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German Pages 328 [330] Year 2020
Karin Moser, Mario Keller, Franz X. Eder (Hrsg.) Grenzenlose Werbung
Werbung – Konsum – Geschichte
Herausgegeben von Karin Moser, Mario Keller und Franz X. Eder Beiräte Reinhild Kreis, Holger Schramm und Guido Zurstiege
Band 2
Grenzenlose Werbung
Zwischen Konsum und Audiovision Herausgegeben von Karin Moser, Mario Keller und Franz X. Eder
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und dem Forschungsschwerpunkt „Wirtschaft und Gesellschaft aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive“ der Universität Wien.
ISBN 978-3-11-066093-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066196-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066280-1 ISSN 1861-6038
Library of Congress Control Number: 2020936653 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston. Satz/ Datenkonvertierung:: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Printing and binding: CPI books GmbH, Leck Coverabbildung: Anzeigenwerbung für Humanic gestaltet von Walter Schmögner, 1969. Privatarchiv Walter Schmögner www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Editorial: Grenzenlose Werbung zwischen Konsum und Audiovision VII Dirk Schindelbeck Julius Pinschewer und der gezeichnete Werbetrickfilm in Deutschland 1897–1933 1 Anne Schmidt Angsterzeugung oder Glücksversprechen. Über reklametaugliche Gefühle im Kino 30 Sebastian Thalheim Sommer, Sonne, Schmalfilm. Die neue Visualisierung eines alten Mediums. Werbefilm im Kontext der Konsumkultur der DDR in den 1950er Jahren 53 Solveig Ottmann / Sandra Reimann Audiovision in drei Teilen. Analysen zur Werbeschallplatte unter besonderer Berücksichtigung des Beispiels Was ist Hi-Fi? der Marke Bang & Olufsen (1965) 79 Karin Moser Begrenzte Grenzenlosigkeit: Inhaltliche Konzeption und filmische Strategien der Werbefilme der Austria Tabak 1948–2000 109 Bernhard Dietz Revolte in der Warenwelt. Konsumkritik, nonkonformistische Ästhetik und der Paradigmenwechsel in der westdeutschen Werbeindustrie von 1968–86 145 Mario Keller „Provokant und in keiner Weise tragbar“: Die Humanic-Werbung der 1970er Jahre als Grenzerfahrung zwischen Avantgardekunst und Werbung 172 Gabriele Fröschl Das Audiovisuelle im Archiv 203 Stephanie Scholz Das Geschäft mit den Spielzeughelden. Kinderfernsehen zwischen Pädagogik und Program-Length Commercials 227
VI Inhaltsverzeichnis Michael Cowan Public Advertising Screens and the Ambivalence of Interactivity 260 Guido Zurstiege Digitale Transformation der Werbung – Herausforderung für die Werbeforschung 286 Autor*innenverzeichnis 313
Editorial: Grenzenlose Werbung zwischen Konsum und Audiovision Wo endet Werbung, wo beginnt sie? Wie gestaltet sich die grenzenlose und vielschichtige Verbreitung und Rezeption der Werbung in Vergangenheit und Gegenwart? Wie haben sich Konsumkulturen verändert? Mit welchen Strategien versucht die Werbung, Emotionen und Verhaltensmuster zu generieren? Welche künstlerischen Entgrenzungen und konsumkritischen Überlegungen lassen sich anhand von Werbefilmen, -platten, TV-Programmen und interaktiven, digitalen Plattformen festmachen? Der vorliegende Band stellt sich diesen Fragen, versammelt vielfältige Beiträge zur Geschichte audiovisueller Werbung und fokussiert dabei auf Grenz- und Sonderfälle, Zwischen- und Übergangsformen sowie Transformationsphasen der Werbegeschichte. Angeknüpft wird an Forschungen, die in den letzten Jahren vermehrt das komplexe Verhältnis von Werbung, Konsumkultur und audiovisuellen Medien in den Blick nahmen. Ein Verhältnis, das lange Zeit wenig beforscht wurde und zu dem erst in den letzten Jahren umfassendere Studien entstanden.1 Dabei wurde auch die in der bisherigen Werbegeschichtsschreibung implizite modernistische Sichtweise hinterfragt, nach der Werbung als ein zunehmend an Macht, Einfluss und Professionalität gewinnendes System betrachtet wurde.2 Dessen Dekonstruktion führte zu einem wachsenden Interesse an der Heterogenität von Werbeformen und dem Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der Konsument*innen, den Möglichkeiten der Medien und den Absatzinteressen der Unternehmen. Wir haben es also nicht mit einer linearen Erfolgsgeschichte zu tun, sondern mit einer Entwicklung, die durch zahlreiche Grauzonen, kurz- und langfristige Irrwege, erfolgreiche und gescheiterte Experimente, insgesamt von einem beständigen Veränderungs- und Innovationsdrang gekennzeichnet war.3 Wie die aktuelle Forschung zeigt, bedienten sich Werber*innen im Lauf der Geschichte aller nur erdenklicher medialer Formen, von denen manche heute in Vergessenheit geraten sind. Eindrucksvoll vor Augen führen dies Solveig Ottmann und Sandra Reimann in diesem
1 Vonderau, Patrick, Bo Florin u. Nico de Klerk (Hrsg.): Films That Sell. Moving Pictures and Advertising. London 2017; Moser, Karin: Der österreichische Werbefilm. Die Genese eines Genres von seinen Anfängen bis 1938. Berlin/Boston 2019: http://library.oapen.org/bitstream/id/299047985d01-44b8-9369-3513a5034a50/1006587.pdf (25.4.2020); Grainge, Paul u. Catherine Johnson: Promotional Screen Industries. Hoboken 2015. 2 Vonderau, Patrick: Introduction: On Advertising’s Relation to Moving Pictures. In: Films That Sell. Hrsg. von Vonderau, u. a. (wie Anm. 1), S. 3; McFall, Liz: Advertising. A Cultural Economy. London 2004. S. 189. 3 Vgl. Vonderau, Introduction (wie Anm. 2), S. 3. https://doi.org/10.1515/9783110661965-202
VIII Editorial: Grenzenlose Werbung zwischen Konsum und Audiovision
Band mit einem Beitrag zur Geschichte der Werbeschallplatte, einem Werbemedium, das trotz seiner einst großen Verbreitung, bisher kaum erforscht wurde. Entstanden ist der vorliegende Band als Resultat der Tagung Werbung – Konsum – Audiovision. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf Werbeformen in Kino, Fernsehen und Radio, die im November 2017 in Wien stattfand.4 Mit der von den Herausgeber*innen organisierten Veranstaltung galt es insbesondere auch den wissenschaftlichen Austausch zwischen den Disziplinen zu befördern. Gerade bei einem Forschungsgegenstand wie der Werbung, der bekanntlich von unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen beforscht wird, sollte das interund transdisziplinäre Gespräch unerlässlich sein. Ziel der Tagung war es darüber hinaus, aktuelle Trends und Tendenzen in der Erforschung audiovisueller Werbeformen auszuloten. Die erfreulich große Reaktion auf den Call for Papers zeigte, dass sich Studien zur Geschichte und Gegenwart der Werbung nicht auf audiovisuelle Werbeinhalte und -medien als solche beschränken, sondern vermehrt nach den strukturellen Bedingungen und Kontexten von Unternehmen, Medien und der Werbebranche gefragt wird. Ging es bislang primär um eine Analyse der (Konsum-)Gesellschaft durch den ‚Zerrspiegel‘ Werbung,5 stehen nun die Transformationsprozesse von Werbeformaten, der Werbebranche sowie der Zusammenhang dieser mit dem sozioökonomischen Wandel im Fokus.6 Diese Perspektive zeigte sich bei der Tagung als gemeinsamer Schnittpunkt der Tagungsteilnehmer*innen und animierte die Herausgeber*innen dazu, diesen Band zur Grenzenlosen Werbung zu publizieren. Die hier versammelten Beiträge widmen sich erstens der Untersuchung von Transformationsphasen in der Geschichte der Werbung. So behandeln Dirk Schindelbeck und Anne Schmidt Fallbeispiele aus der Frühphase des Werbefilms und der Umbruchsphase der Zwischenkriegszeit. Die Beiträge von Bernhard Dietz und Mario Keller untersuchen anhand des Camel-Man und der Avantgardekunst-Werbung von
4 Vgl. den Tagungsbericht von Alexander Obermüller, https://www.hsozkult.de/conferencereport/ id/tagungsberichte-7536 (26.3.2020). Die Tagung erfolgte im Rahmen des von den Veranstalter*innen durchgeführten FWF-Forschungsprojektes „Die Emotionalisierung nationaler Marken im österreichischen Werbefilm 1950–2000“, vgl. https://oesterreichischer-werbefilm.univie.ac.at (26.3.2020). 5 Vgl. ältere Klassiker der Werbegeschichte wie: Marchand, Roland: Advertising the American Dream. Making Way for Modernity, 1920–1940. Berkeley 1986; Gries, Rainer, Volker Ilgen u. Dirk Schindelbeck: „Ins Gehirn der Masse kriechen!“. Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995; Schmidt, Siegfried J. u. Brigitte Spieß: Die Kommerzialisierung der Kommunikation. Fernsehwerbung und sozialer Wandel 1956–1989. Frankfurt a. M. 1997. 6 Vgl. Swett, Pamela E., S. Jonathan Wiesen u. Jonathan R. Zatlin (Hrsg.): Selling Modernity. Advertising in Twentieth-Century Germany. London 2007; Turow, Joseph u. Matthew P. McAllister (Hrsg.): The Advertising and Consumer Culture Reader. London 2009; Wharton, Chris: Advertising. Critical Approaches. Hoboken 2014; Wharton, Chris (Hrsg.): Advertising as Culture. Bristol 2013; Grainge u. a. (Hrsg.), Promotional (wie Anm. 1), u. v. m.
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Humanic den Einfluss der ‚68er‘ auf die Entwicklung der Fernseh-Werbung. Zweitens werden vermeintlich randständige Medien, wie die schon erwähnte Werbeschallplatte von Solveig Ottmann und Sandra Reimann, in den Blick genommen. Drittens wird die Rolle staatlicher Institutionen und der von ihnen ausgehenden Vorgaben und Einschränkungen untersucht. Dies betrifft sowohl historische wie auch gegenwärtige Entwicklungen. So analysiert Sebastian Thalheim einen DDRWerbefilm für die Schmalfilmkamera AK 8, in dem neben dem Produkt auch die vermeintliche Überlegenheit der sozialistischen Konsumkultur beworben wurde. Karin Moser untersucht die Kino- und Fernsehwerbefilme des österreichischen staatlichen Tabak-Monopolkonzerns Austria Tabak. Während diese in den 1950er Jahren noch im Einklang mit der staatlichen Wiederaufbaupropaganda standen („Rauchen für Österreich“), wurden sie seit den 1980er Jahren zunehmend durch rechtliche Beschränkungen und Werbeverbote reglementiert. Rezente und in die Zukunft weisende Entwicklungen stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Stephanie Scholz, Guido Zurstiege und Michael Cowan. Stephanie Scholz analysiert ‚program length commercials‘ im deutschsprachigen Fernsehen und kann anhand von ‚Spielzeughelden‘ im Kinderprogramm eine Verschmelzung von Programm und Werbung beobachten. Auch Guido Zurstiege diagnostiziert eine zunehmende Fusion von herkömmlichen Inhalten und werbenden Botschaften im Rahmen des digitalen Medienwandels. Michael Cowan zeigt anhand des dystopischen Spielfilms Minority Report, dass die dortigen interaktiven bzw. reaktiven Werbeformen sowie Bedürfnis- und Wunschprognosen bereits Realität geworden sind. Mit Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in diesem Band auch die Grenzen der Werbung reflektiert: rechtlich bzw. staatlich, gesellschaftlich, ästhetisch, medial sowie strukturell und institutionell. In der Einleitung des 2002 erschienen Sammelbandes Die Gesellschaft der Werbung behauptete Herbert Willems, dass Werbung „normalerweise“ mit offenen Karten spiele und sich als solche zu erkennen gebe. Zwar wies er auch darauf hin, dass die Bandbreite der Irreführungen, Täuschungen und Verschleierungen zunehme, sich die Mehrheit der Werbungen jedoch innerhalb eines „offiziellen Rahmens“ bewege.7 Doch wo beginnt und wo endet dieser ‚Rahmen‘ und von wem wird er definiert? Die vorliegenden Studien legen jedenfalls die Vermutung nahe, dass die Geschichte der Werbung dadurch gekennzeichnet ist, dass die Norm bzw. Normalität des jeweiligen Rahmens ausgereizt, überdehnt oder gar bewusst gesprengt wird, um immer wieder neue Aufmerksamkeit generieren zu können. So gesehen war und ist Werbung einem ständigen Aushandlungsprozess unterworfen und damit ein hochpolitisches Medium, in dem die Macht und Ohnmacht von Produzent*innen und Konsument*innen – oft
7 Willems, Herbert: Grundideen des Bandes. In: Die Gesellschaft der Werbung. Kontexte und Texte. Produktionen und Rezeptionen. Entwicklungen und Perspektiven. Hrsg. von Herbert Willems. Wiesbaden 2002. S. 17–18.
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auch von Prosumer*innen und Konduzent*innen – permanent repositioniert wird.8 Die gegenwärtige, bisher ungeahnte Konzentration von Medienmacht in den Händen der vier dominierenden US-amerikanischen Digitalkonzerne Alphabet/Google, Amazon, Facebook und Apple sowie des chinesischen Hyper-Konzerns Alibaba Group war nur möglich, weil diese mehr und mehr Werbeeinahmen von den klassischen Medien abziehen können. Heute geben diese Konzerne immer häufiger den Rahmen vor, in dem sich die Werbung bewegt und nicht mehr staatliche Akteur*innen und Institutionen.9 Publikationen zur Geschichte der Werbung beginnen häufig mit der Feststellung, dass Werbung so alt sei wie die Menschheit selbst.10 Aus (geschichts-)wissenschaftlicher Sicht scheinen solche Aussagen jedoch beliebig und wenig gewinnbringend. Vielmehr sollte die Geschichte der Werbung zu jenem Zeitpunkt ansetzen, an dem sich die persuasive Kommunikation über Produkte professionalisierte und zu einem Wirtschaftszweig entwickelte. So gesehen begann die Geschichte der Werbung als selbstständige Wirtschaftsbranche erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung der Werbewirtschaft war dabei aufs Engste mit der Entstehung der Konsumindustrie, der Konsumgesellschaft und dem Erfolg ‚neuer‘ Massenmedien verknüpft. Dieses Verständnis von Werbe-Wirtschaft als einem konstanten und ambivalenten Spannungsverhältnis zwischen Unternehmen, Konsument*innen und Medien beugt einem affirmativen und/oder fatalistischen Verständnis von Werbung vor. Hier geht es nicht darum, Werbung als Manipulationsmaschine zu verteufeln oder umgekehrt als unverzichtbaren, weil die Nachfrage stimulierenden, Wirtschaftsmotor zu bejubeln. Vielmehr sollte Werbung als Wirtschaftszweig und kulturelle Praxis beschrieben und analysiert werden, deren Expertise darin besteht, ökonomischen Nutzen aus der Kommunikation von kulturellen Vorstellungen mittels emotionalisierender Strategien zu ziehen und damit Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für Produkte und Marken zu generieren.11 Werbetreibende setzten schon immer unterschiedliche mediale Kanäle ein. Auch Film, das erste audiovisuelle Massenmedium, wurde von Beginn an für werbe-
8 Siehe dazu das Schwerpunktheft der ÖZG. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 30 (2019/1) mit dem Titel „Produzieren/Konsumieren – Prosumieren/Konduzieren“. 9 Brodnig, Ingrid: Übermacht im Netz. Warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen. Wien 2019. S. 41–57; Fuchs, Christian: Culture and Economy in the Age of Social Media. New York 2015. 10 Prominent vertreten wurde diese These von Hanns Buchli. Vgl. Buchli, Hanns: 6000 Jahre Werbung. Geschichte der Wirtschaftswerbung und der Propaganda. Band 1–3. Berlin 1962; vgl. auch Denscher, Bernhard: Kunst & Kommerz. Zur Geschichte der Wirtschaftswerbung in Österreich. Wien 1985. 11 Zur Theorie des Systems Werbung siehe insb. die Arbeiten von Guido Zurstiege. Vgl. u. a. Zurstiege, Guido: Zwischen Kritik und Faszination. Was wir beobachten, wenn wir die Werbung beobachten, wie sie die Gesellschaft beobachtet. Köln 2005; Zurstiege, Guido: Medien und Werbung. Wiesbaden 2015.
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rische Zwecke verwendet und auf vielfältige Weise genutzt.12 Der vorliegende Band widmet sich vor allem, aber nicht ausschließlich, der Geschichte audiovisueller Medien – konzise Überlegungen zu den Spezifika dieser Mediengattung sind also notwendig. Unter audiovisuellen Werbemedien werden alle Medienformate verstanden, die als Kombination von Bild, Ton und/oder Text, und somit als multisensuale und multimodale Medien in Erscheinung treten. Multisensual sind sie, da Medienrezipient*innen stets auf mehreren Sinnesebenen adressiert werden; multimodal, da diese Sinnesebenen mittels unterschiedlicher Modi angesprochen werden. Auf der auditiven Ebene sind dies beispielsweise Geräusch, Musik und sprachliche Artikulation.13 Das Zusammenwirken dieser sich ergänzenden und bedingenden Kommunikationswege und -strategien ist somit für jede Analyse audiovisueller Medienprodukte unerlässlich. Zweifellos eröffnen die Multimodalität und Multisensualität audiovisueller Medien unüberschaubare Möglichkeiten, Emotionen zu kommunizieren.14 Aus Sicht von Werbetreibenden werden Produkte und Marken auf diesem Wege mit emotionalem und kulturellem Mehrwert bzw. Zusatznutzen konnotiert und assoziiert. Auch wenn die emotionalisierende Dimension bei der Analyse audiovisueller Werbung (und audiovisueller Medien allgemein) auf der Hand liegt und für Werbetreibende eine zentrale Rolle spielt, wurde diese in der kulturwissenschaftlichen Werbeforschung bisher kaum berücksichtigt. In diesem Sammelband zeigt zum Beispiel Anne Schmidt wie in Werbefilmen der Zwischenkriegszeit bewusst mit der Evokation von Angstgefühlen gearbeitet wurde. Karin Moser erläutert, wie in den Werbefilmen der Tabakindustrie die Grenzen zu populären Spielfilmen und Musikvideos verschwimmen und wie über filmische Mittel und kulturelle Assoziationshöfe Spannung bzw. Konzentration generiert und Emotionen frei gesetzt werden. Ansätze der Emotionsgeschichte, der neueren Werbegeschichte sowie der transdisziplinären Medien- und Filmwissenschaften werden dazu führen, dass sich die (historische) Werbeforschung vermehrt mit der Rolle von Emotionen in audiovisuellen Erzählstrategien befasst.15 Ein weiteres Spezifikum von audiovisuellen Werbungen sei abschließend genannt. Wie bei der Produktion und Distribution ist auch bei der Archivierung von
12 Moser, Der österreichische Werbefilm (wie Anm. 1): Vonderau, Introduction (wie Anm. 2), S. 4. 13 Stöckl, Hartmut: Hörfunkwerbung – „Kino für das Ohr“. Medienspezifika, Kodeverknüpfung und Textmuster einer vernachlässigten Werbeform. In: Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Hrsg. von Kersten Sven Roth u. Jürgen Spitzmüller. Konstanz 2007. S. 183. 14 Vgl. Bartsch, Anne, Jens Eder u. Kathrin Fahlenbach (Hrsg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Köln 2007. Intensiv mit der Verwobenheit von Kognition, Emotion und filmischer Erzählung befasst sich die, v. a. im englischsprachigen Raum etablierte Schule der cognitive film studies. Vgl. Smith, Greg M. u. Carl Plantinga (Hrsg.): Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion. Baltimore 1999; Smith, Greg M.: Film Structure and the Emotion System. Cambridge 2003. u. v. m. 15 Vgl. Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012. S. 334.
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audiovisuellen (Werbe-)Medien ein vergleichsweise hoher technischer Aufwand notwendig. Im Archiv erfordern audiovisuelle Medien ebenfalls eine aufwendige und teils komplizierte ‚Behandlung‘. Ihre Bewahrung und Erschließung ist aus diesem Grund meist prekärer als beispielsweise bei Printmedien und Plakaten. Audiovisuelle Werbemedien wurden oftmals nicht gesammelt oder als erhaltenswert erachtet. Sie waren kurz und flüchtig im Einsatz („ephemer“). Hatten sie ihren Zweck erfüllt, wurden sie vergessen („orphan“). Die heutige Vielzahl an audiovisuell verfügbaren Werbemedien im Internet vermittelt eine vermeintliche ‚totale Zugänglichkeit‘. Ob diese digitalen Quellen auch in Zukunft abrufbar sein werden, ist nicht gesichert. Allen voran kommen hier rechtliche Fragen zum Tragen, die den Zugang und die Nutzung weniger ent- als begrenzen. Da Werbehistoriker*innen mit dieser Situation konfrontiert werden, haben wir einen Beitrag von Gabriele Fröschl, der Archivleiterin der Österreichischen Mediathek, aufgenommen, der diese Problematik umfassend beleuchtet. Zuletzt sei den fördergebenden Institutionen sowie den an der Tagung und der Entstehung des Bandes beteiligten Personen gedankt. Die Abhaltung der Tagung wurde vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), dem Forschungsschwerpunkt Wirtschaft und Gesellschaft aus kulturwissenschaftlicher Perspektive der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, der Vienna Doctorial Academy – Theory and Methodology in the Humanities, dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien finanziell unterstützt. Weiters gedankt sei Veronika Haydn, Johann Kirchknopf, Oliver Kühschelm, Stefan Ossmann und Alexander Obermüller für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung der Tagung. Die Drucklegung des Bandes war nur durch eine Subvention der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien sowie einen finanziellen Beitrag der Österreichischen Mediathek und des Forschungsschwerpunkts Wirtschaft und Gesellschaft aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien möglich. Die Herausgeber*innen
Dirk Schindelbeck
Julius Pinschewer und der gezeichnete Werbetrickfilm in Deutschland 1897–1933 Die Entwicklung der Wirtschaftswerbung als Massenkommunikationsphänomen war und ist ein Spiegelbild des technischen Fortschritts, welcher die Grundvoraussetzung für deren Realisierung darstellt. Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts rasch an Fahrt aufnehmende und bald ins Massenhafte gesteigerte Produktion von Waren verlangte nach wirkungsvollen Instrumenten ihrer Auslobung – schon um die Produktionsmaschinerie selbst über den stetig wachsenden Absatz von Produkten in Gang zu halten. Somit wurde ab etwa 1850 der öffentliche Raum geradezu zwangsläufig zum Aktionsfeld werblicher Massenbeeinflussung. Parallel erfuhr das diese Werbebotschaften transportierende Zeitungs- und Zeitschriftenwesen – vor allem im Zeitraum bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 – eine ungeheure Aufstiegsdynamik. Angestoßen und stark beschleunigt wurde diese Entwicklung in Deutschland von vier Persönlichkeiten, die man heute wohl als ‚Medienmogule‘ bezeichnen würde, da sie – nicht zuletzt zum eigenen Vorteil – ihre Scharnierfunktion bei der Implementierung und Durchsetzung der neuen Massenbeeinflussungsmittel erkannten und dementsprechend handelten. Dies waren: 1. Der Druckereibesitzer Ernst Litfaß (1816–1874), dem es durch einen Kontrakt mit dem Berliner Polizeipräsidenten Karl Ludwig von Hinckeldey gelungen war, ab 1855 die nach ihm bis heute so benannten ersten 150 Anschlagsäulen an öffentlichen Plätzen Berlins aufzustellen: eine Maßnahme, die den bis dahin verbreiteten ‚wilden‘ Plakatanschlag in die Illegalität drängte, nachhaltig für ‚Ordnung‘ im öffentlichen Raum sorgte und Litfaß selbst über Jahrzehnte eine Monopolstellung bei der Vermietung von Werbeflächen verschaffte. Überdies bescherte es ihm eine kontinuierliche Auslastung seines Druckereibetriebes.1 2. Der Medien-Unternehmer Rudolf Mosse (1843–1920), der ab 1867 zwar nicht die erste2, aber die mit Abstand erfolgreichste Annoncenexpedition im deutschsprachigen Raum betrieb, insgesamt umfasste diese etwa 250 Filialen. Durch die Einführung eines Inseratenteils in ihren Blättern konnten die Zeitungs-Verleger fortan zusätzliche Einnahmen erzielen. Das ermöglichte ihnen einerseits,
1 Vgl. hierzu: Damm, Steffen u. Klaus Siebenhaar: Ernst Litfaß und sein Erbe. Eine Kulturgeschichte der Litfaßsäule. Berlin 2005; Schoeller, Wilfried E.: Ernst Litfaß. Der Reklamekönig. Frankfurt a. M. 2005; Ilgen, Volker u. Dirk Schindelbeck: Am Anfang war die Litfaßsäule. Darmstadt 2006. 2 Die erste Annoncenexpedition im deutschen Sprachraum wurde 1853 in Hamburg durch Haasenstein & Vogler gegründet. Zu Rudolf Mosse vgl. Schöning, Kurt: Anzeigenwerbung. Eine Dokumentation. München 1975. S. 19–26; Heuer, Gerd F.: Die Entwicklung der Annoncen-Expeditionen in Deutschland. Dissertation. Limburg (Lahn) 1937. S. 19–26. https://doi.org/10.1515/9783110661965-001
2 Dirk Schindelbeck
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die Abgabepreise für ihre Produkte an den Endverbraucher zu senken, andererseits ließ es den Markt für Zeitungen und Zeitschriften stark wachsen. Die Annoncenexpeditionen wiederum, die den Raum ganzer Seiten pachteten, um ihn stückweise an die Werbetreibenden weiter zu veräußern und zudem bald auch deren Inserate mithilfe von standardisierten Vignetten wie z. B. den bekannten Zeigehändchen gestalterisch betreuten, wurden zu hochprofitablen Akteuren in einem rasant wachsenden Zeitungsmarkt.3 Der Manager Ernst Growald (1867–1941), der die sowohl ästhetischen wie massenwirksamen Qualitäten der großformatigen, nunmehr durch das Chromolithographie-Verfahren auch farbig ausgeführten Plakate entdeckte und ab 1896 in Diensten der Berliner Plakatdruckerei Hollerbaum & Schmidt als Agent und Schaltstelle zwischen künstlerisch arbeitenden Grafiker*innen und werbenden Unternehmen fungierte. Dank seines Organisationstalents und seines ästhetischen Urteilsvermögens entwickelte sich die Außenwerbung im Deutschen Kaiserreich zwischen 1898 und 1914 zu einer veritablen und weltweit geachteten „Galerie der Straße“.4
Waren die genannten drei Personen ausschließlich auf Druck-Erzeugnisse fixiert, so sollte um 1910 mit Julius Pinschewer (1883–1961) ein scharfsichtiger Beobachter der Medienentwicklung die Bühne betreten, welcher der Werbung neue Wirkungsfelder jenseits ‚nur‘ gedruckter Botschaften in Wort und Bild erschloss. Julius Pinschewer ‚erfand‘ nichts weniger als den deutschen Kinowerbefilm, indem er das Potenzial, das in – wie er sie nannte – „lebenden Karikaturen“ zur Bewerbung von Waren schlummerte, erkannte und klug einzusetzen verstand, sobald die entsprechenden Rahmenbedingungen dazu – von ihm selbst – geschaffen worden waren.5
3 So gründete Rudolf Mosse seinerseits Tageszeitungen wie etwa das „Berliner Tageblatt“. Vgl. hierzu: Hamburger, Richard: Zeitungsverlag Rudolf Mosse Berlin (= Musterbetriebe deutscher Wirtschaft Bd. 3). Berlin o. J. (ca. 1930). S. 35–52. 4 Vgl. hierzu http://www.austrianposters.at/2014/01/09/die-reklame-ihre-kunst-und-wissenschaft1 (30.9.2018). 5 Der Kameramann Guido Seeber berichtet, George Melliès, von Haus aus Zauberkünstler, sei durch einen blockierten Vorführapparat und die dadurch entstandene Irritation des Publikums auf die Idee verfallen, mit fotografischen Bildsequenzen in seinem Zauber-Metier zu spielen. So habe sein Film Das Verschwinden der Dame im Mai 1895 im Pariser Zaubertheater Houdin einen sensationellen Erfolg erzielt. Seeber ordnet die Tricks, die Melliès daraufhin sehr schnell entwickelte und einsetzte, in sechs Kategorien: 1.) Tricks durch Unterbrechung der Aufnahmen, 2.) photografische Tricks, 3.) Theatermaschinen-Tricks, 4.) Zauberei-Tricks, 5.) pyrotechnische und 6.) chemische Tricks. Ob damit auch Werbefilme gestaltet wurden, erscheint eher unwahrscheinlich. Für Pinschewer darf behauptet werden (auch wenn ihm tricktechnische Vorbilder aus dem Ausland bekannt gewesen sein dürften), dass er schon aufgrund seines werbestrategischen Denkens als Erfinder zumindest des deutschen Werbetrickfilms, insbesondere des Zeichentrickfilms, gelten kann. Seine diesbezüglichen Selbstaussagen erscheinen nicht übertrieben.
