsten Abschnitt noch einmal beziehen möchte. Im Kontrast zu diesen retrospektiven, zum Teil auf nationale Monumentalisierung angelegten Projekten ist in derselben Zeit auch die Anthologie als einbändiger Auswahlband zu finden. Dieser Typus schließt vor allem die Gebrauchsliteratur ein, wenn vom „Abbau der
4 Hofmannsthal, Hugo von: Deutsches Lesebuch. Eine Auswahl deutscher Prosa aus dem Jahrhundert 1750-1850, 2 Bde., München 1922-23. 5 Kindermann, Heinz (Hrsg.): Deutsche Literatur: Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, Leipzig 1929-45. 6 Vgl. Meiner, Annemarie: Reclam. Geschichte eines Verlages, Stuttgart 1961, S. 68f.
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schönen Literatur“7 gesprochen wird. In der Endphase der Weimarer Republik veröffentlichten kommunistische Verlage wie der Neue Deutsche Verlag Anthologien, die verschiedene zeitgenössische Autoren versammelten, um jeweils ihre politischen Stellungnahmen zu verbreiten. Um Beispiele zu nennen: Der Krieg: das erste Volksbuch vom grossen Krieg (hrsg. v. Kurt Klaber, Internationaler Arbeiter Verlag Berlin, 1929); Volksbuch 1930 (hrsg. v. Otto Katz, Neuer Deutscher Verlag Berlin, 1930); Rote Signale (hrsg. v. Lilly Korpus, Neuer Deutscher Verlag Berlin, 1931). Viele dieser Buchausgaben sind oft mit ausgewählten Fotografien zusammengestellt worden. Dieses unliterarische Medium Fotografie gewann seit Mitte der 1920er Jahre dank seiner erhofften Massenwirksamkeit besondere Bedeutung, da die Fotografie als Waffe der Propaganda immer mehr zu politischen Zwecken verwendet werden sollte.8 Die Bilder in solchen Fotobüchern wurden meist aus Pressefotos der Zeitungen oder der Archive ausgewählt, um wieder im Buch mit den Kommentaren der Herausgeber kombiniert zu erscheinen. So ergab sich nicht selten, dass dasselbe Foto in verschiedenen Kontexten in mehreren Anthologien auftauchte.9 Solche Anthologien rückten in die Nähe von 7 Kaes, Anton: „Schreiben und Lesen in der Weimarer Republik“, in: Bernhard Weyergraf (Hrsg.): Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, München u.a. 1995, S. 38-63, hier: S. 56. 8 Vgl. z.B: Wrobel, Ignaz (d.i. Kurt Tucholsky): „Die Tendenzphotographie“, in: Die Weltbühne, 28.4.1925, zit. nach Tucholsky (wie Anm. 1), S. 197f.; „Waffe gegen den Krieg“, in: Die Weltbühne, 23.2.1926, zit. nach Tucholsky (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 123f. Zur weiteren Diskussion um die Fotografie in Die Weltbühne aus dem Jahr 1925: Behne, Adolf: „Das denkende Bild“, 2.6.1925; Arnheim, Rudolf: „Die Seele in der Silberschicht“, 28.7.1925 und abschließend: Behne, Adolf: „Schreibmaschine, Frans Hals, Lilian Gish und Andres“, 22.9.1925. 9 Exemplarisch sind Fotos in zwei Sammelbänden im Neuen Deutschen Verlag zu erwähnen: Volksbuch 1930 und Tucholskys Bilderbuch Deutschland, Deutschland über alles (zusammen mit John Heartfield 1929, im Folgenden DD). Im Volksbuch 1930 werden nämlich manche Fotos, die im DD verwendet sind, wieder aufgenommen. Z.B.: Gesicht einer Frau (S. 169, in DD, S. 77), neben dem Gedicht von Brecht: „Kohlen für Mike, Soldaten im Einsatz“ (S.167, in DD, S. 43) nach dem Beitrag von S. Tretjakow: „Das Maschinengewehr“ (S. 165f., in DD mit der Unterschrift „Tarnung“). Ferner stehen in Volksbuch 1930 2 Beiträge von Tucholsky: „Gebet für die Gefangenen“ (S. 132f.) und „Merkblatt für Geschworene“ (S. 158f). Der erste ist sogar eine vollständige Wiederaufnahme der Text-Bild-Komposition in DD (S. 25). Dieses Wiedererscheinen der gleichen Fotos findet sich manchmal auch bei Büchern von gegensätzlichen Richtungen: Das Bild „1918 am Rhein“ in DD (S. 13) wurde wieder in der völkisch-konservativen Fotosammlung Das Gesicht der Demokratie (hrsg. v. Edmund Schultz, mit einer Einleitung von Friedrich Georg Jünger, Leipzig 1931) aufgenommen und
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Sammlungen politischer Pamphlete oder Plakate. Dieser Typus des Fotobuchs als visuelle Anthologie, den nicht nur kommunistische, sondern auch völkisch-nationale Verlage auf den Büchermarkt warfen, hatte um 1930 Hochkonjunktur. Auf Seite der nationalistisch-konservativen Eliten können Bilderbücher wie z.B. Der gefährliche Augenblick (1931) oder Die veränderte Welt (1933)10 hier als exemplarisch bezeichnet werden. Dies reflektiert in gewisser Hinsicht das Krisenbewusstsein in der Schriftkultur gegenüber dem visuellen Massenmedium: Wie Jünger oder Benjamin exemplarisch konstatierten, erschienen den Autoren als strategischen ‚Produzenten‘ die visuellen Medien wie Film oder Fotografie zwar einerseits zu Zwecken der propagandistischen Massenprovokation als sehr positiv.11 Besonders wenn es um den Berufsschriftsteller und sein Publikum unter dem zunehmenden Einfluss der amerikanischen Unterhaltungs- und Konsumkultur geht, wird aber andererseits der rasche Einbruch dieser neuen Massenmedien ins bürgerliche Kulturfeld als bedrohend für das Schrifttum wahrgenommen. Am Ende der zwanziger Jahre ergibt sich in der Tat eine konfrontative Medienkonkurrenz: Auf dem Büchermarkt strebten einerseits die Verleger nach Verbilligung der Bücher. Die Folgen waren „Massenfabrikation, Serienherstellung, Überschwemmung des Marktes mit einer Reihe erfolgreicher Bücher.“12 So wurden tatsächlich Werkausgaben in Millionenauflagen verkauft. Als Beispiele sind die Sonderausgabe von Thomas Manns Buddenbrooks beim S. Fischer-Verlag oder die Massenauflage von Remarques Im
ganz anders beschriftet (Siehe S. 31.). Vgl. dazu: Becker, Hans J.: Mit geballter Faust. Kurt Tucholskys „Deutschland, Deutschland über alles“, Bonn 1978, S. 88-93. 10 Bucholz, Ferdinand (Hrsg.): Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung von Bildern und Berichten, Berlin 1931; Schulz, Edmund (Hrsg.): Die veränderte Welt. Eine Bildfibel unserer Zeit, Breslau 1933. Die beiden Bücher werden von Ernst Jünger eingeleitet. Vgl. dazu auch Das Gesicht der Demokratie (wie Anm. 9). 11 Vgl. Werneburg, Brigitte: „Die veränderte Welt: Der gefährliche anstelle des entscheidenden Augenblicks. Ernst Jüngers Überlegungen zur Fotografie“, in: Fotogeschichte, 14, 51 (1994), S. 51-67; dies: „Ernst Jünger, Walter Benjamin und die Photographie. Zur Entwicklung einer Medienästhetik in der Weimarer Republik“, in: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hrsg.): Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 39-57. 12 Starkloff, Edmund: „Was geht auf dem Büchermarkt vor?“, in: Die Literatur, 32, 2 (1930), S. 64f., zit. nach: Anton Kaes (Hrsg.): Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933, Stuttgart 1983, S. 297f., hier: S. 297.
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Westen nichts Neues im Jahr 1929 zu nennen.13 Auf der anderen Seite konnten jedoch gleichzeitig solche Plädoyers gegen das alte Schrifttum bzw. für die neue Visualität wie Nicht mehr Lesen! Sehen! große Aufmerksamkeit beanspruchen.14 Gegen die so entstehende Flut der Fotobücher zum Zweck der sozialen Reportage erhoben dann wiederum die Schriftsteller gegen die Schwächen fotografischer Darstellung Einwände, wie Erik Reger in einer Rezension zu einem Fotobuch von Heinrich Hauser 1930: „Zur Sache also – das heißt: zum Wort! Schluß mit den Bilderbüchern. Rückkehr zur Darstellung durch das Wort.“15 Richtet man nun den Blick auf die Marktstrategie bzw. die wirtschaftliche Lage der Herausgeber, lässt sich die Anthologie ferner als literarisches Projekt in der Funktionskrise des Buches, oder umgekehrt, als Rettungsversuch des Buchautors, betrachten. Im Zeitalter der Medienkonkurrenz und der massenhaften Unterhaltungskultur – obwohl Bücher als Konsumwaren freilich immer noch, sogar mehr denn je, publiziert und reproduziert wurden – waren viele Schriftsteller finanziell gezwungen, um ihren Status als etablierte Buchautoren zu kämpfen. Sie waren zugleich auch jeweils als Publizisten, Journalisten, Feuilletonisten, Kritiker und schließlich als Reporter für bestimmte Zeitungen und Zeitschrif13 Zum Literaturbetrieb in den 1920er Jahren vgl.: Kaes (wie Anm. 7), v.a. S. 56-64; Wessels, Wolfram: Die Neuen Medien und die Literatur, in: Bernhard Weyergraf (Hrsg.): Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, München u.a. 1995, S. 65-99. 14 Molzahn, Johannes: „Nicht mehr lesen! Sehen!“, in: Das Kunstblatt, 12 (1928), S. 78-82, zit. nach Kaes (wie Anm. 12), S. 227f. Vgl. dazu auch das Kapitel: „‚Nicht mehr lesen! Sehen!‘: Literatur und die visuellen Medien“, S. 217-239. 15 Fritz Schulte Ten Hoevel (d.i. Erik Reger): „Das dritte Auge des Reporters“, in: Der Scheinwerfer, 3, 8/9 (1930), S. 30. Vor allem wurde die fotografische Wirklichkeitsdarstellung immer wieder in ihrem Wert bestritten. Vgl. z.B.: Panter, Peter (d.i. Kurt Tucholsky): „Das überholte Witzblatt“, in: Die Weltbühne, 22.5.1928, zit. nach Tucholsky (wie Anm. 1), Bd. 10, S. 215f.; Döblin, Alfred: „Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit“, zugleich Einleitung für Sander, August: Antlitz der Zeit, München 1930; Benjamin, Walter: „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Die Literarische Welt, 18.9.1931, 25.9.1931 und 2.10.1931, zit. nach: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, Bd. II/1, S. 368f. Zu kritischen Ansätzen gegenüber der fotografischen Darstellung vgl. auch z.B. Kracauer, Siegfried: „Die Photographie“, in: Frankfurter Zeitung 28.10.1927, zit. nach: ders.: Schriften, Frankfurt a.M. 1971, Bd. 5/2, S. 83f.; Eggebrecht, Axel: „Die Rolle der Photographie“, in: Die literarische Welt, 13.11.1931; Brecht, Bertolt: „Zum zehnjährigen Bestehen der A-I-Z“, in: ders.: Werke, hrsg. v. Werner Hecht et al., Frankfurt/Berlin 1988, Bd. 21, S. 515.
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ten tätig. Obwohl sie sich streng voneinander unterscheiden wollten, bezeichnete man diese neuen Typen von Zeitungsautoren schließlich insgesamt mit dem allgemeinen Begriff ‚Schriftsteller‘, welcher im Gegensatz zum autonom-klassischen Dichter nun stets seine Produktionsbedingungen zu beachten hatte und sich seinem Wirkungsfeld bzw. seiner Öffentlichkeit verpflichtet sehen musste.16 Um Beispiele zu nennen: Egon Erwin Kisch, Alfred Polgar, Alfred Kerr, Erich Kästner, Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Heinrich Mann, Joseph Roth, Franz Hessel, Alfred Döblin, Siegfried Kracauer, schließlich auch Walter Benjamin. Da solche Schriftsteller sich nun beim Textverfassen am Format der Rubrik in der jeweiligen Zeitung orientierten und vor allem ihre Texte auf den eiligen Konsum des zerstreuten Lesers hin konzipieren mussten, wird in den 1920er Jahren mit den kurzen Formen – von Aphorismen über Denkbilder und Anekdoten bis zu prosaischer Gebrauchslyrik – äußerst produktiv und verschiedenartig experimentiert. Aus dem Reichtum solcher Texte wurden wiederum Sammlungen auf den Büchermarkt gebracht. Heinrich Mann stellte z.B. seine journalistischen Arbeiten in der Form der Essaysammlung Sieben Jahre: Chronik der Gedanken und Vorgänge (1929) zusammen. Kracauers Die Angestellten (1931) erschien zuerst als Serie in der Frankfurter Zeitung. Alfred Polgar, der Wiener Schriftsteller und Mitarbeiter der Weltbühne, gab aus seinen Feuilletons und Theaterkritiken mehrere Sammelbände wie z.B. An den Rand geschrieben (1926) oder Ich bin Zeuge (1927) heraus. Auch Benjamins Einbahnstraße (1928) enthält in der Buchausgabe kaum Originaltexte; die meisten der kleinen Aufzeichnungen sind zuerst vereinzelt in der Literarischen Welt oder der Frankfurter Zeitung erschienen. Diese Form der Anthologie im Sinne von Sammel- und Auswahlband ist vor allem bedeutsam, wenn es sich um die Selbstreflexion eines Autors handelt, welcher sich zugleich als Herausgeber an der Edition im Medium der etablierten Buchform beteiligt. So scheint sich die Form der Sammelveröffentlichung besonders in der Weimarer Republik, wohl verursacht durch die nach 1918 unübersehbare Funktionskrise der bürgerlich-humanistischen Tradition, vielfältig entwickelt zu haben. Es fragt sich natürlich, ob und inwieweit man die unterschiedlichen Formen der Anthologie-Praxis für konform mit ihren jeweiligen – zum Teil auch propagierten – Konzeptionen halten kann. 16 Vgl. dazu z.B. Feuchtwanger, Lion: „Von den Wirkungen und Besonderheiten des angelsächsischen Schriftstellers“, in: Berliner Tageblatt, 29.3.1928, zit. nach Kaes (wie Anm. 12), S. 179f.; Kracauer, Siegfried: „Über den Schriftsteller“, in: Die neue Rundschau, Juni 1931, zit. nach Kaes (wie Anm. 12), S. 190f.
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Hier möchte ich jedoch daran festhalten, dass sich diese Sammelveröffentlichungen unter sowohl kunstästhetischem als auch medialem und marktstrategischem Aspekt mit dem Funktionswandel der Buchform auseinandersetzen mussten. Davon ausgehend lässt sich nämlich erschließen, auf welche bestimmte Funktion der Herausgeber bei dem jeweiligen Projekt der Sammelveröffentlichung besonders setzte.
2.
Was könnte eine Sammelveröffentlichung reflektieren?
Im Anschluss an die obige Skizze zur historischen Typologie der Anthologie sollen nun ihre funktionalen Besonderheiten hinsichtlich der jeweiligen Buchausgaben genauer betrachtet werden. Die Produktionsbedingungen und -verhältnisse einer Sammelveröffentlichung können je nach Autorschaft, hier vor allem nach dem Verhältnis von Herausgebern zu den Texten sowie ihren Autoren, deutlich unterschieden werden.17 Meinen Klassifikationsversuch, wie schematisch auch immer, möchte ich mit dem Typus der Sammelveröffentlichung zeitgenössischer Texte beginnen: Sie widerspricht dem eigentlichen Sinn der Anthologie, welche ursprünglich retrospektiv der Bewahrung der Texte dienen sollte. Das verstärkte Auftreten solcher Sammelveröffentlichungen nach dem Ersten Weltkrieg kann deshalb als Indiz für die Intention verstanden werden, die eigene Gegenwart und ihre Literatur selbst bereits ‚historisch‘ zu sehen. Besteht ein Buch um 1920 aus Texten verschiedener zeitgenössischer Autoren, lassen sich deswegen auch unschwer programmatisch-manifestartige Ansätze erkennen, die avantgardistische Projekte auszeichnen, welche mittels der Veröffentlichung einer Antho17 Im Folgenden verstehe ich unter Autor, Herausgeber sowie Text: Autor = Textverfasser(in), Herausgeber = für die Buchausgabe editorisch verantwortliche(r) Redakteur(in), Text = eine materielle Einheit für alle möglichen Produkte des Autors: (un-)veröffentlichte Schriften (inklusive Briefe oder Manuskripte), Interviews in Zeitungen, Rundfunk- sowie Fernsehprogramme, Vorlesungsaufnahmen, gegebenenfalls auch fotografische Materialien usw. Bei der Unterscheidung von „zeitgenössisch“ und „historisch“ tauchen zwar sicherlich noch zu differenzierende Vorbehalte angesichts der Generationenproblematik auf, aber im weiteren gebrauche ich schematisch den Ausdruck „zeitgenössisch“ im Sinne von „während der Lebenszeit des Autors“ bzw. „aus dem Zeitraum der Lebenszeit des Herausgebers“, um die funktionale Differenz zwischen den editorischen Prozeduren deutlich darzustellen. Als „historisch“ sind auch Fälle zu klassifizieren, bei denen die Autoren aus verschiedenen Epochen inklusive der Gegenwart ausgewählt wurden.
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logie an potenzielle Anhänger appellieren wollten. Beispielsweise stellt Huelsenbecks Einleitung zum Dada Almanach solch einen performativen Appell zur Differenzierung der Dada-Bewegung als Tätigkeit dar, während sie sich vorgeblich gegen eine Theorie des Dadaismus oder eine bestimmte Parteilichkeit Dadas ausspricht.18 Hierbei tritt der Herausgeber oft als Vertreter der jeweiligen kunstästhetischen, und gegebenenfalls auch politischen Position des Buches in Erscheinung. Wenn ein Autor zugleich als einziger Redakteur für seine eigene Buchausgabe verantwortlich ist, bezieht sich die Auswahl der Texte mehr oder weniger auf die strategische Selbstbewertung des Autors: Einerseits darf zwar ein retrospektiver und (auto-)biographischer Aspekt bei der Edition nicht unberücksichtigt bleiben, aber andererseits sollte doch der Zugang zur zeitgenössischen, oder möglicherweise auch zur zukünftigen Leserschaft beachtet werden: Da der Autor nun mit Blick auf den Büchermarkt eine Vermittlerrolle zu spielen hat, handelt es sich hierbei nicht nur um künstlerisch-produktionsästhetische Positionen im Rahmen einer etablierten Literatur- bzw. Kulturgeschichte, sondern vielmehr um eine Art von Investitionsverfahren, welches sich nun sowohl auf wirkungsästhetische Rezeptionsbedingungen bei der zeitgenössischen Leserschaft als auch auf publizistisch-marktstrategische Produktionsbedingungen hin orientiert. Unter diesen Umständen beziehen sich die fotografischen Anthologien besonders auf eine epochentypische Problematik: Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Existenz von literarischen Werken, d.h. ihre literarisch-gattungspoetischen Formen im konventionell gültigen Sinne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, wieder in Frage gestellt, so dass die Produkte vieler ‚Schriftsteller‘ – von Tucholsky bis Benjamin –Texte oder Schriften zu nennen sind. Wie schon oben dargestellt, hängt dies nicht zuletzt von den rasch veränderten Produktionsbedingungen in den zwanziger Jahren ab. Insbesondere bei Sammel- und Auswahlbänden von Zeitungsartikeln, welche sich nicht ohne medialen Bezug auf die vorgegebenen Spalten der Periodika als 18 „Der Herausgeber, der von einem höheren Standpunkt parteilos verfahren zu sein hofft, scheut im Einzelnen den Angriff nicht, da der Widerstand von allen Seiten eine Notwendigkeit und Freude seiner dadaistischen Existenz ist. […] Der Dadaist hat die Freiheit, sich jede Maske zu leihen, er kann jede ‚Kunstrichtung‘ vertreten, da er zu keiner Richtung gehört. Der Herausgeber hofft in diesem Buch zu zeigen, daß Dada nichts mit ‚Verrücktheit‘ zu tun hat. […] Ich übergebe dieses Buch dem Publikum einer Zeit, die in ihrer Querköpfigkeit und in ihrem Eigensinn fast eine heroische Geste erreicht hat. Die Zeit ist dadareif. Sie wird in Dada aufgehen und mit Dada verschwinden.“ In: „Einleitung“, in: Dada Almanach. Im Auftrag des Zentralamts der Deutschen Dada-Bewegung, Berlin 1920, S. 3-9, hier: S. 9.
