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German Pages 198 Year 2015
Dirk Hohnsträter (Hg.) Konsum und Kreativität
Konsumästhetik | Band 1
Die Reihe Konsumästhetik wird herausgegeben von Prof. Dr. Moritz Baßler, Prof. Dr. Heinz Drügh, Prof. Dr. Birgit Richard, und Prof. Dr. Wolfgang Ullrich
Dirk Hohnsträter (Hg.)
Konsum und Kreativität
Realisiert mit Unterstützung des Herder Kollegs – Zentrum für Transdisziplinäre Kulturforschung an der Stiftung Universität Hildesheim
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Inhalt
Einleitung
Dirk Hohnsträter | 7 Similia similibus curentur. Über Konsum und Kreativität
Heinz Drügh | 15 Aneignung und Domestikation. Handlungsräume der Konsumenten und die Macht des Alltäglichen
Hans Peter Hahn | 43 Konsum, Boheme, kreative Klasse
Thomas Hecken | 61 Das Warenhaus als Kunstwerk? Zum Verhältnis von Ökonomie, Ästhetik und Konsum um 1900
Uwe Lindemann | 77 Kreatives Spektakel: Ein Festzug der Gewerbe 1929
Siegfried Mattl | 93 Material und Form. Ein Gespräch zwischen Thomas Rentmeister und Dirk Hohnsträter
Thomas Rentmeister/Dirk Hohnsträter | 109 Kunstsammler als ‚role model‘ für kreative Konsumenten
Wolfgang Ullrich | 121 Der Museumsshop oder: Vom kreativen Wert der Dinge
Stefan Krankenhagen | 131
Ambivalente Kreativität. Die Onlinebildkarriere von Haarfärbeprodukten
Simon Bieling | 149 Der Zauberstab: ein Quell der Freude für jede gute Hausfrau. Soziologische Reflexionen zum Verhältnis von Konsum und Kreativität
Kai-Uwe Hellmann | 165 Autoren | 195
Einleitung D IRK H OHNSTRÄTER
Wer die Website des bayerischen Startups mymuesli besucht, sieht sich nicht nur mit einem vielfältigen Angebot biozertifizierter Müsli-Variationen konfrontiert, sondern auch mit der Aufforderung „Sei kreativ“.1 Aus über 80 unterschiedlichen Zutaten können die Kundinnen und Kunden nach Angaben des Unternehmens 566 Billiarden Müslivariationen kombinieren.2 Die Vorstellung, Konsumenten nicht nur attraktive, aber vorgefertigte Produkte anzubieten, sondern ihnen einen bis in die Produktion hineinreichenden, individuellen Gestaltungsspielraum zu eröffnen, hätte noch vor nicht allzu langer Zeit befremdet. Denn Konsum und Kreativität wurden in erster Linie als ein gegensätzliches Begriffspaar wahrgenommen. Als kreativ, so rekonstruieren Heinz Drügh und Hans Peter Hahn in den ersten beiden Beiträgen dieses Bandes, galten Unternehmer, die immer neue Waren in die Welt setzen und sie einfallsreich präsentieren, Handwerker, die vermeintlich authentische Dinge herstellen, und Künstler, die sich ihrer Einbildungskraft bedienen und allenfalls von der Konsumwirtschaft in Dienst genommen werden – nicht aber die Verbraucher selbst. Sie, so die von linker wie konservativer Kulturkritik geteilte Überzeugung, lassen sich durch Werbung und Marketing zu Kauf und Gebrauch seriell gefertigter Massenware verleiten und fallen dabei einem Standardisierungsregime zum Opfer, das kreative Aktivität untergräbt. „Sowohl in der traditionellen Darstellung
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http://www.mymuesli.com/muesli/mixtipps vom 14.03.2015.
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Im weiteren Verlauf dieses Buches wird auf die Doppelnennung der weiblichen und männlichen Form aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet.
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der konstitutiven Eigenschaften des ökonomischen Systems als auch in der kulturkritischen Reflexion zur modernen Ökonomie ist der Konsument nicht wirklich Akteur“, resümiert der Gesellschaftstheoretiker Nico Stehr.3 Es lässt sich aber auch der gegenläufige Befund registrieren, seit in den angelsächsischen Cultural Studies und der neueren Ethnologie produktive Aneignungsformen von Konsumobjekten im Alltag in den Blick gerieten. So berichtet Hahn von findigen Umgangsweisen mit Mobiltelefonen in Afrika. Solche Untersuchungen finden ihren theoretischen Fluchtpunkt in Michel de Certeaus Hervorhebung der „sekundären Produktion, die in den Anwendungsweisen verborgen ist“.4 Hier wird der Fokus auf eigensinnige Praktiken gelenkt, die Konsum und Kreativität weniger weit voneinander entfernt erscheinen lassen als in der kulturkritischen Communis Opinio angenommen. Weiteren Auftrieb erhielt das Zusammendenken beider Begriffe mit der Idee des Prosumenten, die Alvin Toffler bereits 1980 einführt hatte, um damit Personen zu beschreiben, die selbst Hergestelltes auch selbst verbrauchen. Im Zuge der Digitalisierung wird Tofflers Terminus weiter konnotiert und schließt partizipative und ko-kreative Praktiken ein, die vom individuellen Müsli-Mixen im Online-Handel bis zur Mitgestaltung von Computerspielen durch die Spielteilnehmer reichen.5 Tim Brown, der Präsident der Designagentur IDEO, bringt die neue Realität auf den Punkt: „Früher haben Unternehmen neue Produkte entwickelt und den Kunden vorgesetzt. Heute gibt es die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kunden
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Stehr, Nico: Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 171.
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De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 14. Vgl. Hellmann, Kai-Uwe: „Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte“, in: ders./Birgit Blättl-Mink (Hg.): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 13–48, im folgenden S. 29. Hellmann betont, dass die Eigenaktivität von Konsumenten Sachund Dienstleistungen bisweilen „in ihrer Beschaffenheit, ihrer Verwendungsweise und ihrem Erscheinungsbild soweit verändert, daß man kaum mehr von Konsumtion im klassischen Sinne sprechen kann.“
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Neues zu entwickeln und sogar eine Plattform zu schaffen, auf der Konsumenten selbständig Produkte entwerfen.“6 Wie kreativ solche Praktiken tatsächlich sind, welchen Raum und welches Gewicht sie in der gegenwärtigen Ökonomie einnehmen und ob man sie positiv bewerten sollte, darüber herrscht in der Debatte – auch in diesem Sammelband – kein Konsens. So hält beispielsweise Hahn die kreativen Anteile des Konsumhandelns für unterschätzt, während Kai-Uwe Hellmann eine Überdehnung des Kreativitätsbegriffs befürchtet. Er weist darauf hin, dass das Kreative mit anderen sozial akzeptierten Werten wie ökologischer Nachhaltigkeit in Konflikt geraten kann. Einig sind sich die Beiträger gleichwohl darin, dass begriffliche Differenzierungen erforderlich sind, um die Diskussion voranzubringen. Insbesondere die Texte von Drügh, Hahn, Hellmann und Stefan Krankenhagen werfen grundsätzliche Fragen auf: Wo wäre Kreativität im semantischen Feld von Aktivität, Neuverknüpfung und radikaler Innovation zu verorten? Bedarf es des Kriteriums einer starken Novität, um im emphatischen Sinne von Kreativität sprechen zu können? Und wann kann der Begriff auf den Bereich des Konsums angewandt werden? Während es manchem bereits genügt, wenn Produkte individuell ausgewählt und überraschend kombiniert, wenn sie phantasievoll zur symbolischen Selbstpräsentation und stilistischen Distinktion kuratiert werden, bedarf es für andere der konkreten Umnutzung käuflicher Dinge oder gar der Beteiligung an deren Entwurf und Herstellung. Die bisherige Forschung hat – etwa bei Grand McCracken, Colin Campbell und Daniel Miller – erste Vorschläge unterbreitet, die freilich weiterer Nuancierung bedürfen. Anregungen aus der Aneignungsforschung (Hahn), Diffusionstheorie (Hahn, Hellmann) und Philosophie (Hellmann) gilt es zu prüfen, beispielsweise um zu Abstufungen zwischen stärkeren und schwächeren Hervorbringungsgraden, mehr oder minder erfinderischen Anverwandlungsvollzügen zu kommen. Solche Differenzierungen betreffen auch die Diskussion des von Andreas Reckwitz als Signatur unseres Zeitalters behaupteten „Kreativitätsdispositivs“, das dieser als weitreichende und tiefgreifende Doppelstruktur von „Kreativitätswunsch und Kreativitäts-
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Brown, Tim: „Wir müssen mehr Wissen preisgeben“. Tim Brown im Gespräch mit Lothar Kuhn und Michael Leitl, in: Harvard Business Manager vom Mai 2012, S. 100–103, hier S. 102.
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imperativ“ beschreibt (Drügh, Simon Bieling).7 Es gilt, auch gegenläufige Tendenzen im Blick zu behalten, etwa die Hinwendung zu etablierten Formen (‚Klassikern‘), Verzichtsgesten (‚Minimalismus‘) und zu handwerklicher Solidität sowie die mögliche Ablehnung von Kreativitätsofferten durch überforderte Kunden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die im Zuge der Digitalisierung freigesetzte Konsumentenkreativität nicht durch die Formatierung der entsprechenden Plattformen und die 360-Grad-Beobachtung des Datenprofiling den vermeintlichen Freiheitsgewinn sogleich wieder konterkariert. Ein differenziertes Verhältnis zum Wechselspiel von Konsum und Kreativität ergibt sich nicht zuletzt in historischer Perspektive. So verweisen beispielsweise Bieling und Drügh auf den Geniediskurs im späten achtzehnten Jahrhundert, während Thomas Hecken in der Boheme eine Vorform der kreativen Klasse erblickt. Uwe Lindemann untersucht das europäische und amerikanische Warenhaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts als einen Ort, an dem überraschenderweise eine Fülle von Kulturveranstaltungen angeboten wurden, darunter Gemäldeausstellungen, Konzerte, Lesungen und Vorträge. Siegfried Mattls Fallstudie des Festzugs der Gewerbe in Wien 1929 zeigt dieses vergessene Ereignis als eine komplexe Verknotung kreativer Kräfte, bei der künstlerische und populärkulturelle Interventionen traditionelle Repräsentationsbestrebungen durchkreuzen und die Wahrnehmung von den produzierenden Gewerben zum modernen Konsum als einer kollektiven, euphorischen Verausgabung verschieben. Die Fruchtbarkeit eines nuancierenden Blicks belegt auch Bielings bildwissenschaftliche Analyse der fotografischen Darstellung von Haarpflegeprodukten und ihrer Nutzerinnen auf sozialen Medien wie Instagram und Tumblr. Konsumentinnen erweisen sich hier weder als passiv noch als emphatisch innovativ, sondern weit eher als Akteure, die Muster einfallsreich variieren. Ein Sammelband über Konsum und Kreativität bliebe an entscheidender Stelle lückenhaft, enthielte er nicht auch Beiträge über Kunst und Kunstbetrieb. Denn die Kunst bildet zum einen den kulturhistorischen Ausgangspunkt der Kreativität moderner ästhetischer Ökonomien, wurde und wird andererseits aber auch immer wieder als Gegenpol zu einer konsumisti-
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Reckwitz, Andreas, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 10; zum Konsum s. S. 143.
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schen Einstellung aufgefasst. Freilich kann sie, wie Drügh an Arbeiten von Kate Bingaman-Burt, Stephanie Senge und Florian Slotawa zeigt, auch jenseits schematischer Zuordnungen zur Sensibilisierung für die Komplexität der Konsumkultur beitragen. Dass sich der Transfer auch in umgekehrter Richtung als fruchtbar erweisen kann, belegen die Installationen des Bildhauers Thomas Rentmeister, der in seinen Arbeiten immer wieder Konsummaterialien wie Nutella oder Penatencreme verwendet. Im Künstlergespräch stellt er heraus, dass es ihm dabei weniger um Konsumkritik als um das innovative Potenzial ungewöhnlicher bildhauerischer Materialien geht, deren Verwendung zu neuen Formen führen kann. Wie vielgestaltig das Verhältnis von künstlerischer Kreativität und Konsum ist, verdeutlicht auch Wolfgang Ullrichs These, die Autonomie der modernen Kunst könne als Vorform gebrauchswertindifferenter Marken aufgefasst werden. Ullrich sieht im Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst das Modell eines kreativen Konsumenten, der den Bildungsbürger alten Typs ablöst. Gerade das Absehen von Gebrauchswerten und die Hinwendung zu Stil und Stimulation, für die dieser Sammlertypus steht, diene als Vorbild kreativer Konsumenten, die durch das kuratierende Auswählen und Zusammenstellen käuflicher Dinge darauf abzielen, neue Konsummuster zu etablieren. Auch Krankenhagen widmet sich dem komplexen Zusammenhang von ökonomischen und nicht-ökonomischen Werten. In seinen Überlegungen zum Museumsshop erweist sich dieser als faszinierender Zwischenraum, der die Differenz zwischen käuflichen und unveräußerlichen Dingen innerhalb ein und derselben Institution verhandelt und dabei sowohl eine aktive Beziehung des Konsumenten zur Ware als auch ein reflexives Verhältnis zum Wert der Dinge anregen kann. Ob in systematischer, historischer oder kunstwissenschaftlicher Ausrichtung, alle Beiträge dieses Bandes teilen das Anliegen, Konsum und Kreativität auf differenzierte Weise zusammenzudenken. Dies wird, wie Hellmann abschließend herausstellt, auch die reflexive Wendung zu einer Beobachtung zweiter Ordnung einschließen: Was steckt hinter dem verstärkten Interesse am kreativen Konsumenten? Wie auch immer die Antwort auf diese Frage ausfallen mag, eines ist der kreative Konsum sicherlich: ein Indiz dafür, dass die moderne Konsumkultur von Kritik nicht nur permanent begleitet wird, sondern diese auch auf vielfältige Weise zu reintegrieren versteht. Kreativer Konsum er-
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weist sich als ein besonders prononcierter Fall der enormen Absorbtionsfähigkeit des Ökonomischen, das Innen und Außen in beweglichen Unterscheidungen immer wieder neu konstituiert. Allen Autoren dieses Bandes sei für ihre Mitarbeit herzlich gedankt. Mein Dank gilt ferner den Herausgebern der neuen Reihe „Konsumästhetik“ für ihr Angebot, diesen Band als Auftakttitel erscheinen zu lassen. Realisiert werden konnte er – ebenso wie die gleichnamige Tagung an der Stiftung Universität Hildesheim im September 2013 – durch die großzügige Unterstützung des Herder Kollegs – Zentrum für transdisziplinäre Kulturforschung.
AUSWAHLBIBLIOGRAFIE Diese Auswahl beschränkt sich mit Absicht auf einige wenige, grundlegende und die Debatte prägende Titel. Sie soll den Einstieg ins Thema erleichtern und ermöglicht unkompliziert das Erschließen weiterer Forschungsliteratur. Abel, Günter: „Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie“, in: ders. (Hg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie. 26.-30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge, Hamburg: Meiner 2006, S. 1–21. Berg, Karen van den: „Kreativität. Drei Absagen der Kunst an ihren erweiterten Begriff“, in: Stephan A. Jansen/Eckhard Schröter/Nico Stehr (Hg.), Rationalität der Kreativität. Multidisziplinäre Beiträge zur Analyse der Produktion, Organisation und Bildung von Kreativität, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 207–224. Boltanski, Luc/Chiapello, Éve: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003. Brooks, David: Bobos in Paradise. The New Upper Class and How They Got There. New York: Simon & Schuster 2004. Campbell, Colin: „The Craft Consumer, in: Journal of Consumer Culture 5 (2005), S. 23–42. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988.
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Florida, Richard: The Rise of the Creative Class. And How Its Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life. New York: Basic Books 2002. Frank, Thomas/Weiland, Matt (Hg.): Commodify Your Dissent. Salvos from The Baffler, New York/London: Norton 1997. Groys, Boris: „Der Künstler als Konsument“, in: ders.: Topologie der Kunst. München: Hanser 2003, S. 47–58. Hellmann, Kai-Uwe/Blättel-Mink, Birgit (Hg.), Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. Hollein, Max/Grunenberg, Christoph (Hg.): Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002. Luhmann, Niklas: „Über ‚Kreativität‘“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.), Kreativität – ein verbrauchter Begriff?, München: Wilhelm Fink Verlag 1988, S. 13–19. McCracken, Grant: Culture & Consumption, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1988. Miller, Daniel: The Comfort of Things, Malden: John Wiley & Sons 2008. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012. Toffler, Alvin: The Third Wave. New York: Batam Books 1980. Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013.
Similia similibus curentur Über Konsum und Kreativität H EINZ D RÜGH
G ENIALITÄT – K REATIVITÄT – K ONSUM Zentral für unsere Auffassung von Kreativität ist der Geniediskurs des späten achtzehnten Jahrhunderts. Genialität, so der schottische Theologe und Philosoph Alexander Gerard in seinem Essay on Genius (1774), hängt grundsätzlich mit allen „intellectual powers“ des Menschen zusammen: mit „Sense, Memory, Imagination, and Judgment“1 (Empfindung, Gedächtnis, Einbildungs- und Urteilskraft). Als kardinale „creative power“ weist Gerard indes die „imagination“ und die mit ihr verbundene Fähigkeit aus, routiniert und nicht weiter reflektiert ablaufende Wahrnehmungen (perception) zu einer aktiven, neue Aspekte des Gegenstandes eröffnenden Sicht (view) zu steigern.2 Genie oder Kreativität stehen also für „invention“,3 für einen Pio-
1
Gerard, Alexander: An Essay on Genius. 1774. Repr., in: Max Imdahl/Wolfgang Iser et al. (Hg.), Theorie und Geschichte der schönen Künste. Texte und Abhandlungen. Bd. 3, München: Fink 1966, S. 27.
2
A. Gerard: Essay, S. 29f. Vgl. dazu Viktor Šklovskijs formalistisches Credo: „Gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wiedererkennen.“ (Šklovskij, Viktor: „Die Kunst als Verfahren“, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Wilhelm Fink 1969, S. 2–35,
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niergeist, der „untrodden fields of thought“4 beschreitet. Zu einer wichtigen Technik wird dabei die Gabe der Assoziation. Kreative Imagination vermag es, Vorstellungen anders als gewohnt oder sogar auf überraschende Weise zu verknüpfen: „It knits them together by other ties than what connected the real things from which they are derived.“5 In dieser Webarbeit ist das Denken „perfectly restless“, schreibt Gerard voller Begeisterung – 250 Jahre vor unserer ‚Müdigkeitsgesellschaft‘. Etwa 20 Jahre später erklärt Friedrich Schlegel in seiner frühen Abhandlung Über das Studium der griechischen Poesie (1797) jenes „Streben“, das „überhaupt kein festes Ziel [...] keine bestimmte Richtung“ mehr kennt, zu einem Signum der Moderne.6 Diese Feststellung wird allerdings mit gehöriger Skepsis gegenüber dem Phänomen getroffen. Zwar sieht Schlegel in der Ruhelosigkeit der Ideenerzeugung einen „Überfluß aller Kräfte“ am Werk, der „höchste [...] Fülle“ generiere. Die Seelenkräfte finden für diese Fülle aber laut Schlegel keine befriedigende Form und bleiben in einem Aggregatszustand der „Verwirrung“ und „Anarchie“, deren Resultat Schlegel „Verzweiflung“ nennt. Für Schlegels von Ambivalenzen durchzogenen Text ist es der Makel der Moderne, dass es allerorten an einem „festen Punkt“ mangle, wie ihn die Orientierung am klassischen Altertum noch bedeutet habe. Stattdessen huldige nun „die Karikatur des öffentlichen Geschmacks, die Mode, [...] mit jedem Augenblick einem ande-
hier S. 15 (Herv. v. HD). Oder zur Unterscheidung eines bloß wiedererkennenden zu einem emphatisch ‚sehenden Sehen‘ in den bildenden Künsten: Imdahl, Max: Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode. Hg. von Gottfried Boehm, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 300–380. 3
Ebd., S. 27.
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Ebd., S. 30.
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Ebd, S. 39.
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Schlegel, Friedrich: „Über das Studium der griechischen Poesie“, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett und Hans Eichner. Erster Band: Studien des klassischen Altertums. Hg. von Ernst Behler. Paderborn/München/Wien: Schoening 1979, S. 217–367, hier S. 217.
S IMILIA SIMILIBUS CURENTUR . Ü BER K ONSUM UND K REATIVITÄT | 17
ren Abgotte“.7 Überall herrscht in den von Schlegel ausgemalten modernen Zeiten „das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten“8 vor. Auch wenn dies durchaus mit einem „größere[n] Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie“9 einhergehen könne, so dominiert für Schlegel letztlich doch eine ernste „Krise des Geschmacks“.10 Elemente dieses Diskurses finden sich, in aufschlussreicher Weise refiguriert, auch im Nachdenken über die moderne Warenwelt und den Konsum. So richtet Karl Marx an exponierter Stelle, nämlich gleich im ersten Satz des Kapitals den Blick auf jene „ungeheure Warensammlung“ als die sich „der Reichtum“ jener Gesellschaften objektiviert, „in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“.11 Zwar geht es Marx in diesem Zusammenhang um eine Krise des Gebrauchswerts, die durch die Dominanz des Tauschwerts verursacht werde, und nicht um eine Kritik der kulturellen Homogenisierung, wie sie durch die industriellen Herstellung einer „für alle gleiche[n], hochstandardisierte[n] Ware [...] für eine anonyme Masse“12 bewirkt wird. Das Bedrohliche, das in der Warenflut für eine Denkweise steckt, gemäß der sich, wie von Schlegel vorgeführt, ein elaborierter Geschmack stets aufs Neue an einem Kanon von exquisiten Kunstgegenständen zu schulen habe, dokumentiert sich aber auch bei Marx. Beispielsweise in einer, im Unterschied zu Schlegel mit grimmigem Optimismus formulierten Diagnose über jene modernen „Produktionsverhältnisse“, mit denen auch „sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend [...] revolutionier[t]“ werden:
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F. Schlegel: Poesie, S. 219.
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Ebd., S. 228.
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Ebd., S. 253.
10 Ebd., S. 254. 11 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals. In: Ders. u. Friedrich Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Band 23, Berlin: Dietz 1962, S. 49. 12 Hellmann, Kai Uwe: Soziologie der Marke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 48.
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„Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft.“13
So die berühmten Sätze aus dem Kommunistischen Manifest. Psychologisches Komplement dieser fortwährenden Umwälzung und Erschütterung ist laut Wolfgang Fritz Haug eine – nun wieder kulturkritisch so genannte – „Triebunruhe“,14 in welche die Menschen durch die ebenso ubiquitär wie omnitemporal angebotenen Waren versetzt würden.15 Statt dass sie sich, wie es sich Hannah Arendt in Vita Activa wünscht, den schönen, bereichernden, gesellschaftlich und politisch zuträglichen Dingen zuwendeten, verlegten sich die von der Arbeitsfron zu einem guten Teil befreiten, mit mehr Freizeit beschenkten und nicht zuletzt durch die industrielle Fertigung prosperierenden Menschen nur umso gedankenloser auf den Konsum: „Die große Hoffnung, die Marx und die Besten der Arbeiterbewegung in allen Ländern beseelte: daß Freizeit schließlich den Menschen von der Notwendigkeit befreien und das Animal laborans produktiv machen würde, beruht auf [einem] Trugschluss. [...] Die überflüssige Zeit des Animal laborans wird niemals für etwas anderes verbraucht als Konsumieren, und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit.“16
Waren erscheinen also einerseits als Erben der vom Geniediskurs befeuerten modernen Lust aufs Neue und stets noch Neuere. Andererseits gefähr-
13 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Dies.: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Band 4 [Mai 1846 - März 1848], Berlin: Dietz 1959, S. 465. 14 Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 120. 15 Vgl. jüngst: Crary, Jonathan: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin: Wagenbach 2014. 16 Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer 1958, S. 120f.
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den sie aufgrund ihrer Aufdringlichkeit, ihres als unsubtil geltenden Massenappeals und ihrer Nivellierung von Nuancen Grundlagen des ästhetischen Selbstverständnisses. Mehr noch: Pocht die Ästhetik seit dem späten achtzehnten Jahrhundert auf die Autonomie, die dezidierte Selbstbestimmung und Zweckfreiheit von Kunst, so kann man dies von den feilgebotenen Waren nicht behaupten, dominiert hier doch jederzeit ein- und derselbe Zweck: der Verkauf. Beklagt man in diesem Zusammenhang eine Manipulation der Kunden, so zeichnet sich Kunst nach dem skizzierten Verständnis dadurch aus, dass sie dem Rezipienten ein „freie[s] Spiel[...] der Vorstellungskräfte“17 gewährt, das um seiner selbst willen genährt wird. Nur in einer solchen, nicht bemächtigenden Form der Aneignung entgehen die Gegenstände dem Schicksal der „Gebrauchsobjekte“, das letztlich darin bestehe, so Hannah Arendts finstere Wörtlichnahme des Begriffs ‚Konsum‘, „dem Verzehr und der Vernichtung“18 anheim zu fallen. Der Umgang mit Kunst wird unter solchen Voraussetzungen geradezu als „Befreiung [...] von unseren konsumistischen Objektaneignungen verstanden“,19 unter denen man nach wie vor häufig nicht viel mehr als gedankenloses Schmatzen zu verstehen scheint.
17 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Kritik der Urteilskraft / Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Hg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2009, S. 540, § 9. 18 H. Arendt: Vita Activa, S. 120f. Vgl. zur Wortbedeutung von Konsum als Verzehr und Vernichtung Schivelbusch, Wolfgang: Die Verbrauchskraft, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 66 (2012), S. 667–678, sowie mit Betonung der Differenz zwischen dieser Lesart von Konsumption und dem etymologisch verwandten consommation (‚Steigerung‘, ‚Vollendung‘) Dominik Schrage: The Availability of Things. A Short Genealogy of Consumption. In: Krisis. Journal for contemporal philosophy 1 (2012), S. 5–20, bes. S. 7–9. 19 Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2013, S. 37f.
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D AS K REATIVITÄTSDISPOSITIV Doch mit diesem Szenario, in dem Konsum eine grundsätzliche Gefährdung der menschlichen Kreativität bedeutet, bzw. letztere, die künstlerische Betätigung und deren angemessene Rezeption als antikonsumistisches Exerzitium verstanden werden, ist noch nicht die ganze Dialektik des Verhältnisses von Konsum und Kreativität benannt. Denn gleichsam als Reaktion auf die Kritik an den kreativitätsgefährdenden Aspekten des Kapitalismus hat sich ein eigentümliches Re-Entry des Konzeptes ‚Kreativität‘ in ökonomische Konzepte ereignet.20 Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello haben in diesem Sinne die Logik eines in den letzten zwei Jahrzehnten boomenden ‚Netzwerkkapitalismus‘ herausgearbeitet, in dem Eigenschaften wie „Mobilität“ oder „Verfügbarkeit“ zu alles andere überstrahlenden Werten geworden sind. Arbeitnehmer, man kennt die Leier, haben heutzutage zu allererst „flexibel“, „polyvalent“, „aktiv“ und „autonom“ – eben kreativ zu sein.21 Dies bringt eine bestimmte Variante der Kapitalismuskritik in Schwierigkeiten, die Boltanski und Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnen. Diese drängte gegen die vom kapitalistischen System eingeforderten Eigenschaften wie Rationalität und „Disziplin“ am Arbeitsplatz, gegen die „Uniformierung der Lebensweisen“ oder die „Standardisierung“ in einer Welt der „Massenproduktion“ auf „mehr Autonomie, Kreativität“ und „authentischere“ Lebens- und Beziehungsformen“22 – klassische Entfremdungskritik mithin. In Zeiten der ‚Ich
20 Die Fähigkeit des Kapitalismus, sich immer wieder bei seinen Gegnern zu bedienen und sich deren Maximen wie etwa Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit oder Kreativität anzueignen (Bioprodukte, Fair Trade, Kreativität als ökonomische Ressource) untersucht Dirk Hohnsträter in einer Studie mit dem Arbeitstitel „Konsumkultur als Form. Innen und Außen im Umgang mit käuflichen Dingen.“ 21 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreativität und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos 2010, S. 18–37, hier S. 24f. 22 L. Boltanski/È. Chiapello: Arbeit der Kritik, S. 29f.
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AG‘ und des ‚flexiblen Menschen‘ ist Kreativität indessen zu einer geradezu verpflichtenden „Ressource für die Produktivität“23 geworden: „Der kreative Imperativ nötigt zur permanenten Abweichung; seine Feinde sind Homogenität, Identitätszwang, Normierung und Repetition. Die Aufforderung ‚Be creative!‘ ist dabei nicht weniger paradox als das legendäre ‚Sei spontan‘. Gefordert ist serielle Einzigartigkeit, Differenz von der Stange.“24
Angesichts dieses Befundes entschließt sich Andreas Reckwitz, von einem regelrechten „Kreativitätsdispositiv“ zu sprechen, das „verschiedenste gesellschaftliche Sektoren und ihre Praktiken“ steuere: „von der Erziehung bis zum Konsum, vom Sport bis zum Beruf und zur Sexualität.“25 Gegen Max Webers Bild des Kapitalismus als einer durchrationalisierten „Entästhetisierungsmaschine“26 akzentuiert Reckwitz den Aufstieg einer regelrecht „ästhetischen Ökonomie“.27 Damit meint er neben früheren Phänome-
23 Chiapello, Ève: Evolution und Kooption. Die ‚Künstlerkritik‘ und der normative Wandel, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreativität und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin: Kadmos 2010, S. 38–51, hier S. 51. Es scheint eine systemische Stärke des Kapitalismus, die Argumente seiner deutlichsten Kritiker in sein System zu integrieren. 24 Bröckling, Uwe: „Kreativität“, in: Ders., Susanne Krasmann et al. (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 139–144, hier S. 143. 25 Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 15. Die bündigste Bestimmung des auf Michel Foucault zurückgehenden und nicht ganz einfach zu greifenden Begriffs des Dispositivs findet sich bei Giorgio Agamben: „a. Es ist eine heterogene Gesamtheit, die potentiell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, einschließt: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, polizeiliche Maßnahmen, philosophische Lehrsätze usw. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann. b. Das Dispositiv hat immer eine konkrete strategische Funktion und ist immer in ein Machtverhältnis eingeschrieben. c. Als solches geht es aus einer Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen hervor.“ (Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin: Diaphanes 2008, S. 9). 26 A. Reckwitz: Kreativität, S. 32. 27 Ebd. S. 133ff.
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nen wie der Arts-and-Crafts-Bewegung oder der Verhandlung des Unternehmers als eines Genies bei Schumpeter und Werner Sombart insbesondere die sogenannten creative industries.28 Auch der Konsum spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: „Eine an Innovation und Kreation orientierte Wirtschaft muss auch ihre Konsumenten als ästhetisch orientierte Subjekte begreifen. [...] In der ästhetischen Ökonomie wird der Konsument gewissermaßen selbst als ‚kreativ‘ adressiert, und er modelliert sich als ein solcher: als ein Subjekt, das nicht bloß Güter kauft und nutzt, sondern aktiv Bedeutungen, Erfahrungen und Emotionen produziert und sich mit ihrer Hilfe einen eigenen Lebensstil zusammenstellt.“29
Die Verkopplung von Kreativität und Konsum scheint dadurch unter generellen Verdacht zu geraten. Gilt Kreativität gewissermaßen als Triebkraft des Kapitalismus, so wird sie im Verbund mit dem Konsum zum Stimulans einer ruhelosen, qua Kaufakt betriebenen Suche nach Distinktion und originellem Persönlichkeitsausdruck. Ist es heute kaum noch möglich ist, dem Konsum „unambitioniert“ oder unengagiert nachzugehen, bzw. ohne auf feine Unterschiede zu dringen,30 so wird damit freilich ein Prinzip preisgegeben, mit dem sich einst das Bildungsbürgertum schmückte: per Kennerschaft und Studium exklusiv an humanistischen Idealen aus Kunst und Wissenschaft teilzuhaben und sich für den Staat und das Gemeinwesen zu engagieren. Dies ist, wie es scheint, mehr und mehr auf die Expertise für wie auch immer exquisite Waren seitens eines ‚Konsumbürgertums‘ geschrumpft.31 Und es wird vermutet, dass der Konsumismus tendenziell auch von der Partizipation am öffentlichen Leben und vom politischen Engagement abhalte.32 Konsum macht nach gängiger Lesart oberflächlich und dekadent, flutet unsere Lebenswelt mit allem erdenklichen Plunder, zerstört
28 Vgl. ebd., S. 133–197. 29 Ebd., S. 143. 30 Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013, S. 63f. 31 Cohen, Lizabeth: A Consumer’s Republic: The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York: Vintage 2003. 32 Vgl. Bauman, Zygmunt: Leben als Konsum. Aus dem Englischen von Richard Barth, Hamburg: Hamburger Edition 2009, S. 41.
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die Umwelt und steht nicht zuletzt unter dem Verdacht, Ungerechtigkeit zu vergrößern: sowohl in der Produktionssphäre (Stichwort sweat shops) als auch im Bereich der Konsumption, wo die Partizipationsmöglichkeiten aufgrund einer aufgehenden Einkommensschere ungleich verteilt sind.
H ANDLUNGSFORMEN DES K ONSUMS Welche Ausweichoptionen – sofern es überhaupt gelingen kann, sich aus einem Dispositiv herauszuwinden – benennt Reckwitz nun aber gegen den „Steigerungszwang der Kreativität“.33 Einerseits bringt er eine „Entdynamisierung des Ästhetischen“34 ins Spiel, die nicht mehr dem Gedanken genialischer Originalität und Urheberschaft hinterherhechelt, sondern die dem Epigonalen, Wiederholenden, Faden oder gar Gleichgültigen, kurz gesagt: dem kalkuliert Unglamourösen oder Unambitionierten die Manege überlässt. Ferner empfiehlt Reckwitz, über eine „Demokratisierung des Kreativen“35 nachzudenken, wie sie sich „in den alltäglichen Praktiken und Netzwerken immer schon ergibt und dabei auf kein Publikum angewiesen ist“.36 Gemeint sind damit etwa Praktiken wie urban gardening oder guerilla knitting. Nichts dagegen – doch soll hier ein anderer Vorschlag gemacht werden, der vielleicht zunächst einmal abenteuerlich klingt. Denn nichts anderes als eine Ästhetik des Konsums soll – ‚similia similibus curentur‘, wenn man so will – ebenso gegen elitäre Originalitätsforderungen in der Kunst profiliert werden wie einer Demokratisierung, und das heißt einer Entdramatisierung des Kreativen zuarbeiten. Dabei sind vor allem zwei Aspekte des Konsums herauszustellen, deren Wahrnehmung durch die Dominanz des kulturkritischen Narrativs nicht eben leichter gemacht wird: erstens die Differenziertheit individueller wie sozialer Umgangsweisen mit dem Konsum, die weit mehr umfassen als stereotyp bemühte Handlungen wie gieriges Habenwollen oder aggressiven Geltungskonsum; und zweitens die Inkorporierung von Elementen aus der
33 A. Reckwitz: Kreativität, S. 345. 34 Ebd., 366. 35 Ebd. 36 Ebd., 359.
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Konsumsphäre in die Kunst, nicht als deren Abstumpfung, sondern im Gegenteil als Ausweis oder Beförderung ästhetischer Sensibilität. Zur Plausibilisierung dieses Gedankens ist es zunächst einmal sinnvoll, ein Schlaglicht auf einige wirtschaftshistorische Aspekte zu werfen. So ist etwa gefragt worden, ob nicht der Kapitalismus auch deshalb so beharrlich funktioniere, weil er, wie Werner Plumpe formuliert, „durch die alltägliche Zustimmung konsumierender Menschen“ getragen wird.37 Dahinter werden nicht nur ideologische Verblendung und Verführung als Triebfeder vermutet. Denn nüchtern betrachtet, hat der Konsum „nicht nur Mangel gemildert und die Grundlagen für Bedürfnisbefriedigung geschaffen, sondern vor allem auch Mühe vermieden, insbesondere aber die Zwänge der familialen Organisation der Bedürfnisbefriedigung (inklusive der historisch mit ihr verbundenen Geschlechterordnungen) verändert.“38 Sogar das, was man als ‚Verfleißigung‘ der Unterschichten bezeichnet hat, die Frage, warum die vielen Arbeiter eigentlich dem kapitalistischen Produktionsprozess ihre Lebenskraft zur Verfügung gestellt haben, wird nach neueren Erkenntnissen nicht bloß mit Ausbeutung, Disziplinierung oder dem Zwang erklärt, sich vor dem Hungertod zu retten. Stattdessen wird immer häufiger als Triebfeder von einem Begehren der Arbeiter ausgegangen, an sich ergebenden reicheren Konsummöglichkeiten zu partizipieren.39 Der mitunter als sozialromantisch belächelte Impuls der Cultural Studies, Handlungsformen und -motivationen sogenannter ‚einfacher Leute‘ (‚the people‘) ernst zu nehmen, scheint daher mit Blick auf den Konsum nicht ganz ohne Berechtigung zu sein. Denn kaum ein Thema ist stärker von düsteren Masternarrativen umstellt (ein christlich-puritanisches Erbe?), kaum ein Thema scheint zudem unaufrichtiger diskutiert zu werden. In entwaffnender Manier berichtet etwa der Anthropologe Daniel Miller, der eine ganze Reihe grundlegender Untersuchungen zum Thema vorgelegt hat, dass die Standardreaktion auf den Konsum stets dessen Extreme fokussiert.
37 Plumpe, Werner: Ökonomiekolumne. Konsum, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 67 (2013), S. 619–627, hier S. 621. 38 W. Plumpe: Ökonomiekolumne, ebd. 39 De Vries, Jan: The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Ecomomy, 1650 to the Present, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2008.
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Wann immer er Gesprächspartnern seinen Gegenstand annonciert habe, sei die Reaktion etwa so gewesen: „‚Oh, if you are studying shopping, the person you really should meet is my aunt/grandmother/cousin etc. She is a real shopper, a veritable shopaholic.‘ Another version is ‚Well if you are interested in shopping you really must visit Lakeside/West Edmonton/the Mall of America/the Metro Centre – that place is just too much.‘“40
Laut Miller ist unabweislich: „Loads of people around [...] bemoan some existential loss as a result of having too many things“. Andererseits: „I can count the genuine ascetics I know on less than one hand. I simply don’t know any at all“. Millers Forderung lautet daher: „Let’s not pretend that the quantity of things is intrinsically oppressive. It is only that is has the capacity to become so“.41 Genauso können käufliche Dinge aber auch als Bausteine einer grundlegenden kulturellen Weltorientierung wie als basales Kommunikationsmittel fungieren, in der die Aktanten „merge cultural and parental influences, normative social orders and other ingredients, which we add as we go along“. Miller sieht in dieser auf einem „increasing level of resources“ beruhende Verhaltensweise des steten Neuarrangierens von Bedeutungsmustern „creative autonomy“ am Werk.42 Hierin schwingt jene Emphase nach, mit der ein Denker wie Michel de Certeau den Konsum als „Handlungsstil“ dargestellt und als solchen mit „Kreativität“ in Verbindung gebracht hat, und zwar insofern, als er den Gebrauch von Konsumgütern stets auch als „Manipulation“ an „aufgezwungenen Kenntnisse[n] und Symboliken“ begreift und die Konsumenten folglich als „verkannte Produzenten, [als] Dichter ihrer eigenen Angelegenheiten und Erfinder ihrer eigenen Wege durch den Dschungel der funktionalistischen Rationalität“ feiert.43 Wird de Certeau damit zu einem Vordenker jenes von Reckwitz
40 Miller, Daniel: A Theory of Shopping, Ithaca/New York: Cornell University Press 1998, S. 67f. 41 Miller, Daniel: Stuff, Malden: John Wiley & Sons 2010, S. 62. 42 Miller, Daniel: The Comfort of Things, Malden: John Wiley & Sons 2008, S. 295. 43 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen von Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1988, S. 78f., 82, 85.
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beschriebenen Vorgangs, bei dem auf der Basis des Fordistischen Kompromisses sowohl durch die Anforderungen des ‚neuen Kapitalismus‘ als auch auf dem Gebiet des Konsums zur Aktivität und Kreativität angespornte Arbeitnehmer auch theoretisch entsprechend zu adressieren sei? Das ginge genauso an de Certeaus Argument vorbei, wie es unsinnig wäre, Mary Douglas und Baron Isherwood eines naiven Positivismus zu bezichtigen, wenn sie darauf verweisen, dass „all material possessions carry social meaning“ und folglich in ihrer Eigenschaft als „communicators“ zu untersuchen seien.44 Das ist keine affirmative Haltung, sondern schlicht „standard ethnographic practice“.45 Anzunehmen, dass die „material side of existence […] yields a much richer idea of social meanings than mere competitiveness“, ja dass sie geradezu ein Vehikel „for the human creative faculty“46 sei, wäre also weniger als Ausdruck eines Kreativitätsdispositivs oder als theoretische Nebelkerze zu dessen Verschleierung zu werten. Vielmehr wäre ein solcher Gedanke als Einladung zu verstehen, einen exakteren Blick auf die von theoretischen Großnarrationen mitunter nicht ganz so genau beachteten „minutiae of everyday life“47 zu werfen, auf jenen konkreten Reichtum von Handlungen, mit denen Konsumakte in Wirklichkeit verknüpft sind und mit denen eine komplexe Bedeutungsvielfalt der Waren produziert wird. In diesem Sinne begreift der Kulturanthropologe Grant McCracken den Umgang mit Waren als Ritual. Rituale sind nicht misszuverstehen als Umgangsformen uneingeschränkter Affirmation oder Anbetung, sondern als Praktiken engagierter, ganz unterschiedliche Akzentuierungen vornehmender Verhandlung: „Ritual is an opportunity to affirm, evoke, assign, or revise the conventional symbols and meanings of the cultural order“.48 McCracken unterscheidet vier Hauptformen von Ritualen: Erstens solche des Tauschs bzw. der Gabe (exchange) – eine für die Ethnologie seit Marcel Mauss grundlegende Kategorie, zu der man aber, über
44 Douglas, Mary/Isherwood, Baron: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption, New York/London: Basic Books 1979, S. 59. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 60. 47 D. Miller: Comfort of Things, S. 6. 48 McCracken, Grant: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington/Indianapolis: Combined Academic Publishers 1988, S. 84.
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McCracken hinausgehend, auch Rituale der Aneignung, des flanierenden Imaginierens und gedanklichen Umschmeichelns der Ware bis hin zum Kauf zählen könnte; zweitens „possession rituals“ wie „cleaning, discussing, comparing, reflecting, showing off, and even photographing“. Man muss sich nur vor Augen halten, um wieviel mehr noch diese Praktiken seit McCrackens Studie durch das Internet in den Fokus gerückt sind.49 Drittens „grooming rituals“, also Techniken der verschönernden Umgestaltung, etwa das ‚Frisieren‘ von Fahrzeugen, Techniken, in denen sich auch eine kreative Umnutzung von Konsumgütern andeutet.50 Und schließlich viertens „divestment rituals“, d.h. Praktiken, mit denen an Gegenständen hängende Bedeutung wieder gelöscht werden soll – solche, die man selber darauf angebracht oder hinterlassen hat (etwa, wenn man den Gegenstand weiterverkaufen oder -verschenken möchte), oder umgekehrt solche von gebrauchten Gegenständen, die man sich aneignet.51 Es ist mithin heute „kaum mehr vorstellbar“, so der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth, „dass Individuen zu einer sozialen Identität gelangen, ohne diese in einem Ensemble persönlich konsumierter Güter auszudrücken“.52 Vielleicht ist diese Bedeutungsvielfalt nicht so sehr als intendierte message zu begreifen, sondern als versteckt in alltäglichen, unscheinbaren, vielfach übersehenen oder über einen konsumkritischen Kamm geschorenen Praktiken. Und daher ist es theoretisch wohl produktiver, davon auszugehen, dass in all jenen Ritualen den Dingen der Primat zukommt. Eher „Things make people“53 also, als umgekehrt.
49 Vgl. im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsverbunds „Konsumästhetik. Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen“ die Projekte von Eleni Blechinger zum Unboxing (d.i. dem per Selfie gefilmten Auspacken just erworbener Konsumgüter) oder von Katja Gunkel und Simon Bieling zum Digitalen Konsum, d.i. zu den Bildstrategien bei der Darstellung von Konsumgütern auf Plattformen wie Instagram. 50 Vgl. Richard, Birgit und Ruhl, Alexander: Konsumguerilla. Widerstand gegen die Massenkultur, Frankfurt/New York: Campus 2008. 51 G. McCracken: Culture and Consumption, S. 84ff. 52 „Kolonien der Ökonomie. Gespräch zwischen Axel Honneth, Rainer Forst und Rahel Jaeggi“. In: polar. Zeitschrift für politische Philosophie und Kultur 2 (2007), S. 152. 53 D. Miller: Stuff, S. 42.
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K REATIVITÄT
UND
K ONSUM
IN DER
K UNST
Ich möchte abschließend anhand der Arbeiten dreier Gegenwartskünstler(innen) skizzieren, mit welcher Genauigkeit und gedanklichen Experimentierfreude (um nicht zu sagen: mit welcher Kreativität) das Thema Konsum in der zeitgenössischen Kunst verhandelt wird. Für Stephanie Senge, um mit ihr zu beginnen, besteht zwar kein Zweifel daran, dass die Konsumsphäre von Verzerrungen geprägt ist, die ihre Ursache in der schieren Menge und der angesprochenen Ubiquität und Omnitemporalität der Angebote haben – Senge nennt in diesem Zusammenhang vor allem Phänomene wie Messie-Syndrom oder Kaufsucht. Gleichzeitig aber räumt sie ein, dass „Einkaufen“ nicht nur schlicht „Spaß macht“ und „zu unserem Leben gehört“, sondern analytisch betrachtet auch „eine hochkomplexe soziale Dimension“54 hat. Freilich gilt es angesichts der „laut schreiende[n] Konsumprodukte“ in „übervollen Regalen“ zunächst einmal nichts Geringeres als eine „hohe Schulung für das Auge“55 vorzunehmen. Hierzu dient bei Senge das Einüben von „Wertschätzungsstrategie[n]“, welche die „komplexe Konsumwelt [...] genauer wahrnehmbar“ machen und den Waren, allen voran den viel geschmähten „Billigprodukten mehr Raum für ihre Schönheit geben“ sollen, Raum, „den sie brauchen, damit wir sie überhaupt ernst nehmen können.“56 Eine Reihe jener Arbeiten, mit denen Senge dies unternimmt, trägt den Obertitel „Konsumkonstruktivismus“. Auf diesen Bildern führt sie die farblich-graphische Gestaltung von Massenwaren flächenhaft fort, und betreibt so unter anderem eine stilgeschichtliche Sensibilisierung für deren Verfahren.57 (Abb. 1)
54 Senge, Stephanie: Der starke Konsument. Ikebana als Wertschätzungsstrategie, Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2013, S. 139. 55 S. Senge: Der starke Konsument, S. 140. 56 Ebd., S. 18. 57 Vgl. W. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 175.
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Abbildung 1: Stephanie Senge, Glad (New York), 2011
© VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Im Hintergrund solcher Arbeiten vermutet man natürlich die Tradition der Pop-Art, vor allem Andy Warhols Rede von der Schönheit des massenproduzierten Gegenstandes. Dies ist bei Senge freilich weniger in jenem Warhol oft unterstellten zynischen Sinn gemeint, sondern eher so, wie Daniel Miller von Warenästhetik spricht: als „something, which gives order, balance and harmony to the world people live in.“58 Mehr als mit der Pop Art hat Senges Arbeit daher möglicherweise auch – wie der Titel nahelegt – mit dem Konstruktivismus eines Alexander Rodtschenko gemein, der zu Beginn der 1920er Jahre nicht zuletzt via Werbung und Produktdesign eine künstlerische Konzentration auf das Leben propagiert hat, wie es allen zuteil wird, eine Arbeit „unter allen, für alle und mit allen.“59 Zentral ist dabei
58 D. Miller: Comfort, S. 287. 59 Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa: Werke aus sowjetischen Museen, der Sammlung der Familie Rodtschenko und aus anderen Sammlungen. Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg, 7. November 1982 – 2. Januar 1983; Staatl. Kunsthalle Baden-Baden, 16. Januar 1983 – 13. März 1983. Hg.: Wilhelm-Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg und Staatliche Kunsthalle Baden-Baden.
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nicht nur die Idee einer Ethik der Gestaltungsform, sondern auch die Frage, wie eine solche Idee in der Semantik der Produkte manifest wird. Anschaulich wird dies durch Senges Aktion „Leinwand-Demo – Protest aus dem Supermarkt“ (Ludwigshafen 2011), bei der sie bekannte Slogans auf 1x1 Meter große Leinwände druckt, diese an Dachlatten befestigt und mit den so entstandenen Demonstrationsplakaten eine Kundgebung in einer Einkaufspassage veranstaltet. „Hier zählt das wir“ (Milford Tee), „Luxus für alle“ (Lidl), „Es lebe die Vielfalt“ (REWE) oder „Höchste Zeit die Mitte von innen zu stärken“ (Melitta) lauten einige der 24 zum Einsatz kommenden Slogans. Es ist nicht abwegig, Senges Arbeiten, zu denen auch Formen wie Konsumikebana oder Konsummandalas zählen, als „Theater des Absurden“ zu begreifen, als „‚reductio ad absurdum‘“: „Beckett im Warenhaus“.60 Es sollte aber nicht vergessen werden, dass Senges Anliegen, wie Bazon Brock schreibt, durchaus auch darin besteht, Konsumieren als eine „Gestaltung“ kenntlich zu machen, „die Kenntnis, Verständnis und Kreativität voraussetzt.“61 Auch die Arbeiten von Florian Slotawa machen anschaulich, wie richtig McCrackens Intention ist, den Konsum über die reine Anschaffung und den schnellen Verbrauch hinaus als Kulturtechnik zu begreifen. In Slotawas Auslotungen des Verhältnisses zu den eigenen Besitztümern geht es aber nicht nur um Konsum, etwa um Rituale der possession, des grooming und des divestment. Es geht darin, und wahrscheinlich vor allem anderen, um den Begriff von Kunst selbst. Am Beginn seiner Beschäftigung mit der Konsumsphäre, gleich bedeutend mit seinem öffentlichen Debut als Künstler, steht die sogenannte Hamburger Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1996, deren Geste in der Mannheimer Bestandsaufnahme 2002 wiederholt wird. In beiden Aktionen dokumentiert Slotawa seine gesamten Habseligkeiten auf Photographien, auf denen zunächst das präzise Arrangement der Objekte in die Augen fällt (Abb. 2).