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Von „lebenden Photographien“ zum Reklamefilm Mit dem Film als Medium in Berührung gekommen war das deutsche Publikum allerdings schon 1896. Kurz nachdem den Gebrüdern Lumière in Paris am 26. Dezember 1895 die erste öffentliche Filmvorführung gelungen war, wurden auch im Deutschen Kaiserreich Kinofilme gezeigt. Den mentalen Erdrutsch, den diese „lebenden Photographien“ im Bewusstsein der Zuschauer auslösten, hat Jeanpaul Goergen eindrucksvoll nachgezeichnet. Die von ihm zusammengestellten Presseberichte vermitteln einen plastischen Eindruck von der überwältigenden Wirkung der ersten Filmvorführungen. So schrieb die Kölnische Zeitung am 31. Mai 1896: „Alles erscheint vor den Augen des Publikums mit solcher Natürlichkeit, dass dieses Ausrufe des Entzückens nicht unterdrücken kann.“6 Selbst die (aus heutiger Sicht) banalsten Sujets wurden vom Publikum anfangs mit ungläubigem Staunen aufgenommen: Für den Besucher ist die Sache umso rätselhafter als er nichts sieht als eine vorn an der Bühne befestigte weiße Fläche, auf welcher eine Anzahl Photographien in scheinbarer Lebensgröße und in den natürlichen Bewegungen wie von einer geheimnisvollen Kraft gezaubert erscheinen. Wir sahen unter anderen komische Straßentypen, ein Kinderfest, vorüberziehende Cavallerie, einen ankommenden Eisenbahnzug mit dem Gewirr der aus- und einsteigenden Passagiere, eine lebende Badehaus-Szene, bei welcher die Badenden in das jedesmal hochaufspritzende Wasser springen. Alles in größter Natürlichkeit…7
Dass mit dem Kinofilm ein Überwältigungsmedium erfunden worden war, wie es zuvor noch nie eines gegeben hatte, trat spätestens in dem Augenblick zutage, wenn seine Macher ihre Trickkiste öffneten, indem sie z. B. eine Filmsequenz rückwärts laufen ließen: Die unglaublichsten Dinge sind nichts gegen die Bilder, die sich hier vor den Augen der Zuschauer entrollen. So nimmt z. B. der Trinker das soeben geleerte Glas vom Munde und – setzt es gefüllt wieder auf den Tisch. Der Raucher sieht den Rauch im Raume entstehen, und diesen in seiner Cigarre, die sich allmählich verlängert, wieder hineinziehen.8
Das war der Erfahrungshorizont, vor welchem der erste vom deutschen Filmpionier Oskar Messter 1896 produzierte Reklamefilm anzusiedeln ist. Er stellte den Gebrauch der von der Firma Moosdorf & Hochhäusler vertriebenen Dittmannschen Wellenbadschaukel vor.9 Der Film selbst ist verloren gegangen. Erhalten haben sich
6 zit. nach Goergen, Jeanpaul: Das Jahr 1896. Chronik der Berliner Kinematographen. Siegen 1998. S. 30. 7 Ebd., S. 38 (zit. aus „Der Artist“, Nr. 610, Görlitz 18.10.1896). 8 Ebd., S. 32 (zit. aus „Kinetoskop“ vom 20.6.1896). 9 Vgl. hierzu die Erinnerungen des Kameramanns Guido Seeber, Sohn von Clemens Seeber, der mit Oskar Messter zusammengearbeitet und in Chemnitz 1897 am Schluss eines Varieté-Programms „Seebers lebende Riesenphotographien“ vorgeführt hatte. Dabei handelte es sich um acht Kurzfil-
4 Dirk Schindelbeck
hingegen Fotos und Anzeigen vom ausgelobten Produkt, ebenso das „Storyboard“ der Filmhandlung: „Eine Wellenbad-Schaukel steht in der Stube, die Dienstmagd besorgt das Bad, indem sie Wasser einfüllt, und die Temperatur misst, ein junges Mädchen tritt im Badekostüm herein und hüpft in die Wanne.“10 Nach heutigem Verständnis wäre dieser Film wohl eher als Kultur- denn als Werbefilm zu verstehen, da er dem Publikum eine Neuigkeit von allgemeinem Interesse vorstellte. Sein werbender Charakter war Messter gleichwohl bewusst, sodass er glaubte, ihn in seinem Verleihkatalog aus dem Jahr 1898 den Kinobesitzern günstiger anbieten zu müssen: „Da dieses Bild für die Wellenbadschaukel Reklame macht, so kostet dieses Bild nur den halben Preis.“11
Abb. 1: Julius Pinschewer
me, unter anderen Die Westeisbahn in Berlin; Ein Galopp im Manöver; S. M. Kaiser Wilhelm I. auf der Vulkanwerft in Stettin am 3. Mai 1897; Am Bahnhof Warschauer Straße in Berlin; Bade zu Hause!; Schnellmaler Jigg; Ein Kuss auf dem Maskenball. In: Oskar Messter. Filmpionier der Kaiserzeit (Kintop Schriften 2). Hrsg. von Frank Kessler, Sabine Lenk, Martin Loiperdinger. Basel/Frankfurt a. M. 1994. S. 38. Vgl. hierzu auch Westbrock, Ingrid: Der Werbefilm. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Genres vom Stummfilm zum frühen Ton- und Farbfilm. Hildesheim/Zürich/New York 1983. S. 31–33. Ein Original der Dittmannschen Wellenbadschaukel findet sich im Technomuseum in Mannheim. 10 Zit. nach Goergen, Jeanpaul: Das Dynamit der Reklame. Aspekte des künstlerischen Werbefilms. In: Strategien der Werbekunst von 1850–1933. Hrsg. von Jörg Meißner. Berlin 2004. S. 88–99, hier S. 91. 11 Zit. nach Agde, Günter: Flimmernde Versprechen. Geschichte des deutschen Werbefilms im Kino seit 1897. Berlin 1998. S. 10.
Julius Pinschewer und der gezeichnete Werbetrickfilm in Deutschland 1897–1933
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Abb. 2: Bade zu Hause (D 1896)
Auch wenn damit der Film als Werbemedium schon ausprobiert worden war, bei den infrage kommenden Unternehmen als probates Instrument zur Verbreitung ihrer Botschaften ‚angekommen‘ war er noch längst nicht. Es sollte noch mehr als ein Jahrzehnt vergehen, ehe es Julius Pinschewer vorbehalten war, das neue Medium für den Einsatz in der Werbung wirklich tauglich zu machen. In einem Brief aus dem Jahr 1960 beschrieb er sein Initialerlebnis in der Rückwende dazu so: Es war im Jahre 1910, als ich bei meinem ersten Besuch in einem öffentlichen Lichtspieltheater, angesichts von Hunderten von Augenpaaren, die auf die Leinwand gerichtet waren, auf die Idee kam, den Film als Werbemittel zu verwenden. Bis dahin hatte ich weder einen Reklamefilm gesehen noch davon gehört. Gleichzeitig schwebte mir die Idee vor, den Reklamefilm durch die Lichtspieltheater laufen zu lassen und diesbezüglich Verträge mit den Theatern abzuschließen.12
Zu dieser Zeit war das Kino, sowohl als physisch erfahrbarer Ort wie auch als häufiges Freizeitvergnügen der Menschen längst zu einer Institution geworden. Allerdings waren in der Frühphase dieser Entwicklung, bis etwa 1905, Filmvorführungen noch ausschließlich nach dem Vorbild von Wanderzirkussen erfolgt. Erst nachdem
12 Zit. nach Amsler, André: „Wer dem Werbefilm verfällt, ist verloren für die Welt“. Das Werk von Julius Pinschewer (1883–1961). Zürich 1997. S. 14.
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Oskar Messter 1905 in Berlin das erste „stehende Filmtheater“ gegründet hatte,13 etablierte sich das Kino rasch als ortsfeste Institution für Massenunterhaltungsspektakel: „Ab 1906 nahmen in Berlin monatlich etwa 20 neue Kinos ihren Betrieb auf… Im Jahr 1910 existierten im Deutschen Reich schon 480 feste Kinos, 1915 dann bereits 3 700.“14 Im Deutschen Kaiserreich wurde das Kino innerhalb kurzer Zeit zu einem „Ort der Moderne“ und erreichte 1908 bereits 191 Millionen Zuschauer.15 Allein in Hamburg wurden um 1910 schon mehr als 60 Kinos mit bis zu 1 200 Plätzen betrieben.16 In Mannheim, so die erste deutsche Kinosoziologin Emilie Altenloh 1913, saßen in der Saison 1911/12 in den zwölf ortsansässigen Kinos allabendlich ca. 7 500 Menschen, in der Regel Arbeiter*innen und kleine Angestellte, vor der Leinwand.17 Was sie suchten, war vor allem Zerstreuung und Unterhaltung. Dass das neue Medium den Geschmack der Massen gut zu bedienen wusste, lässt sich allein schon an den Filmtiteln ablesen: Sündige Liebe, Der schwarze Tod, Liebes-Intrigen, Zerbrochenes Glück oder Die Herrin des Nils.18
Ein Kinoabend – Zeitungslektüre in bewegten Bildern Vor diesem mediengeschichtlichen Hintergrund betrat Julius Pinschwer 1910 die Werbe-Bühne. In seinen Augen, so Manfred Loiperdinger, „glich das ganze Kinoprogramm einer kompletten ‚lebenden Zeitungsnummer‘. Was er jedoch vermisste, war der Anzeigenteil, sodass er sich vornahm, für die im Kino noch fehlenden Inserate zu sorgen.“19 Pinschewers Analogieschluss war allerdings unvollständig, da bis 1914 in den Kino-Programmen ebenfalls fehlte, was im Medium Tageszeitung längst zum unverzichtbaren Bestandteil einer jeden Ausgabe geworden war: der Nachrichtenteil. Zwar gab es schon um 1911 sogenannte „Aktualitäten-Filme“, doch erst Messter sollte daraus entwickeln, was man heute ein eigenständiges und regelmä-
13 Altenloh, Emilie: Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, neu Hrsg. von Andrea Haller, Manfred Loiperdinger u. Heide Schlüpmann. Frankfurt a. M. 2012 (zuerst 1913). S. 18. 14 Sabelus, Esther u. Jens Wietschorke: Die Welt im Licht. Kino im Berliner Osten 1900–1930. Berlin 2015. S. 29. 15 Müller, Corinna u. Harro Segeberg (Hrsg.): Kinoöffentlichkeit (1905–1920). Cinemas Public Sphere (1895–1920). Entstehung. Etablierung. Differenzierung, Marburg 2008. S. 21. 16 Ebd., S. 97. 17 Altenloh, Zur Soziologie des Kinos (wie Anm. 13), S. 50. 18 Müller u. Segeberg, Kinoöffentlichkeit (wie Anm. 15), S. 30. 19 Loiperdinger, Manfred: Julius Pinschewer. Klassiker des Werbefilms (Begleitheft zur DVD). absolut-Medien GmbH. Berlin 2010. S. 4.
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ßig erscheinendes Nachrichten-Format nennt: Als erste größere deutsche Wochenschau gilt denn auch die erstmals am 23. Oktober 1914 gezeigte Messter-Woche, zu deren Etablierung der Erste Weltkrieg und die damit einhergehende kollektive Gier nach Neuigkeiten wesentlich beitrug. Insofern bedeutete Pinschewers Idee der „lebenden Tageszeitung“ zunächst nur die Sicht eines Unternehmens, das im Begriff stand, sich einen Markt zu eröffnen, aber noch keineswegs die Sicht des Publikums, das im Kino ausschließlich ein Zerstreuungs- und Unterhaltungsmedium sah. Aus dessen Perspektive war auch nicht einzusehen, dass es für sein gutes Eintrittsgeld die es umwerbenden Filme mitbezahlen sollte. Dagegen war es im Umgang mit dem Medium Tages-Zeitung bereits seit vielen Jahrzehnten dahingehend konditioniert worden, dass neben dem Nachrichtenteil und dem Unterhaltungsroman (in Fortsetzungen) auch ein umfangreicher Anzeigenteil zum Gesamtpaket gehörte, der selbstverständlich mitzubezahlen war. Was für die Kino-Besucher*innen zutraf, galt umso mehr für die Kino-Betreiber*innen, die ihrerseits ebenfalls nicht einzusehen vermochten, warum sie für Werbefilme, deren primäres Ziel ja nicht die Unterhaltung des Publikums war, Entleihgebühren entrichten sollten. Noch dazu wenn sie sich damit am Ende womöglich noch dessen Unmut zuzogen. Aus diesem Paket von Widerständen lässt sich die gegenüber dem Spielfilm fast 15 Jahre währende Entwicklungsverzögerung im deutschen Werbefilm erklären. Umso höher erscheint Pinschewers Wagemut, das neue und noch im Frühstadium seiner Entwicklung steckende ‚Überwältigungsmedium‘ Kino nun gezielt für die Zwecke der Werbung einzusetzen. Am 4. Februar 1910 meldete er – als seine originäre Geschäftsidee – in Berlin ein Patent für „animierte Inserate“ (das ihm von Amtsseite allerdings nie gewährt wurde) an, worauf ihm (nach eigner Aussage) postwendend der Bankkredit gekündigt worden sei. „Ein solcher Phantast“, so die Argumentation der Behörde, sei „nicht glaubwürdig“. Um trotz dieses Bescheids die Urheberschaft für seine Idee von Amts wegen festschreiben zu lassen, meldete er am 23. Februar 1910 sein Patent auch in England an.20 Als gelernter Volkswirt war sich Pinschewer im Klaren darüber, welche Herkules-Aufgabe es bedeutete das neue Medium in die Erfolgsspur zu bringen. Im Sinne dessen, was man heute als Marketing-Mix bezeichnet, begann er geradezu besessen an vier Fronten zugleich zu arbeiten, also parallel Produkt-, Preis-, Distributionsund Kommunikations-Politik zu betreiben.21
20 Amsler, Wer dem Werbefilm verfällt (wie Anm. 12), S. 11 u. S. 52. 21 Der Marketing-Mix „wurde zum ersten Mal in den 1950er Jahren vom Amerikaner Neil H. Borden vorgestellt und gilt bis heute als das am häufigsten genutzte Marketingtool. Die Idee hinter dem Konzept: Mit Hilfe des Marketing-Mix sollen Marketing-Manager Aktivitäten gegliedert und ergebnisreich durchführen.“ Zit nach http://www.marketinginstitut.biz/blog/marketing-mix/ (3.12.2018).
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Pinschewers Marktöffnungs-Strategie 1 Produkt-Politik Unverzichtbar für Pinschewers Vorhaben war zu allererst die Sicherstellung einer kontinuierlichen Werbefilm-Produktion mit einem Mindeststandard an Qualität. Das wiederum bedingte die Einrichtung eines festen Studios samt Einstellung sachkundiger Mitarbeiter*innen sowie die Anschaffung bzw. – da meist ja noch nicht zu erwerben – den eigenhändigen Bau der dazu benötigten technischen Apparaturen wie Kameras, Dunkelkammern, Tricktischen, Kulissen usw. Schließlich gab es ja keine „Blaupause“ dafür, wie eine Werbefilm-Produktion aufzuziehen war und wieviel an technischem Neuland dabei tagtäglich beschritten werden musste. In seinem Buch Flimmernde Versprechen hat Günter Agde die Situation folgendermaßen beschrieben: Die Werbefilmgestalter waren entweder begabte Bastler oder Tüftler, die das neue Medium brennend interessierte, das sie als neues, unbekanntes Feld ihrer Experimentierfreude begriffen und nun erobern wollten. Oder sie waren wendige, flexible, clevere Geschäftsleute, die in dem neuen Medium unbekannte, reizvolle Chancen ihrer Betätigung und moderne Verdienstmöglichkeiten vorausahnten.22
Dank seiner sozialen Kompetenz und seines Organisationstalents gelang es Pinschewer schnell, eine verschworene Truppe von Mitarbeiter*innen zusammenzuführen, unter denen eine „Bauhüttenatmosphäre“ (Agde) geherrscht habe. Und natürlich bedingte es auch eine Rechtsform: den Aufbau einer Produktionsfirma sowie die Zusammenarbeit mit filmerfahrenen Leuten wie z. B. Schauspieler*innen. So gründete Pinschewer 1912 mit dem Theater- und Filmschauspieler Harry Walden (1875–1921) seine erste Produktionsgesellschaft, noch im selben Jahr erfolgte aber schon seine Ausgründung unter dem Namen Werbefilm GmbH.23 Auch die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten war damals – vor allem im Hinblick auf akzeptable Lichtverhältnisse für die Produktion qualitativ hochwertiger Werbefilme – ein großes Problem: „Zu Reklamefilmen ist das beste Licht gerade gut genug… Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich eine Verbindung von Quecksilberdampflicht mit dem Licht besonders konstruierter Bogenlampen als sehr geeignet erweist.“24 Zunächst mietete Pinschewer ein umgebautes Fotoatelier an; 1914 bezog er sein erstes Werbefilmatelier
22 Agde, Flimmernde Versprechen (wie Anm. 11), S. 19. 23 Amsler, Wer dem Werbefilm verfällt (wie Anm. 12), S. 20. 24 Goergen, Jeanpaul: Julius Pinschewer. Künstler und Kaufmann. Pionier des Werbefilms. In: epd Film 3/1992. S. 16–22, hier S. 18.
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am Dönhoff-Platz in Berlin, nun erstmals mit einem Glasdach.25 Auch an die technische und erzählerische Qualität seiner Filmvorhaben stellte Pinschewer von Anfang an höchste Ansprüche. Kulissen und Dekorationen seien „möglichst plastisch auszuführen“, und es empfehle sich ein „indifferenter Hintergrund, um nicht vom Spiel abzulenken“, das in „gedrängter Kürze“ ablaufen solle. Besondere Sorgfalt sei auf die Auswahl der Schauspieler zu legen und deren professionelles Arbeiten: „Jede unrichtige Bewegung bedeutet Zeitverlust“.26
2 Preis-Politik Selbstverständlich war die Herstellung eines drei- bis fünfminütigen Werbefilms deutlich aufwändiger und teurer als vergleichbare Anzeigen oder Plakate. Hinzu kam ein Mehrfaches an Kosten für die Vorführungen in den Lichtspielhäusern. Um das Medium Film für die Werbungtreibenden dennoch in einem besonders attraktiven Licht erscheinen zu lassen, war es unverzichtbar, auf das herausragend gute Preis/Leistungsverhältnis hinzuweisen. Pinschewers Parade-Argument gegenüber der konkurrierenden Plakat- oder Anzeigenwerbung war dabei der einzigartige Penetrationsgrad der Werbebotschaft. In einer Tageszeitung ließ sich der Inseratenteil überblättern. Gleiches galt für die Werbung im öffentlichen Raum mit Plakaten oder Emailschildern, deren Wirkung schon verpuffte, wenn der angezielte Adressat nur die Blickrichtung änderte. Begaben sich Menschen dagegen aktiv und aus eigenen Stücken ins Kino, dann saßen sie dort zusammengedrängt und voller Erwartungen in einem abgedunkelten Raum und waren für die Eindrücke, die sie jetzt empfingen, ebenso offen wie ihnen ausgeliefert. Dass diese psychologisch ganz andere Situation auch eine ganz andere Strategie bei der Gestaltung der werblichen Botschaften selbst erforderte, lag auf der Hand – dazu gehörte vor allem, dass man die Leute niemals verärgern durfte und nach der Devise von Phineas Taylor Barnum (1810– 1891) vorgehen musste: „Locke die Leute mit allen Mitteln in Deine Bude, aber dann biete ihnen auch etwas Gutes“27. Pinschewer selbst tat in der Folgezeit alles, um seinen Kund*innen diesen unbestreitbaren Vorzug des Kinowerbefilms gegenüber den hergebrachten Werbemitteln aufzuzeigen, indem er unentwegt dessen überragende Publikumspenetration betonte – zu einem denkbar kleinen Preis pro Zuschauer*in: Kinowerbung, so sein Argument, sei letztendlich die billigste und dabei zugleich wirksamste Werbung überhaupt.
25 Loiperdinger, Manfred: Julius Pinschewer – Pionier, Klassiker und Avantgardist des Werbefilms. Einleitung DVD. S. 4. 26 Goergen, Julius Pinschewer. Künstler und Kaufmann (wie Anm. 24), S. 18. 27 Vgl. hierzu die Autobiographie des Schaustellerpioniers Phineas Taylor Barnum (1810–1891). Barnum, Phineas Taylor: König Humbug. Sein Leben, von ihm selbst erzählt. Berlin 2001.
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3 Distributions-Politik Werbefilme waren zwangsläufig an Lichtspieltheater als ihren speziellen Aufführungsorten gebunden. Bei der in Deutschland vorhandenen Ausstattung mit Kinos war es zwingend geboten als Werbefilm-Hersteller*in auch zugleich deren Verbreitung und Vertrieb mit in die Hand zu nehmen, also nicht nur als Produzent*in, sondern auch als Mittler*in dieser neuen Art von Werbung aufzutreten – schon weil es entsprechende Dienstleistungs-Anbieter*innen nach dem Vorbild der seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Zeitungssektor tätigen Annoncenexpeditionen noch gar nicht gab. In der Kontaktaufnahme mit Kinobetreiber*innen muss Pinschewer rastlos tätig gewesen sein, wie die von ihm vorgelegten Zahlen erahnen lassen. Schon 1912 habe er nach eigenem Bekunden etwa 500 Kinos (also mindestens ein Viertel der in Deutschland vorhandenen), welche ausschließlich die von seiner Firma produzierten Werbefilme (jeweils ca. 2 Min.) zeigten, unter Vertrag gehabt. 1913 sollen es bereits 600 gewesen sein, womit er bereits „58 Millionen Zuschauer“ erreicht haben will. 1920 habe er schon das Aufführungsmonopol für etwa 800 Kinos besessen, drei Jahre später für 1 500 Kinos. Ende 1926 gab er an, 300 000 Sitzplätze und damit drei Millionen Zuschauer wöchentlich zu erreichen.28
4 Kommunikations-Politik Julius Pinschewer war sich darüber im Klaren, dass die Produktion und Verbreitung von Werbefilmen längst nicht für alle Unternehmen gleichermaßen in Betracht kam. Es machte wenig Sinn, für ein nur lokal oder regional erhältliches Produkt das Wagnis eines teuren Werbefilms anzugehen. So ist denn auch sein erstes Reklamefilmprojekt für das Berliner Modehaus Lewandowski, das die Ankunft großbürgerlicher Kundinnen über Korsett-Anproben bis hin zu Kauf und Verabschiedung zeigte, eher als Probelauf auf lokalem Terrain anzusehen. Im Grunde kam für den Werbefilm nur die Markenartikel-Industrie in Betracht, deren Produkte ohnehin schon landesweit bekannt und in standardisierten Qualitäten, Verpackungen und festen Preisen auch überall erhältlich waren.29 Und das waren um 1912 nicht allzu viele: Noch 1931 befand Paul Michligk in seinem Handbuch, dass erst etwa ein Sechstel aller am
28 Vgl. Pulch, Harald: Werbefilm im Wandel. In: Die Kunst zu werben. Hrsg. von Susanne Bäumler u. Münchner Stadtmuseum. Köln 1996. S. 371–382. 29 Vgl. hierzu Schindelbeck, Dirk: Strategien zwischen Kunst und Kommerz. Die Geschichte des Markenartikels seit 1850. In: Strategien der Werbekunst 1850–1933. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums DHM Berlin. Hrsg. von Jörg Meißner. Berlin 2004. S. 68–77; Schindelbeck, Dirk: Was ich schon immer vom Markenartikel wissen wollte. Eine ungewöhnliche Lerneinheit zu einem gewöhnlichen Thema. In: Forum Schulstiftung. Zeitschrift für die freien katholischen Schulen der Erzdiözese Freiburg, Heft 57, Dezember 2012, S. 100–120.