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Kleinformen charakterisieren lassen19, spielt diese editorisch bestimmte bzw. vermittelte Autorschaft die entscheidende Rolle. Es scheint nun, dass die Zusammenstellungen von Pressefotos gleichfalls den Prinzipien der Edition eines Sammelbandes besonders dann folgen, wenn ein Herausgeber als Ersatzautor das Buch zum Zweck der Epochen- bzw. Wirklichkeitsdarstellung veröffentlichen wollte. Bei der Sammelveröffentlichung historischer Texte stellt sich die Frage nach den editorischen Kriterien umso entscheidender, nämlich zu welchem Zweck, für welche Leserschaft, in welcher Preislage und in welchem Format die jeweilige Veröffentlichung erscheinen sollte. Bemerkenswert ist zunächst der Fall, bei dem sich der Herausgeber als einziger Vertreter mit einem größeren Zeitraum (z.B. ‚vom Barock zur Gegenwart‘) sowie mit verschiedenen Einstellungen (Gattungsfrage, ästhetische Stellungnahme, zu erwartende Leserschaft usw.) zu beschäftigen pflegt: Das Verfahren des Ein- und Ausschließens der Texte und Autoren ähnelt nämlich einem individuellen Kanonbildungsversuch. Dass kulturkonservative Autoren wie Hofmannsthal die Form ‚Lesebuch‘ für ihre Reform- bzw. ihre Erneuerungsversuche der deutschen Kultur gerne ausnutzen wollten, gehört in diesen Zusammenhang. Ob diese Art von Unternehmen sich kunstästhetisch erschöpfend als typisch kulturkonservativ bezeichnen lässt, kann jedoch mit Grund bezweifelt werden. Auf der Seite der journalistischen Schriftsteller betrifft der Fall zum Beispiel E. E. Kisch, der als angeblicher Reporter eigentlich die Neutralität des Berichterstatters vertreten sollte. Als Herausgeber stellte er jedoch Texte aus verschiedenen Epochen zusammen und brachte sie unter dem Titel Klassischer Journalismus in einem umfangreichen Band heraus.20 Hierbei handelt es sich also um die Art und Weise einer Geschichtsschreibung mit Blick auf die je eigene Einstellung des Herausgebers. Sowohl normative Position als auch Marktstrategie des Verlegers sind dann doch nicht mehr zu vermeiden, weil nun eine je ‚starke‘ Autorschaft als Vertreter, als Garant oder auch als Agentur zur qualitativen Bestätigung der jeweiligen Texte an der Edition in den Vordergrund tritt. Davon ausgehend ist ferner auf einen Anhaltspunkt zur normativen Autorschaft 19 Zu medialen Bezügen des Sammelbandes als Buchform am Beispiel Tucholskys vgl.: Yamaguchi, Yuko: „Das Buch im Wandel: Versuch zu Sammelbänden Kurt Tucholskys (1927-31)“, in: Masato Izumi/Takami, Takami et al. (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein: Zur Repräsentation von Mentalitäten in literarischen und historischen Dokumenten Japans und Europas, Tokyo 2005. 20 Kisch, Egon Erwin (Hrsg.): Klassischer Journalismus: die Meisterwerke der Zeitung, Berlin 1923.
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hinzuweisen. Der Name des Herausgebers spielt nämlich gegenüber den gesammelten Texten sowie ihrer Leserschaft ausschließlich im normativen Sinne eine paratextuelle Rolle: Weniger für die Textverfasser, sondern vielmehr für den Herausgeber ist in der Buchausgabe nämlich der privilegierte Platz des Autors als ‚Label‘ d.h. Orientierungshilfe reserviert, welche den Zugang des Lesers zur Sammlung steuert.21 Auch wenn ein Herausgeber sich selbst z.B. als verspäteten Epigonen bezeichnet und sich angeblich bescheidener präsentiert, um retrospektiv Texte vergangener sowie zu respektierender Klassiker zusammenzustellen, hat er immer noch die entscheidende Macht, sie auszuwählen, explizit als lesenswert zu markieren und sie bewahrend implizit von den restlichen Marginalen zu unterscheiden. Schließlich besitzt er auch das Recht, sein ‚Label‘ als Garant neben den Buchtitel aufzukleben. Je selektiver die Edition wird, desto normativer muss die Auswahl vorgehen. Nach Tucholskys Kritik an den Editionen zeitgenössischer Anthologien ist es durchaus möglich, dass er als Herausgeber seinerseits mittels der Form Anthologie performativ bzw. implizit eine starke Autorschaft suggeriert. Hingegen wirken die Herausgeber in einer Schriftenreihe wie Deutsche Literatur bei Reclam anders als die Einzelherausgeber. Da es sich in ihrem Fall mehr um kollektiv-institutionelle Strategien bzw. um die jeweiligen Positionen der Verleger handelt, werden nicht zuletzt marktstrategische Interessen im Literaturbetrieb durchgesetzt. In diesem Zusammenhang lassen sich wohl auch die Werbeaktivitäten des Reclam-Verlags erwähnen. Von den schulspezifischen Werbemaßnahmen des Jahres 1927 über die Bücherreihe der Gegenwartsliteratur Junge Deutsche bis zur Rundfunk- und Theater-Bibliothek (in Leinen gebundene Sammelausgaben jeweils mehrerer Operntexte) sind sol21 Hier beziehe ich mich auf die Definition des Autors als ‚Label‘ von Dirk Niefanger: „Den Autornamen als ein Label zu fassen, bietet die Möglichkeit, ihn als Paratext mit verschiedenen Informationen zu lesen. Er gibt Hinweise über den Wert (etwa das latente symbolische Kapital) eines Textes, über dessen Positionierung im jeweiligen Diskurs und den Ort des Autors im kulturellen Feld; er vermittelt ein Image und verspricht eine bestimmte Qualität. Daß diese Hinweise verschlüsselt, ja kompliziert codiert sind, versteht sich von selbst. Das Label ist nicht Bestandteil des eigentlichen Textes, sondern steht in einem engen, sogar in einem interpretativen Verhältnis zu ihm. Es bildet seinen Rahmen und – um ein anderes Bild zu gebrauchen – den Vorraum, über den der Text betreten wird.“ Niefanger, Dirk: „Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)“, in: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart u.a. 2002, S. 521-539, hier: S. 526.
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che Bücherreihen eng mit bestimmten Verkaufsstrategien verknüpft worden.22 Außerdem lässt sich eine editorische Autorschaft des Herausgebers gegenüber den vielen historischen Autoren sicherlich noch in einem epochen- oder gattungsspezifischen Einzelband feststellen, wobei dann nicht mehr das Fallschema erfüllt wird. Umgekehrt gesagt ist der Einfluss des Herausgebers im Einzelband bezogen auf die ganze Schriftenreihe für einen durchschnittlichen Leser nur schlecht zu erkennen. Sehen wir nun vom vertretenden Herausgeber als Chefredakteur ab, dann sind die Herausgeber im Hinblick auf das ganze Projekt als kollektive ‚Herausgeberschaft‘ in die Schriftenreihe integriert worden, so dass hierbei die individuelle Funktion des einzelnen Herausgebers weniger auffällig wird. Durch die oben dargestellte Gliederung lässt sich das Produktionsverfahren der Form ‚Sammelveröffentlichung‘ Anfang des letzten Jahrhunderts im deutschsprachigen Kulturraum folgendermaßen zusammenfassen: Bei der Produktion einer Textsammlung gelten weniger die entstehungsgeschichtlichen Bewertungen der Textverfasser als vielmehr die editorischen Bezüge der Herausgeber, welche ihre Einstellungen in mehrfacher Hinsicht sowohl explizit als auch implizit zu reflektieren vermögen. Die zentrale Problematik umfasst deswegen auch die Relation der Herausgeber zur jeweiligen Buchausgabe als Projekt. Die Autorschaft als Effekt auf die Leserschaft hängt vornehmlich am Herausgeber als wirksamem Label bzw. Markenzeichen, und dies zeigt sich vor allem deutlich bei den Fällen, wo die Buchform bzw. literarische Form dem jeweiligen Produzenten im Funktionswandel krisenhaft erscheint. An der Sammelveröffentlichung lässt sich mit Aufmerksamkeit für das Medium Fotografie deshalb eine konfrontative Diskussion um Visualität und Schrifttum verfolgen.
3.
Zum Vergleich: Sammelveröffentlichungen in Japan
Wie bisher dargestellt, erscheint die vom neuhumanistischen Bildungsbürgertum privilegierte Schriftkultur im deutschsprachigen Kulturraum 22 Vgl. dazu z.B.: Ewald, Georg: „Werbebeilagen in Reclams Universal Bibliothek“, S. 245-257; Koch, Hans-Albrecht: „Deutsche Gegenwartsliteratur in der Universal-Bibliothek der zwanziger Jahre“, S. 282-298; Lerner, Andreas: „Die Universal-Bibliothek und die Schule“, S. 305-318; alle in: Dietrich Bode (Hrsg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867-1992. Verlags- und kulturgeschichtliche Ansätze, Stuttgart 1992.
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besonders in der Weimarer Republik (1918-1933) zunehmend in eine Funktionskrise geraten zu sein. Die Konjunktur der verschiedenartigen Sammelveröffentlichungen lässt sich besonders von den Produktionsbedingungen im Hinblick auf ihre Autorschaft als eine Art von Reaktion auf solche Veränderungen interpretieren. Der technische Aufstieg der neuen ‚unliterarischen‘ Medien war von vielen Schriftstellern offensichtlich als bedrohend, mit anderen Worten, ‚wirksamer als Schrifttum‘, empfunden worden, so dass die sinnliche Übermacht der Bilder in der Massengesellschaft auf verschiedene Weise reflektiert worden war. Einer der Konfrontationseffekte war nämlich die Flut von Fotobüchern. Richtet man den Blick auf Japan im entsprechenden Zeitraum23, so ist hier kaum ein solches Krisenbewusstsein in der Schriftkultur gegenüber den visuellen Massenmedien zu finden. Ganz im Gegenteil: Der Funktionswandel von Schriften, seien es Bücher oder Periodika im Literaturbetrieb, ist zwar einerseits im Hinblick auf die technische Entwicklung der neuen Medien wie Film oder Fotografie ebenso festzustellen, aber die japanische Schriftkultur konnte als Ventil der kommenden Kultur- und Unterhaltungsindustrie ihre Funktion als neuer Kulturkapitalträger bzw. als Bildungsapparat in der Zeit der globalen Medienumbrüche ohne konfrontative Konkurrenz gegen die visuellen Medien bewahren.24 23 Zur regionalspezifischen Akzentverschiebung dieser Epoche in Japan (1918-1933): Da sich diese Arbeit an eine deutschsprachige Leserschaft richtet, geht sie von der deutschen Epochenbegrenzung (1918-1933: vom Ende des ersten Weltkriegs bis zum Beginn der Nazi-Herrschaft) aus. Freilich soll hier eine verschobene Situation in Japan ergänzt werden: Für Japan sind die so genannten zwanziger Jahre durch eine Zäsur (Wechsel des Tennǀ-Kaisers) zu halbieren: Die erste Hälfte gehört zur späten Taishǀ-Zeit (30.7.1912-25.12.1926) und die letzte zum Anfang der Shǀwa-Zeit (26.12.1926-6.1.1989). Auch das Jahr 1923 bezieht sich in der japanischen Geschichtsschreibung weniger auf die Hyperinflation, sondern vielmehr auf die große Erdbebenkatastrophe in Tokyo (Kantǀ-Daishinsai), welche in mehrerer Hinsicht, etwa als Ereignis der Endphase der Taishǀ-Zeit, dem Zeitalter der Demokratie, oder auch als Anlass der Urbanisierung der Großstadt Tokyo, symbolisch interpretiert werden kann. In diesem Sinne lässt sich hier kurz anmerken, dass die Jahre 1925-1927 für den japanischen Zeitgeist sowohl auf ein Ende als auch auf einen Neubeginn hinweisen. Zur sozialkulturellen Geschichte dieser Zeit vgl z.B.: Minami, Hiroshi: Shakaishinri kenkynjjo: Taishǀ-bunka 1905-1927 (Die Kultur in der Taishǀ-Zeit 1905-1927), Tokyo 1987a; Ders: Shǀwa-bunka 1925-1945 (Die Kultur in der Shǀwa-Zeit 1925-1945), Tokyo 1987b; Takemura, Tamirǀ: Taishǀbunka. Teikoku no ynjtopia (Die Kultur in der Taishǀ-Zeit. Utopie eines Reichs), Tokyo 2003. Übersetzung der Originaltitel von mir. 24 Zur japanischen Lesekultur sowie Schriftkultur in diesem Zeitalter vgl. z.B. Maeda, Ai: Kindai-dokusha no seiritsu (Entstehung der modernen Leser),
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Zunächst soll die japanische Leserschaft bzw. Öffentlichkeit für die Massenproduktion der verbilligten Schriftenreihen betrachtet werden. Am 3.12.1926 begann die erste Yen-pon Reihe (1-Yen-Bücher) als Sammlung moderner japanischer Literatur (Gendai-nihon-bungaku-zenshnj) beim Verlag Kaizǀ-sha zu erscheinen: Unter dem Schlagwort, „die Künste der privilegierten Klasse sind nun für die Masse befreit worden“25, sollte monatlich ein Auswahlband zeitgenössischer Autoren von ca. 500 Seiten in einem Schuber veröffentlicht werden, welcher zum Subskriptionspreis von 1 Yen pro Band zur Verfügung stand. Auf diese 37-bändige Serie (in der ersten Phase; in der zweiten dann 63 Bände) gab es bereits 2 Monate nach der Subskriptionsanzeige über 350.000 Subskribenten. Darauf folgend stand dann im Januar 1927 beim Verlag ShinTokyo 2001; Kǀno, Kensuke: Shomotsu no kindai. Media no bunkashi (Das Buch im modernen Zeitalter. Kulturgeschichte der Medien), Tokyo 1999, v.a. S. 185-259; Nagamine, Shigetoshi: Zasshi to dokusha no kindai (Zeitschriften und Leser im modernen Zeitalter), Tokyo 1997; ders: Modan-toshi no dokusho-knjkan (Lesefelder der modernen Stadt), Tokyo 2001. Bezogen auf die literaturgeschichtlich-publizistischen Studien der zwanziger Jahre, vor allem auf die Massenkultur vgl. außerdem: Ikeda, Hiroshi (Hrsg.): „Taishnj“ no tǀjǀ. Hirǀ to dokusha no 20 - 30 nendai (Auftritt der „Masse“. Die 20er und 30er Jahre für Heroen und Leser), Tokyo 1998; Tsurumi, Shunsuke: Taishnj-bungaku-ron (Theorie der „Taishnj-bungaku“), Tokyo 1985; Ikeda, Hiroshi: Taishnj-shǀsetsu no sekai to han-sekai (Die Welt und Gegen-Welt in den Taishnj-shǀsetsu), Tokyo 1983. Zu mediengeschichtlichen Ansätzen vgl. z.B., über die Zeitschriften: Nagamine, Shigetoshi: Zasshi to dokusha no kindai (Zeitschriften und Leser im modernen Zeitalter), Tokyo 1997, S. 77-239; Satǀ, Takumi: „King“ no jidai: Kokumintaishnj-zasshi no kǀkyǀsei (Die Zeit der „King“: Öffentlichkeit bei der nationalen Massenzeitschrift), Tokyo 2002. Über die Fotografie: Kaneko, Rynjichi et al.: Nippon kindai-shashin no seiritsu. 1923-1941 (Die Entstehung der modernen japanischen Fotografie 1923-1941), Tokyo 1987; Iizawa, Kǀtarǀ: Shashin ni kaere. „Kǀga“ no jidai (Zurück zur Fotografie. Die Zeit der „Kǀga“ [„Lichtbild“]), Tokyo 1988; ders: Toshi no shisen. Nihon no Shashin 1920-30 nendai (Perspektive der Stadt. Die japanische Fotografie in den 20er und 30er Jahren), Osaka 1989; ders: Nihon-shashin-shi wo aruku (Einführung in die japanische Fotogeschichte), Tokyo 1999. Zur Geschichte der japanischen Fotografie in europäischen Sprachen vgl. z.B.: Spielmann, Heinz: Die japanische Photographie: Geschichte, Themen, Strukturen, Köln 1984; Kaneko, Rynjichi (Hrsg.): Japanische Photographie 1860-1929 [Ausstellungskatalog], Berlin 1993; Tucker, Anne Wilkes et al. (Hrsg.): The history of Japanese photography [Ausstellungskatalog], Houston 2003, v.a. siehe: Tanabe, Joe: „The Age of Modernism: From Visualization to Socialization“, S. 142-157; Kaneko, Rynjichi: „Realism and Propaganda: The Photographer’s Eye Trained on Society“, S. 184-193. 25 Werbung in der Asahi-Zeitung, 18.10.1926, zit. nach Maeda (wie Anm. 24), S. 295.
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chǀ-sha die Schriftenreihe der Weltliteratur (Sekai-bungaku-zenshnj) zum Abonnement, und diesmal erfolgten 580.000 Reservierungen, so dass diese Art der Sammel- bzw. Reihenveröffentlichung in den weiteren Jahren rasch in Mode kam.26 Dies zeigt einen bemerkenswerten Funktionswandel der Bücher in Japan: Das neue Verkaufssystem, zunächst nicht Einzelbände, sondern ganze Serien subskribieren zu lassen, kräftigte erstens die Finanzquellen der Buchautoren. Das neue Auslieferungssystem, monatlich einen Band zu veröffentlichen, brachte dann zweitens eine mediale Parallelität zu Monatsschriften oder Periodika. Drittens ist eine heftige Werbekonkurrenz in den Zeitungen und Zeitschriften27 im Vergleich mit der deutschen Massenproduktion von Büchern zu erwähnen, wobei die kulturellen Funktionen der Sammelveröffentlichungen zwischen den beiden Literaturbetrieben besonders unterschiedlich erscheinen. Anders als in europäischen Ländern wurde in Japan kaum von der Krise des etablierten Schrifttums gesprochen. Wie schon erwähnt, diente die Massenproduktion vielmehr zur finanziellen Besserstellung der Schriftsteller, welche während des Yen-Pon-Booms (1926-1929/30) ihre Werke an mehrere Verlage verkaufen und sie in Form von gebundenen Auswahlbänden verbreiten konnten. Da die Serien auch in öffentlichen Bibliotheken zur Verfügung standen und auch nach dem Ende der Hochkonjunktur 1929/30 immer noch als antiquarische Bücher verbilligt (zu ca. einem Zehntel des ursprünglichen Preises) erhältlich blieben, wurden sie für eine breiteste Öffentlichkeit von den Studenten bis zur Arbeiterklasse zugänglich. In jedem Fall brachte das Yen-Pon-System als Popularisierungsund Demokratisierungsinstrument des Mediums Buch Umbrüche im Leseverhalten. Die Buchlektüre gehörte nun nicht mehr ausschließlich zum Privileg einer einzigen Sozialklasse, sondern wurde jedermann zugänglich. Die Anzahl der als Yen-Pon veröffentlichten Bücher weist schon auf diese Sondersituation in Japans Schriftkultur hin: Allein die meistverkaufte Weltliteratursammlung vom Verlag Shinchǀ-sha (1927, 38 Bände) hatte es bereits auf über zehn Millionen Exemplare gebracht, bevor sie abgeschlossen wurde. Als Yen-pon-Serien tauchten tatsächlich über 200 Nachahmungen von der klassischen Weltliteratur bis zur Jugendliteratur auf dem Büchermarkt auf, die jeweils immerhin einige hunderttausend 26 Zur Leserschaft, dem Auslieferungssystem sowie den statistischen Daten der Yen-pon Schriftenreihen vgl. u.a.: Minami 1987b (wie Anm. 23), S. 287-302; Nagamine 2001 (wie Anm. 24), S. 131-157, S. 203-243. Zur Weltliteratursammlung siehe auch: Yaguchi, Shinya: Sekai-bungaku-zenshnj (Die Weltliteratursammlung), Tokyo 1997, v.a. S. 44-62. 27 Vgl. Maeda (wie Anm. 24), S. 295f.
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Exemplare verkaufen konnten. Berücksichtigt man dazu noch den antiquarischen Buchmarkt, lässt sich eine Überflutung durch Bücher im Leben der Japaner damals wohl leicht vorstellen. Dieses japanische Verlags- und Vertriebssystem ist auch angesichts seiner publizistischen Wirksamkeit nicht mit anderen, etwa europäischen Buchgemeinschaften, zu vergleichen. Das Leseverhalten der Japaner wurde z.B. durch diese neue Publikationsart entscheidend beeinflusst: Vor allem die Angestellten, die die monatlich erscheinenden Bücher meist im Zug auf dem Weg zum Arbeitsplatz zu lesen pflegten, verbreiteten als neue bedeutende Leserschicht ein neues Leseverhalten im urbanen Lebensraum. So kam das Bedürfnis auf, eine Hausbibliothek in der modernen Wohnung, besonders im extra europäisch ausgebauten Zimmer eines als bunka-jnjtaku (Haus der Kultur) bezeichneten Mode-Hauses, einzurichten; damit konnten die neuen Angestelltenmassen ihre „intellektuelle“ Bücherlektüre bzw. ihren Bücherbesitz als privilegiert gegenüber der Zeitungslektüre der Arbeiter präsentieren, welche höchstens Einzelbände zur Verfügung hatten und meist Bücher bei den öffentlichen Bibliotheken ausleihen mussten.28 Um diese Wünsche zu erfüllen, spielten Sammelveröffentlichungen als literarische Massenprodukte die entscheidende Rolle. Freilich hatte dieser neue Mittelstand auch das Risiko zu tragen, um mit einem bekannten Redakteur zu sprechen, zum ‚lesenden Mob‘ zu werden: Man brauchte nun Bücher weniger zum Zweck der Bildung, sondern vielmehr für die zerstreuende Unterhaltung. Auch die IwanamiBunko-Taschenbuchausgaben, welche 1927 nach dem Vorbild der deutschen Reclam-Universal-Bibliothek und zugleich als Konkurrenzunternehmen zum Yen-Pon begründet worden waren, sollten in diesem Zusammenhang erwähnt werden.29 Davon ausgehend lassen sich wohl die damaligen Produktionsbedingungen japanischer Schriftsteller noch ausführlicher betrachten. Vor allem, wenn es um die Relationen zwischen Schriftstellern und Periodika geht, scheinen gewisse Kombinationen zwischen Autorennamen und Zeitschriften in Japan immer symbolisch verbindlicher funktioniert zu haben. Obwohl die Verbindungen zu Zeitungen durch die Publikation von Fortsetzungsromanen bereits bei der ersten Generation der Modernisierung um die Jahrhundertwende, wie z.B. bei Natsume Sǀseki (18671916), deutlich zu erkennen sind, erhielten die Periodika dieser Zeit im 28 Nagamine 2001 (wie Anm. 24), S. 218f. 29 Zur Adaption des Reclam-Modells in Japan vgl.: Mathias, Regine: „Reclam in Japan. Universal-Bibliothek und Iwanami-Bunko“, in: Dietrich Bode (Hrsg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867-1992. Verlags- und kulturgeschichtliche Ansätze, Stuttgart 1992, S. 258-281.