60 So Peter Weibel in einem Gespräch mit Bazon Brock über Stephanie Senges Arbeiten, in: S. Senge: Der starke Konsument, S. 94f. 61 Bazon Brock, in: S. Senge: Der starke Konsument. Klappentext (Vorsatzblatt).
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Abbildung 2: Florian Slotawa, Mannheimer Bestandsaufnahme (Besteck), 2002/2004
Courtesy Galerie Nordenhake, Berlin/Stockholm; Sies & Höke, Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Als Reminiszenz an die Pop Art schwingen dabei Assoziationen an Warenkataloge und die Serialität der Produkte mit. Auch wenn Slotawas Künstlerhaushalt nicht eben aus allen Nähten zu platzen scheint, spürt man die fragende, wenn nicht skeptische Haltung gegenüber dem Überfluss, dem Eingelassensein in einen aus vielen persönlichen und weniger persönlichen Dingen bestehenden Kosmos. Mit einem frühen Text von Georg Simmel ließe sich die Anordnung der eigenen Habe zugleich als Keimzelle ästhetischen Verhaltens betrachten. „Am Anfang aller ästhetischen Motive“, schreibt Simmel in der Abhandlung Soziologische Aesthetik, einer Vorstudie zur Philosophie des Geldes, „steht die Symmetrie. [...] Die formgebende Macht des Menschen gegenüber der Zufälligkeit und Wirrniß der blos natürlichen Gestaltung wird damit auf die schnellste, sichtbarste und unmittelbarste Art versinnlicht. So führt der erste ästhetische Schritt über das bloße Hinnehmen der Sinnlosigkeit der Dinge hinaus zur Symmetrie“.62
62 Simmel, Georg: „Soziologische Aesthetik“ [1896], in: Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby (Hg.): Georg Simmel Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis
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Das symmetrische Arrangement bewirkt also zweierlei: Es entzieht die Dinge ihrer alltäglichen, sich ohne Aufmerksamkeit vollziehenden Behandlung und stellt sie zur Betrachtung und Reflexion aus. Gleichzeitig suggeriert die Symmetrie als Grundform der Ästhetisierung, dass das ganze Ensemble nicht völlig sinnlos ist. Ein klassischer Fall von Distanzästhetik, wie es scheint, geht diese doch von der „unfaßlichen Besonderheit eines sinnlich Gegebenen“ aus, davon, dass etwas sich „in [seinem] Erscheinen von [seinem] begrifflich fixierbaren Aussehen, Sichanhören oder Sichanfühlen mehr oder weniger radikal abheb[t]“.63 Dies trifft auf Slotawa aber nur sehr bedingt zu, denn die Haltung gegenüber dem eigenen Besitz bleibt ebenso involviert wie skeptisch gegenüber dessen weiterer Vergrößerung, nicht zuletzt durch Kunst. Wenn es schon fast unendlich viele Dinge gibt (und mitunter könnte man nicht zuletzt angesichts der Überdekoration des sozialen Raums auch denken: soviel Kunst),64 dann scheint nicht auch noch jede künstlerische Arbeit die Menge des vorhandenen Materials ‚künstlich‘ anreichern zu müssen. Folglich arbeitet Slotawa mit dem Vorhandenen, dem, was er ohnehin schon besitzt. So kommt es zu den sogenannten Besitzarbeiten. In deren erster, Gesamtbesitz (1996) betitelt, trägt Slotawa alle Gegenstände aus seiner Wohnung, darunter auch Dinge, die an Freunde entliehen waren, sowie Habseligkeiten, die sich noch in seinem Elternhaus befunden haben, „in einem leeren, neutralen Raum, [...] einem Atelier der Hamburger Kunsthochschule zusammen [...]“.65 Daran schließt sich eine Phase gründlicher Sichtung und Durchmusterung an. Überprüft wird dabei nicht zuletzt die emotionale Bindung an die Dinge. Beim Sortieren steht eben immer auch die Möglichkeit
1900. Gesamtausgabe, Bd. 5, 1. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 197– 214, hier S. 201. 63 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 9; 46– 47. 64 Im Kunstpark Köln schafft Slotawa anlässlich der KölnSkulptur #6, statt eigene Werke materialiter zu installieren, aus der Fülle der dort bereits aufgestellten Skulpturen erst einmal Ordnung und formiert eine sogenannte „Kölner Reihe“, in der Arbeiten u.a. von Tobias Rehberger, James Lee Byars, Günter Förg und Anish Kapoor nach Höhe sortiert dicht aneinander gerückt werden. 65 Slotawa, Florian: Kunsthalle Mannheim [Katalog der Ausstellung vom 26.1.26.5. 2002], Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 18.
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im Raum, Objekte als überflüssig auszusondern oder gar fortzuwerfen. Auf die fotografische Bestandsaufnahme folgt daher mit einer gewissen Konsequenz „der Versuch, den Besitz auf das Wesentliche zu reduzieren“.66 Abbildung 3: Florian Slotawa, Einrichtungsversuch, 1997
Courtesy Galerie Nordenhake, Berlin/Stockholm; Sies & Höke, Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Durchgängig wird hierbei die Grenze zwischen Kunst und Leben überspielt. Hierfür zeugt beispielsweise jener Prozess, während dessen Slotawa im Jahr 2002 in der Mannheimer Kunsthalle seinen gesamten Besitz nicht nur zeigt, sondern für die dreimonatige Dauer der Ausstellung auch selbst im Museum einzieht und sich während der Stunden, in denen es geschlossen bleibt, der fotografischen Dokumentation der Dinge widmet. Ähnlich die frühe Hamburger Bestandsaufnahme, nach deren Abschluss mit reduziertem Besitz der Umzug nach München folgt. In der neu bezogenen Wohnung baut Slotawa sich um einen Ölofen herum „eine Wand, die vom Boden bis zur Decke reicht und die mit kleineren Dingen und mit Kleidung komplett abgedichtet ist“ (Einrichtungsversuch 1997, Abb. 3).
66 Ebd.
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Abbildung 4: Florian Slotawa, Heimatrelief, 1997
Foto: Wilfried Petzi Courtesy Galerie Nordenhake, Berlin/Stockholm; Sies & Höke, Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Dieser „kleine[...] Winterraum, der durch eine Zimmertüre betreten werden kann“, ist „innen mit dem Nötigsten ausgestattet“, einer „Kochgelegenheit auf dem Heizofen“, einem „Kühlschrank, der in die Wand eingebaut und in Betrieb ist“, einem „Bett, Kleidung, Radio... Der Künstler bewohnt den Raum für die Dauer von zehn Tagen.“67 Die auf das Nötigste reduzierte Habe wird zu einer archaisch wirkenden Höhle arrangiert, wie sie sich auch Kinder gerne bauen. Die Assoziation der Kindheit kommt nicht von ungefähr, ist es doch ein weiteres Motiv von Slotawas Arbeiten, dass die Verringerung des Besitzes immer auch Situationen heraufbeschwört, in denen man sich beispielsweise von emotional hochbesetzten Gegenständen wie dem eigenem Kinderspielzeug zu trennen hat. Wie eine Verarbeitung dieser Vernichtung der dinglichen Biographie wirkt die Arbeit Heimatrelief (1997) (Abb. 4).
67 Ebd., S. 22.
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Darin baut Slotawa aus den verbliebenen Gegenständen seines Besitzes „seine geografische Heimat, das Voralpenland bei München, im Maßstab 1:35.000“ nach. Man könnte im Titel auch das englischsprachige Homonym „relief“ nachklingen hören. Einerseits bedeutet die Trennung von den Kindheitsdingen eine ‚Erleichterung‘ oder ‚Entlastung‘, anderseits kann man für damit verbundenen Abnabelungsschmerz ‚Linderung‘ durch den Nachbau der emotional hoch besetzten Kindheitslandschaft verschaffen. Nicht ohne Ironie setzt sich diese Art der Auseinandersetzung in der Arbeit Mama (1999) fort, in der Slotawa wiederum aus seinem Besitz Türme in der Höhe von 161 cm baut, der Körpergröße seiner Mutter, die er dadurch zu einer Instanz frühkindlicher Versorgung und Geborgenheit, zum „‚Maß seiner Dinge‘“68 verklärt. Stehen Arbeiten wie Gesamtbesitz, Heimatrelief oder Mama für einen zeitweiligen Wechsel des Aggregatszustands, in dem die eigenen Dinge zu Kunst werden, so ereignet sich im Jahr 2001 eine Zäsur in Slotawas Werk. In diesem Jahr verkauft er seinen kompletten Besitz, d.h. alle dreidimensionalen Gegenstände mit Ausnahme von Lebensmitteln und Verbrauchsmaterialien, von ‚Werkzeugen‘, die der Verfertigung von Kunst dienen (etwa Kamera oder Computer), sowie von Dokumenten wie der Geburtsurkunde oder der Schulzeugnisse. Zeigen darf der Käufer, der Unternehmensberater und Kunstsammler Axel Haubrok, allerdings keine der ehemaligen Installationen, sondern nur den schieren Besitz, und zwar, wie vertraglich genau festgelegt ist, bis auf das Auto, den Kühlschrank und die Waschmaschine verpackt in Umzugskartons oder Lupo-Folie („Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart“ 2014; Abb. 5). Auch wenn es so aussieht, als seien die Dinge dadurch endgültig zu Kunst geworden, so ist dies doch eine Kunst, die sich verbirgt, deren frühere Formation zu spezifischen Installationen man nicht mehr sehen kann.
68 Ebd., S. 28.
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Abbildung 5: Florian Slotawa, Gesamtbesitz, 2002
Courtesy Galerie Nordenhake, Berlin/Stockholm; Sies & Höke, Düsseldorf Foto: Thomas Bruns © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Es ist also für Slotawas Arbeit insgesamt festzuhalten, dass sie nicht etwa einen Grenzübertritt, die komplette Verwandlung von Alltagsdingen in Kunst vornimmt, sondern einen regelrechten Grenzverkehr initiiert, der auch die Gegenrichtung befährt und die Frage nach der Kreativität stellen lässt, die im Umgang mit Alltagsdingen liegt. Potenziell ist jeder Mensch, wie de Certeau schreibt, ein Künstler in Bezug auf seine Objekte. Man müsste ihnen gegenüber bloß wieder die entsprechende Achtsamkeit kultivieren, oder, wenn das zu ratgeberhaft klingt, die richness in der Objektbeziehung wieder wahrzunehmen lernen, auf die Mary Douglas und Baron Isherwood theoretisch gedeutet haben. Und möglicherweise dient dazu nicht nur die akribische Dokumentation, sondern, wo es not tut, auch die radikale Reduktion der Dinge. Ist Slotawas Grundmotiv bei seiner Erkundung und Dokumentation der Dingsphäre das der Reduktion, so scheint die Grafikdesignerin, Hochschuldozentin und Künstlerin Kate Bingaman-Burt dasselbe Anliegen auf den ersten Blick mit ganz anderer Geste zu verfolgen: maßlos, anhäufend und exuberant. Die Einzelausstellung, die im Herbst 2014 in Portland (Oregon) der „Art of Kate Bingaman-Burt“ gewidmet ist, trägt den sprechenden Titel More, More, More. Und entsprechend heißt ihr Buch Obsessive Consump-
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tion. What did you buy today, was nach den Bekenntnissen einer Kaufsüchtigen klingt – ‚was hast Du denn nun schon wieder gekauft?‘. Die Titelwahl scheint freilich nicht ohne augenzwinkerndes Kalkül, ist auf dem Buchmarkt doch in Sachen Konsum vor allem eine Diätetik à la Meine Erfahrungen aus einem Jahr Konsumverweigerung, Genug: Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen oder Ich kauf nix!: Wie ich durch Shopping-Diät glücklich wurde69 gefragt. Bei näherem Hinsehen offenbart sich jedoch, dass Bingaman-Burt ein deutlich entspannteres und zugleich differenzierteres Bild der „world of consumer culture“ vertritt. Diese ist für sie zunächst einmal eine Schule des Sozialen: „When the women in my family get together, we go shopping. We discuss important issues in our lives over sale racks instead of the kitchen table. This is how I learned to communicate.“70 Zweifellos ist die Konsumsphäre „over-stimulating“, darin aber eben „sometimes joyous, sometimes nauseating.“71 Es ist folglich keine schlechte Idee, dieser ambivalenten Erfahrung mit einem Ritual zu begegnen – man rufe sich McCrackens Verständnis des Rituals als einer abwägenden Verhandlung kultureller Bedeutungen in Erinnerung. Bingaman-Burts zunächst in ihrem Blog dokumentiertes, dann auch (in einer Auswahl) als Buch publiziertes, mehr als acht Jahre bis zum 2. Mai 2014 vollzogenes Ritual besteht nun darin, an jedem Tag eines der just an diesem Tag erworbenen Objekte auszuwählen und es mit genauer Angabe des Preises, oft auch unter Erwähnung des Kauforts, zu zeichnen. Ein possession ritual also, zugleich eine „guilty pleasure“, ein heimliches Vergnügen als „break from those statements, which are not too enjoyable to draw“72 – gemeint ist der Alltag der Werbegrafikerin. „Documenting the mundane“, lautet die Aufgabe, in deren Ausführung eine „history of objects“ bzw. eine „story of things“ entsteht, eine
69 Boyle, Mark: Der Mann ohne Geld. Meine Erfahrungen aus einem Jahr Konsumverweigerung, München: Goldmann 2012. Naish, John: Genug: Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen, Köln: Bastei Lübbe 2010. Nanu Kaller: Ich kauf nix!: Wie ich durch Shopping-Diät glücklich wurde, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013. 70 Bingaman-Burt, Kate: Obsessive Consumption. What did You Buy Today, New York: Princeton Architectural Press 2010, S. 2. 71 K. Bingaman-Burt: Obsessive Consumption, S. 5. 72 Ebd., S. 2.
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Art Tagebuch in Objektform.73 Zentral ist dabei die Absicht, dem Massenproduzierten „a personal face“ zu verschaffen. In der Ethnographie diskutiert man eine solche Gegenkraft zur Gleichmacherei durch Kommodifikation unter dem Terminus singularization,74 was in doppelter Hinsicht auf Bingaman-Burts Projekt zutrifft: der eine Gegenstand pro Tag wird allein durch das Faktum seiner Auslese bedeutsam. Auch hier begegnet also eine Strategie der Verknappung und Konzentration, in deren Vollzug jene Spuren sichtbar gemacht werden, welche die Subjektivität der Künstlerin im alltäglichen Umgang, genauer im Zusammenhang mit ihrem Erwerb, darauf hinterlässt. So wird eine am 21. November 2006 in der Farmer’s Co-op erworbene Schere für Hundenägel nicht nur mit dem Bekenntnis versehen „I hate clipping our Dog’s Nails“; die Form des Objekts, vor allem seine ‚Schnauze‘ nimmt auch die Anmutung eines gefräßigen Monsters an, die durch den hinzugefügten Index „dog nail clipping“ inklusive abgeschnittenem Nagel mit Pfeil auf eben jene Schnauze die offenbar schwer erträgliche physische
73 „Die Objekte sind viel zu stark“, schreibt Bruno Latour, „um als Fetische zu fungieren“ (Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Aus dem Englischen von Heinz Jatho, Berlin: Merve 2005, S. 45). Vgl. auch den in Form eines Auktionskatalogs erzählten Liebesesroman in Objektgaben von Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. Aus dem Amerikanischen von Rebecca Casati, Berlin 2009. Dazu Metz, Christian: „Warenästhetik. Liebe und literarische Selbstreflexion in Leanne Shaptons Romanexperiment Bedeutende Objekte‟, in: ders. u. Heinz Drügh (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011, S. 269–295; Vedder, Ulrike: „Auktionskatalog, Fotoroman, Liebesinventar. Vom Wert der Dinge in Leanne Shaptons ‚Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck‘“, in: „High“ und „low“. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur, hg. von T. Wegmann und N. Ch. Wolf, Berlin: De Gruyter 2012, S. 199–216. 74 Kopytoff, Igor: „The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process“, in: Appadurai, Arjun: The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective. Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 64–91.
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Realität der Handlung ausstellt. Über das am 25. November 2006 konsumierte Bier der Marke Sierra Nevada erfahren wir, dass es „@ the Joanna Newsom Show“ getrunken wurde (Abb. 6), bei einem Konzert jener Songwriterin und Harfenistin also, die dem Freak- oder Psychedelic Folk zugerechnet wird. Welch Wunder, dass da eine Fülle von Korrespondenzen und Ähnlichkeiten offenbar wird, angefangen bei der schlaggereimten Produktbezeichnung „Pale Ale“ über die Waldanmutung auf der Bierflasche, die sich im Schriftzug ‚Bottletree‘ wiederfindet. Dieser wiederum schmiegt sich, aufgeteilt in Buchstabenpärchen, nicht nur an die Form der Bierflasche an, sondern hat auch eine konkrete Referenz, den Club Bottletree in Birmingham (Alabama), in dem der Auftritt stattfindet. Ob Bingaman-Burt Benjamin gelesen hat, ist ungewiss. Gewiss ist hingegen, dass sie wie der Philosoph ein Auge für die „Phantasmagorie“75 der Konsumkultur hat. Am „Buy Nothing Day“, der konsumkritischen Gegenaktion zum Black Friday (jenem Freitag nach Thanksgiving), der in den USA ein traditioneller Shoppingtag mit dem im Schnitt fünftgrößten Umsatz des Jahres ist, nimmt die Künstlerin am 24.11.2006 teil, muss jedoch kleinlaut einräumen: „Though I am pretty sure I bought a Diet Coke. 75¢“. Konsum geht in klein, aber teuer, wenn die Künstlerin am 9. Juli 2007 für stattliche 4,49 $ ein Becherchen Häagen-Dazs-Eis ersteht und kommentiert: „Our freezer is super tiny. I now buy tiny ice cream“. Man findet aber auch die Variante groß und weniger sophisticated. Die „grand opening“ eines Piggly WigglySupermarkts gibt Bingaman-Burt den Ansporn, üppige ZweiliterSoftdrinkflaschen Coke und Dr. Pepper zu kaufen, immerhin aber beide, wie um den XL-Exzess zu konterkarieren, in der Variante „Diet“. Grundsätzlich wird mit Ikonen des amerikanischen Konsumismus aber recht unbefangen umgegangen. So gilt dem Fastfood-Restaurant Kentucky Fried Chicken kein bloß vereinzelter Besuch, die Künstlerin gibt sich mit der Bemerkung, dass dort „one of my favorite fast food meals“ zu erwerben sei, als erfahrene Schnellrestaurant-Expertin zu erkennen. Gleichwohl besteht das Menu nicht aus malträtiertem Federvieh, sondern gut vegetarisch aus Makkaroni mit Käse („Mac & Cheese“), Krautsalat („Cole Slaw“), Kartoffelbrei („Mashed Potatos“) und einem Stückchen Gebäck („Biscuit“).
75 Benjamin, Walter: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 541.
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Abbildung 6: Kate Bingaman-Burt, Daily Drawings, 2011
Quelle: Kate Bingaman-Burt: Obsessive Consumption. What Did You Buy Today? New York: Princeton Architektural Press 2010.
Wie aber lassen sich diese Arbeiten in ästhetischer Hinsicht einstufen? Boris Groys’ These, dass gerade die Implementierung von Gegenständen aus dem sogenannten profanen Raum – d.i. jener Bereich der Kultur, der in Kontrast zu den valorisierten Gegenständen eines Kanons als das Wertlose und zu Vernachlässigende gilt – für veritable Innovationen in der Kunst sorgt,76 erscheint mit Blick auf Bingaman-Burts eher unspektakuläre, und nicht einmal von vornherein als ‚Kunst‘ daherkommende Attitüde einigermaßen überkalibriert. Besser wird Bingaman-Burts ebenso witziges wie kluges Understatement durch eine Bemerkung Georg Simmels aus dem Essay Soziologische Aesthetik erfasst, derzufolge „die eigenthümliche Entfer-
76 Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien: Hanser 1992, S. 56.
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nung des Kunstwerkes von der Unmittelbarkeit der Erfahrung [...] für sehr empfindliche Seelen“ mitunter „dann besonders hervor[trete], wenn das Objekt uns ganz nahe steht“. Anders gesagt: Es erfordert eine ganz besondere Sensibilität, um die Ästhetik von Konsumgegenständen zu erfassen. „Für weniger zartes Empfinden“, fährt Simmel fort, „bedarf es, um es diesen Reiz der Distanz kosten zu lassen, einer größeren Ferne des Objektes selbst: stilisiert-italienische Landschaften, historische Dramen [...]“. „Feinere Nerven“, so nochmals das Argument, „bedürfen dieser gleichsam materiellen Unterstützung nicht; für sie liegt in der künstlerischen Formung des Objektes der ganze geheimnißvolle Reiz der Distanz von den Dingen, die Befreiung von ihrem dumpfen Druck, der Schwung von der Natur zum Geist; und um so intensiver werden sie Das empfinden, an je näherem, niedrigerem, irdischerem Materiale es sich vollzieht.“77
Lassen wir auch noch den Elativ und Komparativ beiseite, dann bleibt der Eindruck, dass keineswegs jede Form der Kreativität durch ein kapitalistisches Dispositiv kontaminiert worden ist. Die Rede vom Kreativitätsdispositiv, soviel Plausibles sie auch in vieler Hinsicht zu haben scheint, verdeckt doch auch einiges und behindert das genauere Hinsehen auf zeitgenössische künstlerische Prozesse ebenso wie auf die alltäglichen Umgangsweisen mit konsumierbaren Gütern. Ausgerechnet die künstlerische Auseinandersetzung mit der Konsumsphäre scheint in kreativer Hinsicht nicht etwa abgeschmackt, sondern ‚innovativ‘, freilich ohne genieästhetisches Tremolo, wird sie doch zum Erprobungsterrain einer für Kulturprozesse empfänglichen und damit weder kommodifiziert abgestumpften, noch im Sinne der Kreativindustrien aufgemotzten, sondern schlicht für Zeitgenössisches besonders sensiblen Ästhetik.
77 G. Simmel: Soziologische Aesthetik, S. 210.
Aneignung und Domestikation Handlungsräume der Konsumenten und die Macht des Alltäglichen H ANS P ETER H AHN
E INLEITUNG Der Massenkonsum der Gegenwart ist Ausdruck eines Kulturverfalls. – So wenigstens lautet der einhellige Befund über Zustand und Niedergang der westlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der moderne Mensch ist, was er kauft.1 Alles andere – Politik, Lernen, Engagement für die Gemeinschaft – verblasst gegenüber der Gier nach immer neuen Konsumgütern. Die Abhängigkeit von Innovationen im Bereich der Konsumgüter sowie nach den immer neuen Modewellen der Bekleidungslabels kennt keine Grenzen mehr.2 Die Menschen arbeiten immer mehr. Nicht um sich zu verwirklichen, sondern um die Mittel zu erhalten, die zur Erfüllung ihrer scheinbaren Konsumbedürfnisse erforderlich sind.3 Dabei sind das alles schon lange keine echten Bedürfnisse mehr, sondern nur noch von der Konsumgüterindustrie eingeflüsterte Präferenzen. Sind die Menschen nicht Op-
1
Trentmann, Frank: „Citizenship and Consumption“, in: Journal of Consumer Culture 7 (2007), S. 147–158.
2
Hahn, Hans Peter: „Innovation and Inertia: Questioning Paradigms of Consumerist Object Fetishism“, in: Journal for Ancient Studies 4 (2015 im Druck).
3
Featherstone, Mike: „Luxury, Consumer Culture and Sumptuary Dynamics“, in: Luxury 1 (2014), S. 47–70.
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fer der Vorspiegelung eines besseren Lebens, das – wenigstens durch einen immerfort gesteigerten Konsum – keinesfalls zu erlangen ist? Das Urteil vieler Kulturwissenschaftler zu solchen Fragen ist eindeutig: Konsum macht dumm, er stumpft die Sinne ab und versperrt dem Einzelnen den Zugang zu einer echten Erfahrung seiner selbst. Aus der kritischen Sozialwissenschaft ist Wolfgang Fritz Haug zu nennen, der die Warenästhetik als Technik der Zerstörung der Sinne anprangerte.4 Die Kunst der Gegenwart ist in weiten Teilen vom Thema der Konsumkritik geprägt, Andreas Gursky, der uns die befremdende Macht der massenhaften Güter eindringlich vor Augen führt, ist hier nur ein Beispiel unter vielen.5 Die Zurückweisung des Konsums als Teil von Kultur, selbstbestimmter Gesellschaft und freier Entfaltung von Kreativität ist so alt wie die Entstehung des Konsums als historisch definiertem Zugang zu Gütern als solchen. Bemerkenswert daran ist im besten Fall das breite Spektrum an Auffassungen aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. Übereinstimmend versprechen sie eine bessere Welt, würde der Konsum nur hinreichend begrenzt und hätte nur der Einzelne, der konsumierende Bürger, die Fähigkeit, sich vor der emotionalen, intellektuellen und politischen Beschädigung durch den Konsum zu schützen.6 Bezeichnenderweise artikuliert sich die Konsumkritik immer dann besonders deutlich, wenn im Moment zunehmenden Wohlstands auch der Sachbesitz des Einzelnen eine rasche Steigerung erfährt. Es ist so, als würde das Unheimliche der ungebremsten Vermehrung der Güter zugleich das schlechte Gewissen wecken. Was tut der Mensch sich mit dem Besitz all der Dinge an? Diese Frage wird mit dem erhobenen Zeigefinger beantwortet, der auf den durch die neuen Sachen angerichteten Schaden hinweist.7 Ein Beispiel für die Aktualität und Virulenz dieser Debatte dreht sich um den Sachbesitz von Kindern. Mit Buchtiteln wie „Born to Buy“ oder „Consuming Children“ warnt die amerikanische Soziologin Juliet Schor vor
4 5
Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971. Hollein, Max/Grunenberg, Christoph: Shopping 100 Jahre Kunst und Konsum, Ostfildern: Hatje Cantz 2002.
6
Bode, Wilhelm: Die Macht der Konsumenten, Weimar: ohne Verlag 1904.
7
Scherhorn, Gerhard/Weber, Christoph: Nachhaltiger Konsum auf dem Weg zur gesellschaftlichen Verankerung, München: oekom 2002.
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den Schäden, die durch Konsum speziell bei Kindern angerichtet werden.8 Niemand weiß, was die Konsequenzen für die Entwicklung von Kleinkindern sein könnten, wenn diese eintausend und mehr Dinge besitzen.9 Ohne dazu genauere Informationen zu haben, werden als Reaktion auf die Verunsicherung durch Dinge ‚spielzeugfreie Tage‘ im Kindergarten angeordnet sowie Kreativitätskurse für Grundschulkinder angeboten. Die Verdichtung der hier präsentierten Schlaglichter auf die Szene der Konsumkritik lässt zugleich die Vergeblichkeit dieser Kritik erahnen. Trotz der langen Tradition, in der sie steht, und trotz der Eindringlichkeit, mit der immer wieder vor den Konsequenzen des gesteigerten Konsums gewarnt wird, scheint sie doch ihre Wirkung zu verfehlen. Der Konsum nimmt weiter zu, die Güter sind weiterhin eher kurzlebig, und die Menschen sind bereit, mehr zu arbeiten, um mehr zu konsumieren.10 Gemessen an der Reichweite ihrer Aussagen fehlt der Konsumkritik eine belastbare empirische Grundlage. Man weiß viel zu wenig darüber, was der Konsum mit den Menschen macht, oder auch: was die Menschen sich wirklich aus dem Konsum machen. Eine Kritik, die auf einer mangelhaften Kenntnis des kritisierten Gegenstandes beruht, kann nicht wirksam sein. Sie verfehlt notwendigerweise ihren Gegenstand.11 Gerade die Ethnologie, die sich seit ihrer Entstehung mit materieller Kultur befasst hat, hat in ihrer Fachgeschichte den Konsum über einen langen Zeitraum hinweg falsch beurteilt, oder ganz ausgeblendet.12 Entspre-
8
Schor, Juliet B.: Born to Buy. The Commercialized Child and the New Consumer Culture, New York: Scribner 2004. Dies.: Consumerism and Its Discontents, New York: Oxford University 2015.
9
Hahn, Hans Peter/Spittler, Gerd/Verne, Markus: „How Many Things Does Man Need? Material Possessions and Consumption in Three West African Villages (Hausa, Kasena and Tuareg) Compared to German Students“, in: Hans Peter Hahn (Hg.), Consumption in Africa, Münster: Lit 2008, S. 115–140.
10 Gabriel, Yiannis/Lang, Tim: The Unmanageable Consumer. Contemporary Consumption and its Fragmentations, London: Sage 1995. 11 Miller, Daniel: „The Poverty of Morality“, in: Journal of Consumer Culture 1 (2001), S. 225–243. 12 Hahn, Hans Peter: „Ethnologie“, in: Stefanie Samida/Manfred K.H. Eggert/Hans Peter Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart: Metzler 2014, S. 269–278.
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chend dem konventionellen kulturwissenschaftlichen Paradigma lautete auch in der Ethnologie die Auffassung, ‚Kultur‘ sei nur erkennbar in lokalen und von Handwerkern hergestellten Gütern. Nur handwerkliche oder künstlerische Artefakte könnten demnach Identität und kulturelle Spezifik verkörpern. Aufgrund dieses Vorurteils beschränkte sich das Studium materieller Kultur insgesamt auf die Dokumentation lokal hergestellter Güter. Solche Auffassungen vernachlässigen nicht nur die Bedeutung des Konsums, sondern sie stehen ganz offensichtlich im Widerspruch zur genauen ethnografischen Beobachtung des Alltags.13 Grundsätzlich gilt heute: Der Sachbesitz von Einzelnen wie auch der in Haushalten insgesamt enthält immer einen substantiellen Anteil an Dingen, die als Konsumgüter anzusprechen sind.14 Gerade bei Alltagsdingen spielt es eine eher geringe Rolle, ob die verwendeten Dinge aus dem eigenen Haushalt stammen oder als global zirkulierende Güter des Massenkonsums zu verstehen sind. Jede Ethnografie eines Haushalts muss unweigerlich zum Bild einer Mischung von lokalen Produkten, selbst hergestellten Dingen und eben Konsumgütern führen: Menschen fühlen sich keineswegs in ihrer kulturellen Identität geschwächt, nur weil sie Aluminiumgeschirr und Plastikbecher zusammen mit Holzlöffeln und Tontöpfen verwenden.15 Trotz der früheren Vernachlässigung des Konsums in der Ethnologie ist also hervorzuheben, dass die Ethnologie zu den ersten kulturwissenschaftlichen Disziplinen gehörte, die dem alten konsumkritischen Paradigma widersprachen. Ethnologen mussten Widerspruch leisten, weil ihre Beobachtungen nicht mit den Thesen über die kulturelle Schädlichkeit des Konsums übereinstimmten. Überall auf der Welt wurden Menschen im Laufe des 20. Jahrhunderts in globale Warenströme eingebunden. Adidas, Nokia – oder
13 Shove, Elizabeth/Trentmann, Frank/Wilk, Richard R.: Time, Consumption and Everyday Life. Practice, Materiality and Culture, Oxford: Bergen 2009. 14 Hahn, Hans Peter: „Die Sprache der Dinge und Gegenstände des Alltags“, in: Sociologia Internationalis 1 (2006), S. 1–19. 15 Miller, Daniel: „Imported Goods as Authentic Culture“, in: Reinhard Eisendle (Hg.), Produktkulturen: Dynamik und Bedeutungswandel des Konsums, Frankfurt/M.: Campus 1992, S. 271–288.
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besser: Samsung – und Nestle sind seit einigen Jahrzehnten überall präsent.16 Der Widerspruch zwischen der alten Auffassung der Ethnologie und den neuen Befunden muss noch akzentuiert werden: Materielle Dinge, deren unterschiedliche Ausgestaltung je nach kultureller Zugehörigkeit seit den Anfangstagen des Faches als Indiz kultureller Differenz gesehen wurde, haben diese Rolle durchaus nicht verloren. Es war jedoch falsch, anzunehmen, dass lokale oder regionale Spezifik der zentrale Bedeutungsaspekt für die kulturelle und soziale Identität wäre. Möglicherweise wurde in dieser Gleichsetzung implizit das westliche Paradigma der ‚Ursprünglichkeit‘ oder der ‚Authentizität‘ auf andere Gesellschaften übertragen.17 Die genaue empirische Beobachtung lehrt im Gegensatz zu solchen Auffassungen, dass importierte Konsumgüter nicht weniger zur lokalen kulturellen Identität beitragen als lokalspezifische Dinge. Diese Einsicht gilt für alle Kulturen weltweit und sie ist der eigentliche Ausgangspunkt dieses Beitrags.
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Schon durch ihre Befunde aus den verschiedenen Weltteilen stehen Ethnologen in vorderster Reihe, wenn es darum geht, eine neue Bewertung des Konsums zu fordern und eine erweiterte Definition der sozialen und kulturellen Dimension von Konsum zu präsentieren.18 Während die europäischen Gesellschaften die konsumistische Wende schon seit über 200 Jahren hinter sich haben, und alternative Denkweisen sowie kritische Fragen zur Dominanz des Konsums auf das Format von Sonntagspredigten geschrumpft
16 Arnould, Eric J./Wilk, Richard R.: „Why do the Natives Wear Adidas?“, in: Advances in Consumer Research 11 (1984), S. 748–752. 17 Friedman, Jonathan: „Modernity and Other Traditions“, in: Bruce M. Knauft (Hg.), Critically Modern: Alternatives, Alterities, Anthropologies, Bloomington: Indiana University 2002, S. 287–313. 18 Jackson, Peter: „Commodity Cultures: The Traffic in Things“, in: Transactions of the Institute of British Geographers 24 (1999), S. 95–108. Miller, Daniel: Acknowledging Consumption, London: Routledge 1995.
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sind, konnten Ethnologen im 20. Jahrhundert die allmähliche Durchsetzung des Konsums weltweit hautnah miterleben.19 Der Historiker Frank Trentmann datiert die Wende hin zur Durchsetzung des Konsums in Europa auf das 18. Jahrhundert.20 Zu dieser Zeit gewöhnten sich zum Beispiel in Großbritannien Menschen daran, ihren Bedarf an alltäglichen Gütern nicht mehr durch eigene oder nachbarschaftliche Produktion zu erlangen, sondern dafür Geld zu zahlen und diese Güter bei einem Händler zu erwerben. Damit wurden sie ganz allmählich, aber letztlich unwiderruflich, an überregionale, auch damals zum Teil schon globale Warenkreisläufe angeschlossen. Ähnliches vollzieht sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in Afrika, in Südamerika und Südostasien: Die Menschen gewöhnen sich daran, einen Teil ihres alltäglichen Bedarfs als Ware zu erwerben und dafür mit Geld zu bezahlen. Was passiert, wenn Steinäxte durch Stahläxte ersetzt werden?21 Was bedeutet es, wenn anstelle von Papageienfedern und Lendenschurzen nun Sonnenbrillen und US-amerikanische Jeans den Schick eines jungen Dandys im brasilianischen Regenwald ausmachen?22 Oder wenn aus China importierte Teller und Töpfe aus Emaille die in der Region getöpferten Erzeugnisse ersetzen?23
19 Hahn, Hans Peter: „Consumption, Identities and Agency in Africa – Introduction“, in: Ders. (Hg.): Consumption in Africa – Anthropological Approaches, Münster: Lit 2008, S. 9–41. Prestholdt, Jeremy: „Africa and the Global Lives of Things“, in: Frank Trentmann (Hg.), The Oxford Handbook on the History of Consumption, Oxford: Oxford University 2012, S. 85–108. 20 Trentmann, Frank: „Consumption and Globalization in History“, in: Journal of Consumer Culture 9 (2009), S. 187–220. 21 Salisbury, Richard F.: From Stone to Steel. Economic Consequences of a Technological Change in New Guinea, Melbourne: Melbourne University 1962. 22 Hugh-Jones, Stephen: „Yesterday’s Luxuries, Tomorrow’s Necessities: Business and Barter in Northwest Amazonia“, in: Stephen Hugh-Jones/Caroline Humphrey (Hg.), Barter, Exchange and Value. An Anthropological Approach, Cambridge: Cambridge University 1992, S. 4274. 23 Sargent, Carolyn F./Friedel, David: „From Clay to Metal: Culture Change and Container Usage among the Bariba of Northern Benin, West Africa“, in: African Archaeological Review 4 (1986), S. 177–195. Gosselain, Olivier/Zeebroek, Re-
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Die Ergebnisse der empirischen Studien, die sich mit den hier polemisch verdichteten Fragen befassen, sind in einem Punkt übereinstimmend: Konsum ist mitnichten eine Bedrohung für lokale Kultur oder soziale Identität. Vielmehr schafft er neue Räume kreativen Handelns, die überall auf der Welt genutzt werden, um soziale Identität zu artikulieren.24 Die Interpretation sollte an dieser Stelle noch einen Schritt weiter getrieben werden: In einer Welt global zirkulierender und für den Massenkonsum hergestellter Dinge ist es gerade ein Ausdruck selbstbewusster Behauptung lokaler Kulturen, wenn sie die Fähigkeit haben, solche Güter, die von ‚irgendwoher‘ kommen, zu einem bedeutungsvollen Teil der eigenen, eben der lokalspezifischen Kultur zu machen. Das Bewusstsein der globalen Vernetzung zwingt zu neuen Strategien der Artikulation von Identität: Man ist nicht mehr einfach, was man hat, sondern man stellt die eigene Stärke zur Schau, indem man zum Eigenen macht, was von irgendwoher erworben wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet die hohe Popularität der Marke Mercedes in vielen Ländern Afrikas.25 Die Fahrzeuge, aber auch andere Konsumgüter mit dem Logo der Marke gelten als Statussymbole.26
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Ethnologie konnte also vergleichsweise früh massive empirische Evidenz dafür vorlegen, dass Konsum keinesfalls eine ‚kulturzerstörende‘ Wirkung hat, sondern in charakteristischer Weise zur Selbstbehauptung und kreativen Artikulation einer spezifischen Identität beiträgt. Es gibt aber noch ein
naud: „Les Tribulations d’une Casserole Chinoise au Niger“, in: Techniques et Culture 59 (2008), S. 18–49. 24 Hahn, Hans Peter: „Consumption, Identities, and Agency in Africa: An Overview“, in: Hartmut Berghoff/Uwe Spiekermann (Hg.), Decoding Modern Consumer Societies, New York: Palgrave 2011, S. 69–87. 25 Kohl, Karl-Heinz: „Aneignungen. Kulturelle Vielfalt im Kontext der Globalisierung“, in: Karl-Heinz Kohl (Hg.), New Heimat, New York: Lukas & Sternberg 2001, S. 8–18. 26 Platte, Editha: „Vom Umgang mit Massenwaren in nordnigerianischen Frauenräumen“, in: K.-H. Kohl (Hg.), New Heimat, S. 112–123.
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zweites Feld, in dem von der Ethnologie wichtige theoretische Impulse ausgingen. Das ist der Bereich der kulturellen Auswirkungen von Globalisierung, die in Europa vielfach erst nach 1990 wahrgenommen wurden. Kulturanthropologen wie Arjun Appadurai, Jonathan Friedman und Ulf Hannerz präsentierten damals grundlegende Einsichten zu den immer wichtiger werdenden globalen Phänomenen. Ihre gemeinsame dringende Frage war folgende: Wie verändert sich Kultur, wenn Kulturelemente überall auf der Welt verfügbar werden? Und, wie ist es möglich, dass lokale Gemeinschaften sich behaupten, auch wenn sie globalen Einflüssen ausgesetzt sind? Heute, im Rückblick, scheint es selbstverständlich, von „globalen Verflechtungen“ zu sprechen; damals aber schien die Beschäftigung mit solchen Verbindungen eher eine Herausforderung. Es entstand der Eindruck, die eigentliche Stärke von spezifischen Kulturen, ihre Verankerung in ‚uralten‘ lokalen Traditionen würde einfach ignoriert. Tatsächlich wissen wir heute, dass ‚Verankerung‘ eine problematische Metapher ist. Kulturelle Identität speist sich aus ganz unterschiedlichen Quellen, von denen die lange zeitliche Kontinuität nur eine ist: Alltägliche Praktiken, Entfaltungsmöglichkeiten, Techniken der Kommunikation sind andere Quellen von ebenso großer Bedeutung.27 Was hat das alles mit Konsum und Kreativität zu tun? Es geht um die Anerkennung von Konsum als Teil kultureller Artikulation. Weiterhin geht es um die erst allmählich sich durchsetzende Vorstellung, dass auch Dinge, die nicht tief ‚verwurzelt‘ sind, einen wesentlichen Beitrag zur Selbstbehauptung lokaler Gemeinschaften leisten könnten. Coca Cola und Jeans, aber auch weltweit verbreitete Seifenopern wie Dallas und Denver-Clan löschen kulturelle Diversität nicht aus, sondern dienen als Vehikel, um die Spezifik einer sozialen Gruppe, also ihre Kultur, in neuer Weise zum Ausdruck zu bringen.28 Weltweit zunehmender Konsum ist, neben Kommuni-
27 Hannerz, Ulf: „Kultur in einer vernetzten Welt. Zur Revision eines ethnologischen Begriffes“, in: Wolfgang Kaschuba (Hg.), Kulturen, Identitäten, Diskurse. Perspektiven europäischer Ethnologie, Berlin: Akademie 1995, S. 64–84. Hannerz, Ulf: „Studying Townspeople, Studying Foreign Correspondents: Experiences of Two Approaches to Africa“, in: Hans Peter Hahn/ Gerd Spittler (Hg.), Afrika und die Globalisierung, Münster: Lit 1999, S. 1–20. 28 Abu-Lughod, Janet L.: „The Objects of Soap Opera: Egyptian Television and the Cultural Politics of Modernity“, in: Daniel Miller (Hg.), Worlds Apart: Mo-
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kation und Mobilität, eine der zentralen Antriebskräfte der Globalisierung, ohne deshalb Kultur zu zerstören. Aus heutiger Sicht ein selbstverständlicher Träger globaler Vernetzung ist das Mobiltelefon. Nie zuvor gab es irgendein elektronisches Gerät, das in so großer Zahl produziert und auch genutzt wurde. Mit 5 Milliarden Endgeräten hat das Mobiltelefon mittlerweile auch das Radio übertrumpft, das vielleicht als das klassische Medium der Moderne gelten kann.29 Das Mobiltelefon ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Konsumgut.30 In jedem einzelnen Gerät stecken Materialien und Technologien von verschiedenen Kontinenten; aktuelle Produzenten bieten ihre Produkte regelmäßig weltweit an. Stellt das Mobiltelefon deshalb die lokale Identität irgendeines Nutzers in Frage? Das ist nicht der Fall. Mobiltelefone können im Gegenteil sogar einen wichtigen Beitrag dazu leisten, regionale oder lokale Identität, kulturelle Spezifik aufrecht zu erhalten, indem sie nämlich als Mittel der Selbstorganisation in marginalisierten Bereichen genutzt werden (Abb. 1).
dernity through the Prism of the Local, London: Routledge 1995, S. 190–210. Meyer, Birgit: „Impossible Representations. Pentecostalism, Vision and Video Technology in Ghana“, in: Birgit Meyer/Annelies Moors (Hg.), Religion, Media, and the Public Sphere, Bloomington: Indiana University 2006, S. 290–312. 29 Agar, John: Constant Touch: A Global History of the Mobile Phone, London: Icon 2013. 30 Hahn, Hans Peter: „Mobile Kommunikation, Materielle Kultur und neue Verflechtungen: ethnographische Erfahrungen aus Westafrika“, in: Cora Bender/ Martin Zillinger (Hg.), Handbuch der Medienethnographie, Berlin: Reimer 2015 (im Druck).
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Abbildung 1: Werbeplakat der Firma Telmob, Burkina Faso, 2012. Mobiltelefone sind an erster Stelle nicht eine ‚westliche Technologie‘, sondern vielmehr ein probates Mittel, um lokale Netzwerke und Traditionen aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel, indem man die erwarteten Grüße nun telefonisch übermittelt.
Foto: Hans Peter Hahn
N EUE K ONZEPTE : D OMESTIKATION UND
KULTURELLE
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In den Jahren um 1990 legten Ethnologen eine ganze Reihe von Konzepten vor, um die Selbstbehauptung und Fortdauer von Diversität zu erklären. Dazu gehören heute vielfach gebrauchte Begriffe wie Kreolisierung, Hybridisierung, Nostrifikation und Domestikation.31 Diese Begriffe haben eines gemeinsam: Sie verweisen auf eine Relation zwischen global gleichförmigen Einflüssen (also hier: den massenprodu-
31 Hahn, Hans Peter: „Diffusionism, Appropriation, and Globalization. Some Remarks on Current Debates in Anthropology“, in: Anthropos 103 (2008), S. 191– 202.
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zierten Gütern) und lokalen kulturellen Konfigurationen. Ausgehend von der Beobachtung, dass lokale Identität durch globale Einflüsse zwar modifiziert wird, sich aber keinesfalls auflöst, unterstellen sie, dass auf lokaler Ebene, also in der ‚Arena‘ des Handelns in einer Gruppe Selbstbehauptung und Differenz erzeugt werden. In deutlichem Kontrast zu den früheren Bildern von Kultur, in denen die Summe der Objekte, Institutionen und Werte mit der Kultur als solcher gleichgesetzt wurden, geht es im neuen Konzept um das soziale Handeln der Akteure. Kulturelle Differenz ist demzufolge nicht mehr einfach als Ergebnis unterschiedlicher Traditionen zu sehen, sondern sie ergibt sich aus dem Handeln, insbesondere auch aus dem Umgang mit Konsummöglichkeiten. Es geht darum, was die Menschen mit den Dingen machen. Indem der Blick auf soziale Handlungsweisen, also das Kreolisieren, Hybridisieren oder das Domestizieren gelenkt wird, erscheinen Prozesse plötzlich viel wichtiger als Strukturen.32 Die Handelnden, die solche Prozesse anstoßen, deren Intention es ist, eine bestimmte Bewertung des Konsums zu erlangen, leisten damit eine Arbeit der Veränderung von Kultur – das Ergebnis dieser Arbeit ist wiederum die Entstehung neuer Bedeutungen der Konsumgüter.33 Dieser Prozess funktioniert im Übrigen nicht nur bei materiellen Dingen, sondern in ähnlicher Weise auch bei Musik: Wie Marc Perlman34 mit Verweis auf die Arbeiten von James Carrier zeigt, macht die Aneignung neuer Musikstile aus globalen Trends lokale Musikformen, die erst in dieser lokalisierten Form ihre spezifische Popularität erlangen. Der Historiker Michel de Certeau, den man als einen frühen Denker dieses Konzepts verstehen kann, hebt die Macht des Handelns im Prozess der Aneignung hervor. Das Handeln ist seiner Vorstellung zufolge den Strukturen gegenüber überlegen, weil es flexibel ist. Strukturen hingegen
32 Stockhammer, Philipp W.: Conceptualizing Cultural Hybridization. A Transdisciplinary Approach, Berlin: Springer 2011. 33 Carrier, James G.: „Reconciling Commodities and Personal Relations in Industrial Society“, in: Theory and Society 19 (1990), S. 579–598. 34 Perlman, Marc: „Consuming Audio. An Introduction to Tweak Theory“, in: René T. A. Lysloff/Leslie C. Gay (Hg.): Music and Technoculture, Middletown: Wesleyan University 2003, S. 346–358.
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sind starr.35 Die Flexibilität schafft Freiräume für feine Differenzierungen, die zum Beispiel aus einer vorgegebenen Form einer Ware oder aus ihrer intendierten Verwendung etwas Anderes, Neues machen kann. Mit de Certeaus Worten ist „flexibles Handeln die Taktik der ansonsten Ohnmächtigen“. Der Blick auf Prozesse der Aneignung lässt die Macht des alltäglichen Handelns erkennbar werden. Dieser Fokus auf die Macht der Handelnden ist besonders deutlich im Begriff der kulturellen Aneignung herausgearbeitet. Aneignung ist deshalb ein hervorragender Begriff, um die Akteure des Konsums, die Konsumenten selbst und zugleich die in Konsumpraktiken enthaltene Kreativität aufzuzeigen.36 Ethnologen haben in den letzten Jahren zahlreiche Beispiele für die Kreativität des Konsums dokumentiert, die durchweg das Konzept der Aneignung bestätigen. Dabei geht es zum Beispiel um so alltägliche Dinge wie Plastiktüten, die von den meisten Konsumenten nur wenige Minuten genutzt werden, um sie danach zu entsorgen. Kulturelle Aneignung wird insbesondere bei den Sammlern von Plastiktüten offensichtlich, die aus der Summe der Tüten ein geschätztes Arrangement gemacht haben und viel Zeit darauf verwenden, immer wieder neue Modelle und Designs zu finden37. Eine radikalere Form, die auch materielle Veränderungen mit einbezieht, ist die Nutzung von Plastiktüten als Flechtmaterial. So haben sich Tuareg in der algerischen Sahara dieses Material zu eigen gemacht, indem sie schmale Streifen daraus schneiden und aus diesen Fasern Körbe herstellen.38
35 De Certeau, Michel: „Gehen in der Stadt“, in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 264–291. Highmore, Ben: Michel de Certeau. Analysing Culture, London: Continuum 2006. 36 Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2005. Ders.: „Antinomien kultureller Aneignung: Einführung“, in: Zeitschrift für Ethnologie 136 (2011), S. 11–26. 37 Corell, Ida-Marie: Alltagsobjekt Plastiktüte, Berlin: Springer 2011. 38 Benfoughal, Tatiana: Du palmier dattier à la matière plastique. Tradition et mode dans la fabrication des vanneries sahariennes, in: Hélène Claudot-Hawad (Hg.), Touaregs et autres Sahariens entre plusieurs mondes. Définitions et redé-
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Die Aneignung der bereits erwähnten Mobiltelefone ist ein drittes Beispiel. Hier geht es allerdings weniger um die materielle Umgestaltung, sondern vielmehr um die Aushandlung sozialer Normen des alltäglichen Umgangs.39 Ein typisches Beispiel von Aneignung sind in diesem Fall die Regeln über das Teilen und Verleihen der Geräte: In einem Kontext, in dem viele Menschen von weniger als einem Dollar täglich leben, wird dieses hochtechnologische Mediengerät erst dann Teil einer Kultur, wenn es durch viele Hände geht, mithin eine geteilte Nutzung als alltäglich und normal erscheint. Zudem bedarf es in vielen Regionen, in denen es keine Stromversorgung gibt, einiger Improvisation, um das Aufladen der Akkus zu organisieren. Dafür kann man Solarpanels nutzen, nicht selten bieten darauf spezialisierte Handwerker die Aufladung aus ihrer Autobatterie für wenige Cent an. Hier ergibt sich eine überraschende Verbindung zwischen der Ausbreitung von Solarenergie und mobiler Kommunikation: Erst durch die Möglichkeit, mit kleinen Solargeräten auch Telefone aufzuladen, werden die Solargeräte attraktiv. Offensichtlich ist es in diesem Kontext wichtiger, die Telefone betriebsbereit zu halten als Licht zu haben.40
ASPEKTE
DES
ANEIGNUNGSBEGRIFFS
Aneignung soll hier als Konzept näher erläutert werden, da es die Aspekte der Kreativität und der Innovation besonders deutlich heraushebt. Aneignung ist als die Umwandlung eines Gegenstands im materiellen Sinne zu verstehen und gleichzeitig als Zuweisung von neuen Bedeutungen. Am Ende des Aneignungsprozesses bedeutet das Objekt im betrachteten Kontext nicht mehr das Gleiche wie zum Zeitpunkt der ersten Begegnung. Aus
finitions de soi et des autres, Aix-en-Provence: CNRS-Universités d’AixMarseille 1996, S. 57–78. 39 Hahn, Hans Peter: „Die Aneignung des Mobiltelefons in Afrika. Lokale Realitäten und globale Konnotationen“, in: Neuwerk. Zeitschrift für Designwissenschaft 2 (2010), S. 34–51. 40 Cross, Jamie: „The 100th object: Solar lighting technology and humanitarian goods“, in: Journal of Material Culture 18 (2013), S. 367–387. MacGregor, Neil: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München: Beck 2011, S 747ff.