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Markt erhältlichen Produkte Markenartikel seien.30 Vor dem Ersten Weltkrieg kamen für Filmwerbung somit nur wenige Convenience-Produkte, wie allseits bekannte Nähr- oder Waschmittel (Odol, Persil, Pebeco, Maggi), große Sekt- oder Schokoladenmarken (Kupferberg, Stollwerck) und eine kleine Anzahl anderer Artikel in Frage. In der Regel kannten sie die Verbraucher*innen längst aus der Plakat- und Anzeigenwerbung, konnten sie aber jetzt neu und ganz anders erleben, wenn sie ihnen plötzlich als Kinohelden ‚lebendig‘ entgegen traten. Und natürlich verfügten auch nur Unternehmen der Markenartikel-Industrie über ausreichend große ReklameEtats, die neben einer weiterhin durchgeführten Plakat- und Anzeigenwerbung auch Produktion und Aufführung von Werbefilmen erlaubten. Vor diesem Hintergrund entschloss sich Pinschewer auf eigenes Risiko zur Produktion einer spektakulären Eigenwerbung in Gestalt einer ‚Musterkollektion‘ an Filmen, um sie auf der Versammlung des Reklameschutzverbandes in Berlin 1911 vorzuführen. Es handelte sich um meist mit lebenden Personen realisierte Streifen von 20 bis 30 m Länge (entspricht etwa 1 bis 1 ½ Minuten Vorführungsdauer). Doch auch ein erster Werbetrickfilm befand sich darunter: staunend erblickten die Zuschauer*innen einen Napfkuchen, der sich rasch zu ansehnlicher Größe entwickelte. Dessen Wachstum, so der erläuternde Text, sei auf die Verwendung von Dr. Oetkers Backpulver zurückzuführen.31
Der Werbefilm erprobt seine Möglichkeiten Vieles von dem, was das Medium Film für die Werbung so geeignet machte, begriffen und erlernten seine Hersteller*innen erst bei der praktischen Arbeit. Ob im Realfilm oder bald darauf im Trickfilm – es war vor allem die Dimension ‚Zeit‘, die jetzt zur Hauptherausforderung wurde und die bislang in allen nur per Wort und Bild daherkommenden Print-Werbungen nie eine Rolle gespielt hatte. Dafür waren die nunmehr bewegten Bilder erstmals in der Lage, die Dynamik einer Verwandlung zu zeigen und/oder eine Geschichte zu erzählen. Nur der Film, so Pinschewer 1913, könne „zeigen, wie die Seife schäumt, die Schokolade schmeckt, wie der Einkochapparat gehandhabt wird oder wie sauber ein Nahrungsmittel von einer sinnreichen Maschine verpackt wird.“32 Insofern war es das Medium selbst, das die Werbefilmgestalter*innen jetzt zu Konstrukteur*innen einer neuen (Leinwand-) Wirklichkeit
30 Michligk, Paul: Markenartikel-Handbuch. Leipzig 1931. S. 14. 31 Julius Pinschewer selbst hat dies so ausgedrückt: „Ganz besonders eignet sich die Filmreklame für solche Produkte, die unter einer bestimmten Marke in den Verkehr gelangen, oder die ihrer Art und ihrer Herkunft nach eine Klasse für sich bilden, und überall, zu jeder Zeit und zu festen Preisen zu haben sind.“ Zit. nach Agde, Flimmernde Versprechen (wie Anm. 11), S. 22. 32 Zit. nach Goergen, Julius Pinschewer. Künstler und Kaufmann (wie Anm. 24), S. 17.
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machte – unabhängig davon, ob es sich um einen sogenannten Realfilm handelte, der ja seinerseits vielerlei Kunstgriffe durch verschiedene Einstellungen und Szenenschnitte bis hin zum Zusammenbau erforderte, oder den bald populären Zeichentrickfilm. „Es gibt nur wenige Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich einer Darstellung durch den Film entziehen können. Dieses Wort erhält durch die Tricktechnik seine Berechtigung“, befand 1927 der Kameramann Guido Seeber in seinem Buch Der Trickfilm in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten und: „Kurze Darstellungen des Begriffes können ins Ungeheuerliche ausgebaut werden. Niemals kann und darf es eine Grenze geben.“33 Fasziniert von den Möglichkeiten, die ihm die Dimension Zeit im Medium des Films bot, war auch der ab 1920 mit Pinschewer arbeitende Experimentalfilmer Walter Ruttmann: „Besonders der Begriff Rhythmus kann durch die jeweilige Aufnahmeart anschaulich ausgedrückt werden.“34 Vor allem war jetzt gefordert, ein dem jeweiligen Werbezweck dienendes Drehbuch zu erarbeiten. Dass dazu ganz besondere Qualifikationen erforderlich waren, war den Werbefilmmachern sehr wohl bewusst: Wenn künftighin ein Drehbuchdichter Unterlagen für einen solchen Film schreibt, muss er Dichter im wirklichen Sinne des Wortes werden… Er muss die eigenartigen Unterteilungen eines Bildes mit ersinnen und die im Geiste gesehenen Vorgänge auch zeitlich festlegen können… Wie ein Musiker eine Tonschöpfung instrumentiert, wird der Filmautor eine Art technischer Partitur schreiben müssen, die es dem Kameramann ermöglicht, seiner Phantasie zu folgen.35
Kleiner Katalog früher Tricktechniken Bei den frühen Werbefilmen ist freilich noch nicht davon auszugehen, dass jeweils schon „Drehbuchdichter“ im Hintergrund tätig waren; gleichwohl fallen auch schon in diesen Produktionen dramaturgische Grundmuster auf, von denen viele bis auf den heutigen Tag eingesetzt werden. Dazu gehört das nach dem Schema eines möglichst harten Kontrastes arbeitende Vorher-Nachher-Prinzip: Einer zuvor trüben Wirklichkeit ohne Produkt wird eine märchenhafte Verwandlung aufgrund plötzlich einsetzender Produkt-Verwendung entgegengesetzt. Das Paradebeispiel dafür findet sich bereits in einem der frühesten deutschen Werbefilme: Pinschewers 70-Sekun-
33 Guido Seeber, Kameramann Pinschewers, in seinem Buch: Seeber, Guido: Der Trickfilm in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten. Eine praktische und theoretische Darstellung 1927 der photographischen Filmtricks (Band II aus der Serie ‚Der praktische Kameramann‘). Berlin 1927. S. 240. 34 Vgl. hierzu Goergen, Jeanpaul: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation (o. O., o. J., ca. 1989). S. 17–56. 35 Seeber, Der Trickfilm (wie Anm. 33), S. 241.
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den-Streifen für die Firma Julius Maggi mit dem Titel Die Suppe von 1911. Er zeigt einen beleibten Herrn, der in einem Gartenlokal eine Suppe löffelt, die ihm aber nicht recht munden will. Der herbeigerufene Ober hat jedoch ein Fläschchen MaggiWürze zur Hand und gibt ein paar Tropfen davon in die Suppe. Augenblicklich bessert sich die Stimmung des Gastes. Das Procedere wiederholt sich mehrere Male, und je mehr Maggi-Würze in die Suppe gelangt, umso größer wird der Appetit des Gastes, sodass dieser sich am Ende nur noch wohlig den Bauch reibt. Was den schlichten Realfilm jedoch zum Trickfilm machte, war ein kleiner technischer Kniff, der dem Publikum das individuelle Geschmackserlebnis des Gastes sinnfällig und zudem auf humorvolle Weise zur Anschauung brachte. Während der Aufnahme war die Kamerakurbel gegen Ende der Sequenz sukzessive langsamer gedreht worden, was beim gleichmäßigen Abspielen im Kinosaal nun zum umgekehrten Effekt einer sich stets steigernden Geschwindigkeit beim Auslöffeln der Suppe führte. Was jetzt, oberflächlich gesehen, dem Publikum ungläubiges Staunen und große Heiterkeit entlockte, transportierte durch die wachsende Löffel-Geschwindigkeit zugleich eine zweite, tiefere Bedeutung: das sich offensichtlich immer weiter steigernde Geschmackserlebnis nach dem Motto „Der Appetit kommt beim Essen.“ Schon hier wird eine grundlegende Tendenz des frühen Werbefilms greifbar, nicht nur ein Stück Wirklichkeit 1:1 abzufilmen, sondern mithilfe der im Medium selbst bereitliegenden Mittel – wie in diesem Fall des Zeitraffers – über die Auslobung der Ware hinaus dem Publikum gute Unterhaltung zu bieten. Bestrebungen dieserart, das Publikum mit filmischen Taschenspielertricks möglichst zu verblüffen, bestimmten auch die Dramaturgie der in diesen Jahren aufkommenden sogenannten Stopp- oder Legetrick-Filme. Analog zur Erfindung des modernen Sachplakats durch Lucian Bernhard (1883–1972) ist es auch hier die Ware selbst (und zumeist nur sie), die plötzlich animiert und als tragender Akteur der Handlung auftritt. Technisch bewerkstelligt wurde dies durch phasenweise Aufnahmen immer wieder anders gelegter Objekte nach einer zuvor sorgfältig ausgearbeiteten Choreographie. Was dabei entstand, waren wie von Zauberhand bewegte Maggi- oder Kupferberg-Flaschen, die sich zuweilen sogar zu einer Art Warenballett formierten [z. B. „Tanz der Flaschen“ für Maggi (1912) und „Tanz der Flaschen“ für Kupferberg (1920)]. Eine Stufe weiter im Legetrick ging der fast zwei Minuten dauernde PinschewerFilm „Der Nähkasten“, ebenfalls 1912 entstanden. Helden des Films sind hier Nähnadel und Faden, die wie von Zauberhand bewegt, sich aus dem Nähkasten hervorarbeiten und dabei mithelfen, die bekannten Prymschen Druckknöpfe an ein Hemd zu nähen. Aus den Druckknöpfen selbst formiert sich am Ende – ebenfalls wie von Zauberhand – der Markenname Prym. Den Sprung vom Noch-Real- zum reinen Zeichentrickfilm vollzog schlussendlich der während des Ersten Weltkriegs für die Firma Beiersdorf produzierte Drei-Minuten-Streifen Der Zahnteufel. Es handelte sich um den ersten deutschen Werbefilm, der sich der (fiktiven) Figur eines koboldartigen Widersachers bediente – ein
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noch heute häufig eingesetzter Topos.36 Held und Gegenspieler ist eine als Strichmännchen animierte Zahnpastatube der Marke Pebeco. Sie bewahrt die vom Zahnteufel und seiner Bohrwut arg bedrängten Zähne vor der Zerstörung, indem sie große Mengen von Zahnpasta auf den Dämon spritzt, diesen darunter begräbt und auf diese Weise unschädlich macht. Der Film, nach Pinschewers Angabe schon 1915 entstanden, tauchte allerdings erst 1921 in der Zensurliste auf, sodass sein Entstehungsjahr bis heute nicht eindeutig bestimmt werden kann.
Abb. 3: Der Zahnteufel (D 1915)
Diese tastenden dramaturgischen Versuche der frühen Pinschewer-Werbefilme zeigen allesamt eines: das Bestreben über zwei, drei Minuten Spannung nicht nur aufzubauen, sondern bis zum Ende möglichst zu steigern, während sich die werbende Botschaft gewissermaßen im Hintergrund versteckt voran arbeitet, um mit der Fabel der Geschichte erst ganz am Ende zusammenzufallen und hervorzutreten. Dies stellte einen grundlegenden Unterschied zu Werbe-Anzeigen und -Plakaten dar, die nur flächig erzählen konnten und dementsprechend auf simultane Rezeption angelegt waren. Der Werbefilm musste, wollte er spannend bleiben, ‚das Beste‘ – also die Ware – bis zum Schluss aufsparen, gleichzeitig aber seinen Eigenwert als filmische Kreation in jeder Phase energisch und phantasievoll unterstreichen. Eines der pro-
36 Beispiele dafür wären etwa der Gardinen verfärbenden „Gilb“ der 1960er Jahre oder auch die sich in die Bronchien einnistenden „Schleimmonstern“ von Mucosolvan 2017. Vgl. Schindelbeck, Dirk: Zaubersprüche und tanzende Flaschen. Märchenwelten in der Werbung. In: Zurechterzählt! Wie Märchen und populäre Erzählstoffe genutzt, ideologisiert und aktualisiert werden (Schriftenreihe Ringvorlesungen der Märchenstiftung Walter Kahn, Bd. 16). Hrsg. von Markus Tauschek u. Sabine Wienker-Piepho. Volkach 2018. S. 15–43. Klaus Brandmeyer ordnet verschiedenen Werbefiguren vier Grundtypen zu: „Deus ex machina“, „Lehrer“, „Vor-Bilder“ und „Kobolde“. Siehe Brandmeyer, Klaus: Die Götterboten. In: Werbefiguren. Geschöpfe der Warenwelt, Deutsches Werbemuseum. Hrsg. von Joachim Kellner. Frankfurt a. M. 1992. S. 23–32.
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batesten Mittel, nicht zu schnell zu verraten, worum es eigentlich ging und wofür geworben wurde, waren aufmerksamkeitsheischende, Spannung erzeugende, aber dennoch unverdächtig-neutral daherkommende Titel wie Der Teufelstisch, Spuk in der Küche, Die Zaubertasche, Das Wundermittel und andere.37 Diese dramaturgischen Grundprinzipien hat Julius Pinschewer, der selbst nie zeichnete, dafür aber immer wieder als Ideengeber und Regisseur in seinen Filmproduktionen auftrat, selbst umrissen. Wichtig sei ein „klar verständlicher Inhalt“ bei „kürzester Ausdehnung“ und ein „interessanter, fesselnder Stoff“38. Dementsprechend konstatiert Harald Pulch: „Die Hauptsache ist, dass die Überraschung gelingt.“39 Und Jeanpaul Goergen schreibt: „Die verblüffende Pointe mit der Präsentation der Marke als Lösung der Handlung war ganz auf den großen Heiterkeitserfolg angelegt.“40 Somit hatte der Werbefilm schon vor dem ersten Weltkrieg die Qualität eines „Spielfilms im Miniformat“ erreicht. Anderseits gewöhnte sich das Publikum schnell an außergewöhnliche ‚Leinwandwunder‘ wie die genannten Flaschentänze, sodass sich selbst diese außerordentlich kühne Idee schon vor dem Ersten Weltkrieg verschliss und durch neue spektakuläre Einfälle überboten werden musste.41
Die Gewöhnung des Publikums an das ‚Format‘ Werbefilm Schon 1913 hatte Julius Pinschewer notiert: „In 90 von 100 Vorführungen“ seien „die Reklamefilme… mit sichtlichem Beifall seitens der Zuschauer aufgenommen“42 worden. Auch wenn in diesem Fall die Vermutung, dass hier der Wunsch der Vater des Gedankens war, nicht von der Hand zu weisen ist: „gewonnen“ für den Werbefilm als legitimes Unterhaltungsformat war das Kinopublikum zu dieser Zeit keineswegs. Noch 1921 hieß es, dass es sich über die Vorführung von Werbefilmen „mitunter recht unwillig geäußert habe, weil es darin eine Verkürzung seiner durch Bezahlung des Eintrittsgeldes erworbenen Ansprüche erblickt.“43 Ähnliche Beobachtungen wurden auch noch Jahre später gemacht: „1925 wurde berichtet, dass sich der Wider-
37 Vgl. Amsler, Wer dem Werbefilm verfällt (wie Anm. 12), S. 107. 38 Zit. nach Goergen, Julius Pinschewer. Künstler und Kaufmann (wie Anm. 24), S. 17. 39 Pulch, Werbefilm im Wandel (wie Anm. 28), S. 373. 40 Goergen, Julius Pinschewer. Künstler und Kaufmann (wie Anm. 24), S. 17. 41 Pinschewer nahm die dramaturgische Idee nach dem Weltkrieg noch einmal auf und realisierte sie im unter dem Titel Tanz der Flaschen veröffentlichten Film für die Firma Kupferberg erneut. Vgl. hierzu Liechtenstein, Manfred u. Doris Hackbarth: Deutsche Trickfilme (1909–1945) Bestandsnachweis (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Bd. 72). Koblenz 1999. 42 Amsler, Wer dem Werbefilm verfällt (wie Anm. 12), S. 13. 43 Goergen, Das Dynamit der Reklame (wie Anm. 10), S. 90.
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stand des Publikums bemerkbar mache, ‚wenn die Zahl der Positive und der Reklamefilme über eine gewisse Grenze‘ überschreite.“44 Aus der Sicht der Werbemacher sehr viel besser sah es zu dieser Zeit bereits in den Vereinigten Staaten aus, deren technischer Vorsprung vor allem im Hinblick auf den Stand der Trickfilmtechnik von den deutschen Kollegen unisono nur bewundernd anerkannt wurde. Dort sei es schon häufig vorgekommen, „daß der Reklamefilm mehr Beifall findet als der Hauptfilm des Programms“.45 Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs waren für die Akzeptanz des Werbefilms vonseiten des Publikums von Bedeutung, wenngleich der Reklamefilm schon im Verlauf des Krieges durch das Propaganda-Format abgelöst wurde. Konnte Pinschewer in den ersten beiden Kriegsjahren – vor allem für den Kriegs-Kornfranck des Zichorienkaffee-Herstellers Franck & Kathreiner – noch eine Reihe von ‚echten‘ Werbefilmen produzieren, so änderte sich dies 1916 grundlegend. Schon Anfang 1915 hatte er sich mit Überlegungen zur Zentralisierung der politischen Propaganda zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass der Film viel suggestiver wirke als das einfache Bild und sich daher „ganz besonders zum internationalen politischen Propagandamittel“ eigne.46 Bis Mitte 1916 stießen solche Ideen bei den politischen und militärischen Entscheidungsträgern auf keine Resonanz. Dies änderte sich erst mit nachlassender Bereitschaft der Bevölkerung für die halbjährlich stattfindenden Kriegsanleihen immer wieder zu zeichnen. Der Strategiewechsel erfolgte im Herbst 1916, als erstmals große Plakatwettbewerbe zur Zeichnung von Kriegsanleihen ausgelobt wurden. Die nun regelmäßig von professionellen Reklamekünstler*innen geschaffenen Plakate stellten fortan die einzigen farbigen Werbeaktionen im öffentlichen Raum dar und wurden von Fachleuten wie Johannes Weidenmüller (1881– 1936) als „Deutschlands größtes Werbewerk“47 gepriesen. Innerhalb dieser Generalstrategie sollte nun auch der Filmpropaganda eine tragende Rolle zufallen. Dass es dazu kommen konnte, war unter anderem Oskar Messters Memorandum Der Film als politisches Werbemittel zu danken, in welchem dieser im Herbst 1916 Politik und Heeresführung auf dieses bislang noch gar nicht genutzte „Instrument der Massensuggestion“ seinerseits nachdrücklich hingewiesen hatte. Diese Entwicklungen führten letztlich zur Gründung der Deutschen Lichtbildgesellschaft (DLG) am 19. November 1916 und am 13. Januar 1917 zur Gründung der Universal Film AG – kurz Ufa. Pinschewer, der bereits 1915 zum Berater der Deutschen Reichsbank geworden war, gründete seinerseits eine Firma unter dem Namen Vaterländischer Filmvertrieb.
44 Ebd. 45 Pauli, Fritz: Das Problem des Werbefilms. In: Die Reklame, 2. Juniheft 1926, S. 616–617. 46 Agde, Flimmernde Versprechen (wie Anm. 11), S. 25. 47 Weidenmüller, Johannes: Deutschlands größtes Werbewerk. In: Mitteilungen des Vereins deutscher Reklamefachleute e. V., Fachblatt für das gesamte Reklamewesen, Heft 10/11, 1916, S. 166–168. Zu Weidenmüller vgl. Schindelbeck, Dirk: Der aus Reklame Werbung machte. Johannes Weidenmüller. Werbewissenschaftler und Agenturgründer. Berlin 2016.
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In den letzten beiden Kriegsjahren produzierte diese mindestens 20 Propaganda-Filme zur Bewerbung der fünften bis neunten Kriegsanleihe. So sehr er nun davon profitierte, dass die Filmtheater-Betreiber die von ihm produzierten Propagandafilme kostenlos erhielten, so sehr gewöhnte sich das Publikum während des Krieges daran, das Kino als einen Ort, an welchem eben nicht nur unterhaltende, sondern regelmäßig auch Werbe- bzw. (jetzt) Propagandafilme gezeigt wurden, zu akzeptieren. Wie solche von Pinschewer produzierten Streifen aussahen, illustriert das Beispiel Ein neuer Dreibund. Filmkomödie in einem Akt zur Bewerbung der achten Kriegsanleihe vom Sommer 1918. Ein Sparstrumpf, eine Brieftasche und ein Sparschwein bilden hier eine Aktions-Allianz (unter Verwendung des bekannten Schiller-Zitats aus dessen Ballade Die Bürgschaft). Sie legen ihr Geld zusammen und zeichnen zusammen 98 Mark. In diesen Strumpf ist lange Zeit Kein Fuß hineingefahren. Er diente vielmehr seinem Herrn, um darin sein Geld zu sparen. Die Geldbrieftasche ist nicht faul, sie öffnet jetzt ihr breites Maul und speit heraus vier Scheine zwei grössere und zwei kleine. Das Sparschwein spricht: Mein Leib ist rund, ein Schlitz ist in der Mitte, Ich sei, gewähret meinen Wunsch, in eurem Bund der dritte.
Vor dem Hintergrund dieser Seh-Erfahrungen bildete sich dann in den frühen 1920er Jahren der typische Ablauf eines Kinoabends heraus. Das Schema behielt noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit mit werbenden, belehrenden, informierenden und unterhaltenden Elementen und – vom Anspruch her – stetig ansteigender Spannungskurve, wonach das Publikum am Ende für das geduldig ertragene Vorprogramm mit dem Hauptfilm ‚belohnt‘ wird. Eingeleitet von einem oder mehreren Werbedias schloss sich als zweiter Programmpunkt daran ein Reklamefilm mit einer Länge von zwei bis fünf Minuten (ab Mitte der 1920er Jahre aber schon mehrere von jeweils 1 ½ Minuten Länge) an. Ihm wiederum folgte das mit Abstand unbeliebteste Element des Filmabends: ein Kultur- oder kurzer Industriefilm von 10–20 Minuten Länge. Dieser leitete wiederum zur Wochenschau (ca. 10 Min.) über: Abschluss und Höhepunkt des Filmabends bildete der Hauptfilm in einer Länge von einer bis eineinhalb Stunden. Schon bald ‚lernte‘ das Publikum aber auch, den Werbefilm als ersten HumorHöhepunkt des Kinoabends zu schätzen, wie ein Zitat aus Günter de Bruyns Roman Eine Jugend in Berlin zeigt:
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[…] die bisher nur starren Bilder wurden nun lebendig; Milchflaschen tanzten zu dem Text ‚Wir sind die Bolle-Kinder!‘ einen Ringelreihen und brachten das bisher gelangweilte Parkett zum Lachen. Man lachte auch noch in der kurzen Pause, die nun folgte, und machte während des gefürchteten Kulturfilms (…) zum Zeitvertreib die Bolle-Flaschenkinder nach.48
Innovationen – technisch und ästhetisch All dies zeigt: Das im Verhältnis zum Spielfilm ‚kleine Format‘ des Werbefilms musste und konnte sich einerseits gegen diesen inhaltlich behaupten, indem es eigenständig-knappe Erzählformate entwickelte. Andererseits eröffneten sich gerade dadurch Freiräume für technische Innovationen und kühne ästhetische Experimente, an die sich Hersteller*innen abendfüllender Spielfilm nie hätten wagen können, die aber mittelfristig auch auf die große Form übergreifen sollten. Julius Pinschewer hat diese nicht ausgeschöpften Potenziale der ‚kleinen Form‘ scharfsichtig erkannt und in den frühen 1920er Jahren seine Mannschaft um etliche qualifizierte Mitarbeiter*innen ergänzt, was seiner Firma wiederum erlaubte, ein großes Spektrum filmischer Realisationen auszuprobieren und anzubieten. Zu den Kameraleuten für die neuen technischen Herausforderungen wie Guido Seeber (1879–1940) und Fritz Kempe traten ‚kreative‘ Köpfe wie die Scherenschnittkünstlerin Lotte Reiniger (1891–1981), Puppentrickfilmerinnen wie Hedwig und Gerda Otto, Experimentalfilmer wie der von der abstrakten Malerei kommende Walter Ruttmann (1887–1941) und vor allem eine Reihe von Trickzeichnern wie Hermann Abeking (1882–1939), Harry Jaeger (1876–?), Lutz Michaelis, Paul Simmel, Rudi Klemm (1904–1955) und Hans Fischerkoesen (1896–1973). Mit diesen eigenständig arbeitenden und hochmotivierten Mitarbeiter*innen konnte er es wagen, die Erzeugnisse seiner Produktionsgesellschaft bald auch als „künstlerische Werbefilme“ anzupreisen.49 Wie sehr auf der Kundenseite auch einige seiner Auftraggeber diese Lust am Experiment teilten, zeigt das Beispiel des Reifenherstellers Excelsior. Obwohl die zwei nahezu zeitgleich produzierten Werbefilme (1921/22) sich beide der Tricktechnik bedienten, hätten sie – filmästhetisch gesehen – unterschiedlicher nicht ausfallen können. Der eine als Figuren-Animationsfilm unter dem Titel Am Nil vom Trickzeichner Harry Jaeger realisiert erzählt die Geschichte eines farbigen Mannes, der auf einem Fahrrad vor einem Krokodil flüchtet und sich auf eine Palme rettet. Bei diesem Unterfangen muss er sein Rad am Fuße der Palme zurücklassen. Das Kroko-
48 de Bruyn, Günter: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Stuttgart 1992. S. 51. 49 Goergen zählt noch andere Mitarbeiter*innen auf wie Toni Raboldt, Edith Seehafer, Wiese Zoozmann oder Leni Fischer. Siehe: Goergen, Julius Pinschewer. Künstler und Kaufmann (wie Anm. 24), S. 21.