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Lauf der Demokratisierung des kulturellen Lebens sowie der Entwicklung einer Kulturindustrie neue Bedeutungen. Der Autorname Edogawa Ranpo (1894-1965) erinnert nicht zuletzt an die neu begründete, auf Kriminalromane und phantastische Grotesken spezialisierte Zeitschrift Shin-seinen (Neue Jugend, 1920-1950). Ebenso ist der damalige ‚PopAutor‘ Kikuchi Kann (1888-1948) noch heutzutage als Begründer der weiterhin existierenden Zeitschrift Bungei-shunjnj (1923-) anerkannt. Für diese Monatsschrift lieferte sein Freund Akutagawa Rynjnosuke (18921927) seit dem ersten Heft die bekannten aphoristischen Aufzeichnungen Shuju no kotoba (Worte eines Pygmäen).30 Diese neuen Typen von Schriftstellern, wie Kikuchi Kan oder auch Kume Masao (1891-1952), die zugleich talentierte Redakteure und Vermittler waren, förderten vor allem die Popularisierung von Autoren wie Tanizaki Junichirǀ (18861965) oder Kawabata Yasunari (1899-1972). Ihre Affinitäten zu dem erwähnten populären Intellektuellenblatt Bungei-shunjnj sind im Vergleich zu deutschsprachigen Schriftstellern besonders bemerkenswert. Im Jahre 1925 kam schließlich die ‚Zeitschrift für die Million‘, nämlich das illustrierte Massenblatt King (1925-1950), beim Verlag Kǀdan-sha mittels Massenwerbeaktionen als strategische Waffe auf den Markt. Das neue Massenblatt versuchte, eine nationale Öffentlichkeit von den Intellektuellen über die Frauen und Jugendlichen bis zur unteren Arbeiterschicht als Abonnenten zu erreichen, und bereitete letztendlich so auf die kommende Mobilmachung des Faschismus in den 1930er und 1940er Jahren aktiv und effektiv vor.31 Im Hinblick auf die Massenproduktion von Buchreihen sowie Periodika kann die Autorschaft Akutagawas im Zusammenhang mit der sich verändernden Lesekultur in Japan erneut betrachtet werden: Seine Produktionsbedingungen sind zunächst mit den neuen Periodika eng und untrennbar verbunden. Die bekannte Debatte mit Tanizaki um Handlung oder Beschreibung wurde z.B. zunächst in der etablierten Intellektuellenzeitschrift Kaizǀ (1919-1944) im Rahmen der literaturkritischen Beitragsserie Bungeitekina, amarini bungeitekina (Literarisches, allzu Lite30 Unter diesem Titel von Januar 1923 bis Juli 1926 im Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift ausgewiesen, ab Dezember 1925 als Tsuioku (Erinnerungen) im Haupttitel umbenannt. Als Sammelband wurden sie unter dem Titel Shuju no kotoba nach dem Tod des Schriftstellers zusammen mit anderen Werken im Dezember 1927 wieder veröffentlicht. Zum Erstdruck vgl. Rynjnosuke, Akutagawa: Gesamtausgabe, 24 Bde., hrsg. v. Toshirǀ Kǀno et al., Tokyo 1995f., Bd. 13, S. 27f. und Bd. 16, S. 68f. 31 Vgl. Satǀ (wie Anm. 24). Zur Leserschaft von King in den zwanziger Jahren siehe auch Nagamine 1997 (wie Anm. 24), S. 203-250.
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rarisches) von April bis August 192732 fortgesetzt, dann wiederum nach dem Selbstmord des Autors als Sammelband zusammen mit anderen Werken wie Shuju no kotoba im Dezember 1927 in Buchform veröffentlicht. Darin bekennt sich Akutagawa zu Heine33, und mit Ausnahme von Lyrik rechnet er sogar jede literarische Kunst zum Journalismus.34 Auch für die Yen-pon-Serie war Akutagawa neben Kikuchi einer der populärsten Autoren. Bei der ersten Version von Kaizǀ-sha bestand der 30. Band ausschließlich aus seinen Texten, während gewöhnlich in einen Band Werke von zwei oder drei Autoren aufgenommen wurden. An den Werbeaktionen der Verlage, vor allem den Vortragsreisen der Schriftsteller, musste Akutagawa im wörtlichen Sinne als ‚Label‘ aktiv teilnehmen, so dass er dann unter den Konflikten in diesem ‚Yen-pon-Krieg‘ sehr zu leiden hatte.35 Auch die Herausgeber der 5-bändigen Lesebuchserie Kindainippon-bungei-tokuhon (Moderne Lesebücher der japanischen Literatur, 1925) verursachte ihm Probleme. Dieses Projekt war ursprünglich für den Schulunterricht zustande gekommen: In der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg brachten die neuen Gedanken der Demokratisierung in Japan viele Lehr- und Lesebuchprojekte für den Literaturunterricht hervor. Obwohl sich die Serie in Wirklichkeit viel schlechter als erwartet verkaufte, wurde Akutagawa trotzdem vorgeworfen, er habe sich mit den 32 Jetzt in Akutagawa (wie Anm. 30), Bd. 15, S. 147f. Im Folgenden Literarisches. 33 „Ich habe verschiedenen Europäern mehrmals schöne Augen gemacht. Aber, wenn ich jetzt zurückblicke, war es ein jüdischer Dichter-Journalist, den ich im Grunde meines Herzens am liebsten hatte: Heinrich Heine.“ In: Literarisches Nr. 3, u.d.T: Boku (Ich), 15.2.1927, zit. nach: Akutagawa (wie Anm. 32), S. 153f., hier: S. 154. Übersetzung aus dem Japanischen von mir. 34 Literarisches Nr. 20, u.d.T: Journalismus, 26.2.1927, zit. nach: Akutagawa (wie Anm. 32), S. 178f. Nachdem er sich als Dichter-Journalisten bezeichnet hat, entwickelt Akutagawa seine Gedanken über den Journalismus in seinen letzten veröffentlichten Werken Seihǀ no hito (Der Mann im Westen [angespielt wird auf Jesus, Y.]), zuerst im Aug. 1927 in Kaizǀ, zit. nach: Akutagawa (wie Anm. 32), S. 246f. (=A) sowie Zoku Seihǀ no hito (Nachlass, zuerst im Sep. 1927 in Kaizǀ, jetzt in: Akutagawa 1995, S. 274f.[=B]) weiter. Darin bezeichnet er nun Jesus Christus als Journalisten, wobei auch seine eigene Arbeit nicht zuletzt reflektiert wird. Siehe dazu: A/Nr. 14, 19; B/Nr.5, 6, 7, 9, 13, 14, 21, 22. Seine aphoristischen Aufzeichnungen zeigen jedoch, dass er unter Journalismus kaum bloß tagesaktuelle Tätigkeiten versteht. Vielmehr schätzt er den Journalismus als Rhetorik bzw. eine Art von Verhaltenslehre gegenüber der Zeit ein. Diese Interpretationen Akutagawas zum Journalismus lassen sich als eine strikte Selbstreflexion gegenüber dem Zeitgeist bezeichnen. 35 Vgl. Sekiguchi, Yasuyoshi (Hrsg.): Akutagawa Rynjnosuke shinjiten (Das neue Akutagawa Rynjnosuke-Lexikon), Tokyo 2003, S. 66, 197f.
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Leistungen anderer großes Einkommen verschaffen wollen. Vernachlässigt man die Umstände der Publikation, so lässt sich die Auswahl Akutagawas für die japanische Schrift- und Lesekultur als bemerkenswert bezeichnen. Bei der Selektion der insgesamt 148 Texte geht es um Autoren seit der Meiji-Zeit (1868-1912), wobei allerdings Texte seit der Jahrhundertwende (dem Ende der Meiji-Zeit) überwiegen. Der Herausgeber versucht, möglichst viele literarische Gattungen, von Theaterstücken über Romane als moderne literarische Formen bis zu Haiku-Texten, zu berücksichtigen. Besonders hervorzuheben ist, dass auch Übersetzungen europäischer ‚Weltliteratur‘ aus der Feder etablierter japanischer Autoren aufgenommen wurden. Um Beispiele zu nennen: Tsubouchi Shǀyǀ (1859-1935, Temupesuto [Shakespeare: The Tempest]), Mori ƿgai (1862-1922, Rǀsǀchǀ [Liliencron: Der alte Feldwebel]), Ueda Bin (18741916, Rakuyǀ [Verlaine: Chanson d’automne, in japanischer Übersetzung u.d.T: „Abgefallenes Laub“36]). Während diese Texte jeweils mit dem Namen des Übersetzers verzeichnet sind, wird der Original-Autor in kleinerer Schrift nach dem Titel in Klammern angegeben. Hieraus kann man schließen, dass Akutagawa das Übersetzen westlicher Literatur als moderne, selbständige Kunst der japanischen Literatur anerkannte. Auf der anderen Seite sind ebenso häufig Aufsätze zu damals neuen interkulturellen Thematiken, wie z.B. Watsuji Tetsurǀ (1889-1960, Philosoph): Nippon wa nani wo hokoru ka (Worauf man in Japan stolz ist) oder Ikuta Chǀkǀ (1882-1936, Übersetzer von Nietzsche): Gendai no yǀroppa to nippon to wareware to (Europa, Japan und wir in der Gegenwart) in der Auswahl zu finden. Aus diesem Überblick lässt sich eine interessante Tendenz zur ästhetischen Moderne innerhalb der japanischen Kultur der Taishǀ-Zeit erschließen: In der japanischen Lesekultur geht es nicht einseitig um eine passive Rezeption, Adaption oder Nachahmung der Modernisierung nach europäischem Vorbild, sondern vielmehr um eine aktive Überlieferung, Verarbeitung und Verinnerlichung der – noch bzw. nicht mehr so – fremden Kultur. Dabei spielt vermutlich das Fehlen eines Krisenbewusstseins der Japaner gegenüber der – durch den späten Kontakt mit der westlichen Welt ja erneuerten – Schrift- und Lesekultur eine entscheidende Rolle, welches beispielsweise in der deutschsprachi-
36 Das Gedicht stammt aus der Lyriksammlung Kaichǀon (Klang der Welle; zugleich ein rhetorischer Ausdruck für die Stimme Buddhas) von 1905, die zum literarischen Kanon in Japan gehört. In diesem Gedichtband sind Texte europäischer Dichter von Ueda ausgewählt und von ihm ins Japanische übertragen.
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gen Kulturlandschaft der zwanziger Jahre ein nach gut 100 Jahren in die Jahre gekommenes Bildungsbürgertum auszeichnete. Als Hinweis auf dieses mangelnde Krisenbewusstsein in der japanischen Lesekultur könnte man auch den unterschiedlichen Gebrauch der Fotografie bzw. die neuen Fotobücher erwähnen: Die technische Entwicklung der japanischen Fotografie war in den 1920er Jahren gerade so weit gekommen, dass fotospezifische illustrierte Blätter wie Asahi-Graph (1923-), Asahi-Kamera (1926-) oder SandƝ-Mainichi (1923-) gegründet und in hunderttausendfachen Auflagen verkauft werden konnten. Bei der großen Erdbebenkatastrophe in Tokyo (Kantǀ-Daishinsai, 1923) wurden auch fotografische Dokumente zum Zweck der journalistischen Berichterstattung in die Massenkommunikation eingeführt. Ein Fotobuch zu diesem Thema zählte z.B. über 700.000 Exemplare. Die Sonderausgaben anlässlich des Erdbebens, die von mehreren Magazinen herausgegeben wurden, erreichten insgesamt mehrere Millionen Exemplare. Hauptsächlich war jedoch die Fotografie als Kunstwerk in den späten 1920er Jahren von japanischen Bauhaus-Besuchern zusammen mit den ästhetischen Programmen Moholy-Nagys oder Franz Rohs in Japan eingeführt worden. Auch künstlerische Werke der Neuen Sachlichkeit, etwa Albert Renger-Patzschs Die Welt ist schön, wurden fast parallel zur Entwicklung in Europa vorgestellt. Vor allem die Tatsache, dass die fotografische Abteilung der Internationalen Ausstellung des Deutschen Werkbunds (1929 in Stuttgart) auch in Tokyo (13.4.-22.4.1931) und ƿsaka (1.7.7.7.1931) gezeigt wurde, übte einen entscheidenden Einfluss auf die avantgardistischen Fotografen aus, welche sich nun zur Shinkǀ-shashin (Neuen Fotografie) bekannten. Trotz dieser aktiven Rezeption der visuellen Medien bleibt im japanischen Kontext jedoch die Front gegen die Schriftkultur, wie sie in der Losung „Nicht mehr Lesen!“ in Deutschland zum Ausdruck kam, völlig aus. Sogar bei den theoretischen Beiträgen im epochentypischen Magazin Kǀga (1932/33 [Lichtbild]) sind keine konfrontativen Ansätze zwischen visuellen und schriftlichen Medien zu finden, obwohl es sich hier nicht zuletzt um den fotografischen Journalismus und seine soziale Funktion handelte. Auch im programmatischen Leitartikel des ersten Hefts erwähnt der Verfasser Ina Nobuo zwar die Konfrontation mit der bisherigen Kunstfotografie oder die soziale Funktion des Fotografen, aber sein Ruf in Anlehnung an Sascha Stones „Zurück zur Photographie“ umfasst keineswegs die Medienkonkurrenz im
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europäischen Kontext.37 Auch bei den Texten der damaligen theoretischen Leitfiguren wie Itagaki Takao (1894-1966) oder Kanamaru Shigene (1900-1977) handelt es sich überwiegend um die Kunst der Neuen Fotografie als Ästhetik des Technischen.38 Besonders auffällig ist der agitatorische Gebrauch der Fotografie. Bereits im Krieg gegen Russland (1904/05) ist Kriegspropaganda durch die Fotografie zu finden. Als journalistische Praxis war der Gebrauch der Fotografie durch die Erdbebenkatastrophe zwar bekannt, aber die meisten Fotografen strebten nach Höherem und interessierten sich vielmehr für die Neue Fotografie mit Blick auf die avantgardistische Fotomontage. Eigentliche ‚Reportage-Fotos‘ wurden erst 1932 von Natori Yǀnosuke (1910-1962), einem freien Mitarbeiter der Berliner Illustrierten Zeitung, aus Deutschland mitgebracht, was dazu führte, dass dieser Begriff ins Japanische (Hǀdǀ-shashin) übersetzt wurde. Obwohl sich die fotografische Technik genau wie in Europa bereits Mitte der zwanziger Jahre so weit entwickelt hatte, dass fotografische Propaganda zu Zwecken politischer Agitation eingesetzt werden konnte, tritt der japanische Fotojournalismus erst in den 1930er Jahren mit Natori und „dem Meister der Leica“39, nämlich Kimura Ihee (19011974), durch die Gründung der Nippon-kǀbǀ ([Die japanische Werkstatt] 1933-1934; 1934-39) programmatisch auf.40 Kimura und einige andere 37 Vgl. Stone, Sascha: „Shashin ni kaere“ (Zurück zur Fotografie), in: Kǀga, 25.3.1932, zit. nach: Iizawa (wie Anm. 24), S. 226-237. Zu Kǀga vgl. Iizawa (wie Anm. 24). 38 Vgl. Itagaki, Takao: Kikai to geijutsu to no kǀrynj (Interaktionen zwischen Maschinen und Kunst), Tokyo 1929; Kanamaru, Shigene: Shinkǀ-shashin no tsukurikata (Rezepte für die Neue Fotografie), Tokyo 1932. Obwohl Kanamaru z.B. in seinem wichtigen Einführungsbuch von der agitatorischen Funktion der Fotografie spricht (S. 180f.), geht er doch nicht weiter auf ihre Wirksamkeit im Kontrast zum Schrifttum ein. In diesem Zusammenhang vgl. auch Horino Masao (1907-) und seine Werke wie z.B.: Kamera. Me × tetsu. Kǀsei (Kamera. Auge × Stahl. Struktur), Tokyo 1932; „Dai-Tokyo no seikaku“ (Der Charakter von Groß-Tokyo), in: Chnjǀ-kǀron, Sonderausgabe, 32, 46 (1931); „Shuto-kanrynj – Sumidagawa-arubamu“ (Fließen durch die Hauptstadt: Fluss Sumida-Album), hrsg. v. Murayama Tomoyoshi Tomoyoshi, in: Hanzai-kagaku, 2, 14 (1931). 39 Kaneko 2003 (wie Anm. 24), S. 189. 40 Während die erste Ausstellung von Prominentenporträts im Dezember 1933 (Laika ni yoru bungei-ka- shǀzǀ-shashin-ten) ein relativ großes Publikum erreichen konnte, weckte jedoch die zweite Ausstellung von Reportagefotos im März 1934 weniger Interesse beim japanischen Publikum. Vgl. Hasegawa, Akira: „Gurafu-jƗnarizumu no bokkǀ“ (Entwicklung des Graphischen Journalismus), in: Kaneko 1987 (wie Anm. 24), S. 123-160. Auch proletarische Organisationen hatten zwar Ende 1931 versucht, eine fotografische Ausstellung mit Bezug auf die agitatorische Fotomontage von John Heart-
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verließen Nippon-kǀbǀ schon 1934 und organisierten sich wieder in der neu gegründeten Werkstatt Chnjǀ-kǀbǀ (Die Zentrale Werkstatt). Reportage-Fotos nach den Vorbildern der deutschen AIZ oder der amerikanischen Zeitschrift Life, welche Kimura oder Natori eigentlich zu realisieren versuchten, erzielten in Japan ironischerweise erst im Kontext der Mobilmachung während der Mandschurei- (1931) sowie der ShanghaiAffäre (1932) größere Aufmerksamkeit: Manshnj-jihen-gahǀ (Illustrierte Mandschurei-Affäre) und Shanhai-jihen-gahǀ (Illustrierte Shanghai-Affäre), Sonderausgaben des Wochenmagazins Asahi-Graph (1923), konnten hierbei die Übermacht der Bilder ausnutzen.
4.
Fazit: ‚Medienumbrüche‘ ohne Konkurrenzbewusstsein?
Die bisher dargestellten, jeweils kleinen Belege und Indizien zur editorischen Form der Sammelveröffentlichung in Japan weisen insgesamt auf eine bestimmte Besonderheit hin: Das visuelle Massenmedium Fotografie wird in Japan zumindest in den zwanziger Jahren nicht als bedrohend für das Schrifttum wahrgenommen, während im deutschsprachigen Kulturraum das Bewusstsein von Medienkonkurrenz unübersehbar erscheint. Mit anderen Worten: Die japanische Schriftkultur konnte trotz der sich neu entwickelnden ‚unliterarischen‘ Medien gerade durch die Einführung von Sammelveröffentlichungen wie den Yen-pon-Büchern bzw. durch die Millionenproduktion von Periodika massenwirksam auf die Modernisierungsprozesse von Bildung und Unterhaltung reagieren. Ebenso hatte sich das visuelle Medium Fotografie als neue Wahrnehmungsform, obwohl es bereits 1848 (d.h. 20 Jahre vor der Meiji-Restauration 1868) in die japanische Kultur eingeführt worden war, ohne nennenswerte Kritik von Seiten der Schriftsteller und Leser verbreitet. Um dies entweder als friedliche Koexistenz in der Medienkonkurrenz oder als fehlendes Problembewusstsein zu beurteilen, wäre eine weitere Untersuchung mit Blick auf eine umfassende Mediengeschichte Japans notwendig, die z.B. die traditionelle Kombination von Bildern und Schrift seit emaki-mono (Bildrollen) in der höfischen Literatur thematisierte oder auch der Einsatz der japanischen Schriftsysteme bei der Kalligrafie. Gleichwohl lässt sich field oder russisch-sowjetischen Fotografen zusammenzustellen, aber sie kam wegen des Verbots durch die Geheimpolizei nicht zustande. Zu Reportagefotos im Zusammenhang mit der faschistischen Mobilmachung siehe: Hasegawa, Akira: „,Hǀdǀ-shashin‘ no yukue“ (Verlauf der „Reportage-Fotos“), in: Kaneko 1987 (wie Anm. 24), S. 163-189.
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hier feststellen, dass sich nirgends ein Krisenbewusstsein der Schriftkultur gegenüber dem visuellen Medium Fotografie findet. Japanische Fotosammlungen wurden zu Anfang des 20. Jahrhunderts – zeitgleich mit Deutschland, aber unter ganz anderen Umständen – jedenfalls ohne Konkurrenzbewusstsein gegenüber der Schriftkultur schon zahlreich veröffentlicht, bevor ihre Nachfolger schließlich in den 1930er Jahren zur militärischen Mobilmachung propagandistisch ausgenutzt wurden. Im Vergleich zur japanischen Situation tritt die deutsche Schriftkultur als Inkarnation des Bildungsbürgertums umso deutlicher hervor. Die Reaktionen auf die Autorität des Bürgertums erscheinen im deutschsprachigen Kulturraum besonders im Rahmen von Sammelveröffentlichungen durchaus gegensätzlich: Bei den literarischen Lesebüchern geht es um Traditionsbekräftigung, bei den avantgardistischen Anthologien dagegen um Emanzipation des ‚Neuen‘. Dies bedeutete für das neue Medium Fotografie in Deutschland Konfrontation von Anfang an. Aus den Produktionsbedingungen von Büchern in Deutschland, vor allem bei Sammelbänden von journalistischen Arbeiten und bei Fotobüchern, lässt sich deutlich erkennen, dass das ‚alte‘ Medium Buch auf den Aufstieg der neuen Medien mit Konfrontation und Krisenbewusstsein reagierte. Wie man diese Differenzen zwischen Japan und Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in einer globalen Mediengeschichte werten kann, bleibt freilich noch weiteren Untersuchungen vorbehalten.
JOSEF FÜRNKÄS
MODERNE APHORISTIK MEDIALE MÖGLICHKEITEN UND LITERARISCHE FORM Ich bin ein Worte-macher: Was liegt an Worten! Was liegt an mir! Friedrich Nietzsche1
1.
Formen moderner Aphoristik – medial betrachtet?