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einem fremden oder anonymen Objekt ist durch Aneignung ein persönliches Gut geworden. Dabei ist es nicht wichtig, ob die Aneignung am Ende in der Veränderung einer materiellen Form erkennbar ist. Es handelt sich hauptsächlich um eine Transformation der Relation zwischen Menschen und Objekten. Wie können die Freiräume der Kreativität im Prozess der Aneignung genauer beschrieben werden? Antworten auf diese Fragen lassen sich im Rückgriff auf ein von dem Medienethnografen Roger Silverstone und seinem Team entwickelten Konzept aus den cultural studies geben. Es ist kein Zufall, dass in dem Zeitraum um 1990 die Untersuchung von Medien ganz besonders zur theoretischen Beschäftigung mit Fragen der Aneignung anregte. Gerade in diesem Bereich war damals die Frage nach den Folgen der Globalisierung virulent. Die klassischen Reichweitenstudien der Medienwissenschaftler waren zu einem bloßen technischen Marktindikator verkommen. Die Vertreter der cultural studies hatten entdeckt, dass signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten Medien zu nutzen existieren. Die Tatsache, dass ein Fernseh- oder Radio- Gerät eingeschaltet sind, sagt nur wenig darüber aus, was der Medienkonsum tatsächlich bedeutet. Silverstone präsentierte in dieser Umbruchsituation ein Modell, das sich heute sehr gut auf den alltäglichen Umgang mit Dingen in Haushalten anwenden lässt. Dieses Modell erklärt, wie die Freiräume der kreativen Aneignung beschaffen sind. Es ist zudem ein methodisches Werkzeug, das im Kontext einer empirischen Untersuchung dafür sensibilisieren kann, wie Dinge transformiert werden. Silverstone hat vier Felder unterschieden, die nebeneinander stehen, aber durch die vom Handelnden ausgehende Intention der Aneignung miteinander verbunden sind. Es handelt sich dabei um: Erwerb/Annahme – Hier geht es um das ‚Auffinden‘ von Gegenständen oder auch um den Kauf. Es handelt sich dabei gewissermaßen um die unvermeidliche Voraussetzung dafür, den Prozess der Aneignung überhaupt beginnen zu können. Materielle Umgestaltung – Mit diesem Begriff sind gleichermaßen zerstörerische wie kreative Aktivitäten gemeint, die dauerhafte Spuren an den Dingen hinterlassen. Ein sehr gutes Beispiel ist das Flechtmaterial aus bunten Plastikfasern, das aus Plastiktüten gewonnen wird. Feld eins und zwei sind zum Beispiel auch im Bereich der SecondHand-Waren miteinander verbunden. Der Erwerb von Second-Hand-Pro-
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dukten ist populär, auch weil er mit geringeren Kosten verbunden ist. Ein Motiv für diese Art des Erwerbs kann auch in der nachhaltigen Nutzung von Gütern liegen.41 Second-Hand-Nutzungen verlängern die Lebensdauer eines Konsumgutes, dadurch ermöglichen sie eine Nutzung über die ursprünglich intendierte Zeitspanne des Gebrauchs hinaus. Second-HandArtikel bedürfen aber sehr oft der Umgestaltung. Das gilt gleichermaßen für Modekleidung wie für Mobiltelefone, die als Second-Hand Geräte ein ‚zweites Leben‘ erhalten. Es kommen noch weitere Felder hinzu: Benennung – Die Verbindung mit einem spezifischen Namen ist oftmals das deutlichste nach außen hin erkennbare Zeichen der Aneignung. So scheint das Wort „Handy“ ein Anglizismus zu sein, erweist sich als eine deutsche Wortschöpfung, die vieles von der Lokalspezifik des Mobiltelefons vermittelt. Inkorporierung – Die Aneignung eines Konsumgutes ist ein eminent körperlicher Vorgang. Viele neue Dinge erschließen sich erst durch die Berührung. Die Vorstellung, Metall oder Plastik anzufassen ist bei neuen Geräten ebenso wichtig wie die Wahrnehmung beim Tragen von Kleidung aus neuartigen Stoffen. Das gilt für Fragen der Körperhaltung im Umgang mit den Dingen genauso wie für Erkenntnisse über Allergien bei Hautkontakt. Erst sichere, durch wiederholten Umgang erprobte Antworten auf diese Fragen lassen ein Objekt als angeeignet erscheinen. Die globale Verbreitung populärer Konsumgüter wurde seit den 1960er Jahren vielfach als Diffusionsforschung untersucht.42 Ich verstehe meinen Entwurf als ein Gegenmodell, das bewusst eine ganz andere Perspektive vertritt. Es geht nicht mehr um die Produzenten (= die mächtige Struktur) oder dessen neue Produkte und auch nicht um die Frage, wie schnell und in welchem Umfang sich etwas verbreitet. Anstelle dessen geht es um den Konsumenten als Akteur, der selbst eine Praxis im Hinblick darauf entwi-
41 Palmer, Alexandra: Old Clothes, New Looks: Second-Hand Fashion, Oxford: Bergen 2005. Clarke, Alison: The Second Hand Brand. ‚Borrowed Goods and Liquid Assets‘, in: Andrew Bevan/ David Wengrow (Hg.), Cultures of Commodity Branding. Archaeological and Anthropological Perspectives, Walnut Creek: Left Coast 2011, S. 235–253. 42 Rogers, Everett M.: Diffusion of Innovations. Fourth Edition, New York: Free Press 1995.
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ckelt, welche Dinge von ihm angeeignet werden können. Der Blick auf die Aneignung kann mithin als ein Gegenentwurf zu Marketing gesehen werden. Manche Global Players haben diesen subversiven Charakter schon erkennen müssen. Ein Beispiel dafür ist die Seite www.ikeahackers.net, die aus Ikea-Produkten ganz andere Dinge macht. Hier handelt es sich oft nur um kleine Veränderungen, die aber den Wert der Aneignung augenfällig machen. In dem Buch „Konsumguerilla“ werden weitere, zum Teil deutlich radikalere Modifikationen beschrieben.43 Ikea selbst hat keine Kontrolle über solche Phänomene. Wesentlich im Sinne eines Fazits ist also der Hinweis, dass diesen weltweit aktiven Marken wie Ikea, Coca-Cola oder Levis zumindest in einigen Bereichen die Kontrolle über ihr Design sowie über die Identität der Marke entzogen wird. Durch das von Thomas Düllo so genannte „Cultural Hacking“ entstehen neue Formen oder auch nur neue Gebrauchsweisen, die ein sichtbarer Ausdruck der Kreativität des Konsumenten sind.44 Indem Akteure ein Ding aufgreifen und es sich aneignen, aber zugleich neue Kontexte schaffen, transformieren sie diesen Gegenstand, ähnlich wie es mit dem semiotischen Begriff des Metonyms gemeint ist. Metonymische Distanzierung ist aber ein machtvolles Instrument der ‚Auslöschung‘ des „Originals“45. Aneignung ist nur scheinbar ‚Anpassung‘ oder ‚Nachahmung‘ – im Kern artikuliert sie Differenz (Abb. 2). Micheal Taussig hat speziell in dieser Betonung von Differenz die selbstbewusste Artikulation erkannt, die der Besitzer mit der Aneignung vollzieht.46 So reicht es vollkommen, Ikea-Möbel mit Dekorationsfolie zu bekleben: Die zunächst graduell eher geringfügige Veränderung sticht gegenüber der Gleichförmigkeit hervor und wird zur Grundlage einer Differenzierung bedeutungsvoll aufgewertet.
43 Richard, Birgit/Ruhl, Alexander: Konsumguerilla. Widerstand gegen Massenkultur?, Frankfurt/M.: Campus 2008. 44 Düllo, Thomas/Liebl, Franz: Cultural Hacking. Die Kunst des strategischen Handelns, Berlin: Springer 2005. 45 Goldstein-Gidoni, Ofra: „Producers of ‚Japan‘ in Isreal: Cultural Appropriation in a Non-Colonial Context“, in: Ethnos 68 (2003), S. 365–390. 46 Taussig, Michael T.: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, München: EVA 1994.
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Abbildung 2: Nord-Ghana, 2007. Obgleich der alltägliche Gebrauch industriell hergestellter Seife in Westafrika eine Folge der Aneignung europäischer Praktiken darstellt, ist er aus heutiger Sicht eine ‚beste Tradition‘.
Foto: Hans Peter Hahn
S CHLUSS Das Konzept der kulturellen Aneignung ist ein effizientes Werkzeug, um den Übergang von anonymen, massenproduzierten Waren hin zu persönlichen Gütern zu beschreiben. Im Mittelpunkt dieses Konzeptes steht die Veränderung der Beziehung zwischen einem Gegenstand und der Gesellschaft, wie sie sich durch das alltägliche Handeln ergibt. Das Objekt wird durch dieses Handeln mit Bedeutungen und Kontexten versehen, es wird transformiert, um so als Bestandteil der sich etwas aneignenden Gesellschaft neu erfunden zu werden. Aneignung rückt die handelnden Personen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dieses Konzept ist somit hervorragend geeignet, um Konsum und Kreativität miteinander zu verbinden. Es ist aber mehr als das: Es ist auch eine Möglichkeit, ein alternatives Modell von Kultur insgesamt anschaulich zu machen. Umgang mit Konsumgütern als Aneignung zu betrachten, führt zu einer neuen Ausrichtung der Perspektive: Nicht mehr die Produzenten oder die Inhaber bestimmter
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Marken, sondern der Konsument als Handelnder steht mithin im Fokus. Ganz im Gegensatz zur eingangs wiedergegebenen negativen These bezüglich des Konsums ist dieser nun mit Kreativität verknüpft. So alltäglich wie sich der Konsum im gesellschaftlichen Geschehen zeigt, so unabweisbar sind doch auch die Handlungsräume, welche sich für Konsumenten im Umgang damit ergeben. Es sind nicht einfach moralisch besetzte Felder notwendiger Entscheidungen über richtigen und falschen Konsum, so wie es die Konsumkritik vorgeben möchte. Diese Handlungsfelder sind vielmehr etwas Improvisiertes, sie sind erkennbar in immer neuen Praktiken und Erfahrungen. Solche Erfahrungen macht man mit Dingen und diese Praktiken werden mit den Konsumgütern verbunden. Dadurch wird es möglich, aus diesen Dingen etwas Neues entstehen zu lassen.
Konsum, Boheme, kreative Klasse T HOMAS H ECKEN
Opernbesucher wissen, die Boheme existiert in Armut. Das erste Bild von Puccinis La Bohème zeigt den Schriftsteller Rodolfo und den Maler Marcello im Winter frierend in einer kargen Mansarde. Sie haben weder Brennholz noch etwas zu essen. Damit ein wenig Wärme erzeugt werden kann, verfeuert Rodolfo eines seiner Manuskripte, das ihm niemand abkaufen und veröffentlichen möchte. Ohne verkaufte Produkte kein Konsum, sondern bloß Selbstverzehrung. In der Vorlage für Puccinis Oper – Henri Murgers Scènes de la Vie de Bohème aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – sieht es in schöneren Jahreszeiten auch nicht wesentlich besser aus. Eine der Erzählungen, die Murger 1847 bis 1849 im Feuilleton einer kleinen Zeitung veröffentlichte und – nachdem die Bühnenfassung La Vie de Bohème von Murger und Théodore Barrière 1849 einigen Erfolg hatte – in einem Buch versammelte, zeigt den Boheme-Helden sogar seiner Unterkunft beraubt: „Rudolf war von einem ungastlichen Hauswirt vor die Tür gesetzt worden und lebte seit einiger Zeit unsteter als die Wolken; er vervollkommnete sich nach Kräften in der Kunst, zu Bett zu gehen, ohne zu Abend gegessen zu haben oder zu Abend zu essen, ohne zu Bett zu gehen; sein Koch war der Zufall, und oft übernachtete er bei Mutter Grün.“ Der muntere Ton der Erzählung lässt aber erahnen, dass es insgesamt nicht schlecht um ihn steht. Gleich weiter heißt es: „Indessen gab es zwei Dinge, die Rudolf nie verließen, auch nicht inmitten dieser mühseligen Irrfahrten: seine gute Laune und das Manuskript des
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‚Rächers‘, eines Dramas, das schon in allen Theaterbüros von Paris längeren Aufenthalt genommen hatte.“1 Die heitere Stimmung und das unbeirrte Festhalten am eigenen Werk besitzen auch aufs Ganze gesehen einen guten Grund. Es ist nicht bloß wegen der wärmeren Jahreszeit möglich, diesmal auf die Vernichtung des Manuskripts zu verzichten. Am Ende der Geschichte feiern die Künstler mit ihren Werken Erfolge beim zahlungskräftigen Publikum. Die Zeit des Mangels ist vorbei. Marcel lehnt sogar das sentimentale Angebot Rodolphes ab, noch einmal in ihr altes Lokal zu gehen, „‚wo wir immer so großen Hunger hatten, wenn wir mit dem Essen fertig waren.‘“ Die Antwort fällt entschieden negativ aus: „‚Wahrhaftig, nein, ich danke!‘ rief Marcel, ‚ich will gern in die Vergangenheit blicken, aber durch eine gute Flasche Wein und von einem guten Sessel aus. Sag, was du willst, ich bin nun mal verdorben. Ich liebe nur noch das Angenehme!‘“2 Das ist das letzte Wort der Scènes de la Vie de Bohème. Anders geht es bei den „Wassertrinkern“ aus, einer weiteren Bohemegruppe, von der Murger erzählt. Wie der Name schon sagt, lebt diese Künstlergruppe in großer Armut, mehr als Wasser steht oftmals nicht auf ihrem Speiseplan. Ihre Armut erfüllt sie aber geradezu mit Stolz, sie ist der Ausweis ihrer künstlerischen Integrität. Lukrative Angebote, die ihnen unlauter erscheinen, lehnen sie trotz ihrer Zwangslage konsequent ab. Einem bildenden Künstler, der gegen dieses Gebot verstößt, hält ein Wassertrinker entgegen: „‚Treibe dein Handwerk, wie es dir beliebt; für mich bist du kein Bildhauer mehr, für mich bist du ein Gipsfigurenfabrikant! Freilich wirst du nun Wein trinken können, aber wir, die wir nach wie vor unser Wasser trinken und Kommißbrot essen, wir bleiben Künstler.‘“3 Das alles ist nicht nur eine literarische Fantasie. Zwar haben die Wassertrinker, zu denen Murger selbst zeitweilig gehörte, Gelegenheitsjobs angenommen, Armut und Hunger haben sie aber tatsächlich erlitten.
1
Murger, Henri: Boheme. Szenen aus dem Pariser Künstlerleben [Übersetzung von „Scènes de la Vie de Bohème“ (1951)], Stuttgart: Reclam 1967, S. 77.
2
Ebd., S. 381.
3
Ebd., S. 275.
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B OHEMIEN
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B ÜRGER
Verständlich sind darum Definitionen der Boheme, die deren miserable Lage betonen. Julius Bab etwa, der Chronist der Berliner Boheme, zitiert 1904 eine Erinnerung des Naturalisten Arno Holz, in der „hungrig“ und „frostverklammt“ zu den wichtigen Vokabeln gehören. Babs Gesetz der Boheme lautet folgerichtig: „[Ü]berall wo die schlechte wirtschaftliche Lage jungen, mehr auf die künstlerische Lebenserfassung und Gestaltung, als auf den Lebensunterhalt bedachten Leuten die Führung einer ‚gesellschaftsfähigen‘ Existenz verwehrt, da ist materielle Notwendigkeit gegeben für das Entstehen einer Bohéme.“ Hinzutreten muss dann noch der „geistige Anlaß“, nach Bab zu finden in jenen „eigenwilligen Köpfen und lebensdurstigen, künstlerisch gestimmten Sinnen“, die den „herrschenden Lebensgewohnheiten“ opponieren.4 Diese Definition und historische Erklärung prägt viele Schriften zur Boheme. Gewöhnlich ist aber anstelle der ‚herrschenden Lebensgewohnheiten‘ vom Bürger zu lesen, der als Widersacher der Boheme fungiert. Der Bürger bringt nicht nur keine Begeisterung, nicht einmal Verständnis für die kreativ-experimentellen Kunstwerke der Bohemiens auf, auch sein Lebensstil, sofern er von der Ausrichtung auf Nutzbarkeit und materiellen Erfolg bestimmt wird, ist dem der Bohemiens entgegengesetzt. Umgekehrt erfüllt die Bohemiens die Kunst- und Lebensauffassung der Bürger mit Abscheu, deshalb halten sie konsequent an ihrer Art zu malen und zu schreiben fest. Für viele Bohemiens ist ihr Lebensstil nicht bloß von der Not diktiert, sondern in mancher Hinsicht auch eine Tugend. Lebensweise und Kunst bilden bei vielen Bohemiens, die schreiben oder malen, demnach nicht bloß deshalb einen Zusammenhang, weil der mangelnde kommerzielle Ertrag ihrer Werke ihren Alltag bestimmt. Ein gemeinsamer Grund existiert auch in der Ablehnung von Regeln, in der Betonung nonkonformer Individualität. Wie das Werk sich gängigen, erfolgversprechenden Mustern verweigert, so auch die Lebenspraxis den Anforderungen bürgerlicher Provenienz. Man glaubt, dass es an der Enttäuschung von Gewohnheiten liegt, weshalb die eigene Kunst auf wenig lukrative Re-
4
Bab, Julius: Die Berliner Bohème [Artikelserie, Berliner Volkszeitung, 1904; zuerst als Buch veröffentlicht: 1904], Paderborn: Igel-Verlag 1994, S. 46, 8.
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sonanz stößt, und sieht in der unbürgerlichen Art zu leben ein passendes Gegenstück dazu. Die bohemische Lebensweise gilt ihnen deshalb letztlich als Ausdruck der Wahl, nicht des Zwangs. Selbst wenn größere materielle Mittel zur Verfügung stünden, würde man nicht von ihr lassen. Mitunter weist diese Einstellung schon auf die avantgardistischen Topoi voraus, abgeschlossene Werke abzulehnen und die Kunst im Leben aufgehen lassen zu wollen: Das Boheme-Leben ist dann bereits die Kunst. Helmut Kreuzer, dessen Habilitationsschrift unzählige Belege für diese Boheme-Einstellung versammelt, hält darum fest: „Nicht die Armut ist entscheidend für die Definition des Bohemiens, sondern ein bestimmter, intentionell unbürgerlicher Stil seines Lebens (der sich allerdings nicht unabhängig von den materiellen Existenzbedingungen der Armutsboheme ausformt) in der Verbindung mit gegenbürgerlicher Einstellung.“5 Als Autostereotyp des Bürgers („‚bürgerliche Tugenden‘“) nennt Kreuzer u.a. „Ordnungsliebe, Reinlichkeit, Sparsamkeit, Arbeitssamkeit, Pünktlichkeit, wirtschaftliche Sicherheit“. In der despektierlichen, kritischen Sicht der Boheme werden daraus Autoritätshörigkeit, Leidenschaftslosigkeit, Konformismus, Rigidität, Kleingeistigkeit, Selbstzwang, Herzlosigkeit, Nützlichkeitsfixierung, Mittelmäßigkeit, Materialismus.6 Sie müssen nicht nur theoretisch widerlegt und angegriffen, sondern hier und jetzt, in der Boheme-Praxis, überwunden werden.
S TELLUNG
ZUM
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Die antibürgerliche Richtung der Boheme erstreckt sich auf alle möglichen Bereiche, nicht nur den der Produktion. Kreuzer stellt im Einzelnen auch die „Parteinahme für die ‚Innerlichkeit‘ gegen die ‚Äußerlichkeit‘ (der bürgerlichen Besitz- und Konsumobjekte)“ als Grundzug der Boheme heraus,7
5
Kreuzer, Helmut: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart: Metzler Verlag 1968, S. 43.
6
Ebd., S. 146ff.
7
Ebd., S. 148.
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er verweist auf die Kritik an „Arbeit und Ware als Zwang zum Konsum“ als bohemische Weiterführung solcher Frontstellung.8 Folgt man dem, kann man die Armut der Boheme wiederum nicht nur als aufgeherrscht, als erlitten charakterisieren. In gewisser Weise selbstgewählt, zumindest weltanschaulich erhöht ist die Armut wie gesehen zum einen, weil die (künstlerische) Erfolglosigkeit am Markt ein trefflicher Ausweis der Güte der eigene Produkte und Werke sein soll. Zum anderen aber steckt hinter der Armut dann eine Lebenseinstellung, die am Erwerb, an der Ansammlung und Ausstellung von Gütern nicht sonderlich interessiert ist – ja, die vielen dieser Formen regelrecht feindlich gegenübersteht. Die Ärmlichkeit der Bohemiens wäre also gar kein Schicksal, sondern bloß das Anzeichen des selbstbewussten Konsumverzichts, zumal des Verzichts auf demonstrativen oder anhäufenden Konsum. Belege für die Richtigkeit dieser These gibt es mehr als genug. Verwiesen sei etwa auf jene Bohemiens, die versuchen, soweit es geht aus der Warenwirtschaft auszutreten, und sich auf dem Land vom eigenen Anbau ernähren. Dennoch handelt es sich bei der These allenfalls um die halbe historische Wahrheit. Das Verhältnis von Boheme und Konsum darf nicht derart einfach angesetzt werden. Um zu anderen Einsichten über die Haltungen von Bohemiens zum Konsum zu gelangen, muss man nur Murgers Szenen vollständig lesen. Mehr als einmal handeln sie davon, dass mehr oder minder zufällig sich einstellende Geldbeträge sofort ausgegeben werden. Das ist zwar gut mit dem Prinzip vereinbar, sich in antibürgerlicher Absicht nicht sparsam und rigide zu verhalten, geht aber unvermeidlich mit Konsumakten einher. Abgeschwächt wird dieser Verstoß immerhin dadurch, dass oftmals überflüssige Dinge angeschafft werden oder das Geld in Kneipen verjubelt wird, also sich nicht in bleibenden Objekten niederschlägt. Gesteigert werden kann das sogar durch Kredite. Keine Vorstellung bürgerlicher Rechtschaffenheit hält die Bohemiens davor zurück, bei Wirten anschreiben zu lassen. Es bleibt aber nicht bei einer augenblicklichen, exzessiven Auflösung der Geldwerte. Steht das Leben der Bohemiens auch notwendigerweise über weite Strecken unter dem Gebot der Armut, ist der Geschmack von Murgers Helden jedoch keineswegs ärmlich, Sinn für teure Anzüge, Spazierstöcke usf. beweisen sie durchaus. Es ist für sie nur nichts, für das sie
8
Ebd., S. 152.
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Opfer der Arbeit oder der Sparsamkeit erbringen würden. Wenn sie durch Zufall oder durch kleine Gaunereien an sie gelangen, wissen sie sie allerdings momentan zu schätzen, ohne freilich von ihrem Besitz abhängig zu sein oder nichts anderes neben ihnen gelten zu lassen. Murger findet dafür in der Vorrede zu den Szenen eine einprägsame feuilletonistische Formel: „Die Bohemiens wissen alles und gehen überall hin, je nachdem sie Lackstiefel tragen oder zerrissene Schuhe. Man trifft sie eines Tages, wie sie sich an den Kamin eines Salons der Gesellschaft lehnen, und am Tage darauf an Tischen unter den Lauben der Tanzlokale.“9 Wohlgemerkt, hier geht es nicht darum, zwei verschiedene Fraktionen der Boheme zu schildern. Murger meint ein und dieselben Leute, die von einem Tag zum anderen an unterschiedlichsten Plätzen und in unterschiedlichster Aufmachung erscheinen. Das bedeutet aber auch: Die unterschiedlichsten Gegenstände können das Ziel ihrer Aneignung werden. Der Bohemien wird nach dieser Lesart zum potenziell uneingeschränkten Konsumenten, für den sich Lackstiefel und zerrissene Schuhe nicht wechselseitig ausschließen.
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Eingang findet diese Nähe von Boheme zum entgrenzten Konsum in die Beschreibungen und Selbstbeschreibungen der Boheme jedoch lange Zeit nicht, Murger findet keine Nachahmer oder jemanden, der sein Bonmot zu längeren, grundsätzlichen Betrachtungen nutzt. Die Praxis manches Bohemiens spricht allerdings in dieser Hinsicht beredt. Helmut Kreuzer verweist z.B. in seinen Ausführungen zur Kleidung der Bohemiens auf „dandyistische Eleganz wie extreme Vernachlässigung der äußeren Erscheinung“, auf „seltsame Kombinationen“, „Phantasietrachten“, auf „historisierende, folkloristisch exotisierende und sakralisierende Kostüme“.10 Es ist nicht möglich, all diese Varianten rein auf das Konto der Armut abzubuchen. Der wahrscheinlich erste größer ansetzende Beitrag, in dem das Verhältnis der Boheme zum Konsum eine neue Fassung bekommt, stammt aus dem Jahr 1934. In seinem autobiografisch gefärbten Buch zu den US-
9
H. Murger: Boheme, S. 16f.
10 H. Kreuzer: Boheme, S. 155ff.
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amerikanischen 1920er Jahren schreibt der Dichter und Journalist Malcolm Cowley, Herausgeber von The New Republic, über einen „War in Bohemia“. Die Kriegsparteien sind bekannt, auf der einen Seite „middle-class America“, auf der anderen „American disciples of art and artistic living“, es geht um den „eternal warfare of bohemian against bourgeois, poet against propriety“.11 In vertrauter Manier berichtet Cowley über einen Angriff der Bürger, hier in Gestalt der Saturday Evening Post, auf Bohemia, genauer gesagt auf Greenwich Village. Das Village werde bewohnt von „fools and fakers“, besser, sie würden schnell geheilt von ihren Narrheiten und kehrten zurück in ihre kleinstädtischen Geburtsorte, um dort Autos zu verkaufen – so der Tenor der Post nach Cowleys Zeugnis. Die „Villagers“ hätten darauf nicht direkt reagiert, sondern weiter ihre grundsätzlichen Todesanzeigen auf die standardisierte Kultur der USA verfasst. So weit, so bekannt. Gar nicht vertraut klingt jedoch die Einschätzung Cowleys zu diesem Kulturkampf. Cowley hält beide Positionen für falsch, Gründe für einen Krieg vermag er überhaupt nicht mehr zu erkennen. Er begründet sein originelles Urteil, indem er die Prinzipien der Bohemiens aufführt, um sie anschließend auf ihre ökonomischen Wirkungen hin zu überprüfen. Zur „doctrine“ – sie habe sich seit den Tagen Murgers nicht wesentlich, aber in einigen Ausprägungen geändert – zählt Cowley u.a.: •
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die Überzeugung, dass in jedem viele kreative Möglichkeiten lägen, die aber durch eine standardisierte und repressive Gesellschaft und Erziehung zerstört würden; die Wertschätzung persönlichen Ausdrucks. Durch expressives, kreatives Tun könne man sich selbst verwirklichen, seine Individualität entdecken („each man’s, each woman’s, purpose in life is to express himself, to realize his full individuality through creative work“); die Betonung der Gegenwärtigkeit; man solle im Hier und Jetzt leben, statt die Freuden auf einen unbestimmten Zeitpunkt zu verschieben;
11 Cowley, Malcolm (1976): Exile’s Return. A Literary Odyssey of the 1920s [1934; rev. Aufl. 1951], New York u.a., S. 53.
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der Akzent auf der Freiheit, auf der Mobilität, auf der Ungebundenheit, der Affekt gegen Konventionen allgemein und gegen Regeln in der Kunst im Besonderen.12
Die Pointe Cowleys ist nun, dass diese Doktrin 1920 überhaupt nicht mehr im Widerstreit mit der bürgerlichen Lebensweise gelegen habe. Die Anklagen der Saturday Evening Post gegen Bohemia, aber auch die kulturkritischen Untergangsvisionen der Villager sind für Cowley bloß Reflexe einer bereits untergegangenen Welt, einer mittlerweile gegenstandslosen ideologischen Auseinandersetzung. Tatsächlich sei Bohemia in den 1920er Jahre verblichen, gestorben am eigenen Erfolg: „American business and the whole of middle-class America had been going Greenwich Village.“ Der Tod Bohemias bedeutet nicht seinen Untergang, sondern seine Allgegenwart. Diese Diagnose lässt Cowley nicht als kühne Behauptung stehen, er liefert neben einigen Belegen auch eine hoch abstrakte These dazu: Die ältere Moral, die den Krieg zwischen Bürger und Bohemien begründet habe, sei eine Produktionsethik gewesen, die Fleiß, Genügsamkeit, Sparsamkeit verlangt habe. Mit dem Anwachsen der Produktivität falle jedoch die Notwendigkeit dieser „production ethic“ weg. Für die Abnahme der gestiegenen Gütermenge sei sie geradezu hinderlich, eine neue Auffassung liegt darum nahe: „There must be a new ethic that encouraged people to buy, a consumption ethic.“13 Dafür nun eignen sich nach Darstellung Cowleys die Überzeugungen der Boheme auf hervorragende Weise. „Living for the moment meant buying an automobile, radio or house, using it now and paying for it tomorrow“, der Vorrang des kreativen Selbstausdrucks und des Unkonventionellen begünstigt die Nachfrage nach vielerlei Gütern, die das Lebensnotwendige übersteigen.14 Zwar räumt Cowley ein, dass es wohl der Boheme nicht bedurft hätte, um die neue Konsummoral zu etablieren. Über die wirtschaftlichen Daten hinaus nennt er als wichtige Faktoren noch die Lage während des Ersten Weltkriegs – die Abwesenheit der Väter lässt der jungen Generation ungeahnte Freiheiten – und das neue Massenmedium Kino. In dieser geschicht-
12 Ebd., S. 60f. 13 Ebd., S. 61f. 14 Ebd., S. 62.
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lichen Situation habe aber Bohemia eine hohe Prägekraft besessen: „The Village, older in revolt, gave form to the movement, created its fashions, and supplied the writers and illustrators who would render them popular.“15 Das Ergebnis ist besagter paradoxer tödlicher Erfolg: Greenwich Village „was dying because it became so popular that too many people insisted on living there. It was dying because women smoked cigarettes on the streets of the Bronx, drank gin cocktails in Omaha and had perfectly swell parties in Seattle and Middletown“.16
D IFFERENZ Von nun an wird man die Diagnose, die Boheme sei ein Vorreiter des Konsumismus und ein Motor des liberal-kapitalistischen Systems, häufig hören. In den 1950er und beginnenden 1960er Jahren kann man über den Umschwung vom einschränkenden Puritanismus zu flexibleren Verhaltensund Anpassungsformen bei David Riesman und in den Schriften der Kritischen Theorie ausgedehnte Passagen lesen, Ende der 1960er Jahre wird diese Erkenntnis aus aktuellem Anlass verstärkt auf die Underground-Szene bezogen. Fast immer kritisch gemeint, wird der vermeintlichen Gegenkultur oftmals attestiert, mit ihrem Willen zur Abweichung stets neue Produkte für das jugendliche Publikum hervorzubringen. Seit 1968 gehört die Diagnose zum festen Bestand der erweiterten Kommerzialisierungs- und Konsumkritik aus Reihen der alten und Neuen Linken. In den 1990er Jahren gab es sogar eine Zeitschrift, den amerikanischen Baffler, der solche Kritik zum zentralen Anliegen seiner Artikel machte. Die „countercultural idea“ bestehe nach wie vor in folgender Leitlinie: „The establishment demands homogeneity; we revolt by embracing diverse, individual lifestyles. It demands self-denial and rigid adherence to convention; we revolt through immediate gratification, instinct uninhibited, and liberation of the libido and the appetites.“17
15 Ebd., S. 64. 16 Ebd., S. 65. 17 Frank, Thomas: „Why Johnny Can’t Dissent“ [in: The Baffler, 1995], in: Ders./Matt Weiland (Hg.), Commodify Your Dissent. Salvos from The Baffler, New York und London: Norton 1997, S. 32.
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Der Baffler hält diese gegenkulturelle Hauptidee für vollkommen falsch und überholt: „Consumerism is no longer about ‚conformity‘ but about ‚difference‘“18 deshalb seien die abweichenden Gesten der vermeintlichen Gegenkultur nichts als konsumistische Winke. „Its frenzied ecstasies have long since become an official aesthetic of consumer society, a monotheme of mass as well as adversarial culture“.19 Der „rebel“ sei zum „central image“ der Konsumkultur aufgestiegen, in seinem Namen würde die belanglose, modische Ablösung eigentlich noch brauchbarer Gegenstände zum Wohle der kapitalistischen Ökonomie zuverlässig bewerkstelligt.20 Das wäre also aus dem unbürgerlichen Lebensstil der Boheme geworden: ein Transmissionsriemen für das kapitalistische Wachstum. Für Kapitalismusgegner und für Bohemiens, die in ihrer Andersartigkeit einen Gegenentwurf zum Bestehenden sehen, natürlich eine äußerst negative bzw. niederschmetternde Bilanz. Für Bürger, die an älteren Bildungsvorstellungen und/oder puritanischer Arbeitsmoral hängen, allerdings nicht minder. Es hat darum lange gedauert, bis die nachhaltige Änderung in der Einschätzung der Boheme, wie sie Malcolm Cowley immerhin bereits Anfang der 1930er Jahre vornahm, einen greifbaren weltanschaulichen Ausdruck fand.
„B OBOS “ UND „ KREATIVE K LASSE “ Seit gut einem Jahrzehnt liegen solche Anschauungen aber in vielbeachteter Form vor. Im Buch Bobos in Paradise fasst David Brooks 2000 die „new upper class“ als Zusammensetzung aus „bourgeois“ und „bohemian“. Viel Zeit verwendet Brooks darauf, diese Neuheit an den Konsumvorlieben zu demonstrieren. Der Glätte der Yuppies und dem Protz der „moneyed elite“ setze der „bourgeois bohemian“ rauere, kleinere, unauffälligere, wenn auch
18 Ebd., S. 34. 19 Ebd., S. 33. 20 Frank, Thomas: „Alternative to What?“ [in: „The Baffler“, 1993], in: Ders./Matt Weiland (Hg.), Commodify Your Dissent. Salvos from The Baffler, New York und London: Norton 1997, S. 151.
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genauso teure Dinge entgegen.21 Brooks sieht in dieser meritokratisch ausgewählten, gebildeten Führungsschicht überwiegend positiv eine Klasse an Leuten, die Rassismus, Misogynie und krassen Materialismus hinter sich gelassen hätten, denen es nicht nur um Macht und Geld, sondern auch um Selbstverwirklichung, Gemeinschaftssinn und kreative Visionen und Arbeitsformen gehe. Deshalb kommt er zu dem Schluss, bei den „educated elites“ handele es sich um eine Symbiose aus Bürger und Bohemien.22 Richard Florida spricht von dieser Gruppe als der „creative class“. In bestimmten kapitalistischen Unternehmen (etwa in den Firmen der Multimediabranche), allgemein in den Research & Development-Abteilungen, wegen der eminent anwachsenden ökonomischen Bedeutung von „creativity, innovation, and knowledge“ hätten Leute, die früher in „Bohemia“ marginalisiert gewesen seien, Einzug gehalten.23 Folgerichtig ruft er in unzähligen Schriften und vor allem Reden Politiker und Stadtverwaltungen dazu auf, „gay-and-bohemian-friendly“ zu agieren;24 nur so könne man erfolgreiche Firmen anziehen und prosperierende Ökonomien aufbauen. Zur Erfolg garantierenden kreativen Klasse rechnet Florida 30% der amerikanischen Arbeitnehmer,25 Wissenschaftler, Künstler, Designer, Manager, Ingenieure, Finanzanalysten, Rechtsanwälte etc.26 Zwar ist die „creative class“ nicht die umfangreichste Schicht, übertroffen wird sie darin von der „service class“, sie ist aber nach Einschätzung Floridas die bedeutendste Klasse – was in seiner These, wir lebten heute in einer „creative economy“,27 überaus deutlich wird.
21 Brooks, David: Bobos in Paradise. The New Upper Class and How They Got There [2000], New York: Simon & Schuster 2004, S. 84ff. 22 Ebd., S. 43. 23 Florida, Richard: „Bohemia and Economic Geography“, in: Ders., Cities and the Creative Class, New York und London: Routledge 2005, S. 115f. 24 Florida, Richard: The Flight of the Creative Class. The New Global Competition for Talent. New York: Collins 2007, S. 55. 25 Florida, Richard: The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York: Basic Books 2002, S. 74. 26 Ebd., S. 69. 27 Ebd., S. 44.
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Die „creative class“ stattet Florida insgesamt mit bohemischen Zügen aus: Das „creative ethos“ sei nonkonformistisch, ja „subversive“,28 die kreative Klasse sei stärker auf Erlebnisse als auf Konsumobjekte ausgerichtet,29 ihre Mitglieder seien nicht nur und zunehmend weniger an der traditionellen Hochkultur als an der „street-level culture“ interessiert,30 einer eklektischen Kultur, die ein breites Spektrum von Blues über Rock und Weltmusik bis Techno umfasse.31 Obwohl er also an einer Stelle noch Bohemia-Mitglieder innerhalb der umfangreichen kreativen Klasse identifiziert, muss er wegen der für ihn dort überall anzutreffenden Nonkonformität und postmodernen Disposition aufs Ganze gesehen zu dem Ergebnis kommen, dass Unterschiede zwischen Bürger und Bohemien in der kreativen Klasse gar nicht mehr auszumachen seien. Die Begriffe „bourgeois and bohemian“ habe man ‚transzendiert‘:32 „Highbrow and lowbrow, alternative and mainstream, work and play, CEO and hipster all are morphing together today.“33
K ATEGORIALE V ERHÄLTNISSE Mit Cowleys, Brooks und Floridas Thesen hat die Zuordnung von Bürger und Bohemien alle denkbaren Stufen durchlaufen: Von ihrer harten Entgegensetzung bis zur Behauptung, dass sie ineinander aufgegangen, die Begriffe zum Zwecke einer Erfassung der gegenwärtigen Verhältnisse damit unbrauchbar geworden seien. Als wichtige Zwischenstufen sind Helmut Kreuzers und Jerrold Seigels Vermittlungen zu nennen. Kreuzer hebt nicht nur – rein logisch – hervor, dass die Boheme in ihrer unablässigen Negation des Bürgerlichen an den Bürger gefesselt bleibt, er stellt auch heraus, dass bürgerliche Projekte – etwa die Absage an die höfische Regelpoetik, die Befreiung des Künstlers von kirchlichen und aristokratischen Auftraggebern, die Auflösung von
28 Ebd., S. 31. 29 Ebd., S. 168. 30 Ebd., S. 182. 31 Ebd., S. 184f. 32 Ebd., S. 13. 33 Ebd., S. 191.
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Zunft- und Ständeordnungen die Boheme-Existenz erst ermöglichten. Die Boheme des 19. Jahrhunderts sei demnach „nicht nur als ein Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft aufzufassen“, sondern „als ihr Produkt und Element“.34 Seigel geht noch weiter. Er betont nicht nur, dass sich Bürger und Bohemien gegenseitig anzögen.35 Wichtiger ist für ihn ein anderer Gedanke. Wegen der bürgerlich-liberalen Auflösung der sittlichen und ständischen Ordnung habe sich die Frage nach den Begrenzungen persönlicher Kultivierungsmöglichkeiten ganz neu stellen müssen, ohne noch einer religiösabsolutistisch unbestreitbaren Antwort zugeführt werden zu können. Bohemia sei genau der Ort gewesen, an dem die kontingenten bürgerlichen Antworten stets herausgefordert wurden, es habe sich um eine innerbürgerliche Auseinandersetzung um die Reichweite der Liberalität, um die Richtigkeit (vorläufig) eingezogener Grenzen gehandelt: „Bohemia […] was the appropriation of marginal life-styles by young and not so young bourgeois, for the dramatization of ambivalence toward their own social identities and destinies.“36 Spätestens mit Floridas dominanter kreativer Klasse müsste man diese historische Betrachtungsweise endgültig einer fernen Zeit zuweisen: Wenn im Namen der Kreativität in weiten Bereichen der Ökonomie auf immer neue Abweichungen gesetzt würde, gäbe es gar keine wichtigen bürgerlichen Identitätsstiftungen und sozialen Verhaltensnormen mehr, die von mehr oder minder „young bourgeois“ dramatisch herausgefordert werden müssten.
B EWERTUNG Der Überblick zu wichtigen Boheme-Bestimmungen bietet einige überraschende Thesen, zumindest gemessen an der üblichen Entgegensetzung von Bürger und Boheme sowie dem populärkulturell einigermaßen bekannten
34 H. Kreuzer: Boheme, S. 45. 35 Seigel, Jerrold: Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830–1930, Baltimore und London: Viking 1986, S. 5. 36 Ebd., S. 11.
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Bild des unordentlichen, armen Künstlers. Doch sind sie – vor allem mit Blick auf die Gegenwart – auch richtig? Zur Beantwortung der Frage ist zunächst festzuhalten, dass in einer Hinsicht wirklich ein bedeutender Wandel vollzogen wurde: Widerstände gegen Neuerungen und Abweichungen im künstlerischen Bereich sind heutzutage kaum noch festzustellen. Im Gegenteil, Abweichungen werden geradezu gefordert, dienen der Kunstwelt als Beweis für wahres Künstlertum. Dies gilt sogar in den westlichen Staaten überwiegend aus Sicht der politischen Akteure und staatlichen Organisationen. Auf rechtliche und moralische Bedenken und Einschränkungen verzichten sie weitgehend. Staatliche und öffentlich-rechtliche Stellen machen sich sogar die Förderung solch transgressiver oder innovativer Kunst zur Aufgabe, falls sie am Markt nicht reüssieren kann. Mit bürgerlichen Widerständen gegen das Neue und verstörend Kreative in der Kunst kann mangelnder Erfolg von Schriftstellern, Malern etc. heute schwerlich begründet oder geadelt werden. Zudem schlägt sich mangelnder Erfolg – abgelehnte Manuskripte, schlecht bezahlte Auftragsarbeiten – heute nicht mehr in bedrohlicher Armut nieder. Wenigstens das Hungern und Frieren verhindert die gewährte Sozialhilfe. In Deutschland sorgt die Künstlersozialkasse seit 30 Jahren auch für einen Zuschuss bei der Sozialversicherung. Drittens hat auf semantischer Ebene tatsächlich eine weite Verbreitung einstiger Boheme-Vorstellungen stattgefunden. Wenn etwa César Graña im Anschluss an Malcolm Cowley davon spricht, das erste Ideal des „romantic movement“ und mit ihm der Boheme sei das der „self-expression“ gewesen („the most important purpose in life is to express yourself through creative work and to realize fully one’s individuality“),37 dann bleibt nur die Diagnose, dass dieses Ideal heutzutage nicht das Privileg oder Stigma der Boheme, sondern eine allgemeine Phrase darstellt, die nahezu alle unterschreiben: Fast jeder, nicht nur die Menge der Künstler, möchte individuell und kreativ sein. Hinge die Boheme allein an diesen drei Punkten, könnte man heute nicht länger von ihr sprechen. Nur die Feststellung bliebe: Es gibt keine Boheme mehr. Da aber als Boheme-Kriterium oftmals nicht nur künstleri-
37 Graña, César: Bohemian versus Bourgeois. French Society and the French Man of Letters in the Nineteenth Century, New York und London: Basic Books 1964, S. 67.
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sches Schaffen, sondern eine bestimmte Lebensweise herangezogen wird, darf die Untersuchung noch weitergehen. Nur deshalb auch können überhaupt Konsum-Phänomene im Boheme-Zusammenhang Erwähnung finden. Zu diesem Punkt lassen sich auch zumindest einige klare Aussagen treffen. Hält man sich an Murgers Beobachtung, nach der Bohemiens überall Eingang finden bzw. sich heimisch fühlen und entsprechend mit vielerlei Gegenständen – Lackstiefel ebenso wie zerrissene Schuhe – vertraut sind, kann man zweifellos den Bohemiens eine Vorreiterschaft in postmodernem Geschmack zuerkennen. Mit der Pointe, dass heutzutage die beschädigten Schuhe nicht unbedingt Armut und langen Gebrauch beweisen, sondern vielleicht extra produziert wurden. Zumindest das Attribut „destroyed look“ zählt bereits zum festen Repertoire der Schuhmode, im Jeanssektor hat sich das Löchrige in fabrizierter Form längst eingebürgert. An diesem Beispiel kann man auch schön – bzw. in bewusst hässlicher Manier – sehen, in welch starkem Maße durch Bohemiens eine Entgrenzung des Brauchbaren und Konsumierbaren vorbereitet wurde. Wenn sich der Raum auf das Interessante, ja sogar auf das traditionell als hässlich Angesehene hin öffnet, bietet sich ebenfalls ein größerer Raum für Gegenstände und Ereignisse, die zum Verkauf produziert werden. Zumal die Verbreiterung im Sinne des Interessanten bei den Bohemiens nicht nur mit Blick auf Kunstwerke, sondern auf Lebensweisen postuliert wird. Der Bourgeois als Fabrikant hat diese Möglichkeit in sein Produktions- und Marketingrepertoire aufgenommen, der Bourgeois als moralisches Subjekt und Staatsdiener setzt dem Vertrieb und dem Konsum solcher Waren keine nennenswerten Reputations- und Rechtsschranken mehr entgegen. Die Vergrößerung des Spielraums kann selbstverständlich genutzt werden, um in einer zeitlichen Abfolge immer wieder neue Güter und Ereignisse einander ablösen zu lassen. Sobald die Entgrenzung allgemein anerkannt ist, lässt sich zwar nicht mehr das Drama des existenziellen Bruchs herbeiführen, für Abwechslung und relative Neuheit reicht es aber noch. Da es für den einzelnen Käufer ohnehin unmöglich ist, alles auf einmal zu konsumieren, harmonieren solche modischen Ablösungsprozesse recht gut mit seinem Budget und seinen Kapazitäten. Der Hinweis, den Malcolm Cowley erstmals für die US-amerikanischen 20er Jahre gab – dass einige Maximen der Boheme einem expandierenden Konsumgütersektor nicht abträglich sind –, lässt sich darum bestätigen.
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Dennoch bleibt fraglich, ob die angesprochene Neuerung der Boheme zugeordnet werden kann. Schließlich ging es ihr um eigene kreative, ungewöhnliche Werke und Lebensweisen, nicht um den Konsum von Dingen. Die Boheme für einen vergrößerten und beschleunigten Umschlag an Konsumgütern verantwortlich zu machen, geht deshalb zu weit. Konzedieren muss man allerdings, dass die Neigung der Boheme zu Spontankäufen, zu gelegentlicher, gerne auch kreditgestützter Verschwendung als Signum des Unbürgerlichen sich auf längere Sicht gut in eine moderne Konsumwirtschaft einpasst. Falls Bohemiens heute sich vor der Diagnose bzw. dem Vorwurf schützen wollen, sie beförderten die kapitalistische Warenwirtschaft, bleibt ihnen ein einfacher Weg: Sie müssen sich lediglich an ihre alte Methode, aus der ärmlichen Not eine Tugend zu machen, erinnern. Um dem Vorwurf zu entgehen, dürfen sie also die Boheme-Tugend nicht in dem Konsum und der Verfertigung (angeblicher) origineller Dinge und Events entdecken – und auch nicht in einer exaltierten Konsumweise. Stattdessen müssen sie weitgehend auf den Kauf von Waren verzichten. Dadurch entgehen sie nicht nur dem Konsumismus, sondern können ebenfalls dem Lohnerwerb entfliehen – auch dem in den Betrieben der sog. kreativen Klasse –, der nötig ist, wenn man sich eine breitere Palette an Waren leisten möchte. Dass der Verzicht darauf nicht länger – wie zu den Zeiten Murgers – mit Hunger und Kälte bezahlt werden muss, trägt wohl kaum zur geringeren Attraktivität der Möglichkeit bei. Nicht mehr zurückgreifen kann man freilich auf die hoch attraktive Annahme, ein ärmlicher Lebensstil sei innerhalb der Boheme ein Ausweis für ein besonders großes kreatives Vermögen. Mindestens genauso schwer wiegt ein weiterer Verlust: Wenn man in Reihen der Boheme keineswegs mehr sicher sein kann, dass die eigenen kreativen Werke vom Bürger zurückgewiesen und vom Markt ferngehalten werden, dann stehen notwendigerweise alle eigenen Artefakte, Handlungen und Stilformen unter Verdacht, dem Warenkonsum Vorschub zu leisten. Dies mag die Freude an der Kreativität nachhaltig trüben.
Das Warenhaus als Kunstwerk? Zum Verhältnis von Ökonomie, Ästhetik und Konsum um 1900 U WE L INDEMANN
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Dass Kunst bzw. künstlerische Kreativität und Konsum Ende des 19. Jahrhunderts vielfach als Gegensatz aufgefasst werden, liegt vor allem daran, dass moderner Konsum – und dies wird besonders an Warenhäusern sichtbar – ein Massenphänomen ist. Das heißt, der Einsatz von Kunst bzw. künstlerischer Kreativität in der modernen Konsumsphäre steht in Verdacht, die seit der Romantik verbürgte Originalität und Autonomie der Kunst in Frage zu stellen. Schon in Émile Zolas Warenhausroman Au Bonheur des Dames (1882/83), einem frühen Zeugnis der modernen Konsumkultur,1 wird dieser Aspekt entfaltet. Zwar wird Octave Mouret, der Besitzer des Warenhauses, ausdrücklich als Dichterfigur charakterisiert. Allerdings setzt er seine poetisch-imaginative Begabung voll und ganz für den kaufmännischen Erfolg seines Unternehmens ein, z.B. wenn er versucht,
1
Zur Rolle von Zolas Roman in Bezug auf die Präsenz des Warenhauses in den zeitgenössischen Diskursen, welche die moderne Konsumkultur thematisieren vgl. Lindemann, Uwe: „Das Warenhaus als Metapher für Gesellschaft. Émile Zola und das kollektive Imaginäre der frühen Konsumgesellschaft.“ Erscheint in: Ulrike Zitzlsperger/Godela Weiss-Sussex (Hg.): Kommerz und Imagination. Frankfurt/M.: Peter Lang 2015.