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dil macht sich nun über das Rad her und versucht, den Reifen zu zerbeißen. Das misslingt, woraufhin das Tier den Reifen verschluckt. Das ist die Chance für den Mann, von der Palme herunter zu steigen und den Reifen, dessen Ventil noch aus dem Maul des Krokodils herausschaut, aufzupumpen. Das Krokodil wird kugelrund und platzt. Der Reifen der Marke Excelsior hat letztlich die Zähne des Krokodils ausgehalten und ist unbeschädigt geblieben. Der andere Zeichentrickfilm bediente sich ausschließlich geometrisch-abstrakter Formen und wurde von Walter Ruttmann geschaffen. Als erster sogenannter „absoluter“ – d. h. rein mit abstrakt-geometrischen Formen arbeitender – Werbefilm machte er unter dem Titel Der Sieger ebenfalls Reklame für die Reifenmarke Excelsior. Schon weil er der erste per Viragiertechnik realisierte Film in mehreren Farben war, verdient er es, ausführlicher beschrieben zu werden. Diese Technik war wohl schon vor dem Ersten Weltkrieg in Spielfilmen eingesetzt worden, doch konnte man damals nur mit monochromen, phasenweise wechselnden Farben arbeiten, um verschiedene Grundstimmungen der Handlung anzudeuten: blaue Viragierung bei Nachtsujets, rote bei Liebesszenen, braune bei Innenszenen und grüne bei Aufnahmen in der Natur.50 Zurück zum Film Der Sieger: Eingangs sehen wir eine Traum-Landschaft mit Palme. Die Sonne geht auf, dunkle Wolken schieben sich ins Bild, die Sonne wird rot, von blauen und später roten Blasen umspielt. Sie verwandelt sich zu einem Fächer, dann zu roten, immer größer werdenden Ringen, die schließlich einen weißen Reifen bilden, der die Aufschrift „Excelsior“ trägt. Nun schieben sich rote und dann blaue Berge und Täler ins Bild, über die der Reifen gleitet; plötzlich schießen aus der Landschaft blaue Säulen unterschiedlicher Höhe hervor. Sie formieren sich zu einer absteigenden Treppe, von welcher der Reifen stufenweise herabrollt, nicht ohne seine federnde Elastizität auf jeder Stufe unter Beweis zu stellen. Nun erscheint der Mond mit einem staunenden Gesicht. Von unten schiebt sich die Silhouette der Excelsior-Fabrik hervor, der Reifen rollt über deren Dach, an einem Schornstein hoch, auf der anderen Seite wieder herunter, tanzt auf einem anderen Rauchfang, was den Mond zum Lachen bringt. Der Reifen fliegt zum Mond, verdreht die Augen, strahlt und umschließt den Trabanten. Der Mond verschwindet aus dem Reifen-Inneren. Dieser ist jetzt allein im dunklen Raum. Augenblicklich erscheint ein grüner Kegel mit scharfer Spitze, wütendem Gesicht und drohendem Finger, er stößt auf den Reifen ein, einmal, zweimal, ohne Erfolg. Von unten taucht ein zweiter, kleinerer roter Spitzkegelwüterich auf und sticht ebenfalls erfolglos zu. Weitere abstrakte spitze rote, grüne und blaue Dreiecke versuchen vergeblich den Reifen durch Stiche zu beschädigen. Sie verschwinden, und der Reifen erstrahlt in einer Korona, während silbenweise der Schriftzug Excelsior über ihm erscheint.
50 Agde, Flimmernde Versprechen (wie Anm. 11), S. 12.
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Walter Ruttmanns Der Sieger blieb die Inspirationsquelle, die ihn selbst und einige andere Experimentalfilmer in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren zu weiteren Schöpfungen anregen sollten. Bis Mitte der 1930er Jahre haben Oskar Fischinger, Wolfgang Kaskeline und andere immer wieder an der Weiterentwicklung des „absoluten“ (Werbe-)Films gearbeitet und für Faber Castell oder Muratti-Zigaretten ähnliche Kompositionen geschaffen. Die Auflistung des Pinschewerschen Film-Produkt-Portefeuilles wäre freilich unvollständig ohne wenigstens die Erwähnung der Scherenschnittkreationen Lotte Reinigers und der per Legetrick animierten Puppenfilme Hedwig und Gerda Ottos. Obwohl die Kernkompetenz von Pinschewers Filmgesellschaft sicherlich im Zeichentrickfilm lag, bediente diese Anfang der 1920er Jahre das gesamte Spektrum aller nur denkbarer Animationsfilme – hochinnovativ und für einige Zeit nahezu konkurrenzlos. Das erreichte Niveau blieb auch der Fachwelt nicht verborgen. So schrieb der Werbefachmann Fritz Pauli 1926: In manchen Techniken sind wir hier den Amerikanern voraus. Es sei nur an die von Julius Pinschewer geschaffenen Filme erinnert, wie der faszinierende Simultanfilm ‚Kipho‘ (Werbung für Messe) oder die mehrfarbigen Filme ‚Das verlorene Paradies‘ (Verbandswerbung für Blumen), ‚Der Absturz‘ (Werbung für Gas), ‚Der Sieger‘ (Werbung für Pneumatiks). Diese Filme bringen im Gegensatz zu der derben amerikanischen Art immer einen feinen unaufdringlichen Humor, Belehrung und andauernde Spannung. Dazu das neuartige Moment der Formen- und Farbenwirkungen in deutlich erkennbaren Ansätzen zur rhythmischen Gestaltung. Ebenso sind die Momente der Bekanntmachung, Erinnerung, Überzeugung und Unterweisung werbegerecht berücksichtigt, so daß sowohl die Forderungen des Publikums als auch des Reklameverbrauchers erfüllt erscheinen. Hier werden jedenfalls zur deutschen Psyche eingehende eigene Wege gegangen, anstatt ausländische ‚Vorbilder‘ gedankenlos nachzuahmen.51
Der Werbefilmmarkt in den 1920er Jahren Aus heutiger Sicht mag der rasante Aufschwung des Werbefilms in den 1920er Jahren erstaunen; selbst 1923, in der Phase der Hoch- und Hyperinflation, wurden in Deutschland etwa 500 Reklamefilme produziert, sechs Jahre später waren es fast viermal so viele. Danach flachte die Kurve deutlich ab: 1934 waren es nur noch etwa 1 000, 1938 noch 115.52 Wie groß Spektrum und Bandbreite der Themen wirklich wa-
51 Pauli, Das Problem des Werbefilms (wie Anm. 45), S. 616–617. 52 Zahlen nach Pulch, Harald: Werbefilm im Wandel (wie Anm. 28), S. 371–382. Genauere Zahlen mitsamt Angaben der jährlich produzierten Filmmeter für die 1920er Jahre gibt Ingrid Westbrock: so wurden 1923 461 Filme hergestellt, 1924: 889; 1925: 1253; 1926: 1430; 1927: 1947; 1928: 2370; 1929: 2147. Siehe: Westbrock, Der Werbefilm (wie Anm. 9), S. 63.
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ren, lässt sich hingegen nur erahnen, da der größte Teil von ihnen verloren gegangen ist, und die umfangeiche Verlustliste des Bundesarchivs/Filmarchivs nur eine Idee vom reichen Werbefilmschaffen dieser Jahre vermitteln kann.53 Bis Mitte der 1920er Jahre beherrschte Pinschewer den Markt mit seinen relativ langen Filmen von drei bis fünf Minuten Länge. Ab 1926 machten ihm die Werbekunst Epoche Reklame-Gesellschaft in Frankfurt sowie die UFA zunehmend Konkurrenz mit sehr viel kürzeren Streifen von nur ein bis zwei Minuten Länge. Aus den Kinos der UFA, in denen er zuvor das alleinige Aufführungsrecht inne gehabt hatte, war er zunehmend hinausgedrängt worden. Hinzu kam, dass nun immer mehr Anbieter auf den Markt drängten: 1928 konkurrierten bereits 28 Filmproduktionsgesellschaften in Deutschland miteinander. Dennoch soll der Werbefilm, laut einem Vortrag von Julius Pinschewer 1929 mit einem Volumen von 10 Millionen Reichsmark in diesem Jahr gerade einmal 1 % der gesamten Reklameaufwendungen ausgemacht haben.54
Abb. 4: Bilder aus dem Werbefilm Auf der Skitour (D 1926)
53 Vgl. hierzu die Verlustliste der Trickfilme 1909–1944 des Bundesarchivs: http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/abteilungen/abtfa/lost_films_trickfilme.pdf (3.12.2018). 54 Vgl. Pulch, Werbefilm im Wandel (wie Anm. 28), S. 371–382.
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Abb. 5: Werbeanzeige der Firma Ufa, 1930
Abb. 6: Leuchtreklame für die Firma Kupferberg, 1920er Jahre
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Noch immer bedeutete der Entschluss, einen Werbefilm zu produzieren, für viele Firmen eine außergewöhnliche Maßnahme. Häufig hatten sie im Vorfeld auch gar keine konkreten Vorstellungen davon entwickelt, wie ein solcher Film beschaffen sein sollte; ob es sich beispielsweise um einen Werbefilm oder einen sogenannten Industriefilm handeln sollte. Zudem waren sich viele Unternehmer*innen ganz offensichtlich über die Zusammensetzung der anfallenden Kosten im Unklaren. Den Löwenanteil machten ja stets die Spielmieten in den Kinos aus, die sich zwischen 30 und 250 Mark (im Durchschnitt etwa 60 Mark) pro Spielwoche, je nach Größe und Rang des betreffenden Lichtspieltheaters bewegten. Um das Deutsche Reich ausreichend mit Kopien zu versorgen, „sind von den rund 2 000 existierenden Kinos 600–1 000 notwendig, also keineswegs geringe Aufwendung für die Vorführung allein, gegen die die Kosten für Filmherstellung und Kopien verschwinden.“55 Wie gering gegenüber diesen hohen, wöchentlich aufzuwendenden 60 000 Mark die reinen Produktionskosten anzusetzen waren, zeigt eine Aufstellung des Werbefachmanns Johannes Iversen (1867–1942), der für vier verschiedene Kategorien von Filmlängen die Durchschnittproduktionskosten folgendermaßen anführte: „30–35 m (= ca. 1- ½ Minuten) sw: 1900 RM, farbig: 2300 RM; 50–55 m sw: 2900 RM, farbig: 3500 RM; 70–75 m sw: 3900 RM, farbig: 4700 RM; 90–100 m sw: 4900 RM, farbig: 5900 RM“.56 Um einen Orientierungsrahmen im Hinblick auf die Kosten der rein printbasierten Reklame im Vergleich zur Kinowerbung zu geben, seien ein paar Zahlen aus der Fachliteratur angeführt. Für eine reichsweit durchgeführte Großkampagne eines eingeführten Markenartikels, die sowohl Inserate in Tageszeitungen, Fachblättern als auch Plakate, Emailschilder, Drucksachen, Sandwichmänner, Giebelreklame etc. umfasst, veranschlagte der Reklame-Anwalt Richard Kropeit 1908 ca. 300 000 Mark.57 Die reinen Einschaltkosten für Sachsen in drei überregionalen Zeitungen in einem Quartal mit insgesamt 285 Anzeigen beziffert der Werbefachmann Rudolf Seyffert 1914 mit 9 000 Mark.58 Dagegen fiel die Herstellung der Reklamemittel kaum ins Gewicht. Laut Gebührenordnung des Bundes deutscher Gebrauchsgrafiker waren gebrauchsgrafische Entwürfe noch 1928 für ein Taschengeld zu haben. So schlug die Gestaltung eines Signets mit 120 RM zu Buche, der Entwurf eines „Riesenplakats“ für die Giebelreklame mit gerade einmal 240 RM und die Gestaltung einer ganzseitigen Anzeige mit 150 RM.59 Doch viele Unternehmer*innen scheinen so fasziniert vom neuen Medium gewesen zu sein, dass sie sich allein von seiner Existenz geradezu Wunderwirkungen
55 Leo, Richard: Zur Technik der Filmwerbung. In: Seidels Reklame, 15. Jg., 1931, Nr. 12, S. 13–15. 56 Die Zahlen entstammen einer Aufstellung von Johannes Iversen. In: Iversen, Johannes: Deutscher Werbeunterricht. 13. Buch. Sonderkurs über den Werbefilm. Füssen o. J. (ca. 1934). S. 22 f. 57 Kropeit, Richard: Die Reklame-Schule. Berlin-Schöneberg 1908, 2 Bd., Bd. 1, Lektion 7: Das Reklame-Budget. S. 100f. 58 Seyffert, Rudolf: Die Reklame des Kaufmanns. Leipzig 1914. S. 150. 59 Schmiedchen, Johannes: Neues Handbuch der Reklame. Berlin-Lichterfelde 1929. S. 559–562.
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erhofften, darüber jedoch die Kalkulation der Einschaltkosten viel zu niedrig ansetzten und nicht bedachten, dass auch der spektakulärste Zeichentrickfilm nur dann echte Werbewirkung entfaltete, wenn er dem Publikum oft genug vorgeführt wurde. 1931 mahnte der Werbefachmann Richard Leo eindringlich davor, Werbefilme zu selten vorzuführen: So wenig der Inserent mit einer einmaligen Anzeige durchkommen wird, so wenig genügt ein einziger Reklamefilm. Er läuft vor dem Publikum des einzelnen Lichtspieltheaters ja nur einmal. Zum haftenden Eindruck sind also 3 bis 4, besser noch 5 bis 6 Filme in einer Saison erforderlich. Diese volle Durchführung hat bisher nur eine Firma mehrere Jahre hindurch angewendet (Kupferberg) und auch kontrolliert. Sie erheischt selbstverständlich entsprechend große Mittel. Jedenfalls sollte man auch in der Filmwerbung das Wort beherzigen: Entweder ganz – oder gar nicht. Halbheiten sind zwecklose Spielereien.60
Dass Christian Adalbert Kupferberg – im Übrigen einer der besten Pinschewer-Kunden – hier eine Alleinstellung einnahm, kam nicht von ungefähr. Schließlich hatte er mit „beweglicher Werbung“ auf dem Sektor spektakulärer Leuchtreklamen, bei denen sich durch nacheinander aufleuchtende Glühbirnen ein Sektglas am Potsdamer Platz im Minutentakt immer wieder zu füllen schien, reiche Erfahrungen gesammelt. Kupferberg war es auch, der sich als einer der ersten über Reichweite und Werbewirkung des Mediums Film im Verhältnis zum hohen Aufwand äußerte, schon weil er als Produzent einer Luxusware gezwungen war, vor allem in Zeiten rapide wegbrechender Massenkaufkraft soziale und sozialpsychologische Kund*innen-Studien zu betreiben: Es ist häufig das Bedenken geäußert worden, daß besonders elegante Darstellungen etwa in Bildanzeigen zum Klassenhaß reizen und überhaupt verfehlt seien, da sie dem Beschauer eine andere Umgebung zeigen, als die, in der er zu leben gewohnt ist. Dieser Auffassung kann ich mich nicht anschließen. Auch der ärmste Besucher eines Kinos sieht gern das prunkvolle Leben in Schlössern und herrschaftlichen Häusern.61
Wie sehr sich die Auftraggeber*innen zuweilen von den spektakulären Tricks der Werbefilmmacher blenden ließen, zeigt die Diskussion um den von Hans Fischerkoesen gestalteten Drei-Minuten-Film zur Bewerbung der Zigarettenmarke Muratti Ariston unter dem Titel Schall und Rauch. In diesem Streifen formen sich aus Rauchkringeln, die ein in einem Sessel sitzender gut situierter Herr ausstößt, nach und nach luftige Tänzerinnen, die sich schließlich unter Walzerklängen zu einem Ballett formieren. Von der technischen Perfektion dieser Rauchgebilde war offenbar nicht nur das Publikum überwältigt und gebannt, sondern ebenso der Auftraggeber.
60 Leo, Zur Technik der Filmwerbung (wie Anm. 55), S. 15. 61 Kupferberg, Christian Adelbert: Deutsche Werbeköpfe, Bd. 1: Christian Adalbert Kupferberg. Hrsg. von Max R. Lang. Berlin/Leipzig 1923, S. 55–64, hier S. 63.
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Bei erfahrenen Reklame-Sachverständigen stieß jedoch gerade dieser Film auf massive Kritik. Hermann Ullstein schrieb: „Ein Zug aus ihr hätte inspiriert, ihr köstliches Aroma sollte gepriesen werden. Stattdessen prägten sich nur Musik und Tanz ein, gruben nur sie sich ins Gedächtnis.“62 Und Johannes Iversen zog gar eine vernichtende Bilanz: Am werblich minderwertigsten war der künstlerisch hochwertigste Film, der zeigte, wie sich aus dem Rauch einer Zigarette Tänzerinnen entwickelten und in der Luft herumwirbelten. Hier waren wirklich die letzten Verbindungen zwischen Film und werblicher Absicht sorgfältig ausgetilgt, sodass der Film unter dem Gesichtspunkt der Werbewirkung betrachtet, als misslungen bezeichnet werden muss.63
Abb. 7: Schall und Rauch (D 1933)
Pinschewers Erbe – Versuch einer Bilanz Schon 1926 hatte Pinschewer seine marktbeherrschende Stellung endgültig verloren. Dies, obwohl seine Filme nach wie vor immer wieder besonders innovativ waren und großes Aufsehen erregten. So beispielsweise der 1925 mit Guido Seeber realisierte Sachtrickfilm für die Berliner Kino- und Fotoausstellung KIPHO mit mehrfachen Split-Screen Sequenzen. Doch einige seiner besten Mitarbeiter*innen wie Hans Fischerkoesen wandten sich Mitte der 1920er Jahre von ihm ab, begannen für die Konkurrenz zu arbeiten oder gründeten sogar eigene Produktionsgesellschaften. Pinschewers Versuche, verlorenes Terrain durch spektakuläre Neuerungen, wie etwa den ersten 1928 von Rudi Klemm (1904–1955) gezeichneten Werbetonfilm Die chinesische Nachtigall (nach einer Vorlage von Hans Christian Andersen), wenigstens teilweise wieder zu gewinnen, schlugen letztendlich fehl. Und als sich nach dem Krisenjahr 1931 abzeichnete, dass die nationalsozialistischen Kräfte in Deutschland immer mehr an Zulauf erhielten, beschloss Julius Pinschewer als Mitglied der
62 Ullstein, Hermann: Wirb und werde. Ein Lehrbuch der Reklame. Bern 1935. S. 62. 63 Iversen, Deutscher Werbeunterricht (wie Anm. 56), S. 9.
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jüdischen Glaubensgemeinschaft, Deutschland zu verlassen. Schon 1933 übersiedelte er mit seiner Familie in die Schweiz.
Abb. 8: Aral-Werbefilm Das Rezept (D 1957)
Verfolgt man die Entwicklung des gezeichneten Werbetrickfilms in die 1930er Jahre und bis in die Nachkriegszeit weiter, so wird deutlich, dass viele der später als selbstverständlich wahrgenommen technischen Tricks und dramaturgischen Kniffe auf Julius Pinschewer zurückgehen. Er war es, der mithilfe kreativer Mitarbeiter*innen den deutschen Werbefilm zum Experimental-Labor für technische und ästhetische Innovationen gemacht hatte. So schreibt Dirk Alt: „Der Werbefilm, seinem Prinzip nach bei kürzester Lauflänge auf den maximalen Effekt hin ausgelegt, bot dem frühen Farbfilm ein dankbares Experimentierfeld, dessen Resultate auf den bis in die erste Kriegshälfte hinein abgehaltenen Werbefilm-Matineen der Ufa zu den Höhepunkten gehörten.“64 Vor allem sollten seine Ideenvisualisierungen per Zeichentrick Schule machen und insbesondere von Hans Fischerkoesen nach dem Zweiten Weltkrieg perfektioniert werden. Dazu zählen – die Animation von Gegenständen (wie etwa sprechende oder tanzende Gegenstände, vom Manschettenknopf über Zigaretten, Strümpfe, Schuhe bis hin zu Packungen und Möbeln wie in vielen Werbefilmen Hans Fischerkoesens für Erdal, Persil und viele andere Markenartikel);
64 Alt, Dirk: „Der Farbfilm marschiert!“ Frühe Farbverfilmverfahren und NS-Propaganda 1933– 1945. München o. J. (ca. 2012). S. 189.
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die wundersame Verwandlung (etwa im Werbefilm Der Hausball für Henkels Perwachs von 1927, in welchem aus einem Schwan – als dem Markensignet – eine putzende Dose wird); die Versinnbildlichung unsichtbarer Wirkungen (etwa in Form eines Bakterienvernichtenden überdimensionalen heldenhaften Tropfens wie in einem Werbefilm Hans Fischerkoesens für Milch von 1955); die animierte Statistik (etwa im Werbefilm Auf der Skitour (1926) für StollwerckSchokolade von Hans Fischerkoesens, in welchem einzelne Nahrungsmittel wie Milch, Kartoffeln und Brot in einen Nährwert-Wettstreit treten); der „Röntgenblick“ in das Innenleben von Menschen und Gegenständen (etwa im Werbefilm Hans Fischerkoesens für Deutsche Markenbutter von 1955, bei dem Kau- und Verdauungsapparat eines essenden Mannes gezeigt werden); die Vermenschlichung technischer Funktionsabläufe (etwa der Kolben in einem 4-Zylinder-Motor, denen ein bestimmtes Benzin „nicht schmeckt“ wie in einem Werbefilm Hans Fischerkoesens für Aral von 1954).
Diese Lust an der „Auflösung der konventionellen Realität“ (Siegfried Kracauer) als Kernqualität des werbenden Zeichentrickfilms hat bis heute nichts von ihrer Faszination verloren und wird als probates Verfahren noch vielfach eingesetzt. Ohne den per Zeichentricktechnik animierten „Röntgenblick“ in Teile des menschlichen Körpers wie Lunge, Zähne, Magen, Haut, Haarwurzeln, Gelenke etc. kommt selbst heute noch kaum ein Werbespot für ein medizinisch-pharmazeutisches Produkt aus, heiße es nun Mucosolvan, Vitasprint, Dulcolax oder wie auch immer.
Literatur Agde, Günter: Flimmernde Versprechen, Geschichte des deutschen Werbefilms im Kino seit 1897. Berlin 1998. Alt, Dirk: „Der Farbfilm marschiert!“ Frühe Farbverfilmverfahren und NS-Propaganda 1933–1945. München o. J. (ca. 2012). Altenloh, Emilie: Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher. Hrsg. von Andrea Haller, Manfred Loiperdinger, Heide Schlüpmann, Frankfurt a. M. 2012 (zuerst 1913). Amsler, André: „Wer dem Werbefilm verfällt, ist verloren für die Welt“. Das Werk von Julius Pinschewer (1883–1961). Zürich 1997. Barnum, Phineas Taylor: König Humbug. Sein Leben, von ihm selbst erzählt. Berlin 2001. Brandmeyer, Klaus: Die Götterboten. In: Werbefiguren. Geschöpfe der Warenwelt. Hrsg. von Joachim Kellner u. Werner Lippert. Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1992. S. 23–31. Bundesarchiv / Filmarchiv (Hrsg.): Alles Trick. Deutsche Animationsfilme bis 1945. Retrospektive des Bundesarchiv-Filmarchivs während des 41. Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm. Berlin 1998. Cowan, Michael: Advertising, Rhythm und the Filmic Avant-Garde in Weimar, Guido Seeber and Julius Pinschewer’s Kipho Film. In: October, 131, Winter 2010, S. 23–50.
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Anne Schmidt
Angsterzeugung oder Glücksversprechen. Über reklametaugliche Gefühle im Kino 2000 bis 3000 Konsumentinnen und Konsumenten. Alle sitzen entspannt in bequemen Polstersesseln in einem dunklen Filmtheater. Körper und Blicke sind auf die hell erleuchtete Leinwand ausgerichtet. Nichts lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums von den bewegten Bildern ab, die auf der Leinwand zu sehen sind. Kein störender Straßenlärm, keine vorbeihetzenden Passant*innen. Ein Orchester begleitet live die Vorführung der Werbefilme und sorgt dafür, dass alle Gespräche verstummen, die lästigen Geräusche des Vorführgeräts übertönt werden und sich die Filme „stimmungsmäßig“ voll entfalten können.1 So beschrieben Werbefachleute in den 1920er Jahre die ideale Rezeptionssituation im Lichtspielhaus. Sie gingen jedoch selbst ins Kino, unter anderem um die Wirkungsweise ihrer Werbefilme und die der Konkurrenz zu überwachen, und wussten, dass die Realität oft anders aussah. Nicht selten kamen Besucherinnen und Besucher erst mitten im Vorprogramm in den Kinosaal, weil sie keine Reklame sehen wollten und verbreiteten Unruhe. Damit sie leichter ihre Plätze finden konnten, zeigten die Kinobetreiber2 die Werbefilme bestenfalls im Halbdunkeln und aus Kostengründen ließen sie das Orchester in der Regel nur den Hauptfilm live begleiten. Oft genug gefiel ein Werbefilm dem Publikum nicht, dann machte es seinem Ärger Luft: Zuschauer*innen schimpften oder machten sich lauthals über die Filme lustig, andere ließen sich anstecken, stimmten mit ein, so dass eine Stimmung im Saal entstand, die für die Rezeption von Werbefilme ungünstig war.3 Im Kino, das reflektierte man in der Werbebranche früh, konnten verschiedene Emotionen entstehen und längst nicht alle waren erwünscht. Welche Gefühle, Affekte, Stimmungen oder Atmosphären jeweils konkret entstanden, hing von einer Vielzahl von Faktoren und von nicht völlig kontrollierbaren Dynamiken ab.