Die folgenden Überlegungen und Ausführungen suchen zwei Komplexe in erkenntnisfähige Nachbarschaft zu bringen, die dem analytischen Sachverstand zunächst entfernt, ja beziehungslos oder unvereinbar erscheinen mögen: Formtheorie und moderne Aphoristik hier, Medientheorie und mediale Möglichkeiten von Kommunikation dort. Dieser Versuch, den recht gründlich, aber eben literaturwissenschaftlich beschränkt ausgearbeiteten Komplex von Aphorismus bzw. Aphoristik und den durch diskursive Moden zuletzt ebenso universalisierten wie zersplitterten Komplex von Medien bzw. Medialität einander anzunähern, verlangt wohl in den Grenzen des hier Möglichen, das Verständnis von aphoristischen Formen wie auch das von Medien neu zu überdenken. Im Gang der nachfolgenden Darstellung liefert Literaturwissenschaft die Ausgangsfrage, welche im literarischen Rahmen herkömmlicher Gattungstheorie nur ‚naiv‘, jedenfalls nicht zureichend beantwortet werden kann: diejenige nach der Form moderner Aphoristik. Medientheorie ihrerseits soll deshalb in der womöglich paradoxen Nähe solcher Versuchsanordnung ‚nur‘ bemüht werden, um herauszufinden, ob und inwiefern ihr Antworten und Hinweise für die gewünschte literarische Formbestimmung zu entlocken sind. Moderne Aphoristik figuriert also keineswegs nur als 1 Nietzsche, Friedrich: „Nachgelassene Fragmente 1884-1885“, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988, Bd. 11, S. 349.
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‚Material‘, um – womöglich eine bestimmte – Medientheorie am – womöglich verkehrten – Beispiel zu verdeutlichen, vielmehr ist diese umgekehrt als methodischer Umweg zu sehen, der zu jener zurückführen soll. „Kurze Rede, langer Sinn – Glatteis für die Eselin!“2 Das letzte von Nietzsches „Sieben Weibs-Sprüchlein“ aus dem „Siebenten Hauptstück: unsere Tugenden“ (237) in Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (zuerst 1886) exponiert diesseits des Spotts der inszenierten ‚kurzen Rede‘ das durchaus ernste Problem der Formsemantik moderner Aphoristik, das ebenso wie für Nietzsches epigrammatisches „Weibs-Sprüchlein“ selbst auch für alle möglichen ‚kurzen Reden‘ und ‚Sprüchlein‘ gilt: Zeichen und Bedeutung, Signifikanten und ihr Signifikat treten schon sichtbar wie hörbar auseinander, vertauschen in einem rhetorischen Chiasmus ihre nach traditioneller Hermeneutik erwartbaren Positionen und Funktionen nach Quantität und Umfang. Aus der Rezeptionserwartung ‚viele Worte / ein Sinn‘ wird durch Überkreuzstellung, wenn nicht buchstäblich ‚ein Wort / viele Sinne‘, so doch figurativ eben „kurze Rede, langer Sinn“. Als verblüffendes Ergebnis auf der Weiße des Papiers erscheint so, dass wenige Zeichen kurzer Rede direkt an den ‚langen Sinn‘, genauer: dessen Möglichkeiten anstoßen. Das Paradoxon dieses möglichen ‚langen‘ Sinnes aber ist „Glatteis“ nicht nur „für die Eselin“, sondern eben für alle Leserinnen und Leser, eingeschlossen alle fachwissenschaftlichen bzw. philologischen, die nach Maßgabe von Hermeneutik und Semantik den ‚kurzen‘ Sinn suchen, doch nicht finden können: Wer (so) sucht, der findet (gerade nicht). „Kurze Rede, langer Sinn“ – auch Nietzsches moderne Aphoristik ist ihrem auf ‚Zukunft‘ angelegten Sprachgestus und Schriftduktus zum Trotz zuletzt nicht ohne Ahnenforschung ausgekommen. „Was ich den Alten verdanke“ – in der späten, im Herbst 1888 zunächst im Umkreis der antichristlich-dionysischen Autobiographie Ecce Homo. Wie man wird, was man ist geschriebenen Berufungsgeschichte hat Nietzsche, der einstige Schüler des humanistischen Gymnasiums und vormalige klassische Philologe, den eigenen „Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil“3 vor allem bei Sallust und Horaz wieder erkennen wollen:
2 Nietzsche, Friedrich: „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“, in: ders. (wie Anm. 1), Bd. 5, S. 174. 3 Nietzsche, Friedrich: „Götzen-Dämmerung“, in: ders. (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 154. Vgl. zur Bedeutsamkeit antiker Autoren im Spätwerk Nietzsches Cancik, Hubert: Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 150f.
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Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen.4
Was der späte Nietzsche im Rückblick als Epigramm-Stil an ‚den Alten‘ rühmt, steht kaum verhohlen für die selbstrechtfertigende Absicht, das eigene – aphoristische – Schreiben über Zeitalter hinweg als dessen Wiederkehr in der imaginären Bibliothek einer Weltliteratur zu verewigen. Unverkennbar erscheint auch die ästhetische, d.h. hier fundamentale Opposition zur dekadenten Poesie „blosser Gefühls-Geschwätzigkeit“5, die mit Roman-Lesesucht und Opern-Maskeradenlust in einem durch Arbeitsmoral gleichzeitig so nüchternen 19. Jahrhundert nicht weniger schwatzhafte Geschwister hatte. Denker als Stilisten. – Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mitteilen.6
Nietzsches Entdeckung des Aphorismus und seine gleichzeitige Abkehr von gelehrten Abhandlungen und ‚unzeitgemäßen Betrachtungen‘, von Essay, Traktat, Kommentar und Kritik, können schon auf die Jahre seit 1874/75 datiert werden. Sie werden begleitet – die biographischen Umstände in Klammern gesetzt – von entsprechenden Lektüren, die über die altphilologische Sprachpflege hinaus gerade weniger ‚die Alten‘ betreffen: Nietzsche begegnet etwa einer Auswahl aus Lichtenbergs Sudelbüchern, ist mit Schopenhauers Aphorismen beschäftigt, setzt sich mit den Sentenzen und Maximen der französischen Moralisten auseinander. Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (zuerst 1878) ist das erste von Nietzsches durchnummerierten Aphorismenbüchern, in denen der ‚Sinn für Stil‘ zum rhetorisch-philosophischen Programm erhoben und in Schreibexperimenten vielfach neu konkretisiert wird. „Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf.“7 Insbesondere die „Fortsetzung und Verdoppelung einer geistigen Kur, nämlich der antiromantischen Selbstbehandlung“8 – wovon die Sammlungen Vermischte Meinungen und Sprüche (zuerst 1879) und Der Wanderer und 4 Nietzsche (wie Anm. 3), S. 155. 5 Nietzsche (wie Anm. 3). 6 Nietzsche, Friedrich: „Menschliches, Allzumenschliches I“ (188), in: ders. (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 163. 7 Nietzsche, Friedrich: „Menschliches, Allzumenschliches II“ (Vorrede, 1886), in: ders. (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 369. 8 Nietzsche (wie Anm. 7), S. 371.
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sein Schatten (zuerst 1880), beide zusammen 1886 als zweiter Band von Menschliches, Allzumenschliches neu herausgegeben, dem Leser Zeugnis ablegen –, kreisen in multiplen Ansätzen immer wieder um Fragen des Schreibens und Lesens selbst, wo im Auge des Perspektivenwirbels jener ‚Sinn für Stil‘ steht. Unter dem Titel „Prämissen des Maschinen-Zeitalters“ hatte sich Nietzsche im 278. Aphorismus von Der Wanderer und sein Schatten als orakelnder Weissager der Moderne versucht, indem er die Aufmerksamkeit auf die verkehrs- und nachrichtentechnischen Möglichkeiten seiner Zeit lenkte: „Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.“9 Eine „Conclusion“ zu Nietzsches „Prämissen“ – posthum nach hundert Jahren – hat Friedrich Kittler gezogen. Mit retrospektiv-prospektivem Blick auf die nachrichtentechnische Zeichenökonomie von Telegramm und Postkarte fasst er den „Stil“ von Nietzsches Aphorismenbüchern als „Telegrammstil“, der „die Herrschaft des rätselhaften Buchstabens im Aufschreibesystem von 1900“ vorbereitet haben soll: Signifikantenlogik seit Nietzsche ist eine Technik der Verknappung und Vereinzelung. Nur ein Minimum in Umfang und Zahl der Zeichen kann ja das Maximum ihrer Energie freisetzen. An solches Kalkül reichten hermeneutische Stellenwerttheorien einfach nicht heran.10
Wenn Komplexitätssteigerung systemtheoretisch als unhintergehbares Prinzip der Moderne gilt, so findet es doch gleichzeitig in der autopoietischen Reduktion solcher Komplexität sein Pendant. An der Schnittstelle der Daten verarbeitenden Basisoperationen von Formalisierung und Quantifizierung scheinen komplementär im Kontrast technische Medien und lebendige Menschen miteinander verschaltet in den modernen Dienst der Komplexitätssteigerung und Komplexitätsreduktion genommen. Kittler sieht, gebrochen durch das Modellprisma eines Aufschreibesystems purer Signifikanten, die Nachrichtenökonomie der Moderne in sparsamen wie optimierten Zeichensystemen zum Einsatz gekommen, 9 Nietzsche (wie Anm. 7), S. 674. 10 Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1987, S. 196. Vgl. auch zu den Interferenzen von Telegraphie und expressionistischer Lyrik (August Stramm) Kittler, Friedrich A.: „Im Telegrammstil“, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1986, S. 358-370. In der Nachfolge Kittlers vgl. Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913, Berlin 1993, S. 202f.
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die sowohl auf der Ebene der literarischen wie der alltagssprachlichen Verwendungen durchschlagen. Nietzsche taugt Kittler zum Propheten dieses Mediatisierungsprozesses in Kunst, Wissenschaft und Lebenswelt, indem er den Fall Nietzsche zur folgenreichen, gleichsam surrealistischen Begegnung von halbblinden Philologenaugen und einer Schreibmaschine mit kugelförmiger Tastatur zuspitzt. Dem Propheten Nietzsche gesellt Kittler den „Aufschreiber“ Schreber hinzu, dessen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (zuerst 1903) weniger den berühmten Paranoia-Fall Schreber als vielmehr den zeichenökonomischen Nexus zwischen Psychophysik (Flechsig) und Psychoanalyse (Freud) belegen: Die Denkwürdigkeiten stehen und fechten im Krieg zweier Aufschreibesysteme. Sie selber sind ein kleines Aufschreibesystem zu dem einzigen Zweck, die dunkle Wirklichkeit eines anderen und feindlichen zu beweisen.11
Ein Aufschreibesystem purer Signifikanten und reiner Materialgerechtheit macht freilich im Extrem, d.h. als generalisierte écriture automatique, keinen Unterschied mehr zwischen Sinn und Unsinn, Formsemantik und bloßer Formalisierung, bedeutsamer Rekurrenz und zufälliger Wiederholung, solange nur die Zeichenflucht selbst fortdauert. Seitdem es einen Weltpostverein gibt, haben Signifikanten ihre standardisierten Preise, die aller Bedeutung spotten. Seitdem es Telegramm und Postkarte gibt, ist Stil nicht mehr Der Mensch, sondern eine Zeichenökonomie.12
Vom Postkarten- und Telegrammstil um 1900 zum SMS-Stil des Simsens nicht nur jugendlicher Mobile Phone User um 2000: Dass die Umgangssprache dem Diktat von moderner Nachrichtentechnik und Zeichenökonomie unterworfen ist und vielfältige Interferenzen mit bestimmten literarischen Verwendungen bestehen, kann heute kaum mehr bezweifelt werden. Ob sich aus medientechnischen Diktaten und Vorgaben im Sinne Kittlers, der das Irrenhaus der Psychophysik und das Künstlercafé der Avantgarde neurophysiologisch (neurotheologisch?) kurzschließt, jedoch formsemantische Bestimmungen für moderne Apho11 Kittler 1987 (wie Anm. 10), S. 303. Bei Schreber selbst heißt es einmal in Antizipation aller Verständnis- und Interpretationsprobleme, die Flechsig, Freud, Lacan, Canetti, Weber, Kittler u.a. haben sollten: „Das erwähnte Aufschreibesystem ist eine Tatsache, die anderen Menschen auch nur einigermaßen verständlich zu machen außerordentlich schwerfallen wird.“ Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, hrsg. v. Samuel M. Weber, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1973, S. 168. 12 Kittler (wie Anm. 11), S. 197.
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ristik gewinnen lassen, die über die Herleitung medialer Möglichkeiten für ihre Sprachformen hinausgehen, muss dagegen wohl offen bleiben.
2.
Medientheorie und Ästhetik
‚Medium‘, zunächst nur lateinisches Fremdwort für ‚Mittel‘, ‚Mittelglied‘ oder ‚Vermittler‘, ist erst während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Davor, von etwa 1880 bis zur letzten Jahrhundertmitte, sind allerdings schon viele der noch heute wichtigen Kommunikationsapparate und Verkehrsdispositive entwickelt worden. Eine „Mediengeschichte als Diskursgeschichte“, die den zunächst noch erst kasuistisch von Fall zu Fall zur Sprache gebrachten Sachen eher als dem Wort auf der Spur ist, kann den Zeitraum entsprechend evident als „Entstehungsherd von Medientheorie“13 zeigen. Erst in dem Maße jedoch, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industrieländern das Fernsehen die Bürgerstuben eroberte, wurde ‚Medium‘ mit ‚Massenmedium‘ gleichgesetzt, das Fernsehen damit als ‚Leitmedium‘ von Information und Unterhaltung im Alltag anerkannt. Fortan wurde möglich, den Kollektivsingular ‚Medium‘ als Oberbegriff einzusetzen „für Realabstraktionen und Erfahrungen, die erst der Prozess der Mediatisierung hervorgebracht hat“.14 ‚Medium‘ drang in die wissenschaftliche Terminologie ein, die gerade in den 1960er Jahren eine sozialwissenschaftliche Runderneuerung erfuhr. Intensionsarme Begriffe, doch mit umgekehrt proportional gewaltigem Extensionsgrad, und die entsprechenden Theorien von universellem Zuschnitt und Anspruch bestimmten mehr und mehr die Diskussion: u.a. Gesellschaft und Gesellschaftstheorie, Kommunikation und Kommunikationstheorie, Struktur und Strukturalismus, System und Systemtheorie. Medientheorie ihrerseits ist erst als Beschäftigung mit den technologischen Unterschieden von ‚mass media‘ aus der allgemeinen Kommunikationswissenschaft hervorgegangen, die während des Zweiten Weltkriegs zu geheimdienstlichen und propagandistischen Zwecken in Amerika begründet worden war.15
13 Vgl. „Einleitung“, in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt a.M. 2002, S. 13. 14 Vgl. „Einleitung“, in: Günter Helmes/Werner Köster: Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002, S. 16. 15 Vgl. hierzu Schüttpelz, Erhard: „‚Get the message through‘. Von der Kanaltheorie der Kommunikation zur Botschaft des Mediums: Ein Telegramm aus der nordatlantischen Nachkriegszeit“, in: Irmela Schneider/Peter M.
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Wie lässt sich im 20. Jahrhundert medientheoretisch die Permanenz von Medienevolution aufgrund der technisch bedingten Innovationsdynamik bei gleichzeitig unleugbarer Koexistenz von ältesten und neuesten ‚Medien‘ erklären? Herbert Marshall McLuhan (1911-1980) konnte sich mit der anthropologischen Auffassung von Medien als ‚extensions of man‘ zum prominentesten unter den Pionieren der neuen Disziplin profilieren. Im amerikanischen Kontext historisch-ethnologischer Forschungen zum Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Kommunikation (u.a. Innis, Havelock, Goody) erklärte er das Zeitalter, in dem das gedruckte Buch die menschliche Wahrnehmung in der westlichen Zivilisation geformt hatte, für abgelaufen, um die eigene Gegenwart des elektrischen Zeitalters als postliterarisch und also vorliterarischen Verhältnissen näher als der Kultur- und Weltanschauung des Buchdrucks zu preisen. Berühmt wurde seine Utopie eines kommenden Weltdorfs, in dem vorliterarische Mündlichkeit durch Elektronik postliterarisch perfektioniert ist. Obwohl McLuhans wichtigste Bücher, The Gutenberg-Galaxy. The Making of Typographic Man (1962) und Understanding Media. The Extensions of Man (1964), die beide zuerst 1968 auf deutsch erschienen, vielfache wie kontroverse Mediendebatten und Mediengeschichten inspiriert haben, können sie selber kaum historisch-kritischen Wissenschaftsansprüchen entsprechen. Sie präsentieren sich sichtlich als radikal aufklärerische Streitschriften, bieten ‚aphoristische‘ Mosaiken aus Beobachtungen und Behauptungen, Zitaten und assoziativen Deutungen. Indem sie logischen Beweis und systematische Theorie hinter essayistischer Rhetorik und aphoristischer Konstellation zurückstellen, vermögen sie eher durch Provokation des Lesers als durch Argumentation zu überzeugen. Dass solcherart Medientheorie als Spezifizierung von Kommunikationstheorie zuerst in Amerika entstand, mag kein Zufall gewesen sein. Dort traf noch Mitte des 20. Jahrhunderts die technikgesteuerte, zweite Oralität von Telefon, Grammophon, Rundfunk und Fernsehen auf residuale Räume einer ursprünglichen Oralität, welche die humanistisch disziplinierte Schriftkultur in Europa durch gleichförmigere, nationalstaatliche Ausbreitung seit dem 19. Jahrhundert schon weitgehender zum Verschwinden gebracht hatte.
Spangenberg (Hrsg.): Medienkultur der 50er Jahre, Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Opladen 2002, S. 51-76.
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Gegen die anfängliche Skepsis von offenen und heimlichen Schriftverehrern16 hat sich auch in Deutschland spätestens seit dem Ende der 1980er Jahre und der Ankunft der elektronischen Medien mit ihrer intensiven wie extensiven Mediatisierung der Lebenswelten McLuhan als prophetischer ‚Messenger‘ durchgesetzt, an dessen pointierten Aussagen kaum ein Medientheoretiker, kaum eine Geschichte der Medien vorbeikommt. Hörisch etwa schreibt: Die Geburt der neueren Medienwissenschaft läßt sich ebendeshalb präzise datieren. Sie betrat die Bühne mit dem Paukenschlagsatz des Exzentrikers McLuhan: The medium is the message.17
Verdienst McLuhans ist nicht nur, die Prägung der Information durch Instanz und Apparat ihrer Vermittlung erfasst, sondern im ‚Inhalt‘ komplexer Medien außerdem andere, ‚einfachere‘ Medien erkannt zu haben. Dies wird am Beispiel des elektrischen Lichts gezeigt, das als gleichsam ‚inhaltsloses‘ Medium die eigentliche ‚message‘ verkündet: Elektrisches Licht ist reine Information. Es ist gewissermaßen ein Medium ohne Botschaft, wenn es nicht gerade dazu verwendet wird, einen Werbetext Buchstabe um Buchstabe auszustrahlen. Diese für alle Medien charakteristische Tatsache bedeutet, daß der ‚Inhalt‘ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen ist. [...] Denn die Botschaft jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.18
So ist es anthropologischer Medientheorie möglich geworden, mit der Ahnungslosigkeit eines naiven Humanismus gegenüber Medienwirkungen aufzuräumen. Medien sind wie alle technischen Mittel niemals neutral, können deshalb auch niemals nur nach ihrer Nutzung durch den Menschen beurteilt werden. Wenn von einem eigentlichen Wesen medialer Botschaften gesprochen werden kann, dann sollte es in den Wirkun16 Enzensberger etwa kritisiert McLuhan 1970 im Kontext der Studentenbewegung noch als „Bauchredner und Propheten“ einer „apolitischen Avantgarde“ (gemeint ist in Sonderheit Pop von Andy Warhol bis zu den Beatles). Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: „Baukasten zu einer Theorie der Medien“, in: Kursbuch, 20 (1970), S. 177. 17 Hörisch, Jochen: Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, Frankfurt a.M. 2004, S. 71f. (zuerst unter dem Titel Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a.M. 2001). 18 McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. ‚Understanding Media‘, Dresden/Basel 1995, S. 22f.
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gen und Auswirkungen von Medien auf den Menschen, d.h. im physiologischen Zusammenspiel der verschiedenen Sinne, gesucht und untersucht werden. Durch Schmecken, Riechen, Fühlen, Hören und Sehen orientieren sich Menschen, suchen durch Erinnern und Vorstellen, durch Prüfen und Vergleichen dabei herauszufinden, was mit dem so Wahrgenommenen anzufangen ist. Im Anschluss an McLuhans Rede von den Medien als Ausweitungen des Menschen, dabei Hegels Reflexion zum ‚wunderbaren‘ Begriffspaar Sinn (‚die Bedeutung‘, ‚das Allgemeine der Sache‘) und Sinne (‚die Organe der unmittelbaren Auffassung‘) aufgreifend, skizziert Hörisch wiederum das eigene mediengeschichtliche Unternehmen: Die leitende These der vorliegenden Mediengeschichte lautet: Die im Bann von Stimme und Schrift stehende frühe Mediengeschichte ist sinnzentriert, die neuere Medientechnik fokussiert hingegen unsere Aufmerksamkeit immer stärker auf die Sinne.19
Wo die geschichtlichen Wirkungen und Auswirkungen von Medien auf die Sinne des Menschen in Frage stehen, wird die Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Veränderlichkeit der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt gelenkt: „Mediengeschichte ist als Wahrnehmungsund Erfahrungsgeschichte zu konzipieren.“20 Die Bestimmung von Formen der Wahrnehmung und Erfahrung, wie sie Menschen im Umgang mit ihren Ton-, Bild- und Schriftmedien bis heute entwickeln konnten, hat sich Medienästhetik zur besonderen Aufgabe gemacht. Im Gegensatz zur allseits überbordenden materialen Vielfalt von Medientechnologien und ihren Sieges-Geschichten der Menschen-Durchformungen und -Disziplinierungen neigt Medienästhetik – vornehmlich als Rezeptionsästhetik – dazu, sich an die relative Konstanz ästhetischer Wirkungen zu halten, die ihr nicht zuletzt in der Koexistenz von ältesten und neuesten Medien zur anthropologischen Rechtfertigung dienen kann. Indem sie ihren ästhetischen Gegenstandsbereich in Anlehnung an die Etymologie im weiten Sinne von ‚aisthesis‘ anthropologisch bestimmt, kann sie ferner nicht umhin, sich zugleich von Ästhetiken der Repräsentation, der Darstellung und des Inhalts abzuwenden, welche die Kunstphilosophie im Gefolge von Platon und Hegel bis zu Adorno begeisterten. In der europäischen Tradition findet Medienästhetik gleich19 Hörisch (wie Anm. 17), S. 14. Vgl. auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke, hrsg. v. Karl Markus Michel/Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 13, S. 173. 20 Schanze, Helmut: „Integrale Mediengeschichte“, in: ders. (Hrsg.): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 210.