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mit von ihm selbst gestalteten, ästhetisch anspruchsvollen Warenauslagen und Innendekorationen ein gehobenes „kunstsinniges“ Publikum als potentielle Käuferschicht zu gewinnen.2 In dieser Weise wird nicht nur die werbliche Instrumentalisierung von Kunst bzw. des Künstlerischen zur Absatzsteigerung vorgeführt. Es wird auch auf einen „strategische[n] Gebrauch des Geschmacksbegriffs“ hingedeutet, mit dessen Hilfe „das Kunstschöne und der kollektive Käuferwille von Konsumentenmassen“3 zusammengeführt werden sollen. Ähnliches konstatiert Maximilian Harden wenige Jahre später für die Entwicklung der modernen Konsumkultur in Berlin. In Wertheim-Theater (1894) heißt es: „Am Ende aber ließe aus der Schaufenster-Dekoration des Herrn Wertheim sich doch vielleicht noch eine neue Nuance gewinnen, eine noch innigere Verbindung von Theater und Waarenhaus. Es müßte von früh bis spät gespielt werden, immer mit Mädchen, und daneben müßte der Verkauf von Semmeln und Klassikern, von Korsets und Cognac, flott vorwärts gehen. Wer für eine halbe Reichsmark einkauft, kann umsonst eine halbe Stunde im Theater verweilen, ein Staffeltarif müßte die
2
Vgl. Zola, Émile: Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second Empire, Édition intégrale publiée sous la direction d’Armand Lanoux. Études, notes et variantes par Henri Mitterand. Bd. 3, Paris: Gallimard 1964. Früh im Roman heißt es: „Mouret se jetait en poète dans la spéculation, avec un tel faste, un besoin tel du colossal, que tout semblait devoir craquer sous lui. Il y avait là un sens nouveau du négoce, une apparente fantaisie commerciale [...].“ (Ebd., 420 ; vgl. ebd., 451). Später kennzeichnet eine andere Figur im Roman nochmals in diesem Sinne: „Quelle imagination! [...] Sans doute, l’idée peut séduire, disait-il [Baron Hartmann]. Seulement, elle est d’un poète“ (Ebd., 457; vgl. ebd., 688).
3
Cleve, Ingeborg: „Was können und sollen Konsumenten wollen? Die Formulierung moderner Leitbilder des Konsums als zentrales Problem des europäischen Ausstellungswesens im 19. Jahrhundert.“ In: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/ Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt/M./New York: Campus 1997, S. 549–562, hier S. 552.
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Platzfrage regeln, und wer eine ganze Robe ersteht, dem wird die Pforte zur Bühne und zu den Garderoben geöffnet.“4
Sowohl bei Zola als auch bei Harden ist klar, dass Kunst und Kommerz asymmetrisch korreliert sind, dass also Kunst (und andere Serviceleistungen des Warenhauses) in den Dienst genommen werden, um das Einkaufen zum Einkaufserlebnis umzugestalten. Welche künstlerischen Mittel oder Medien im Einzelnen eingesetzt werden, ist letztlich gleichgültig, Hauptsache, sie erzielen einen werblichen Effekt und steigern den ökonomischen Erfolg. Benno Jaroslaw stellt schließlich das Verhältnis von Kunst und Konsum als unversöhnlichen Gegensatz dar. In Ideal und Geschäft (1912) heißt es: „Die Kunst [...] steht uns zu hoch, als daß wir sie zu Anreißerdiensten der Profitmacherei entwürdigen möchten, zu hoch auch, um sie den Notdürften des Lebens, den tausend Sächelchen [...] als Anhängsel und Verbrämung aufzuklecksen und als solche zu vertreiben.“5
Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Kritik6 versuchen sich europäische und amerikanische Warenhäuser in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1900 als Elemente einer modernen urbanen Hochkultur zu inszenieren
4
Harden, Maximilian: „Wertheim-Theater“, in: Die Zukunft 6 (1894), S. 45–47, hier S. 47. In Hardens „Wertheim und Tietz“ [in: Die Zukunft 32 (1900), S. 537–545, hier S. 543] heißt es ähnlich: „Wenn Tietz Vorlesungen veranstaltet, kann Wertheim [...] seinen Kunden ein Gesindevermiethungsbüro, eine Kinderbewahranstalt, einen Lesesaal mit großer Bibliothek, ein Badebassin und eine Klinik ganz oder fast umsonst zur Verfügung stellen. Und wenn Tietz Zigeunermusik miethet und braune Gecken in rothen Atlasblousen Pußtaweisen spielen läßt, kann Wertheim sich um eine Theaterkonzession bewerben, die ihm, falls er sich zur Aufführung patriotischer Stücke verpflichtet, gewiß nicht verweigert wird.“
5 6
Jaroslaw, Benno: Ideal und Geschäft, Jena: Diederichs 1912, S. 181. Vgl. Briesen, Detlef: Warenhaus, Massenkonsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M./New York: Campus 2001.
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und zu etablieren.7 Neben den genannten Serviceleistungen beginnen sie systematisch Kulturveranstaltungen im engeren Sinne anzubieten: regelmäßige Gemälde- und Kunstgewerbeausstellungen, Konzerte, Lesungen8 und Vorträge9. Was Harden ironisiert und offenbar für unrealistisch hält, wird
7
Nicht nur die prachtvolle Architektur, auch die opulente Inneneinrichtung und -dekoration vieler Warenhäuser um 1900 (vgl. Marrey, Bernard: Les Grands Magasins, des origines à 1939, Paris: Picard 1979.) sowie eine ausgefeilte Ausstellungstechnik, insbesondere bei Sonderausstellungen, sind hochgradig künstlerisch durchformt. Teilweise haben Warenhäuser, wie das Berliner KaDeWe, sogar eigene künstlerische Berater: „Diese hohen Leistungen [in der künstlerischen Gestaltung] werden durch eine ganz besondere Organisation erzielt, an deren Spitze ein Chef der Dekoration steht, der fortlaufend von drei Künstlern beraten wird: Fräulein Elsa von Hahn [später: Stephani-Hahn; unter diesem Namen auch publizierend], die sich um die Schaufenster, Professor Kurt Stöving [richtig: Curt Stoeving], der sich um die Möbelausstellung zu kümmern, und Maler Hans Looschen, der auf die gesamte Innendekoration zu achten und zugleich Vorschläge für geschmackvolle Verpackungen, Kartons usw. zu machen hat.“ (Göhre, Paul: Das Warenhaus, Frankfurt/M.: Rütten & Loening 1907. (= Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien; 12), S. 41).
8
Vgl. Samter, Hans: „Dichtung im Warenhaus“, in: Die literarische Welt 6, Nr. 16/17 (17. 4. 1930), S. 6, der über eine vom 22.-29. März 1930 vom Berliner Karstadt-Warenhaus am Hermannplatz veranstaltete Literaturlesereihe berichtet (mit Ernst Toller, Vicki Baum, Egon Erwin Kisch, Hans Ostwald, Armin T. Wegner, Joe Lederer und Erich Kästner) sowie Kracauer, Siegfried: „Dichter im Warenhaus“, in: ders.: Aufsätze 1927–1931. Hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 228–230 (= Schriften; 5.2), der über eine Lesung von Heinrich Mann in einem Warenhaus schreibt. Mann selbst berichtet über diese Lesung in Ein Zeitalter wird besichtigt (1946). Vgl. Bienert, Michael: „New York in Neukölln. Hybris und Untergang des Karstadt-Warenhauses am Berliner Hermannplatz“, in: Godela Weiss-Sussex/Ulrike Zitzlsperger (Hg.): Das Berliner Warenhaus. The Berlin Department Store. Geschichte und Diskurse. History and Discourse. Frankfurt/M. u.a.: Lang 2013, S. 223–239.
9
Vgl. Spiekermann, Uwe: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850 bis 1914, München. Beck 1990, S. 380. Vgl. Miller, Michael B: The Bon Marché. Bourgeois Culture and the Department Store 1869–1920, Princeton: Princeton University Press
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als Reaktion auf die um 1900 massiv einsetzende Warenhauskritik bald Realität. Dies wirkt wiederum auf zeitgenössische Darstellungen urbaner Kultur zurück. So heißt es z.B. in dem Reiseführer Berlin und die Berliner. Leute. Dinge. Sitten. Winke (1905): „Wenn man als Fremder nach Berlin kommt, würde es als eine Lücke im Programm anzusehen sein, wollte man nicht das Warenhaus Wertheim besuchen, wie man Schlösser, die Galerien und Museen besucht. Das Warenhaus Wertheim gehört unbedingt zu den Sehenswürdigkeiten Berlins!“10
In der Rubrik „Ausstellungen“ findet man den Eintrag: „Kunstsalon Wertheim, Leipzigerstr. 132/135. Wechselnde Bilderausstellungen in abgeschlossenem Raum. Eintritt 25 Pf.“11 Paul Göhres Abhandlung Das Warenhaus, die 1907 als zwölfter Band in der von Martin Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. Samm-
1981, S. 169ff. Vgl. Dehn, Paul: Die Großbazare und Massenzweiggeschäfte, Berlin: Trowitzsch 1899, S. 37. 10 Berlin und die Berliner: Leute. Dinge. Sitten. Winke, Karlsruhe: J. Bielefelds 1905, S. 62. Vgl. die Baedeker Berlinführer ab der Jahrhundertwende. Auch wenn hier, etwa in der 12. Auflage von 1902, Wertheim in der Leipziger Straße nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht wird, die Kunstdenkmälern und Museen der Stadt eingeräumt wird, ist ihm gleichwohl bereits eine halbe Seite gewidmet. Dort werden in Grundzügen architektonische Merkmale, die Einkaufsmöglichkeiten sowie das mit dem Warenhaus verknüpfte neue Verkaufskonzept („kein Kaufzwang“) vorgestellt (vgl. Baedeker, Karl: Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende, 12. Aufl. Leipzig: Baedeker 1902, S. 109). Ähnliches gilt für das Pariser Warenhaus Bon Marché, das Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur zu den berühmtesten Warenhäusern Frankreichs gehört, sondern über die Grenzen des Landes hinaus in ganz Europa bekannt ist. Neben dem Louvre und dem Eiffelturm ist es eine touristische Attraktion ersten Ranges. Es werden sogar Führungen durch das Warenhaus angeboten und Postkartenserien zur Eigenwerbung produziert (vgl. M. Miller, Bon Marché, 176f.). 11 Berlin und die Berliner 1905, S. 264. Die Berliner Kunstmuseen finden sich im Übrigen in der Rubrik „Sammlungen“ zusammen mit dem Zoologischen Garten und dem Botanischen Museum. Vgl. ebd., S. 190ff.
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lung sozialpsychologischer Monographien erscheint,12 nobilitiert das Warenhaus zu einem herausragenden Ort moderner urbaner Kultur. Bei Göhre ist das Warenhaus nicht mehr nur „Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens“13 oder ein Muss für Touristen, sondern unmittelbarer Ausdruck eines durch den Aufstieg des modernen Kapitalismus bedingten sozialen und kulturellen Wandels.14 Das Warenhaus wird bei Göhre zu einem Ort, der kulturell vorbildlich wirksam ist. Dies betrifft einerseits die von Käuferligen und anderen Organisationen geforderte Konsumkompetenz, also zu wissen, wie man qualitativ hochwertige Waren erkennen kann. Andererseits gilt dies „in ästhetischer Beziehung“. Einzelne Warenhäuser, „allen voran Wertheim“, seien „von bildendem Einflusse für weite Bevölkerungsschichten“ geworden. Hier werde „die Dekorationskunst wieder [...], was sie war, auf neuen Wegen aus einem Handwerk eine Kunst. Und ähnliches ist von der Reklame der Warenhäuser, aber natürlich nicht ihrer allein, zu sagen [...] daß gerade durch die Reklamepolitik der Warenhäuser dieses ganze wichtige Gebiet heute ästhetisch vertieft und geweiht worden ist. [...][A]uch auf die Baukunst unserer Tage hat das Warenhaus im höchsten Maße befruchtend gewirkt.“15
Darüber hinaus wirke das Warenhaus auf die Ästhetik des Alltags, etwa hinsichtlich der kunstvollen Einrichtung und Gestaltung der eigenen Wohnung und der stilsicheren und geschmackvollen Kleidung. Das Warenhaus diene so „der neuen Kunsterziehung unseres Volkes“:
12 Für diese Reihe verfassten neben Göhre zeitgenössisch äußerst renommierte Autoren wie Werner Sombart, Georg Simmel oder Fritz Mauthner einzelne Bände. 13 Calwer, Martin: Der Handel, Frankfurt/M.: Rütten & Loening (= Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien 1907), S. 67. 14 Vgl. Göhre, Warenhaus, S. 101. 15 Ebd. S. 139. Schon früh heißt es bei S. Fischer: „Heute hat sich der Laden zur Schaustellung, zum Museum des Gewerbes und der Industrie entwickelt.“ (Fischer, S.: Der Verkäufer [EA 1887]. Praktisches Handbuch für Verkäufer und Verkäuferinnen in allen Branchen, Berlin: Fischer 1889, S. 150).
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„Ich erinnere bei Wertheim nur an das Teppichlager, den Antiquitätensaal, die Kunstabteilung, das kunstgewerbliche Lager. Und viele gibt es, auch aus dem einfacheren Volke, die [...], ohne Aufwendung eines Pfennigs, innerlich schon reicher geworden sind an Schönheitsgefühl, Schönheitsfreude und dadurch an innerem Glück überhaupt.“16
Göhre bleibt nicht der einzige, der das zeitgenössische Warenhaus als Ort moderner Kultur feiert. So heißt es etwa bei Leo Colze: „Wenn heute in den großen Verkehrsadern der Reichshauptstadt Geschäftspalast sich an Geschäftspalast reiht, wenn lichtdurchflutete Schaufenster mit den hervorragendsten Erzeugnissen sämtlicher Industrien der Kulturvölker nicht nur zum Kauf anreizen, sondern auch rein zu unserem ästhetischen Sinn, wenn heute auch der kleine Mann in der Lage ist, sich für Preise in den Besitz von Luxusartikeln zu setzen, für die er sonst kaum brauchbare Bedarfsmasse erhielt, so ist dies einzig und allein das Verdienst des modernen Warenhausorganismus.“17
Bei Max Cohen-Reuß ist aus der erzieherischen Wirkung der Warenhäuser schließlich eine gesellschaftliche Tatsache geworden: „Man braucht nur die Arbeiterwohnungen daraufhin anzusehen; sie sind einfacher, schöner und praktischer geworden. Das wäre ohne den praktischen Anschauungsunterricht durch die Warenhäuser gar nicht zu erreichen gewesen. Es gibt gewiß in manchen Wohnungen noch allerlei überflüssigen Zierrat, der auch in Warenhäusern zu kaufen ist. Aber in den Musterzimmern, die in ihnen ausgestellt werden, findet man ihn nicht mehr. Diese Ausstellungen sind geradezu Beispiele gegen Spießbürgerheime, sie wecken neue, bessere Bedürfnisse und beseitigen alte.“18
16 Göhre, Warenhaus, S. 142. 17 Colze, Leo: Berliner Warenhäuser. Berlin u.a.: Seemann 1908 (= GroßstadtDokumente), S. 9. 18 Cohen-Reuß, Max: „Die sozialen Probleme des Warenhauses und ihre Weiterentwicklung“, in: Verband deutscher Waren und Kaufhäuser e.V. (Hg.): Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis des Warenhauses in Deutschland. Berlin: Verband deutscher Waren- und Kaufhäuser 1928, S. 116.
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In Margarete Böhmes Roman W.A.G.M.U.S. (1911), dem wohl bedeutendsten deutschen Warenhausroman vor dem Ersten Weltkrieg, wird anhand der Figur des kunstinteressierten19 Juniorchefs des Warenhauses, Friedrich Müllenmeister, demonstriert, wie der diskursive Übertrag von der Perhorreszierung des Warenhauses in mittelstandspolitisch motivierten Polemiken hin zu dessen Glorifizierung aus einer didaktisch-ästhetischen Perspektive gelingen kann. Müllenmeister sagt: „Ich halte es für die höchste Aufgabe der Kunst, mit ihrem heiligen Ernst in die Masse einzudringen, wie ein lebendiger Sauerteig darin zu gären, rohe Instinkte zu paralysieren, edlere Regungen auszulösen, überhaupt zu bilden, zu klären, zu befreien. Der gewöhnliche Mann hat weder Zeit noch Lust, ein Museum zu besuchen. [...] Kommt er nicht zu Franz Hals, kommt Franz Hals zu ihm, kommt in Gestalt eines geschmackvollen, gut ausgeführten Dreifarbendruckes, und so verschwinden die grässlichen, ölgedruckten Majestätsbeleidigungen und andere Scheußlichkeiten allmählich von den Wänden der kleinen Leute und machen guten Reproduktionen wirklicher Kunstwerke Platz. Nach und nach gewöhnen sich die Leute an die guten Bilder, die unmöglichen Öldrucke gefallen ihnen selber nicht mehr; so erzieht man der ‚Masse‘ Geschmack und Freude am wirklich Schönen.“20
Aus der negativ besetzten urbanen Masse soll durch die vom Warenhaus forcierte „Kunsterziehung“ ein positiv besetztes Volk generiert werden. Gegen einen elitären, produktionsästhetisch orientierten Kunstbegriff wird eine massentaugliche Wirkungsästhetik gesetzt, die Reproduktionen in Kauf nimmt, um das Ziel einer breitenwirksamen ästhetischen Volkserziehung zu erreichen.21 Zwischen der „hohen“ Kunst der in Museen ausgestell-
19 Müllenmeister möchte Kunstgeschichte studieren und verkehrt mit Künstlern und Schriftstellern. Böhme, Margarete: W. A. G. M. U. S. Berlin: Fontane 1911, S. 64. 20 Ebd. S. 66. 21 Vgl. „Die Volkskunst als wirtschaftsästhetisches Problem“ von Hellmuth Wolff, wo die für die damalige Diskussion zum Begriff „Volkskunst“ wichtige Unterscheidung zwischen einer Kunst fürs Volk und einer Kunst vom Volk getroffen wird. Letzteres hält Wolff angesichts des durch die Modernisierungsprozesse vollzogenen Strukturwandels in Europa nicht mehr ohne Weiteres für möglich (Wolff, Hellmuth: Die Volkskunst als wirtschaftsästhetisches Problem. Vortrag,
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ten Originalkunstwerke und dem Schund billiger und ästhetisch wenig anspruchsvoller Imitationen wird eine mittlere Ebene geschaffen, auf der sich im Warenhaus ungebildete Masse und kunstsinnige Elite begegnen können. Müllermeisters Argumentation steht in der Linie der zeitgenössischen Kritik an sogenannten „Hausgreueln“, also Gebrauchsgegenständen, die aus Sicht der damaligen Kritiker durch übertriebene Zierformen verunstaltet sind.22 Bei Müllermeister tritt der Konsument nicht mehr als Verbraucher auf, sondern als potentieller Kulturträger. Kunst wird auf diese Weise nicht allein massentauglich und konsumierbar. Das Warenhaus kann als Kulturinstitution in Szene gesetzt werden, wobei die konsumistische Kommerzialisierung der Kunst durch ihre ästhetisch-didaktische Indienstnahme systematisch verschleiert wird. Müllenmeister und in gewissem Sinne auch Göhre streben eine Fusion von Kommerz und Kunst an. Die Geschmacksexperten der Jahrhundertwende, etwa Joseph August Lux mit Der Geschmack im Alltag. Ein Buch zur Pflege des Schönen (1908), versuchen dagegen, jeden Verdacht auf eine kommerzielle Indienstnahme von Kunst und Kultur zu vermeiden. An dieser Stelle wird klar, warum die Argumentation der Geschmacksexperten in Bezug auf die Ausbildung der Kompetenzen für einen qualitätsbewussten, sozial verantwortlichen und ästhetisch ansprechenden Konsum so eigentümlich ortlos und praxisfern bleibt: Das Warenhaus kann aus ihrer Sicht niemals ein „kulturfähiger“ Ort sein.
gehalten auf dem 19. Verbandstag Deutscher Kunstgewerbevereine in Halle a. S. am 28. März 1909, Halle a. S.: Gebauer-Schwetschke, S. 28ff.). 22 Ausführlich zu diesem Thema: König, Gudrun M.: „Der gute schlechte Geschmack. Geschlechterdiskurse und Konsumkritik um 1900“, In: Christel Köhle-Hezinger/Martin Scharfe/ Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Männlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur. New York, München, Berlin: Waxmann 1999, S. 414–424. Vgl. Sombart, Werner: „Wirtschaft und Kunstgewerbe“, in: Neue deutsche Rundschau 12 1909, S. 1233–1248, hier S. 1233f. In Frankreich wird im Zuge der L’art-décorative-Bewegung eine ähnliche Diskussion wie in Deutschland geführt. Vgl. Williams, Rosalind H.: Dream Worlds. Mass Consumption in Late Nineteenth-Century France, Berkeley, Los Angeles, Oxford: University of California Press 1982, S. 162ff.
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In den Vereinigten Staaten sind es nicht Kunstmuseen, sondern Warenhäuser, in denen „modern art and American art found their first true patrons. The pastel paintings of John La Farge […] appeared in the show windows and picture galleries of the Marschall Field’s in 1902. […] The Gimpel brothers, inspired by the Armory Show23 of 1913 became among the most ardent supporters of modern art, buying up Cézannes, Picassos, and Braques, and displaying them in the store galleries in Cincinnati, New York, Cleveland, and Philadelphia. […] John Wanamaker, the man apt to advertise his stores as ‚public institutions,‘ was, not surprisingly, the most innovative merchant of all in his display of art.“ 24
Amerikanische Warenhäuser stellen jedoch nicht nur „im Atelier entstandene Arbeiten“ aus. Sie beauftragten auch Künstler „mit neuen Werken für ihre Schaufenster.“25 So nimmt es kaum Wunder, wenn 1911 in der Festschrift zur fünfzigjährigen Firmengründung der Wanamaker-Warenhäuser
23 Während der Armory Show wurden erstmals in den USA die Werke moderner europäischer Kunst ausgestellt. Die Armory Show fand vom 17. Februar bis 15. März 1913 in New York statt und hatte eine durchschlagende Wirkung nicht nur auf die zeitgenössische amerikanische Kunst, sondern veränderte den amerikanischen Kunstmarkt nachhaltig. Vgl. Brown, Milton W.: The Story of the Armory Show, New York: Joseph H. Hirschhorn Foundation 1963. 24 Leach, William: Land of Desire. Merchants, Power, and the Rise of a New American Culture, New York: Vintage 1993, S. 136. 25 Taylor, Mark C.: Duty-Free-Shopping, In: Max Hollein/Christoph Grunenberg (Hg.): Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 28.9 -1.12.2002. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 39–53, hier S. 44. Zu diesem Komplex – wenn auch nur die deutsche Entwicklung betrachtend – vgl. Rooch, Alarich: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823–1920), Oberhausen: Athena 2001. Zum historischen Einfluss industrieller Weltausstellungen auf die Gründung der ersten Kunstgewerbemuseen vgl. Wörner, Martin: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, Münster/New York: Waxmann 1999, S. 237ff.
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die Nivellierung zwischen Warenhaus und Museum programmatisch vollzogen wird.26 Was bei Göhre, Böhme und anderen Autoren auf externen Zuschreibungen und Deutungen beruht, wird bei Wanamaker internalisiert und zu einem elementaren Bestandteil der Firmengeschichte.27 Zwar stehe das Warenhaus natürlich für Wirtschaftlichkeit, nicht weniger aber auch für „color, harmony, preparation and increased happiness“.28 Dabei werde die Konsumkompetenz der Kundschaft nicht allein passiv über die im Warenhaus präsentierte Warenfülle und -diversität gefördert, sondern aktiv durch Ausstellungen und Vorträge „by men of national reputation, in Science, History, Literature, Art and Music“.29 Im Kontext dieses didaktischästhetischen Anspruches kommt Kunst eine bedeutende Rolle zu. Im Unterschied zur deutschsprachigen Diskussion wird Kunst aber nicht mit moralischen Werten verknüpft, sondern es wird von einem erweiterten, pragmatisch-utilitaristischen Kunstbegriff ausgegangen: „The woman who arranges a room charmingly, who dresses to express her personality, or serves a dinner with grace; the man who binds a book in good taste, or turns out a chair that is a pleasure, or lays out a garden to give delight – all are artists in their way. So, too, is the store that lives up to its highest ideals.“ 30
26 Hier zeigt sich, dass die Diskussion um den „Kulturwert“ des Warenhauses keineswegs nur ein deutsches Spezialthema ist, sondern dass es zeitgenössisch offenbar ein generelles Bedürfnis gibt, die Ökonomie des Warenhauses mit einem kulturellen Code zu überformen. 27 Wanamakers Selbststilisierung zum Museum steht im Kontext einer amerikanischen Debatte um die Aufgaben von modernen Kunstgewerbe- bzw. Industriedesignmuseen, von denen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehrere in den Vereinigten Staaten gegründet und teilweise auch von Warenhauskonzernen wie Wanamaker gesponsert wurden. Zu den historischen Kontexten und Debatten vgl. Leach, Land of Desire, S. 164ff. 28 Wanamaker, John: Golden Book of the Wanamaker Stores, Philadelphia: o.V. 1911, S. 238. 29 Ebd., S. 239. 30 Ebd., S. 246, 248. Schon früher heißt es: „For art and commerce have, in some degree, been enemies since the world began. A sea divided them. Whenever commerce approached the sacred shores where art dwelt in a mist of dreams, art fled, crying: ‚Back! Away! I will not be commercialized. I want none of you!
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Wanamaker bemüht sich ebenfalls um „the betterment of taste, and refinement in appreciation of the beautiful“.31 Damit wird jedoch nicht das Ziel verfolgt, eine ästhetisch ungebildete Masse zu einem ästhetisch und moralisch hochstehenden Volk zu veredeln.32 Die Wanamaker-Warenhäuser, so der Tenor der Festschrift, sehen sich mit ihren Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in direkter Konkurrenz zu Kunstmuseen.33 Hierbei kann das Warenhaus selbst zum Kunstwerk werden.34 Im Neubau des Wanamaker-Warenhauses in Philadelphia wird ein Konzert- und Ausstellungssaal mit eintausendvierhundert Sitzplätzen geschaffen. Das Haus wird innenarchitektonisch in verschiedenen repräsenta-
You cannot hope to hold me and bind me and direct me. Art and commercialism cannot live together!‘ [...] And here is a store that says: ‚Art goes hand-in-hand with commerce.‘ […] What does this mean in the life of the Wanamaker Stores? The truth is, that the quality of art comes out in everything we do. Whatever is well done, with sincerity and love of the work and a feeling for beauty, is art.“ (Ebd., S. 245.) 31 Ebd. S. 248. 32 Zum deutschen Kulturbegriff um 1900, der dem amerikanischen Kulturbegriff diametral gegenübersteht, vgl. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur: Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 33 Vgl. Wanamaker, Golden Book, S. 249. 34 Zwar heißt es auch auf der Widmungstafel des zwischen 1907–1909 erbauten Düsseldorfer Warenhaus Tietz: „Dem edlen Schönen alle Zeit / sei dieser stolze Bau geweiht!“ (zit. nach Rooch, Museum und Warenhaus, S. 141). Aber dass das Warenhaus selbst zu einem „Werk der Kunst“ wird, davon ist meines Wissens in der deutschsprachigen Diskussion nirgends die Rede (mit Ausnahme des von Alfred Messel entworfenen Berliner Wertheim-Warenhauses in der Leipziger Straße, vgl. Habel, Robert: „Das Warenhaus Wertheim – Eine Inkunabel der Moderne“, in: Elke Blauert/Robert Habel/Hans-Dieter Nägelke (Hg.): Alfred Messel 1853–1909. Visionär der Großstadt [anlässlich der Ausstellung der Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin und des Architekturmuseums der Technischen Universität Berlin, 4.11.2009–7.2.2010, Kulturforum am Potsdamer Platz]. Berlin: Ed. Minerva 2009, S. 57–64, hier S. 59). Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass andere metaphorische Zuschreibungen (Tempel, Kathedrale, Maschine usw.) die deutschen (und mitteleuropäischen) Debatten weit mehr bestimmen als der „künstlerische“ Aspekt des Warenhauses.
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tiven Stilen erbaut bzw. eingerichtet: von der Antike bis zum Jugendstil.35 Wanamaker strebt nicht nur eine funktionale und räumliche Annäherung an Konzerthallen oder Kunstmuseen an. Er versucht vielmehr das universellenzyklopädische Konzept der Weltausstellungen zu adaptieren, um Kultur und Wirtschaft, Kunst und Kapitalismus miteinander zu verschränken.36 Was in der Festschrift argumentativ auf die Spitze getrieben wird, folgt einer Entdifferenzierungslogik, die quer zu den generellen Tendenzen der funktionalen Ausdifferenzierungsprozesse der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft steht. Diese Entdifferenzierungslogik reagiert unmittelbar auf die zeitgenössische Konsumkritik. Indem Wanamaker den modernen Massenkonsum institutionell an die Hochkultur zurückbindet, greift er auf dasselbe Narrativ wie die kulturkonservative Kritik zurück, kehrt je-
35 Vgl. die Fotos in Wanamaker, Golden Book, S. 256ff. sowie Béret, Chantal: „Warenlager, Kathedrale oder Museum?“, In: Max Hollein/ Christoph Grunenberg (Hg.): Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 28.9 -1.12.2002. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 69–79, hier S. 70. Vgl. überdies die Ausführungen zum „Stubenprinzip“ der Weltausstellungen als „inszenatorische Verbindung von Exponaten mit einer korrespondierenden Raumsituation. Dieses auf den Weltausstellungen erprobte Medium der Visualisierung ethnographischer Lebenswelten wurde im Museumswesen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts populär“ mit Nachbildungen von zum Teil „komplexe[n] lebensweltliche[n] Milieus“. (Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 246) Auch auf der Weltausstellung von 1876, die anlässlich der 100-Jahr-Feier der Gründung der USA in Philadelphia stattfand, wird dieses Ausstellungsprinzip präsentiert. Vgl. Wörner, Martin: Die Welt an einem Ort. Illustrierte Geschichte der Weltausstellungen, Berlin: Reimer 2000, S. 84f. 36 Über die frühen Vorläufer der späteren Weltausstellungen, die französischen Expositions des arts de l’industrie, bemerkt Ingeborg Cleve: „Damit war politisch-administrativ eine symbolisch hoch verdichtete Konstellation von Industrieausstellung und Kunstmuseum, Publikum und Konsumenten, Industrie und Kunst, Kultur und Wirtschaft begründet, welche mit einigen Abweichungen das ganze 19. Jahrhundert hindurch bestehen blieb. Diese Konstellation war um das Problem herum organisiert, industrielle Produktionstechnik und modernen Kunstgeschmack in die Lebenswelt und das öffentliche Bewußtsein hinein zu vermitteln [...].“ (Cleve, Konsumenten, S. 554; vgl. Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 2ff. u. 237ff.)
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doch den Zeitpfeil um. Während die Narration der Konsum- und Modernekritik in die Vergangenheit zielt, ist Wanamakers Konzept fortschritts- und zukunftsorientiert. Gegen die Dystopie einer modernen Gesellschaft mit ihren dissipativen Tendenzen wird keine rückwärtsgewandte, rousseauistische Utopie einer zu sich selbst gekommenen ursprünglichen Gesellschaft gestellt, sondern die progressive Vision einer kapitalistisch orientierten Konsumgesellschaft, der es gelingt, gesellschaftliche Brüche und Verwerfungen zu überwinden. In diesem Sinne ist die von Wanamaker projektierte Versöhnung von Ökonomie und Kultur, Kommerz und Kunst tatsächlich utopisch.
* Um 1900 sind es nicht nur die Warenhausgegner, welche die soziokulturelle Wirkung von Warenhäusern überschätzen.37 Nicht weniger überschätzen
37 So heißt es etwa bei Johannes Schellwien: „Die schon erwähnte Tatsache, daß die Warenhäuser sich im allgemeinen nur auf den Masseneinkauf von wenigen Mustern einlassen können, bringt es mit sich, daß das Publikum, welches diese einheitlichen Massen desselben Musters sieht, unwillkürlich unter die Suggestion gerät, dies allein sei die neueste Mode, und Monat für Monat die Lager räumt.“ (Schellwien, Johannes: Wirtschaft und Mode. Eine volkswirtschaftliche Studie, Leipzig: Felix Dietrich 1912 [= Kultur und Fortschritt; Neue Folge der Sammlung „Sozialer Fortschritt“; Hefte für Volkswirtschaft, Sozialpolitik, Frauenfrage, Rechtspflege und Kulturinteressen 419/20], S. 30) In der antisemitischen Schrift Die Juden im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges (1913) von Theodor Fritsch heißt es: „Das Warenhaus beliebt, irgend ein ansprechendes Muster in tausendfacher oder millionenfacher Wiederholung herstellen zu lassen und dadurch andere gute Muster vom Markte zu verdrängen. Das Kunstgewerbe verliert dadurch seine Individualität; alles wird Massen-Fabrikation für den Massengeschmack.“ (Fritsch, Theodor [unter dem Pseudonym „F. RoderichStoltheim“]: Die Juden im Handel und das Geheimnis ihres Erfolges, Steglitz: Peter Hobbing 1913, S. 118f.) Demgegenüber bewertet (und überschätzt) Alfred Lichtwark die Wirkung von Schaufenstern im Sinne einer progressiv orientierten Geschmackspolitik positiv: „Das Schaufenster markiert [...] die großen Linien der Bewegung. Es ist dem Tagesgeschmack prophetisch ein gutes Stück voraus. Heute erscheint der Hut, den die fortgeschrittenste Frau in einer Woche erst aufsetzen wird.“ (Lichtwark, Alfred: Blumenkultus. Wilde Blumen, Bd. 2,
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auch die Warenhausbefürworter die positiven Wirkungen von Warenhäusern. Nur im Rahmen dieser Überschätzung wird es möglich, den Warenhäusern die Aufgabe einer didaktisch orientierten Refunktionalisierung von Kunst im Sinne der Volksbildung zuzuschreiben. Überkreuz zur Fiktion vom Untergang des mittelständischen Einzelhandels durch die Warenhäuser (schon bei Zola)38 wird ein weiterer Mythos der modernen Konsumgesellschaft geschaffen, innerhalb dessen das Warenhaus als „Akademie der modernen Lebenskultur“39 erscheinen kann. Kreativität im Sinne einer Umgestaltung der eigenen Umwelt und Person wird hier zum festen Bestandteil moderner Lebens- und Konsumkultur.
Berlin: Bruno Cassirer 1917 [EA 1897], S. 83f.; Lux, Joseph August: Der Geschmack im Alltag. Ein Buch zur Pflege des Schönen, Dresden: Küthmann 1908, S. 345.) 38 Ausführlich zur Fiktion des Untergangs des mittelständischen Einzelhandels durch die Warenhäuser und deren diskurspolitischen Funktion vgl. Lindemann, Warenhaus als Metapher. 39 Redslob, Edwin: „Künstlerische Fragen im Arbeitsbereich des Warenhauses“, in: Verband deutscher Waren und Kaufhäuser e.V. (Hg.): Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis des Warenhauses in Deutschland, Berlin: Verband deutscher Waren- und Kaufhäuser 1928, S. 119–122, hier S. 122.
Kreatives Spektakel: Ein Festzug der Gewerbe 1929 S IEGFRIED M ATTL
Konsum ist ein transversaler Gegenstand gesellschaftswissenschaftlicher Theorie geworden. Dennoch – oder gerade deshalb – gibt es keine einfachen definitorischen Zugänge, sondern je lokale Einbettungen in disziplinäre Paradigmen. Fokussiert die Sozialanthropologie auf die körperzentrierten Regeln der sozialen Reproduktion, so legt die soziologische Theorie den Schwerpunkt auf die Festigung gesellschaftlicher Positionen durch Codierung dinggebundener kultureller Werte. Die ökonomische Regulationstheorie insistiert auf einem um öffentliche Dienstleistungen und soziale Güter erweiterten Begriff, während die Cultural Studies heterodoxe Gebrauchsweisen von Waren durch Individuen und Gruppen forcieren. Die Verknüpfung von Konsum und Kreativität scheint geeignet zu sein, um die nach wie vor virulente theoretische Spannung von intentionalen und pragmatischen Dimensionen des Begriffs innerhalb der verschiedenen Diskurse zu überbrücken und in unterschiedlichen Aktivitäten von Akteuren eines Feldes aufzulösen. Ein Ereignis wie der Festzug der Gewerbe in Wien im Jahre 1929, der im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen steht, könnte als paradigmatischer Untersuchungsgegenstand dienen. Was als Repräsentation traditionsverbundener schöpferischer Arbeit geplant war entwickelte sich unter konzeptioneller Beteiligung von Künstlern und euphorischer Performance zeitgenössischer populärkultureller Stile durch einige Teilnehmergruppen zu einem Spektakel symbolischer Güter. Die referentielle Beziehung von (gewerblicher) Tätigkeit und Produkt, wie sie noch die Vorbilder des Festzuges aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert geprägt hatte, unter-
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lag – jedenfalls in der Wahrnehmung der Beobachter – der Präsentation eines generalisierten Wertes1 der Konsumtion als Triebkraft modernen Lebens, exekutiert im phantastischen Themenpark von Girl-Tanzgruppen. Diese Signifikanz des Festzuges, oder zumindest sein hybrider Charakter, stellt sich dar als Ergebnis der Kreuzung mehrerer Linien kreativer Aktivitäten, unter denen diejenige zeitgenössischer Choreografen gemeinsam mit jenen der ambitionierten Amateur-Revuetänzerinnen hervorsticht. (Allerdings fanden auch die Festgruppen mit „altwiener“ Ausrichtung und Kostümierung ihr Publikum.) Die zu Tage tretenden Asymmetrien und Ungleichgewichte während des Festzuges wie auch das Scheitern Rudolf von Labans, Pionier des modernen Ausdrucktanzes, der seinen Auftrag als künstlerischer Leiter des Unternehmens wegen Kontroversen mit dem Festkomitee zurück legte, machen jedenfalls auf die möglichen Verknüpfungen heterogener Formen von Kreativität aufmerksam, auf ihre jeweiligen Grenzen, aber auch auf die wechselseitige Unverzichtbarkeit im Prozess der Herausbildung von Konsum als gesellschaftlicher Produktivkraft. Die Unterscheidung von „low modernism“ und „high modernism“, die Scott Lash und Jonathan Friedman getroffen haben – „low modernism“ als Austausch und genuine Weiterverarbeitung, die Wissen und Werke der „high modernists“ in bestimmten Konstellationen und Wechselwirkungen mit einem Netz von Akteuren in der Alltagswelt unterhalten – enthält einige Bestimmungen, die dieses Verhältnis präziser fassbar machten.2 Allerdings verweist sie noch auf die Frage, ob es sich um ein dauerhaftes Verhältnis handelt, oder ob ihm eine bestimmte Zeit zueigen ist. Die historische Avantgarde bzw. einzelne ihrer Strömungen können mit der Historizität von Konsumtionsregimen anschaulich in Zusammenhang gebracht werden. „Für Alle auf Wunsch täglich Lunapark, Sportfliegen,
1
Goux, Jean-Joseph: Symbolic Economies. After Marx and Freud, New York: Cornell University Press 1990, insb. S. 17; Goux bietet mit seinem Verständnis von „Wert“ als relationelles Verhältnis verschiedener Stufen der Konkretion bzw. Abstraktion von austauschbaren Gütern ein Modell an, das m. E. auch auf die Beziehung von einfacher physischer und entfalteter (imaginärer) Konsumtion bezogen werden kann.
2
Vgl. Lash, Scott/Friedman, Jonathan: „Introduction: subjectivity and modernityʼs Other“, in: dies. (Hg.): Modernity and Identity, Oxford/ Cambridge, Mass.: Blackwell 1992.
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Jazzband, Eleganz, Chaplin und Schneeschuhlaufen – außerdem dann und wann Weltreisen und nötigenfalls Kuren – ist nicht minder wichtig als saubere Straße, großzügige gesunde Wohnungen.“3 Das schrieb Werner Graeff, Herausgeber der Zeitschrift G – Zeitschrift für Gestaltung schon 1923. Sein Manifest betitelte er „Vergnüglicher Überfluß durch Neue Technik“. Auch wenn er darin letzten Endes auf die Philosophie des konstruktivistischen „elementaren Gestaltens“ zurückkam und seinem Text Züge der Travestie angedeihen ließ, so bleibt dennoch festzuhalten: •
•
•
erstmals wurde hier das produktivistische Dogma des industriellen Kapitalismus verlassen und die Konsumption oder der Exzess, der ihr zugeschrieben worden ist, zum Sinn gesellschaftlicher Tätigkeit erklärt, zweitens aber: die Idee des „vergnüglichen Überflusses“ bei einem Avantgardisten wie Graeff kennt keine hierarchische Strukturierung der Konsumption nach Gütern oder Bedürfnissen; sie hat kein Zentrum, ist nicht an eine bestimmte physische Form und ebenso wenig an bestimmte Modi von Aktivität gebunden. Drittens ist zu konstatieren, dass Graeff für sein Szenario zeitgenössische kulturelle Artefakte bemüht, die sich durch Ephemeralität und Bewegung auszeichneten wie Sport, Film und Musik, und deren paradoxe Reihung („Lunapark, Sportfliegen ...“) mehr auf den euphorischen Gehalt des Aktes ihrer Konsumption verwies als auf eine Substanz.
Graeff selbst widmete sich der elementaren Konstruktion von Motorrädern und Automobilen, die für die Massen erschwinglich und frei von distinktiven Merkmalen sein sollten. So zeigt sich in seinen Arbeiten eine unbestreitbare Nähe zu den Debatten, die im Deutschen Werkbund rund um die Entwicklung eines modernen „Stils“ als Voraussetzung industrieller Massenproduktion geführt worden sind.4 Die Verankerung im „vergnüglichen
3
Graeff, Werner: „Vergnüglicher Überfluss durch neue Technik“, in: G. Material zur elementaren Gestaltung IV (1926), S. 90; vgl. auch Fest, Karin/Rahman, Sabrina/Yazdanpanah, Marie-Noelle (Hg.): Mies van der Rohe, Richter, Graeff & Co. Alltag und Design in der Avantgardezeitschrift G, Wien/Berlin: Turia + Kant 2013.
4
Vgl. Schwartz, Frederic J.: Der Werkbund. Ware und Zeichen 1900–1914, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1999, insb. S. 39ff.
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Überfluss“ steht allerdings der dort implizierten Orientierung an den Märkten entschieden entgegen. Diese Infragestellung der Ideologie und Kultur des ökonomischen Mangels durch die Emphase der Verausgabung führt, wenn man an Mike Featherstone anknüpft5, auf die populare Tradition des Karnevals und des Festes zurück. Vergnüglicher Überfluss kann nicht vom Gebrauchswert einzelner Güter den Ausgang nehmen, sondern muss das Vergnügen selbst als entfaltete Wertform einsetzen. Deshalb bedarf es der Hervorbringung von Images und Orten der Freuden des Exzesses und der Überschreitung, die Grenzen zwischen Kunst und Alltag verwischen. Es braucht, mit anderen Worten, Mediatoren, die Sinn außer- und oberhalb der konkreten Konsumption gebrauchswertreferenzierter Güter generieren. Von hier aus wird es nochmals bedeutsam sein, den Festzug der Gewerbe im Juni 1929 mit einem ähnlichen Ereignis, dem sogenannten Makart-Festzug zu Ehren des österreichischen Kaiserpaares im Jahr 1879, zu vergleichen. Der Festzug der Gewerbe am Sonntag den 9. Juni 1929 bildete den Höhepunkt der Wiener Festwochen. Die Festwochen waren erst 2 Jahre zuvor ins Leben gerufen worden und mit einem heterogenen Programm von klassischer Kunst und zeitgenössischer Unterhaltung Teil des Stadtmarketings und der Tourismusindustrie geworden. Über 7000 Mitwirkende und geschätzte 600.000 Zuseher machten den Festzug zum größten Massenereignis in der Geschichte der Stadt. Die wirtschaftlichen und politischen Desaster der nachfolgenden eineinhalb Jahrzehnte haben jedoch bewirkt, dass diese Großveranstaltung aus dem kollektiven Gedächtnis wie aus der Stadtgeschichte vollständig verbannt worden ist und uns heute als „lost cause“ im Sinne Siegfried Kracauers begegnet. Besondere Umstände gestatten es, den Festzug der Gewerbe zunächst als dystopisches Ereignis zu bezeichnen. Das Wiener Gewerbe hatte das soziale Milieu des christlichsozialen Stadtregimes zwischen 1890 und 1918 gestellt, das für seinen Antiliberalismus, Antikapitalismus, Antisemitismus und Antisozialismus berüchtigt gewesen war. Es begegnete dem sogenannten Roten Wien der Nachkriegszeit und seinem sozialreformerischen Repräsentationssystem in offener Feindschaft und mit demagogischer Propaganda, ebenso wie es die Erscheinungen des sogenannten „Amerikanismus“, d.h. standardisierte Massenproduktion, Reklame und Jazz-Kultur, bekämpfte.
5
Featherstone, Mike: Consumer Culture and Postmodernism, London/Newbury Park/New Delhi: Sage 1991, S. 22.
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Das offizielle Programmheft des Festzuges6 beharrte denn auch in seiner Rhetorik auf einer stolzen Tradition und gab als Ziel an, der internationalen Welt den soliden „Adel der Werkstätte“ als Fundament der Stadt vorzuführen, in Absetzung sowohl von der politischen wie der industriellen Mobilisierung. Darf man die Aufnahme des Festzuges in das offizielle Festwochenprogramm, seine Förderung durch den städtischen Fremdenverkehrsverband sowie die Anwesenheit der sozialdemokratischen Prominenz auf der Festtribüne als Eröffnung einer Art von lokaler Appeasement-Politik interpretieren, so deutete das inoffizielle Leitmotiv von „Einst und Jetzt“ einen Kompromiss auch auf der Ebene der Performance an. Der Rückgriff auf die Geschichte korrespondierte allerdings einem kulturellen Grundmodus der Stadt. Auch die erfolgreiche FestwochenAusstellung 1927 Wien und die Wiener im Messequartier hatte als Hybrid von Kulturausstellung und Warenmesse zeitgenössische Produkte in akkuraten historischen Kulissen und Kostümen präsentiert. Die ultimative Referenz für Wiener Festzüge stellte indes zweifellos der nach seinem Regisseur genannte Makart-Festzug 1879 dar: für den Huldigungszug anlässlich der Hochzeit von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth hatte der renommierte Salon-Maler Hans Makart 2000 Statisten in 40 Gruppen nach Albrecht Dürers Illustrationen für den Festzug Kaiser Maximilians ausgestattet. Das Festkomitee, zusammengesetzt aus den Tourismus-Fachleuten der Stadt Wien und den Vorständen der Gewerbegenossenschaften, beauftragte den Begründer des „modern dance“ Rudolf von Laban mit der Gesamtkonzeption des Festzuges.7 Da nur Fragmente seiner Designs und seiner Dramaturgie überliefert sind, ist eine vollständige Rekonstruktion von Labans Projekt nicht mehr möglich. Die überlieferten Filmaufnahmen8, selbst wiederum Fragmente, verfolgen offenkundig Repräsentationsaufgaben oder sie
6
Siehe die Broschüre Festzug der Gewerbe im Rahmen der Wiener Festwochen 1929, Wien o.J., mit Programmablauf, programmatischen Kurztexten, Namen der beteiligten Künstler und Skizzen zu ausgewählten Festgruppen.
7
Vgl. Amort, Andrea: „Die tanzende Straße. Zum Festzug der Gewerbe von Rudolf Laban 1929“; in: Dewald, Christian (Hg.): Arbeiterkino. Linke Filmkultur in der Ersten Republik, Wien: verlag filmarchiv austria 2007, S. 53–65.
8
Siehe z.B. „Gewerbefestzug“, http://stadtfilm-wien.at/film/155/ und „Bilder vom Gewerbefestzug“ 1929, http://stadtfilm-wien.at/film/170/ vom 23.2.2015.
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erliegen einzelnen standort- und zeitgebundenen Attraktionen und können das künstlerische Programm deshalb nicht exakt wiedergeben. Einige Entwurfszeichnungen deuten jedenfalls auch in den Details eine Modernität in Motiven und Inszenierung einzelner Festzugsgruppen an, die in den Filmaufnahmen und den Fotografien gegenüber den folkloristischhistorischen Selbstinszenierungen der einzelnen Berufsgruppen einerseits, den strukturierenden zeitgenössischen Girl-Tanz-Gruppen andererseits zurücktreten. Laban selbst erläuterte seine Grundidee in der Zeitschrift des staatlichen Radiosenders, der nicht nur das Programm ausstrahlte, sondern mit Nachrichtenblocks aus Lautsprechern auch Teil des Festzugs war, folgendermaßen9: Während in neuerer Zeit Schau- und Prunkwert bei öffentlichen Veranstaltungen Vorrang erhalten hätten, verknüpfe sich ihm aus älterer Tradition der Festzug mit der Idee des Kunstwerks. Seine Grundlage sei ursprünglich der Rhythmus gewesen, vor allem durch die Zusammenführung von Tanz und Musik. Die Gemeinschaftsbildung durch Rhythmus und Bewegung, so Laban, berge den wahren Sinn von Festzügen. Zeitgemäß seien dafür die neuen technischen Medien von Schallplatte und Funkübertragung einzusetzen. Der offizielle Prospekt des Festzuges gibt eine vage Vorstellung davon, wie Laban sich seine modifizierte Form des Gesamtkunstwerkes vorstellte. Zentrales Element des Festzuges waren fünf Lautsprecherwagen, die für Musik und Ankündigungen sorgten. Sie zogen den fünf Gruppen voran, in die der Zug gegliedert war. Innerhalb der Gruppen war eine elementare Untergliederung in Festwägen einzelner Professionen und Innungen, Tanzund Bewegungschor-Gruppen und in fallweise freie Repräsentationen einzelner Traditionsverbände vorgesehen. Ein präzises Zeitschema sollte die gleichförmige Bewegung des ganzen Zuges garantieren. Alle zehn Minuten sollte auf das Ertönen einer Sirene hin angehalten werden, und die ShowEinlagen sollten beginnen. Die Teilhabe des Publikums an allen Darbietungen und über die volle Länge der Ringstraße hinweg schien dadurch gesichert. In der Praxis stellte sich heraus, dass eine totale Choreographie aus Kosten- wie aus organisatorischen Gründen nicht möglich war. Der Plan die Tanzgruppen mit professionellen und semiprofessionellen Tänzerinnen zu besetzen kam zu teuer. Auch musste der Eigeninitiative partikularer Gruppen Platz eingeräumt werden, was sowohl die inhaltliche und künstle-
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Radiowoche, 7.6.1929.