1 Vgl. etwa Irle, Friedrich: Werbefilm und Erfolg. In: Die Reklame 20 (1927). S. 415–417. Zur musikalischen Begleitung: Kuperberg, Christian Adt.: Der Werbefilm vom Standpunkt des Verbrauchers. In: Die Reklame 20 (1927). S. 412–415. 2 Ich habe mich in diesem Aufsatz um eine geschlechterneutrale Sprache bemüht. Differenzierungen habe ich nicht vorgenommen, wenn Vertreter eines Geschlechts (das waren in der Regel Frauen) in einer Gruppe extrem unterrepräsentiert waren. Würde man in solchen Fällen geschlechterneutrale Formulierungen verwenden, so meine ich, würden strukturelle Benachteiligungen, soziale Hierarchisierungen und Ungleichheit sprachlich verdeckt werden. 3 Kuperberg, Werbefilm (wie Anm. 1). S. 415; Meyer-My: Werbefilm und Publikum. In: Die Reklame 23 (1930). S. 559–560; Iversen, Johannes: Deutscher Werbe-Unterricht. Dreizehntes Buch: Sonderkurs über den Werbefilm. Füssen o. J. S. 4 f. https://doi.org/10.1515/9783110661965-002
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Doch das Problem, das emotionale Ereignisse nicht gänzlich steuerbar sind, war nicht das einzige, das die Experten und die wenigen Expertinnen beschäftigte. Bereits die Frage, ob und wenn ja, welche Gefühle im Kino durch Werbefilme generiert werden sollten, wurde kontrovers diskutiert. Sollten die Filme möglichst sachlich informieren und den Verbraucher*innen nüchtern den Nutzen eines Produkts vor Augen führen? Dann, so fürchteten viele Experten, könnten Werbefilme längerfristig langweilig werden, und Langeweile hielten die meisten für ein unproduktives Gefühl.4 Sollte man versuchen, die Zuschauer*innen zu bezaubern? Sollten die Filme ästhetisches Vergnügen bereiten? Einflussreiche Werber sprachen sich dagegen aus. Welchen werblichen Nutzen, fragte etwa Johannes Iversen, hatten „künstlerisch hochwertige Filme“, die mit ihrem „Farbenspiel“ oder dem „prächtigen Rhythmus“ so „entzückten“, dass das Publikum sich gar nicht dafür interessierte, wofür die Filme eigentlich warben und beim Verlassen des Kinos schon nicht mehr angeben konnte, „auf welche Zigarettenmarke sich die Werbung bezog“?5 Solche Reflexionen machen nicht nur deutlich, dass ästhetisch herausragende Werbefilme, die in historiografischen Analysen oft im Fokus stehen, nicht ohne weiteres Aussagen über allgemeine Trends in der (Film-)Werbung erlauben. Sie werfen zugleich die Frage auf, welche Gefühle die Werbefilme generieren sollten, wenn das Evozieren starker ästhetischer Empfindungen in der Zwischenkriegszeit zunehmend als ineffektiv galt. Welche Gefühle betrachteten die Experten als nützlich? Mit welchen filmischen Verfahren versuchten sie, diese zu erzeugen? Und blieb dabei immer alles beim Alten? Diesen Fragen geht der vorliegende Aufsatz nach. Er zeigt am Beispiel einiger deutscher Werbefilme, wie sich Techniken der emotionalen „Menschenführung“ in der Zwischenkriegszeit wandelten. Im Mittelpunkt steht die sukzessive Ablösung von Techniken der Angsterzeugung durch Verfahren, die Optimismus und Zuversicht evozieren sollten. Der Aufsatz fragt nach dem sich verändernden Gefühlswissen, das die Entwicklungen motivierte und in die Werbemedien einging. Indem der Aufsatz diesen Fragen nachgeht, schließt er an Diskussionen über die Gefühlskultur der Weimarer Republik und die Frage an, ob „Pessimismus“ in dieser Zeit tatsächlich zu einem Grundgefühl der historischen Akteur*innen avancierte. Der Aufsatz argumentiert, dass zu Beginn der 1930er Jahre zumindest in der Werbung Heiterkeit, Optimismus und Glücksversprechen dominierten und viele Werbefachleute versuchten, Emotionalisierungstechniken zu entwickeln, die angenehme Stimmungen
4 Meyer-My, Werbefilm (wie Anm. 2). S. 559. Zur Geschichte der Langeweile: Kessel, Martina: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2001. 5 Iversen, Werbefilm (wie Anm.2). S. 8 f., der hier die legendären Muratti-Werbefilme von Hans Fischerkoesen kritisiert.
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und ein positives Lebensgefühl generieren sollten.6 Der Wandel der emotionalen „Menschenführung“ in der Werbung wird exemplarisch anhand von drei Reklamefilmen der Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft (kurz Kaffee HAG) genauer beschrieben. Zwei Überlegungen bestimmen die Auswahl: Zum einen ist die Unternehmensüberlieferung vergleichsweise gut. Die Filme lassen sich relativ sicher datieren; es finden sich Hinweise zur Verbreitung und zu den Überlegungen der Werbetreibenden im Unternehmen. Zum anderen war die Kaffee HAG nicht irgendein Unternehmen. Sie war in der Zwischenkriegszeit ein Trendsetter in Sachen Werbung. Mitarbeiter der Werbeabteilung der Kaffee HAG waren Meinungsführer, sie waren gefragte Redner auf Reklamekongressen, sie lehrten an Hochschulen und publizierten in einschlägigen Fachzeitschriften. Diese waren wiederum daran interessiert, Standards durchzusetzen und rezensierten zu diesem Zweck regelmäßig Werbemedien des Unternehmens, in der Regel um ihren Lesern und Leserinnen aus der Branche zu zeigen, wie man es ‚richtig‘ macht. Der vorliegende Aufsatz besteht aus fünf Abschnitten: Im ersten stelle ich kurz Überlegungen der Emotionsgeschichte vor und skizziere einen Weg, wie sich diese für die Analyse des Zusammenhangs von Gefühlen und (Werbe-)Film nutzen lassen. Die drei anschließenden Abschnitte nehmen jeweils einen zwischen 1924 und Mitte der 1930er Jahre produzierten Werbefilm der Kaffee HAG in den Blick.7 Der fünfte und letzte Abschnitt fasst die Ergebnisse knapp zusammen und formuliert Überlegungen, in welcher Weise die stärkere Einbeziehung emotionsgeschichtlicher Perspektiven für die Werbegeschichte weiterführend sein kann.
I. Perspektiven der Emotionsgeschichte Emotionshistorikerinnen und Emotionshistoriker, so unterschiedlich ihre Ansätze im Einzelnen auch sein mögen, gehen davon aus, dass nicht nur das Handeln und das Denken, nicht nur die Vorstellungen und die Mentalitäten historischer Akteur*innen kulturell variabel sind, sondern auch ihre Gefühle und Wahrnehmungsweisen. Sie haben gezeigt, dass soziale Normen einen Einfluss darauf haben, wie Menschen ihre Gefühle äußern und dass sich Gefühlsnormen im Verlauf der Zeit
6 Zur Gefühlskultur und den Zukunftsdiskursen in der Weimarer Republik vgl. Graf, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignung in Deutschland 1918–1933. München 2008. 7 Zur Groß- und Kleinschreibung: Mit Kaffee HAG ist die Kaffee Handels-Aktiengesellschaft gemeint, mit Kaffee Hag der entkoffeinierte Kaffee.
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verändern können.8 Sie haben dargelegt, dass soziale Gruppen wie etwa Religionsgemeinschaften nicht nur Werte, Zielvorstellungen und Ähnliches teilen, sondern auch eine emotionale Kultur, durch die sie sich von anderen unterscheiden.9 Sie haben untersucht, wie in Sozialisationsprozessen menschlichen Körpern emotionale Skripte eingeschrieben werden und wie diese Programme die Gefühle der Individuen organisieren.10 Aufbauend auf diesen theoretischen wie empirischen Grundlagen, Überlegungen aus der Wissenschaftsgeschichte oder Wissenssoziologie aufgreifend, interessieren sich neuere Untersuchungen zur Geschichte der Gefühle auch für die performativen Effekte populärer wie wissenschaftlicher Emotionstheorien. Beeinflusst durch den Material Turn in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften fragen solche Studien zunehmend danach, wie sich das verändernde Gefühlswissen in Artefakten oder technischen Arrangements materialisierte oder untersuchen, in welcher Weise Dinge mit den ihnen eingeschriebenen emotionalen Programmen Subjekte zu einem spezifischen emotionalen Erleben anhielten.11 Anstatt universalistische Emotionstheorien, etwa aus der angewandten Psychologie oder der Psychoanalyse, heranzuziehen, um die Erzeugung und Lenkung von Zuschauergefühlen im Kino per se zu erklären,12 fragen emotionshistorisch informierte Filmanalysen danach, wie sich Filme verändern, wenn zum Beispiel für Drehbuchautor*innen und Regisseur*innen psychoanalytische gegenüber psychotechnischen Emotionskonzepten an Bedeutung gewinnen. Oder sie interessieren sich dafür, inwieweit Filme, in denen sich psychoanalytische Theorien einnisten, den Kinozuschauer*innen ein spezifisches, den Theorien gemäßes emotionales Erleben ermöglichen. Das Anliegen ist somit nicht, mit Hilfe von mehr oder weniger universalistischen Theorien „regelhafte Verbindungen zwischen Filmstrukturen und Zuschauergefühlen“ aufzuspüren.13 Vielmehr steht die Frage nach den wirklich-
8 Einführend zu den Grundlagen der Erforschung von Gefühlsnormen: Stearns, Peter N. u. Carol Z. Stearns: Emotionology. Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards. In: The American Historical Review 90 (1985). S. 813–830. 9 Zum Konzept der emotional communities: Rosenwein, Barbara H.: Worrying about Emotions in History. In: The American Historical Review 107 (2002). S. 821–845. 10 Reddy, William M.: Against Constructionism. The Historical Ethnography of Emotions. In: Current Anthropology 38 (1997). S. 327–340; Reddy, William M.: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions. Cambridge 2001; Scheer, Monique: Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion. In: History and Theory 51 (2012). S. 193–220. 11 Cochoy, Franck: On the Marketization of Curiosity. The Shop Window As a „Captation“ Device. In: Bodies and Affects in Market Societies. Hrsg. von Anne Schmidt u. Christoph Conrad. Tübingen 2016. S. 145–165. 12 So etwa Eder, Jens: Die Wege der Gefühle. Ein integratives Modell der Anteilnahme an Filmfiguren. In: Kinogefühle. Emotionalität und Film. Hrsg. von Matthias Brütsch, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz, Alexandra Schneider u. Margrit Tröhler. Marburg 2009. S. 225–242. 13 Eder, Wege (wie Anm. 12). S. 225.
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keitserzeugenden Effekten der Theorien in spezifischen historischen Kontexten im Zentrum. Oder anders gefragt: Wie legen Werbefilme und die ihnen eingeschriebenen Emotionskonzepte spezifische affektive Erlebnisse nahe? In welcher Weise halten sie die Subjekte an, auf bestimmte Weise zu fühlen? Vermitteln sie spezifische, den zeitgenössischen Theorien entsprechende emotionale Praktiken, emotionale Stile und Normen? Mit diesen methodologischen Vorbemerkungen möchte ich es an dieser Stelle bewenden lassen und mich konkret dem Wandel der Emotionalisierungsstrategien im Werbefilm in der Zwischenkriegszeit zuwenden.
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II. Der Retter in der Not (1924)
1924 gab die Kaffee HAG bei der Werbe-Kunst-Film AG ihren ersten Werbefilm in Auftrag. Das 1906 in Bremen gegründete Unternehmen, das weltweit den ersten entkoffeinierten Kaffee auf den Markt brachte, war im Ersten Weltkrieg in eine schwere wirtschaftliche Krise geraten. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre bemühte es sich darum, seine Umsätze wieder zu steigern. Es versprach sich in diesem Zusammenhang viel von der Reklame, nutzte und entwickelte moderne Werbestrategien und setzte erstmals auch den Werbefilm ein. Bei dem 1924 produzierten Film handelt es sich um einen dreiminütigen Zeichentrickfilm, der mit dem Titel Der Retter in der Not im selben Jahr in den großen Lichtspielhäusern gezeigt wurde. Nachdem er 1925 in diesen nicht mehr zu sehen war, wurde er bis Ende 1926 noch in kleineren Kinos präsentiert. Die Verkaufs- und Werbeabteilung der Kaffee HAG, die die Produktion des Films überwachte, gab auch die Inhalte vor: Der Werbefilm sollte die Schädlichkeit des koffeinhaltigen Bohnenkaffees demonstrieren: „Das kann dem Publikum nicht häufig genug vor Augen geführt werden.“ Anschließend wollte man den Zuschauern zeigen, dass der entkoffeinierte Bohnenkaffee für die Gesundheit völlig unbedenklich war und nicht schlechter schmeckte als der koffeinhaltige Kaffee.15 Wie wurden diese Vorgaben nun filmisch umgesetzt? Was bekamen die Zuschauer*innen im Kino zu sehen? Zunächst kündigte, wie damals üblich, ein Titelbild den Werbefilm an. Dann schaute das Publikum auf eine weiße Kinoleinwand, auf der sich aus immer neuen Strichen, Bögen und Klecksen Schritt für Schritt ein Bild zusammensetzte, ein im frühen Werbefilm häufig variiertes Stilmittel, das Aufmerksamkeit generieren sollte.
14 Der Retter in der Not (Werbe-Kunst-Film AG, Berlin, 1924), Historisches Filmarchiv Inge I. u. Heinz H. Buschko, Filderstadt. Für hilfreiche Anmerkungen zu den Werbefilmen der Kaffee HAG danke ich Ursula von Keitz. 15 Ri/Fl., Winter-Programm 1925/26, 15.12.1925, Company Archive Kraft Foods Deutschland, 0094 2651. S. 1–23, hier: S. 18.
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Der Retter in der Not wurde im Kino in der Negativfassung vorgeführt, auch das sollte der Fokussierung von Aufmerksamkeit dienen.16 Das fertige Bild zeigt eine an einem Tisch sitzende, heiter wirkende männliche Figur in Nahaufnahme. Mimik und Gestik legen den Schluss nahe, dass sie auf eine Inspiration wartet. Die Bilder, die das zum Ausdruck bringen, aktualisieren etablierte Darstellungscodes aus der bildenden Kunst: Die Figur hält versonnen lächelnd einen Stift an den Mund, ihr Blick ist nach oben gewandt, als warte sie auf eine Eingebung. Offenbar empfängt sie diese auch, denn plötzlich beginnt sie – weiterhin lächelnd – zu schreiben. Vor ihr auf dem Tisch befinden sich ein Tintenfass, ein Blatt Papier, eine riesige Tasse und eine vermenschlichte Kaffeekanne, die halb so groß wie die menschliche Figur ist. Die Kanne rollt mit den Augen und ihre Mundwinkel hängen herunter, wodurch sie einen grimmigen Eindruck vermittelt. Durch die Verlebendigung von Gegenständen, die in der Frühzeit des Animationsfilms die Zuschauer*innen enorm verblüffte, erscheinen Dinge und Menschen gleichermaßen als handelnde Akteure.17 Die nächste Sequenz wird mit einem eingeblendeten Zwischentitel eingeleitet. Er ist, wie alle Zwischentitel des Films, in Versform gehalten. Das war weit verbreitet. Die Produzenten nahmen an, dass die Texte, die als Interpretationshilfe dienten und die zentralen Werbebotschaften zusammenfassten, in dieser Form eingängiger waren und besser im Gedächtnis haften blieben. Der erste Zwischentitel stellt den Protagnisten des Films vor: Die Zuschauer*innen erfahren, dass sie es hier mit einem Dichter namens Schnabel zu tun haben, der gerne Kaffee trinkt. Die anschließende Filmsequenz demonstriert die Vorliebe des Dichters: Sie zeigt ihn vom Kopf bis zu den Knien im Profil, er steht der Kaffeekanne gegenüber und trinkt aus der Riesentasse. Sobald er die Tasse gelehrt hat, schenkt ihm die nun schmallippig lächelnde Kanne ohne fremde Hilfe die Tasse schnell wieder voll. Der nach wie vor vergnügt lächelnde Dichter trinkt die Tasse genussvoll viermal hintereinander aus. Verschiedene filmische Verfahren dienen dazu, eine emotionale Nähe zur Figur des Dichters aufzubauen: Zunächst wird den Zuschauer*innen bei der Einführung der Figur, die an Gestalten Wilhelm Buschs erinnert, genügend Zeit dafür gelassen. Dann laden Darstellung und Einbettung der Figur zur Identifikation ein. Die Alltagssituation in der sich der Dichter befindet und sein Behagen beim Kaffeekonsum, das sich dem Publikum durch seine Pausbäckchen, sein Lachen, die starken Schmatz-Bewegungen seines Mundes und die Hand, die sich auf den Bauch legt,
16 Zur Geschichte und zum Wandel von Aufmerksamkeitskonzepten: Hagner, Manfred: Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand. In: Aufmerksamkeit. Liechtensteiner Exkurse III. Hrsg. von Norbert Haas, Rainer Nägele u. Hans-Jörg Rheinberger. Eggingen 1998. S. 273–294. Hagner beschreibt wie im 19. Jahrhundert Aufmerksamkeit zunehmend problematisiert und als anfällig für Ablenkung und Zerstreuung begriffen wurde. Ein Problem, das auch die Werbefachleute beschäftigte und für das sie immer neue Lösungen suchten. 17 Zu den Zuschauerreaktionen: Schoemann, Annika: Der deutsche Animationsfilm. Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1909–2001. Sankt Augustin 2003. insb. S. 70–72.
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vermittelt, lassen ihn vertraut und sympathisch wirken.18 Dem freundlich erscheinenden Dichter wird die beseelte namenlose Kaffeekanne gegenübergestellt, die ihm, ihr grimmiges Aussehen legt dies nahe, nicht wohlgesonnen ist. Die anschließenden Sequenzen unterscheiden sich deutlich von den überwiegend heiteren Eingangssequenzen: Die Zuschauer*innen beobachten, wie der Dichter, der sich nun in der Nähe eines Bettes befindet, von Schwindel erfasst wird (er kann nicht stehen, sondern muss sich am Bett abstützen und sich niedersetzen). Sein Kopf beginnt zu schmerzen (er senkt den Kopf und legt ihn in beide Hände), er wird von nervösen Unruhezuständen erfasst (er setzt sich rasch auf und nieder, seine Beine fangen an hektisch zu zappeln) und sein Herz beginnt zu rasen (er legt seine Hand auf die linke Brust, die sich rasch und stark hebt und senkt). Schildert diese Sequenz die durch den übermäßigen Konsum von Koffein ausgelösten körperlichen Leiden Schnabels, visualisiert die folgende und zugleich längste Sequenz qualvolle innere Seelenzustände des Dichters und seine subjektiven Wahnvorstellungen.19 Der Film geht jetzt in die konsequent geführte Groteske: Aus dem immer heftiger schlagenden Herzen, jetzt als graphisches Herzsymbol repräsentiert, wächst ein sich drehender Propeller, der den im Bett liegenden Dichter samt diesem rasch über die schwarze Leinwand kreisen lässt (Abbildung 1).
Abb. 1: Der Retter in der Not (D 1924)
18 Zum Gebrauch dieses dramaturgischen Mittels im Gesundheitsfilm vgl. Laukötter, Anja: Vom Ekel zur Empathie. Strategien der Wissensvermittlung im Sexualaufklärungsfilm des 20. Jahrhunderts. In: Erkenne Dich selbst! Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Sybilla Nikolow. Köln 2015. S. 305–319, hier: S. 309. 19 Der Trickfilm war ein beliebtes Mittel, um Prozesse zu visualisieren, die dem bloßen Auge verborgen waren; er diente häufig dazu, physiologische und psychologische Prozesse zu veranschaulichen und die Macher von Retter in der Not nutzen die Möglichkeit ausgiebig. Laukötter, Anja: Wissen als Animation. Zur Transformation der Anschaulichkeit im Gesundheitsaufklärungsfilm. In: montage AV 22 (2013). S. 79–96.
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Schließlich kommt das Bett wieder zum Stillstand, doch damit nimmt der Alptraum noch kein Ende: Ein Dämon, der an eine Kaffeebohne erinnert, erwächst im Hintergrund. Der Dichter, dessen Haare sich beim Anblick des Dämons in Nägel verwandeln, springt aus dem Bett und versucht vor der Gestalt, die ihre krallenartigen Hände nach ihm ausstreckt, zu fliehen. Es beginnt eine temporeiche Verfolgungsjagd. Die Negativfassung des Films erzeugt den Eindruck als finde die Szene nachts statt. Unerbittlich hetzt der Dämon den Dichter – die Figuren befinden sich jetzt im Freien – an einfach gezeichneten Bäumen, Feldern und Häusern vorbei. Schließlich gelingt es dem Dämon den Dichter in seine Gewalt zu bringen; er schlägt seinem nun vor ihm sitzenden wehrlosen Opfer mit einem gewaltigen Hammer die Nägel in den Kopf. Diese springen immer wieder hervor und werden erneut eingeschlagen. Solche ausführlichen Darstellungen von gewalttätigen Handlungen und Grausamkeiten waren typisch für den frühen Werbetrickfilm.20 Auf dem Höhepunkt seines Leidens wird das Gesicht des Dichters in Großaufnahme gezeigt. Die Annahme, dass sich innere Gefühle in Gesten und vor allem in der Mimik ausdrücken, dass sie sich auf diese Weise anderen mitteilen und nachempfunden werden, gehörte (und gehört) im Westen zum emotionalen Standardwissen und dürfte die Filmproduzenten zu diesem Schritt motiviert haben. Für die Visualisierung der Qualen adaptierte man einmal mehr Konventionen aus der Malerei, die sich seit der Renaissance herausgebildet hatten und hier ins Medium Trickfilm übertragen wurden: Weit aufgerissene Augen und ein weit geöffneter Mund repräsentieren Angst und Schrecken; zusammengekniffene Augen und ein aufgerissener Mund sind Zeichen extremer körperlicher Schmerzen.21 Doch auch andere kulturelle Bezüge sind erkennbar: Die beschriebene Sequenz lehnt sich deutlich an das frühe Angst-Kino der Weimarer Republik an. Das Aussehen des Dämons, sein Erscheinen am Bett des Dichters sowie die Gesten und Mimik des Grauens, die der Dichter zeigt, zitieren den Spielfilm Nosferatu – Eine Symphonie des Schreckens, der im März 1922 in die deutschen Kinos gekommen war.22 Wie im Spielfilm überlebt der Protagonist auch im Werbetrickfilm die Angriffe des Dämons. Allerdings ist für seine Rettung nicht das Opfer einer „Frau reinen Her-
20 Vgl. etwa den von Harry Jaeger gedrehten Werbefilm Der Zahnteufel (Pinschewer, Berlin, 1915). Online zugänglich unter: https://www.youtube.com/watch?v=OYgusDBidl4 (18.12.2018). 21 Kirchner, Thomas: „… le chef d’oevre d’un muet…“ – der Blick der bildenden Künste auf die Affekte. In: Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in der Nahsicht. Hrsg. von Klaus Herding u. Antje Krause-Wahl. Taunusstein 2007. S. 189–210; Kirchner, Thomas, L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. Mainz 1991; Montagu, Jennifer: The Expression of the Passions. The Origin and Influence of Charles Le Brun’s Conférence sur l’expression générale et particulière. New Haven 1994. 22 In diesem Zusammenhang nach wie vor instruktiv: Keitz, Ursula von: Adaption und Funktionalisierung von Spielfilmcodes im neueren Werbefilm. In: Spiel 11 (1992). S. 165–189.
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zens“ notwendig. Ein vermenschlichtes und freundlich lächelndes Paket Kaffee Hag eilt dem Dichter zu Hilfe und zersprengt mit einer aus einem Mörser abgefeuerten Kugel den Dämon. Mit dessen Vernichtung gewinnt der Dichter augenblicklich sein Lächeln zurück und die Nägel verwandeln sich wieder in Haare. Seit diesem Tag, so leitet der nächste Zwischentitel die letzte Sequenz ein, würde der Dichter Schnabel nur noch Kaffee Hag trinken. Das Publikum sieht den Dichter jetzt noch einmal bei der Arbeit am Schreibtisch. Vor ihm steht eine sympathisch lächelnde Kaffeekanne, die, im Gegensatz zur namenlosen Kanne, die Aufschrift Kaffee Hag trägt. In seinen Armen hält der Dichter ein Paket Kaffee Hag, an das er lächelnd seine Wange schmiegt. Dann beginnt er zu schreiben. Mit Hilfe des Produkts, dem eigentlichen Helden der Geschichte, hat er, so die Botschaft, seine Schaffenskraft und Leistungsfähigkeit wiedergefunden. Die harmonisch-heitere Szene wird durch nichts mehr getrübt. Mit der Einblendung eines Abschlussbildes, das noch einmal eine Kaffee Hag Verpackung in einer Großaufnahme zeigt, endet der Werbetrickfilm. Der Film, der heute auf Avantgardefilmfestivals gezeigt wird, war handwerklich ordentlich gemacht, eingängig erzählt, langweilte wohl auch nicht, sondern dürfte mit seinen Tricks und seinem dramaturgischen Spannungsbogen die Zuschauer*innen „unterhalten“ haben. Vielleicht hatte sich die Reklameabteilung der Kaffee HAG von seiner Wirkung mehr erhofft. Man bewertete sie als „gut“; das klang nicht euphorisch, aber auch nicht wirklich enttäuscht.23 Hätte man den Film Ende der 1920er Jahre noch in den Lichtspielhäusern gezeigt, wäre er von der Fachwelt vermutlich kritisiert worden. Was genau hätte sie an ihm auszusetzen gehabt? Möglicherweise hätten die Rezensenten auf kleine logische Unstimmigkeiten hingewiesen. Vielleicht hätten sie einige handwerkliche Mängel kritisiert, wie etwa allzu abrupte Bewegungen. Sicherlich hätten die Experten aber beanstandet, dass der Film die Zuschauer*innen auf problematische Weise affizierte, weil er Angst schürte. Angst aber, diese Ansicht setzte sich unter Werbern in der Zwischenkriegszeit mehr und mehr durch, war ein Gefühl, das nicht durch Reklame ausgelöst werden sollte. Diese Überlegung war im Grunde nicht neu. Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beanstandeten Reklamekritiker, dass Firmen und Händler gezielt Angst schürten, um Produkte oder Dienstleistungen besser verkaufen zu können.24 Doch die Begründungen, warum ein solches Vorgehen verurteilt wurde sowie die Angstkonzepte, die diesen zugrunde lagen, unterschieden sich grundlegend von späteren Positionen. Die Reklamekritiker im ausgehenden 19. Jahrhundert argumentierten moralisch: Aus ihrer Sicht war es falsch und verwerflich Angst zu schüren,
23 Ri/Fl., Winter-Programm 1925/26, 15.12.1925, Company Archive, Kraft Foods Deutschland, 0094 2651. S. 1–23, hier: S. 18. 24 Wehle, Johann Hermann: Die Reclame. Ihre Theorie und Praxis. Wien 1880. S. 43–45; Cronau, Rudolf: Das Buch der Reklame. Geschichte, Wesen und Praxis der Reklame. 4. Abteilung. Ulm 1887. S. 74 f.