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wohl nobilitierte Ahnen: etwa Aristoteles’ Poetik der Rhetorik, Baumgartens „Aesthetica“ bzw. „scientia cognitionis sensitivae“, Kants erkenntniskritische Aufhellung des Geschmacksurteils, Nietzsches „Physiologie der Kunst“.21 Durch das Anknüpfen an einen weit gefassten Begriff von „aisthesis“ lässt sich ein methodischer Vorrang der Wahrnehmung vor dem jeweils Gehörten und Gesehenen begründen, den Schnells „Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen“22 konsequent auf neue Medien bezogen hat. Nicht nur die historisch privilegierten Sinne von Auge und Ohr, nicht allein die ‚äußeren‘ Sinne des Menschen sind indes involviert, auch die ‚inneren‘ Vermögen der Mimesis, der Erinnerung, der Imagination und der Abstraktion. Die Trennung der nur ‚äußeren‘ Sinne von den höheren, ‚inneren‘ Vermögen des Denkens und der reflektierenden Vernunft steht noch immer im Banne einer alteuropäischen Tradition, die den Aufbau psychischer Fähigkeiten hierarchisch geordnet wissen wollte: Der Mensch wurde im Kosmos als sinnlich-übersinnliches Wesen zwischen Gott oben und Tier unten imaginiert, wodurch den ‚inneren‘ und ‚übersinnlichen‘ Vermögen göttliche Ehren zukamen, die ‚äußeren‘ Sinne und mit ihnen das Wahrnehmen aber umgekehrt tierische Erniedrigung erfuhren. Demgegenüber hat etwa Freuds Traumdeutung (1900) „dem einst allmächtigen, alles andere verdeckenden Bewußtsein“ keine andere Rolle mehr als „die eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten“23 zuerkennen wollen. Wahrnehmung der Außenwelt und Wahrnehmung der Innenwelt rechnen Freuds spätere metapsychologische Arbeiten dann auch als zwei komplementäre Seiten zum „Oberflächensystem W-Bw“24 bzw. ‚Wahrnehmung-Bewußtsein‘, das von den Systemen des ,Vorbewußten‘ (Vbw) und des ,Unbewußten‘ (Ubw) unterschieden ist, wo Erinnerungsreste und Gedächtnis verschüttet sind. Und Freuds kulturtheoretische Schriften schließlich, welche Kulturentwicklung als Triebsublimierung entschlüsseln, machen nach dem Ersten Weltkrieg ein doppeltes Vergessen für das dumpfe ‚Unbehagen in der 21 Vgl. Nietzsche, Friedrich: „Nachgelassene Fragmente 1886-1887“, in: ders. (wie Anm. 1), Bd. 12, S. 284-290. Vgl. auch Pfotenhauer, Helmut: Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985, S. 219f. 22 Vgl. Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart/Weimar 2000. 23 Freud, Sigmund: „Die Traumdeutung“, in: ders.: Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt a.M. 1972, Bd. II, S. 583. 24 Vgl. Freud, Sigmund: „Das Ich und das Es“, in: ders. (wie Anm. 23), Bd. III, S. 292.
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Kultur‘ verantwortlich: Weil die Menschen im Kulturprozess ihre Abkunft aus dem Tierreich ebenso verdrängten wie die sinnliche Basis und Herkunft ihrer Ideenwelt, können sie sogar den Krieg nur von Fall zu Fall als Rückfall in die Barbarei beklagen, nicht aber als durchaus konsequenten Paroxysmus im „Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb“ einsehen, „wie er sich an der Menschheit vollzieht“.25 Angesichts der modernen Mediatisierung der Lebenswelten stimmen Medientheorien zwar weitgehend überein, dass die je dominierenden Kommunikationsmedien mit den Verhältnissen der (Re-)Produktion, Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Daten und Zeichen, von Bildern und Tönen, von Texten und Zahlen, auf wie immer komplexe Weise, auch das Weltbild und die Wahrnehmungsmuster der Menschen prägen. Unklarheit besteht jedoch in der Frage, „was denn überhaupt als Medium gelten soll“26, worauf Stefan Rieger in seinem Versuch einer medienanthropologischen Fundierung des Menschen im Anschluss an Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Diskursanalyse mit besonderem Nachdruck insistiert. Wenn man Medien nicht im technischen Reduktionismus mit Apparaten und Armaturen gleichsetzt, sondern auch als Modelle zur Beschreibung historisch ausgefalteter Komplexitäten gelten lässt, kann der Mensch zuletzt sogar „als Medium der Medien“27 erscheinen. Riegers Theorie der Moderne geht mit diesem Vorsatz von einer Steigerbarkeit technischer Apparaturen einerseits und einer „Steigerbarkeit der Individualität des Individuums“28, d.h. seiner evolutionären Errungenschaften, seiner kognitiven Fähigkeiten und psychischen Kompetenzen, andererseits aus, die bis zur Unkenntlichkeit ineinander greifen: 25 Freud, Sigmund: „Das Unbehagen in der Kultur“, in: ders. (wie Anm. 23), Bd. IX, S. 249. 26 Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2001, S. 8. Vgl. auch Rieger, Stefan: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002; Rieger, Stefan: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt a.M. 2003. 27 Rieger (wie Anm. 26), S. 17. Vgl. auch S. 464 („Der Mensch ist selbst das Medium“). 28 Rieger (wie Anm. 27), S. 12. Rieger übernimmt die für ihn entscheidende Formulierung von Luhmann, die bei diesem noch gleichsam in Klammern gesetzt blieb. Vgl. Luhmann, Niklas: Kapitel „Individuum, Individualität, Individualismus“, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, Bd. 3, S. 154.
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JOSEF FÜRNKÄS Mensch und Medium sind vielmehr in ein Figurationsverhältnis eingespannt, das die Rede über den Menschen als Spiegelseite einer Rede über die Medien und umgekehrt die Rede über die Medien als Rede über den Menschen aufscheinen läßt: Techno- und Anthropomorphismus oszillieren bis zu einem Punkt, der die Gültigkeit des Differenzschemas Mensch/Medium selbst in Frage zu stellen vermag.29
3.
Medium/Form und Avantgarde
Es ist bekannt, dass Freud den Innovationen der künstlerischen und literarischen Avantgarden eher skeptisch bis reserviert gegenüberstand. Dennoch steht die Entfaltung der Psychoanalyse nach 1900 im selben Kontext von Krise und Umbruch der kulturellen Referenzen wie die Provokationen der Neuerer. Bildungsbürgerlich institutionalisierter Geist und Sinn verblassen vor der psycho-physischen Empirie des „unrettbaren“30 Ich und dem soziologisch wie sozialpsychologisch unlösbaren „Rätsel der Masse“31. Was ist Drinnen? Was Draußen? Was ist Materie? Was flüchtige Erscheinung? „Dem Menschen traut in der Moderne niemand mehr – und er sich selbst am allerwenigsten.“ Rieger hat durch seine diskursanalytischen Ausgrabungen zu Psychotechniken des Unbewussten seit 1900 gezeigt, dass es neben dem kulturkritischen Kanon der Moderne von Freud, Simmel, Benjamin, Kracauer bis Musil vergessene Texte von humanwissenschaftlichen Sachbearbeitern der Moderne und ihrer Latenzen gibt, die – von Fritz Giese über Willy Hellpach bis zu Max Wertheimer – strategisch darlegen, wie zwischen Leben und Labor „Bewußtseins- und Wahrnehmungsschwellen durch Experimentalanordnungen und ihre technischen Apparate unterlaufen“ werden können, damit der Mensch als Proband „an seinem Bewußtsein vorbei adressierbar wird“32. In tatbestandsdiagnostischen Reproduktions-, Kombinations- und Assoziationsexperimenten im Kontext von Pädagogik, Psychiatrie und Kriminalistik ist der Mensch nicht als Subjekt der Aussage gefragt, sondern als psychophysischer Apparat, dessen Äußerungen auf formalisierbare wie quantifizierbare ‚sachliche‘ Bezugsgrößen zurückgeführt wer29 Rieger (wie Anm. 27), S. 13f. 30 Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1900), Darmstadt 1985 (zuerst 1886 unter dem allgemeineren Titel Beiträge zur Analyse der Empfindungen), S. 20. 31 Freud, Sigmund: „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, in: ders. (wie Anm. 25), S. 109. 32 Rieger (wie Anm. 27), S. 466.
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den. Psychoanalyse und experimentelle Psychologie zeigen jede auf ihre Weise, dass der anthropologische „Traum von einem Menschenwesen“ ausgeträumt ist. Rieger fasst zusammen: Wie sehr Bewußtsein, Subjekt, Geist und Körper selbst Medien und keine Substanzen sind, haben die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Unbewußten des Körpers und der Seele in der Moderne immer wieder vorgeführt.33
Dies Schwinden der Referenzen von Körper und Geist, Bewusstsein und Sinn gibt zugleich eine neue Sichtbarkeit der Außenwelt des technischindustriellen Zeitalters frei, erzwingt komplementär dazu eine neue physiologische (Eigen-)Wahrnehmung von Körper und Sinnen. In den Steigerungsinszenierungen der Avantgarden tritt eine artistische Analytik von Empfindungen, von Traum- und Rauschzuständen geschärft hervor, die auf die ästhetische Wahrnehmung der lebensweltlichen Wahrnehmung und die ästhetische Erfahrung der lebensweltlichen Erfahrung zielt. Die medienavantgardistische Annahme, dass innovative Bewegungen die jeweils fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten ihrer Zeit nutzen, muss sich unter dem medienästhetischen Vorrang des Wie von Wahrnehmung und Erfahrung an der medienanthropologischen Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Nutzung von – neuen – Medien und den dadurch verdrängten oder umgestalteten kognitiven, sensuellen und emotiven Dispositionen des Menschen allererst bewähren. Um ein historisches Konzept von Avantgarde im 20. Jahrhundert zu konturieren, hat Plumpe jüngst aller Aporien einer integralen Avantgarde-Forschung zum Trotz neben drei eher konventionellen Kennzeichen („kairologische Zeitschematisierung“, „politikdominierte Retotalisierung“, „Leben und Kunst entdifferenzieren“) auch deren programmatische Praxis der „Rahmenattacken“ herangezogen: dass die Avantgarden die Differenz von Medium und Form – als Prämisse der Beobachtung von Kunst – unsichtbar machen wollten, indem sie entweder Medien ohne erkennbaren Formgewinn exponierten oder in Aussicht stellten, Medien – wie die Gesellschaft selbst – so zu organisieren, dass ihnen gegenüber Kunstwerke keinen Formvorsprung mehr beanspruchen und verwirklichen könnten.34
33 Rieger (wie Anm. 27), S. 474. 34 Plumpe, Gerhard: „Avantgarde. Notizen zum historischen Ort ihrer Programme“, in: Text + Kritik. Sonderband: Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden, München 2001, S. 7-17, hier: S. 10.
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Solcherart avantgardistische „Rahmenattacken“ zeigen ex negativo vom Futurismus über Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus hinaus ein nachgerade gesteigertes Bewusstsein jener „Differenz von Medium und Form“35, indem sie immer wieder neu die Fiktion eines offenen Spiels von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten zu materialisieren suchen: Kein Medium kommt ohne Form aus, weil „das Medium nur an den Formen und nicht als solches beobachtet werden kann“, keine Form ohne Medium aber umgekehrt genauso, weil sie „Form-ineinem-Medium“36 ist und nur so als konstant oder variabel wahrgenommen werden kann. Vom Standpunkt heutiger Beobachterdiversität aus mögen avantgardistische „Rahmenattacken“ so lediglich als – reflexive wie (selbst-)ironische – Programminszenierungen im Rahmen moderner Kunstübung erscheinen: Was als performative Befreiung vom institutionellen Kunstzwang, als ein Aus-dem-Rahmen-Fallen mochte begonnen worden sein, erscheint heute innerhalb des Rahmens nur als Geste, die den Rahmen bestätigt, indem sie ihn durchbricht. Weil das Pathos des großen Bruchs, des ganz Neuen gerade als typisch avantgardistische Geste auftritt, liegt der Verdacht nahe, dass institutionelle ‚Rahmenattacken‘ selber in eine Serie von periodisch wiederkehrenden Inszenierungen gehören, mit denen Moderne und Avantgarden sich jeweils selbst überholten. Im wie immer brüchigen Kunst-Rahmen, der die Differenz von Medium und Form als Institution aufrecht erhält, bleibt Avantgarde aporetisch auf Produktionsästhetik bezogen, während Medienanthropologie genauer die rezeptionsästhetische Beobachterdiversität bestimmen hilft. Um die komplexe Komplementarität von Produktion und Rezeption, von Projekten der Avantgarde und Dispositionen der Anthropologie zu analysieren, bedarf es exemplarischer Engführungen, die experimentelle Form und humane Wahrnehmung in je bestimmten medialen Koppelungen am historischen Ort untersuchen. Wie schneiden um 1900 im Modernisie35 Luhmann schreibt den „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“ (seit der Ausbreitung schriftlicher Kommunikation) die gesellschaftliche Funktion der systemischen Transformation des Unwahrscheinlichen ins Wahrscheinliche zu: „Die Medien sorgen für Annahmemotivation dort, wo die Annahme eher unwahrscheinlich geworden ist. Mitteilen, Verstehen und Annehmen/Ablehnen werden unter übergreifende Konditionierungen gestellt, deren Abstraktion dazu verhilft, die immense Erweiterung der Möglichkeiten und die Distanz zwischen Verstehen und Annehmen/Ablehnen so zu überbrücken, daß es nicht als aussichtslos erscheint, eine Kommunikation zu versuchen.“ Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 179. 36 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 17.
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rungstaumel der europäischen Metropolen avantgardistisches Formbegehren und Formzerstören in ästhetische Erwartungshorizonte ein, die im wesentlichen noch auf literarisch-humanistische Traditionen eingestellt waren? Wie werden literarische Formen und Sprachgesten umgearbeitet bzw. ‚umgebrochen‘, deren Bestand und Überlieferung doch an die etablierte Schrift- und Buchkultur gebunden erscheinen? Nationalstaatliche Kulturpädagogik sah sich bis ins 20. Jahrhundert hinein in der Pflicht, die Staatsbürger auf den jeweiligen Kanon nationaler Klassiker einzustimmen. Die politisch-soziale Rückständigkeit Deutschlands gegenüber seinen westlichen Nachbarn begünstigte im 19. Jahrhundert auf dem bekannten deutschen Sonderweg – so der Soziologe Lepenies – auch „Wissenschaftsfeindlichkeit und Dichtungsglaube als deutsche Ideologie“.37 Die bildungsbürgerliche Trennung von Feiertagskultur und Alltagskultur reproduzierte das zerrüttete Verhältnis von Kunst und Technik. Die neuen technischen und sozialen Wirklichkeiten von Industrie und Großstadt, die den Alltag aller zunehmend bestimmten, verlangten gleichwohl andere Qualifikationen als die Kenntnis alter Sprachen und die Vertrautheit mit in Museen, Bibliotheken und Akademien versammelten Bildungsgütern. Die Frage, wie sich in der Auseinandersetzung mit einer technisch-industriellen Moderne „eine die neuen Maschinen und Medien produktiv herausfordernde, spezifisch literarische Moderne“38 entfalten konnte, ist grundsätzlich an alle ästhetischen Kunstrevolutionen und Avantgarde-Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert zu stellen. Im Anschluss an Segebergs historische Untersuchungen zur Literatur im ‚technischen Zeitalter‘ und ‚Medienzeitalter‘ empfiehlt es sich freilich, die Frage für unsere Belange zu präzisieren: Sie ist als Frage nach den medialen Möglichkeiten zu wenden, die sich literarischen Formen eröffneten, genauer: Formen von Kurzprosa und Aphoristik.
37 Vgl. Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 245f. 38 Segeberg, Harro: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Darmstadt 1997, S. 13. Vgl. Segeberg, Harro: Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914, Darmstadt 2003, bes. S. 15f. („Der Schriftsteller als Medien-Arbeiter - Erster Weltkrieg und Weimarer Republik“).
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Medienkoexistenz und ‚unbewußte‘ Überlieferung
Es gibt eine aktuelle medienästhetische Lesart von Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/1939), welche die Verbindung von neuen Technologien und neuen Kunstformen in ihrer prägenden Wirkung auf Wahrnehmungsmuster dort exemplarisch skizziert findet. Neben der Fotografie taugt vor allem der Film zur Veranschaulichung des komplexen Zusammenhangs, um zu zeigen, wie technische Verfahren des Films, vor allem Schnitt und Montage, Vergrößern und Verkleinern, Dehnen und Raffen von Abläufen, neue Sehweisen erlauben und durchsetzen. Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.39
Benjamins Frage nach den geschichtlichen Variablen der menschlichen Wahrnehmung, nach dem „Medium, in dem sie erfolgt“, betrachtet den Film vorrangig als „Dokument“40 für den latenten Wandel der modernen Apperzeption von der kontemplativen „Sammlung“ zur großstädtischen „Rezeption in der Zerstreuung“41. Was der Film „in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen“42, nämlich bei den Rezipienten an konkreten Veränderungen der Wahrnehmung manifest werden lässt, kann nicht nur Gegenstand der Ästhetik bleiben. Das „Optisch-Unbewußte“ des Films, gleich dem „Triebhaft-Unbewußten“43 der Psychoanalyse, verlangt nach Benjamin als latentes Versatzstück „der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva“ eine wechselseitige Durchdringung von Kunst, Wissenschaft, Politik. Durch Benjamins Bestimmung als „Medium“, in dem Wahrnehmung erfolgt, gewinnt das Phantom des Unbewussten Kontur. Im Kunstwerk-Aufsatz zielt seine Frage nach dem kollektiven Unbewussten in menschlicher Wahrnehmung und Daseinsweise praktisch auf eine „Politisierung der Kunst“ als 39 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972-1989, Bd. I/2, S. 478. 40 Vgl. Schöttker, Detlev: „Benjamins Medienästhetik. Nachwort“, in: Walter Benjamin, Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M. 2002, S. 423. 41 Benjamin (wie Anm. 39), S. 504f. 42 Benjamin (wie Anm. 39), S. 498. 43 Benjamin (wie Anm. 39), S. 500.
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Antidoton zur faschistischen „Ästhetisierung der Politik“44, theoretisch aber auf die mediale Materialität „einer echten Überlieferung“. Es gehe in seinen kulturgeschichtlichen Untersuchungen darum, so Benjamins Selbstanzeige in einem Bericht über die Arbeit des Instituts für Sozialforschung von 1938 Ein deutsches Institut freier Forschung, „den technischen Bedingungen kulturellen Schaffens, seiner Aufnahme und seines Überdauerns nachzugehen“45. Die massenhafte Reproduktion von Bildern und Bildfolgen, von Lauten und Lettern, welche die technischen Medien Fotografie, illustrierte Zeitung und Film betreiben, wirkt „auf die Kunst in ihrer überkommenen Gestalt“46 zurück. Nicht die Konkurrenz in der Koexistenz von neuen und traditionellen Künsten ist entscheidend, sondern der Wandel des Kunstbegriffs selbst, dem nicht mehr idealistisch-produktionsästhetisch, sondern nur noch anthropologisch, genauer: performativrezeptionsästhetisch, beizukommen ist: „Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit.“47 Die „taktile Rezeption“ von Architektur (u.a. Passagen!) weist Benjamin den Weg zu einem „anthropologischen Materialismus“48, welcher der unbewussten Überlieferung in der ganzen alltäglichen Breite von Optik, Akustik, Motorik, Rhythmik auf der Spur ist, wie sie durch kapitalistische Warenwelt und phantasmagorische Reklame, imperiale Materialkriege und ideologische Propaganda mobilisiert wird. Im geschichtsphilosophischen Kontext von Armut und Erfahrung können mit den katastrophischen Verlustbilanzen der Moderne doch kognitive und mnemonische Leistungen im unbewussten Medium der Massenkultur und – allem Pessimismus zum Trotz – darüber hinaus politische Möglichkeiten der Funktionalisierung solcher Leistungen verrechnet werden: „Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm“ heißt Benjamins Vorsatz, „um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen“.49 44 45 46 47
Benjamin (wie Anm. 39), S. 508. Benjamin (wie Anm. 39), Bd. III, S. 525. Benjamin (wie Anm. 39), S. 475. Benjamin (wie Anm. 39), S. 505. Eine interessante Parallele und Vertiefung zu Benjamins „Gewohnheit“ stellt Leroi-Gourhans Auffassung dar, daß Technologien gleichsam in Fleisch und Blut übergehen müssen, um anthropologisch effektiv zu werden. Vgl. Leroi-Gourhan, André: Le geste et la parole. Bd. I:Technique et langage, Bd. II : La mémoire et les rythmes, Paris 1964-65. 48 Vgl. Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: ders. (wie Anm. 39), Bd. II/1, S. 309. 49 Benjamin (wie Anm. 39), Bd. II/1, S. 215f.