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rische Gestaltung der Bühnenwägen wie die Teilnahme kleinerer, schwer zu koordinierender Fahrzeuge oder zu Fuß gehender Festzugs-Gruppen betraf. Trotz des großen Erfolges gab es daher nachträglich Kritik: der Zeitplan kippte ins Chaos, und die Lautsprecher waren zu leise eingestellt, um die ihnen zugeordneten ausgedehnten Gruppenzüge klaglos überschallen zu können.10 Labans Lebenswerk erfährt heute eine ambivalente Beurteilung. Werden sein praktischer Beitrag zum Ausdruckstanz wie seine technische Erfindung einer neuen Notation des Tanzes als Bestandteil der Künste des 20. Jahrhunderts geschätzt, so werden die esoterischen Fundierungen seiner Lehren und Projekte eher zurückgewiesen. Der amerikanische Kulturwissenschafter Michael Cowan hingegen hat herausgearbeitet, dass Labans Philosophie nicht von einem verbreiteten Diskurs über den Begriff „Rhythmus“ zu lösen ist, der ihn mit der Avantgarde und dem Dadaismus verbindet. „Rhythmus“, so Cowan, wurde in der frühen Moderne synonym mit „Leben“ oder „Lebensform“ verwendet und kritisch gegen die ökonomistischen Modelle in der Biopolitik des 19. Jahrhunderts gerichtet. Tatsächlich fruchtbar, so Cowan, erweist der Begriff sich nicht in der KunstPhilosophie der Ästhetik, sondern als semantische Stütze der Ausdifferenzierung künstlerischer Verfahren bei Avantgardisten wie Viking Eggeling und Hans Richter.11 Labans Scheitern am Projekt des von ihm intendierten Kunstwerkes Festzug überrascht daher nicht, auch wenn von seinen Anhängern letztlich dafür nicht künstlerische, sondern politische Hindernisse ins Treffen geführt wurden.12 Dennoch zeitigte es aber ganz unvermutete Erfolge eines angewandten Modernismus. Betrachten wir zur Erhärtung dieser These zunächst diejenigen künstlerischen Protagonisten, die im offiziellen Programmheft aufscheinen. Für den Festzug stellten die Komponisten Ernst Krenek, Egon Wellesz, Bruno Granichstaedten und Max Brand für den Anlass komponierte Musik
10 Vgl. die Zeitungsberichte in Die Neue Zeitung, 10.6.1929; Neue Freie Presse, 10.6.1929; Neues Wiener Tagblatt, 10.6.1929; Arbeiter-Zeitung, 10.6.1929; Reichspost, 10.6.1929. 11 Cowan, Michael: „Bewegungskunst“, in: Forschungsnetzwerk btwh (Hg.): Hans Richters Rhythmus 21. Schlüsselfilm der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 58 -72. 12 Vgl. Amort, Tanzende Strasse, S. 64.
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bei. Es handelte sich um Märsche und (hauptsächlich von Wellesz komponierte) Tänze. Leider sind die Kompositionen nicht überliefert. Bei der Begabung der Wiener Komponisten für Gebrauchsmusik ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei um konventionelle Märsche gehandelt hat. Andererseits – und das macht die Beauftragung der vier Komponisten in der Tat interessant – handelte es sich bei ihnen um öffentlich höchst umstrittene Musiker. Das traf vor allem auf Ernst Krenek zu. Kreneks sogenannte Jazz-Oper Jonny spielt auf hatte nicht lange zuvor zur Jahreswende 1928/29 bei der Aufführung an der Wiener Oper zu Protesten und Radauszenen geführt. Mit Unterstützung christlichsozialer und deutschnationaler Zeitungen griffen Kreneks Gegner die, wie sie es nannten, Besudelung der Oper durch ein „jüdisch-negerisches Komplott“ an.13 Der Komponist und Musikwissenschafter Egon Wellesz, in seinen eigenen Werken mehr dem Barock und der Klassik zugewandt, stand als Mentor der Schönberg-Schule und Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik an vorderster Front der mitunter handgreiflich ausgetragenen Konflikte zwischen Konservativen und Progressisten im Wiener Musikbetrieb. Max Brand ist die heute wahrscheinlich interessanteste Figur dieses Quadrumvirats: 1929 erschien seine sogenannte „Industrieoper“ Maschinist Hopkins, die in futuristischer Manier mechanische Geräusche und JazzPhrasen bemühte. Brand, der später Anteil an der Entwicklung des MoogSynthesizers hatte, gilt inzwischen als Ahnherr der Wiener ElektronikerSzene.14 Bruno Granichstaedten war als Operettenkomponist persönlich weniger in den Kulturkampf verstrickt, gilt allerdings wegen seiner musikalischen und dramaturgischen Amerikanismen als Umstürzler der Wiener Tradition. 1925 brachte er seine Operette Der Orlow auf die Bühnen, in der er – als Stück im Stück – eine veritable Jazzband auftreten ließ. 1930 kam seine Operette Reklame! an das Theater an der Wien, die durch Revueeinlagen,
13 Vgl. Fichna, Wolfgang: „‚Die Überfahrt beginnt‘: Schwarze Körper und Amerikanismus in Ernst Kreneks Zeitoper ‚Jonny spielt auf‘“, in: Cowan, Michael/ Sicks, Kai Marcel (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld: transcript 2005, S. 292 -304. 14 Deisl, Heinrich: Im Puls der Nacht. Sub- und Populärkultur in Wien 1955 – 1976, Wien/Berlin: Turia + Kant 2013, S. 127–129.
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Filmeffekte und die Inszenierung als Spiel im Spiel überraschte, womit er heterogene musikalische Stile integrieren konnte. Vor allem aber verblüffte Granichstaedten mit der Einführung von dramaturgisch raffiniert eingebundenem product placement für Wiener Firmen – von der Schuhcreme bis zur Glühbirne.15 Die Hauptlast beim Festzug trugen jedoch die Tänzer und Tänzerinnen und ihre Choreografen und Choreografinnen. Die beiden großen Persönlichkeiten des Wiener Reformtanzes Grete Wiesenthal und Gertrud Bodenwieser hatten Laban für sein Projekt die freie moderne Wiener Tanzszene zugeführt. Bekannte Tänzerinnen wie Ilka Zezulak, Gisa Geert oder die spätere Leiterin des Staatsopernballetts Erika Hanka-Eiselsberg traten teils mit Einzeldarbietungen, teils als Direktricen der Tanzensembles auf. Schon im Vorfeld der Festzugsplanung hatte sich dabei eine gewisse Spannung aufgetan. Auf der einen Seite, inspiriert von Meyerholds konstruktivistischem Theater, bestand wie bei Gisa Geert große Nähe zu den sozialdemokratischen Bewegungschören der agitprop-Bewegung. Die Anhängerinnen des Ausdruckstanzes hingegen vertraten ein integrales Kunstkonzept ähnlich dem des Bauhauses. Die eigentliche Attraktion bildeten beim Festzug der Gewerbe indes die an amerikanische Revuen orientierten Girl-Truppen wie die Blitzgirls des Elektrogewerbes, die Tennis-Girls des Textilgewerbes und die Kartonagen-Girls des Verpackungsgewerbes. Der Berichterstatter der konservativen christlichsozialen Tageszeitung Reichspost hielt die von ihnen ausgehende Irritation folgendermaßen fest: „Neu [...] war, dass der Zug mit ‚Tanzpiecen‘ durchsetzt war, in denen kostümlich oder durch Verwendung irgendeines Requisites (Schirmtanz, Peitschentanz, Schuhblattler – nämlich Lederhosentanz) eine Beziehung zu der betreffenden Gewerbegruppe hergestellt war, die gerade vorbeizog. Selten aber traf das ein, was wir erwartet hatten, als wir die Ankündigung von dieser Neuheit lasen, selten wurden nämlich in diesen Tänzen Rhythmus und charakteristische Bewegungen des betreffenden Gewerbes aufgenommen, und gerade dies wäre das Interessanteste gewesen. Statt dessen aber bekam man einige Male Gruppen von Girls zu sehen, als säße man in einer Revue [...] Ehrsame Gewerbegruppen, von altersher Hort biederster Gesinnung, sahen sich so in wenig erwünschten Zusammenhang mit modernstem und gar
15 Vgl. Petersen, Ulrike: Operetta after the Habsburg Empire, ph.D., Berkeley 2013, insb. S. 36ff (zu „Der Orlow“) und S. 25ff (zu „Reklame!“).
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nicht biederem Girlkult gestellt. Manche dieser Tanzgruppen ließen jenen Mangel an Bekleidung sehen, den man zwar bei Rampenlicht in Theatern nachgerade gewohnt ist, der sich aber bisher noch niemals ins helle Tageslicht und auf die offene Straße wagte.“16
Die Zusammenfügung von künstlerischen Avantgardismen und Populärkultur muss nicht zwangsläufig als Widerspruch gesehen werden. Frederic Schwartz, in seiner bereits erwähnten Studie über den Deutschen Werkbund, und darauf aufbauend Jacques Rancière haben beeindruckend analysiert, wie vor 1914 die Künstler seitens einer Allianz aus Industriellen, Wissenschaftern und Kunstkuratoren aufgerufen wurden, einen einheitlichen Stil der Industriegesellschaft zu kreieren, der Konsumption, Produktion und Kommunikation organisch verschmelzen sollte – und wie sich dies mit dem Streben nach klaren, einfachen und distinkten Zeichen als Grundlage der künstlerischen Autonomie verband: „Dieselbe Idee des abkürzenden Symbols und dieselbe Idee des Typus vereint die ideale Form und die Werbeikone.“17 Eine idiosynkratische Wirkung mochte die Begegnung von Kunst und populärer Kultur indes auf all jene ausüben, die noch auf distinkten Regeln der Repräsentation beharrten. Das war beispielweise beim sozialdemokratischen Kunstkritiker und Berater der Stadt Wien Max Ermers der Fall, der vorausschauend vom Festzug als einem „Tanz der Arbeit“ sprach, von einer ernsten und sittlichen Darstellung der Probleme, die sich „für jedes Handwerk ergeben, das den Übergang aus der künstlerischen Handarbeit in den maschinellen Großbetrieb als historisch vorgeschriebenen Weg nun einmal gehen muß“.18 So wie Ermers dürften zunächst die meisten Wiener mimetische Darstellung der gewerblichen Tätigkeiten und der folkloristischen Sonderkulturen der einzelnen Berufszweige erwartet haben, um dann statt auf die lebenden Bilder protheischer Arbeit auf die Metamorphosen der Waren und die Reifikation der Handwerker und Händler respektive von deren vornehmlich weiblichen Familienmitgliedern zu treffen. Oder anders gesagt: auf die Prominenz eines anstrengungslosen Vergnügens statt auf Adel und Fleiß der Werkstätte.
16 Reichspost, 10.6.1929, S. 1. 17 Rancière, Jacques: Politik der Bilder, Berlin: diaphanes 2005, S. 119. 18 Der Tag, 29.1.1929, S. 3f.
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Konnten sich die Anwälte der Tradition dabei allerdings auf das Vorbild des Festzuges bei der Feier der silbernen Hochzeit Ihrer Majestäten des Kaisers und der Kaiserin 1879, des sogenannten Makart-Festzuges, berufen? Ähnlich wie 1929 zogen damals tausende ehrenamtliche Komparsen über den Ring, gegliedert in „Abteilungen“, die einerseits die Geschichte des Hauses Habsburg repräsentierten, andrerseits aber auch die Stadt Wien und ihr Gewerbe.19 In das Gedächtnis eingeschrieben haben sich die vom beherrschenden Wiener Salon-Maler konzipierten Tableaux Vivants mit den Herrschergestalten sowie die allegorischen, gleichfalls historisch kostümierten Festwägen der Industrie. Dem Vergessen anheim gestellt wurde dadurch, dass die ursprüngliche Idee des Festzuges gewesen war, die Errungenschaften des Wiener liberalen Bürgertums zu demonstrieren und die nahende Vollendung des Ringstrassen-Projektes zu begehen. Geblieben von dieser Idee war immerhin ein Aufmarschblock der Gewerbevereine und Genossenschaft „im Festkleid“, eine Geste zivilgesellschaftlichen Selbstverständnisses, die allerdings durch die Beteiligung einzelner Individuen und Berufsgruppen an den Makart’schen Kostüm-Gruppen kompensiert wurde. Unzweifelhaft dominierten die ständischen traditionalen Tätigkeiten das Bild – eine Inszenierung die sich selbst noch auf die moderne Industrie, etwa die Eisenbahn-Aktiengesellschaften verkleidet als „Triumphwagen des Feuergottes“, erstreckte. Und dennoch lässt sich ein „Subtext“ ausmachen, der den Makart-Festzug in ein viel engeres Verhältnis zum Gewerbefestzug 1929 setzt als der unterschiedliche Stellenwert der „Arbeit“ in beiden Ereignissen zunächst erkennen lässt. Das eigentlich bahnbrechende am Makart-Festzug war, wie Martin Hecher in seiner Monografie zum Festzug hervorhebt, die Dirigierung einer Vielzahl von Produktionsstätten durch die beteiligten Künstler, die Durchbrechung der anonymen Massenproduktion (beispielsweise von Kleidern) durch die Künstler-Entwürfe, die seriell ausgeführt werden konnten und mussten. Die Mitglieder der Künstlergenossenschaft Künstlerhaus – darunter auch eine später so prominente Person wie Otto Wagner – erhielten die noch seltene Gelegenheit, im Wege der Einflussnahme auf die gewerbliche und industrielle Gestaltung den „Geschmack“ des „einfachen Volkes“ zu „veredeln“ (und via der vielen Repro-
19 Vgl. die zeitgenössische Darstellung in Neue Freie Presse, 28.4.1879, S. 2f.
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duktionen von Festzugs-Aufnahmen zu verbreiten), wie Hecher schreibt20 – ein ideeller Einstieg in ein Konsumtionsregime, das sich erst um 1900 mit der exklusiven Zusammenarbeit von Künstlern und Markenunternehmen entfalten sollte, und das 1929 in ein anderes, von lifestyle-Modellen instruiertes Regime hinüber glitt. Konsum, schreibt Daniel Miller in Acknowledging Consumtion, sollte nicht als eigenständiger epistemischer Gegenstand aufgefasst werden, sondern vielmehr als dialektische Beziehung zwischen regionalen und gruppenbasierten Besonderheiten, spezifischen Eigenheiten einzelner Warenformen und den allgemeinen Veränderungen in der politischen Ökonomie wie kompetitiver Kulturen.21 Vertrauen wir uns dieser methodologischen Bestimmung an, so wird der Wiener Gewerbefestzug zur großen Synthese signifikanter Ereignisse, die ziemlich exakt ab dem Jahr 1925 einen fundamentalen ökonomisch-kulturellen Wandel in Aussicht stellten. In diesem Zeitraum erfolgt die Gründung von werbewirtschaftlichen Vereinigungen und hoch profilierten Reklamezeitschriften, die Gründung von illustrierten life-style Zeitschriften wie Die Bühne, und die Einrichtung der Werbepsychologischen Forschungsstelle an der Universität Wien, die als eine der Begründerinnen der modernen Marktforschung gilt. Das rasch expandierende Radio wird, wie dessen eigene Hörerforschungen zeigen, zu einem zentralen Agenten gesellschaftlicher Ausdifferenzierung rund um Fragen von Geschmack und kulturellem Konsum.22 Neu geschaffene Institutionen wie die Wiener Internationale Messe promoten mit Hilfe des Trickfilms und komplexer kultureller Narrative ein Bild der Stadt als unendlichem Strom begehrter Waren, der selbst Vertreter der circumpolaren Völker (im Werbefilm Wien am Nordpol) nach Wien zieht. Stars aus Theater, Variété, Film und Sport werden von Großkaufhäusern aus Anlass von Okkasionen für Gastauftritte und Autogrammstunden
20 Hecher, Martin: Hans Makart und der Wiener Festzug von 1879, phil.Diss., Wien 1986, S. 273/74 u. 280. 21 Miller, Daniel: Acknowledging Consumtion. A review of new studies, London/ New York: Routledge 1995, S. 34. 22 Vgl. teils zu dieser noch ungeschriebenen Geschichte die Hinweise bei Siegfried Mattl: „Die Marke ‚Rotes Wien‘. Politik aus dem Geist der Reklame“, in: Wolfgang Kos (Hg.): kampf um die stadt. politik, kunst und alltag um 1930, Wien: Czernin Verlag 2010, S. 54–63.
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verpflichtet. Statistische Anleitungen für den Hausgebrauch ermöglichen selbst kleinen Familienbetrieben direct mailing anzuwenden. Die Monopolisierung des Plakatierungswesens durch das kommunale Unternehmen GEWISTA, das mit verschiedenen Mitteln auch auf die Topiken und die Ästhetik der Werbung Einfluss nimmt, macht Wien nach Dichte und Gestaltung zur Welthauptstadt des Werbeplakats. Neon und laufende Lichtschriften machen den Stadtraum zur Theaterbühne. Über all dem wirkt als Leitbild die Wiener Werkstätte, die einen distinkten Lebensstil kreiert und ihre Einnahmen aus dem Transfer ihrer kulturalisierten Marke auf triviale Massenprodukte wie Kopftücher und Tapeten lukriert. Die Exaltation der Ware, die sich in den wenigen Jahren der sogenannten Retablierungskonjunktur zeigt, scheint zur dominierenden Triebkraft der Modernisierung aufgestiegen zu sein. Die Konsumption beansprucht die Rolle der eigentlich dynamisierenden gesellschaftlichen Tätigkeit. Die Widersprüche, die in der lokalen Konstellation angelegt sind, lassen sich folgendermaßen umreißen: •
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Das latente Versprechen einer neuen Subjektivität, die der ubiquitären Konsumption eingeschrieben ist, begegnet der starren Form der costumer relations. Tradierte Tauschsysteme und räumliche Nahebeziehungen halten persönliche Verpflichtungen zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten aufrecht und setzen das Potential von Wahl- und Entscheidungsvermögen herab. Es fehlen jene Agenten wie Department-Stores, Massenkonsumgüterindustrien und Handelsketten, die eine gesamtökonomische Steuerungsfunktion ausüben könnten. Paradoxerweise begründete sich der Ruhm Wiens als zweite Stadt der Geschmacks- und Konsumindustrie hinter Paris auf der kleinteiligen, handwerklichen und netzwerkbasierten Produktion insbesondere im Textil- und Modegewerbe. Die Erfolge beruhten allerdings auf dem Export. Dies aber führt zugleich zu einem weiteren Widerspruch, nämlich – drittens – zur makroökonomischen Politik dieser Jahre. Die gesamtwirtschaftlich hegemonialen Grundstoffindustrien im Eigentum von Bankenkonsortien verfolgten hartnäckig die Linie einer auf Niedriglöhnen basierenden Exportwirtschaft. Ihre Politik des Lohn- und Preisdumpings unterminierte das Potential der Konsumption.
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Diese Faktoren wirkten zusammen, um der lokalen neuen Konsumkultur folgende Eigenschaften einzuschreiben zu dürfen: Sie zeigte sich als imaginär (hinsichtlich der realen ökonomischen Basis), theatralisch (als Durchquerung performativer Medien), kollektiv (durch die kooperative Teilhabe von Institutionen und Vereinigungen), synthetisierend (durch den Rückgriff auf lokale Narrative) und kompensatorisch (für das Gefühl in eine lange Phase gesellschaftlicher Stagnation eingetreten zu sein). Mit anderen Worten: wir können in diesen Jahren vor allem die Transformation des Karnevalesken, die Featherstone in Vorschlag bringt, am Werk sehen, die neue Typen von Kreativität generiert. Zur Stützung dieser These, die sich gegen die katastrophischen Topoi der Sozialgeschichte behaupten muss, soll noch ein weiteres dichtes Beispiel herangezogen werden, das die Einbettung des Festzuges der Gewerbe in die Bilder und Orte der Logik des Konsums verdeutlichen hilft. Bei diesem Beispiel handelt es sich um die sogenannte GÖC-Revue, die 1929 nicht nur in Wien und der österreichischen Provinz, sondern auch mit Gastspielen in Deutschland und der Schweiz Erfolge feierte. GÖC stand für Großeinkaufsgemeinschaft Österreichischer Consumvereine, dem Dachverband der Konsumentenorganisationen von Gewerkschaften und sozialdemokratischer Partei. Die Revue trug den Titel Der Tanz um die Welt und nahm einiges von dem, was bereits von Bruno Granichstaedtens Operette Reklame! gesagt worden ist, vorweg. Das product placement von Angeboten der GÖC war in dieser Revue naturgemäß massiver als in der Operette; und etwas banaler. Dazu heißt es in der sozialdemokratischen Illustrierten Der Kuckuck: „Von Künstlerhand entworfene Masken und lustige Einfälle sorgen dafür, dass der Tee, die Eiernudeln und die sonstigen bekannten ‚GÖC‘-Packungen mit ihren beweglichen Tanzbeinen das Publikum in bester Stimmung halten“.23 Ganz im Gegensatz zu den tayloristischen Werbestrategien des „one best practice/one best function“, die man von den Arbeiterkonsumvereinen erwarten durfte, ging es aber auch im hier eingebundenen sozialistischen Milieu um die Inszenierung eines kulturellen Überschusses – um koloniale Exotik, Begehren, Mobilität, Erotik als Treiber des Konsums, um Tanz, Spiel und Bewegung als Reich der Freiheit und Selbstverwirklichung. Dafür wirkten der Architekt, Bühnenbildner und Filmregisseur Artur Berger, die Tänzerin Maria Lenz, der Architekt und
23 Der Kuckuck, 8.12.1929.
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Graphiker George Karau, und Gisa Geert zusammen, der wir auch im Festzug prominent begegnet sind. Doch kommen wir damit abschließend auf den Festzug der Gewerbe zurück. Das Scheitern von Labans direktoralem Zuschnitt auf ein Kunstwerk hin machte gerade seinen Erfolg aus. Die netzwerkförmige Teilhabe der Kreativen und die Vielzahl autonomer Akteure generierten eine Euphorie, in der die kollektive Konsumption als gemeinschaftliche Utopie aufblitzte gegenüber den bald unverhandelbaren Klassenkulturen. Das lässt den Festzug zu einem interessanten „lost cause“ werden, und die Frage nach der Kreativität des Konsums zu einem Korrektiv historiografischer Überlieferung. Abbildung 1: Festzug der Gewerbe, Wien 1929. Tradition (Büchsenmacher)
Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv, filmarchiv der media wien
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Abbildung 2: Festzug der Gewerbe, Wien 1929. Populare Moderne („Schirm-Girls“)
Foto: Österreichisches Filmarchiv, Sammlung Apfelthaler
Material und Form Ein Gespräch zwischen Thomas Rentmeister und Dirk Hohnsträter
Dirk Hohnsträter: Wie beziehst du dich in deinen Arbeiten auf die Welt des Konsums? Interessiert dich Konsum eher als Material, als Motiv oder als Thema? Thomas Rentmeister: Der erste Berührungspunkt war die Menge. Ich habe 1999 damit begonnen, nicht nur relativ klassische Bildhauermaterialien wie Holz oder Plastik zu verwenden, sondern zum Beispiel auch Nutella. Damals habe ich eine sehr große Masse davon auf dem Boden der Kunsthalle Wilhelmshaven ausgebreitet. Ich ziehe in diesem Zusammenhang immer gerne einen Vergleich mit der Malerei, wo seit den 1950er Jahren vor allem amerikanische Künstler damit begannen, einen einzigen Farbton auf sehr große Leinwände aufzutragen und es auf die physische Wirkung von Farbe ankam. DH: Spielt bei deinen Arbeiten die Bedeutungsebene eine Rolle, also etwa durch die Thematisierung von Verschwendung, oder geht es dir ausschließlich um das bildhauerische Material? TR: Erst einmal war es ein reines bildhauerisches Material, aber im Laufe der Zeit trat auch die Reflexion des Konsums hinzu. Beispielsweise habe ich eine Arbeit gemacht, wo ich dreitausend Wurstpackungen auf dem Boden ausgebreitet habe. Da ging es dann auch um die Verschwendung von Produkten, etwa indem ich physisch wahrnehmbar gemacht habe, wie absurd es zum Beispiel ist, dass jede einzelne Wurstscheibe eine Plastikverpackung hat.
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Thomas Rentmeister: ohne Titel, 2000
Foto: Jörg Hejkal © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Thomas Rentmeister: Aufschnitt, 2011
Foto: Bernd Borchardt © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
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DH: Siehst du dich in einer Kontinuität mit dem Programm der modernen Avantgarden, Kunst und Leben zusammenzubringen und die Kluft zwischen Ausstellungsort und Alltag zu überbrücken? TR: Es gibt immer eine Verbindung zwischen Kunst und Realität. Die Kunst nährt sich ja aus der Realität und gibt auch wieder etwas zurück. Aber es ist nicht meine Intention, Kunst und Leben zu vermischen. Kunst ist Kunst und Leben ist Leben. DH: Dich reizen massenproduzierte Materialien, die nicht besonders teuer oder edel und dadurch auch sehr zugänglich sind. Inwiefern spielt der Aspekt des Billigen bei dir eine Rolle? TR: In einer neueren Arbeit verwende ich gefüllte H-Milch-Tüten und suche dafür gerade nach einer möglichst unscheinbaren Verpackung. Dass ich mich bei einigen Arbeiten für besonders billige Waren entschieden habe, ist aber auch eine Frage der Verfügbarkeit: Wie viel bekomme ich für mein Geld? DH: Gibt es einen Bezug zu deiner eigenen Konsumsozialisation? TR: Manche Produkte, die ich verwende, wie Nutella oder Penatencreme, sind mir aus meiner Jugend im Westdeutschland der 1960er und 1970er Jahre vertraut. DH: Mir fällt auf, dass deine Arbeiten immer wieder Fragen nach dem Verhältnis von Dauer und Vergänglichkeit aufwerfen. Du benutzt Materialien, die mit der Zeit verderben und sich biologisch zersetzen. Das löst auch konservatorische Diskussionen aus: Wie können die Arbeiten in der Zukunft gezeigt werden? TR: Eigentlich hätte ich es lieber, wenn meine Arbeiten weniger verletzlich wären. Als Künstler möchte ich natürlich, dass sie über einen längeren Zeitraum Bestand haben, und bei meinen Arbeiten aus Eisen ist das ja auch der Fall. Aber die H-Milch-Arbeit zum Beispiel funktioniert anders und wird irgendwann nicht mehr vorhanden sein, obwohl das ‚H‘ ja witzigerweise für ‚Haltbarkeit‘ steht. Wenn die Firma in der Zukunft die Verpackung än-
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dert, kann die Arbeit nicht mehr ohne weiteres reproduziert werden. Das ist für mich ein ungelöstes Problem. DH: Eine Faszination in deinem Schaffen ist das Weiße, wie es sich bei Materialien wie Zucker, Watte oder Penatencreme zeigt. TR: Das ergab sich aus einer Arbeit mit dem Titel Whiteware aus dem Jahr 2002, die ich im Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigt habe. Die vielen Nuancen von Weißtönen waren ein sehr schönes, sinnliches Erlebnis. Daraufhin habe ich mit verschiedenen weißen Materialien experimentiert, was schließlich in die Muda-Arbeit in Bonn gipfelte. Das war der Wahnsinn, was da bei Tageslicht für eine Palette von Weißtönen entstanden ist! Thomas Rentmeister: whiteware, 2002
Foto: Roman März © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
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Thomas Rentmeister: Muda, 2011
Foto: Bernd Borchardt © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
DH: Gehen wir einmal etwas näher auf die verschiedenen von dir verwendeten Materialien ein. Besonders häufig handelt es sich dabei um Lebensmittel: Zigaretten, Kaffee, Zucker, Nutella, Prinzenrollen, Aufschnittpackungen, Kartoffelchips, Tic Tacs, Erdnüsse, Erdnussflips, Hühnereier und sogar ein angebissener Sesamring.
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Thomas Rentmeister: ohne Titel, 2012
Foto: Bernd Borchardt © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
TR: Das war gar nicht so geplant. Ich wollte einfach das Repertoire der bildhauerischen Materialien erweitern, um innovativ arbeiten zu können. Dabei kam dann teilweise auch das Konsumthema ins Spiel, obwohl ich mich nicht darauf festlegen lassen will. DH: Eine andere Gruppe von Materialien stammt aus dem Intimbereich, wie Penatencreme, Papiertaschentücher, Toilettenpapier, Tampons und Zahnpasta. TR: Das liegt daran, dass die alle weiß sind. DH: Aus dem Hygienebereich kommen auch Unterwäsche und Schnarchpflaster hinzu.
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TR: Als Gegenpol zu den Braunfarben etwa bei den Polyesterarbeiten und bei Nutella. DH: Warum dieses Farbspektrum? TR: Letztlich geht es auf meine Jugend zurück. Wie lebten auf dem Lande, was die Mentalität betraf im Grunde genommen in den 1950er Jahren. Da gab es die Erdfarben der bäuerlichen Landschaft, in der wir unkontrolliert spielen konnten, und die Fixierung auf Sauberkeit im kleinbürgerlichen Haushalt. Ich glaube, dass dieses Spiel zwischen den beiden Polen Hygiene und Schmutz dorther kommt. DH: In beiden Fällen handelt es sich um Materialien, die einem körperlich sehr nahe kommen: die Creme schmiert man sich auf die Haut; die NussNougat-Paste verleibt man sich ein. TR: Der Mensch und sein Körper sind ja immer wieder ein Thema der Kunst. DH: Sprechen deine Arbeiten absichtlich auch den Geruchssinn an? TR: Es gibt hin und wieder welche, wo der Geruch zum Thema wird, zum Beispiel bei Chips, Nutella oder Penatencreme. Aber das kam dazu, ausgegangen bin ich vom Material. Es läge mir jedoch auch fern, den Geruch künstlich zu beseitigen. Das wäre unnatürlich.
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Thomas Rentmeister: Earthapfelroom, 2007
Foto: Bernd Borchardt © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
DH: Anfassen oder gar essen darf man nicht? TR: Nein, meine Arbeiten sind zum Anschauen gedacht und immer auf die ein oder andere Weise empfindlich, zum Beispiel durch ihre Oberflächen oder ihre Konsistenz. DH: Obwohl man die Produkte, die du verwendest, ja als Konsumobjekte kennt, die man berührt und verzehrt. TR: Genau, man kennt sie als temporäre Produkte, die sich beim Verbrauchen verändern: erst werden sie gekaut und dann im Körper zum Beispiel in Muskeln oder Speck verwandelt.
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DH: Andere Objekte hingegen, wie die Kühlschränke, dienen der Lagerung von Lebensmitteln. TR: Ich sehe es so, dass ich meine Wurzeln im Minimalismus habe, obwohl ich letztlich ganz anders arbeite. Ein Kühlschrank ist einfach ein Kubus, und 20 Kuben aneinandergestellt sehen aus wie Kunst der 1960er Jahre. DH: Der Einkaufswagen hingegen hat eine komplexere Form. TR: Der Einkaufswagen ist ein Fundstück und liegt – wenn man so will – eher auf der Duchamp-Schiene, in der Tradition der Readymades. DH: Sehr häufig verwendest du auch Material aus dem Baumarkt. TR: Das liegt wieder an der Verfügbarkeit und mag auch mit meiner Bequemlichkeit zu tun haben. DH: Da bist du dann ein Kind der Konsumkultur. TR: So gesehen, ja. Wobei meine Polyesterarbeiten, die ich zehn Jahre lang gemacht habe, genau das Gegenteil waren. Da habe ich mit einer Badewannenfirma eine aufwändige Technik und ein besonderes Material entwickelt. DH: Bei den Titeln deiner Arbeiten bist du sehr präzise und verwendest die Markennamen der Produkte, also zum Beispiel nicht ‚Handcreme‘ sondern ‚Penatencreme‘. Warum?
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Thomas Rentmeister: Nearly 100 fridges in a corner, 2008
Foto: Grant Hancock © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
TR: Das liegt einfach daran, dass diese Namen so bekannt sind und ich von deren Bekanntheit profitiere. DH: Du bist also ein Teil der Markenkultur ... TR: Ich untergrabe aber auch ein wenig die Markenkultur. Es gab Anfragen von Firmen, ob ich denn überhaupt die Erlaubnis hätte, das Material zu verwenden. Manche Firmen beäugen durchaus kritisch, was ich mache, je nachdem, welche Form eine Arbeit hat und welche Assoziationen sie auslöst. DH: Haben Firmen auch schon mal etwas angekauft, vielleicht auch, um eine Arbeit aus dem Verkehr zu ziehen?
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TR: Nein. Das fände ich dann auch problematisch, ebenso wie ein Sponsoring. Das wäre mir zu affirmativ. Johnson & Johnson, die Hersteller von Penatencreme, haben aber einmal darum gebeten, zwei Arbeiten in ihrer Mitarbeiterzeitschrift abbilden zu dürfen. Außerdem gab es den Fall, dass Frau Hoppe-Ritter von Ritter Sport eine von mir schon vor dem Kontakt geplante Arbeit finanziert und gekauft hat, nämlich eine Ritter Sport Tafel aus Eisen. Thomas Rentmeister: Eisenschokolade, 2012
Foto: Bernd Borchardt © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
DH: Wie sieht es mit Deinem Interesse an der unschönen Rückseite der Konsumkultur aus, am Unreinen, an Müll und Abfall? TR: Das ist in den Installationen inbegriffen. Ich frage mich ja auch, was mit den Arbeiten nach einer Ausstellung passiert. Die Frage nach der Entsorgung schlummert gewissermaßen in den Arbeiten. DH: Gilt das auch für andere Aspekte der Konsumkritik wie schlechte Produktionsbedingungen oder fehlende Nachhaltigkeit?
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TR: Nur im Ausnahmefall, wie bei der Wurst-Arbeit im Wilhelm-HackMuseum in Ludwigshafen. DH: Welche Rolle spielt die Ironie in Deiner Arbeit? Ich denke etwa an den Titel Kaffeelatte von 2007. TR: Das ist vielleicht eine Referenz an Kippenberger. Humor ist jedenfalls sehr wichtig für mich. DH: Aber letztlich geht es dir um Material und Form? TR: Ja. Wenn ich zum Beispiel mit Taschentuchpackungen etwas mache, dann haben die eine serielle Struktur, sind aber dennoch nie gleich. Weil es weiche Materialien sind, sind sie immer ein wenig anders. Diese Mikroveränderungen finde ich faszinierend. Da umspielt etwas Chaotisches die Strenge der Minimal Art. DH: Der Konsumkultur wird ja oft vorgehalten, dass sie durch immer gleiche Produkte uniformisiere. Du hingegen sagst, wenn man genau hinschaut, nimmt man feine Unterschiede wahr. TR: Genau. Und wenn man sie in einer bestimmten Art arrangiert, dann denkt man diese Unterschiede.
Kunstsammler als ‚role model‘ für kreative Konsumenten W OLFGANG U LLRICH
Am 16. April 2007 wurden bei Christie’s in Paris ausnahmsweise keine Kunstwerke, sondern Skelette und Fossilien versteigert. Am meisten Aufsehen erregte schon im Vorfeld das komplette Skelett eines Mammuts, 15.000 Jahre alt, das schließlich für 260.000 Euro den Besitzer wechselte. Das Skelett eines eiszeitlichen Wollnashorns brachte immerhin noch 100.000 Euro. Insgesamt wurden 87 Stücke aufgerufen, wobei das älteste ein Überrest eines 400 Millionen Jahre alten Gliederfüßlers war. Doch das Bemerkenswerteste an der Aktion dürfte sein, dass nicht etwa Naturforscher oder Paläontologen die erfolgreichen Bieter waren, sondern, folgt man den Medienberichten, mehrere Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst diese Stücke erwarben.1 Was aber soll ein Kunstsammler mit Versteinerungen und Skeletten, ja mit ‚Werken‘ der Natur anfangen? Geht es hier um die Wiedererfindung einer Kunst- und Wunderkammer? Oder um einen merkwürdigen Spleen? Oder einfach nur um Anlagenotstand? Interessant ist dieses Beispiel, weil seine Deutung zugleich ein Phänomen zu erklären erlaubt, das seit etlichen Jahren manifest geworden ist. So wird das Thema ‚Sammeln‘ in den Medien breit behandelt, doch wird meist nur ein Typ von Sammler mit Homestories, Interviews und Berichten geehrt: Nur wer moderne und zeitgenössische Kunst sammelt, darf damit rechnen, vermehrt Aufmerksamkeit zu bekommen, ja gar zu einem öffentli-
1
Vgl. „Mammutpreise. Rekorde für Fossilien in Paris“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2007.
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chen Ereignis zu werden. Wer sich auf ältere Kunst, auf Möbel oder Uhren oder gar auf Briefmarken verlegt hat, taucht hingegen höchstens in Fachorganen auf, hat aber weder in Lifestyle- noch in People-Magazinen, weder in einem Premium-Feuilleton noch in einem Kulturfeature seinen Platz. Was also haben Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst an sich, dass sie offenbar mehr Neugier auslösen als andere Sammler – und dass sie offenbar auch und gerade bei einem breiten Publikum Interesse wecken, also bei Menschen, die überwiegend selbst keine Sammler sind? Die Antwort auf diese Frage ist zugleich die These dieses Beitrags: Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst fungieren als ‚role model‘; ihr Status, dem sie ihre große Medienresonanz verdanken, ist der von Leitfiguren. Dabei stellen sie weniger ein Vorbild für andere Sammler als vielmehr für einen Typ von Mensch dar, der in der heutigen Wohlstandsgesellschaft weit verbreitet und von großer Bedeutung ist und den man als kreativen Konsumenten bezeichnen kann. Der kreative Konsument nimmt, soziologisch betrachtet, ungefähr die Stelle ein, die über etliche Generationen hinweg – seit dem 18. Jahrhundert – der Bildungsbürger innehatte. Anders als dieser ist der kreative Konsument jemand, der seine Identität und sein Selbstverständnis weniger über Bildung in Literatur, Theater oder Musik, sondern wesentlich über die Art seines Konsums definiert, reflektiert und gestaltet – der Konsumentscheidungen also auch entsprechend bewusst und differenziert trifft. Inwiefern aber können nun gerade Sammler zum Vorbild für kreative Konsumenten werden? Heißt Sammeln nicht Bewahren und Konsumieren nicht Verbrauchen? Ist Konsumieren also nicht gerade das Gegenteil von Sammeln? Und besteht das Sammeln nicht vor allem darin, Dinge aus ihrer Gebrauchswelt herauszunehmen, ihnen ihre übliche Bedeutung zu nehmen und sie durch das Einordnen in eine Sammlung mit einer neuen Bedeutung zu versehen? Wer Waffen sammelt, hat bekanntlich gerade nicht vor, damit in den Kampf zu ziehen, sondern interessiert sich für ihre Formen, ihren Schmuck, ihre Herkunft, ihre Vorgeschichte etc. Sammler waren die ersten Menschen, die Dinge nicht in ihrem Gebrauchswert betrachteten, ja die erkannten, dass Dinge auch anders und neu gesehen werden können. Gerade damit aber sind sie Vorboten einer entwickelten Konsumgesellschaft. Je mehr Dinge zu Marken geworden sind und je mehr die Werbung Produkte mit einem Image versehen hat, desto weniger geht es nämlich auch im alltäglichen Konsum noch um Gebrauchswerte. Und je weniger
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sich Produkte mittlerweile im Gebrauchswert erschöpfen, desto weniger ist Konsum auch noch eine Sache des Verbrauchens. Vielmehr spielt für den Konsumenten genauso wie für den Sammler die Auswahl und Kombination von Gütern eine maßgebliche Rolle, die vor allem wegen eines ideellen – eines ästhetischen, emotionalen, fiktionalen oder moralischen – Werts Begehren wecken. Konsumieren heißt heutzutage also ähnlich wie Sammeln, dass man inmitten einer schwer überschaubaren Angebotsvielfalt nach dem sucht, was einen besonders anspricht (und nicht nach dem, was man am dringendsten braucht). Und wie ein Sammler seine Individualität dadurch beweisen kann, dass er ein spezielles Sammelgebiet definiert, so hat auch der kreative Konsument den Anspruch, einen eigenen Stil zu entwickeln und sich mit den Dingen zu umgeben, die ihn besonders stimulieren, ja die für ihn keine beliebigen Produkte sind, sondern zu denen er eine persönliche, vielleicht sogar innige Beziehung aufbauen kann. Manchmal arbeitet das Marketing auch eigens darauf hin, dass es den Konsumenten leicht fällt, das, was sie erwerben, wie Sammelstücke zu betrachten. So sei hier an die beliebte Usance erinnert, ein Produkt – von der Tafel Schokolade bis zum Automodell – als ‚limited edition‘ zu deklarieren. Auch wenn kaum einmal angegeben ist, in welcher Auflagenhöhe ein solches Produkt existiert, scheint allein der Hinweis auf seine Limitiertheit adelnd zu wirken: Das jeweilige Stück wird dann nicht mehr hinsichtlich seines Gebrauchswerts wahrgenommen; vielmehr erhält es die Aura des Exklusiven und Bedeutsamen, wobei offen bleibt, worin die besondere Bedeutung besteht. Sie zu bestimmen, ja den semantischen Spielraum zu nutzen, der dadurch geschaffen wird, ist dem einzelnen ‚Sammler‘ und Konsumenten überlassen. Wird hier also ein Produkt geschickt zur Projektionsfläche gemacht, das jedem die Freiheit lässt, sich etwas anderes – in jedem Fall aber etwas Großes – davon zu versprechen, trifft man in vielen anderen Fällen auf spezifische Codierungen. Selbst in den meisten alltäglichen Produkten stecken mittlerweile ähnlich starke Bedeutungen wie in Kunstwerken oder in Texten, weshalb das Konsumieren oft auch eine hermeneutische Beschäftigung geworden ist. Daher gibt es inzwischen auch Konsumversager, ja Konsumanalphabeten. Sie sind diejenigen, die diese Codes nicht lesen können oder sie missverstehen. Den höchsten Konsum-IQ hingegen besitzt, wer verschieden codierte Dinge nicht nur richtig einordnet, sondern darüber hinaus überraschend kombiniert und so mit zusätzlicher Bedeutung versieht. Das
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Vorbild dafür ist aber wieder der Sammler, der, historisch gesehen, als erster begriff, dass Dinge auch und gerade jenseits der üblichen – und vorgesehenen – Kontexte einen Wert entwickeln oder entfalten können, ja der ein Meister darin ist, Dinge so zu vereinen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Wie ein Sammler verhält sich somit auch ein ambitionierter Konsument im besten Fall kreativ. Diese Analogie von Sammler und kreativem Konsument erlaubt es auch erst, letzteren zum Nachfolger des Bildungsbürgers zu erklären. Dieser beschränkte sich bekanntlich ebenfalls nicht darauf, Gedichte oder eine Klaviersonate zu interpretieren, sondern er wollte ihnen einen Mehrwert abgewinnen, weshalb er nach Bezügen zwischen verschiedenen Werken Ausschau hielt und Zusammenhänge suchte, die bis dahin noch niemand bemerkt hatte. Ihm ging es darum, sich mit der Auslegung von Werken Individualität zu erwerben. Zu erläutern, was den heutigen Konsumenten mit dem Sammler im allgemeinen verbindet, genügt jedoch noch nicht, um die These zu begründen, dass gerade der Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst als ‚role model‘ wirkt und daher auch mehr öffentliche Aufmerksamkeit genießt als andere Spezies von Sammlern. Dafür scheint es aber sogar mehrere Gründe zu geben. Einer besteht darin, dass moderne Kunst in Reinkultur repräsentiert, was die heutige Konsumgüterwelt insgesamt kennzeichnet. So sind Kunstwerke seit der Autonomisierung der Kunst von vornherein von konkreten Gebrauchswertansprüchen befreit und dafür dadurch ausgezeichnet, dass sie eine Aura des Besonderen besitzen, intensive Lebensgefühle ermöglichen und zu Träumen veranlassen. Kunst ist daher die stärkste – und vielleicht auch die erste – der modernen Marken. Wozu Nokia, Mercedes, Prada oder die Deutsche Bank erst nach und nach werden und geworden sind, das ist die Kunst schon ungefähr eineinhalb Jahrhunderte länger.2 Muss ein Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst also das, was er erwirbt, gar nicht mehr eigens aus einer Gebrauchswertbindung herauslösen, so liefert er mit seinem Tun ein anschauliches Bild für eine Konsumgesellschaft, in der sich für viele Menschen Heimat durch symbolisch aufgeladene Markenartikel konstituiert und in der sich zahlreiche Individuen
2
Vgl. dazu Wolfgang Ullrich: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht, Berlin: Klaus Wagenbach 2000, S. 84–119.
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über das Image einzelner Marken definieren. Der Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst lebt eindrucksvoll vor, wie man aus Dingen, die besondere Bedeutsamkeit verheißen, eine eigene Identität aufbauen, ja wie man umfangreich konsumieren kann, ohne deshalb in den Verdacht zu geraten, nur oberflächlich zu sein und lediglich nach Ersatzbefriedigungen zu streben. Der Kunstsammler ist vermutlich sogar der einzige und erste Typ von Konsument, der nicht zum Opfer kulturkritischer und konsumfeindlicher Vorurteile wird. So gerät er zum Hoffnungszeichen aller kreativen Konsumenten, die sich auch nicht länger als Agenten des ‚schnöden Mammon‘ diskriminieren lassen wollen. Findet der Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst also einerseits als Präludium einer konsumfreundlicheren Gesellschaft Eingang in die Medien, so hat er seine Prominenz andererseits einigen Fähigkeiten zu verdanken, die jeder ehrgeizige Konsument ebenfalls gerne hätte, um sich von anderen – weniger individuellen – Konsumenten unterscheiden zu können. Während sich viele andere Sammler auf einem klar definierten Feld bewegen und darauf bedacht sind, Lücken zu schließen, hat es der Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst mit einem extrem offenen Terrain zu tun. Hier ist nicht einmal klar, was alles zur Auswahl steht, und erst recht lässt sich nicht feststellen, welche künstlerischen Positionen – welche Kunst-Marken – künftig als besonders wichtig und wertvoll gelten und was sich nur als eine kurze Blüte erweisen wird. So kann der Sammler der Prinz sein, der in einem Aschenputtel als erster die mögliche Prinzessin erkennt, der aber auch sonst Übersehenes allein durch seine Auswahl aufwertet und so erst zu einer eigenen Marke macht. Er verlässt sich also häufig nicht auf das Bekannte und Bewährte, sondern bringt Mut und Findigkeit auf, sonst wenig Beachtetes in den Mittelpunkt zu stellen oder gewitzt mit bereits Etabliertem zu kombinieren. Genauso findet aber auch der Konsument am meisten Wertschätzung, der, statt sich nur auf bereits etablierte und hochpreisige Marken zu beschränken, ebenfalls in einem Second-Hand-Shop, bei einer jugendlichen Szene oder auf einer Fernreise etwas entdeckt, das sich interessant mit anderem kombinieren lässt, ja das Bekanntem einen neuen Dreh verleiht. Vielleicht wird daraus dann sogar eine Mode. So wie der Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst Rezeptionsmodi ausprägt und vorgibt, in welchen Zusammenhängen bestimmte Positionen betrachtet und wie sie
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bewertet werden, kann der avancierte und kreative Konsument neue Konsummuster etablieren. Von besonderem spekulativem Reiz ist natürlich auch, dass der Sammler von erheblichen Wertsteigerungen profitiert, wenn er als einer der ersten etwas entdeckt und mit Erfolg darauf hingearbeitet hat, es durchzusetzen. Tatsächlich verzichtet kaum eine Homestory über einen Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst darauf, seine Originalität und Spürnase damit zu würdigen, dass von entsprechenden Verwandlungen des zuerst von allen Missachteten in ein höchst begehrtes Sammelobjekt berichtet wird. Das liest sich etwa so: „Manchmal hat er Objekte gekauft, die unter 1000 Mark kosten. Heute sind sie hundertmal so viel wert.“3 „Alles, was heute gut und teuer ist: Damals wollte es niemand haben.“4 „Inzwischen sind die Preise explodiert.“5 Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst sind, so der Eindruck, schneller als andere und daher Helden des Konsums, Vorhut aller Schnäppchen-Jäger. Sie machen musterhaft vor, dass Konsum auch insofern kreativ sein kann, als er wertschöpfend wirkt, also unversehens zur Investition wird. Ihnen gelingt es nicht nur, etwas Einzigartiges zu erwerben, sondern damit sogar noch etwas zu verdienen. Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst wecken aber auch – im Unterschied zu anderen Sammlern – regelrecht Ehrfurcht. Wer nämlich traut sich auf diesem Feld schon Kompetenz und Geschmackssicherheit zu? Vielmehr gilt kaum etwas als so schwierig, hermetisch, spröde, unabwägbar wie moderne bildende Kunst. Wer hier einsteigt und gar noch früh auf etwas setzt, das einmal besonders erfolgreich wird, dem traut man daher zu, erst recht in anderen – leichter zugänglichen – Bereichen genau entscheiden zu können, was gut ist und was sich lohnt. Wer das schwierige Terrain der Kunst meistert – so die Vorstellung –, wird überall als Souverän des Konsums auftreten. Zudem mag es die mediale Aufmerksamkeit der Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst begünstigen, dass bei ihnen oft große Summen
3
Christoph Hardt: „Das Geheimnis hinter der Kamelhaardecke“, in: Handelsblatt vom 19. April 2005, S. 18.
4
Cornelius Tittel: „Die lauen Nächte mit Helmut und June“, in: Welt am Sonntag vom 6. Februar 2005, S. 59.
5
Christiane Fricke: „Der Controller und die Bilder“, in: Handelsblatt vom 12. April 2005, S. 18.