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um Produkte, die Sicherheit, Heilung und Wohlergehen versprachen, leichter absetzen zu können. Angst – sie dachten vor allem an Angst vor Krankheit, Tod oder existentieller Not – konzipierten sie als ein universelles, natürliches Phänomen, das leicht durch Drohungen hervorgerufen und intensiviert werden konnte. Die Autoren verwiesen etwa auf Versicherungen, die fingierte Drohbriefe vermeintlicher Brandstifter zirkulieren ließen, um Feuerschutzpolicen besser verkaufen zu können.25 Den Dualismus von Gefühl und Verstand aktualisierend und dem Ideal des aufgeklärten, autonomen Subjekts verpflichtet, begriffen sie Angst als ein Phänomen, das rationales Denken außer Kraft setzt und Menschen manipulierbar macht. Angst, so meinten sie, mache es Menschen schwer und bisweilen unmöglich, Angebote kritisch zu prüfen und vernünftige Kaufentscheidungen zu fällen. Angst lasse Menschen blind und gefügig werden und bewirke, dass sie willenlos kauften. Dass Angst die Rezeption von Werbebotschaften und die Kauflust hemmen könnte, dieser Gedanke aber war ihnen, wie auch noch den Werbefachleuten, die 1924 den Animationsfilm für die Kaffee HAG produzierten, fremd. Ende der 1920er Jahre nahmen Reklameexperten jedoch mehrheitlich genau das an. Dieser Neubewertung von Angst war die Übertragung eines hybriden Angstkonzepts in die Kultur der Werbung vorausgegangen, in das Annahmen der Energetik, der angewandten Psychologie, aber auch Alltagswissen und zeitgenössische Lerntheorien eingingen.26 Diese andere Angst wurde nicht mehr primär als ein überwältigendes Gefühl betrachtet, das Menschen zu unvernünftigen Kaufhandlungen verleitete. Angst klassifizierten die Reklameexperten gegen Ende der 1920er Jahre als einen affektiven Zustand, den Menschen ungern empfanden und den sie in der Regel zu vermeiden suchten. Löse etwas Angst aus, so meinten sie, würden Menschen versuchen, dem Auslöser des negativen Gefühls aus dem Weg zu gehen. Sie würden Reklamemedien, die Angst erzeugten, allenfalls flüchtig beachten und sich gegenüber den von ihnen transportierten Botschaften verschließen. Diese Abwehrhaltung verhindere, dass sich die Kaufargumente im Bewusstsein oder im Unterbewusstsein des Menschen verankerten. Deshalb würden die Kaufargumente, falls die Verbraucher*innen sie überhaupt zur Kenntnis nahmen, schnell wieder vergessen. Unter
25 Wehle, Die Reklame (wie Anm. 24), S. 44. Zur frühen Werbung der Versicherungen und ihren teilweise umstrittenen Praktiken: Borscheid, Peter: Sparsamkeit und Sicherheit. Werbung für Banken, Sparkassen und Versicherungen. In: Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Peter Borscheid u. Clemens Wischermann. Stuttgart 1995. S. 294–348, hier: 301; Damm, Veit: Selbstrepräsentation und Imagebildung. Jubiläumsinszenierungen deutscher Banken und Versicherungen im 19. und 20. Jahrhundert. Leipzig 2007. S. 74– 75. 26 Zentral in diesem Zusammenhang: Ostwald, Wilhelm: Der energetische Imperativ. In: ders.: Der energetische Imperativ. Leipzig 1912. S. 81–97. Ein wichtiger Vermittler des neuen Gefühlswissens war auch Gustav Großmann: Sich selbst rationalisieren. Mit Mindestaufwand persönliche Bestleistungen erzeugen. Stuttgart 1927; ders., Vom Lachen und Werben. In: Die Reklame 18 (1925). S. 1245– 1248.
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diesen Umständen konnten sie sich jedoch nicht in Kaufwünsche verwandeln und Kauflust generieren. Angst galt somit als ein unproduktives Gefühl, das die Herstellung von Aufmerksamkeit und Interesse, die Entwicklung von Wünschen, aber auch Gedächtnisleistungen hemmen würde. Das war noch nicht alles. Aus einem weiteren Grund wurde Angst in der Werbung zunehmend als unerwünscht betrachtet: Angst, so warnte eine Reihe von Experten, würde sich allzu leicht auf das zu bewerbende Produkt übertragen. Dieses würde mit der Angst assoziiert, mutiere somit zum Auslöser der Angst, werde auf diese Weise unattraktiv und entwickle sich zu einem Ladenhüter. Angst, diese Erkenntnis setzte sich sukzessive durch, ließ Reklame wirkungslos werden, und sollte unter keinen Umständen erzeugt werden.27 Reklame sollte positive Gefühle generieren, denn diese, so der Umkehrschluss, würden Menschen zu Aktivität anregen. Sie würden sie dazu bewegen, sich mit Dingen, Gedanken oder Sachverhalten näher zu beschäftigen und sich für diese zu interessieren. Aufgrund dieser „psychologischen Gesetze“ sollten Werbefilme – wie andere Werbemedien auch – amüsieren, zum Lachen reizen und unterhalten, sie sollten Sicherheit, Hoffnung und Zuversicht verbreiteten.28 Um der Forderung, Werbefilme dürften keine Angst erzeugen, Nachdruck zu verleihen, verwiesen Autoren in den Reklamefachzeitschriften außerdem auf die Erwartungshaltung des Publikums: Dieses gehe mit einer „angenehmen, behaglichen und lustbetonten Stimmung“ ins Kino, um sich zu „erheitern“. Es sei auf „geruhsames Genießen“ eingestellt, bezahle dafür und würde es gar nicht schätzen, wenn man es mit unangenehmen Reklamefilmen aus dieser Stimmung herausreißen würde. „Die Übermittlung des Wesentlichen auf möglichst amüsante Art, das muß die Richtschnur für die Herstellung des Werbefilms sein.“29 Das Wissen über die Verbraucher*innen und ihre Gefühle, das in diesem Zusammenhang formuliert wurde, war nicht einfach konstruiert im Sinne von ausgedacht oder frei erfunden. Ebenso wenig beschrieb es unvermittelt Realität. Vielmehr, so möchte ich in Anlehnung an Überlegungen der Science and Technology Studies und der Akteur Netzwerk Theorie vorschlagen, haben wir es hier mit Repräsentationen von Wirklichkeit zu tun, die selbst Realitäten sind und Realität hervor-
27 Herwalt, Wirksame Reklame oder grober Unfug. In: Seidels Reklame 9 (1925). S. 278–279; Schranke, Paul Fr.: Die Frau – unser Werbeziel. Ein Versuch zur besseren Einsicht. In: Werbe-Rundschau 4 (1928). S. 182–183; früh bereits: Gordon, Fritz: Von Unlustgefühlen in der Reklame. In: Seidels Reklame 4 (1920). S. 38. 28 Großmann, Lachen (wie Anm. 26), S. 1245–1248; Meyer, E. H.: Humor in der Reklame. In: Seidels Reklame 11 (1927). S. 23–24. Zur Notwendigkeit mit Werbefilmen Heiterkeit, Freude und Behagen zu erzeugen unter anderem: Kurtzig, K.: Die Arten des Werbefilms. In: Industrielle Psychotechnik 3 (1926). S. 310–314; Béringuier, Richard F. C.: An der Peripherie des Reklamefilms. In: Die Reklame 20 (1927). S. 429; Meyer-My, Werbefilm (wie Anm. 2). S. 559–560. 29 Kaskeline, Wolfgang: Geballter Ausdruck. In: Die Reklame 24 (1931). S. 528.
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bringen.30 Das Wissen über den Menschen und seine Gefühle basierte auf vielfältigen Beobachtungen, Erfahrungen und Theorien, die immer schon kulturell vermittelt waren. Um nicht flüchtig zu sein und zirkulieren zu können, musste sich das Wissen materialisieren. Es wurde in Sprache oder auch in Zeichnungen, in grafische Darstellungen und Ähnliches übersetzt und dabei angepasst. Werbefachleute eigneten sich das zirkulierende Wissen vor allem mit Hilfe von Artikeln an, die in Reklamefachzeitschriften erschienen und damit bestimmten Standards genügen mussten. Dabei wählten die Praktiker aus, glichen das neue Wissen mit ihrem Vorwissen ab und modifizierten es in diesem Prozess. Das aktualisierte Wissen ging in Form von Handlungsprogrammen oder Skripten in die Produktion der Medien ein. Dabei fanden wieder Anpassungen statt, die unter anderem aufgrund der materiellen Eigenschaften der Medien erforderlich wurden.31 Die Medien mit den ihnen eingelassenen Handlungsprogrammen legten den Rezipient*innen in spezifischen Situationen – etwa beim Schauen von Werbefilmen – bestimmte emotionale Empfindungen nahe und konnten so dazu beitragen, eine spezifische emotionale Kultur (der Angst oder der Fröhlichkeit) zu vermitteln, zu etablieren und zu stabilisieren. Auch die Kaffee HAG setzte das neue hybride Emotionswissen Schritt für Schritt um. Doch bewährte und eingespielte Verfahrensweisen können langlebig sein. Manch einem Reklameexperten ging der Wandel nicht schnell und konsequent genug vonstatten. 1927 kritisierte ein Rezensent in der Zeitschrift Seidels Reklame eine Anzeige des Unternehmens und zwar nicht, weil sie mit dem Konterfei und einem Zitat Benito Mussolinis warb, sondern weil die Anzeige erneut auf die gravierenden, negativen gesundheitlichen Folgen des Koffeinkonsums, auf die Schädigung des Nervensystems und damit verbunden auf die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit hinwies und somit existenzielle Ängste schürte. Die Kaffee HAG, so der Kritiker, solle sich in ihren Anzeigen stärker um einen ansprechenden Ton bemühen. Sie könne ruhig gegen den Kaffeegenuss sprechen, aber dies müsse auf angenehmere Weise geschehen. In erster Linie aber sollten in der Werbung „Vorzüge und angenehme Eigenschaften der eigenen Ware“ hervorgehoben und ihr positiver Nutzen für den Verbraucher herausgestellt werden.32
30 Zum Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit u. a.: Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt a. M. 2000. 31 Zum Konzept des Handlungsprogramms und der Vermittlung: Latour, Bruno: Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie. In: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Hrsg. von Andréa Belliger u. David J. Krieger. Bielefeld 2006. S. 483– 528. 32 Anonymus: Inserate vom Tage. In: Seidels Reklame 11 (1927). S. 127–129.
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III. Kaffee Hag im Westen, Osten, Süden und Norden 33 Deutschlands (1929) In Bremen nahm man die Kritik ernst. 1929 ließ das Unternehmen einen zweiten Werbefilm drehen, der negative Auswirkungen des koffeinhaltigen Kaffees nicht mehr thematisierte. Der fünfminütige Werbefilm Kaffee Hag im Westen, Osten, Süden und Norden Deutschlands wurde von den Döring-Filmwerken hergestellt. Es handelte sich dabei um eine 1919 gegründete Filmfirma, die mit Kultur-, Reise- und Expeditionsfilme bekannt geworden war und vor allem für Betriebe aus dem niedersächsischen Raum Werbefilme produzierte.34 Der an die Dokumentarfilme der Spätavantgarde angelehnte Stummfilm beginnt mit einer Animation: Diese zeigt im Vordergrund eine unbewegte Aufnahme des Fabrikgebäudes der Kaffee HAG. Der massive Backsteinbau wirkt, betont durch die untersichtige Perspektive und die statische Aufnahme, unverwüstlich. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch den strahlenförmigen Hintergrund, vor dem das Gebäude gezeigt wird, bekräftigt. In die breiten Strahlen sind Aufnahmen fahrender Bahnzüge montiert, die sich in hoher Geschwindigkeit sternförmig vom Fabrikgebäude fortbewegen. Die Animation wird mehrfach unterbrochen, in rascher Schnittfolge werden Filmaufnahmen deutscher Großstädte eingeblendet. Das robuste und leistungsfähige Unternehmen liefert – bereits der Filmtitel legt diese Deutung nahe – Kaffee Hag in alle Teile Deutschlands. Im Folgenden setzt der Film drei inhaltliche Schwerpunkte. Erstens stellt er in kurzen Episoden unterschiedliche, stets zufriedene, fröhliche und Kaffee Hag genießende Verbraucher*innen vor: ältere Damen in einem großbürgerlich ausgestatteten Speisezimmer beim Kaffeeklatsch, ein junges Paar in einem modern eingerichteten Café, eine Frau mittleren Alters (vielleicht eine Tante oder die Mutter) mit einem halbwüchsigen Mädchen und eine Gruppe von Tennisspielerinnen und Tennisspielern auf der Terrasse eines Klubhauses. Dass die heiter wirkenden Personen alle Kaffee Hag trinken, wird durch das immer wieder in Großaufnahmen gezeigte Porzellanservice kommuniziert, das das Firmenlogo trägt und in dem der entkoffeinierte Kaffee an öffentlichen Orten ausgeschenkt werden musste. In raschem Tempo wechseln Einstellungsgrößen und Kameraperspektiven: Totale und Aufsicht positionieren die Zuschauer*innen als Beobachter und orientieren über das Geschehen. Normalsicht und Nahaufnahmen werden überwiegend eingesetzt, um die Personen im Film in harmonischer Interaktion zu zeigen. Leicht untersichtige Großaufnahmen rücken hingegen die Personen beim Trinken des Kaffees ins Bild und erlauben
33 Kaffee Hag im Westen, Osten, Süden und Norden Deutschlands (Dörning-Film-Werke, Hannover, 1929), Historisches Filmarchiv Inge I. u. Heinz H. Buschko, Filderstadt. 34 Agde, Günter: Flimmernde Versprechen. Geschichte des deutschen Werbefilms im Kino seit 1897. Berlin 1998. S. 45–46.
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den Zuschauer*innen Zeichen des Genusses in der Mimik der Schauspieler*innen genau zu beobachten. Zum zweiten führt der Film an einigen Beispielen vor, dass sich der Konsum des entkoffeinierten Kaffees positiv auf das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Menschen auswirkt. Da in diesen Szenen das Service als erklärendes visuelles Zeichen wegfällt, werden öfters erklärende Zwischentitel eingeblendet. Wir sehen einen jungen, athletischen Mann, der von einem Arzt untersucht wird, und der – die zufriedene Mimik von Arzt und Patient am Ende der Untersuchung legen die Vermutung nahe – kerngesund ist, eine Frau, die mit entspannten Gesichtszügen schläft, oder leistungsfähige Sportler und Sportlerinnen beim Tennismatch, beim Kugelstoßen, beim Hürdenlauf oder beim Fechten. Zum dritten thematisiert der Film Zumutungen des modernen Berufs- und Großstadtlebens und stellt den Kinobesucher*innen – jeweils nur für wenigen Sekunden – Personen vor, die mit diesen Herausforderungen offenkundig nicht gut zurechtkommen: Den Zuschauer*innen wird Einblick in den hektischen Büroalltag einer männlichen Führungskraft gewährt. Der Mann wirkt überanstrengt und abgekämpft. Detailaufnahmen von Augen, Mund und Händen deuten Nervosität an: schnelle Sprechbewegung der Lippen, unsteter Blick und Finger, die auf die Schreibtischplatte klopfen. Eine anschließende Sequenz, die unverkennbar durch Walter Ruttmanns Dokumentarfilm Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927) inspiriert wurde, lässt Menschenmassen durch die Straßen einer Großstadt eilen. Der Eindruck von ununterbrochener Bewegung und rasender Dynamik wird durch schnelle Schnitte und immer neue Überblendungen verstärkt. Abgeschlossen wird diese Sequenz mit einer kurzen traumartigen Szene: Wir sehen eine Häuserfassade mit Leuchtreklame in der Nacht. Aus dem Hintergrund erwächst schemenhaft – hier wurde die Technik der Doppelbeleuchtung eingesetzt – eine, schließlich das Bild ausfüllende, nur unscharf erkennbare männliche Person. Diese Person – ihre Jacke und Mütze markieren sie als Arbeiter – scheint von Schwindel erfasst zu sein. Sie taumelt mit geschlossenen Augen. Die Botschaft ist klar: Die moderne Welt verlangt allen (männlichen) Subjekten ungeachtet ihrer sozialen Herkunft und ihres Berufs viel ab. Es folgt ein Schnitt: Die Zuschauer*innen blicken in ein Atelier und über die Schulter eines Künstlers. Mit ruhiger Hand vollendet er einen Schriftzug auf einem Plakatentwurf: „Kaffee Hag schont ihr Herz“. Der Eindruck von Ruhe wird durch die statische Kamera und die unbewegte Einstellung bestärkt. Der Werbefilm, der mit Bezügen auf aktuelle Themen wie Gesundheit und Hygiene, Zivilisation und Nervosität, Leistungsfähigkeit und Leistungsoptimierung sowie durch moderne filmästhetische Mittel das Publikum „fesseln“ sollte, war zwar nicht ausschließlich einer Ikonographie der Fröhlichkeit verpflichtet, doch er verzichtete darauf, gezielt Angst zu erzeugen. Die heiteren Momente im Film überwiegen, die weniger heiteren werden mehr angedeutet als ausgespielt und passen sich in die grundsätzlich optimistische Botschaft des Films ein: Den Herausforderungen
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der Moderne ist das Subjekt mit all seinen Anfälligkeiten gewachsen, wenn es auf sich und eine gesunde Lebensführung achtgibt, zu der selbstverständlich auch Kaffee Hag gehört.
Abb. 2: Das Haushaltsgeld (D ca. 1935)
IV. Das Haushaltsgeld (um 1935)
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Noch deutlicher als dieser Reklamestreifen mit Dokumentarfilmanmutung ging ein Mitte der 1930er Jahre für die Kaffee HAG gedrehter Werbefilm auf Distanz zur frühen Angstwerbung des Unternehmens. Allerdings wurde dieser Film in einer Zeit produziert, in der sich die Rahmenbedingungen für Werbung grundlegend verändert hatten: Im Januar 1933 war den Nationalsozialisten die Macht übertragen worden. Mit einer Verordnung vom 30. Juni 1933 fiel die Werbung in den Geschäftsbereich des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda. Unter dessen Federführung wurde im September 1933 der Werberat der deutschen Wirtschaft als zentrale Kontrollinstanz ins Leben gerufen. Dieser erließ eine Reihe von Bestimmungen und Richtlinien, die den inhaltlichen Rahmen für die Werbung absteckten. Mit seiner 17. Bekanntmachung verbot der Werberat Strategien der Angsterzeugung in der Werbung. Diese Bestimmung richtete sich vor allem gegen Werbetechniken von Heil- und Schönheitsmittelherstellern, die trotz der Appelle und Mahnungen in den
35 Das Haushaltsgeld, (Dörning-Film-Werke, Hannover, Mitte 1930er Jahre), Historisches Filmarchiv Inge I. u. Heinz H. Buschko, Filderstadt.
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Werbefachzeitschriften entsprechende Verfahren weiterhin einsetzten.36 Die Nationalsozialisten begründeten ihr Vorgehen damit, dass Angsterzeugung der Irreführung und der Manipulation der Verbraucher*innen diene und mit den Prinzipien „deutscher Werbung“ unvereinbar sei. „Deutsche Werbung“ würde die Konsument*innen lediglich „sachlich aufklären“.37 Hier wird erkennbar, dass sich Angstkonzepte nicht nur veränderten, sondern verschiedene Angstkonzepte parallel zirkulierten. In der Werbebranche wurde Angst vielfach als Gefühl klassifiziert, das Menschen ungern empfanden und das sie dazu bewegte, sich aktiv von der Quelle der Angst abzuwenden und sich zu verschließen. Die Entscheidungsträger im Werberat und im Propagandaministerium klassifizierten Angst hingegen als ein Gefühl, das starke passivierende Effekte hatte und das individuelle Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten erheblich einschränkte. Die Nationalsozialisten lehnten Angsterzeugung als ein Mittel der „Menschenführung“ nicht ab, weil sie diese Strategie für ineffektiv oder wie Reklamekritiker im ausgehenden 19. Jahrhundert für unmoralisch und illegitim hielten. Im Gegenteil: Angsterzeugung war ein zentrales Element nationalsozialistischer Propaganda.38 Die Technik der Angsterzeugung sollte aber nicht in der Wirtschaftswerbung eingesetzt werden. Wohlwissend, dass sich die deutsche Bevölkerung nicht nur nach Stabilität, sondern auch nach Wohlstand sehnte und sich dabei zunehmend an der amerikanischen Konsumgesellschaft orientierte, wiesen die Nationalsozialisten der Wirtschaftswerbung die Aufgabe zu, der völkisch gedachten deutschen Gesellschaft vor Augen zu führen, dass sie sich trotz mancher Einschränkungen auf dem Weg in eine moderne Massenkonsumgesellschaft befand. Werbung sollte nicht nur verbrauchslenkend wirken, sie sollte Konsum legitimieren, Hoffnungen auf Wohlstand bestärken, Optimismus und Zuversicht verbreiten und auf diese Weise die Akzeptanz des NS-Regimes steigern.39 Die meisten Vertreter der Werbebranche hatten dagegen wenig einzuwenden. Sie interpretierten die Funktionszuschreibung zum einen als Aufwertung, zum anderen stand die Bestimmung, dass Werbung nicht ängstigen dürfe keineswegs im Widerspruch zu ihren eigenen Einsichten wie Werbung gestaltet sein sollte, um wirkungsvoll zu sein. Im Gegenteil, die Bestimmung des Werberats stützte ein Anliegen, das die um Professionalisie-
36 Zum Verbot der Angsterzeugung: Hirt, Gerulf: Verkannte Propheten? Zur „Expertenkultur“ (west)deutscher Werbekommunikatoren bis zur Rezession. Leipzig 2013. S. 309. 37 Zum Konzept „deutsche Werbung“: Schug, Alexander: Braune Verführer. Wie sich die deutsche Werbebranche den Nationalsozialisten andiente. Berlin 2015. S. 41–80; Swett, Pamela E.: Selling Under the Swastika: Advertising and Commercial Culture in Nazi Germany. Stanford 2014. S. 51–54. 38 Zur Angst- und Gewaltpropaganda der Nationalsozialisten vgl. Paul, Gerhard: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933. Bonn 1992. 39 Zur stabilisierenden Funktion der Konsumpolitik im Nationalsozialismus: Swett, Swastika (wie Anm. 34); Wiesen, Jonathan S.: Creating the Nazi Marketplace. Commerce and Consumption in the Third Reich. Cambridge 2011.
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rung bemühten Meinungsführer in der Werbebranche seit langem verfolgten, aber allein nicht hatten durchsetzen können. Der einminütige Realfilm Das Haushaltsgeld wurde wie auch der Werbefilm Kaffee Hag im Westen, Osten, Süden und Norden Deutschlands von den Döring-Filmwerken hergestellt. Er ist ein heiterer Reklamestreifen und der erste Werbetonfilm mit Spielfilmcharakter, den das Bremer Unternehmen produzieren ließ. Mit der Hinwendung zum Tonfilm bemühte sich das Unternehmen, mit der allgemeinen Entwicklung in der Kinematographie Schritt zu halten. Es versuchte, seine Reklamemittel den sich ändernden Wahrnehmungsgewohnheiten und Erwartungen des Publikums anzupassen, um so die Akzeptanz von Werbung zu erhöhen. Daneben versprachen sich die Experten vom Tonfilm eine nachhaltigere Wirkung, weil sich mit Hilfe des gesprochenen Worts die Leistungen eines Produkts präziser als mit Bildern allein beschreiben ließen. Der Werbefilm der Kaffee HAG beginnt wie alle Werbefilme mit der Einblendung des Titels. Dazu erklingt ein kurzes, von einem Orchester eingespieltes Intro, ein musikalisches Ausrufezeichen, das den Beginn des Films ankündigt, die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen auf die Leinwand lenkt und sie zur Einstellung ihrer Gespräche anhalten soll.40 Die erste Einstellung zeigt in Nahaufnahme und aus einer leichten Untersicht eine hübsche, hellblonde, junge und modisch zurechtgemachte Frau. Möglicherweise hatten Vertreter der Werbeabteilung und der Produktionsfirma beim Casting darauf geachtet, dass eine „deutsch“ aussehende Schauspielerin die Rolle bekam. Die junge Dame sitzt an einem Tisch, vor ihr liegt ein aufgeschlagenes Buch, in das sie etwas einträgt. Sie schaut seufzend auf und beginnt an der Kamera vorbei blickend darüber zu lamentieren, dass ihr Haushaltgeld nicht ausreicht. Das solide Interieur, ihr Schmuck, die modische Frisur und das aparte Tageskleid der Frau, machen deutlich, dass sie zwar nicht in übermäßigem Luxus lebt, aber hier auch nicht über existenzielle Not geklagt wird. Die junge Frau wendet sich nach links zur Seite und überlegt laut, ob es in Anbetracht ihrer finanziellen Lage nicht sinnvoll sei, den Kaffeekonsum einzustellen. Die zweite Einstellung zeigt in der Halbtotale einen Mann, der in einem Sessel sitzt. Er blickt von seiner Zeitschrift auf und antwortet der Frau in ernstem Tonfall mit nur einem Wort: „Ausgeschlossen!“. Die Szene spielt am Ende eines Tages – die hell erleuchteten elektrischen Wohnzimmerlampen, die zugleich die Akteure in den Fokus rücken, legen diese Vermutung nahe. Der sich entspinnende Wortwechsel (um der Eingängigkeit willen in gebundener Sprache) wird von einem schnellen Schnittwechsel begleitet. Die jeweils sprechende Person ist dabei im Bild zu sehen und wendet sich dem Publikum zu. Der Schnitt vermittelt so den Eindruck, als sei man ins Geschehen eingebunden. Der Mann, er trägt Bürokleidung (Hemd, Krawatte und Anzug) und wirkt etwas förmlich. Er erhebt sich mit einem Lächeln, geht zur