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Rezeptionsästhetik im Rahmen dieses „anthropologischen Materialismus“ bildet auch den Fluchtpunkt von Benjamins wiederholt gestellter Frage: „Was ist eigentlich Aura?“50 Die Metaphysik der Kunst mit ihren Idealen von „Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis“51 soll sich an der gewandelten Psycho-Physik des gemachten und wahrgenommenen Kunstwerks ausweisen, entsprechend dem in der letzten Fassung 1939 dem Kunstwerkaufsatz vorangestellten Zitat von Paul Valéry: „Weder die Materie, noch der Raum, noch die Zeit sind seit zwanzig Jahren, was sie seit jeher gewesen sind.“52 Im Verhältnis zu heutigen Medienwissenschaftlern, die sich auf ihn berufen, muss Benjamin einerseits bescheidener, andererseits vermessener erscheinen. Technische Medienanalyse und Medienaspekte bleiben bei ihm an der Peripherie, setzt man den Aufsatz „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931) einmal in Klammern. Im Zentrum geht es eben um die Form des Kunstwerks und seine Neubestimmung im Medium unbewusster Überlieferung, die einer von Philosophie, Wissenschaft und Politik vergessenen Theorie des Ästhetischen als historischer Wahrnehmungslehre aufgegeben wird. Ihre Parameter zur Konturierung dieses kollektiven Unbewussten sind „Materie“, „Raum“, „Zeit“, „Sprache“, „Leib“. Seit Mitte der 1920er Jahre zielt Benjamin auf einen „anthropologischen Materialismus, wie die Erfahrung der Sürrealisten und früher eines Hebel, Georg Büchner, Nietzsche, Rimbaud ihn belegt“.53 Bekanntlich konnte Adorno – laut Brief an Benjamin vom 6.9.1936 – jenem „anthropologischen Materialismus“ und seinem Mangel an dialektischer Vermittlung „die Gefolgschaft nicht leisten“: „Es ist, als sei für Sie das Maß der Konkretion der Leib des Menschen.“54 „Medium“ heißt bei Benjamin eben niemals noch Massenmedium, sondern wird verwendet, um das Unbewusste von Physik und Physis magisch unmittelbarer Ausdrucks- und Wahrnehmungsmodalitäten zu bezeichnen, die in Sprache und Schrift, in indi50 Benjamin (wie Anm. 39), Bd. II/1, S. 378 („Kleine Geschichte der Photographie“); Bd. I/2, S. 440 u. Bd. VII/1, S. 355. Vgl. Fürnkäs, Josef: „Aura“, in: Benjamins Begriffe, hrsg. v. Michael Opitz/Erdmut Wizisla, Frankfurt a.M. 2000, Bd. 1, S. 95-146. 51 Benjamin (wie Anm. 39), S. 473. 52 Benjamin (wie Anm. 39), S. 472. Der aus Benjamins umfangreicherem Eingangszitat Valérys angeführte Satz heißt im Original: „Ni la matière, ni l'espace, ni le temps ne sont depuis vingt ans ce qu'ils étaient depuis toujours.“ Vgl. Valéry, Paul: „Pièces sur l’art“, in: Œuvres, hrsg. v. Jean Hytier, Paris 1960, Bd. II, S. 1284. 53 Benjamin (wie Anm. 49), S. 309f. 54 Adorno, Theodor W./Benjamin, Walter: Briefwechsel 1928-1940, hrsg. v. Henri Lonitz, Frankfurt a.M. 1994, S. 193.
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vidueller und kollektiver Psyche entscheidend mitwirken, ohne einen instrumentellen Zweck oder intentionalen Sinn zu verfolgen. Dabei gilt auch für Benjamin: kein Medium ohne Form, keine Form, d.h. eben auch kein Kunstwerk ohne Medium, weil nur „Form-in-einem-Medium“ (Luhmann) Wahrnehmbarkeit ermöglicht. Indem Benjamin den idealistischen Kunstbegriff durch die Befragung des am Film und seiner Massen- und Serienproduktion dokumentierten, modernen Wahrnehmungswandels entzaubert, ruft der bekannte Bücherfreund weder dazu auf, die audiovisuellen Effekte des neuen Massenmediums im Schrifttum einfach nachzuahmen; noch sucht er den heftigen Abwehrgestus konservativer Kulturkritik gegen die Reklame- und Warenform aller Künste zu kopieren. Vielmehr gilt die Einsicht, den Fortbestand von Literatur und kultureller Überlieferung gerade in ihrer Gefährdung zu suchen. „Das, was wir den Fortschritt nennen“, ist ja nach dem berühmten Denkbild in Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) „dieser Sturm“, der den „Engel der Geschichte“ unaufhaltsam in die Zukunft treibt, „der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst“.55 Dieses paradoxe Körperbild in Bewegung, das schon diesseits aller messianischen Semantik die pragmatische Möglichkeit zeigt, rückwärts schauend doch vorwärts zu gelangen, findet sein erläuterndes Spiegelbild in der Fortschrittskritik einer nachfolgenden These, die Illusion und geschichtliches Unglück des „Konformismus“ (in Sozialismus und Sozialdemokratie) bloß stellt: Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte.56
Zu Benjamins inverser Perspektive, die im modernen Durcheinander und Ineinander von Neuem und Altem nach 1900 nicht im Sinne von Marinettis Manifest des Futurismus57 das Neue am Neuen fokussiert (freilich auch nicht das Alte am Alten), vielmehr den Blick auf das Neue am Alten (auch das Alte am Neuen) lenkt, kann man in Peter Handkes Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) eine uns Heutigen nähere, erstaunliche Parallele entdecken. Am Ende der Erzählung beobachtet der 55 Benjamin (wie Anm. 39), S. 697f. 56 Benjamin (wie Anm. 39), S. 698. 57 Vgl. hierzu: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), hrsg. v. Wolfgang Asholt/Walter Fähnders, Stuttgart/Weimar 1995, S. 1-117. („Der futuristische Aufbruch der Avantgarde 1909-1916“).
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arbeitslose Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war und nun Mörder auf der Flucht ist, bei einem Fußballspiel auf einem Provinz-Sportplatz „nicht den, der gerade sprach, sondern jeweils den, der zuhörte“. Mit einem Zuschauer kommt er alsdann selber ins Gespräch: „Es ist sehr schwierig, von den Stürmern und dem Ball wegzuschauen und dem Tormann zuzuschauen“, sagte Bloch. „Man muß sich vom Ball losreißen, es ist etwas ganz und gar Unnatürliches.“ Man sehe statt des Balls den Tormann, wie er, die Hände auf den Schenkeln, vorlaufe, zurücklaufe, sich nach links und rechts vorbeuge und die Verteidiger anschreie. „Üblicherweise bemerkt man ihn ja erst, wenn der Ball schon aufs Tor geschossen wird.“58 Konsequent hat Handke in seiner Erzählung den Fokus der Beobachtung vom Stürmer auf den Tormann, vom Sprecher auf den Hörer, vom Handelnden auf die Menschen und Dinge verstellt, auf die jener einwirkt. Nicht nur die Schlussszene auf dem Fußballplatz zeigt, dass seine Beschreibungskunst die ‚natürliche‘ Identifikation mit dem Angreifer verwirft, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Reaktionen, Effekte und Wirkungsindizien zu lenken, die das angegriffene ‚Opfer‘ zeigt. Aus Benjamins strategisch-perspektivischer Entscheidung für das Neue am Alten und aus Handkes narrativer Blicksteuerung auf den Tormann bzw. das angegriffene Opfer lassen sich per Analogschluss gute Gründe beibringen, Medienkoexistenz und unbewusste Überlieferung in Moderne und Avantgarde von Schrift, Buch und Literatur her zu betrachten – und eben nicht von der prospektiven Dominanz eines neuen Medienparadigmas her, wofür heutiger Mediengeschichte retrospektiv die audiovisuellen Massenmedien stehen.
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Aphorismusforschung: Verräumlichung des Lesens und ‚gedruckte Sprüche‘
Welche medialen Möglichkeiten wachsen durch die Medienkonkurrenz in der Koexistenz von ältesten und neuesten Medien um 1900 der Aphoristik zu, die im gedruckten Buch ihr literarisches Hausrecht beansprucht? Wie alle moderne Literatur kann sich Aphoristik nicht nur mit der eigenen medialen Bedingtheit selbstreflexiv bzw. selbstreferentiell befassen, sie vermag auch, sich zu anderen Medien bzw. zu ihrer medialen Umwelt in vielfältige Reflexionsverhältnisse zu setzen. Gerade die ungelösten Probleme der – germanistischen – Aphorismusforschung zei58 Handke, Peter: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Frankfurt a.M. 1972, S. 111.
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gen im Kontrast, wie viel versprechend ein Ansatz sein könnte, der die literarische Aphoristik aus der Geschichte von Medienkoexistenzen bzw. -konkurrenzen bestimmt und beschreibt. Zuletzt hat Spicker mit außerordentlichem Philologen-Fleiß versucht, zumindest im deutschen Sprachraum Begriff und Gattung, Begriffsgeschichte und Gattungsgeschichte des Aphorismus in den germanistischen Griff zu bekommen. Gleich zu Beginn der sehr breit angelegten Untersuchung bekennt er noch vor dem Referat seiner Auseinandersetzung mit der einschlägigen Forschung sein eigenes „Grundproblem“: Das Grundproblem der Aphorismusforschung ist bis heute nicht gelöst. Es stellt sich ebenso schlicht wie fundamental so dar: Einerseits werden Texte, die nicht so heißen, selbstredend zur Gattung ‚Aphorismus‘ gerechnet, andererseits ebenso fraglos Texte, die so heißen, von ihr ausgeschlossen. Über 60 Jahre kontinuierlicher wissenschaftlicher Beschäftigung – wenn man die Vorgeschichte von Leitzmann 1899 bis Brüggemann 1930 einmal außer Acht läßt und mit Mautner und Schalk 1933 einsetzt – haben daran nichts geändert, und auch die verstärkten Bemühungen seit Mitte der 70er Jahre haben keine Klarheit gebracht. Begriff und Gattung blieben in besonderer Weise inkongruent.59
Spicker registriert, kommentiert und evaluiert, was einerseits Autoren durch Selbstanzeigen und Literaturkritiker durch entsprechende Würdigungen, andererseits literaturwissenschaftliche Forschungen durch systematische und historiographische Studien, durch Editionen und Anthologien als ‚Aphorismus‘ der gleichnamigen Gattung zugeschlagen haben. Die frühere Forschung hatte angesichts der ungenügenden Gattungsbestimmung zumeist Zurückhaltung geübt und lediglich mit einem überlieferten „gemeinsamen Rahmenbegriff des Aphorismus“60 als Orientierungshilfe gearbeitet. Gegenüber dem Epigramm, das als kurzes Sinngedicht mit Vers und Metrum genauen, aus der Antike abgeleiteten Gattungsnormen verpflichtet bleibt, zeigt aphoristische Kurzprosa vor allem ‚moderne‘ Offenheit bei gleichzeitiger, ‚freier‘ Korrelation von Form und Inhalt, Sprache und Gedanke. Dass solche Offenheit und freie Assoziation mehr als einen ‚gemeinsamen Rahmenbegriff‘ kaum zulassen, kann Spickers legislatives Gattungsbegehren jedoch kaum akzeptieren. 59 Spicker, Friedemann: Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin/New York 1997, S. 1. 60 So Gerhard Neumann in seiner „Einleitung“ zur Dokumentation der Forschungsgeschichte in: Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, hrsg. v. Gerhard Neumann, Darmstadt 1976, S. 1.
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Spicker will klar zwischen dem Nomen „Aphorismus“ und dem Adjektiv „aphoristisch“ mitsamt seinen Nominalisierungen – „Aphoristik“ bzw. „das Aphoristische“ – unterschieden wissen. Leitidee ist nachgerade „die Suche nach einer semantischen Mitte“61, von deren Norm aus Begriff und Sache, Anspruch und Einlösung am je besonderen historischen Beispiel beurteilt werden können. In seiner Gattungsgeschichte des deutschsprachigen „Aphorismus im 20. Jahrhundert“62, mit der er seine Aphorismusforschung „von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912“ fortsetzt, erscheint dann auch quer durch die literarischen Höhenlinien und die trivialen Bereiche hindurch noch auffälliger ein mittlerer „demokratischer“ Durchschnitt, der entlang dem Fortgang des Jahrhunderts mit „dem deutschen Aphorismus“ identifiziert wird. Beachtung findet, was zum nachträglich fabrizierten Gattungskonstrukt passt, Erfüllung der Gattung und Bestätigung ihrer Schemata erhalten den Vorrang vor Innovation und Durchbrechen von Erwartungshorizonten. Der Reichtum vielfältigster Formen von Kurzprosa, die von literarischen Aufzeichnungen über Fragmente, Prosagedichte, Notate, Tagebuchnotizen und Graffiti bis zu Werbeslogans und trivialen Alltagssprüchen reichen und zwischen kritischer Reflexion, Spaßkultur und kommerzieller Absicht, zwischen Witz und Nonsens multiple transmediale Effekte einschließen, bleibt außerhalb dieser germanistischen Gattungsgeschichte. Spicker will nur immer quantitativ Mehr vom – semantisch – Gleichen, kaum je aber ein – pragmatisch bzw. performativ – Anderes, das erst durch die Aufmerksamkeit auf historische Nachbarschaften und Interferenzen, Abweichungen und Oppositionen, Extreme und Kontingenzen, Inversionen und Mutationen in den Blick kommen könnte. Trotz der philologischen Breite bedeuten Spickers flächendeckende Untersuchungen zum deutschen Aphorismus einen qualitativen Rückschritt gegenüber dem Reflexionsstand, den die historische Forschung mit Gerhard Neumanns komparativer Darstellung der herausragenden Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe als „transzendentale Moralistik“63 schon erreicht hatte. Andererseits fällt Spicker in gattungs- und formtheoretischer Hinsicht auch hinter Harald Frickes rezeptionsästhetische Analytik des aphoristischen Zusammen-
61 Spicker (wie Anm. 59), S. 15. 62 Vgl. Spicker, Friedemann: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis, Tübingen 2004. 63 Neumann, Gerhard: Ideenparadiese. Aphoristik bei Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 79f. u. S. 737f.
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spiels von Kurzprosatext, „kotextueller Isolation“64 und kommunikativem Kontext zurück. Im Anschluss an Fricke scheint möglich, das Schielen in die Künstler-Werkstatt einzustellen und die produktionsästhetischen Aporien der Aphorismusforschung zu umgehen. Es kann die nicht nur formtheoretisch, sondern auch medienästhetisch relevante Beobachtung stark gemacht werden, dass ein einzelner Aphorismus – die germanistisch übliche Werkeinheit – im gedruckten Buch dem Leser kaum je allein begegnet. Gerade das dispositive Funktionsprinzip der „kotextuellen Isolation“ verlangt vom Aphoristiker entweder den eigenen Sammelband als Publikationsmedium oder zumindest doch die konfigurative Darstellung seiner Aphorismen in Gruppen und Abteilungen z.B. in einer Anthologie. Eine andere Möglichkeit stellt das Einrücken ins „Reflexionsmedium“65 eines größeren Werkzusammenhangs dar, was im Einklang mit der frühromantischen Romantheorie schon im Fall der „Aphorismengruppen“66 in Goethes Kunstroman Wahlverwandtschaften mustergültig realisiert ist, die dort als Auszüge aus Ottiliens Tagebuch fiktionalisiert erscheinen. Ein einzelner Kurzprosatext – so Frickes literaturtheoretische Verallgemeinerung – will sich zumeist in der Versammlung mit seinesgleichen dem Leser präsentieren: jedoch im gebührend distinktiven, wechselseitigen Abstand von ihnen. Was Fricke an der Aphoristik als Prinzip der „kotextuellen Isolation“ beobachtet, tritt noch deutlicher hervor, fokussiert man die Aufmerksamkeit auf die formale und mediale Problematik des Prosagedichts um 1900. Es geht um eine neue, graphische Sichtbarkeit von Texten, die ehedem nur gleichsam ‚mit geschlossenen Augen‘ gelesen wurden. Mallarmé, Valéry, Apollinaire in Paris, Hofmannsthal, Karl Kraus in Wien – die literarische Moderne schlägt staunend diese Augen auf, um auf der Weiße des Papiers wie im Halluzinationszustand isolierte Buchstaben64 Fricke, Harald: Der Aphorismus, Stuttgart 1984, S. 14. Vgl. auch Frickes neueren, eher verunklärenden – „aber jeweils“ [...] „also“ [...] „oder auch“ Definitionsversuch, wonach ein Aphorismus ein „(1) nichtfiktionaler Text in (2) Prosa in einer Serie gleichartiger Texte, innerhalb dieser Serie aber jeweils (3) von den Nachbartexten isoliert, also in der Reihenfolge ohne Sinnveränderung vertauschbar; zusätzlich (4a) in einem einzelnen Satz oder auch (4b) anderweitig in konziser Weise formuliert oder auch (4c) sprachlich pointiert oder auch (4d) sachlich pointiert“ sein sollte. Fricke, Harald: „Aphorismus“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Klaus Weimar, Berlin/New York 1997, Bd. 1, S. 104. 65 Vgl. Benjamins Begriffsprägung in seiner Berner Dissertation von 1919 „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, in: ders. (wie Anm. 39), Bd. I/1, S. 36f. 66 Vgl. Neumann (wie Anm. 63), S. 647f.
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körper zu entdecken. Sie verwandeln sich unter dem Blick in graphische Zeichen, die stumm geworden nach ihrer verlorenen Bedeutung fragen. Zu solcher „Medientransposition“ in Literatur und Psychoanalyse, die Bilder und Geräusche in Buchstaben überführt, schreibt Kittler kurz und bündig: „Schreiben um 1900 heißt ohne Stimme und bei den Buchstaben sein.“67 Mediale Bedingung der Möglichkeit dieser neuen Sichtbarkeit der Worte ist eine Verräumlichung des Lesens, die der Linearität des Sprechens und dem Rhythmus der lyrischen Stimme entgegenwirkt. Zuerst hat Mallarmé auf diese unerhörte „nouveauté“ 1897 im Vorwort zu seinem letzten Prosagedicht „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Poëme“ eher beiläufig hingewiesen: „le tout sans nouveauté qu’un espacement de la lecture.“68 Der neue Kult der Buchstaben erscheint als Schwundstufe vormaliger Bücherverehrung, er verlangt ein neues Lesenlernen, das Schriftbilder und Typographien wie ferne Konstellationen zu entschlüsseln weiß. Wohl aus der Entwicklung des freien Verses im 19. Jahrhundert hat Mallarmé zuletzt den Schluss gezogen, die romantische Unterscheidung von Poesie und Prosa aufzuheben, weil für den Schreibenden nur noch der unhintergehbar individuelle Rhythmus und das allgemeine Alphabet gelten sollen. Was für das Prosagedicht und seine Rezeption daraus als Provokation der Verräumlichung des Lesens folgt, dem kann sich auch moderne Aphoristik nicht entziehen: „Les ‚blancs‘ en effet, assument l’importance, frappent d’abord.“69 Rimbauds Königssturz der ersten Person Singular – „Je est un autre“ – wollte um 1870 avantgardistisch avant la lettre die Lebensaufgabe der Poesie in der Grenzüberschreitung zum Unbekannten hin sehen: „Il s’agit d’arriver à l’inconnu par le dérèglement de tous les sens.“70 Noch vor Dadaismus, Formalismus, Konstruktivismus und Surrealismus hat der späte Mallarmé mit der Loslösung der Sprache von den Erwartungen äußerer Referenz daraus eine vergleichsweise undramatische, doch folgenreiche Konsequenz gezogen: Sprechend verschwindet die Stimme des Autors in den Zäsuren der „blancs“, um die Initiative den Wörtern selbst und dem „hasard“ des Buchstabenund Sprachspiels zu überlassen. Über Prosagedicht und freie Verse hinaus sind es nicht nur lyrische Formen von Kurzprosa, die im 20. Jahr-
67 Kittler (wie Anm. 11), S. 291. 68 Mallarmé, Stéphane: Œuvres complètes. Texte établi et annoté par Henri Mondor/Georges Jean-Aubry, Paris 1979, S. 455. 69 Mallarmé (wie Anm. 68). 70 Vgl. Rimbauds Brief an Georges Izambard vom 13.5.1871, in: Rimbaud, Artur: Œuvres, hrsg. v. S. Bernard, Paris 1966, S. 343f.
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hundert „noir sur blanc“71 die Lesbarkeit solcher Buchstaben- und Sprachspiele erproben. Diarische und narrative Formen beginnen gleichfalls an der „Lesbarkeit der Welt“ zu zweifeln, fangen wie am ersten Tag nochmals voraussetzungslos an, „Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können“.72 Und nicht zuletzt wird es angesichts solch erschwerter, opaker Lesbarkeit der vorherrschenden gnomischen Tradition der Aphoristik zur produktiven Aufgabe, die Selbstreflexion ihrer rhetorischen und oralen Erbschaft voranzutreiben, die ihr seit der Erfindung des Buchdrucks Humanismus, Aufklärung und Romantik hinterlassen haben. Es ist das Verdienst von Neumanns historischer Untersuchung, am eminenten Beispiel der ‚transzendentalen Moralistik‘ deutscher Spätaufklärer und Frühromantiker ein selbstreflexives Modell der aphoristischen Forminnovation geliefert zu haben. Indem Neumann die selbstreflexive Textverarbeitung der Überlieferungsstränge von humanistischer Apophthegmatik (Erasmus, Bacon), politischem Aphorismus (Guicciardini, Gracián) und französischer Maximen- und Sentenzenliteratur (La Rochefoucauld, Pascal) in der aphoristischen „Denkform“73 in Deutschland um 1800 betont, hat er dabei die Aufmerksamkeit nochmals auf Fragen der Herkunft und des Funktionswandels der Aphoristik im Übergang von der Romania gelenkt. Unschwer ist etwa die Herkunft der Réflexions, ou sentences et maximes morales (zuerst 1665) von La Rochefoucauld, die den Prototyp der literarischen Aphoristik in komplementärer Konkurrenz zum älteren (populär-)wissenschaftlichen Aphorismus bereitstellen, aus der galanten Konversation bei Hof und im Salon zu erkennen; schwieriger erscheint schon, Kunst und Leben methodisch auseinander zuhalten und das problematische, ja widersprüchliche Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Sprache dabei zu erfassen. Solche Maximen und Reflexionen sind gerade nicht in witzige Unterhaltungen eingelassen, vielmehr ‚sprechen‘ aus ihnen Kühle und Distanz, die nur auf dem Papier, in der Schrift und im Druck der Literatur, möglich sind. Sie dürfen nicht mit gesprochenen Aperçus und Bonmots, mit effektvoll in der guten Gesellschaft parlierten Sprüchen verwechselt werden. Eher sind die realen Mängel der Konversation ihr Ausgang, welche ihr Autor in der einsamen Nach- bzw. Niederschrift eines idealen Gesprächs – mit dem einsamen Leser seiner Druckschrift – aufheben wollte, das anstatt aus hohlem Ge-
71 Mallarmé, Stéphane: „Quant au livre“, in: ders. (wie Anm. 68), S. 370. 72 Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, S. 19. 73 Vgl. Neumann (wie Anm. 63), S. 39f.