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im Spiel sind. Das trifft zwar für viele andere Sammler ebenfalls zu, doch während sich Laien im allgemeinen leicht begreiflich machen lässt, warum ein alter Porzellanteller, das Manuskript eines berühmten Romans oder eine Stradivari-Geige viel kosten, besitzt ein hoher Preis bei einem Stück moderner Kunst oft den Charakter einer Sensation, für manche sogar den eines Skandals. Weil sich trashige Installationen, gestisch-flott gemalte Bilder oder Videofilme vielen Betrachtern in ihrem Sinn verschließen, spüren sie eine Differenz zwischen ihrem eigenen Wertempfinden und dem Marktpreis. Im Sammler sehen sie daher jemand, der sich in einem existenzialistischen, gar absurd anmutenden Akt verausgabt, der es also auch ernster mit der Kunst meinen muss als alle anderen, die Geld damit verdienen oder ‚nur‘ darüber schreiben und sie ‚nur‘ kuratieren. Soweit Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst als spektakuläre Konsumenten auftreten, besitzen sie auch einen Event- oder GlamourFaktor. Dieser führt dazu, dass sie ziemlich oft in Zeitungen und Zeitschriften auftauchen und es sogar zu festen Größen des Boulevards bringen können. Sie sind dann geheimnisvoll-schillernde Figuren, die faszinieren, weil sie etwas tun, was die meisten nicht einmal täten, wenn sie das Geld dafür übrig hätten. Den Sammlern moderner und zeitgenössischer Kunst ist es somit zu verdanken, wenn der Konsum vom Verdacht, nur etwas Profanes zu sein, befreit wird. Sie leben vor, dass man sich allein mit Geldausgeben eine Aura von Andersheit verschaffen kann. An dieser Stelle lässt sich auch an die Einleitung anknüpfen. Dass einige Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst offenbar damit begonnen haben, sich noch für ganz anderes – eben etwa für Fossilien und alte Skelette – zu interessieren, dürfte nämlich ihrem Wunsch geschuldet sein, ihre Aura des Rätselhaften weiter zu steigern. Ihnen ist bewusst, dass sie mit solchen Aktionen die Faszination, die man ihnen entgegenbringt, nochmals erheblich stimulieren, sie also umso mehr als konsumistisch originell gewürdigt werden können. Der Verblüffungseffekt ist natürlich am stärksten, wenn eine Sammlung moderner Kunst um Stücke ältester Natur – und nicht etwa um vormoderne Kunst oder zeitgenössisches Kunstgewerbe – ergänzt wird. Der Kontrast ist dann maximal, die Chance, sich von anderen Sammlern abzusetzen, sehr groß, die Gelegenheit, die ohnehin erwarteten Eigenschaften Mut, Findigkeit und Originalität unter Beweis zu stellen, besser denn je.
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Doch damit nicht genug. Wenn ein Sammler, der sich eigentlich auf zeitgenössische Kunst spezialisiert hat, in seine Sammlung genauso NichtKunst aufnimmt, dann offenbart er spektakulär seinen Anspruch, allem einen Mehrwert abgewinnen zu wollen. Er begnügt sich nicht mit den Bedeutungen, die die Künstler selbst ihren (von ihm gesammelten) Werken zugedacht haben, hält sich auch nicht an Einordnungen, die die Kunstkritik oder -wissenschaft vornimmt, sondern prüft, ob nicht noch ganz andere – zusätzliche – Sinnschichten entdeckt oder aufgebaut werden können: Erscheint eine Installation von Jonathan Meese nicht noch viel archaischer, wenn sie auf einmal in der Nachbarschaft eines Mammut-Skeletts steht? Und wie wirken Blätter Hanne Darbovens, wenn im selben Raum Vitrinen stehen, in denen Versteinerungen gezeigt werden? Tatsächlich sind viele Sammler in den letzten Jahren generell experimentierfreudiger und offener geworden; sie kombinieren freier, vielfältiger, ohne Rücksicht auf von vornherein gegebene Zusammenhänge. Während es bis vor kurzem fast nur Kunstsammler gab, die sich entweder für alte oder ausschließlich für moderne Kunst engagieren, tauchen inzwischen ebenso Sammler auf, die Werke verschiedener Epochen besitzen. Auf der Website eines dieses Typs heißt es: „Historische Rückblicke auf Zeitlos-Existentielles werden mit Sichtweisen auf Aktuelles und Zeitgenössisches kombiniert. Dabei werden Überraschungen und Widersprüche bewusst in Kauf genommen, die Arbeiten sollen irritieren und zu einem neuen Blick auf die Welt verhelfen.“6 Dass Konsum etwas Produktives, Aktives, Kreatives sein kann, dürfte selten einmal so anschaulich geworden sein. Wenn Sammler Gattungsgrenzen überschreiten und in eine Kunstsammlung Dinge aufnehmen, die sonst nicht zur Kunst gezählt werden, sind sie sogar so kreativ, dass man in ihnen nicht nur Vorbilder ambitionierter Konsumenten, sondern genauso Pendants der Künstler sehen kann. Immerhin gehört es seit den Readymades von Marcel Duchamp zu den beliebtesten Strategien moderner Kunst, Dinge zu Kunst zu erklären, die bis dahin nie als solche galten. Die Leistung vieler Künstler besteht seit einigen Jahrzehnten gerade darin, Dinge zu identifizieren, die besonders bedeutungsstark, rätselhaft, komisch oder provozierend wirken, wenn sie auf einmal in einer Galerie auftauchen. Staubsauger und Basketbälle, ausgestopfte Tiere und Medikamentenfläschchen, Lokalzeitungsfotos und Wer-
6
http://www.me-berlin.com/#/ueber-uns vom 02.03.2015.
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beanzeigen gelangten auf diese Weise bereits zu einem Nimbus von Kunst. Auch künstlerische Produktivität besteht somit oft nicht mehr darin, eigens etwas herzustellen und handwerklich mit Material umzugehen; vielmehr sind zahlreiche Künstler Bedeutungsstifter und Meister geschickter Transfers und Konstellationen. Boris Groys bezeichnet die Künstler aus diesem Grund auch als „vorbildliche Konsumenten“ – und führt diesen Gedanken folgendermaßen weiter aus: „Kein Künstler will heute den Anspruch erheben, am Ursprung seines Werks zu stehen oder Bedeutungen und Formen originär zu produzieren. Die Kunst steht heute nicht mehr am Ursprung des Kunstwerks, sondern an dessen Ende. Die Signatur eines Künstlers bedeutet nicht mehr, daß der Künstler einen bestimmten Gegenstand produziert hat, sondern daß er [...] diesen Gegenstand verwendet hat – und zwar auf eine besonders interessante Art und Weise.“7
Sammler, die ihrerseits dazu übergehen, Kunstfremdes in eine Kunstsammlung zu integrieren, haben also von Künstlern gelernt, wie man Aufsehen erregen und Bedeutungen verändern kann. Zugleich aber sorgen sie dafür, dass nun sie und nicht länger die Künstler am Ende der Werke stehen. Geben die Künstler einem bereits vorhandenen Ding eine neue Bedeutung, indem sie es zu Kunst deklarieren, so fügen die Sammler ihm eine weitere Bedeutung hinzu, wenn sie es in einen unerwarteten Sammlungszusammenhang stellen und mit anderer Kunst oder sogar mit Kunstfremdem wie einem Mammut-Skelett in Beziehung bringen. Wenn sie ein Interesse daran hätten, könnten sie die Bedeutungssetzung der Künstler sogar rückgängig machen. Stünde etwa ein in ein Formaldehyd-Bassin eingelegter Haifisch von Damien Hirst oder ein Expeditionskoffer mit Tier- und Pflanzenproben von Marc Dion plötzlich neben jenem Mammut-Skelett, dann würden diese Werke gleichsam renaturalisiert und von Artefakten wieder zu biologischen Exempeln. Doch gibt es keinen Grund für Sammler, solche Konstellationen zu suchen, riskierten sie damit doch den Kunstwert ihrer Stücke. Eher gehen sie also umgekehrt vor und achten darauf, wie sich der Eindruck eines Werks durch starke Nachbarschaften steigern lässt.
7
Boris Groys: „Der Künstler als Konsument“, in: ders.: Topologie der Kunst, München: Hanser 2003, S. 47–58, hier S. 49f.
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Wenn Kunstsammler sich aber einerseits mit Künstlern vergleichen, andererseits jedoch als Avantgarde für reflektierte und kreative Konsumenten auffassen lassen, dann nehmen sie auch eine vermittelnde Funktion zwischen beiden ein. Fiele es einem ambitionierten Konsumenten schwer, sich gleich als Künstler auszugeben, so kann er über die Figur des Sammlers erkennen, dass er mit diesem eine besonders hohe Sensibilität bei Kaufentscheidungen teilt – kann aber zugleich sehen, dass der Sammler sein Gespür für Kombinationen am Beispiel künstlerischer Strategien entwickelt hat. Der Sammler moderner und zeitgenössischer Kunst profitiert von seiner Zwischenstellung, was auch nochmals seine besondere Würdigung in diversen Medien erklärt. So bereichert sich sein Image um die Facette des Kreativen und Künstlerischen, doch ebenso liefert er als Vorbild des Konsumenten das ‚role model‘ für sehr viele Menschen. Er vereint in sich also die Autorität des Besonderen mit der Relevanz des allgemein Erstrebten. Er ist die Figur, die wie kaum eine zweite repräsentativ für die heutige Gesellschaft ist, die aber nicht minder dazu beiträgt, dass kreative Konsumenten einen Resonanzraum finden, in dem sie sich weiter entfalten können.
Der Museumsshop oder: Vom kreativen Wert der Dinge S TEFAN K RANKENHAGEN
Gibt es ein Museum ohne Museumsshop? Seit das Metropolitan Museum in New York im Jahr 1908 seinen ersten von heute über fünfzehn Museumsshops weltweit eröffnete, ist ein ausdifferenziertes Warenangebot zu einem der bestimmenden Faktoren der ökonomischen aber auch der symbolischen Ausrichtung von Museen geworden: „However late the discovery was in coming to museums, no one can now accuse them of backwardness in exploiting it“.1 Jedenfalls kenne ich genau ein Museum, in dem weder Kaffee noch Kataloge, weder Plakate noch Postkarten verkauft werden. Das Museum – es ist die National Gallery in Kapstadt/Südafrika – hat mich schon aufgrund dieses Mangels begeistert und verwirrt. Denn der Museumsshop
1
Harris, Neil: „Museums, merchandising and popular taste: the struggle for influence“, in: Quimbly, I.M.G. (Hg.), Material Culture and the Study of American Life, Winterthur, Del.: Henry Francis du Pont Winterthur Museum 1978, S. 140–174, hier S. 172. Die Zahlen für den amerikanischen wie auch den deutschen Markt sind nicht mehr aktuell aber dennoch aussagekräftig. Vgl. Anheier, Helmut K./Toepler, Stefan: „Commerce and the muse: are art museums becoming commercial?“, in: Weisbrod, Burton A. (Hg.), To profit or not to profit: the commercial transformation of the nonprofit sector, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 233–248; Günter, Bernd/Graf, Bernhard: „Museumsshops
– ein Marketinginstrument von Museen“, in: Mitteilungen und Berichte aus dem Institut für Museumskunde, Nr. 28. Berlin: Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz 2004.
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ist Teil und ist nicht Teil des exhibitionary complex des Museums, jener nicht aufzulösenden Sinnbeziehung zwischen architektonischem und symbolischem Gehalt, zwischen ausstellenden und wahrnehmenden Praktiken, zwischen wertvollen und wertlosen Dingen im Museum: „[The shop] is there as part of a cultural dialogue with and about things – a dialogue played out through the sameness and difference of shops and museums.“2 In diesem Dialog mit den Dingen ist der Museumsshop die sichtbarste Markierung einer Unterscheidung zwischen musealen Objekten einerseits und käuflichen Waren andererseits. Im Museumsshop wird anschaulich, welchen Wert die Dinge im Museum im Verhältnis zum Wert der Dinge außerhalb des Museums haben. Denn der Museumsshop verhandelt die Grenzziehung zwischen käuflichen und nicht-käuflichen Dingen nicht nur als Institution, sondern zugleich innerhalb der Institution. Die Frage nach dem Wert der Dinge soll in diesem Aufsatz in die Semantik des kreativen Konsums eingebettet werden; genauer, in die Überlegung, inwieweit der Museumsshop einen kreativ gewendeten Konsumbegriff bedient oder unterläuft. Können wir – oder müssen es hier sogar – von einem kreativen Wert der Dinge sprechen? Um erste Antworten in diesem Feld zu formulieren, wird einleitend die Genese von Museen und Ausstellungen im 18. und 19. Jahrhundert nachgezeichnet und dabei, weil dies eine bekannte Geschichte ist, polemisch verkürzt: 1. Die Dinge im Museum haben keinen ökonomischen Wert, 2. Die Dinge im Museum haben ökonomischen Wert. Der dritte Abschnitt blickt auf die Dispositionen des Kreativitätsbegriffs, wendet sie auf den Museumsshop an und stellt fest: 3. Der Museumsshop bietet keinen Ort für kreativen Konsum. Der letzte Abschnitt verdankt sich einem Besuch in der Autostadt Wolfsburg und kommt zu dem Ergebnis: 4. Der Museumsshop bietet einen Ort für kreativen Konsum. Die offensichtlich dialektische Bewegung dieser Argumentation nimmt ein Ergebnis meiner Überlegungen vorweg: der kreative Wert der Dinge erweist sich im wechselseitigen Grad der Aktivierung von Dingen und ihren Rezipienten im Museum.
2
Macdonald, Sharon: „The Shop. Multiple Economies of Things in Museums“, in: von Bose, Friedrich et al. (Hg.), MuseumX. Zur Neuvermessung eines mehrdimensionalen Raumes, Berlin: PANAMA-VERLAG 2011, S. 37–48, hier S. 38.
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IM M USEUM HABEN KEINEN ÖKONOMISCHEN W ERT Dinge im Museum sind keine Dinge, sondern Objekte. Oder, in den Worten Krysztof Pomians, Semiophoren. Sie markieren einen Bereich zwischen der alltagstauglichen Verwendung der Dinge in der Lebenswelt und der auf Dauer gestellten Bedeutung der Objekte im Museum: „In anderen Worten: das Sichtbare spaltet sich auf. Auf der einen Seite befinden sich die Dinge, nützliche Gegenstände, das heißt solche, die konsumiert werden können […]. Auf der anderen Seite befinden sich die Semiophoren, Gegenstände ohne Nützlichkeit im eben präzisierten Sinn, sondern Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, das heißt, die mit einer Bedeutung versehen sind“.3
Objekte sind in dieser Lesart als Semiophoren immer Antipoden der benutzbaren und konsumierbaren Dinge. Sie sind Zeugen des persönlichen, wie auch des gesellschaftlichen Verlusts, sie kompensieren die fortschrittsorientierte, säkularisierte Moderne. „Objects tend to enter the museum when their world has been destroyed, and so they are relics and witnesses of a loss.“4 Der Wert der Dinge als museale Objekte liegt also darin begründet, dass es sie lebensweltlich nicht mehr gibt. Es sind die gestorbenen Dinge, die im Museum ausgestellt werden und hier den Menschen einen Ort bieten, um mit ihnen in Kontakt zu treten. „Man braucht Institutionen der Trauer, des ‚nevermore‘“ stellt Niklas Luhmann im Blick auf das Mu-
3
Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums: Vom Sammeln, Berlin: Wagenbach 2007 [1988], S. 49–50, im Original kursiv.
4
Siegel, Jonah (Hg.): „The Emergence of the Modern Museum. An Anthology of Nineteenth-Century Sources“, Oxford: Oxford University Press 2008, S. 5. Hermann Lübbe hat die Moderne und ihre Institutionen im Hinblick auf ihre kompensatorischen Funktionen beschrieben. Vgl. Lübbe, Hermann: „Der Fortschritt und das Museum“, in: ders., Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Graz/Wien/Köln: Styria 1989, S. 13–29.
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seum fest.5 Museen kompensieren für die Verlusterfahrungen der Moderne, deren Resultate sie sind. Um jene Gleichzeitigkeit von Verlusterfahrung und ihrer Kompensation zu bewirken, müssen die Dinge jenseits ihrer alltäglichen Funktionalität, jenseits von Erwerb und Gebrauch Bedeutung erlangen. Diese Aufgabe erfüllt der exhibitonary complex in Form eines symbolischen Sinngebungsprozesses: „Objects consistently bring to mind visions beyond the ideas proposed to contain them.“6 Dinge im Museum sollen etwas bedeuten; oder auch: sie sollen etwas bedeuten; undenkbar ist es, dass Objekte im Museum nicht bedeuten. Denn genau dadurch, dass die Dinge im Museum „in einen anderen, theoretisch und praktisch motivierten Zusammenhang gestellt werden, geht ein Bedeutungswandel mit ihnen vor. [...] Es wird auf diese Weise Sinn in sie investiert, sie werden durch Umstellung zu epistemischen Objekten, zu Erkenntnisdingen.“7 Es ist kein Geheimnis, dass diese Bedeutungsnotwendigkeit der Objekte im Museum ein kultureller und damit ein aktiver Prozess der symbolischen Aufladung und Zuschreibung ist. Der Auftritt der Dinge im Museum ist ein Auftritt der Menschen.8 Jene Umstellung, von der Hans-Jörg Rheinberger schreibt, ist dabei zuerst einmal durch die öffentliche Ausstellung der Dinge verantwortet. Die entscheidende Umstellung der Dinge geschieht dabei nicht erst durch ihre Anordnung in einem Museums- oder Ausstellungsraum, sondern dadurch, dass sie im öffentlichen Raum gezeigt werden und diesen gleichzeitig mit konstituieren. Im Unterschied zu den Wunderkammern der Renaissance muss die bürgerliche Sphäre der Öffentlichkeit kontinuierlich als zugäng-
5
Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1999, S. 212.
6 7
J. Siegel: The Emergence of the Modern Museum, S. 8. Rheinberger, Hans-Jörg: „Epistemologica: Präperate“, in: te Heesen, Anke/Lutz, Petra (Hg.), Dingwelten: Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005, S. 65–75, hier S. 65.
8
Vgl. Krankenhagen, Stefan: „Der Auftritt der Dinge. Zu epistemischen und relationalen Objektbegriffen im Museum“, in: Annemarie Matzke/Ulf Otto/Jens Roselt (Hg.), Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, Bielefeld: Transcript 2014, S. 89–101.
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lich erzeugt und gezeigt werden.9 Das Museum ist in diesem Sinne einer der paradigmatischen Orte der Moderne, da es religiöse wie feudale Zugangsbeschränkungen – das noli me tangere aus dem Johannes Evangelium wirkt vor jeder Glasvitrine, vor jeder roten Kordel im Museum10 – mit der demokratischen Idee der Zugänglichkeit für alle kurzschließt. Die Sammlungen sind nicht nur wegen ihres finanziellen Wertes, sondern auch deshalb besser bewacht als der Museumsshop, weil ein Diebstahl sie der Öffentlichkeit entziehen und museale Objekte wieder zu privaten Besitztümern machen würde. Stattdessen liegt der Wert der Dinge im Museum darin begründet, dass sie sich idealiter für immer im öffentlichen Besitz befinden, weil an ihnen Alterität und Transzendenz, nicht aber Gebräuchlichkeit erfahren werden kann: „Konsum drängt auf sofortige Befriedigung, Kunst hingegen stellt nach wie vor auf Dauer.“11 In dieser Lesart dürfen die Dinge in ihrem Objektstatus im Museum keinen ökonomischen Wert besitzen. Denn das Museum ist genau jener Ort der Moderne, der seine Besucher – als Konsumenten von Geschichte und Kultur – von einer potentiellen Entscheidung befreit: der Entscheidung nämlich, zu kaufen oder nicht zu kaufen.
9
Vgl. neben der einschlägigen Publikation von Jürgen Habermas (Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1990 [1962]) in jüngerer Zeit die Arbeit von Philip Manow, der die architektonische Gestaltung von Theater und Parlament im 18. Jahrhundert als Inszenierung der Räume des Öffentlichen analysiert. Manow, Philip: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt/M.: edition suhrkamp 2008.
10 Die Geschichte der sakralen Dinge und ihrer Wirkung auf verschiedene gesellschaftliche Felder hat Karl-Heinz Kohl geschrieben. Vgl. Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München: Beck 2003. 11 Bauman, Zygmunt: Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 223. Vgl. auch Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve 2008.
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So wie die bürgerliche Erfindung des Museums im 18. Jahrhundert zu einer offensichtlichen Re-mythologisierung der Dinge im Zeitalter ihre Säkularisierung beigetragen hat, so ist das Warenhaus des 19. Jahrhunderts ein wirksamer Katalysator für die Genese der modernen Ausstellung gewesen. Dinge werden im Warenhaus ausgestellt, indem ihrer Präsentation eine ästhetische Form gegeben wird; nur dann macht es Sinn, von einer Warenausstellung zu reden.12 Die Ausstellung der Dinge im Warenhaus hat sich parallel zur Etablierung der Welt- und Industrieausstellungen entwickelt; nicht zufällig ist das heutige Victoria & Albert Museum in London, Nachfolger des South Kensington Museums, nach 1851 mit den Einnahmen und dem immensen Erfolg der Londoner Weltausstellung im Rücken gegründet worden. Es ist zu lange vernachlässigt worden, dass das Museum und die Ausstellung zwei unterschiedlich geprägte Institutionen sind, deren Umgang mit den Dingen verschieden ist, gleichwohl nicht unabhängig voneinander verstanden werden kann. Werner Sombart ist einer der wenigen gewesen, der Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte, dass die Form der Ausstellung auf die Quantität der Dinge und Menschen in der Moderne reagierte und gleichzeitig die Praktiken und Funktionen traditioneller Kunstsparten reformulierte: „Die Ausstellung gehört zur Familie der Konzerte, Theater und in engerem Sinne der Museen, die alle erst im letzten Jahrhundert entstanden oder doch sich erst während dieser Zeit zu dem demokratischen Omnibus-Prinzip entwickelt haben. Denn was heute die genannten Institutionen sind, können wir als Musikomnibus, als Literaturomnibus und Kunstomnibus bezeichnen. Sie sind gratis oder gegen billiges Entree der unbekannten Masse erschlossene Erbauungs- und Vergnügungsstätten und verhalten sich zu allen intimen und persönlichen Veranstaltungen gleichen Inhalts wie der Omnibus zur eigenen Equipage, das Restaurant zum eigenen Speisesaal, wie
12 Vgl. Richards, Thomas: „The Great Exhibition of Things“, in: ders.: The Commodity Culture of Victorian England: Advertising and Spectacle, 1851–1941, Standford, CA: Standford University Press 1990, S. 17–72; vgl. auch den Beitrag von Uwe Lindemann in diesem Band.
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der ‚Volkspark‘ zum fürstlichen Garten oder die Zeitung zum Brief. In diese Familie, sage ich, gehört die Ausstellung auch.“13
So hat auch das South Kensington Museum den unterhaltenden und produktorientierten Auftrag der Weltausstellung zu einem eigenen Anspruch weiter entwickelt.14 Andere Institutionen und Akteure folgten, die den Wert der Dinge offensiv als eine Verhandlung zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital verstanden. Einen großen Schritt in der wechselseitigen Annäherung von Ausstellung und Warenhaus machte der Museumspionier John Cotton Dana, der in New Jersey und in enger Kooperation mit dem dort ansässigen Departement Store so genannte Inexpensive Objects Ausstellungen kuratierte: Dana schickte seine Mitarbeiter in den 1920er Jahren in die Kaufhäuser der Stadt um Objekte für sein Museum zu erwerben, die nicht mehr als 50 Cent kosten durften.15 Der volkserziehende Auftrag, frei nach Thorstein Veblen, zierte die Ausstellungsvitrinen in Newark: „Beauty has no relation to price, rarity or age. No article in this case cost more than fifty Cents“.16 Aufgrund der engen Verbindung zwischen Kaufhaus und Ausstellung, zwischen den Dingen als Waren und den Dingen als Semiophoren, pflegt das Ausstellungswesen auch einen unkomplizierten Umgang mit Attributen
13 Sombart, Werner: „Die Ausstellung“, in: Morgen: Zeitschrift für deutsche Kultur, (28.02.1908), Nr. 9, S. 249–256, hier S. 249f. 14 Vgl. Geppert, Alexander: „Welttheater: Die Geschichte des europäischen Ausstellungswesens im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht“, in: Neue Politische Literatur 47 (2002), Nr. 1, S. 10–61. 15 Vgl. die instruktive Arbeit von Carol Duncan: „Museums and Department Stores: Close Encounters“, in: Collins, Jim (Hg.), High-Pop. Making Culture into Popular Entertainment, Malden, Mass.: Blackwell 2002, S. 129–154. Vgl. auch die Arbeit von William Leach, der neben Dana noch drei weitere Museumsgründer der letzten Jahrhundertwende in den USA vorstellt, die das Ausstellungswesen auf der Grundlage konsumkultureller Erfahrungen und Wirkweisen reformulierten: Leach, William: Land of Desire. Merchants, Power, and the Rise of a New American Culture, New York: Vintage Books 1993. 16 Zitiert nach C. Duncan: Museums and Department Stores, S. 148. Wie Duncan herausstellt, hat sich John Cotton Dana von Thorstein Veblens The Theory of the Leisure Class von 1899 inspirieren lassen. Vgl. C. Duncan, ebd., S. 135f.
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und Praktiken der Unterhaltungskultur. Auch dies ist in den Dokumentationen zur Londoner Weltausstellung nachzulesen: wie die Produktion und Distribution von Handzetteln und Werbeplakaten, wie die temporären Attraktionen und wie der Auf- und Abbau von Toilettenwägen, Leuchtreklamen und Essensständen zum exhibitionary complex dazu gehört und als finanzieller Erfolg auf jenen zurückwirkt.17 Popularisierung und Ökonomisierung des Ausstellungswesens sind keine ‚MoMA in Berlin‘-Effekte, sondern begleiten die Entwicklung des Formats seit Mitte des 19. Jahrhunderts und beeinflussen – nicht zuletzt angestoßen durch Akteure wie John C. Dana – Idee und Praxis des Museums nachhaltig. Abbildung 1: Hamburger Bahnhof, Berlin, 2008
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Deshalb ist es heute selbstverständlich, dass neben Restaurants, Cafés, Kinderbetreuungsorten, langen Nächten und Kulturtagen auch das Verkaufen von Waren ein integraler Bestandteil des Museums ist. Selten noch, wie etwa im Hamburger Bahnhof aus Anlass einer Andy Warhol Celebrities Ausstellung im Jahr 2008, findet der Verkauf von Waren innerhalb des Ausstellungskomplexes statt (siehe Abb. 1). Denn gebräuchlicher Weise
17 Vgl. R. Thomas, Great Exhibition und A. Geppert, Welttheater.
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behauptet und benötigt die Institution des Museums eine räumliche Distanz zu dem ihm eigenen Ort des Konsums, der im Sinne Michel Serres‘ als ein eingeschlossenes Ausgeschlossenes eine Verhandlung über den Wert der Dinge führt. Im Museumsshop zeigt sich die Grenze zwischen jenem Innen und Außen des Museums am deutlichsten; und sieht man sich diesen Prozess an, so ist es in den letzten zwanzig Jahren zu deutlichen Grenzverschiebungen gekommen, die das Museum zu einem Ort des Konsums machen.18
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Wenn der Museumsshop der Ort ist, an dem der Wert der Dinge durch Grenzziehungen zwischen den Sphären von Konsum und Nicht-Konsum verhandelt und sichtbar gemacht wird, so müsste er auch von jenen Justierungen der letzten Jahre betroffen sein, die der Sphäre des Konsums vermehrt ein kreatives Potential zusprechen. Prozessiert durch die sich andeutende ökonomische Vormacht der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien wird unter dem Schlagwort Consumer 2.0 Konsumption als ein aktiver Prozess der individuellen Beteiligung und Aneignung beschrieben: „[…] a culture with relatively low barriers to artistic expression and civic engagement, strong support for creating and sharing creations, and some type of informal mentorship whereby experienced participants pass along knowledge to novices.“19
18 Vgl. McTavish, Lianne: „Shopping in the Museum? Consumer spaces and the redefinition of the Louvre“, in: Cultural Studies 12 (1998), Nr. 2, S. 6. 19 Jenkins, Henry: Confronting the Challenges of Participatory Culture. Media Education for the 21st Century, Chicago: MacArthur Foundation 2009, S. xi. KaiUwe Hellmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sowohl kulturelle Praktiken wie die Do-it-Yourself- Kultur, als auch die theoretischen Impulse von Michel de Certeau oder Alvin Toffler weit in das 20. Jahrhundert zurück reichen. Schon in den 1960er bis 80er Jahren ging es um eine – moralisch und normativ stärker oder schwächer aufgeladene – Rettung der Konsumption als eigenständige und kreative Praxis. Die Genese partizipatorischer Kulturtheorie und -praxis soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. Vgl. Hellmann, Kai-Uwe: „Prosumer
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Ohne die teilweise divergierenden Positionen der heutigen Diskussion zu glätten, geht es in dieser Debatte übergreifend um eine Umverteilung des Aktivitätspotentials zwischen Produzenten und Konsumenten. Es entwickelt sich die Figur des Prosumers als Bindeglied und Ausgleich zwischen der als aktivisch gedachten Produktionssphäre und der passivisch orientierten Konsumption: „[…] sind es doch gerade diese Komplementarität und Asymmetrie [zwischen Produzenten und Konsumenten, Anm. SK] welche der Debatte um den Prosumenten heutzutage ihre Aktualität verleihen. Denn der Aufstieg des Prosumenten setzt voraus, dass sich beide, vermeintlich so reinlich trennbaren Tätigkeitsprofile zusehends annähern, vermischen, wechselseitig ergänzen“.20
Kreativer Konsum ist in diesem Sinne zuallererst ein Konsum, der sich selbst als aktiv beschreibt. Der Begriff des Prosumenten ist in diesem Sinne nichts anderes als der Gradmesser des Aktivitätsniveaus für das Feld der Konsumption. Ob die Aktivierung des Konsumenten durch eine symbolische Umwertung im Rezeptionsprozess geschieht21, durch ethisch legitimierte Kaufentscheidungen22 oder durch eine Mitgestaltung im Produktionsprozess im , Sinne Henry Jenkins , ist damit zwar nicht bedeutungslos, aber für die vorliegende Argumentation nachgeordnet. Den Arbeiten von Andreas Reckwitz ist zu entnehmen, entlang welcher Attribute sich kreative Subjektformen seit dem 18. Jahrhundert entwickelt haben; jene kreativen Subjekte, die unweigerlich auch kreative Konsumenten (geworden) sind. Reckwitz nennt dafür drei hervorstechende Kriterien:
Revisited: Zur Aktualität einer Debatte“, in: ders./Blättl-Mink, Birgit (Hg.), Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 13–47. 20 K.U. Hellmann: Prosumer Revisited, S. 26. 21 Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988; für eine aktuelle Position vgl. Sturm, Eva: Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze, Wien/Berlin: Turia + Kant 2011. 22 Vgl. etwa Heidbrink, Ludger/Schmidt, Imke/Ahaus, Björn (Hg.), Die Verantwortung des Konsumenten. Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2011.
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Erstens, die Produktion von Neuem: „Der Kreative produziert Neuartiges, Überraschendes, das nicht der Regel oder Norm folgt“23; zweitens, die emotionale Beteiligung an kreativen Prozessen als ein „Ich-Ideal mit affektiver Anziehungskraft“24 sowie drittens, die Materialität kreativer Praktiken: „materielle Bedingungen und Artefakte (…), welche für kreative Praktiken nicht bloß instrumentelle, sondern konstitutive Bedeutung besitzen“.25 Voraussetzung für jenen kreativen Selbst-Entwurf ist die Sphäre der medialen Öffentlichkeit, ist die Bedingung, dass Innovation, Emotionalität und Materialität ein Publikum finden. Das individuelle Selbst entwirft sich in seiner öffentlichen Inszenierung.26 Heute, so Reckwitz‘ Schlussfolgerung, sei der Kreativitätsbegriff aus der Ästhetik in die gesellschaftliche Praxis gewandert, verschiebe sich vom Künstlergenie zu Jedermann.27 Wie ein vorausliegender Code hat die „Hegemonie des Kreativsubjekts“28 somit auch Geltung für die Figur des Kon-
23 Reckwitz, Andreas: „Die Erfindung des Kreativsubjekts. Zur kulturellen Konstruktion von Kreativität“, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: Transcript 2008, S. 235–257, hier S. 238. 24 Ebd., S. 240. 25 Ebd. 26 Vgl. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1996; für den Kontext aktueller Selbstentwürfe siehe Eakin, Paul John: How Our Lives Become Stories. Making Selves, Ithaka and London: Cornell Univ. Press 1999. 27 Dabei hat sich das künstlerische Kreativitätsdispositiv selbstverständlich gewandelt, sich auch dekonstruiert ohne jedoch dabei verhindern zu können oder zu wollen, „dass Künstler dennoch nach wie vor als bevorzugte Adresse für Kreativität gelten.“ Vgl. van den Berg, Karen: „Kreativität. Drei Absagen der Kunst an ihren erweiterten Begriff“, in: Jansen, Stephan A./Eckhard Schröter/Stehr, Nico (Hg.), Rationalität der Kreativität? Multidisziplinäre Beiträge zur Analyse der Produktion, Organisation und Bildung von Kreativität, Wiesbaden: VS Verlag 2009, S. 207–224, hier S. 215. 28 A. Reckwitz: Die Erfindung des Kreativsubjekts, S. 237. Dabei ist schwer zu sagen, ob es sich tatsächlich um einen hegemonial wirkenden Subjektentwurf handelt. Der dialektischen Struktur der Moderne folgend, entwerfen sich zeitgleich Figurationen des erschöpften Selbst (Vgl. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M.:
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sumenten erlangen können, für die Praxis des Konsumierens wie auch für die Orte des Konsums. Konsumenten entwerfen sich als ein kreatives Selbst, so kann gefolgert werden, indem sie der Praxis des Konsumierens sowie den Dingen und Orten des Konsums affektiv verhaftet sind. Dieses ist gewissermaßen das Standardprogramm oder „der Routineaspekt“29 des Kreativitätsdispositivs; besonders im Hinblick auf die Konsumsphäre: assoziative Sinnlichkeit soll den Konsums begleiten und das Ich stimulieren, damit sich der Einzelne als ein kreatives Konsumenten-Selbst wahrnimmt. Lustvolle Erweiterungen dieses routinierten Innovationszwangs entwirft die Populäre Kultur; zum Beispiel in Sophia Coppolas Film The Bling Ring von 2013.30 Hier werden die privaten Wohnungen von Celebrities zu den neuen Orten des Konsums, in die eingebrochen wird, um sich dabei als kreativ konsumierend zu erleben. Denn die Jugendlichen, die in die Schlaf- und Ankleidezimmer der Prominenten einsteigen, sind gut situiert, kommen aus bestem Elternhaus. Dass sie grundsätzlich überall einkaufen können, ist ein Problem, dass sich erst über eine neue Ver-Ortung lösen lässt: Die erste Einstellung von The Bling Ring zeigt die Diebesbande im Wohnhaus von Paris Hilton, eine Kleiderschranktür wird geöffnet: „OK, let’s go shopping“, lautet die Aufforderung des Films und dessen Auftakt. Neben den umfunktionalisierten Orten des Konsums erleben sich Konsumenten vermehrt als kreativ und innovativ, wenn sie selber produzierend in den Konsumprozess eingreifen; sei es durch neue Bedeutungsgenerierung, durch überraschende Warenkombinationen und Kaufentscheidungen oder durch tatsächliche Modifikationen des Angebots im Sinne von Prosumenten und so genannten craft consumern, wie sie Colin Campbell beschreibt: „[...] we could say that the craft consumer is someone who transforms ‚commodities‘ into personalized (or, one might say, ‚humanized‘) objects.“31 An Campells Plädoyer für den produzierenden Konsumenten
Suhrkamp Verlag 2008) und so scheint mir ein zeitgenössischer Subjektentwurf eher dem Dispositiv des müden Kreativen zu folgen. 29 A. Reckwitz: Die Erfindung des Kreativsubjekts, S.239. 30 The Bling Ring, (USA 2013. R: Sophia Coppola.) 31 Campbell, Colin: „The Craft Consumer: Culture, craft and consumption in a postmodern society“, in: Journal of Consumer Culture 5 (2005), Nr. 1, S. 23–42, hier S. 28.
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wird deutlich, dass das Kreativitätsdispositiv in der Figur des aktiven Konsumenten einen festen Ort hat: „And it is clear that many [...] people want to be able to use products in more and more expressive and creative ways; that is, they want to be able to ‚realize their potential‘ and ‚express their true selves‘ by means of consumer ‚props‘. They desire, in fact, to become craft consumers, and if it is assumed that this trend is set to continue into the near future, then the prospect exists of a postmodern society in which craft consumption is not merely the dominant form of consumption, but also the principal mode of individual self-expression.“32
So soll heute am kreativ und selbsttätig genutzten Warenangebot nicht nur die Welt, sondern auch jedes einzelne Subjekt genesen. Um die Behauptung des kreativen Selbst im Akt des Kaufens kontinuierlich aufrecht zu erhalten, benötigen Konsumenten Publikum, so wie sie selbst als beobachtendes, begutachtendes, kommentierendes Publikum fungieren. Konsumenten müssen also im Moment des Konsumierens gesehen werden und andere sehen und dabei jenes Sehen und Gesehen-werden öffentlich zeigen. Immer öfter, das veranschaulicht die Kategorie ‚Shopping‘ auf flickr oder instagram, inszenieren sie sich dabei in der Vergemeinschaftung, als ein Gruppe kreativer Konsumenten.33 So auch die Figurenkonstellation in Sophia Coppolas Film: der Diebesbande in The Bling Ring wird zum Verhängnis, dass sie sich und ihre ‚Einkäufe‘ aus fremden Häusern in den sozialen Netzwerke publikumswirksam darbieten; eine Dummheit in der Logik des Verbrechens, aber eine Notwendigkeit in der Logik des kreativen Konsums. Um nun jene Semantik des kreativen Konsums, die sich auf Innovation, Emotionalität und Materialität stützt, auf den Museumsshop zu beziehen, so ist grundsätzlich festzuhalten, dass jener kreative Konsum im Museumsshop nur auszugsweise anzutreffen ist. Höchstens der Ort des Konsums
32 C. Campell, Craft Consumer, S. 40. Es zeigt sich auch, dass mit und seit Alvin Toffler der Diskurs um Prosumenten in einem geradezu heilsbringenden Tonfall geführt wird. Vgl. Toffler, Alvin: The Third Wave, New York: Batam Books 1980. 33 Vgl. http://www.flickr.com/search?sort=relevance&text=shopping%20together vom 17.09.14. Vgl. auch den Beitrag von Simon Bieling in diesem Band.
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kann hierbei in seiner spezifischen Materialität als ein Warenangebot im Musentempel als einer kreativen Sphäre beschrieben werden. Bezogen auf seine Genese ist sogar deutlich geworden, dass das Museum ein Ort des Außen des Konsums darstellt – was den Museumsshop im Sinne des Kreativitätsdispositivs nachdrücklich aufwertet. Ist jedoch dieser Innovationseffekt gebräuchlich geworden, so bleibt nach Besuchen in unzähligen Museumsshops in Deutschland und Europa34 das Gefühl, einen großen Geschenkeladen besucht zu haben. Hier eine Schreibtischunterlage aus Birkenrinde, dort ein Stofftier. Hier ein Holzpuzzle der Mona Lisa, dort ein Dinosaurier-Skelett aus Plastik. Immer öfter und völlig unverhohlen ahmen die Museumsshops die Spielzeug- und Geschenkabteilungen der großen Kaufhäuser nach. Dass schon in der Mitte der neunziger Jahre Walter Grasskamp dazu aufforderte, das Angebot im Museumsshop zumindest in Hinsicht auf „eine gewisse Warenkultur“35 zu erneuern, macht die Situation im Jahr 2014 nicht besser. Natürlich kann es sein, dass der Museumsshop, indem er die „Berührungsrituale“36 der Gesellschaft nach dem Museumsbesuch re-inszeniert, den Kaufakt auch weiterhin als Befreiung feiern kann. Aber was, wenn der konsumistische Affront gegen den ideengeschichtlichen Ort der Alterität und Transzendenz verpufft? Dann bleibt neben allem Krimskrams nur das hohl gewordene, neokonservative Gefühl für die guten Dinge; der Habitus eines gebildeten Lesers in einer Bibliothek, die nicht die eigene ist. Im Bri-
34 Unternommen im Kontext eines Forschungsprojekts zur Europäisierung der Museen zwischen 2008 und 2012. Vgl. Kaiser, Wolfram/Krankenhagen, Stefan/Poehls, Kerstin: Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2012. 35 Grasskamp, Walter: „Unberührbar und unverkäuflich. Museen und Museumsshops“, in: Fliedl, Gottfried, et al. (Hg.), Wa(h)re Kunst. Der Museumsshop als Wunderkammer. Theoretische Objekte, Fakes und Souveniers, Frankfurt/M.: Anabas-Verlag 1996, S. 29–38, hier S. 34. Innovativer verfährt ein Museum in Rotterdam, das ein Reisebüro in den Museumskomplex integrierte, wie Sharon Macdonald beobachtet hat: „Sometimes what people buy in museum shops is the promise of a further journey […]. The Wereldmuseum in Rotterdam takes this to its logical conclusion by situating a travel agency within the Museum. Now really go there!“ S. Macdonald: The Shop, S. 45, im Original kursiv. 36 W. Grasskamp: Unberührbar und unverkäuflich, S. 33, im Original kursiv.
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tish Museum gibt es für dieses Gefühl ganze sechs Museumsshops die ihr Warenangebot nach Regionen (Africa, Ancient Egypt), Kategorien (Books & Media, Home & Office) oder Schlagworten (Made in Britain, Mrs Delany) diversifizieren. Willkommen im Manufactum-Museumsshop. Auch im Britischen Museum, wie in allen anderen Museumsshops, sind die Konsumenten natürlich Käufer im traditionellen Sinne. Sie reagieren auf ein für sie vorbereites Warenangebot – mit einer Kaufentscheidung oder dagegen. Dass erst durch diese Entscheidung „eine gegebene Wertschöpfungskette zum Abschluss“ gebracht wird, wie Kai-Uwe Hellmann mit Verweis auf den produktiven Charakter von Konsumtion fest stellt37, ist nicht zu bestreiten. In Zeiten des Consumer 2.0 jedoch, in denen die Durchlässigkeit zwischen Warenproduktion und Warenkonsumption steigt, wirkt der Museumsshop tatsächlich wie ein lange nicht besuchtes Museum: verstaubt.
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Wenn also der Blick auf die Dinge im Museumsshop eher die Variation des immer gleichen Warenangebots bestätigt und, noch entscheidender, das immer gleiche Verhältnis des Käufers zum Kaufobjekt inszeniert und voraussetzt, wo findet sich dann ein Umgang mit den Dingen im Museumsshop, der zur Erfahrung eines kreativen Konsumenten-Selbst führen könnte? Betritt man den Museumsshop in der Autostadt Wolfsburg, der im so genannten ZeitHaus untergebracht ist, so verspricht der erste Blick ein bekanntes Bild: Semioriginelle Produktauswahl, die mehr oder weniger offensichtlich mit dem Kosmos des Automobils und seiner Geschichte spielt: Postkarten, Spielzeugautos, und Fotobildbände beherrschen die Auslage. Überraschenderweise findet sich am selben Ort ein Bereich, der auf beinahe ebenso vielen Quadratmetern eine ganz andere Warenpalette zeigt. Es handelt sich hierbei um gebrauchte Dinge. Um Memorabilia, die ebenso gut in der Ausstellung des ZeitHauses hätten stehen können. Hier öffnet sich ein Zwischenbereich, der offensiv mit beiden Wertsphären der Dinge
37 K.U. Hellmann: Prosumer Revisited, S. 39.
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im Museum spielt. Als Warenangebot sind die Dinge käuflich. Als Semiophoren verweisen Sie auf ihre nicht mehr vorhandene Tauglichkeit und ihren damit gesteigerten symbolischen Wert. Die zum Verkauf ausgestellten Motoröl-Konserven aus den siebziger Jahren tragen ihr Verfallsdatum offen zur Schau, der Isgus-Motorradtachometer zeigt die Geschwindigkeit gegen den Uhrzeigersinn und ein Heckski-Halter aus Plastik wäre nur für den benutzbar, der noch einen originalen VW-Käfer besitzt. Die hier versammelten und zum Kauf angebotenen Dinge sind überwiegend Einzelteile; Originale der 10er bis 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Man kann an ihnen wohl etwas erkennen; sie besitzen epistemisches Potential. An einer Dankes-Urkunde des VW Konzerns aus dem Jahr 1958 ist die Fahrzeuggestellnummer und der Wagenhalter abzulesen; aber auch einer Rhetorik nachzuhören, die zwischen nationalsozialistischem Erbe des Autokonzerns – „Auf diese Leistung dürfen alle stolz sein, die daran mitgewirkt haben: die vielen tausend Unbekannten im Volkswagenwerk und seiner Organisation“ – und volksreligiöser Erbauung oszilliert: „Der gute Fahrer dieses guten Wagens“. Die historische Urkunde, für 200,- Euro mitsamt VW-Anstecknadel und Heiligem Christopherus zu erwerben, ist dabei eben nicht in ein stringentes Ausstellungsnarrativ eingebunden; sie ermöglicht einen eher beiläufigen Erkenntnisgewinn. Und, als eine Ware, kann man die Urkunde aus der Vitrine nehmen lassen und in den Händen halten; sie prüfen und bei Erwerb mit nach Hause nehmen. Der Käufer wird hier zu einem potentiellen Sammler (oder ist tatsächlich einer); und als ein solcher Sammler zeigt sich der Konsument als eine Figur, die mit Geschichte buchstäblich hantiert.38 Ein vergleichbares Verhältnis zwischen Konsumenten und Dingen wird durch den windigen Heckskihalter des VW Käfers möglich gemacht, der in seiner Zeit als „diebstahlsicher“ bezeichnet wurde; durch einen Auto Coffee Maker oder durch die Motorenöl-Konserven von Uni Gulf. Letztere verweisen auf eine in Ansätzen bereits geschriebene Kulturgeschichte der Firma Gulf Oil Corporation; eine der acht größten Ölraffinerien in den USA bis in die 1980er Jahre hinein und bis heute ein symbolisch aufgeladener Marken-
38 Zur Figur des Sammlers von Alltagskultur vgl. Hügel, Hans-Otto: „‚Das kann man doch nicht einfach wegwerfen.‘ Sammlungen zur Alltags- und Hochkultur in Hildesheim“, in: ders. (Hg.), Hildesheim sammelt. 53 Sammlungen zur Alltags- und Hochkultur, Hildesheim: Gerstenberg Verlag 1999, S. 18–32.
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name in den USA39: Durch offensives Branding, Sponsoring und innovative Werbefeldzüge seit den 1930er Jahren ist die Marke mittlerweile zu einem Retro-Wert geworden über den sich Bekleidung und Accessoires verkaufen. Wie viel von diesem Wissen bekannt oder unbekannt ist, ist beim Besuch des Museumsshops jedoch irrelevant. Stattdessen ermöglicht der Museumsshop einen Umgang mit den Dingen, der dem des Flohmarkts gleicht. Dieser Umgang ist so erkenntnisleitend, wie er handgreiflich ist, so biographisch geprägt (unter Umständen), wie er sich an ästhetischen Kriterien orientieren kann. Abbildung 2: Autostadt Wolfsburg, ZeitHaus, 2014
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39 Vgl. Clark, James A./Odintz, Mark: „GULF OIL CORPORATION“, in: Handbook of Texas Online (http://www.tshaonline.org/handbook/online/articles/dog02 vom 25.09.2014). Uploaded on June 15, 2010. Published by the Texas State Historical Association.
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Entscheidend dafür ist, dass die Warenausstellung im ZeitHaus der Autostadt einen Erkenntnisgewinn forciert, der über das epistemische Potential der Dinge hinausgeht ohne jenes negieren zu müssen. Präsentiert ein Museumsshop die Verhandlung der Grenze zwischen den Dingen als Waren und den Dingen als Semiophoren derart offensiv, dann gibt dieses den Blick frei auf einen Wert der Dinge, der sich erst in den aktiven Beziehungen zu den Dingen ergibt. Wenn Max Weber soziales Handeln als „spezifiziertes Sichverhalten zu den Dingen“40 beschreibt, dann wird jenes Verhalten mit dem man sich den Dingen an einem Ort wie dem ZeitHaus nähert, reflexiv gemacht – und zwar in Bezug auf die Dinge als historisch, biographisch und ökonomisch wertvoll. Zur Verhandlung steht also weiterhin der Wert der Dinge. Doch der Konsument und Besucher des ZeitHauses ist aufgefordert, sich dabei aktiv zu positionieren – und somit wird er gleichsam zu einem Prosumenten der eigenen, wie auch der überindividuellen Geschichtsvermittlung. Die Frage nach kreativem Konsum ist seit Henry Jenkins‘ Manifest für eine Convergence Culture, seitdem Prosumer und Participants die Debatten beherrschen, immer auch eine Diskussion um gesteigerte Teilhabe, um Produktionsteilhabe. Jene Produktionsteilhabe findet allerdings nicht in den Fabriken oder Denkfabriken statt, sondern als eine variable Teilhabe der Rezeption und Konsumption der Dinge. Diese Formen eines kreativ gewendeten Konsums sind im Museumsshop selten bis gar nicht zu finden. Aber: die Angebote, die ein Museumsshop seinen Kunden macht, können die genuine Frage, die jedes Museum und jede Ausstellung stellt – was ist ein Ding wert? – weiterführen und dem Konsumenten buchstäblich nahe bringen. So nahe, dass er beginnt, in den Archiven zu blättern, die sich zugänglich im ZeitHaus der Autostadt befinden (siehe Abb. 2), und dabei beiläufig zwischen den verschiedenen Modi der Ausstellung von Dingen hin und her wechselt: Zwischen der endlichen Ware und der unendlichen Bedeutung, zwischen Berühren und Nicht-Berühren, zwischen BesitzenSollen und Nicht-Besitzen-Dürfen, zwischen kaufen und sammeln. Der Konsument erlebt sich im Museumsshop als ein Rezipient, der sich in Bezug auf die Dinge historisch positioniert.
40 Weber, Max: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen und Politik, Stuttgart: Kröner 1973, S. 99.
Ambivalente Kreativität. Die Onlinebildkarriere von Haarfärbeprodukten S IMON B IELING
Kreativ zu sein, diesem populären Credo folgt man keineswegs nur in Kunst- und Designhochschulen, Werbeagenturen oder Stadtmarketingabteilungen. Auch die Nutzer bildbasierter Social Softwares wie Tumblr oder Instagram orientieren sich oftmals an den Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden. So ist nicht zuletzt die große Verbreitung der Internetplattformen ein wichtiger Beleg für die Auffassung des Soziologen Andreas Reckwitz, dass westliche Gesellschaften derzeit von einem regelrechten Kreativitätsimperativ dominiert werden.1 Souveräne Unabhängigkeit auszustrahlen, sich eines „Regimes des Neuen“, einer Verpflichtung auf Originalität und Normübertritt zu unterwerfen, darin verschaffen zu wollen, darin könnte man Ansprüche sehen, denen nicht zuletzt im Rahmen von Social Softwares wie Tumblr und Instagram nachgekommen wird.2 Schließlich weisen die Plattformen jedem Nutzer ein eigenes persönliches Profil zu, verschaffen den jeweils aktuellsten Postings die größte Sichtbarkeit und konstruieren eine Umgebung, in der überraschende Bildgestaltungen am ehesten Aufmerksamkeit erzeugen können.