40 Für Hinweise zur Filmmusik danke ich Juliane Brauer.
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Frau hinüber und belehrt sie nach wie vor lächelnd, dass sich ihre Geldsorgen in Luft auflösen würden, wenn sie beim Kaffeekonsum in Zukunft nicht auf Quantität („Nimm doch die Kanne etwas kleiner“), sondern stärker auf Qualität („dann wird der Kaffee auch noch feiner!“) Wert legen würde. Der Film mahnt dem Autarkiestreben des NS-Regimes gemäß zu einem sparsamen Verbrauch des Importguts Kaffee. Gleichzeitig bekräftigt er, dass jeder Deutsche Kaffee trinken kann, wenn er sparsam und nachhaltig konsumiert. Der Mann und die Frau, ohne Frage professionelle Schauspieler*innen, spielen während des Dialogs ihre gegensätzlichen Gefühle voll aus: Der verstimmten Frau wird der optimistisch gestimmte Mann zur Seite gestellt. Vermutlich entschieden sich die Produzenten unter anderem zu diesem Schritt, um zu verhindern, dass die zur Schau gestellten negativen Gefühle der Frau die Szene bestimmen. Während der lächelnde Mann ruhig, optimistisch und bisweilen etwas belustigt wirkt, scheint die Frau ratlos (sie seufzt wiederholt), gekränkt (sie wendet sich mit einem Schmollmund von ihrem Gesprächspartner ab) und nervös (ihre Finger klopfen auf den Schreibtisch) zu sein. Der Film aktualisiert oppositionelle Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit. Mimik, Gestik und Posen, die helle Stimme sowie die steigende Stimmhöhe am Ende ihrer Sätze, die als Ausdruck einer zweifelnden, fragenden Haltung gelten, charakterisieren die Frau als unsicher, hilflos, unterlegen und kindlich. Der Mann erscheint im Gegensatz dazu als wissend, überlegen, selbstsicher und unerschütterlich. Zeigt der Streifen Kaffee Hag im Westen, Osten, Süden und Norden Deutschlands nicht nur, aber auch die „neue Frau“, passt sich der Film Das Haushaltsgeld an das konservative Geschlechtermodell der Nationalsozialisten an. Die deutlichen Anzeichen von Nervosität bei der Frau nimmt der Mann, der sich mittlerweile über die Frau beugt und ihre Hand hält, zum Anlass, um ihr Kaffee Hag zu empfehlen. Würde sie diesen trinken, so erklärt er ihr und nennt sie dabei ein „liebes Kind“, würde sich ihr Zustand schnell bessern, und die beiden würden sich „nie mehr böse“ sein. Die mittlerweile zum Mann aufblickende Frau beginnt zu strahlen. Mit einer Schiebeblende wird zur nächsten Sequenz übergeleitet: In einer Großaufnahme sieht man eine gepflegte Frauenhand, die eine Tasse mit dem deutlich erkennbaren Firmen-Logo ergreift. Verzichtet der Film in der ersten Hälfte darauf, die angespannte Situation musikalisch zu unterstreichen oder die gegensätzlichen emotionalen Stimmungen der Protagonist*innen musikalisch zum Ausdruck zu bringen, erklingt jetzt im Hintergrund ein zartes, fröhliches Geigenspiel. Die Kamera, die dabei aus dem Bild zoomt, verfolgt, wie die Frauenhand ruhig die Tasse an den Mund der nun einen Morgenrock tragenden Frau führt und gibt schließlich den Blick in einen hellen Raum frei, in dem das Paar lächelnd und einander zugewandt an einem mit einem Kaffee Hag-Service gedeckten Frühstückstisch sitzt (Abbildung 2). Mimik, Gestik, Musik, Licht und die Darstellung des Raums vermitteln in ihrem Zusammenspiel eine friedliche, harmonische und glückliche Atmosphäre. Nun wird der Bildausschnitt für mehrere Sekunden nicht mehr verändert. Der Mann fragt die Frau, ob er mit seiner Empfehlung Recht gehabt habe. Die Frau bestätigt dies zu
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den nun erklingenden Blechbläsern sichtlich zufrieden. Abwechselnd hebt das Paar nun die Vorzüge des Kaffee Hag hervor, dabei werden die Bläser lauter und langsamer. Die Gesichter, an die wieder leicht herangezoomt wird, nähern sich währenddessen einander an, als wolle sich das Paar küssen. Mann und Frau versichern sich, dass von nun an jeder ihrer Tage mit Kaffee Hag beginnen soll. Im Gegensatz zum ersten Dialog wird dieser nicht von einem raschen Schnittwechsel begleitet. Die ruhige Einstellung stützt die Erzählung des Spots von einem Paar, das mit Hilfe des Kaffee Hag wieder zu innerer Gelassenheit und zu einer harmonischen Beziehung gefunden hat. Das Bild des wieder glücklich vereinten Paares wird überblendet und die mit dem Firmenlogo versehene Kaffeekanne vom Frühstückstisch ist nun in Großaufnahme zu sehen. Im Schlussbild wird vor einem gezeichneten Strahlenhintergrund ebenfalls in einer Großaufnahme ein Paket Kaffee Hag eingeblendet. Dabei erklingen die Bläser noch etwas lauter und klar wie Fanfaren. Nachdem sie verstummt sind, wird das Bild ausgeblendet und der Film ist zu Ende. Der an zeitgenössische Komödien erinnernde Werbefilm realisiert die Empfehlungen zur Vermeidung von Angst in der Filmreklame vorbildlich. Mit ausgeklügelten und fein abgestimmten Gestaltungsmitteln sollte die flott erzählte Komödie im Miniformat Heiterkeit und Optimismus evozieren. Wie schon der Animationsfilm Der Retter in der Not realisiert Das Haushaltsgeld dabei ein für den Werbefilm klassisches dramaturgisches Schema: Einführend wird ein Problem geschildert, das im weiteren Verlauf mit Hilfe des Produkts beseitigt wird; im Gegensatz zum Retter in der Not wird das Ausgangsproblem jetzt jedoch als im Grunde harmlos und handhabbar charakterisiert. Das Haushaltsgeld verknüpft verschiedene Argumentationsstrategien, die heute zum gängigen Repertoire des Werbefilms gehören: die „Slice of Life“-Strategie (eine alltägliche Situation wird mit dem zu bewerbenden Produkt assoziiert), die „Testimonial“-Strategie (ein Anhänger des Produkts empfiehlt es einer noch unaufgeklärten Person) und die „Product as Hero“-Strategie (der Kaffee Hag erscheint als Retter der Beziehung). Daneben lassen sich aber auch schon Elemente der „Life-Style“-Strategie erkennen, die Ambiente und Atmosphäre der dargestellten Welt stärker in den Vordergrund rücken.41 Konsum und Gefühlsleben werden in dem Film als eng miteinander verknüpft dargestellt. Der Konsum des Kaffee Hag trägt zum einen entscheidend zur psychischen Ausgeglichenheit und zum emotionalen Wohlbefinden der Frau bei. Durch seinen Konsum ‚normalisieren‘ sich ihre Sorgen. Am Frühstückstisch erscheint die Frau emotional gefestigt und – wie es sich vermeintlich für eine rechtschaffene Ehefrau gehört – dem Mann zugewandt. Zum anderen wird im Moment des gemeinsamen Konsums eine Atmosphäre ge-
41 Schmidt, Siegfried J. u. Brigitte Spieß: Die Kommerzialisierung der Kommunikation. Fernsehwerbung und sozialer Wandel 1956–1989. Frankfurt a. M. 1996. S. 157–159; Keitz, Ursula von: Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbefilms. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch. Bd. 3. Berlin 2002. S. 1821–1829, hier: S. 1823.
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schaffen, in der sich Intimität entfalten kann, wodurch, so vermittelt es der Spot und liefert „vorgefertigte Gefühlsschablonen“ gleich mit, das Glück des Paares und ihr Lebensgefühl gesteigert werden. Der Spot stellt somit in Aussicht – die Soziologin Eva Illouz spricht in diesem Zusammenhang von der Kommodifizierung der Gefühle –, dass sich durch ‚richtigen‘ Konsum gezielt erwünschte Gefühle hervorbringen lassen.42
Fazit In der Zwischenkriegszeit, in der die angewandte Psychologie in der Werbung zu einer Leitwissenschaft avancierte, wurden etablierte Verfahren der emotionalen „Menschenführung“ überdacht und modifiziert. Wie die Beispiele der drei analysierten Reklamefilme verdeutlichen, ersetzte man Techniken der Angsterzeugung sukzessive durch Glücksversprechen und Verfahren, die Menschen grundsätzlich in eine zuversichtliche und optimistische Stimmung versetzen sollten. Diesem Wandel ging ein in der Werbebranche immer breiter zirkulierendes verändertes Gefühlswissen voraus. Dass sich in der Werbung schließlich ein emotionaler Stil der Fröhlichkeit und des Optimismus weitgehend durchsetzte, wurde in Deutschland darüber hinaus durch staatliche Bestimmungen befördert, die dazu dienen sollten, die Akzeptanz des NS-Regimes zu stärken. Ob und wie umfassend der hier untersuchte Wandel die Etablierung neuer emotionaler Normen und Stile stützte, muss an dieser Stelle offenbleiben. Für die USA hat Christina Kotchemidova einen solchen, nicht zuletzt durch die Werbung vermittelten Wandel beobachtet: „(I)n the modern age, cheerfulness rose in value and became the most favored emotion of experience and display; as such, it was individually sought and socially encouraged until it became the main emotional norm of twentieth-century America.“43 Neben der Verdeutlichung von Trends in der Werbung, sollte der Beitrag zeigen, dass die Werbegeschichte viel gewinnen kann, wenn sie emotionsgeschichtliche Perspektiven stärker als bisher berücksichtigt. Zwei Aspekte möchte ich diesbezüglich hervorheben: Erstens können methodologische Überlegungen und eine Orientierung an Fragestellungen der Gefühlsgeschichte pauschalisierenden Argumentationen und Klischees in Bezug auf das Verhältnis von Werbung und Gefühlen entgegenwirken und deren facettenreiches Verhältnis aufzeigen. Mit Aussagen, dass Werbung im Allgemeinen und der Werbefilm im Besonderen emotionalisieren
42 Honneth, Axel: Vorwort. In: Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Hrsg. von Eva Illouz. Berlin 2017. S. 7–11; Illouz, Eva: Einleitung – Gefühle als Waren. In: Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Hrsg. von Eva Illouz. Berlin 2017. S. 13–48. 43 Kotchemidova, Christina: From Good Cheer to „Drive-By Smiling“: A Social History of Cheerfulness. In: Journal of Social History 39 (2005), S. 5–37, hier: S. 6.
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(sollen), ist wenig gewonnen. Pauschalisierende Annahmen über emotionale Funktionsweisen von Werbung, wie etwa jene, dass Werbung seit jeher darauf basiere, Sorgen, Ängste und Bedenken anzusprechen, um dann die Lösung dafür anzubieten, verkennen, dass im 20. Jahrhundert sehr unterschiedliche Techniken der emotionalen „Menschenführung“ hervorgebracht, neu justiert und verändert wurden. Die Ursachen für den Wandel waren vielfältig: Unter anderem wurde er im 20. Jahrhundert durch neue psychologische Theorien und aktualisierte Konzepte vom Emotionalen sowie durch sich verändernde Vorstellungen von Einzelemotionen motiviert.44 Ein stärkeres Interesse am Wandel von Emotionalisierungstechniken hilft uns besser nachvollziehen zu können, was Werbetreibende bewegte, die Dinge so zu gestalten, wie sie es taten; es ermöglicht damit, Produktionsprozesse von Werbemedien und ihre Voraussetzungen genauer zu begreifen. Zweitens sind Analysen der Techniken emotionaler „Menschenführung“ eine Möglichkeit, zeitgenössische emotionale Regime und ihre Materialisierungen besser zu verstehen. Sie erlauben Auskünfte über die Etablierung sowie Vermittlung von Gefühlsnormen; sie lassen etwa erkennen, wie Zuschauerinnen und Zuschauer adressiert, welche emotionalen Erfahrungen ihnen ermöglicht und zu welchen Gefühlen sie angehalten wurden. Sie machen außerdem deutlich, dass diese einem konstanten Veränderungsprozess unterworfen waren. Werbegeschichtliche Untersuchungen, die solche Entwicklungen in den Blick nehmen, können Aufschluss über den Wandel von Gefühlskulturen geben und sind, weil sie nicht auf universalistischen Theorien über den Menschen und seine Gefühle aufbauen, auch anschlussfähig an poststrukturalistische Studien zu Subjektivierungsweisen.
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44 Diese komplexen Entwicklungen wurden hier nur sehr knapp skizziert. Genau werden sie in meiner Studie „Marktgefühle. Zur emotionalen ‚Menschenführung‘ in der Werbung“ analysiert.
Angsterzeugung oder Glücksversprechen 51
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Sebastian Thalheim
Sommer, Sonne, Schmalfilm Die neue Visualisierung eines alten Mediums. Werbefilm im Kontext der Konsumkultur der DDR in den 1950er Jahren.
Könntest du erzählen, kleine Kamera, was in diesen Tagen deine Linse sah, was in 1000 Bildern sie verewigt hat. Viele frohe Stunden. Ganz groß im Kleinformat.1
Einleitung Das Schmalfilmformat 8 mm gab es seit seiner Entwicklung schon vor dem Zweiten Weltkrieg in wohlhabenden Kreisen Deutschlands.2 Doch als 1956 in der Einführungsszene des Werbefilms Sommer, Sonne, AK 83 ein älterer Mann die erste 8 mmKamera der DDR im Schaufenster eines Leipziger HO-Fotofachgeschäfts [Staatliche Handelsorganisation] entdeckt, sieht er nicht einfach die technische Neuauflage eines Mediums, das schon seit zwanzig Jahren existiert. Während er langsam das Arrangement im Schaufenster betrachtet, kommentiert eine männliche Stimme: „In einem Sommer unseres Zeitalters überraschte die HO auf dem Weg zum Weltniveau mit beachtlichen Errungenschaften: dem Ausleihdienst für die Schmalfilmkamera mit dem reizenden Namen AK 8.“ In dem Schaufenster wird die AK 8 [Aufnahmekamera 8 mm] mit dem Slogan „LEIH-AK 8 für den Urlaub“ und einer lächelnden Frau im Badeanzug am Strand angepriesen. Damit verdichtet sich das Thema des Films: Schmalfilmen im Urlaub wird durch die staatliche Handelskette ermöglicht. Obwohl ein größeres Kontingent an Freizeit und technischen Konsumgütern in der DDR erst ab den 1960er Jahren weiten Teilen der Bevölkerung zur Verfügung stehen sollten, wollte Sommer, Sonne,
1 Liedtext des Werbefilms Sommer, Sonne, AK 8. 2 Vgl. Roepke, Martina: Privat-Vorstellung. Heimkino in Deutschland vor 1945. Hildesheim 2006. S. 38. 3 DEFA-Filmverleih/Stiftung Deutsche Kinemathek. Note: Dieser Beitrag ist Teil meiner Promotionsforschung „Familienfilm in der DDR“ an der WWU Münster, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Betreuung: Elisabeth Timm. Für die hilfreichen Anmerkungen und Anregungen zur Weiterentwicklung dieses Beitrags möchte ich mich bei den Herausgeber*innen und dem/der anonymen Gutachter*in bedanken. https://doi.org/10.1515/9783110661965-003
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AK 8 genau das vermitteln: Reisen und Filmen war nun auch in der prosperierenden DDR möglich und die AK 8 war eine Kamera, die diese Errungenschaften sichtbar machte. Die Besonderheit von Sommer, Sonne, AK 8 war, dass er Schmalfilm als spezifisches Freizeitmedium einer sozialistischen Gesellschaft präsentierte. Dabei wurden sozialistische Idealbilder im kulturpolitisch weniger angespannten Entstehungsjahr 1956 sogar durch humoristische Stilelemente gebrochen. Bewusst verzichteten die Filmemacher auf einen „politischen Sprachgebrauch“4, um gerade dadurch „sein[en] agitatorischen Endzweck“5 zu erreichen. Mit Mitteln der Unterhaltung sollte das schöne Leben in der DDR angepriesen werden. Allerdings bewarb Sommer, Sonne, AK 8 nicht einfach eine 8 mm-Kamera, mit der Ereignisse und Personen auf Zelluloid festgehalten werden konnten, sondern das „untrennbare Ganze“6, eine „Verkettung von Signifikanten“7, eine Marke: die erste Schmalfilmkamera der aufstrebenden DDR, Ausleihen als spezifische sozialistische Konsumpraxis, Schmalfilmen als Familien- und Freizeitmedium – alles zusammen Zeichen einer Gesellschaft, die kurz davor stand, ihre utopischen Ziele zu erreichen. Diese Bedeutungen verdichteten sich in der AK 8 als modernes Medium einer neuen Zeit. Doch noch eine weitere Besonderheit lässt sich ergänzen, wenn es um die Entstehungszeit des Werbefilms geht. Obwohl im Mittelpunkt eine Schmalfilmkamera stand, erschien der Film lange bevor sich ein größerer Kreis an Konsument*innen überhaupt ein solches Gerät leisten konnte. Somit ging es den Werbefilmern nicht darum, die Nachfrage foto-optischer Konsumwaren anzukurbeln, die auch nur selten in den Schaufenstern standen, sondern über den Gebrauch einer modernen Bewegtbildtechnologie das sozialistische Gesellschaftsbild mit positiven Lebensgefühlen zu verknüpfen. Damit unterschied sich Sommer, Sonne, AK 8 dezidiert von späteren Werbemitteln, die im Rahmen einer stärker ausdifferenzierten Freizeit- und Konsumkultur und einer internationalisierten Werbeindustrie entstanden. Andererseits erschien Sommer, Sonne, AK 8 in einer Zeit, als der politische Diskurs von einer stark ablehnenden Haltung gegenüber Werbung geprägt war, die als ‚Relikt des Kapitalismus‘ kritisiert wurde. Werbung als ökonomisches Instrument der Bedarfslenkung wurde offen in Frage gestellt.8 Stattdessen wurden die wichtigsten Funktionen von Werbung im Sozialismus darin gesehen, Vertrauen in das neue
4 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: DEFA-Studio für Dokumentarfilme – Dramaturgie, Exposé und Szenarium zu „Sommer, Sonne, AK 8“ (Arbeitstitel) vom 19.7.1956. 5 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: DEFA-Studio für Dokumentarfilme – Dramaturgie, Exposé und Szenarium zu „Sommer, Sonne, AK 8“ (Arbeitstitel) vom 19.7.1956. 6 Baudrillard, Jean: Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Hrsg. von Kai-Uwe Hellmann u. Dominik Schrage. Wiesbaden 2015. S. 41. 7 Baudrillard, Die Konsumgesellschaft (wie Anm. 6), S. 41. 8 Vgl. Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig 2003. S. 218–219.
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Gesellschaftsmodell zu schaffen und die Erfolge der Staatsführung sichtbar zu machen. Werbung sollte die Konkurrenzfähigkeit mit und zugleich die Abgrenzung von westlichen Konsumgesellschaften untermauern. Daneben hatte sie Kund*innen über neue Produkte zu informieren. Hierin lag auch ein Kernargument jener, die die Präsenz von Werbung in der DDR rechtfertigten: Mit Werbung ließe sich der Verbrauch der Bevölkerung gezielter steuern und somit die planwirtschaftlichen Vorgaben noch erfolgreicher umsetzen.9 Doch war Sommer, Sonne, AK 8 überhaupt ein Werbefilm? Auf diese Frage geben zeitgenössische Quellen widersprüchliche Antworten, denn das Feld ostdeutscher Werbeproduktionen in den 1950er Jahren war noch nicht zentralisiert und relativ heterogen. Neben privaten Filmproduzent*innen konkurrierten das Werbefilmstudio der Deutschen Werbe- und Anzeigengesellschaft (DEWAG) sowie verschiedene Betriebe der DEFA (Deutsche Film AG), u. a. das Studio für Wochenschauen und Dokumentarfilme, um die Aufträge der zumeist aber nicht ausschließlich staatlichen Betriebe. Während Sommer, Sonne, AK 8 in einer Rezension der Film für Alle als „Werbefilm“10 bezeichnet wurde, kategorisierte ihn das Staatliche Komitee für Filmwesen als „Dokumentarfilm“11, weil er vom VEB DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme produziert worden war. Diese begriffliche Ungenauigkeit lässt sich sowohl auf die öffentliche Kritik an Werbung im Sozialismus zurückführen, aber auch auf die nur rudimentär ausgebildeten Strukturen einer Werbeindustrie nach der Kriegs- und Besatzungszeit. So hatten sich der Regisseur Helmut Schneider und Autor Rolf Schnabel vor Sommer, Sonne, AK 8 besonders durch propagandistische Kurzdokumentarfilme profiliert und ihr Handwerkszeug u. a. bei der als Augenzeugen bekannten DDR-Wochenschau erlernt. Ausgebildete Werbegestalter waren beide nicht.12 Dass dies damals repräsentative Berufsbiografien waren, zeigt sich etwa am ersten Leiter der Redaktion Werbefernsehen beim Deutschen Fernsehfunk (DFF) Hans Lockhoff. Dieser war vor Antritt seiner Leitungsfunktion bei der Filmabnahme in der Abteilung Agitation des Zentralkomitees (ZK) der SED tätig und betreute dort die DEFA-Wochenschauen.13 Um 1956 einen solchen Werbefilm überhaupt produzieren zu können, bedurfte es jedoch der staatlichen Zulassung und Lizenz durch die Hauptverwaltung Film (HV Film) im Ministerium für Kultur. Dies war die zentrale Kontrollinstitution, über deren Placet oder Ablehnung die Inhalte
9 Vgl. Gries, Produkte als Medien (wie Anm. 9), S. 215 u. S. 583. 10 Vgl. Film für Alle, 2/1957, S. 48–49. 11 Bundesarchiv (BArch): DR 1/Z/4149: Protokoll Nr. 0500/56 vom 4. Oktober 1956. 12 Zur Filmografie von Helmut Schneider siehe: www.filmportal.de/person/helmut-schneider_f22b886265bb4e2e81ad85f43c761019 [Zugriff: 19.09.2019]; Zur Filmografie von Rolf Schnabel siehe: https://www.filmportal.de/person/rolf-schnabel_7ba46abcd15c439a961797e0878dd6be [Zugriff: 19.09.2019]. 13 Vgl. Tippach-Schneider, Simone: Tausend Tele-Tips. Das Werbefernsehen in der DDR 1959 bis 1976. Berlin 2004. S. 53.
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der (Werbe-)Filme reguliert wurden. Sommer, Sonne, AK 8 war zwar ein Werbefilm, der jedoch eine klare politische Botschaft an sein Publikum überbringen sollte, auf die die Kulturfunktionäre schon im Vorfeld der Produktion achteten. Der Film entstand also in einem widersprüchlichen Umfeld, denn Werbung im Staatssozialismus sollte allenfalls informieren, nicht verführen, und war dennoch eine „Quelle des Vergnügens“14. Die Gestalter*innen sollten sozialistische Leitbilder aufgreifen und gleichzeitig auf die Erfahrungswelt der Konsument*innen zurückgreifen, jenem „kommerziellen Realismus“15, der eine vorstellbare Wirklichkeit in der Werbung simuliert, obwohl es kaum Kameras in den Geschäften gab. Diese Widersprüche gilt es nun zu untersuchen. Im Folgenden wird ausgeführt, mit welchen symbolischen Bedeutungen die Werbefilmenden eine Bewegtbildtechnologie verknüpften, die schon seit über zwanzig Jahren existierte. Was genau bewarb eigentlich Sommer, Sonne, AK 8? Welche Zielgruppen adressierte der Werbefilm mit seinen sieben Episoden und welche gesellschaftlichen Brüche vermitteln sich dadurch in dem noch jungen sozialistischen Land? Inwiefern ist Sommer, Sonne, AK 8 auch Ausdruck einer Professionalisierung der Werbebranche in einem Gesellschaftssystem, in dem Werbung seiner wichtigsten Aufgabe entledigt sein sollte: Kaufanreize gegenüber einer Konkurrenz schaffen? Zunächst wird der öffentliche Diskurs über die AK 8 jenseits von Sommer, Sonne, AK 8 dargestellt. Daraufhin schildert der Aufsatz anhand von Produktionsunterlagen, welche Ideen die Autoren kommunizieren wollten. Weiterhin wird aufgezeigt, wie die Protagonist*innen der sieben Episoden kollektive Ideale oder Stereotype repräsentierten. Abschließend wird der Rezeptionskontext beleuchtet, der verdeutlichen soll, wie der Werbefilm auch auf das westliche Ausland ausgerichtet war.
„Jeder filmt mit der AK 8“ – Die Popularisierung einer sozialistischen Konsum- und Medienpraxis Nachdem der VEB Zeiss Ikon am 17. September 1953 den Auftrag erhielt, das ambitionierte „8 mm-Programm“ der DDR zu starten, sollten zunächst 29 000 AK 8-Kameras produziert werden. Somit erhielt der Kamerabetrieb genau drei Monate nach dem gewaltsam niedergerungenen Aufstand vom 17. Juni 1953 grünes Licht für ei-
14 Maase, Kaspar: Massenmedien und Konsumgesellschaft. In: Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt u. Claudius Torp. Frankfurt a. M. u. New York 2009. S. 63. 15 Goffman, Erving: Geschlecht und Werbung. Frankfurt a. M. 1981. S. 61.
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nen Produktionsprozess, der 1951 zaghafte Anfänge genommen hatte.16 Doch erst mit den Protesten vom 17. Juni gegen die schlechte Versorgung insbesondere von Konsumgütern und die wirtschaftspolitische Priorisierung der Schwerindustrie lenkte die SED-Führung zu ihrem ‚Neuen Kurs‘ ein. Mit dem anschließenden Ausbau der Konsumgüterindustrie sollte sich nun auch der Lebensstandard der breiten Bevölkerung verbessern. Für diese Kurskorrektur bedurfte es neuer Symbole: Die Förderung der AK 8 selbst wie auch der sie bewerbende Film Sommer, Sonne, AK 8 können somit als Zeichen einer Konsumpolitik in der DDR gelesen werden, die sich stärker auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ausrichtete. Ab Februar 1954 wird das „neue Filmgerät“17 in der Presse angekündigt. Im Januar 1956 erscheint die neuaufgelegte Amateurfilmzeitschrift Film für Alle mit einer jungen AK 8-Filmerin auf dem Titelblatt ihrer ersten Ausgabe (Abbildung 1).
Abb. 1: Film für Alle. Zeitschrift für das Amateur-Filmschaffen, Januar 1956
Gleich auf den ersten zwei Seiten berichtete das Magazin über den Freundschaftsbesuch einer DDR-Regierungsdelegation in die Volksrepublik China. Doch nicht diplomatische Gespräche mit dem ebenfalls noch jungen kommunistischen Land in Asien dienten als Aufmacher, sondern dass Ministerpräsident Otto Grotewohl während der Reise mit einer AK 8 Sehenswürdigkeiten wie den goldenen Löwen im ehemali-
16 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD): 11591 Kombinat VEB Pentacon Dresden Nr. 146. Vorgängerbetriebe – VEB Zeiss Ikon Dresden: „Programm 8 mm“ vom 21.09.1953, S. 92–94. 17 Vgl. Berliner Zeitung (3. Februar 1954), S. 7.
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gen Kaiserpalast filmte.18 Der Bericht transportierte damit eine zentrale Botschaft der AK 8: Die Bevölkerung der DDR und die sozialistische Staatsführung betreiben das gleiche Hobby mit dem gleichen technischen Gerät. Gehörte die Auflösung sozialer Distinktion zu den propagierten Zielen des Sozialismus, so wurde die AK 8 zum Boten dieses gesellschaftlichen Wandels. Dies zeigt sich auch in weiteren Berichten: Die AK 8 wurde von Pionier*innen für gestaltete Kurzfilme genutzt;19 das Pressefoto von der Endmontage einer AK 8 durch eine Feinmechanikerin verweist auf die Ikonografie sozialistischer Arbeiterfrauen.20 Zeitgenössische Broschüren und Werbeanzeigen popularisierten die AK 8 über Jahre mit sich ähnelnden Werbesprüchen: „Jeder filmt mit der AK 8“21 oder „Jeder ist sein eigener Regisseur“22. Die Werbepublikationen beschrieben die Aufnahmekamera häufig als sehr einfach zu bedienen: „AK 8 – ein Druck auf den Knopf und ein Blick durch den Sucher – mehr brauchen Sie nicht, denn die Konstruktion dieser 8 mm-Schmalfilmkamera ist so einfach, dass Sie gute Filmstreifen drehen können, ohne sich mit allzu viel Technik zu belasten.“23 Hinter diesen Slogans über „die kleine nette AK 8“24 verbarg sich jedoch mehr als nur die Vermittlung eines technisch einfachen Gerätes, um möglichst viele potentielle Käufer*innen zu adressieren. Vielmehr brachten die Werbetexter*innen damit zum Ausdruck, dass anders als in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, jeder – unabhängig von Klasse oder Milieu – Zugang zu dieser Technologie bekam. Die Schmalfilmkamera als Zeichen eines verbesserten Konsumangebotes war auch die Kernaussage eines Berliner Schaufensterspruchs im Jahre 1957: „Besser leben durch praktische Geräte, die Freude bereiten“25. Doch eine AK 8 für jedermann kostete 286,- DM, zur damaligen Zeit der Monatslohn einer ganzen Familie. In einer Phase, in der es noch Essensmarken gab, war die Aufnahmekamera also kaum bezahlbar. Erste statistische Erhebungen ab 1957 zeigen, dass in diesem Jahr auch nur 5 100 Schmalfilmkameras im Angebot waren.