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schwätz und „bagatelles bien dites“ nur aus wahren Sätzen und geschliffenen Worten bestehen sollte. Mochte die Melancholie versäumter Gelegenheiten am Hof und im Salon bei La Rochefoucauld, La Bruyère, Vauvenargues, Chamfort noch durch den aristokratischen Gestus kritischer Entlarvung und moralistischer Entdeckung überdeckt bleiben, so tritt sie in der späteren ‚transzendentalen Moralistik‘ deutscher Denker und Dichter um 1800 deutlicher hervor: Nicht mehr Konversation bei Hof oder im Salon gibt die Vorschule kritischer Opposition und formaler Perfektion beim Aufschreiben witziger Einfälle und ironischer Einsichten ab, sondern das tägliche, einsame Exerzitium des Briefeschreibens und Tagebuchführens. Im unveröffentlichten Nachlass von Jean Paul finden sich Unmengen diesbezüglicher Aufzeichnungen, welche die Selbstbezüglichkeit des Schreibens als Institution des selbstbewussten Individuums selber reflektieren: Ich schreibe einen Brief, um in das litterarische Feuer zu kommen.74 Alle meine Schreiberei ist eigentlich innere Selbstbiographie; und alle meine Dichtwerke sind Selblebenbeschreibungen, denn man kennt und lebt eben kein anderes Leben als das eigene.75
Diese ‚Schreiberei‘ wird zum eigentlichen Sinn und Zweck, wozu die Konversation im Salon kaum mehr als nur Anregung und Stoff liefern kann. „Briefliteratur als Literatur des Salons“76 scheint so die privilegierte Form, in der die literarische Salonkultur Frankreichs etwa in Berliner Salons um 1800 ihre deutsche, gesellig ungesellige Aufnahme fand. Jedoch nicht Salon oder gar aristokratischer Hof, sondern vielmehr die Universität, vor allem die protestantische, gaben das bürgerliche Modell kultivierter Innerlichkeit ab, nach dem Geist und Geselligkeit, einsames Schreiben und gemeinsames Gespräch akademischen Ausgleich finden sollten: Auf Halle, Leipzig, Göttingen, die Zentren der deutschen Aufklä-
74 Jean Paul: Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß, hrsg. v. Kurt Wölfel/Thomas Wirtz, Frankfurt a.M. 1996, S. 33. 75 Jean Paul (wie Anm. 74), S. 31. 76 Vgl. Seibert, Peter: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz, Stuttgart/Weimar 1993, bes. S. 247f.
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rung, folgten Jena, Heidelberg und Berlin, die Bildungsstätten der neuen romantischen Generation.77 Die gesamteuropäische Epochenschwelle um 1800 markiert im rückständigen Deutschland nicht nur eine erste Blütezeit der literarischen Aphoristik, sondern darüber hinaus auch eine ‚Gründerzeit‘ der Literatur und der Sprache der Gebildeten überhaupt. In der kurzen Periode zwischen etwa 1770 und 1830, welche die Germanistik auch Goethezeit nennt, entstanden zugleich mit einer neuen, nicht zuletzt durch den Pietismus inspirierten Sprache der Literatur und Philosophie besondere Werke, die den Deutschen zu einer im europäischen Vergleich späten, doch wirkungsmächtigen Klassik verhalfen. Die literaturgeschichtliche Privilegierung der Zeit um 1800, die noch Kittlers „Aufschreibesystem von 1800“78 – in methodischer Opposition zu demjenigen um 1900 – fortschreibt, findet in der Perspektive einer integralen Mediengeschichte jedoch kein Äquivalent vor. Gewiss hatte das 18. Jahrhundert eine vormals unbekannte Förderung des Schulbesuchs und damit verbunden eine große Ausbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit gebracht. Die Verbilligung des Buchdrucks ging mit der Entstehung eines literarischen Marktes einher und führte zu einer deutlichen Produktionssteigerung insbesondere von ‚Schöner Literatur‘. Im Rahmen von Leihbibliotheken und Lesegesellschaften gedieh eine empfindsame Lesekultur zuerst, während sich Autoren und solche, die es werden wollten, in aufgeklärten Zirkeln und um ‚moralische‘ Zeitschriften scharten. Diese Institutionalisierungen von Aufklärung und Alphabetisierung ermöglichten zweifellos erst die romantische Neubestimmung und den modernen Anspruch von authentisch-originaler Literatur und souveräner Autorschaft, welche die Sucht stummen Lesens und den Enthusiasmus einsamen Schreibens als ihre Korrelate einforderte. Gleichwohl betrachtet Mediengeschichte in der Regel solche ‚literarischen‘ Effekte von Aufklärung und Alphabeti77 Vgl. Ziolkowski, Theodore: German Romanticism and its Institutions, Princeton 1990, S. 218f. Weigl, Engelhard: Schauplätze der deutschen Aufklärung. Ein Städterundgang, Reinbek bei Hamburg 1997. 78 Kittler macht selbst deutlich, daß sein „Aufschreibesystem von 1800“ vor allem durch den Gegensatz zu seinem „Aufschreibesystem von 1900“ bestimmt wird: „Das Aufschreibesystem von 1800 arbeitet ohne Phonographen, Grammophone und Kinematographen. Zur seriellen Speicherung/Reproduktion serieller Daten hat es nur Bücher, reproduzierbar seit Gutenberg, aber verstehbar und phantasierbar gemacht erst durch die fleischgewordene Alphabetisierung. Die Bücher, vordem nur reproduzierbare Buchstabenmengen, reproduzieren fortan selber. Aus dem gelehrtenrepublikanischen Kram in Fausts Studierzimmer ist eine psychedelische Droge für alle geworden.“ Vgl. Kittler (wie Anm. 11), S. 122f.
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sierung um 1800 mit Blick auf die Technikgeschichte kaum als entscheidende historische Zäsur. Es hat nur selbst in Europa mehr als 300 Jahre gedauert, bis die medialen Bedingungen des Buchdrucks verlässliche soziale Institutionen ausbilden konnten. Erst Schritt für Schritt setzten sie sich in der Produktion und Rezeption von Literatur durch. Bücher und Bibliotheken, Zeitschriften und Archive, Schreibtische und Verlagshäuser schlossen sich in Deutschland erst gegen 1800 zum System ‚Literatur‘ zusammen. Demgegenüber markiert Gutenbergs Erfindung und Nutzung des mechanischen Buchdrucks von 1450 die mediale Zäsur: Die Passage von der Handschrift zum Buchdruck gilt als Beginn der medialen Neuzeit und als Ende der bis in die Antike (ca. 900 v. Chr.) zurückreichenden Manuskript-Kultur. Die folgende Gutenberg-Epoche bedeutet für Europa eine über 400jährige, immer perfektere Vorherrschaft des mechanisch gedruckten und vervielfältigten Buches, dem erst durch die wachsende Konkurrenz der Massenpresse im Lauf des 19. Jahrhunderts und die neuen audiovisuellen Medien nach 1900 das kulturelle Monopol streitig gemacht wurde. „Witzige Einfälle sind die Sprüchwörter der gebildeten Menschen.“79 Dieses Athenaeum-Fragment von 1798, das Friedrich Schlegel zugeschrieben wird, kann als denkbar knappe wie ironisch versteckte Antwort auf die in germanistischer Literaturwissenschaft und Volkskunde strittige Frage gelesen werden, ob ‚Sprüchwörter‘ denn zu den lehrhaften Gattungen zu zählen seien. Was in der Reflexionsbildung des ausgehenden 18. Jahrhunderts getrennt ist: ‚Sprüchwörter‘ einerseits, ‚gebildete Menschen‘ andererseits, setzt das romantische Fragment mit einem Satz in die nächste Nähe des Paradoxons. Es soll prädikativ zur Bestimmung des Subjekts ‚Witzige Einfälle‘ dienen, bedeutet doch ‚aphorismos‘ dem altgriechischen Wortsinne gemäß etwa ‚Definition‘. Herausspringt ein apodiktischer Bescheid, der beide Seiten und jede für sich angeht, indem er sie so eindeutig wie gemeinsam auf ein ausgespartes, doch implizit vorausgesetztes Mittelglied bezieht: Die ‚gebildeten Menschen‘ bedürfen keiner Belehrung mehr, sind sie doch dadurch gebildet, dass sie Aufklärung und Alphabetisierung bereits hinter sich gebracht haben. Der Volksmund aber, dem die anonymen ‚Sprüchwörter‘ zu verdanken sind, kann mit Belehrung recht eigentlich nichts anfangen. Aufklärung und Alphabetisierung machen ihn verstummen, so ist zu ergänzen, weil in seiner mündlichen Kommunikation situationsabhängige 79 Athenaeum. Eine Zeitschrift, hrsg. v. August Wilhelm Schlegel/Friedrich Schlegel, Nachdruck, Darmstadt 1980, Bd. 1 (1798), S. 186. Vgl. hierzu. Neumann (wie Anm. 63), S. 456f.
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Interaktionsrituale dominieren, die auf Wiederholung und Wiederkehr in traditionalen Lebensformen angelegt sind. Was also durch Aufklärung und Alphabetisierung entzweit erscheint, soll letztlich durch romantische Geist-Geselligkeit zu neuer und höherer, sympathetischer Einheit gebracht werden: die als lebendig imaginierte Mündlichkeit von Interaktionsritualen einerseits, die perfektionierte Schriftlichkeit von Bildung andererseits. André Jolles’ bekannte morphologische Untersuchung von 1930 hat als ‚Geistesbeschäftigung‘ der ‚Einfachen Form‘ Spruch und ihrer Vergegenwärtigung als Sprichwort kollektive Erfahrung benannt, die als unbegriffliche bzw. vorbegriffliche weder in den geisteswissenschaftlichen Rahmen moderner individueller Bildung noch in die pädagogische Tradition des Humanismus einzupassen ist. Sie und ihre Sprachgebärde deshalb als Volkspoesie im Sinne germanistischer Volkskunde zu mystifizieren, kann kaum eine befriedigendere Alternative bieten. Profane Sprüche und Sprichwörter sind nicht mit Zaubersprüchen oder Orakelsprüchen zu verwechseln, die einmal in einen kultischen Zusammenhang eingebettet gewesen wären. In durchaus kühnem Vorgriff auf spätere Überlegungen der Medientheorie – etwa bei McLuhan – hat Jolles die Differenz zwischen einer ursprünglichen Mündlichkeit der Rede-Gattung und der Schriftlichkeit ihrer nachträglichen, gelehrt-pädagogisch ausgerichteten Sammlungen in den Drucken des frühneuzeitlichen Humanismus herausgestellt: Der Spruch ist nicht lehrhaft, er hat selbst keine lehrhafte Tendenz. Damit ist nicht gesagt, daß wir nicht aus der Erfahrung lernen können, wohl aber, daß in der Welt, von der wir reden, die Erfahrung nicht als etwas aufgefaßt wird, aus dem wir lernen sollen. Alles Lehrhafte ist ein Anfang, etwas, worauf weiter gebaut werden soll – die Erfahrung in der Form, in der sie der Spruch faßt, ist ein Schluß. Ihre Tendenz ist rückschauend, ihr Charakter ist resignierend. Dasselbe gilt von ihrer Vergegenwärtigung. Auch das Sprichwort ist kein Anfang, sondern ein Schluß, eine Gegenzeichnung, ein sichtbares Siegel, das auf etwas aufgedrückt wird und womit es seine Prägung als Erfahrung erhält.80
Sprüche und ihre Sprachgebärden benennen zwar Erfahrungen, aber als Information, Lehrbeispiel oder besonderes Wissen vermitteln wollen sie diese nicht. Dass Sprichwörter als anonyme Schöpfungen aus volkstümlicher Tradition durch festgeprägte Sätze zugleich allgemeine Einsichten und besonderen Rat zu bestimmten Lebenslagen anböten, kann als eine 80 Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1974, S. 158.
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gelehrte Erfindung von Humanismus und Reformation in je pädagogischer Absicht durchschaut werden. Erasmus von Rotterdam mit seinen Adagia (ab 1500), Heinrich Bebel mit seinen Proverbia Germanica (1508), Johannes Agricola mit seinen Sybenhundert und fünfftzig Teütscher Sprüchwörter (1534) und andere ließen ‚philologische‘ Sammlungen drucken, der Reformator Martin Luther legte sich eine Sprichwörtersammlung an, die zu Lebzeiten ungedruckt blieb, jedoch seine Druckschriften zur Verbreitung der Reformation bereicherte. Dass diese schriftgelehrte Überformung und pädagogische Umfunktionierung der Sprichwörter im Humanismus von Renaissance und Reformation bis ins 20. Jahrhundert hinein kaum Anstoß erregen konnte, ist nicht zuletzt der romantischen Aufwertung der „Volkspoesie“81 und der andauernden Wertschätzung anonymer Rede-Gattungen in den Nationalphilologien geschuldet. Auch die aktuelle Sprichwortforschung beachtet mediengeschichtliche Überlegungen wenig ernsthaft, wenn etwa Mieder „in der Entwicklungsgeschichte der Sprichwörter einen ständigen Austausch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wie dies für andere Volkserzählgattungen“82 auch der Fall sei, annimmt. Die Textsortenbestimmung, dass die Bedeutung von Sprichwörtern jeweils von der Gebrauchssituation abhänge, also durch Heterosituativität, Polyfunktionalität und Polysemantizität sich herstelle, abstrahiert gänzlich vom Ursprung der Form und von der ursprünglichen Funktion als Wiedergebrauchsrede. Gerade die Formelhaftigkeit von bestimmten Rede-Gattungen, wozu neben Sprichwörtern und Sprüchen etwa Fabeln, Parabeln, Gleichnisse, Rätsel, Exempel, Witze, Märchen, aber auch Gruß-, Wunsch-, Eides-, Gebetsund Fluchformeln zu zählen sind, liefert noch immer den Schlüssel zum adäquaten Verständnis ihrer Herkunft und Überlieferung. Formelhaftigkeit nämlich weist Sprichwörter über das mnemotechnische Dispositiv hinaus, dass sie so auswendig aus dem Gedächtnis leichter hergesagt werden können, als jeweils integralen Bestandteil von – zumeist eben vergessenen oder verdrängten – Interaktionsritualen aus. Ist für das Sprichwort wie für derartige Wiedergebrauchsreden das Medium der mündlichen Überlieferung formkonstitutiv, so setzt das Apophthegma schon seit der Antike und Plutarch (ca. 46-120) schriftgestützte Historiographie voraus: Zum überlieferungswürdigen Spruch (der sententia) wird
81 Vgl. Bausinger, Hermann: Formen der ‚Volkspoesie‘, Berlin 1967. 82 Mieder, Wolfgang: „Sprichwort“, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S. 219. Vgl. Mieder, Wolfgang: Sprichwort - Wahrwort!? Studien zur Geschichte, Bedeutung und Funktion deutscher Sprichwörter, Frankfurt a.M. 1992.
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der historische Anlass seines Ausgesprochenwerdens (die occasio) mitgeliefert.83 In welchem Maße „medientechnische Reflexionen“ die literaturwissenschaftliche Kategorienbildung verbessern können, zeigt Ter-Nedden, der Sprichwort, Apophthegma und Aphorismus im Hinblick auf die Folgen „struktureller Verschriftlichung“84 untersucht hat. Die Ablösung der Emblemata- und Apophthegmata-Sammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts durch moralistische Aphoristik kann als Konsequenz des Fortschritts von Aufklärung und Alphabetisierung begriffen werden. Sie erscheint eben deshalb als Zeugnis des „Übergangs von einer Schriftkultur, die noch weitgehend im Dienst der Transkription und Überlieferung mündlichen Wissens steht, hin zu einer Kultur, die auf Wissensbeständen basiert, die ohne Schrift und Druck gar nicht gedacht und vermittelt werden könnten“.85 Im 18. Jahrhundert endet die Tradition der mündlichen Vorgeschichte in der europäischen Literatur. Die konsequente Verschriftlichung mündlichen Wissens (z.B. der so genannten Volkslieder und Volksmärchen) diskreditierte auch ererbte Konventionen einer seit der Antike überlieferten alteuropäischen Literatur. Ihre Geltung mochte seit Anbruch der Neuzeit und des Gutenberg-Zeitalters zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nur noch eine spielerische und fiktive gewesen sein, doch waren in ihnen noch Erinnerungen an frühere lebenspraktische Funktionen gegenwärtig, die zu erfüllen ihre Aufgabe in den Interaktionsritualen einer vergangenen Gedächtniskultur gewesen war. Die „Doppelheit von Historisierungsdruck und Systematisierungszwang“86 kann charakteristische Effekte von „struktureller Verschriftlichung“ in der Geschichte der Gattungspoetik des 18. Jahrhunderts bündeln, die dem Kanon der aus der Antike althergebrachten Gattungen mitsamt ihren metrischen Schemata ein zügiges Ende bereiteten. Von der Regelpoetik Morhofs (Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 2. Auflage 1700) über Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die 83 Vgl. Verweyen, Theodor: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert, Bad Homburg u.a. 1970. 84 Ter-Nedden, Gisbert: „Gedruckte Sprüche. Medientechnische Reflexionen über Sprichwort, Apophthegma und Aphorismus“, in: Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter, hrsg. v. Theo Elm/Hans H. Hiebel, Freiburg 1991, S. 93. 85 Ter-Nedden (wie Anm. 84). 86 Vgl. Vosskamp, Wilhelm: „Historisierung und Systematisierung. Thesen zur deutschen Gattungspoetik im 18. Jahrhundert“, in: Regelkram und Grenzgänge. Von poetischen Gattungen, hrsg. v. Eberhart Lämmert/Dietrich Scheunemann, München 1988, S. 38.
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Deutschen (1730, 4. Auflage 1751) bis zu den geschichtsphilosophisch fundierten triadischen Gattungsreduktionen um 1800 bei Goethe, Schiller, Friedrich Schlegel, Schelling und Hegel lässt sich die fortschreitende Dissoziierung der alten Gattungen und ihre Aufhebung in von vornherein auf Schrift und Druck angelegten, zeitgemäßeren Dichtungsformen verfolgen. Auch die Rhetorik, neben der Philosophie die älteste und bedeutsamste alteuropäische Bildungsmacht, die zur literarischen Rhetorik umgebaut in der Regelpoetik ein komfortables, postantikes Asyl gefunden hatte, wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts durch den Umorientierungszwang auf eine individualisierende Stilistik des Schreibens aus der Produktion und Rezeption von Literatur verdrängt. Die idealistische Ästhetik von Kant über Schiller und Goethe bis zu Hegel und den Romantikern begründet mit der Aufhebung der Gattungspoetik auch die Rhetorikverachtung des 19. Jahrhunderts: Die individuelle Institution ‚Stil‘ wirkt in den Grenzen der geschichtsphilosophisch akkreditierten Dichtungsformen unhintergehbar im Eigentümlichen der individuellen Schreibart, für die keine Formelhaftigkeit und kein Regelkram der Rhetoriktradition mehr normsetzend sein können. „Wie hat es Ihnen in dieser Gesellschaft gefallen? Antwort Sehr wohl, beinah so sehr als auf meiner Kammer.“87 Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), „ein rechtes Sonntagskind in Einfällen“88 und genialer Schüler von Experimentalwissenschaft, Aufklärung und Alphabetisierung, profiliert sich als erster Klassiker des deutschen Aphorismus im 18. Jahrhundert zugleich als „Autor eines Typs von spruchartigen Texten, deren Sitz im Leben nicht mehr die Redepraxis ist, sondern die schriftgestützte Reflexion“89. Die geistreiche Konversation von Höfling und Salonliterat, die noch den aristokratischen Lebenskontext für die Reflexionen, Sentenzen und Maximen der französischen Moralisten stellte, spielt beim Göttinger Professor keine Rolle mehr. Vielmehr taugt das gesellig ungesellige Treiben der närrischen Welt dem deutschen Sonderling in seinen unzähligen Einzelheiten nur zu ebenso vielen Schreib-Anlässen, wo Beobachtung und Aufzeichnung, Reflexion und Witz zusammenwirken. „Darf man Schauspiele schreiben, die nicht zum Schauen sind, so will ich einmal sehen wer mir wehren will ein Buch zu schreiben, das 87 Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe, hrsg. v. Wolfgang Promies, Frankfurt a.M. 1994, Bd. 1, S. 115 (B 266). 88 Lichtenberg (wie Anm. 87), S. 257 (D 177). 89 Ter-Nedden (wie Anm. 84), S. 102.