1
Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 9; vgl. auch ders.: „Der Kreative“, in: Markus Schroer/Stephan Moebius (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 248–260.
2
Vgl. A. Reckwitz: Erfindung der Kreativität, S. 38–49.
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Wenn deshalb das Verhältnis von Konsum und Kreativität zur Debatte steht, wird man mit Gewinn die Fotografien zur Kenntnis nehmen, die innerhalb der Plattformen Konsumprodukte zum Gegenstand haben. Dabei ist jedoch entscheidend zu beachten, dass Kreativität im Rahmen von Social Softwares wie Tumblr und Instagram auch eine Modifikation erfährt. Dort ist es nämlich nicht mehr nur allein bedeutsam, Innovationsfähigkeit zu beweisen, sondern zugleich auch Bezugnahmen und Verweise auf bereits vorliegende Gestaltungsmuster vornehmen zu können. Kreative Originalität in einem engen Sinne, also die souveräne Distanz zu bereits etablierten Gestaltungsmustern, verliert in ihrem Rahmen an Relevanz – zugunsten einer weitaus ambivalenteren Haltung. Statt ausschließlich einem „Regime des Neuen“ mit originellen und überraschenden Postings gerecht zu werden, ist es ebenso bedeutsam wie üblich geworden, sich an bereits existierenden Fotografien anderer Nutzer zu orientieren. Stimmen Kreativitätsvorstellungen in ihren grundlegenden Annahmen oft mit jenen der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts überein, so ist dies für die Nutzer der Bildplattformen nur bedingt der Fall.3 Besonders gilt dies für die Unterscheidung, nach der bei Kreativität von einem hierarchischen Gegenüber zweier einander ausschließender Figuren auszugehen sei: dem schöpferischen, phantasiebegabten, genialen Originalautor, der letztlich wie von Zauberhand und unabhängig von äußeren Faktoren zu seinen Ergebnissen gelangt und dem unschöpferischen, regelkonformen Nachahmer, dem nichts anderes übrig bleibt als auf die Leistungsstärke vergangener Genies zu bauen. Den „strahlendsten Blumen“ des Genies die „schwächeren Blüten“ der Nachahmer gegenüberzustellen (wie der britische Autor Edward Young es tat), und damit streng hierarchisch zwischen Genie und Nachahmung zu trennen, ist für die bildgestützten Social Softwares kaum noch angemessen.4 Einerseits nehmen die Nutzer innerhalb der Portale nämlich durchaus in Anspruch, als originelle, eigenständige Autoren zu gelten. Inhalte, die sie innerhalb ihrer Profile oder Blogs integrieren, präsentieren sie unter ihrem Namen als Zeugnisse ihrer persönlichen Originalität. Selbst seit Profilseiten, die mit dem eigenen Namen oder einem Pseudonym überschrieben
3
Vgl. ebd., S. 61–64.
4
Young, Edward: Conjectures on Original Composition (1759), Manchester: Manchester University Press 1918, S. 6.
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sind, vor allem stetig aktualisierte, dynamisch veränderliche Zusammenstellungen eigener wie fremder Inhalte darstellen, trifft dies immer noch zu.5 Andererseits betätigen sie sich aber auch als Imitatoren. Sie nehmen sich an bereits vorliegenden Fotografien ein Vorbild, reagieren unmittelbar auf sie oder posten sie ohne Veränderung innerhalb ihrer Profile. Damit ist es aber vor allem der einfache, zeitlich streng geordnete Kausalnexus zwischen dem Originalgenie als ursächlichem Ausgangspunkt und dem jeweiligen Werk als seiner nachfolgenden Wirkung, von dem genieästhetische Modelle ausgehen, der an Bedeutung verliert. Die Nutzer der Softwares verlagern die Last der Originalitätspflicht auf mehrere Schultern und verpflichten sich nicht mehr, etwaigen Kreativitätsforderungen eigenständig und ohne weitere Unterstützung zu entsprechen. So nehmen sie im gleichen Zug aber auch Abstand davon, sich lediglich zukunftsaffin am Neuen auszurichten, eine zeitliche Orientierung, die die Genieästhetik ebenfalls stets begleitet hat. In „Genies“ hätte man immer „Zukunftsmusiker, Zukunftsmaler, Zukunftsdichter und Zukunftsphilosophen“, schlussendlich also „Futuristen“ gesehen, schreibt etwa Edgar Zilsel.6 Man sei meist davon überzeugt gewesen, dass sie ihre Werke nicht für die „Mitwelt“ der Gegenwart, sondern für die „Nachwelt“ in der Zukunft herstellten.7 Im Gegensatz dazu unterhalten die Nutzer der Bildplattformen weder einen Exklusivvertrag mit der Zukunft noch mit der Vergangenheit. Bei ihnen ist man sich oft nicht sicher, ob sie eher zukunftsaffinen, innovationsorientierten, also „futuristischen“, oder doch eher adaptiven und bewahrenden, also „passéistischen“ Mentalitäten folgen.
5
Vgl. Ellison, Nicole B. und boyd, danah: „Sociality through Social Network Sites“, in: William H. Dutton (Hg.), The Oxford Handbook of Internet Studies, Oxford: Oxford University Press 2013, S. 151–172.
6
Zilsel, Edgar, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 60.
7
Ebd., S. 60 und S. 62–82; zur Begriffs- und Ideengeschichte des Genies vgl. Krieger, Verena: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln: Deubner 2007 und McMahon, Darrin M., Divine Fury. A History of Genius, New York, NY: Basic Books 2013.
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Auch wenn die Nutzer der Social Softwares Konsumgegenstände zu ihren Sujets wählen, zielen sie auf die Entlastung von allzu starken Originalitätsverpflichtungen. Besonders häufig wählen sie solche Konsumgegenstände zum Gegenstand der Bildfindung, die auch besonders gut in Fotografien in Szene gesetzt werden können. Die Auffassung, dass es vor allem Werbeanzeigen sind, an denen sich relevante kulturelle Wertsetzungen einer Gesellschaft ablesen lassen, trifft besonders für sie immer weniger zu. Mit den stetig sich verbessernden technischen Möglichkeiten der Social Softwares wird es vielmehr für jedes Unternehmen immer „unangemessener“, so Wolfgang Ullrich, „ein Monopol auf die Deutung seiner eigenen Produkte und Markenimages zu behaupten.“8 Um zu ermessen, welchen Umgang eine Gesellschaft mit bestimmten käuflichen Dingen pflegt, wird es auf längere Sicht kaum mehr genügen, sich vornehmlich mit den Vermarktungsstrategien der Unternehmen zu befassen. Zu der Gruppe von Konsumgegenständen mit unbestreitbaren Fotogenitätsvorteilen gehören zweifellos auch Haarfärbeprodukte. Ihr Besitz wie ihr Gebrauch lässt sich schließlich in Selbstporträts bestens zur Darstellung bringen. Seit ihrer Markteinführung in den sechziger Jahren werden sie als Produkte vermarktet, die Unabhängigkeit von einem professionellen Friseur verschaffen und zugleich auch Anknüpfungspunkte bieten, wie die Umgestaltung der eigenen Frisur ohne dessen Hilfe ausfallen könnte.9 Wer sie erwirbt, kann die Gestaltung der eigenen Haarfarbe und Frisur also einerseits spontan und eigenhändig vornehmen. Die auf der Verpackung aufgedruckten Idealbilder und Farbmuster genauso wie die ihr beigefügten Manuale und Mittelchen grenzen andererseits aber auch ein, welche konkrete Gestalt der neue Auftritt nehmen kann. Die Nutzerinnen – männliche Nutzer posten kaum vergleichbare Bilder – setzen dabei zumeist an etablierten Bildformeln an. Vor allem dann, wenn sie Selbstporträts anfertigen, mit denen sie thematisieren, ein Haarfärbeprodukt zu besitzen und zu benutzen, orientieren sie sich an einer großen Zahl
8
Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013, S. 159. Vgl. auch Belk, Russell W. und Llamas, Rosa (Hg.), Routledge Companion to Digital Consumption, London und New York: Routledge 2013.
9
Vgl. dazu McCracken, Grant: Big Hair. A Journey into the Transformation of Self, Woodstock, NY: The Overlook Press 1995, S. 111–115.
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anderer bereits existierender Selbstporträts. Deshalb handelt es sich bei ihnen stets um gezielte Arrangements visueller Zeichen, um Versuche, ein bestimmtes Image mit Hilfe einer Fotografie zu formen.10 Insbesondere können die Selbstporträts als ein Mittel der Nutzerinnen verstanden werden, ihr bevorzugtes Verhältnis zwischen Originalitätsanspruch und mimetischem Nachvollzug von Vorbildern auszugestalten und öffentlich zu machen. Weite Verbreitung haben Bildlösungen gefunden, die mithilfe des Selbstporträts den direkten Abgleich mit den Porträts suchen, die auf der Vorderseite der Verpackungen abgedruckt sind. Die Nutzerin glittermoth beispielsweise zeigt sich in ihrer Bildunterschrift voller Enttäuschung ob des nicht erreichten Färbungseffekts, von dem sie sich eine Aufwertung ihres Äußeren erhofft hat (Abb. 1). Das Porträt auf der Verpackung versteht sie also nicht nur als eine ungefähre Orientierung, sondern als ein in jedem Fall zu erreichendes Ideal. Ihr Ziel ist ganz offensichtlich nicht, aus eigener Hand anders als zuvor zu erscheinen, sondern vielmehr ihr Äußeres möglichst weitgehend dem Vorbild auf der Verpackung anzugleichen. Den Unterschied zwischen ihrem Selbstporträt und dem auf der Verpackung aufgedruckten Porträt setzt sie durch ihren Kommentar deshalb als Defizit und nicht als Ausweis einer individuellen Aneignung des Produktes in Szene. Trotz aller Kritik, die sie mit ihrer Fotografie am Angebot des Unternehmens übt, betrachtet sie das Färben ihrer Haare als ein Vorhaben mimetischer Nachahmung. Sie bestimmt ihr Selbstporträt als mangelhafte Kopie und das Porträt auf der Verpackung als unerreichbares Original. Anerkennende Zustimmung können für sie nur jene Selbstporträts finden, bei denen ein vollständiger Anschluss an die Porträtgalerie geglückt ist, die die Unternehmen mit ihren in Reihe aufgestellten Produkten in jedem Drogeriemarkt einrichten. Einige Nutzerinnen nehmen aber auch die umgekehrte Stellung ein. Sie verstehen sich zwar ebenfalls als Nachahmerinnen, nutzen aber die Bildplattformen dafür, gerade das Erfüllen ihrer Hoffnung, einen in ihren Augen vollständigen Anschluss an das auf der Verpackung aufgedruckte Porträt zu dokumentieren. Während die enttäuschte Nutzerin untröstlich ist,
10 Vgl. dazu Pfisterer, Ulrich/von Rosen, Valeska: Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Reclam 2005, insbes. S. 15.
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dass das Unternehmen seinem Versprechen nicht nachkommt, halten sie die Wirkungseffekte des Produkts für ausreichend, obwohl auch ihr Selbstporträt dem Vorbild auf der Verpackung oft nicht immer voll und ganz entspricht. Auffällig ist, dass diese Nutzerinnen in ihren Selbstporträts oftmals auch den Gesichtsausdruck der Verpackungsporträts nachvollziehen. Sie zwinkern genau so mit den Augen oder legen ihre Strähnen genau so in die Stirn, wie es die Porträts auf den Verpackungen vorgeben. Sie verstärken durch ihre Mimik die Übereinstimmung ihres Selbstporträts mit dem gewählten Vorbild, das sie in ihren jeweiligen Bildbeschriftungen unterstreichen. Damit zielen sie ganz offensichtlich auf einen Überraschungseffekt, um sich mit ihrem Selbstporträt gegenüber anderen profilieren zu können. So beansprucht etwa die Nutzerin _uniquenessa_, ihrem Pseudonym entsprechend, durchaus einen Originalitätsvorsprung vor anderen Nutzerinnen, obwohl sie ihr Selbstporträt explizit auch an das Vorbild auf der Produktverpackung bindet (Abb. 2). Der Abgleich mit den Porträts der Verpackungen wird oft aber auch genutzt, um andere Nutzerinnen und Nutzer in die noch unbestimmte Neugestaltung der Frisur mit einzubeziehen. So befragt amlynnxo anhand zweier früherer Selbstporträts befreundete Nutzerinnen, welche Haarfarbe wohl am ehesten für sie geeignet wäre: „blonde or brunette?“ (Abb. 3). Sie nimmt damit in doppelter Hinsicht eine Haltung ein, die Distanz von Originalitätsverpflichtungen sucht. Sie möchte ihr zukünftiges Erscheinen zum einen nicht ohne vorherige Meinungsabsicherung ausgestalten und macht zum anderen Selbstporträts aus der Vergangenheit zur Entscheidungsgrundlage. Ein weiteres Doppelselbstporträt, dass sie wenig später veröffentlicht, informiert die vorher Befragten dann darüber, wie die Entscheidung ausgefallen ist. Es stellt die alte und neue Frisur nebeneinander (Abb. 4). Mit ihm bringt sie ihre eigene Person noch einmal verstärkt in Stellung, nachdem die Neugestaltung ihrer Frisur abgeschlossen ist. So verzichtet sie hier darauf, bei ihren Selbstporträts die Produktverpackung in ihr Selbstbildnis einzubetten. Sind die Meinungen der anderen Nutzerinnen und das Haarfärbeprodukt zunächst relevante Bezugspunkte, nimmt sie schließlich von ihnen Abstand, sobald die Umgestaltung der Frisur vollzogen ist und bezieht sich dann nur noch auf ein früheres Selbstporträt. Die Bildunterschrift „goodby blonde, hello brunette :) oh how I missed you“ lässt keinen Zweifel mehr daran, dass es ihr jetzt nicht mehr darum geht, sich imitativ an die Präferen-
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zen der anderen anzunähern, sondern ihr früheres Äußeres hinter sich zu lassen, anders als zuvor zu erscheinen. Nutzer von Bildplattformen setzen Doppelselbstporträts oft als Kommunikationsstimulanzien ein, wie Daniel Hornuff ausgeführt hat, um kommentierende Wertungen und Urteile anderer Nutzer zu provozieren.11 Wie die Aufnahme der Nutzerin amlynnxo nahelegt, kann die Wahl jedoch noch aus einem anderen Grund auf eine zweigeteilte Bildform fallen. Die Differenz zwischen den beiden Bildern ist hier nämlich weniger Anlass zum Vergleich, wie in ihrem ersten Posting, sondern sie zielt auf eine hierarchische Gliederung der beiden Selbstporträts. Durch die Beschriftung des Bildes kann im linken Bild die frühere Haarfarbe nachvollzogen werden, sodass die neue Frisur umso stärker im rechten neueren Selbstporträt hervortreten kann. Im Gegensatz dazu verzichtet die Nutzerin Mejellybelly vollständig darauf, selbst prominent im Bild zu erscheinen (Abb. 5). Sie entscheidet sich dafür, auf den größten Teil des Zeichenrepertoires zu verzichten, das gewöhnlich ein Selbstporträt ausmacht, und setzt nur ihre gerade gefärbten Haare ins Bild. Von ihrem Gesicht, von ihrer Kleidung, aber genauso von ihrer Umgebung ist deshalb recht wenig zu erkennen. Sie nimmt in Kauf, mit anderen Personen verwechselt zu werden, und lässt bewusst die Gelegenheit verstreichen, mit dem Selbstporträt auch die Aneignung eines bestimmten Rollenmodells zu signalisieren. Mit ihrer Fotografie spielt sie vielmehr geradezu herunter, überhaupt von ihrem veränderten äußeren Erscheinen persönlich betroffen zu sein, auch wenn ihr die neue Haarfarbe ein Posting innerhalb ihres persönlichen Profils wert ist. Denn sie legt letztlich nahe, dass sie so oder ähnlich auch bei jeder anderen Nutzerin hätte ausfallen könnte und inszeniert das Färben ihrer Haare als einen austauschbaren technischen Vorgang. Begreift man ihre Fotografie zusätzlich auch als Reaktion auf die Inszenierungsangebote auf der Verpackung, fällt auf, dass sie mit ihr nicht die Porträts auf der Vorderseite der Haarfärbemittel aufgreift. Eher hält sie sich an die Darstellungen, die auf den Seitenflächen der Produktverpackungen
11 Hornuff, Daniel: „Die Bartakteure. Zur Bildkompetenz in sozialen Netzwerken“, in: Jörg Scheller/Alexander Schwinghammer (Hg.), Anything Grows: 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes, Stuttgart: Franz Steiner 2014, S. 277–293.
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zu finden sind: diejenigen Farbmuster also, die die voraussichtliche Haarfarbe ausweisen, ohne sie in ein Porträt, in ein erwartbares Gesamtbild einzufügen. Auch in dieser Hinsicht scheint ihr das Produkt und der Vorgang, die Haare zu färben, nichts zu sein, was sie zum Gegenstand ihrer persönlichen Aneignung machen möchte. So viel Abstand diese Nutzerin bereits von den meisten anderen Selbstporträts nimmt, sie wird von einigen Nutzerinnen darin sogar noch übertroffen. Gar nicht selbst im Bild zu erscheinen, ist dabei vermutlich derjenige Schritt, von dem sich diese Nutzerinnen nicht zuletzt auch einen Differenzgewinn gegenüber den Aufnahmen anderer erhoffen. Nur die Szenerie, an der die Haarfärbung stattfand, und die abgelegten Werkzeuge, die Reste des Verwandlungsakts also, werden Teil ihrer Bildlösung. In gewisser Hinsicht entsprechen diese Fotografien ähnlichen Ansprüchen wie sie häufig Aufnahmen von Künstlerateliers zugrunde liegen. So versprach sich der amerikanische Fotograf und Zeitschriftenherausgeber Alexander Liberman in seinem Buch „The Artist in his Studio“, um nur ein Beispiel zu nennen, durch Atelieransichten den Kern des „kreativen Akts offenzulegen“, ja „den kreativen Prozess selbst“ zeigen zu können, egal ob es sich um die Ateliers von Bonnard, Matisse, Picasso oder Léger handelte.12 Ein paar abgelegte Pinsel oder von Farbresten besetzte Paletten überhöhte er damit zu Kreativitätsreliquien, an denen man angeblich die Leistungsstärke der Künstler unmittelbar ablesen könne. Auch den Nutzerinnen, die die Stätte des Haarefärbens in ihren Aufnahmen darstellen, schwebt ein solcher Rückschluss vor. Hier soll in den benutzten Werkzeugen und Arbeitsresten der eigentliche Gestaltungsakt erkennbar werden, wenn auch nicht Leinwände, sondern Frisuren Gegenstand der Bemühungen sind. Die Nutzerin karla.yeager etwa lenkt die Aufmerksamkeit auf die aus den Haaren ausgewaschene Farbe, die die Badewanne gleichsam in einen Ausnahmezustand versetzt, der als Beleg für die vollzogene Selbstverwandlung einstehen soll (Abb. 6). Im Gegensatz zu Fotografen wie Liberman, die Künstlerateliers als mysteriös anmutende Räume der Kreativität verklären, offeriert die Nutzerin Einblick in einen Gestaltungsprozess, dessen Einzelheiten ohnehin allseits bekannt sind. Auch sucht hier kein außenstehender Beobachter nachträglich nach Kreativitätsreliquien,
12 Liberman, Alexander: The Artist in His Studio, New York: Random House 1988.
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sondern es ist die Nutzerin selbst, die die gerade vollzogene Neugestaltung ihrer Frisur vermittelt ins Bild setzt. Entscheidend ist jedoch, dass sie die Aufmerksamkeit allein auf die allgemein bekannten Gebrauchsschritte lenkt, die für das Produkt kennzeichnend sind. Obwohl sie es ist, die diese Schritte vornimmt, verzichtet sie darauf, sich mit ihnen unmittelbar in Verbindung zu bringen und unterstreicht eher, dass sie wie alle anderen lediglich den üblichen Schritten folgt, die die beigefügte Gebrauchsanweisung erläutert. In dieser Hinsicht zeigt sie sich als Imitatorin ganz ohne Originalitätsansprüche. Zugleich wählt sie für ihre Aufnahme jedoch einen Abschnitt des Färbeprozesses, der ein hohes Maß an Fotogenität besitzt. So reklamiert sie für sich schlussendlich doch auch ein „kreatives“ Image, indem sie eine Bildlösung sucht, die sich auffällig stark ebenso von den sonst veröffentlichen Selbstporträts anderer Nutzerinnen wie von den Inszenierungsangeboten des Unternehmens abhebt. Doch wie jeder Fotografie, die auf einer Bildplattform wie Instagram veröffentlicht wird, schnell neuere Ergänzungen folgen, ist auch diese Aufnahme, mit der die Nutzerin ihre Distanznahme fixiert, in einem größeren Zusammenhang zu sehen. In diesem Fall hat sie zuvor bereits mit einer Fotografie angekündigt, noch am Abend ihre Haare färben zu wollen (Abb. 7). Das in mehrere Einzelflächen zerteilte Bild gibt dem Haarfärbeprodukt selbst am meisten Raum, während die untere Bildhälfte aus Selbstporträts besteht, die ganz offensichtlich von früheren Daten stammen. So ruft sie vergangene „Frisurendesigns“ in Erinnerung, um zu verdeutlichen, sich über längere Zeit als besonders wandlungsfähig erwiesen zu haben. Umgekehrt erhalten die beiden Verpackungen in der oberen Hälfte des Bildes so große Prominenz, dass sie, statt selbst für ihr gewandeltes Erscheinen verantwortlich zu zeichnen, das Inszenierungsangebot des Unternehmens als den entscheidenden Orientierungsspunkt dieser Wandlungen kenntlich macht. Statt der eigenen Person positioniert sie als Ausgangspunkt die erworbenen Konsumgegenstände. Genaugenommen besteht ihre eigentliche Referenz vor allem in dem auf der Verpackung aufgedruckten Porträt, das auf Gestaltungsoptionen in der Zukunft bezogen wird, während die Selbstporträts in der unteren Bildhälfte einen Blick in die Vergangenheit vermitteln. Wie bei einem Curriculum Vitae vergangenen Leistungen Prognoselast für die Zukunft aufgebürdet wird, dient das Resümee vergangener Haarfärbungen auch hier der Vorschau auf die nächste Wandlung. Sie grenzen ein, wie das ange-
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strebte Erscheinen aussehen könnte, liefern zugleich aber auch einen Vergleichsrahmen, in dem sich neue Frisuren von früheren unterscheiden müssen. Kreativitätsleistungen werden auch hier ganz offensichtlich über komparative Bezugsetzungen erschlossen, einerseits prognostisch über die auf den Verpackungen aufgedruckten Porträts, andererseits im Rückblick auf Selbstporträts aus der Vergangenheit. Eine weitere, ebenfalls deutlich vom Selbstporträt abgewandte Inszenierungsform findet sich in der Aufnahme der Nutzerin xlovingindie. Statt des rot gefärbten Abwassers werden hier die Flasche des Färbemittels, die entleerte Verpackung und die gebrauchten Handschuhe als Belege der vollzogenen Selbstverwandlung vorgestellt (Abb. 8). Anders als die schon erwähnten Nutzerinnen nimmt sie mit ihrem Titel „Chronik eines langen angekündigten Mordes“ jedoch auch sprachlich pointiert zum Produkt und seiner Anwendung Stellung. Der Titel dramatisiert das Färben der Haare dabei so stark, dass man vermuten muss, die Nutzerin identifiziere sich nur wenig mit dem Role Model, das das Produkt nahelegt. Mit ironischer Distanz blickt sie auf ihre nun gewandelte äußere Erscheinung und zugleich auch auf den Gebrauch des Produkts. Bereits angesichts dieser wenigen Fotografien fällt es schwer, die Nutzerinnen einseitig als heroisch-kreative Konsumsouveräninnen zu zeichnen, die stets nur um zukunftsträchtige Originalität bemüht wären. Ebenso wenig wird man aber behaupten können, dass die Nutzerinnen sich nur auf selbstlose Adaption und Imitation verlegt hätten und das Geschäft der Inszenierung anderen Nutzerinnen oder gar den Marketingabteilungen der Unternehmen überlassen. Vielmehr praktizieren sie mit ihren Fotografien eine changierende, mehrdeutig angelegte Rollengestaltung, die oft beide Seiten integriert, Kreativitätszuordnungen immer wieder verlagert und sich zum Teil sogar innerhalb kurzer Zeiträume ändern kann. So sind diese Aufnahmen von Konsumgegenständen nicht zuletzt Gelegenheiten, Abstand von einseitigen Einschätzungen der Konsumkultur zu gewinnen. Ihre nähere Betrachtung lässt es deutlich weniger attraktiv erscheinen, Konsumenten entweder als „rational oder irrational, souverän oder manipuliert, autonom oder fremd bestimmt, aktiv oder passiv, kreativ oder konformistisch, individuell oder vermasst, Subjekt oder Objekt“ zu beschreiben, wie es Don Slater zufolge viel zu oft geschieht.13 Statt dessen
13 Slater, Don: Consumer Culture and Modernity, London: Polity 1999, S. 33–34.
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können diese Fotografien Anlass dazu geben, die oft eher mehrdeutigen oder gar sich widersprechenden Haltungen der Nutzer gegenüber Konsumgegenständen differenziert nachzuzeichnen. So hätte es sicherlich nicht weit geführt, den Nutzerinnen, die ihren Umgang mit Haarfärbeprodukten ins Bild setzen, vorschnell entweder nur herausragende kreative Originalität oder umgekehrt ausschließlich antikreatives Nachahmungsgeschick zu unterstellen. Genauso wird man sich auch bei anderen vergleichbaren Fotografien im besten Fall nicht auf eine allzu einseitige Beschreibung festlegen. Wenn dies aber gelänge, könnten die Aufnahmen von Konsumgegenständen, wie sie auf Bildplattformen wie Tumblr und Instagram zugänglich sind, dazu anregen, bei der Erforschung von Konsumphänomenen ein schattierungsfähiges Denken zu kultivieren.
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Abbildung 1: glittermoth, Instagram-Posting vom 8. März 2014
Screenshot: Simon Bieling
Abbildung 2: _uniquenessa_, Instagram-Posting vom 14. Januar 2014
Screenshot: Simon Bieling
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Abbildung 3: amlynnxo, Instagram-Posting vom 24. Januar 2013
Screenshot: Simon Bieling
Abbildung 4: amlynnxo, Instagram-Posting vom 26. Januar 2013
Screenshot: Simon Bieling
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Abbildung 5: mejellybelly, Instagram-Posting vom 10. Mai 2014
Screenshot: Simon Bieling
Abbildung 6: karla.yeager, Instagram-Posting vom 15. Juni 2014
Screenshot: Simon Bieling
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Abbildung 7: karla.yeager, Instagram-Posting vom 15. Juni 2014
Screenshot: Simon Bieling
Abbildung 8: xlovingindie, Instagram-Posting vom 14. Juni 2014
Screenshot: Simon Bieling
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Der Zauberstab: ein Quell der Freude für jede gute Hausfrau Soziologische Reflexionen zum Verhältnis von Konsum und Kreativität K AI -U WE H ELLMANN
In vielen deutschen Küchen gehört der ESGE-Zauberstab zum festen Inventar. Sein Ruf ist legendär, zumindest bei älteren und erfahrenen Köchen und Köchinnen. Obgleich einfach und kompakt gebaut, ganz dem Praktischen zugewandt, gleicht das Gerät fast einem Wunderwerk der Technik, betrachtet man die teilweise sich überschlagenden Lobeshymnen im Internet auf einer Vielzahl von Blogs, Chatrooms und Plattformen. Selbst im persönlichen Gespräch wird einem die Anschaffung des „Zauberstabs“ (speziell und ausschließlich dieses Rührstabes) emphatisch ans Herz gelegt – „und bloß kein anderer!“ wird noch gedrängt. Mittels verschiedener Aufsätze können die unterschiedlichsten Speisen und Getränke zubereitet werden (Abb. 1). Mit dem Multi-Messer kann man etwa „Zerkleinern oder Passieren (Babynahrung), Anrühren von Teigen, Herstellen von Fruchteis oder auch … Eiscrushen“; die Schlagscheibe kann für „Schlagsahne (Stufe I), Milchschaum für Cappuccino, Diätsahne, Bisquit oder zum Aufschäumen und Montieren von Saucen“ eingesetzt werden; und mit dem Quirl können „Eier, Omelette, Palatschinkenteig, Pfannkuchen, Kartoffelpüree, Salatdressings, Mayonnaisen oder viele Emulsio-
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nen im Bereich der Kosmetik“ bewerkstelligt werden.1 Über diese herstellerseitig inspirierten Zubereitungsvorschläge hinaus kursieren im Internet zahlreiche weitere Ideen und Rezepte, für die der ESGE-Zauberstab als Allrounder empfohlen und vorgeführt wird, auch via Videos – häufig mit der Versicherung absoluter Gelinggarantie versehen. Abbildung 1: Der ESGE-Zauberstab mit Accessoires
Quelle: http://www.esge-zauberstab-shop.de/010@90750/ESGE-ZauberstabM-200-Superbox.htm
Damit avanciert der ESGE-Zauberstab zu einem Katalysator kreativen Kochens; er kann für alle möglichen Verwendungszwecke in der Küche und darüber hinaus eingesetzt werden; er fördert die individuelle Experimentierlaune und setzt der Kreativität beim Kochen fast keine Grenzen. Zudem werden im regen Austausch mit anderen Zauberstab-Fans ständig neue Ideen und kulinarische Innovationen generiert: Die Kochküche wird qua Zauberstab quasi zum Erfinderlabor.
1
Vgl. die Homepage http://www.esge-zauberstab.de/esge-zauberstab.html vom 10.12.2014, unter der Rubrik „60 Jahre Erfahrung – die Vorteile des Original ESGE-Zauberstab“.
D ER Z AUBERSTAB:
„I ST
EIN
Q UELL
DER
FREUDE FÜR
JEDE GUTE
ALLES SO SCHÖN KREATIV HIER !“
H AUSFRAU | 167
2
Der ESGE-Zauberstab ist nur ein Beispiel für eine beispiellose Institutionalisierung3 des Kreativen beim Konsum in allen Belangen des täglichen Lebens. Das Kochen mag sich hierfür besonders eignen, aufgrund der Komplexität der Zutaten, Kombinationen, Stile und durch Gastronomie, Magazine, Reklame und Tourismus unentwegt animiert.4 Aber auch das Backen
2
In Anlehnung an die Zeile „Ich kann mich doch gar nicht entscheiden, Ist alles so schön bunt hier!“ aus dem Song „Ich glotz‘ TV“ von Nina Hagen 1978.
3
Für Luhmann (Luhmann, Niklas: „Institutionalisierung: Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft“, in: Helmut Schelsky (Hg.): Zur Theorie der Institution. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1970, S. 27–41, hier S. 30) „leistet Institutionalisierung die Generalisierung von Konsens.“ Im Hinblick auf die Institutionalisierung des Kreativen beim Konsum soll damit der verbreitete Effekt erfasst werden, dass die Behauptung kreativen Konsums heutzutage sogleich mit Zustimmung rechnen kann, ganz wie bei Werten generell, vgl. Luhmann, Niklas: „Von der allmählichen Auszehrung der Werte: Sind die Zeiten gesellschaftlicher Utopien für immer vorbei?“, in: Gerd Voswinkel (Hg.): Zu neuen Ufern oder Aufbruch in die Sackgasse? – Zum Problem des Fortschritts in unserer Zeit – Mindener Gespräche, Band 2. Referate und Diskussionen der Universitätswoche 1985. Minden: J. C. C. Bruns 1985, S. 69– 91 und Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? Heidelberg: C.F. Müller 1993. Dies nimmt übrigens nur vorweg, wofür gleich noch Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozeß gesellschaftlicher Ästhetisierung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2012 bemüht wird.
4
Vgl. die völlig überzogene Eingangsfeststellung von McCabe/de Waal Malefyt: „Creativity in the kitchen is a normal part of everyday life in US homes.“ (McCabe, Maryann/de Waal Malefyt, Timothy: „Creativity and cooking: Motherhood, agency and social change in everyday life“, in: Journal of Consumer Culture (2013), S. 1, http://joc.sagepub.com/content/early/2013/06/19/14695405 13493202.full.pdf+html vom 10.12.2014). Ob das mit der dortigen Fast Food Kultur zu tun hat? Die hohe Kunst des kreativen Kochens findet man unterdessen vorbildlich thematisiert in der FAZ-Rubrik „Geschmackssache“ von Jürgen Dollase, vorbildlich vor allem für viele Hobbyköche – von den vielen neuen Kochshows einmal abgesehen. Vgl. ferner Southerton, Dale: „Consuming Kitchens. Taste, context and identity formation“, in: Journal of Consumer Cul-
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kann offenbar kreativ gestaltet werden. So wirbt der Tchibo Newsletter – prima facie vielleicht eher kontraintuitiv – vom 22. November 2014 mit der Überschrift „Kreative Weihnachtsbäckerei“, zwar nicht gänzlich sinn-, aber doch weitgehend textlos, zwecks Anpreisung zahlreicher Backutensilien (Abb. 2).5 Abbildung 2: Kreative Weihnachtsbäckerei
Quelle: Tchibo Newsletter vom 22. November 2014
Schaut man sodann über den „Tellerrand“ der Küche hinaus, entdeckt man unschwer eine Flut von Praktiken kreativen Konsums, zumindest in den zahllosen Selbstbeschreibungen der Protagonisten. Gleichsam mit Retrochic beschönigt, wird begeistert genäht, gehäkelt und gestrickt, was das Zeug hält, durch neue, eigens erschaffene Websites und Magazine erfolgreich auf den Weg gebracht. Das kreative Moment steht dem kontemplativsozialen dabei in nichts nach.
ture 1 (2001), H. 2, S. 179–203, hier S. 189, der sich beiläufig mit „user’s creative cooking capacities“ befasst; ähnlich Truninger, Monica: „Cooking with Bimby in a moment of recruitment. Exploring conventions and practice perspectives“, in: Journal of Consumer Culture 11 (2011), H. 1, S. 37–59. 5
Der Tchibo Newsletter ist unter https://www.tchibo.de/ einsehbar. Dabei sind mit Datum vom 10. Dezember 2014 von den 33 angebotenen Artikeln schon 27 ausverkauft („Leider schon vergriffen“), was zumindest von der Kreativität Tchibos zeugt.
D ER Z AUBERSTAB:
EIN
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DER
FREUDE FÜR
JEDE GUTE
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Schweift man weiter, kommen zahlreiche ähnliche Do-it-yourselfAktivitäten in den Blick, von großen Heimwerkermärkten wie Hornbach und Obi – mit einem feinen Gespür fürs Gendermainstreaming – seit Jahren dahingehend konditioniert, sich etwas zu trauen, etwas Neues auszuprobieren, sich zu verwirklichen und kreativ zu werden.6 Hierzu gehört auch der wachsende Markt der Second Hand-Produkte, der die Kreativität privater Anbieter („Läßt sich das vielleicht noch verkaufen?“) wie Nachfrager („Gibt’s das nicht auch gebraucht und billiger?“) sehr befördert, zum Wohle von ebay allemal.7 Unterstützung erfährt dieser Trend noch durch die stetig größer werdende Zahl von Repair Cafés, in denen alles Mögliche wieder in Schuss gebracht wird, von Konsumenten für Konsumenten, häufig umsonst, gegen eine kleine Spende vielleicht.8
6
Ausgesprochen kreativ (und PR-mäßig erfolgreich) war etwa die Umwandlung eines tschechischen Schützenpanzers in „7000 Hämmer – die zum Preis von 125 Euro pro Stück binnen weniger Tage ausverkauft waren.“ (Löhr, Julia: Wenn Werber zu Hammerherstellern werden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Mai 2014) In den DIY-Bereich gehört auch die wild wuchernde Aneignungskultur privater Produktverfremdungen, vgl. Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Wagenbach 2013, S. 151ff.
7
Vgl. Blättel-Mink, Birgit: „Prosuming im online-gestützten Gebrauchtwarenhandel und Nachhaltigkeit. Das Beispiel eBay“, in: Birgit Blättel-Mink/KaiUwe Hellmann (Hg.): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010. Wie überhaupt der „Gewissenswohlstand“, d.h. Konsum mit einem guten Gewissen anzustreben, inzwischen enorme Akzeptanz und Verbreitung gefunden hat, vgl. W. Ullrich, Alles nur Konsum, S. 127ff.
8
Vgl. Scherer, Katja: Repair Cafés: „Basteln gegen den Konsumwahn“, http:// www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/in-repair-cafes-werden-defekte-gegenstaenderepariert-a-970554.html vom 10.12.2014. Hierzu gehört auch die „Share Economy“, vgl. Hofer, Sebastian: „Teilen statt kaufen: So klappt’s auch mit dem Nachbarn“,
http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/share-economy-werkzeug-
ausleihen-ueber-den-eigenen-briefkasten-a-988403.html vom 10.12.2014. Ein neueres Beispiel dafür stellt die Internetplattform Eatfeastly.com dar, worüber – funktional äquivalent zu uber.com, wo das eigene Auto als Taxi eingesetzt wird – die eigene Küche und Kochfertigkeit für zahlende Gäste zur Verfügung gestellt
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Überdies gibt es das inzwischen völlig unübersichtlich gewordene Feld von Crowdsourcing & Open Innovation;9 weiters das Heer der Erfinder und Entwickler von Apps in den Bereichen Spiele, Unterhaltung und Telekommunikation. Außerdem die lawinenartige Ausbreitung der Selfie-Kultur, die vor lustigen Einfällen der Selbstablichtung nur so strotzt;10 oder das Aufkommen des „Social Reading“, auch dies eine sehr kreative Form des gemeinsamen Konsums von Büchern (Müller 2014). Sogar in der Kunst regt der Konsum zur Kreativität an. Längst denkwürdig geworden sind Warhols Campbell-Büchsen; jüngst aber auch das Abzeichnen selbst erworbener Konsumgüter durch Kate Bingaman-Burt11 (und der anschließende Verkauf ihrer Zeichnungen) oder die nicht minder
werden, mit dem Motto „Mein Herd ist dein Herd, mein Eßtisch deiner“, vgl. den Artikel „Das Netz der Mitesser“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Oktober 2014, S. 22. 9
Vgl. Hippel, Eric von: The Sources of Innovation, http://web.mit.edu/evhippel/www/sources.htm vom 10.12.2014; Howe, Jeff: The Rise of Crowdsourcing, http://archive.wired.com/wired/archive/14.06/crowds.html
vom
10.12.2014;
Füller, Johann: „Why Consumers Engage in Virtual New Product Developments Initiated by Producers“, in: Advances in Consumer Research 33 (2006), S. 639–646; Leimeister, Jan: „Crowdsourcing. Crowdfunding, Crowdvoting, Crowdcreation“, in: Zeitschrift für Controlling und Management 56 (2012) H. 6, S. 388–392. Verwandt damit ist das „Crowdfunding“, d. h. das kollektive Einsammeln von Startkapital von Privatkonsumenten für Sozialprojekte und ähnliche Initiativen, etwa bei der Gründung des Einzelhandelsladens „Original Unverpackt“ in Berlin Kreuzberg, vgl. Küpper, Mechthild: „Berliner ohne Verpackung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. September 2014, S. 7. Oder bei der unaufschiebbaren Erfindung einer revolutionären Kaffeemaschine, vgl. Koschnitzke, Lukas: „Die Cappucino-Revolutionäre“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. September 2014, S. 24. 10 Vgl. den Beitrag „Australier empören sich über Tatort-Selfies“, http:// www.spiegel.de/panorama/justiz/geiselnahme-in-sydney-schaulustige-fotografieren-selfies-am-tatort-a-1008495.html vom 15.12.2014 11 Vgl. hierzu W. Ullrich, Alles nur Konsum, S. 153f.
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kunstfertige Vermischung von Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst (Blanché 2012).12 Diese eher zufällige, hochkontingente Aufzählung umfasst Konsumpraktiken, die nicht nur durch eine erhebliche Beimischung von Kreativität glänzen, sondern insgesamt auch sehr positiv konnotiert werden.13 Anerkennung und Aufbruchsstimmung, Besinnung und Freude, Sinnes- bzw. Wertewandel, ja Altruismus schwingen in vielen Beiträgen und Kommentaren der Massenmedien mit, einschließlich der zahllosen Selbstauskünfte derart kreativer Konsumenten. Doch sollte man bei einer so einseitigen Aufzählung nicht stehen bleiben. Denn es gibt auch die „dunkle“ Seite des kreativen Konsums. Hierzu gehört etwa der „Burnout“ bei Motorradtreffen oder der gezielte Umbau von Pick ups und SUVs, um damit besonders viel Treibstoff auf öffentlichen Straßen zu verbrauchen, ebenfalls aus den USA kommend und „Coal Rolling“ genannt, jedes Mal zur ausgelassenen Freude dieser aktiven Umweltverschmutzer und mit Hohn und Spott gegen ökologisch gesinnte Konsumenten gerichtet (mitunter aber auch bloß Besitzer von Kleinstwagen schmähend).14 In diesen Kontext gehört sicher auch das „Pimpen“ von Autos, also das aufwendige, häufig ins kitschig-hypertrophe ausartende Redesignen von PKWs, oder High-Speed-Motorradfahren, mit über 300 Stundenkilometer innerhalb von Städten. Wie auch generell High-RiskSportarten wie Free Climbing, Free Skiing oder Base Jumping etwas Fragwürdiges haben mögen, denkt man etwa an verantwortungsvollen Konsum – doch die damit verbundene Kreativität ist unbestreitbar. Diese zeigt sich auch bei der Erfindung der Jet Glider, durch den Umbau herkömmlicher Jet
12 Vgl. Blanché, Ulrich: Konsumkunst. Kultur und Kommerz bei Bansky und Damien Hirst. Bielefeld: transkript 2012. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Drügh, Heinz/Metz, Christian/Weyand, Björn (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2011. 13 Wobei auch hier Querschläger und Renegaten aufkommen mögen, wie etwa der „Brokkoli Tarzan“ Attila Hildmann, der für seine Bestseller der veganen Küche von der veganen Gemeinde schärfstens angefeindet wird, weil er nicht deren Lebensstil und Ideologie teilt, vgl. Fromme, Claudia: „Der Brokkoli-Tarzan“, in: Süddeutsche Zeitung vom 15./16. November 2014, S. 64. 14 Das entsprechende Videomaterial bei Youtube vermittelt ausreichend Anschauung.
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Skis entstanden, mit denen man übers Wasser „schweben“ kann, ohrenbetäubend und enorm spritfressend.15 Es geht aber auch deutlich weniger spektakulär zu, etwa beim 3DDrucken,16 angesichts der enormen Farb- und Geschmacksauswahl bei Elektrischen Zigaretten, bezüglich der Spieleleidenschaft beim Pokern oder beim Schnäppchenjagen, dem ständigen Ergattern von Sonderangeboten: allemal erfinderisch, aber völlig harmlos. Dies gilt übrigens auch für die strategische Vorteilsnahme beim Versandhandel, wenn etwa zehn Paar Schuhe über Zalando bestellt werden und neun wieder zurückgehen, weil kein Rückporto für die Konsumenten anfällt: Das ist eine durchaus kreative und bislang legitime Ausnutzung gegebener Marktchancen, wenn auch ressourcenseitig höchst fragwürdig.17
15 Vgl. exemplarisch das Video „JetLev-Flyer Water Jet Pack Facts“ (https:// www.youtube.com/watch?v=0snTqLQLpBA vom 10.12.2014). Fragwürdig mag auch der Bau einer Großanlage zum permanenten Wellenreiten auf der grünen Wiese erscheinen, solange man die Ansicht vertritt, dass wir gegenwärtig gerade keinen eklatanten Mangel an Freizeitmöglichkeiten erleiden, vgl. Uliczka, Leonie: „Die perfekte Dauerwelle“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. März 2014, S. 18. 16 Vgl. Paul, Holger: „Der Software-Schmid“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. November 2014, S. 24. Nur am Rande: Es wird dereinst spannend sein zu erfahren, wie hoch der Ressourcenverbrauch bei Privatkonsumenten zu veranschlagen ist, wenn sich diese Technologie entsprechend skaliert für jedermann anbietet und dann gelungene wie mißlungene 3D-Exemplare die Regale und Mülleimer auffüllen, bei höchst fragwürdigem Gebrauchsnutzen, sofern man diesen Maßstab noch gelten läßt. Hier gibt es gewisse Gemeinsamkeiten mit der ausgeprägten Flopkultur der Nahrungsmittelindustrie, vgl. den Beitrag „CocaCola jetzt auch in der Bio-Version“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. Juni 2014, S. 27. 17 Problematisch stellen sich inzwischen auch manche Geschäftspraktiken der „Sharing Economy“ dar, etwa bei Airbnb und Uber, die einerseits von erheblicher Kreativität zeugen, nicht bloß anbieterseitig, weil es für den Erfolg solcher Geschäftsmodelle ja der Mitarbeit der Konsumenten bedarf, andererseits parasitäre Effekte zeitigen, vgl. den Beitrag „Der Fiskus ist Airbnb und Uber auf der Spur“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Oktober 2014, S. 16.
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Weniger harmlos schaut es hingegen bei Ladendiebstahl, Mietnomaden oder Stromklauern aus; nichtsdestotrotz kann man auch diesen Konsumenten eine gewisse Kreativität bei ihren Straftaten nicht absprechen. Ähnlich verhält es sich bei Graffiti oder Plagiaten: rechtlich grenzwertig, aber hochgradig kreativ, so scheint es zunächst. Auch diese Aufzählung von Konsumpraktiken, die zwar allemal kreativ sein mögen, aber mehrheitlich doch wenig Zuspruch erfahren, ist zufällig und beliebig. Festzuhalten ist allerdings, dass es nicht bloß eine „lichte“, sondern eben auch eine „dunkle“ Seite des kreativen Konsums gibt, wenn man so sagen möchte. Wobei für alle diese Beispiele noch ungeklärt ist, inwieweit es sich tatsächlich um einen Akt echter Kreativität handelt, wenn derartige Konsumpraktiken zu Tage treten. Die einschlägige Konsumforschung hat zur Klärung dieser Frage, außer einer verbreiteten Zustimmung und Vorverständigtheit, was das Kreativitätsmoment an diesen Konsumformen betrifft, bislang nur wenig beigetragen. Durchforstet man etwa die international führende Fachzeitschrift für Konsumforschung, das Journal of Consumer Research, so wirft der Suchmechanismus bei der Worteingabe „Creativity“ über 40 Jahrgänge hinweg nur 13 Artikel aus, von denen gerade einmal vier sich explizit mit dem Zusammenhang von Konsum und Kreativität („consumer creativity“) befassen (Hirschman 1980; Burroughs/Mick 2004; Moreau/Dahl 2005; Yang et al. 2011) – und davon unternimmt kein einziger eine kritische Überprüfung dieses Zusammenhangs.18 Allzu hoch scheint die Relevanz von Kreativität
18 Vgl. ferner Holt, Douglas: „Why Do Brands Cause Trouble? A Dialectical Theory of Consumer Culture and Brands“, in: Journal of Consumer Research 29 (2002), S. 70–90; Mehta, Ravi/Zhu, Rui (Juliet)/Cheema, Amar: „Is Noise Always Bad? Exploring the Effects of Ambient Noise on Creative Cognition“, in: Journal of Consumer Research 39 (2012), S. 784–799; Chen, Fangyuan/Sengupta, Jaideep: „Forced to Be Bad: The Positive Impact of LowAutonomy Vice Consumption on Consumer Vitality“, in: Journal of Consumer Research 41 (2014), S. 1089–1107. Im Journal of Consumer Culture, immerhin erst seit 2000 bestehend, ist die Ausbeute etwas besser, aber mit den gleichen Defiziten, vgl. Campbell, Colin: „The Craft Consumer. Culture, craft and consumption in a postmodern society“, in: Journal of Consumer Culture 5 (2005) H. 1, S. 23–42; Campbell, Howard: „Chicano Lite. Mexican-American consumer on the border“, in: Journal of Consumer Culture 5 (2005), H. 2, S. 207–233;
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Shove, Elizabeth/Pantzar, Mika: „Consumers, Producers and Practices. Understanding the invention and reinvention of Nordic walking“, in: Journal of Consumer Culture 5 (2005), H. 1, S. 43–64; Watson, Matthew/Shove, Elizabeth: „Product, Competence, Project and Practice. DIY and the dynamics of craft consumption“, in: Journal of Consumer Culture 8 (2008), H. 1, S. 69–89; Zwick, Detlev/Bonsu, Samuel K./Darmody, Aron: „Putting Consumers to Work. ‚Cocreation‘ and new marketing govern-mentality“, in: Journal of Consumer Culture 8 (2008), H. 2, S. 163–196; Bookman, Sonja: „Urban brands, culture and social division: Creativity, tension and differentiation among middle class consumers“, in: Journal of Consumer Culture 14 (2014), H. 3, S. 324–342. Siehe ferner Hirschman, Elizabeth C.: „Consumer Intelligence, Creativity, and Consciousness. Implications for Consumer Protection and Education“, in: Journal of Public Policy and Marketing 2 (1983) H. 1, S. 153–170; Kehily, Mary Jane: „Consumption and Creativity“, in: Mary Jane Kehily/Joan Swann (Hg.): Children’s Cultural Worlds, Milton Keynes/Chichester: The Open University/John Wiley & Sons 2003, S. 271–313; Santagata, Walter: „Creativity, fashion and market behavior“, in: Dominic Power/Allen J. Scott (Hg.): Cultural Industries and the Production of Culture. London/New York: Routledge 2004, S. 75–90; Sacco, Pier Luigi/Segre, Giovanna: Creativity and New Patterns of Consumption in the Experience Economy. Working Paper No. 02/2006. International Centre for Research on the Economics of Culture, Institutions, and Creativity (EBLA). Università di Torino; Dahl, Darren W./Moreau, Page C.: „Thinking inside the Box: Why Consumers enjoy Constrained Creative Experiences“, in: Journal of Marketing Research 44 (2007), S. 357–369; Füller, Johann/Jawecki, Gregor/Mühlbacher, Hans: „Innovation creation by online basketball communities“, in: Journal of Business Research 60 (2007), H. 1, S. 60–71; Burroughs, James E./Moreau, Page C./Mick, Glen: „Toward as Psychology of Consumer Creativity“, in: Curtis P. Haugtvedt/Paul M. Herr/Frank R. Kardes (Hg.): Handbook of Consumer Psychology. New York: Erlbaum 2008, S. 1011–1038; Yang, Xiaojing/Peracchio, Laura A.: „Is Thinking the Enemy of Creativity? The Impact of Cognition on Consumer Creativity“, in: Maria L. Cronley/Dhananjay Nayakankuppam (Hg.): Proceedings of the Society for Consumer Psychology 2008 Winter Conference. New Orleans: Society for Consumer Psychology 2008, S. 141–142; Darmody, Aron: „Value Co-Creation and New Marketing“, in: Technology Innovation Management Review 2009, Quelle: http://timreview. ca/article/302; Smith, Jesse C./Smith, Teresa M./Do, Ellen Yi-Luen: „Alcohol
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für den Konsum demnach nicht eingeschätzt zu werden. Außerdem bleibt man vordergründig etwas ratlos zurück, wie es eigentlich um die wahre Qualität der Kreativität solcher Konsumpraktiken, wie sie oben aufgeführt wurden, bestellt ist.19
and Creativity: A Pilot Study“, in: C & C‚ 09. Proceedings of the seventh ACM conference on Creativity and Cognition. New York: ACM 2009, S. 147–154; McGranahan, Liam: Mashnography: Creativity, Consumption, and Copyright in the Mashup Community. A Dissertation Submitted in Partial Fulfillment of the Requirements for the Degree of Doctor of Philosophy in the Program in Music: Ethnomusicology at Brown University. Providence, Rhode Island, May 2010. Quelle: http://gradworks.umi.com/34/30/3430142.html; Brownlie, Douglas/ Hewer, Paul: „Articulating consumers through practices of vernacular creativity“, in: Scandinavian Journal of Management 27 (2011) H. 2, S. 243–253; Dou, Wenyu/Wu, Jintao/Yao, Qin/Wen, Na: „Does Marketing Consumers Creative Improve Brand Evaluations? Exploring the Roles of Consumer Creativity in Online Marketing Communications“, in: Stephanie M. Noble/Charles H. Noble (Hg.): Marketing 2011: Delivering Value in Turbulent Times. 2011 AMA Educators‘ Proceedings. Chicago: Wacker Drice 2011, S. 338–344; Loebenberg, Abby: „Consumption, Collection, Creativity: Micro-Local Practices within Children’s Bedroom Play in Urban Vancouver“, in: Material Cultural Review 74/75 (2012), S. 116–130; Wong, Heung-Wah/Sugiura, Miki (Hg.): Japanese Consumer Creativity. User Innovations, Role Playing and Consumer Communities, New York/London: Routledge Chapman & Hall 2005. 19 „Hintergründig“ finden sind allerdings in den Advances in Consumer Research, den Konferenzbänden der Association of Consumer Research (ACR), nochmals „458 results“ bei einer entsprechenden Suchworteingabe, etwa Hirschman, Elizabeth C.: „The Creation of Product Symbolism“, in: Advances in Consumer Research 13 (1986), S. 327–331; Anderson, Laura/Rothstein, Paul: „Creativity and Innovation: Consumer Research and Scenario Building“, in: Advances in Consumer Research 31 (2004), S. 747–752; Herd, Kelly/Pew, Ethan/Warren, Caleb: „Product Meaning and Consumer Creativity“, in: Advances in Consumer Research 36 (2009), S. 875–877; Griskevicius, Vladas/Cialdini, Robert/Kenrick, Douglas: „The Muse Effect: When Romantic Motives Create Creativity“, in: Advances in Consumer Research 34 (2007), S. 15; Mitchell, Andrew: „Recent Research on Implicit Motivation“, in: Advances in Consumer Research 34 (2007), S. 270–275; Sellier, Anne-Laure: „Constraining the Consumption Envi-
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D AS K REATIVITÄTSDISPOSITIV UND DIE D ISPOSITION ZUM PSEUDOKREATIVEN K ONSUM Bevor der Versuch unternommen wird, den aktuellen Hype um die kreativen Konsumenten kritisch zu hinterfragen, soll zuvor noch die These der „Erfindung der Kreativität“ von Andreas Reckwitz kurz diskutiert werden, die bezüglich dieses Hypes einige Aufklärung verspricht. Reckwitz zufolge leben wir in einem Zeitalter, das unter einem strengen Kreativitätsgebot steht. Dessen Maxime lautet: „Man will kreativ sein und soll es sein.“20 Er bezeichnet dieses Gebot, Anspruch und Norm zugleich, als „Kreativitätsdispositiv“, das einen allumfassenden, mitnichten nur auf die Kunst oder die Wissenschaft begrenzten Einfluss übt und die ganzheitliche Anleitung und Formung des Individuums verfolgt.21 Hinsichtlich des je Einzelnen geht es dementsprechend „um eine quasikünstlerische, experimentelle Weiterentwicklung in allen seinen Facetten, in persönlichen Beziehungen, Freizeitformen, Konsumstilen und körperlichen oder psychischen Selbsttechniken. Die Orientierung an der Kreativität des Selbst ist dabei regelmäßig mit einem Streben nach Originalität, nach einer Unverwechselbarkeit des Ichs verbunden.“22
Damit wirkt das Kreativitätsdispositiv, so es denn existiert, gleichermaßen spezifisch wie universal. Ohne hier Reckwitz’ differenzierter Argumentation en detail nachzugehen, zeigt er für verschiedene Gebiete der gegenwärtigen Gesellschaft auf, dass das Konzept der Kreativität großen Anklang findet. In der Kunst ohnehin, aber auch im Design, in der Medienlandschaft, der Psychologie, der Städteplanung, der Wirtschaft und für die individuelle Lebensführung bestimmter Personenkreise („creative class“) erweist sich dieses Dispositiv als
ronment to Enhance Consumer Creativity“, in: Advances in Consumer Research 38 (2012), S. 39–42, die – ebenso wie viele weitere Beiträge in konsumaffinen Fachzeitschriften – gesondert analysiert werden müßten, was hier nicht geleistet werden kann. 20 A. Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S.10. 21 Ebd. S. 49ff. 22 Ebd. S.12.
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äußerst resonanzfähig und wirkungsstark – mit einer kulturhegemonialen Tendenz: Alles muss ästhetisiert werden und sich als höchst kreativ bewähren.23 So diffundiert es, ursprünglich in der Kunst entstanden, in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche, ohne dass ihm groß Widerstand entgegengebracht wird. Im Gegenteil, es scheint gerade so, als ob das Kreativitätsdispositiv allseits willkommen ist (u. a. zwecks Aussöhnung mit der zweckrationalen, emotionsarmen Engführung der bürgerlichen Lebensform) und sich zur neuen Metaerzählung der modernen Gesellschaft aufgeschwungen hat. Für den je Einzelnen erwächst daraus die stetige An- und Aufforderung, sich möglichst kreativ zu geben, sich im Prinzip als ein Künstler im Alltäglichen ständig neu zu erfinden. Zu dieser Gesellschaft zu gehören, in ihr eine gute, rundum akzeptable Figur zu machen, bedeutet in allererster Linie, sich als Kreativsubjekt zu verstehen und zu beweisen und in allem, was man tut (oder unterlässt), diesem hehren Anspruch gerecht zu werden.24 Wo immer also die Gelegenheit sich bietet (und beim Konsum sogar bevorzugt), gilt es daher, konsequent kreativ zu handeln (mithin auch kreativ zu konsumieren) – und sei es nur dem Anschein nach, durch die rein kreative Selbstinszenierung als Kreativsubjekt. „Die Hervorbringung von Neuem bezieht sich damit nicht nur auf Hervorbringung von Objekten, sondern auf performance des Subjekts selbst.“25
23 Vgl. Reckwitz, Andreas: „Die Erfindung des Kreativsubjekts. Zur kulturellen Konstruktion von Kreativität“, in: ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: transcript 2008, S. 235–257, hier S. 237 sowie Reckwitz, Andreas: „Der Kreative“, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten: Sozialfiguren der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 248–260, hier S. 250. Vgl. Richards, Greg/Wilson, Julie: „Developing creativity in tourist experiences: A solution to the serial reproduction of culture?“, in: Tourism Management 27 (2006), S. 1209–1223, hier S. 1214: „Whether developed endogenously or exogenously, there are a number of reasons for supposing that creativity is becoming important to individuals and groups across many different sectors of society.“ Und anschließend noch stärker insistierend: „Arguably ‚creativity‘ is now becoming as fundamental as ‚culture‘ was in the latter years of the 20th century.“ 24 A. Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 345ff. 25 A. Reckwitz, Kreativsubjekt, S. 254.
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Gerade dem Konsum scheint dabei eine herausragende Rolle zuzukommen.26 „Consumption is the key to the new economy/creativity mantra.“27 Nach Reckwitz ist für diese Verbindung von Konsum und Kreativität ausschlaggebend geworden, dass einerseits die Kunst selbst in der Wirtschaft, speziell der Werbung und dadurch mit direkter Wirkung auf den Konsum, sehr stark nachgefragt wurde. Die durchgängige Ästhetisierung der Kommunikation mit den Kunden avancierte zum non plus ultra erfolgreicher Werbekampagnen.28 Andererseits hatte das Kunstpublikum eine entscheidende Funktion für die Frage zugewiesen bekommen, was Kunst ist und erfolgreich macht. Es rückte damit in eine äußerst aktive Position ein: Von ihm hing es am Ende des Tages ab, was als Kunst Anerkennung finden und Bestand haben sollte – und von hier aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt dahin, dass nicht nur das Kunstpublikum, als kundiges Publikum in Sachen Kunst, sondern das allgemeine, bereichsübergreifende Publikum und dann wiederum das Konsumpublikum im Besonderen mit einem generellen Aktivitätsbonus ausgestattet wurden.29 Der moderne Konsum erfuhr
26 Viele Effekte, die Reckwitz für Kreativität beschreibt, ließen sich übrigens auch auf Konsum anwenden, was die Möglichkeit eröffnen würde, Konsum ebenfalls als ein Dispositiv zu konzipieren. Eine wichtige Vorarbeit hierfür wäre etwa „Die Konsumgesellschaft“ von Jean Baudrillard (Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2014), 1970 veröffentlicht. 27 Miller, Toby: „A view from a fossil. The new economy, creativity and consumption – two or three things I don’t believe in“, in: International Journal of Cultural Studies 7 (2004), H. 1, S. 55–65. hier S. 61. 28 Schmitt, Bernd/Simonson, Alex: Marketing-Ästhetik. Strategisches Management von Marken, Identity und Image. Düsseldorf: Econ 1998. D. Holt: Why Do Brands Cause Trouble? Koppetsch, Cornelia: Das Ethos der Kreativen. Eine Studie zum Wandel von Arbeit und Identität am Beispiel der Werbeberufe. Konstanz: UVK 2006. Botterill, Jacqueline: „Cowboys, Outlaws and Artists. The rhetoric of authenticity and contemporary jeans and sneaker advertisements“ in: Journal of Consumer Culture 7 (2007), H. 1, S. 105–125. 29 Gerhards, Jürgen: „Der Aufstand des Publikums. Eine systemtheoretische Interpretation des Kulturwandels in Deutschland zwischen 1960–1989“, in: Zeitschrift für Soziologie 30 (2001), H. 3, S. 163–184. D. Holt: Why Do Brands Cause Trouble?
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seine ästhetisch-kreative Aufwertung somit von zwei Seiten: zum einen durch die Produzenten qua Werbung, zum anderen durch die ohnehin schon aktivierten Konsumenten, welche durch die Werbung nochmals gezielt adressiert und mobilisiert wurden. Selbständig auswählen, aktiv konsumieren und das Ästhetisch-Kreative als Wert an sich schätzen lernen, wurden dadurch zu Leitideen des heutigen Konsums. Die universale Anerkennung und Demokratisierung von Kreativität bedeuten freilich nicht, dass wir alle allein dadurch schon wirklich kreativ in einem anspruchsvollen Sinne werden müssten. Vielmehr trat eine umfassende Verflachung und Vermassung von Kreativität ein; heutzutage reicht deswegen schon Discountkreativität und eben kreative Selbstinszenierung als Kreativsubjekt aus, für die kein gesonderter Kreativitätsnachweis erbracht werden muss: Auf dieser Bühne spielt die Musik in erster Linie.30 Reckwitz bringt für diesen Trend der kreativen Selbstinszenierung als Kreativsubjekt verschiedenste Beispiele. Bemerkenswert ist etwa die Pandemie profaner Kreativität, die sich im Alltäglich-Banalen abspielt, mithin „in jeder musikalischen, kulinarischen, handwerklichen oder kommunikativen Tätigkeit“,31 und die ohne jeden externen Maßstab auskommt, also ganz und gar selbstbezüglich funktioniert: Kreativ ist schlichtweg alles, was dafür gehalten wird. „Die Unterscheidung zwischen kreativen Akten und Routinepraktiken, gegen die diese sich abgrenzen lassen, bricht damit zusammen.“32 Formen profaner Kreativität sind Reckwitz zufolge die Improvisation, das alltagspraktische Experiment, die Idiosynkrasie und das hermeneutische Netz, Stichwort Social Media, also all das, was ohnehin passiert. Damit hat sich das ursprüngliche Verständnis von Kreativität, gemessen an den einst herausragenden Künstlern, die Nie-zuvor-da-gewesenes schufen, indes weitgehend verflüchtigt. Was bleibt, ist eine Chimäre, eine Simu-
30 Keen, Andrew: The Cult of the Amateur. New York u.a.: Doubleday 2007 31 A. Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 360. S. ferner Bröckling, Ulrich: „Kreativität“, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 139–144, hier S. 141: „das Attribut ‚kreativ‘ adelt noch die banalsten Tätigkeiten – vom Waschen/ Schneiden/Föhnen des Creative Coiffeurs um die Ecke bis zur kreativen Buchführung des Bilanzfälschers.“ 32 A. Reckwitz, Erfindung der Kreativität, S. 360
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lation von Kreativität, mitunter paradoxal in ihren Auswirkungen. „Wenn Devianz zur Regelanforderung wird, ist notorischer Nonkonformismus der Gipfel der Angepasstheit.“33 In Anlehnung an Daniel Boorstin34 könnte man hier auch von Pseudokreativität und hinsichtlich der aktuellen Faszination für vermeintlich überbordend kreative Konsumenten von pseudokreativen Konsumenten sprechen, deren Kreativitätsanspruch reine Selbstattribution ohne externe Referenz bedeutet: Stimmt die Selbstinszenierung, wird der hehre Anspruch, ein Kreativsubjekt zu sein, sogleich und wechselseitig anerkannt, wie beim Geld: ohne jede materielle Deckung. Diese Möglichkeit gilt es mit zu berücksichtigen, wenn es nunmehr um eine kritische Überprüfung der laufenden „Erfindung“ kreativen Konsums geht.
D IFFERENZIERUNG DER K REATIVITÄTSKATEGORIE UND DIE D IFFUSION VON K ONSUMINNOVATIONEN Wie schon angedeutet, hat die Konsumforschung die Kreativitätskategorie durchaus öfters aufgegriffen, doch fast nie in kritischer Manier. Meistens wurde ungeprüft davon ausgegangen, dass es kreativen Konsum schon gäbe; was daran aber kreativ sei, wurde nicht mehr eigens herausgearbeitet. Um das einmal konkret aufzuzeigen, sollen exemplarisch drei Artikel diskutiert werden, die sich ein wenig tiefgründiger mit der Verbindung von Konsum und Kreativität auseinandergesetzt haben: zuerst „Innovativeness, Novelty Seeking, and Consumer Creativity“ von Elizabeth C. Hirschman aus dem Jahre 1980 (dem ersten ihrer Art), sodann „Developing creativity in tourist experiences: A solution to the serial reproduction of culture?“ von Gred Richards und Julie Wilson aus dem Jahre 2006 und schließlich „Creativity and cooking: Motherhood, agency and social change in social life“ von Maryann McCabe und Timothy de Waal Malefyt aus dem Jahre 2013. Hirschman definiert „consumer creativity“ zunächst „as the problemsolving capability possessed by the individual that may be applied toward
33 U. Bröckling, Kreativität, S. 144. 34 Boorstin, Daniel: The Image. A Guide to Pseudo-Events in America. New York: Vintage 1962.
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solving consumption-related problems“35, also als die Fähigkeit, Probleme im Bereich des Konsums zu lösen. Eine solche Definition lässt sich an Allgemeinheit natürlich kaum mehr überbieten. Sie führt dann „two related cognitive sources“ an, gewissermaßen mentale Bedingungen der Möglichkeit von „consumer creativity“, nämlich „(1) the density of the productrelevant interconcept network possessed by the individual and (2) the repertoire of consumption situations that s/he has mentally retained“36. Die erste „source“ rekurriert auf eine Art vernetztes Produktwissen, die zweite auf „scripts“, d. h. das Wissen um vergangene Konsumerfahrungen. Es bleibt nur unerfindlich, wie daraus Kreativität entstehen soll. Schließlich stellt Hirschman37 fest: „Consumer creativity is related to actualized innovativeness in a way distinct from that of novelty seeking“, wobei sie „actualized innovativeness“ nochmals durch „use innovativeness“ spezifiziert, was sie wie folgt umschreibt: „when the consumer uses a product that s/he already possesses to solve a problem that has not been previously encountered, s/he is displaying use innovativeness“ und damit „consumer creativity“. Zwei allgemeine Probleme treten mit dieser Vorgehensweise auf: Erstens wird damit jede Konsumpraxis, die auch nur ansatzweise problemlösend wirkt oder so beobachtet werden kann, als kreativ qualifiziert, was tendenziell zur Koinzidenz von Konsum und Kreativität führt und überhaupt nicht diskriminierend wirkt, weil beim Konsum dann, unterstellt man klassisch nur die Korrelation von Bedürfnis (Problem) und Befriedigung (Lösung), potentiell alles kreativ abläuft. Zweitens erscheint jeder Produktgebrauch, der allein vom Standpunkt des jeweiligen Konsumenten aus eine neuartige Verwendung darstellen mag, als kreativ, mithin jede kleinste Abweichung von dessen Konsumroutine, weil ja auch diese Bestimmung ohne jede Differenzierung auskommt. Abgesehen davon, dass man als Konsumforscher wohl kaum ermitteln wird können, wie das Gesamtrepertoire der Konsumroutinen eines einzelnen Konsumenten geartet ist – notwendige Voraussetzung für die Identifikation einer Abweichung von einer Konsumroutine –, birgt damit jede Variation im Konsumverhalten eines be-
35 Hirschman, Elizabeth C.: „Innovativeness, Novelty Seeking, and Consumer Creativity“, in: Journal of Consumer Research 7 (1980), S. 283–295, hier S. 286. 36 Ebd. 37 Ebd. S. 288
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liebigen Konsumenten die Chance, als kreativ qualifiziert zu werden. Damit heißt konsumieren automatisch kreativ-sein, und das kann es wohl nicht sein. Was also fehlt, ist erstens eine substanzielle Differenzierung der Konsumpraxis nach Problemlösungen, die reine Routinen darstellen (die es höchstwahrscheinlich gar nicht gibt38), und solchen, die davon abweichen, also eine bestimmte Routine variieren, und zweitens eine substanzielle Differenzierung zwischen solchen Variationen, die keinerlei Neuartigkeitswert besitzen, und solchen, für die eine solche Neuartigkeit („Schöpfungshöhe“) begründet nachgewiesen werden kann.39 Im zweiten Beitrag befassen sich Richards/Wilson mit einer neueren Entwicklung, welche die zunehmende Relevanz von „consumer creativity“ im Bereich des Tourismus zum Gegenstand hat. Aufgrund einer verstärkten Ablehnung von touristischen Events, die bei den Touristen bloß Langeweile auslösen, weil jene noch zu sehr auf „serial reproduction“ setzen, also reine Wiederholung, sei die Tourismusbranche gezwungen, sich demgegenüber mit neuen Formen des „creative tourism“ auseinanderzusetzen. Ausschlaggebend sei dafür wiederum ein „creative turn“ in der Gesellschaft, der im Sinne von Reckwitz‘ Studie einen bedeutender werdenden Kreativitätstrend markiere, wie er schon bei Hirschman anklang: „The more modern the society, the more the individual’s role as consumer grows in complexity; thus, more creativity will be required for successful performance as a consumer.“40 Bei der Bestimmung dessen, was „creative tourism“ eigentlich ausmache, meinen Richards/Wilson nun, dass es hierbei um ein „shifting from
38 Denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Mensch sich in der Lage zeigt, Maschinen-gleich irgendeine Praktik in identischer, sozusagen geklonter Art und Weise zu reproduzieren, vgl. Hellmann, Kai-Uwe: „Demokratie und Evolution“, in: Kai-Uwe Hellmann/Karsten Fischer/Harald Bluhm (Hg.): Das System der Politik. Niklas Luhmanns politische Theorie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 179–212, hier S. 190ff. Erinnert sei hierzu an das antike Motto Panta rhei: Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. 39 Hinzu kommt die Engführung von Hirschman auf „problem solving“, die noch ganz der Guilford’schen Auslegung folgt, vgl. Guilford, Joy Paul: „Creativity“, in: The American Psychologist 1950, S. 444–454. Dabei dürfte Kreativität mitnichten nur unter solchen Umständen bzw. Vorzeichen vorkommen. 40 Hirschman, Innovativeness, S. 286.
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the passive consumption of creative spectacles or creative spaces to the active involvement of tourists in the creative process, or creative tourism“41 gehe. Im Zuge dessen definieren sie dann auch den „creative tourist“ wie folgt: „In essence, the creative tourist is the prototypical ‚prosumer‘, engaged in a combination of skilled consumption and skilled production.“42 Damit jedoch bringen sie völlig andere Kategorien ins Spiel, die mit Kreativität nicht zwingend zu tun haben: „active involvement“ und „prosuming“.43 Denn worauf ihr Vorschlag lediglich hinausläuft, ist, die Touristen stärker zu aktivieren, einzubinden und ggf. sogar an der Fertigstellung des touristischen Erlebnisses produktiv zu beteiligen. „Activation“, „involvement“ und „prosuming“ sind aber mitnichten kreative Aktivitäten per se. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass es dabei auch kreativ zugeht; doch diese Möglichkeit muss erst noch nachgewiesen und kann nicht einfach behauptet werden. Ergo fehlt auch hier eine substanzielle Differenzierung nach solchen Aktivitäten, bei denen Touristen vorwiegend passiv bleiben (völlig passiv bleiben sie nämlich nie, das haben wir durch die Cultural Studies lernen können), und solchen, bei denen sie sich stärker selbst beteiligen; und im Anschluss daran braucht es eine weitere substanzielle Differenzierung zwischen Aktivitäten, die zwar „activation“, „involvement“ und „prosuming“ darstellen, aber weitgehend unkreativ ablaufen, ohne jeden Neuartigkeitswert, und solchen, wo ein nachweisbarer Neuartigkeitswert
41 G. Richards/J.Wilson, Developing Creativity, S. 1217. 42 Ebd., S. 1220. 43 Insbesondere das Prosuming-Phänomen regt wiederholt dazu an, „creativity“ zu unterstellen, immer mit den gleichen Unschärfeproblemen, vgl. C. Campbell, Craft Consumer; E. Shove/M. Pantzar, Consumers, Producers, Practices; J. Füller et al., Basketball communities; Zwick, Detlev/Bonsu, Samuel K./Darmody, Aron: „Putting Consumers to Work. ‚Co-creation‘ and new marketing governmentality“, in: Journal of Consumer Culture 8 (2008), H. 2, S. 163–196; Wolny, Wieslaw:
Prosumption
–
Consumer
Creativity
in
E-Business
2009,
http://www.ue.katowice.pl/uploads/media/13_W.Wolny_Prosumption....pdf. Collins, Steve: „Digital Fair. Prosumption and the fair use defence“, in: Journal of Consumer Culture 10 (2010), H. 1, S. 37–55; Ritzer, George/Jurgenson, Nathan: „Production, Consumption, Prosumption. The nature of capitalism in the age of the digital ‚prosumer‘“, in: Journal of Consumer Culture 10 (2010), H. 1, S. 13–36. Allgemein zum Prosuming vgl. K.-U. Hellmann, Prosumer Revisited.
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auftritt. Denn es ist schlicht unglaubwürdig, dass Touristen zwangsläufig kreativ agieren, bloß weil sie dazu animiert werden, etwa im Urlaub an „‚creative holiday‘ opportunities, including geology, painting, cooking, singing, crafts, jazz improvisation, sculpture and mosaics“44 teilzunehmen (man durchforste daraufhin mal die „description of activities“ in der Tabelle 2 „Examples of creative tourism“ in deren Beitrag). Im dritten Beitrag geht es McCabe/de Waal Malefyt darum, die normalen Kochroutinen von Hausfrauen und speziell Müttern als kreatives Geschehen zu entdecken. „We hold creativity as […] a key aspect of defining motherhood.“45 Das Kreative am Kochen erkennen McCabe/de Waal Malefyt dabei an der Tatsache, dass man beim Kochen selten immer genau das Gleiche tut, sondern in der Regel geringfügig variiert, sei es bei den Zutaten, sei es bei den Zubereitungsarten, sei es bei der Menüpräsentation. Daraus erwachsen für die beiden Autorinnen fortlaufend auftretende „unpredictability and indeterminacy“ 46, ihnen zufolge wiederum konstitutiv fürs „creative cooking“. Freilich entdecke man dies nur, wenn man nicht bloß aufs Resultat, also das fertige Gericht schaue (was die Autorinnen ein „reading creativity backwords“ nennen), für das nur selten Kreativität behauptet werden könne, sondern auf den Prozess des Kochens selber („reading creativity forwards“) – ein grundsätzlich interessanter Vorschlag. Problematisch ist nun aber, dass sich die Zuschreibung der Kreativität beim Kochen durch die Autorinnen gerade dadurch auszeichnet, dass währenddessen nur so geringe Variationen des Üblichen ausprobiert werden, dass diese im Prinzip kaum auffallen. Denn sonst drohe die Ablehnung durch die Familie. „If foods are ‚too far out‘, such as cooking something exotic, there is not only fear of rejection from her family, but also a cook is less likely to receive recognition for her efforts.“47 Von daher erschöpft sich diese Form von Kreativität beim Kochen auch in „slight variations“ und „small changes of appearance and new names that signal difference from a familiar base“48, im „creative use of fresh food to make meals healthier“49,
44 G. Richards/J. Wilson, Developing Creativity, S. 1218. 45 M. McCabe/T. de Waal Malefyt, Creativity and Cooking, S. 3. 46 Ebd. 47 Ebd. S. 9. 48 Ebd. 49 Ebd. S. 13.
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in „small and subtle improvisational changes“ und „creatively adapt cooking practices to changing conditions throughout stages of life and motherhood.“50 Die Krone wird dem Ganzen schließlich noch dadurch aufgesetzt, als die Autorinnen bei Lynn, einer ihrer Probandinnen, folgende Beobachtung machen: „When we visited her home, Lynn made spaghetti carbonara accompanied by a fresh green salad with vegetables from their home garden, a meal she would not served her children. For her, creativity reignites an adrenalin rush what comes from experimentation. The self-expressive aspect of creativity resumes a role of importance in cooking during these later years of life.“51
Die Tatsache, dass Lynn sich plötzlich wieder traut, „spaghetti carbonara accompanied by a fresh green salad with vegetables from their home garden“ zuzubereiten, weil ihre Kinder aus dem Haus sind, reicht den Autorinnen kurzerhand, um selbst hier noch von „creativity“ zu sprechen. Dabei läßt sich diese Entscheidung Lynns an Trivialität wohl kaum mehr überbieten und wirft ein grelles Licht auf das verbreitete Verständnis, das in dieser Forschung zum Verhältnis von Konsum und Kreativität vorherrscht. Um es mit Reckwitz zu sagen, haben wir es hier durchgängig mit profaner Kreativität im Bereich des Konsums zu tun, mit Pseudokreativität und der kreativen Selbstinszenierung als Kreativsubjekt ohne jede materielle Deckung. Oder um Karl-Heinz Brodbeck52 zu zitieren, stehen alle diese Vorkommnisse letztlich nur für die kleinen Kreativitäten des Alltags, wie sie uns ständig abverlangt werden und eigentlich nicht weiter der Rede wert sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, kreativen Konsum, der es wirklich lohnt, so auch bezeichnet zu werden, von nicht-kreativem Konsum, wie er allgemein überwiegen dürfte, substanziell zu unterscheiden. Generell hat die Kreativitätsforschung hierzu, ausgehend von Joy Paul Guilfords früher Arbeit „Creativity“ aus dem Jahre 1950, im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte eine recht komplexe Systematisierung relevanter Faktoren vorgelegt, die nicht nur das kreative Indi-
50 Ebd. S. 15. 51 Ebd. S. 10. 52 Brodbeck, Karl-Heinz: Entscheidung zur Kreativität. Wege aus dem Labyrinth der Gewohnheiten. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 26.
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viduum, sondern auch sein soziales Netzwerk und schließlich die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt umfaßt.53 Ein wichtiger Lerneffekt dieser Forschung ist dabei die Einsicht, dass es in die Irre führen dürfte, würde man sich – hierhin noch dem Geniekult folgend – nur auf das isolierte Individuum allein konzentrieren.54 Dies betrifft sozusagen die Sozialdimension. In der Sachdimension kann mit Günter Abel (2006) zwischen schwacher, moderat-intuitiver und starker, radikaler Kreativität unterschieden werden. Schwache Kreativität meint das kombinatorische Neu-Arrangieren bereits vorhandener Elemente; moderat-intuitive Kreativität spielt hingegen mit Möglichkeiten, die bislang noch keinerlei Aktualisierung bzw. Realisation erfahren haben; und starke, radikale Kreativität bezeichnet für ihn die Transformation, das Durchbrechen, das Ersetzen alter durch neue Prinzipien, Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten, so dass etwas fundamental Neues entsteht.55 In diesem Kontext wird nun die starke, radikale Kreativität als Idealtypus herausgegriffen und zum alleinigen Maßstab gesetzt. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die sechs Merkmale, die Abel56 für radikal kreative Momente aufführt: So sind diese 1.
„nicht reduzierbar auf einen gegebenen Set von Antezedentien und deren Prinzipien und Regeln; diese Prinzipien und Regularitäten selbst werden überschritten, durchbrochen, zurückgelassen;
53 Krause, Rainer: Kreativität. Untersuchungen zu einem problematischen Konzept. München: Goldmann 1972; K-H. Brodbeck, Entscheidung; U. Bröckling, Kreativität. 54 Amabile, Teresa: Creativity in Context. Update to the Social Psychology of Creativity. New York/London: Westview Press, 1996; Csikszentmihalyi, Mihaly: „Implications of a Systems Perspective for the Study of Creativity“, in: Robert J. Sternberg (Hg.): Handbook of Creativity. Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 313–335; Ders.: Kreativität. Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden. Stuttgart: Klett-Cotta 2010. 55 Abel, Günter: „Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie“, in: Ders. (Hg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie. 26.-30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge. Hamburg: Felix Meiner 2006, S. 1–21, hier S. 4. 56 Ebd. S. 3.
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sie sind deshalb auch nicht etwa aus vorab vorhandenen Ausgangselementen deduzierbar (weder logisch noch kausal noch psychologisch); sie sind daher auch nicht vorhersagbar; mithin entziehen sie sich einer im engeren Sinne wissenschaftlichen Erklärung; scheinen mehr mit Glück als Verstand zu tun zu haben; kreative Prozesse enthalten eine gehörige Portion Spontaneität und sind durch Diskontinuitäten gekennzeichnet.“
Man hat es einerseits also mit einer Kontinuität von Kreativitätsformen zu tun, von fast unkreativ, weil längst Verfügbares lediglich rekombinierend, bis hin zu radikal kreativ, weil alles bisher Erwartbar-Bekannte übertreffend, für dessen Hervorbringung es keine erkennbare „Meta-Regel“57 gibt: Es geschieht einfach. Andererseits leitet sich der Sinn der Kreativitätskategorie letztlich vom radikal Kreativen ab; alles andere sind bloß Abstufungen, Abschwächungen, abnehmende Kreativitätseffekte, pseudokreative Alltagsphänomene. Dabei kann aus kleinen Anfängen durchaus etwas Großes entstehen. Verwiesen sei hierzu auf die evolutionstheoretische Unterscheidung Variation, Selektion und Stabilisierung, wie Niklas Luhmann58 sie definiert hat. Demnach treten Variationen, quasi kleinste Evolutionsimpulse, ständig auf; aber erst wenn sie nicht negativ selegiert, also aussortiert werden, und schließlich sogar auf der Systemebene nachhaltige Struktureffekte zeitigen, sollte von sozialer Evolution gesprochen werden.59 Auch hier setzt der Verweis auf die Systemebene den entscheidenden Maßstab für das Eintreten evolutionärer Effekte und nicht schon das Vorkommen fortlaufender Variationen, die gar nicht verhinderbar sind. Es hängt freilich von der Zeit ab, bis allmählich, also ex post festgestellt werden kann, ob vereinzelte Variationen entsprechende evolutionäre Effekte auslösen konnten. Damit sind wir bei der Zeitdimension angelangt. Schon Abel60 hatte in seinem Beitrag auf vier Phasen des kreativen Prozesses aufmerksam ge-
57 Ebd. S. 9. 58 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 199, S. 456 ff. 59 K.-U. Hellmann, Demokratie und Evolution, S. 188 ff. 60 G. Abel, Kunst des Neuen, S. 5.
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macht, nämlich Preparation, Inkubation, Illumination und Verifikation/Elaboration. Für den vorliegenden Zusammenhang eignet sich hingegen die Diffusionstheorie von Everett M. Rogers61. Ausgangspunkt für Rogers‘ Ansatz ist die Erfindung („Invention“) einer bestimmten Idee, einer Praxis oder eines Objekts. Mit der Erfindung allein ist es aber nicht getan. Vielmehr braucht es anschließend die allgemeine Bekannt- und Vertrautmachung mit dieser Erfindung, damit daraus eine echte Innovation wird, die für unbestimmt viele Andere einen entsprechenden Strukturwert erhält.62 Die Kommunikation der Invention ist somit unverzichtbar, weil erst sie eine Diffusion derselben in bestimmte Kreise hinein und damit die Transformation dieser Invention in eine sozial wirksame Innovation erreichen kann. „Diffusion is the process in which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system. It is a special type of communication, in that the messages are concerned with new ideas.“63 Ausgehend von der Gruppe der Erfinder, beginnt demgemäß ein Diffusionsprozess, der sukzessive bestimmte Stadien und Personenkreise von unterschiedlicher Größe und Innovationsaffinität durchläuft. Am Anfang befindet sich die sehr kleine Gruppe der „Innovators“ mit lediglich 2,5 Prozent der Zielgruppe, die gegenüber jeder Neuerung grundsätzlich sehr aufgeschlossen sind, sich häufig am Rande der eigentlichen Zielgruppe befinden und nur schlecht oder gar nicht in diese integriert sind, damit unbelastet von deren netzwerkinternen Normen urteilen können.64 Dieses Integrationsdefizit macht auch die „Early Adopters“ mit immerhin 13,5 Prozent unabdingbar, die aufgrund hoher intellektueller, räumlicher und sozialer Mobilität ebenfalls besonders aufnahmebereit, neugierig und resonanzfähig reagieren, darüber hinaus aber ein fester Bestandteil der jeweiligen Zielgruppe sind. Wenn eine Invention dort erst einmal Anerkennung gefunden
61 Rogers, Everett M.: Diffusion of Innovations. Third Edition. New York/London: The Free Press 1983. 62 Strukturwert ist der hier entscheidende Begriff für die Frage der Differenz und ist der Evolutionstheorie Luhmanns entnommen, aber auch mit anderen Definitionen der Kreativitätsdebatte kompatibel, vgl. T. Amabile: Creativity in Context. 63 E. M. Rogers, Diffusion, S. 5. 64 Ebd. S. 248.
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hat, ist die Wahrscheinlichkeit schon recht groß geworden, dass diese auch in das nächste dritte Segment der „Early Majority“ (34 Prozent der Zielgruppe) hineindiffundiert, und wenn dies ebenfalls gelingt, folgt häufig auch die „Late Majority“ (von nochmals 34 Prozent der Zielgruppe) mit einem gewissen zeitlichen Abstand. Die letzte Gruppe der „Laggards“ (16 Prozent Nachzügler) erscheint dann fast schon etwas unbedeutend und vernachlässigbar, weil deren Widerstand und Trägheit doch erheblich sind. Aus dieser Überlegung heraus, dass die Diffusionsfortschritte mit der Innovationsaffinitität bestimmter Personenkreise korrelieren, ist das berühmte Ablaufschema von Rogers entstanden (Abb. 3): Abbildung 3: Der Diffusionsverlauf nach Rogers65
Quelle: Eigene Darstellung
Die geschlossene auf- und absteigende Linie bildet dabei den gesamten Diffusionsprozeß über alle Personenkreise hinweg ab, mit den damals von Rogers ermittelten Prozentanteilen, während die gestrichelte, von links nach rechts stetig ansteigende Linie die Akkumulation der sukzessiven Diffusionserfolge und damit die vollständige Durchdringung der jeweiligen Zielgruppe von 0 auf 100 Prozent illustriert. Kommt man nunmehr auf das Thema „Konsum und Kreativität“ zurück, so gibt es zunächst eine gewisse Korrespondenz zwischen der Diffusionskurve von Rogers und dem Kreativitätskontinuum, wie es sich aus
65 Ebd. S. 247.
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dem Beitrag von Abel ableiten läßt: Auf der linken Seite tritt der höchst unwahrscheinliche Fall radikaler Kreativität auf, für den sich nur ein Bruchteil der Bevölkerung interessiert zeigt; insofern repräsentieren im Grunde nur die „Innovators“ den Kern der radikal Kreativen auf Seiten der Konsumenten.66 Haben sich diese positiv damit befasst, kann diese ehemals radikale Kreativität, aufgrund der kommunikativen Bearbeitung durch die „Innovators“ leichter anschlußfähig geworden, auch für die „Early Adopters“ rezipierbar werden, die ihrerseits dazu beitragen, dass die ursprüngliche Radikalität dieser Form von Kreativität weiter abgeschliffen und geglättet wird, so dass die weitere Diffusion umso leichter gelingt. Entscheidend an diesem Prozess ist also die schrittweise Entradikalisierung und Trivialisierung einer anfänglich noch radikalen Form von Kreativität. Denn was am Ende dieses Prozesses bei den „Laggards“ schließlich ankommt, entbehrt nahezu jeder Radikalität, weshalb diese Innovation ja selbst durch und für sie ebenfalls an- und übernehmbar erscheint. Um diesen stetigen „Kreativitätsabfall“ von den „Innovators“ bis zu den „Laggards“ kurz zu illustrieren, wird die „long tail“-Kurve von Chris Anderson67 herangezogen und leicht modifiziert (Abb. 4, die gepunktete, von links nach rechts absteigende Linie):
66 Hierzu zählen in erster Linie die „lead users“, wie sie Eric von Hippel bekannt gemacht hat, vgl. E. von Hippel: The Sources of Innovation; Thomke, Stefan/ von Hippel, Eric: „Customers as Innovators. A New Way to Create Value“, in: Harvard Business Review, April 2002, S. 74–81. Ganz ähnlich heißt es übrigens bei Simmel, Georg: Gesamtausgabe. Band 10: Philosophie der Mode. Die Religion. Kant und Goethe. Schopenhauer und Nietzsche, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 16, für die Mode: „Das Wesen der Mode besteht darin, daß immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die Gesamtheit aber sich erst auf dem Wege zu ihr befindet. Sobald sie völlig durchdrungen ist, d. h. sobald einmal dasjenige, was ursprünglich nur einige taten, wirklich von allen ausnahmslos geübt wird, wie es bei gewissen Elementen der Kleidung und der Umgangsformen geschah, so bezeichnet man es nicht mehr als Mode.“ 67 Anderson, Chris: The Long Tail. Nischenprodukte statt Massenmarkt. Das Geschäft der Zukunft. München: Hanser 2007.
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Abbildung 4: Der „long tail“ der Kreativitätsverteilung beim Konsum
Quelle: Eigene Darstellung
Greift man vor diesem Hintergrund nochmals die vielen Beispiele zu Beginn wieder auf, dürfte es bei näherer Betrachtung einleuchten, wenn diese überwiegend dem Bereich der schwachen (Pseudo)Kreativität zugeordnet werden. Denn es handelt sich dabei überwiegend um Kreativitätsformen, die lediglich eine Rekombination des allseits Bekannten bewerkstelligen. Fast nichts davon ist wirklich radikal, man denke nur ans Kochen und Stricken, an Do it yourself und Ikea, an Flohmärkte und Second HandKonsum, an akzeptierte Formen der Sharing Economy wie Car Sharing, an den ausufernden Bio/Öko-Konsum selbst über Discountläden, an Individualtourismus, Veganer und Konsumverzicht. Und vor allem entstammen viele Beispiele nicht einmal der Gruppe der „Early Adopters“, sonst fände dazu gar keine so breite Berichterstattung statt (weil sonst ohne Publikum bleibend), sondern eher schon der „Early Majority“ oder gar der „Late Majority“ innerhalb dieser spezifischen Zielgruppen (sofern man nicht die Gesamtbevölkerung der BRD als Bezugsgröße wählt, was wenig zielführend wäre). Exemplarisch dürfte sich dies bei McCabe/de Waal Malefyt für den Phänomenenbereich des vermeintlich kreativen Kochens schon gezeigt haben: Sicher gibt es höchst kreative Köche, und vereinzelt zeigen auch Konsumenten entsprechende Anlagen. Das Gros der Köche und Köchinnen zählt aber kaum dazu, was immer sie köcheln mögen: Im Wesentlichen geht es um die Selbstinszenierung als Kreativsubjekt ohne jede materielle
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Deckung, zwecks Kompensation von Berufsstress und anderem Unbill des Alltags sowie zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Authentizität und Selbstverwirklichung, wie es in diesen Kreisen sehr verbreitet ist.68 Colin Campbell zumindest neigt für die verwandte Form des „craft consumption“, d. h. Varianten der freiwilligen Heimarbeit, zu dieser Motiveinschätzung: „Seen in this light, the arena of craft consumption could become highly valued because it is regarded as an oasis of personal self-expression and authenticity in what is an ever-widening ‚desert‘ of commodification and marketization.“ Nicht viel anders verhält es sich mit all den anderen Beispielen, die aufgeführt wurden: Fast immer handelt es sich um Kopien oder Rekombinationen des längst Bekannten, Adaptionen, die nicht wirklich überraschen, Wiederholungen des immer Gleichen, Variationen für das unstillbare Bedürfnis nach Abwechslung, deren Charakter nie so radikal sein darf, dass darin eine echte Herausforderung liegen würde, deren Neuartigkeitswert also einen grundlegenden Strukturwandel der individuellen Lebensführung erzwingen würde. Insofern wird dazu angeraten, bei der ganzen Euphorie um kreativen Konsum und überaus kreative Konsumenten etwas mehr Zurückhaltung zu üben und sich vielmehr zu fragen: Woher rührt diese Euphorie? Was wird damit eigentlich kompensiert? Mit anderen Worten: Beobachte den Beobachter! Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der hier skizzierte Differenzierungsvorschlag natürlich nicht ausreicht, um eindeutig und unvermittelt entscheiden zu können, wie kreativ die jeweils ausgewählten Beispiele kreativen Konsums wirklich sind. So stellt der ESGE Zauberstab gewiß geeignete Technologie dar, um höchst kreativ zu kochen – wenn denn der Verwender damit wirklich kulinarisch zu zaubern versteht. Nur lässt sich im Rahmen eines solchen Beitrags diese Differenzierung nicht leisten. Was aber erreicht werden soll, ist eine stärkere Sensibilisierung dafür, worum es sich bei Kreativität – nicht bloß als Diskursphänomen, sondern als objektivierbares Faktum verstanden – eigentlich handelt, um sich nicht mehr so vorschnell und allzu leichtfertig zu der Bewertung hinreißen zu lassen, wir lebten gerade in einem Zeitalter, das sich vor allem durch kreativen Konsum und unzählige kreative Konsumenten auszeichne. Beispielhaft drückt
68 Oder wie Reckwitz es aufgezählt hat, um Improvisation, alltagstaugliches Experiment, Idiosynkrasie und hermeneutische Zirkel.
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sich diese überzogene Bewertung in der Eingangsfeststellung des Artikels von Metha et al. aus: „Creativity is ubiquitious in the realm of consumption.“ 69 Eine solche Einschätzung ist entweder trivial, weil man prinzipiell jedem Verhalten etwas Kreatives abgewinnen könnte, wenn man es darauf anlegt, oder aber unzutreffend, wenn man nicht schon den Hype selbst als das entscheidende Datum dafür hält, sondern Grade des Kreativen unterstellt und sich dann nicht bloß mit der Sparversion begnügt.
69 R. Metha et al., Noise, S. 784
Autoren
Simon Bieling studierte Kunstwissenschaft und Philosophie in Karlsruhe und Design (Fotografie) in Bielefeld. Magisterarbeit über kollaborative Bildpraxen auf flickr. 2004 bis 2006 Newhall Fellowship, The Museum of Modern Art, New York, Dept. of Photography, dort Erforschung und Erschließung der Thomas Walther Collection, einer umfassenden Sammlung von Fotografien aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Seit 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Forscherverbunds Konsumästhetik und promoviert über Fotografien von Konsumprodukten im Kontext unterschiedlicher Onlinebildplattformen. Heinz Drügh ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Ästhetik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er forscht und publiziert zur Formgeschichte von Allegorie und Symbol, zur literarischen Beschreibung, zum Pop und zur Konsumästhetik. Seit 2013 Mitglied des von der VWStiftung geförderten Forscherverbunds Konsumästhetik. Buchpublikationen (Auswahl): Anders Rede. Zur historischen Systematik des Allegorischen (2000); Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte (2006); Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst (Hg. mit Christian Metz und Björn Weyand); 2015 erscheint: Ästhetik des Supermarkts. Hans Peter Hahn ist Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sein wissenschaftliches Profil umfasst unter anderem Globalisierung, Konsum, und materielle Kultur. Er ist Sprecher des archäologisch-ethnologischen DFG-Graduiertenkollegs Wert und Äquivalent an
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der Universität Frankfurt. Buchpublikationen (Auswahl): Materielle Kultur eine Einführung (2005); Consumption in Africa (2008); Mobility, Meanings and Transformations of Things (2013); Vom Eigensinn der Dinge (2015). Thomas Hecken ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Siegen. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Gestalten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt (Dissertationsschrift 1997); Witz als Metapher. Der Witz-Begriff in der Poetik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts (Habilitationsschrift 2005); Gegenkultur und Avantgarde 19501970 (2006); Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009 (2009); Das Versagen der Intellektuellen. Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter (2010); Avant-Pop (2012). Redakteur der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik sowie der Website pop-zeitschrift.de. Kai-Uwe Hellmann ist apl. Professor für Konsum- und Wirtschaftssoziologie an der TU Berlin. Sein wissenschaftliches Profil umfasst unter anderem Gesellschaftstheorie, Konsumforschung, Militär- und Organisationssoziologie sowie Systemtheorie. Er ist Mitgründer und Ko-Sprecher der AG Konsumsoziologie und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konsumund Markenforschung (IKM). Buchpublikationen (Auswahl): Soziologie der Marke (2003); Fetische des Konsums. Studien zur Soziologie der Marke (2011); Der Konsum der Gesellschaft. Studien zur Soziologie des Konsums (2013). Dirk Hohnsträter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Konsumkultur, ökologische Ästhetik und Praxistheorie der Autorschaft. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er als Rundfunk- und Buchautor tätig sowie Betreiber von INVENTUR, einem Blog zu Konsumkultur, Design und Ästhetik. Ausgewählte Publikationen: Ökologische Formen. Die ökologische Frage als kulturelles Problem (2004); „Kállais Stil. Überlegungen zum deutschsprachigen Werk des ungarischen Kritikers Ernst Kállai“, in: Jahrbuch der ungarischen Germanistik (2008); Autorschaft im Spielfilm. Figuren, Schreibszenen, Unzuverlässigkeiten (2014).
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Stefan Krankenhagen ist Professor für Kulturwissenschaft und Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim. Ausgewählte Publikationen: Exhibiting Europe: Institutions, People, Collections and Narratives in History Museums. Mit Wolfram Kaiser und Kerstin Poehls (2014); „Die Sache Europa: Das Musée de l’Europe. Von dem (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen“, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte (2013); Figuren des Dazwischen. Naivität in Kunst, Pop- und Populärkultur (Hg. mit Hans-Otto Hügel) (2010). Uwe Lindemann ist Dozent für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und forscht seit vielen Jahren zur modernen Konsumkultur. 2015 ist die Monografie „Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne“ erschienen. Siegfried Mattl (1954-2015) war Univ.Doz. für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Wien und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte galten der Stadt-, Medien- und Kulturgeschichte. Er war Redaktionsmitglied mehrerer Fachzeitschriften (u.a. der Zeitschrift für Kulturwissenschaften) und wissenschaftlicher Beirat u.a. des Wienmuseum. Publikationen (Auswahl): „Die ephemere Stadt. Urbane Sequenzen in Wiener Amateurund Gebrauchsfilmen“, in: Brigitta Schmidt-Lauber u.a. (Hg.): Wiener Urbanitäten. Kulturwissenschaftliche Ansichten einer Stadt (2013); „Werner Graeff und der Spitzkühler oder die Listen des Künstler-Ingenieurs“, in: Karin Fest u.a. (Hg.): Mies van der Rohe, Richter, Graeff & Co. Alltag und Design in der Avantgardezeitschrift G (2013); „Seismograph der Stadtgeschichte. Die Ringstrasse als Bühne und umstrittener Raum“, in: Alfred Fogarassy (Hg.): Die Wiener Ringstrasse. Das Buch (2014). Thomas Rentmeister ist Bildhauer und Professor für Skulptur an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Von 1987 bis 1993 studierte er an der Kunstakademie Düsseldorf. In den 1990er Jahren wurde Rentmeister durch hochglänzende Polyester-Skulpturen bekannt; seit 1999 arbeitet er häufig mit Konsummaterialien wie Nuss-Nougat-Creme, Handcreme oder Kühlschränken. 2011 erschien der von Christoph Schreier herausgegebene Katalog „Thomas Rentmeister: Objects.Food.Rooms.“ Rentmeister lebt in Berlin.
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Wolfgang Ullrich war von 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lebt nun als freier Autor in Leipzig. Er forscht und publiziert zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, kunstsoziologischen Fragen, Konsumtheorie. Seit 2013 Mitglied des von der VW-Stiftung geförderten Forscherverbunds Konsumästhetik. Buchpublikationen (Auswahl): Mit dem Rücken zur Kunst. Die modernen Statussymbole der Macht (2000); Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst (2003); Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? (2006); Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers (2007); Wohlstandsphänomene. Eine Beispielsammlung (2010); Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung (2013); Des Geistes Gegenwart. Eine Wissenschaftspoetik (2014).