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kein Mensch lesen kann.“90 Das Konvolut der fünfzehn Notizhefte, die Lichtenberg „Sudelbücher“ nennt, sind Zeugnisse einer entfalteten Schriftkultur, wo sich „auf meiner Kammer“, zwischen gedruckten Büchern und beschriebenen Manuskripten, zwischen Auflesen, Abschreiben und Aufschreiben, das Paradoxon eines sich kontinuierlich aussprechenden Individuums zuspitzt, das doch keine kommunikative Mitteilung machen will: „Lesen heißt borgen, daraus erfinden abtragen.“91 Richtig hat Pfeiffer das institutionelle „Dilemma“ von Lichtenbergs Schreiben benannt: „Für Lichtenberg ist literarische Selbstreferenz entweder langweilig oder gräßlich“92, weil ihm im Gegensatz zur wenig späteren idealistischen Ästhetik das Produzieren von individuellen Romanen aus Romanen oder individuellen Gedichten aus Gedichten weder Selbstgenuss noch Erkenntnisgewinn verspricht. Dennoch bleibt ihm das gleichschwebend aufmerksame Schreiben selbst faszinierende Lebensnotwendigkeit: „Das Leben bedarf des zumindest aphoristischen Kommentars, da Lebensqualitäten ohne Fixierung ihrer Bewußtheit langsam verschwinden würden.“93 Voraussetzung einer solch selbstbewussten wie selbstgenügsamen Registratur der alltäglichen Erfahrung scheint indes die privilegierte Position des unbeteiligten Beobachters, der im stillen Alleinbesitz der besseren Einsicht wie von fern auf die menschlichen Händel blickt: „Die geschärfte sokratische Methode – ich meine die Tortur.“94 Distanz zu den Wechselfällen des öffentlichen Lebens und den alltäglichen Ritualen der Lebenspraxis, Abstinenz vom wiederkehrenden Geschwätz der Leute, doch beides mit den offenen Augen und Ohren des „geschärften“ Beobachters und der Erfindungskunst eines stets wachen Intellekts, sie mögen zusammen die aufgeklärte Souveränität kritischer Aufmerksamkeit ergeben: „So viel als möglich der gemeinen Meinung entgegen.“95 Richtig bemerkt Ter-Nedden, dass sich Lichtenberg hierzu von Fall zu Fall gerade „die Tradition – und Fiktion – des spruchhaften Redens“96 und die Florilegien rhetorischer Plausibilisierungskunst zurückruft. Das Gedächtnis vergangener und durch Vernunft entwerteter 90 Lichtenberg (wie Anm. 87), S. 461 (F 10). 91 Lichtenberg (wie Anm. 87), S. 460 (F 7). 92 Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.M. 1999, S. 124. Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph: „Vorschlag zu einem orbis pictus“, in ders. (wie Anm. 87), Bd. 3, S. 378. 93 Pfeiffer (wie Anm. 92), S. 123. 94 Lichtenberg (wie Anm. 87), Bd. 2, S. 441 (K 242). 95 Lichtenberg (wie Anm. 94), S. 251 (J 1365). 96 Ter-Nedden (wie Anm. 84), S. 106.
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Überlieferungen geht jedoch nur imaginativ, d.h. von Einfall zu Einfall, dem parodistischen Scherzbegehren zur schreibenden Hand: Erstaunliche Unfälle und witzige Kurzschlüsse zwischen aufgeklärt szientifischem Wissen und dem Common Sense ‚der gemeinen Meinung‘ wollen auf dem Papier in Szene gesetzt sein. Zu solchem Scherz tritt freilich noch je die ernste Absicht hinzu. Anthropologie war im 18. Jahrhundert vor allem damit beschäftigt, den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen ‚Natur‘ herauszufinden. Anlass genug für Lichtenberg, Widerspruch und Entfernung der neuen Erfahrungswissenschaft zum „gemeinen“ und christlichen Menschenbild auszumessen: Der Mensch kommt unter allen Tieren in der Welt dem Affen am nächsten.97 Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, daß er bei allem Determinismus glaubt er agiere als freies Wesen.98
Ernste Erkenntnisabsicht und heitere Fiktion der distanzierenden Scherzrede, Denken und Sprechen, stellen nicht nur für Lichtenberg und die ‚transzendentale Moralistik‘ um 1800, sondern darüber hinaus für den Lichtenberg-Leser Nietzsche und die moderne Aphoristik bis ins 20. Jahrhundert hinein einen formregulativen, paradoxen Doppelimperativ dar: An jeder Sache etwas zu sehen suchen was noch niemand gesehen und woran noch niemand gedacht hat.99 Die Metapher ist weit klüger als ihr Verfasser und so sind es viele Dinge. Alles hat seine Tiefen. Wer Augen hat der sieht (alles) in allem.100
6.
Mediale Möglichkeiten und Formen moderner Aphoristik
Für die moderne Aphoristik und ihr formsemantisches Erbteil aus (schriftlich und gedruckt) überlieferten rituellen Wiedergebrauchsreden einerseits, aus der (nachgeschriebenen und gedruckten) Mündlichkeit von geselliger Konversation andererseits, ergibt sich in medientheoreti97 98 99 100
Lichtenberg (wie Anm. 87), S. 75 (B 107). Lichtenberg (wie Anm. 94), S. 276 (J 1491). Lichtenberg (wie Anm. 94), S. 251 (J 1363). Lichtenberg (wie Anm. 87), S. 512 (F 369).
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scher Perspektive auf die neuzeitliche Formgeschichte: Schrift und Druck eröffneten bestimmte mediale Möglichkeiten, die aber erst nach und nach aus der Latenz heraustraten, um sich durch bestimmte Überformungen und Durchformungen in manifesten Formen zu zeigen. Ob und wie bestimmte literarische Formen sich also in einem gebotenen Medium darstellen, hängt offensichtlich nur in einem sehr allgemeinen Sinn von diesem Medium selbst ab. Ihre Konkretisierung hängt vielmehr nach dem Schema Kontingenz/Emergenz von Konstellationen ab, die sich ihrerseits durch soziale und literarische Institutionen erst herstellen. Besondere literarische Formen erscheinen also in jedem Fall spezifischer an bestimmte korporative Institutionen gekoppelt als je direkt an ein Medium, mögen diese Institutionen nun besser oder schlechter funktionieren, zuverlässiger oder opaker wirken. Dies gilt in eklatantem Sinn für die durch Spruch und Sprichwort, medizinischen ‚aphorismos‘ und politischen ‚aphorismus‘, Apophthegma und Epigramm, ‚sentencia‘ und ‚maxime‘ geprägte Formsemantik der Aphoristik, die sich auf unbewusste Überlieferung und fiktiv gewordene, formale Mythen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bezieht. Ihre literarische Form ist an die Tradierung semantischer Potentiale gebunden, die in Mythos, Religion und vergangener Kunst als Sinnangebote zur Weltorientierung eingebunden sind. Formsemantik scheint so aber in der Moderne veraltet und nicht vermehrbar, allenfalls formal zitierbar. Es ist die institutionelle Aufgabe humanistischer bzw. neuhumanistischer Philologie und ihrer „rettenden Kritik“, dafür Sorge zu tragen, dass „die Quelle jener semantischen Potentiale nicht versiegt, die wir zur Interpretation der Welt im Lichte unserer Bedürfnisse brauchen“.101 Im Exterieur der neuhumanistischen Bildungsanstalten und ihrer Wissensformen, fern von Büchersammlungen und Bibliotheken hat der späte Nietzsche aus archaischer Vorgeschichte Zarathustra und Dionysos zu paradoxen Leitfiguren einer neuen, fingierten Mündlichkeit erweckt, um sich als ‚Wanderer‘ zwischen Welten und Zeiten und als Lehrer der ewigen Wiederkunft in einer Art von symbolischem Tausch selbst zum ‚posthumen Menschen‘ zu wandeln. Der Aphorismus 15 aus der Sammlung „Sprüche und Pfeile“ lautet in der Götzen-Dämmerung:
101 Habermas, Jürgen: „Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität Walter Benjamins“, in: Siegfried Unseld (Hrsg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1972, S. 173-223, hier S. 217.
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JOSEF FÜRNKÄS Posthume Menschen – ich zum Beispiel – werden schlechter verstanden als zeitgemässe, aber besser gehört. Strenger: wir werden nie verstanden – und daher unsre Autorität.102
Wer so die Mitwelt mit der Nachwelt (und der Vorwelt) vertauscht, möchte an literarischer Kommunikation und öffentlicher Wirkung kaum interessiert erscheinen. Das Gegenteil freilich stellt sich im NietzscheKult um 1900 heraus, der jedoch mehr den geheimnisvollen Autor als das Werk meint, genauer: „Nietzsches Leben als Werk.“103 Gleichwohl trägt die Nietzsche-Rezeption auch zu einer nachhaltigen AphorismusMode bei, deren triviale Produktion von „Gedankensplittern“104 etwa in Wien den Bodensatz für die virtuosen ‚Sprüche und Widersprüche‘ eines Karl Kraus abgeben wird. Eine genau in Nietzsches Todesjahr 1900 publizierte Geschichte der „deutschen Litteratur des 19. Jahrhunderts“ setzt ihm dann auch schon die deutsche Krone der Gattung auf: „Den Aphorismus, dessen kurze Geschichte bei uns erst mit Lichtenberg beginnt, hat er erst zu einer selbständigen Kunstgattung erhoben.“105 In der Sammlung Der Wanderer und sein Schatten von 1880 lesen wir unter der Nummer 220: Reaction gegen die Maschinen-Cultur. – Die Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen gedankenlosen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden. Sie macht thätig und einförmig, – das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müssiggange dürsten lernt.106
Nietzsches Reflexion zur Anthropologie der „Maschinen-Cultur“ wartet dem Leser mit drei antithetischen Gedankenpaaren auf, wobei jeweils eine bestimmte Positivität der Maschine durch einen bestimmten negativen Effekt auf den Menschen argumentativ ausmanövriert scheint. Zuerst wird die Maschine als „Erzeugniss der höchsten Denkkraft“ durch „die niederen gedankenlosen Kräfte“, die sie „bei den Personen, welche 102 Nietzsche (wie Anm. 3), S. 61. 103 Vgl. Zwick, Jochen: Nietzsches Leben als Werk. Ein systematischer Versuch über die Symbolik der Biographie bei Nietzsche, Bielefeld 1995, bes. S. 149f. 104 Vgl. Spicker (wie Anm. 59), S. 235f. 105 Meyer, Richard M.: Die deutsche Litteratur des 19. Jahrhunderts, Berlin 1900, S. 787. 106 Nietzsche (wie Anm. 7), S. 653.
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sie bedienen“, in Bewegung setzt, schon in ihrem Wert und Ansehen herabgesetzt. Sodann wird die „Unmasse Kraft überhaupt“, die sie entfesselt, gerade durch ihre Leistung als sehr beschränkt entzaubert: „sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden.“ Schließlich macht sie „thätig und einförmig“ – aber diese aktive Monotonie erzeugt „auf die Dauer“ nicht etwa tätige Zufriedenheit, sondern „eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele“, die der „Maschinen-Cultur“ ein denkbar böses Urteil spricht. Diesem romantischen Urteil lässt Nietzsches rhetorische Logik nichtpositiver Affirmation jedoch keineswegs das letzte Wort. Die „Seele“ lernt gerade durch jene „verzweifelte Langeweile“ der „Maschinen-Cultur“ stetig gesteigert „nach wechselvollem Müssiggange dürsten“: die eigentlich gemeinte und im Titel der Reflexion schon annoncierte „Reaction gegen die Maschinen-Cultur“. Schlussendliche Affirmation verdient die „Maschinen-Cultur“ damit gleichwohl nicht als solche, sondern eben ‚nur‘ deshalb, weil sie mit der seelischen Verelendung eine menschliche „Reaction gegen die Maschinen-Cultur“ in der „Maschinen-Cultur“ provoziert: „nach wechselvollem Müssiggange dürsten“ heißt für den ‚Wanderer‘ Nietzsche letztlich in überraschender Wendung, durch die „Maschinen-Cultur“ nicht nur den eigenen „Müssiggange“ bestätigt finden sondern auch für die Massen, die Maschinen „bedienen“, im Dürsten die historische Möglichkeit von einem „Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden“ entdecken. Was Nietzsches Reflexion als reaktive Wirkung der „MaschinenCultur“, als Dürsten und „Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden“ in der Zukunft erhofft haben mag, hat im 20. Jahrhundert eine wohl anders als erwartete, durchaus parodistische Einlösung erfahren. Gegen die „verzweifelte Langeweile der Seele“ in der „Maschinen-Cultur“ wurden die Massenmedien im 20. Jahrhundert nicht müde, mit den Kräften von Wunsch, Traum und Rausch zugleich die bunten Phantasmagorien von Mode, Reklame, Warenwerbung, Propaganda, Information und Unterhaltung zu mobilisieren. In einem gleichsam ewigen Nullsummenspiel stillen sie – zwischen Arbeitszeit und Freizeit bis heute – je nur den Durst der Massen „nach wechselvollem Müssiggange“, um ihn als Durst gleichzeitig jeweils immer wieder zu erneuern. Und so fort in infinitum – nach dem Modell eines Perpetuum mobile gleichsam, das Paul Scheerbart in seiner grotesken „Geschichte einer Erfindung“ (zuerst 1910) in den „perpetuierlichen Arbeitsleistungen des Sternes Erde“ (er)findet: „Es begann, eine Art religiöser Begeis-
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terung für die perpetuierliche Anziehungsarbeit der Erde in mir zu reifen.“107 Im technischen Zeitalter der „Maschinen-Cultur“ (und später der Massenmedienkultur) fungieren Perspektivierung, Bewegung, Rhythmisierung, Schock, Tempo, Kürze als latente Strukturphänomene der Sinneswahrnehmung und ‚der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva‘ (Benjamin). Von den modernen Metropolen mit ihren Massen, Maschinen und Medien aus sind sie nach und nach in die ‚Gewohnheit‘ des durchschnittlichen Großstadtmenschen und weiter in das kollektiv Unbewusste des mediatisierten Alltagsbewusstseins im 20. Jahrhundert eingegangen. Zwischen Latenz und Emergenz bestimmen sie auch Form und Schreibart der Aphoristik seit Friedrich Nietzsche. In antisystematischer Opposition zum nationalliterarischen Epigonentum in Philosophie, Epik, Dramatik und Lyrik oder zum ästhetischen Historismus mit den prächtigen, doch nur geborgten Kostümen der Vergangenheit verschließt sich moderne Aphoristik nicht jener Expansion der seit 1830 und dem Ende der deutschen Kunstperiode industrialisierten Apparate, Maschinen und Wahrnehmungsdispositive. Von Einfall zu Einfall sucht sie deren psychotechnische Dynamik, empirisch-scharfsichtig, imaginativ und reflexiv zugleich, im ‚Worte-Machen‘ ihrer paradoxen Sprachexperimente, wo nicht zu überbieten, so zumindest zu parieren. Über Gattungsgrenzen hinweg spricht Segeberg mit Blick auf die Glossen des Wiener Karl Kraus-Freunds Peter Altenberg und die Wortkunst des deutschen Expressionismus von der „Faszination eines literarischen Telegrammstils, der die Statik festgefahrener sozialer Verhältnisse immer neu in die Wortdynamik einer Sprachenergie entgrenzt“.108 Die Abkehr von der idealistischen Ästhetik und ihrer institutionalisierten Hierarchie der Künste, die „einer durchgängigen Materialgerechtigkeit zuliebe“ sich im „Aufschreibesystem von 1900“ vollzogen hat, fasst Kittler seinerseits zusammen: Wenn idealistische Ästhetiken die verschiedenen Künste ins System brachten, waren Plastik, Malerei, Musik, Architektur durch ihre Materialien Stein, Klang, Farbe, Baustoff eindeutig bestimmt; Dichtung aber durfte als Universalkunst im Universalmedium Einbildungskraft schalten. Genau dieser Sonderstatus vergeht um 1900
107 Scheerbart, Paul: Das Perpetuum mobile. Die Geschichte einer Erfindung, Porto Editori 1984, S. 46, S. 59. 108 Segeberg 1997 (wie Anm. 38), S. 292.
MODERNE APHORISTIK
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einer durchgängigen Materialgerechtigkeit zuliebe. Literatur wird Wortkunst von Worte-machern.109
„Fassen wir uns kurz. Die Welt ist übervölkert von Wörtern“110 – der Aphorismus des im mehrsprachigen Lemberg noch vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Polen Stanislaw Jerzy Lec (1909-1966), der als Motto seiner berühmten Sammlung Mysli nieuczesane von 1959 (Unfrisierte Gedanken) voransteht, könnte auch, indem er in einem literarische Form und kommunikative Performanz von Aphoristik in der Medienkoexistenz thematisiert, in eine mögliche Sammlung von Aphoristik des 20. Jahrhunderts einleiten. Wie literarische (und philosophische) Aphoristik nach 1900 mit den neuen medialen Möglichkeiten in der unübersichtlichen Medienkoexistenz von Literatur mit Photographie, Photomontage, Leuchtreklame, Annonce, Flugblatt, Plakat, Wandzeitung, Illustrierte Zeitung, Massen-Feuilleton, Revue, Kabarett und nicht zuletzt Film umgeht, kann gerade daran deutlich werden, wie vielfältige Kurzprosaformen die traditionellen Kulturtechniken des Schreibens und Lesens bzw. ihre Gattungen und Gesten erneuern. Medienübergreifende Wahrnehmungsstrukturen finden sich in formspezifische Wirkungsstrategien von Kurzprosa übersetzt: Verknappung, Aussparung, Überspitzung, Überraschung, Verrätselung werden literarische Verfahren, welche elliptische bzw. defigurative Darstellungsformen, konventionelle Leseerwartungen konternde, ironische Ausdrucksweisen und Kommunikation verstörende, sprachspielerische Appelle auf engstem Zeilenraum zusammen zwingen. Parallelismus, Chiasmus, Inversion, Antithese, Paradoxon erscheinen dabei als privilegierte rhetorische Figuren, die vom witzigen Einfall bis zur schriftlichen Fixierung zusammen zur minimalistischen Prägnanz von Beobachtung und Introspektion, Gedanke und Urteil, Ausdruck und Leser-Appell beitragen. Über Aphorismus und Aphoristik des 20. Jahrhunderts hinaus sollten komparatistische Grundlage einer an der Medium-Form-Problematik orientierten Untersuchung – deren Ausgangsbasis hier allenfalls erst umrissen werden konnte – nicht nur gnomische und diarische, sondern auch lyrische und narrative Formen moderner Kurzprosa bilden. Von Wilde, Hofmannsthal, R. Walser, Kafka, Kraus, Wittgenstein, Musil, Valéry, Gide, Breton, Aragon, Akutagawa, Gómez de la Serna, Borges, Tucholsky, Benjamin, Adorno, Ernst Jünger, Canetti, Lec, Blumenberg, Cioran, Blanchot, Barthes bis zu Agamben, Handke und Bodo Strauss mag 109 Kittler (wie Anm. 11), S. 255. 110 Lec, Stanislaw Jerzy: Sämtliche unfrisierte Gedanken, hrsg. v. Karl Dedecius, Frankfurt a.M. 1998, S. 9.
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die Versammlung charakteristischer Kurzprosa-Schreiber reichen. Schon einer noch kaum in die Details gehenden Prüfung drängt sich dabei ein durchaus medienrelevanter Befund auf. Herkömmliche Anthologien und Sammlungen koexistieren mit neuen Mischformen experimenteller Buchtypen, in denen sich vielfältige Kurz-, Klein- und Minimalprosa findet: Aphorismen, Aperçus, Anekdoten, Glossen, Thesen, Gedankenexperimente, Reiseskizzen, Denkbilder, Prosagedichte, Zitatcollagen, Essaytorsi, Traumnotate, Szenenimpromptus, Phantasiefragmente, Rätsel, Sprüche und Widersprüche. Der Reichtum multipler Formen von Kurzprosa lässt sich im 20. Jahrhundert stringent kaum mehr auf herkömmliche Formschemata zurückführen. ‚Kurze Rede, langer Sinn‘ – erinnern wir uns zuletzt an das Paradoxon des wirkungsmächtigen ‚Worte-machers‘ Nietzsche. Es ist gerade jene prägnante, d.h. hier auch fruchtbare Kürze diesseits von informierender oder unterhaltender Geschwätzigkeit, die im Spannungsfeld von medialen Möglichkeiten und überlieferter literarischer Form zur Ortsbestimmung von moderner Literatur in der Medienkoexistenz taugt.
AUTORINNEN UND AUTOREN Fürnkäs, Josef (Dr. phil.) Professor für Neure Deutsche Literatur an der Keio-Universität Tokyo u.a. Forschungsschwerpunkte: Literarische Moderne, Literaturtheorie, Medienästhetik. Glaubitz, Nicola (Dr. phil.) Literaturwissenschaftlerin (Anglistik), Forschungskolleg „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mediengeschichte (18. Jahrhundert), Gegenwartsliteratur. Izumi, Masato Professor für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Kulturwissenschaft, Vorstellungsgeschichte der fantastischen Tiere, Theorie der Raumgestaltung. Kawashima, Kentaro Lehrbeauftragter an der Keio-Universität Tokyo u.a. Forschungsschwerpunkte: Autobiographie des 20. Jahrhunderts, Diskurstheorie. Käuser, Andreas (PD Dr. phil.) Literatur- und Medienwissenschaftler, Forschungskolleg „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie, Körper- und Musikdiskurse; Medien- und Literaturgeschichte. Kitagawa, Sakiko (Dr. phil.) Professorin für vergleichende Kulturwissenschaften an der University of Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Moderne, hermeneutische Philosophie und die moderne japanische Philosophie. Kumekawa, Mario Assistenzprofessor für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Sportliteratur, Geschichte des Sports.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Lee, Hyunseon (Dr. phil.) Medien- und Kulturwissenschaftlerin, Forschungskolleg „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Kulturvergleich Europa-Ostasien, Medienanthropologie u. -avantgarden, Kino u. Oper um 1900/2000, japanischer u. koreanischer Film. Omiya, Kanichiro Assistenzprofessor für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Politik und Ästhetik um 1800/1900, Philosophie und Psychoanalyse, alte und neue Medien um 1900. Pfeiffer, K. Ludwig (Dr. phil.) Professor für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: kulturelle und mediale Konfigurationen (Shakespeare-Zeit, 19. Jahrhundert, Körperinszenierung). Schnell, Ralf (Dr. phil.) Professor für Germanistik/Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte; Theorie und Praxis audiovisueller Medien. Yamaguchi, Yuko Lehrbeauftragte an der Keio-Universität Tokyo u.a. Forschungsschwerpunkte: Kurt Tucholsky, Literatur der Weimarer Republik, Buch als Medium.
Die Titel dieser Reihe:
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Die grausamen Spiele des »Minotaure« Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift Mai 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-345-3
Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien / Schnitte April 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-277-5
Ralf Schnell (Hg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik Neurobiologie und Medienwissenschaften März 2005, 264 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-347-X
Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 März 2005, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-278-3
Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000 März 2005, 242 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-346-1
Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie März 2005, 546 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-280-5
Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit März 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Titel dieser Reihe: Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-182-5
Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft 2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-276-7
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus
Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6
Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7
2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1
Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de