18 Vgl. Film für Alle 1/1956, S. 1–2. 19 Vgl. Film für Alle 3/1956, S. 37. 20 Vgl. BArch-Bildarchiv: Bild 183-61232-0001. „Die Feinmechanikerin Cornelia Bode bei der Endmontage der Schmalfilmkamera AK 8“ (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst/Zentralbild – 05. Januar 1959). 21 Berliner Zeitung (3. Februar 1954), S. 7; Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR – Eisenhüttenstadt (EHST-DOK): Broschüre der VEB Kinowerke Dresden „Jeder filmt mit der AK 8“ (1957); Deutsches Filmmuseum Potsdam (DFMP): Broschüre VEB Kinowerke Dresden für die AK 8 „Jeder filmt mit der AK 8“ (1958). 22 Berliner Zeitung (23. August 1955), S. 6. 23 Privatbesitz: Broschüre der VEB Kamera- und Kinowerke Dresden „Selbst filmen … selbst vorführen“ (1961). 24 Privatbesitz: Broschüre der VEB Kamera- und Kinowerke Dresden „Selbst filmen … selbst vorführen“ (1959). 25 Vgl. Neue Werbung 7/1957, S. 26.
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Sollte sich die Anzahl ein Jahr später auf 10 400 Kameras mehr als verdoppeln, stagnierte das Angebot in den folgenden Jahren jedoch, weil andere technische Konsumgüter wie Waschmaschinen oder Fernseher für die Bevölkerung und damit auch für die Staatsführung größere Priorität hatten.26 Trotz der geringen Angebotslage zielten ostdeutsche Marktforscher*innen mit ihren Prognosen auf einen vergleichbaren Verbrauch wie in der BRD oder den USA. Doch während 1961 in den USA fast elf Prozent der Haushalte über eine Schmalfilmkamera verfügten, waren es in der DDR 1963 gerade einmal ein Prozent der Haushalte. Darunter fanden sich auch keine Bauern, sondern Angestellte, Verteter*innen der ‚Intelligenz‘ und privilegierte Industriearbeiter*innen.27 Anders als es Sommer, Sonne, AK 8 schildern sollte, war Schmalfilmen in den 1950er Jahren ein Luxus, der die sozialen Unterschiede im Sozialismus sogar noch verstärkte. Die heikle Frage des Preises, die kein einziges Mal erwähnt wird, umschifft Sommer, Sonne, AK 8, indem der Film eine neue Konsumpraxis präsentiert, die auch als roter Faden die unterschiedlichen Protagonist*innen verbindet: Die Kamera wird nicht gekauft, sondern ausgeliehen. Hier vermischten sich ideologische Ansprüche mit realer Unterversorgung. Die Leute sollten nur das konsumieren, was sie wirklich brauchten. Und so gab es landesweit Ausleihdienste von Haushalts- und Freizeitgeräten u. a. für Schmalfilmkameras. Im Verleihsystem sah man die Vorteile darin, Geld zu sparen und bei Verschleiß, das Gerät nicht auf eigene Kosten zu reparieren. Allerdings, und davon erzählt Sommer, Sonne, AK 8 ebenfalls nicht, konnte sich gerade bei Schmalfilmapparaturen das Ausleihprinzip nicht durchsetzen. Einerseits boten Ausleihdienste gerade einmal 27 Schmalfilmkameras für die gesamte DDR an. Andererseits wurde nur die Hälfte der Kameras überhaupt entliehen.28 Hieran werden zwei Grundkonflikte der Planwirtschaft deutlich: Wenn Werbung etwas verspricht, das im Alltag gar nicht gehalten werden kann, muss sich das negativ auf die Staatsführung auswirken. War die AK 8 einmal ausgeliehen für einen zweiwöchigen Ostseeurlaub, konnte der nächste Interessent schon leer ausgehen. Zweitens lässt sich aus den geringen Ausleihzahlen lesen, dass der Bedarf der Bevölkerung ein anderer war, als es Ökonomen geplant hatten. Letztlich war es auch in der DDR
26 Bundesarchiv (BArch): DL 102/136: Institut für Bedarfsforschung – „Einschätzung der langfristigen Entwicklung des Bevölkerungsbedarfes nach Fotoapparaten, Kinoaufnahmegeräten sowie Foto- und Kinofilmen mittels Aufarbeitung von rationellen Verbrauchsnormen“ (Teilstudie zum Forschungsauftrag Nr. 3/63/5/20) vom Dezember 1963, Tabelle 1: „Die Entwicklung der Warenbereitstellung für die Bevölkerung an Fotoapparaten und Kinoaufnahmegeräten von 1952 bis 1962 in der DDR.“ 27 Der Marktforschungsbericht verweist bei der Haushaltsausstattung in den USA auf den Annual Statistical Report [of] the photographic industry in the United States (1961), S. 16, 18 u. 20. Vgl. Bundesarchiv (BArch): DL 102/136 (wie Anm. 26), S. 1, S. 10. 28 Vgl. Bundesarchiv (BArch): DL 102/136 (wie Anm. 26), S. 27–28.
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der Anspruch der Konsument*innen, eine eigene Kamera zu besitzen, um damit im Urlaub die persönlichen Erlebnisse festzuhalten. Dennoch zeigt sich, dass die AK 8 im öffentlichen Werbe- und Amateurdiskurs mehr war, als nur ein Bewegtbildmedium, wie ein Blick in die Produktionsunterlagen ergibt.
„Unser Leben ist schöner geworden!“ – Die Idee für einen Werbefilm Nicht nur dem Filmtitel ist zu entnehmen, dass die Filmemacher den Zuschauer*innen leichte Unterhaltung versprachen, sondern auch im Exposé betonten sie: „Dieser Film soll die fröhliche Unbeschwertheit, den Optimismus und die Lebensfreude widerspiegeln, mit der die Menschen unserer Republik ihre Urlaubstage verbringen.“29 Dieser Anspruch muss einmal mehr in Bezug auf die Entstehungszeit des Werbefilms verstanden werden, denn 1956 war es für weite Teile der Bevölkerung noch nicht einmal möglich, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. In einer Phase, die Ina Merkel als „Bedarfsdeckungsgesellschaft“30 periodisierte, waren Lebensmittel noch rationiert und der Zugang zu Wohnraum und Kleidung erschwert. Doch der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 fand drei Jahre später seinen Widerhall in dem Exposé für Sommer, Sonne, AK 8: „Der Lebensstandard unserer Bevölkerung ist höher als früher. Heute fahren Menschen in die Ferienheime, die früher nicht von einer Reise zu träumen wagten. […] Unser Leben ist schöner geworden!“31 Davon erzählt auch eine Szene, die der Film gar nicht zeigte, im Exposé aber ursprünglich noch geplant war. In dem vorab erstellten Szenarium hatten die Autoren folgende Idee am Ostseestrand entwickelt: „Man sieht sie [eine Kamerabesitzerin und ihren Begleiter] […] und nun findet sie wirklich jemand, den sie fehlerlos filmen kann: Ein Volkspolizist, der am Strand (wie es leider der Wirklichkeit entspricht) mit umgehängten Gewehr Küstenwache hält. Den filmt sie nun wirklich und [er] teilt ihnen zum Schluß dienstlich mit, daß hier im Küstengrenzgebiet natürlich nicht gefilmt werden darf. ‚Das Wasser ist geheim!‘.“32
29 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: DEFA-Studio für Dokumentarfilme – Dramaturgie, Exposé und Szenarium zu „Sommer, Sonne, AK 8“ (Arbeitstitel) vom 19.7.1956. 30 Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln [u. a.] 1999. S. 310–312. 31 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: DEFA-Studio für Dokumentarfilme – Dramaturgie, Exposé und Szenarium zu „Sommer, Sonne, AK 8“ (Arbeitstitel) vom 19.7.1956. 32 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: Exposé und Szenarium zu „Sommer, Sonne, AK 8“ (Arbeitstitel) vom 19.7.1956.
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Diese Episode passte den Produzent*innen der DEFA jedoch nicht in das Konzept, „Optimismus“ und „Lebensfreude“ zu vermitteln. Ein Grenzgebiet und ein mahnender Volkspolizist wirkten dem deutlich entgegen, verwiesen sie doch allzu sehr auf die deutsch-deutsche Teilung und staatliche Bevormundung. Die Szene musste gestrichen werden: „Auf keinen Fall darf die Szene mit dem Volkspolizisten gedreht werden.“33 Gerade weil die Lebensbedingungen 1956 noch schwierig waren, sollte der Film transportieren, dass sich die Verhältnisse sichtbar verbesserten und die Menschen, dank des wachsenden Wohlstandes, wieder mehr Zeit und Raum für private Vergnügungen hätten. Deshalb bewarb der Film die AK 8 nicht ausschließlich, wie in späteren Werbeformaten, als Erinnerungsmedium familialer Praktiken, sondern auch als Dokumentationsinstrument eines neuen Lebensgefühls. Die Bilder und Episoden müssen daher zu diesem Zeitpunkt als Versprechen gedeutet werden, dass Wohlstand für viele Menschen bald schon Realität sein würde. So ist auch zu erklären, dass Sommer, Sonne, AK 8 nicht eine Personengruppe abbildet, sondern in 18 Minuten sieben Urlaubsepisoden sehr unterschiedlicher Personen erzählt. Diese stellen Typen dar, die ungleicher nicht sein könnten: ein älterer Anfänger im Erzgebirge, ein ambitionierter Amateur im Schrebergarten, ein Paar auf Paddeltour, eine junge Frau an der Ostsee, ein Arbeiter im Betrieb, ein Familienvater im Park und ein junges Paar im Vergnügungspark. Was sie verbindet, ist die ausgeliehene AK 8, die zwischen diesen Episoden von den Filmer*innen im HO-Fotofachgeschäft abgeholt und am Ende jeder Episode zurückgebracht wird. Diese dramaturgische Entscheidung, die Leih-AK 8 als verbindendes Element heterogener Figuren zu präsentieren, vermittelte auch das Versprechen des Sozialismus, dass jeder, unabhängig von Milieu, Beruf, Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft, in der DDR Urlaub machen und dies auf 8 mm festhalten könne. Die Dramaturgie des Films griff somit auch den Werbeslogan der AK 8-Broschüren auf: „Jeder kann filmen!“ Wofür stehen nun die einzelnen Episoden und Typen?
Amateurfilmdiskurs Die erste Episode begleitet jenen älteren Mann in Anzug und Hut, der zu Beginn des Werbefilms die AK 8 durch das Schaufenster entdeckt hatte. Er betritt das Geschäft und eine Verkäuferin reicht ihm zunächst das Schmalfilm-Lehrbuch (1952) von Maryan V. Hotschewar und Richard Groschopp. Nach einem kurzen Blick in den Ratgeber bestellt er zur Kamera noch Stativ, Filme und Blenden. Die emsige Verkäuferin
33 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: Stellungnahme der Abteilung Dramaturgie des Defa-Studio für Dokumentarfilme vom 23.7.1956.
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stellt in höchster Geschwindigkeit alles auf den Tresen. Damit ausgerüstet erprobt er das Gerät in der sanft hügligen Landschaft des Erzgebirges (Abbildung 2). Immer wieder macht er Anfängerfehler, etwa dass er das Panorama schräg filmt oder Kühe vor der Kamera nicht so agieren wollen, wie er es plant und aus dem Bild traben. Der Sprecher kommentiert das ungeschickte Geschehen ironisch: „Na, na, immer schön gerade gehalten, die Kamera. Auch im Erzgebirge. So, wie es im Lehrbuch steht.“ Das Schmalfilm-Lehrbuch, an dem er sich orientiert, war der erste Ratgeber dieser Art in der DDR und eine Überarbeitung von Hotschewars Der Schmalfilm-Amateur (1944). Mit dem Publikationsjahr 1952 fällt die Veröffentlichung des Ratgebers sogar noch vor den eigentlichen Produktionsbeginn der AK 8, so dass sich der Ratgeber zunächst an Besitzer*innen von Schmalfilmkameras aus der Vorkriegszeit richten musste. Dies erklärt auch, dass das Buch frei ist von ideologischen Phrasen und in erster Linie technische Instruktionen bietet, etwa zur Mechanik und Optik der Kameras, Filmmaterial oder Belichtungsmesser, Filmentwicklung, Montage oder Projektion.34 Der dilettantische Umgang mit der Kamera des, wie es im Szenarium heißt, „bürgerliche[n] Spießer[s]“35, verweist auf den Amateurfilmdiskurs der 1950er Jahre. Demnach kritisierten Ratgeberpublikationen den „Einzelamateur“ gegenüber dem sozialistischen Produktionskollektiv der Amateurfilmstudios als Überbleibsel des Bürgertums: „Nach den alten, in der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft entstandenen Begriffen, war ein Filmamateur Schöpfer des Filmes von der Idee bis zum Schnitt und zur Vertonung.“36 Um diese Kritik wenige Jahre später noch zu verstärken, problematisierten Ratgeberautoren das individuelle, private Schmalfilmen durch den amerikanischen Begriff des „Hobbies“. Damit diente das planlose Filmen in der Freizeit als Antithese zum anspruchsvolleren Amateurfilmschaffen: „Dem ‚Hobby‘, in Verbindung mit der Schmalfilm-Liebhaberei, haftet einfach die Bedeutung des Ziellosen, Ungewichtigen und Unverbindlichen an.“37 Dieser Diskurs verdichtete sich nun in der Figur des älteren Laien mit der Kamera. Ähnlich verhält es sich mit dem Typenporträt in der zweiten Episode. Hier betritt ein mondäner Künstler mit Pfeife, Baskenmütze und Halstuch das HO-Geschäft. Mit der AK 8 ausgerüstet will der konsequente Mann im Schrebergarten der „Kolonie Waldlust“ den Geburtstag von Tante Luzie filmen (Abbildung 3). In allem scheint er als überpenibler Perfektionist. Unsensibel dirigiert er Luzies Gäste durch den Garten, der gedeckte Tisch muss umgestellt werden, sodass ein Hund unbe-
34 Vgl. Hotschewar, M. V.: Das Schmalfilm-Lehrbuch. Bearb. v. Richard Groschopp. 1. Aufl. Halle/ Saale 1952. 35 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: Exposé und Szenarium zu „Sommer, Sonne, AK 8“ (Arbeitstitel) vom 19.7.1956. 36 Film für Alle, 4/1960, S. 99. 37 Film für Alle, 1/1959, S. 3.
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merkt den Kuchen naschen kann. Auf einer Leiter versucht er das Geschehen aus der Vogelperspektive einzufangen. Sogar ein Baum wird abgesägt, um die ideale Kameraposition für das Panorama zu finden. Dabei dauert alles so lange, dass nicht nur die Gäste missmutig dreinschauen, sondern es mittlerweile auch zu dunkel für das Filmmaterial geworden ist. Anders als in der ersten Episode wird nun ein ambitionierter Amateur humoristisch-überspitzt dargestellt, der sein Handwerk schon zu kennen scheint. Doch arbeitet auch er allein und hat kein Filmteam um sich geschart. Erst mit dem ‚Bitterfelder Weg‘ geriet die kulturpolitische Förderung der Arbeiter*innen ins Blickfeld, die zur regelmäßigen Teilnahme kultureller und künstlerischer Angebote aufgefordert wurden. Nicht allein zuhause mit der Familie sollte man nun filmen, sondern mit den Kolleg*innen im Betriebsfilmstudio.38 „Der Film verlangt das Kollektiv“39, hieß es in einem Ratgeber der frühen 1960er Jahre. Bis zu dieser „Kulturrevolution von oben“40 waren es jedoch noch drei Jahre und so entstand Sommer, Sonne, AK 8 in einer kulturpolitisch weniger restriktiven Phase, die ambitionierte wie auch laienhafte Einzelfilmer*innen zwar parodierte, aber nicht kritisierte, und keine klare ideologische Haltung einnimmt. Schließlich wollte man mit dem Film die Bevölkerung gewinnen und nicht durch Kritik vergraulen. Dies vermittelt sich auch dadurch, dass der Amateur nicht betriebliche Abläufe dokumentiert, sondern die Geburtstagsgesellschaft im Schrebergarten filmt, die mit Kuchen und Porzellangeschirr etwas spießig daherkommt. Mit dem Fällen des Gartenbaumes brachen die Filmermacher das kleinbürgerliche Ideal eines naturnahen Erholungsraumes humoristisch auf. Zwar wurde diese Form der Freizeitkultur in den 1950er Jahren als bürgerlicher Individualismus kritisiert, doch der Werbefilm zeigte eben, dass diese Aktivitäten auch in der DDR legitim waren. Erst ab den 1970er Jahren wandelte sich diese Deutung. Da war der Schrebergarten mit der Erzeugung von pflanzlichen und tierischen Produkten mittlerweile auch volkswirtschaftlich relevant geworden.41
38 Vgl. Forster, Ralf: Greif zur Kamera, gib der Freizeit einen Sinn. Amateurfilm in der DDR. München 2018. 39 Hölzel, Günter u. Günther Sterz: Wir wollen filmen! Halle/Saale 1963. S. 9. 40 Dietrich, Gerd: Kulturgeschichte der DDR. Bd. II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976. Göttingen 2018. S. 811. 41 Vgl. Dietrich, Isolde: Laubenpiepervergnügen. In: Vergnügen in der DDR. Hrsg. v. Ulrike Häußer u. Marcus Merkel. Berlin 2009. S. 361–372; Rudolph, Hermann: Der Schrebergarten. In: Deutsche Erinnerungsorte Bd. 3. Hrsg. v. Etienne François u. Hagen Schulze. München 2001. S. 363–379; Tippach-Schneider, Simone: „Blumen für die Hausgemeinschaft“. Kollektivformen in der DDR – ein Überblick. In: Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR. Hrsg. v. Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR e. V. Berlin 1999. S. 243–255.
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Abb. 2–4: Sommer, Sonne, AK 8 (DDR 1956)
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Geschlechterrollen In der dritten Episode macht eine junge Frau mit der Aufnahmekamera einen Ausflug an die Ostsee. Während ihrer Spaziergänge durch ein Seebad taucht immer wieder ein sportlicher, junger Mann mit freiem Oberkörper auf, der sie verfolgt, sich ins Bild stellt und ihr schließlich sogar die Kamera aus der Hand nimmt. Seine aufdringlichen Annäherungsversuche scheinen zu gelingen, denn am Ende der Episode picknicken beide in den Dünen, bis sie vom Dünenwart verscheucht werden (Abbildung 4). In der jungen Frau mit Badeanzug am Meer, mal hinter der Kamera, mal davor, verdichten sich zwei populäre Stereotype, die sich auch in anderen Werbeformaten für Schmalfilmapparaturen finden lassen. Da ist zum einen die Figur der Badenixe, die sich von den 1950er Jahren bis zum Ende der DDR-Werbung Mitte der 1970er Jahre belegen lässt: schlanke Frauen in Badeanzügen, die sich lächelnd oder mit kokettierendem Blick am Strand aufhalten. Sie sonnen sich in den Dünen oder auf einer Luftmatratze, lesen in einer Illustrierten oder lassen sich von schäumenden Wellen umtosen.42 Mit der Reduzierung auf ihre weiblichen Reize griffen die Macher auf tradierte Werbestrategien aus den 1920er und 1930er Jahren zurück, die den politisch geforderten Leitbildern der emanzipierten ‚Arbeiterin‘ oder selbstbewussten ‚Traktoristin‘ eindeutig widersprachen.43 Stattdessen transportierte sich mit ihren koketten Blicken, der leichten Bekleidung und den häufig liegenden Positionen der weibliche Körper als Konsumprodukt, eine Entwicklung, die auch international ab den 1950er, verstärkt noch in den 1960er Jahren zunahm und Konsum mit Sexualität verknüpfte. In der letzten Episode von Sommer, Sonne, AK 8 kommt die Schmalfilmkamera sogar beim Spannen zum Einsatz, als ein Mann vergeblich versucht, eine sich entkleidende Frau hinter einem Strandkorb zu filmen. Nicht zufällig bewarb der Werbefilm hier Frauen als Objekte eines männlichen Blicks, denn es waren auch in der DDR meist Männer, die Schmalfilmapparaturen kauften.44 Doch die junge Frau am Ostseestrand steht in der dritten Episode auch hinter der Kamera und repräsentierte damit den prominentesten Frauenbildtypus in der Werbung für Schmalfilmapparaturen. Obwohl in erster Linie Männer filmten, zeig-
42 Deutsches Filmmuseum Potsdam (DFMP): Broschüre des VEB Filmfabrik Agfa Wolfen für Agfacolor-Filme (1954); Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR – Eisenhüttenstadt (EHST-DOK): Broschüre der Brillant-Leinwand (kein Datum). 43 Vgl. Kaminsky, Anna: Frauen in der DDR. Berlin 2016. S. 139–148; Tippach, Simone: Nymphenbad oder Wäschtrog? Exkurs zur Werbung in den fünfziger Jahren. In: … und Du, Frau an der Werkbank. Hrsg. v. Ina Merkel. Berlin: 1990. S. 130–131. 44 Vgl. Eitler, Pascal: Sexualität als Ware und Wahrheit: Körpergeschichte als Konsumgeschichte. In: Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch. Hrsg. v. Heinz-Gerhard Haupt u. Claudius Torp. Frankfurt a. M. u. New York 2009. S. 371.
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ten Werbefilme, -prospekte und -anzeigen meist Frauen mit einer Schmalfilmkamera.45 Dieses Motiv lässt sich auf das ‚Kodak-Girl‘ zurückführen, einer Werbekampagne der amerikanischen Firma Eastman-Kodak, die Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls mit mondänen, jungen Frauen warb, welche allein durch die Welt reisten und immer eine Kodak-Kamera in der Hand hielten. Eastman-Kodak verknüpfte sehr erfolgreich das Bild unabhängiger Frauen mit seiner innovativen Kamera als modernes Produkt.46 Dieses Motiv der filmenden Frau schien sich widerspruchslos in das sozialistische Geschlechterbild der emanzipierten, technisch versierten DDR-Frauen einzufügen. Letztlich verbargen sich jedoch hinter diesem idealisierten Frauenbild diskriminierende Geschlechterstereotypen, demnach die Gerätschaften so einfach wären, dass sogar Frauen sie bedienen könnten. Der Werbediskurs schrieb dem weiblichen Geschlecht also technische Unzulänglichkeiten zu, um die Werbebotschaft unmissverständlich zu machen: Die Apparaturen sind unkompliziert. Dies war ein wichtiges Erfolgsrezept für den Vertrieb als Massenprodukt. Noch 1971 nutzte eine Werbekampagne für die Super 8-Kamera Aurora dieses Stereotyp und warb mit einer filmenden Frau und dem Slogan: „Super einfach mit Super 8“.47 Insbesondere durch den seriellen Vergleich mit Figurationen von Männlichkeit im Werbediskurs wird diese Geschlechterstereotypisierung prägnant. Deren Umgang mit der Kamera wird z. B. mit chirurgischen Begriffen als besonders präzise dargestellt.48 Visuell transportierte sich die technische Versiertheit durch professionelle Posen. Anders als Frauen, die meist die Kameras nur in der Hand halten, ohne sie zu bedienen, werden Männer beim Filmen mit zugekniffenem Auge dargestellt.49 So betritt in der fünften Episode ein stämmiger Repräsentant der Arbeiterklasse mit Schiebermütze das HO-Geschäft. Zwar hatte die Szenarienkommission der DEFA Humor als legitimes Stilmittel für die Grundstimmung von Sommer, Sonne, AK 8 bestätigt, allerdings unter der Prämisse, dass „die Werktätigen, die sich eine AK 8 ausleihen, dem Zuschauer als sympathische Menschen erscheinen und dass sie demzu-
45 Deutsches Filmmuseum Potsdam (DFMP): Bedienungsanleitung der Pentaka 8 (undatiert); Broschüre „Filmen muß man“ des VEB Zeiss Ikon für die AK 8 (1953); Broschüre für die AK 8 „Jeder filmt mit der AK 8“ (1958); Broschüre der VEB Kamera- und Kinowerke Dresden „Selbst filmen … selbst vorführen“ (1959); Anzeige für die AK 8 in der Film für Alle 3/1958, unpag.; Anzeige für die Pentaka 8 in der Film für Alle 1/1959, unpag.; Anzeige für Agfa-Schmalfilm der VEB Filmfabrik Agfa Wolfen in der Film für Alle 4/1959, unpag. 46 Nordström, Alison u. John P. Jacob: KODAK GIRL. From the Martha Cooper Collection. Göttingen 2011. S. 64–71. 47 Deutsches Institut für Animationsfilm e. V. (DIAF): Werbefilm „Super einfach mit Super 8“ (1971); Anzeigen für die Super 8-Kamera Aurora super aus dem FOTOKINO-magazin 7/1972, unpag.; Neues Deutschland (11.10.1971), S. 6; Neues Deutschland (16.11.1971), S. 5; Neues Deutschland (13.11.1972), S. 6; Neue Zeit (27.12.1972), S. 6. 48 Anzeige des VEB FILMFABRIK Agfa-Wolfen im FOTOKINO-magazin 1/1963, unpag. 49 Anzeige für die AK 16 des VEB Zeiss Ikon in der Film für Alle 6/1957, unpag.; DFMP: Broschüre für die Pentaflex (1963), unpag.
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folge nicht verlacht werden dürfen“.50 Sein Auftreten wirkt daher besonders energisch und bestimmt. Doch anstatt im Urlaub aufs Land zu reisen, nutzt die Arbeiterfigur seine freie Zeit für einen Spaziergang durch die Stadt (Abbildung 5). Erst filmt er eine Baustelle, auf der fleißig gearbeitet wird und sich den Zuschauer*innen zeigt, dass der Aufbau des Landes auch während der Ferienzeit nicht zum Erliegen kommt. Danach sucht er seinen Betrieb auf. Von einem Geländer aus hat er freie Sicht und kann in verschiedene Büros oder Werkstätten filmen. Die Szene erinnert stark an Alfred Hitchcocks Fenster zum Hof (1954), denn mit der Kamera kann der Arbeiter unbemerkt das Geschehen in den gegenüberliegenden Räumlichkeiten beobachten. Was er filmt, ist jedoch alles andere als ‚werktätig‘: Eine junge Sekretärin sonnt sich, eine ältere Dame strickt, ein Mann füllt einen Lottoschein aus und ein junger Handwerker blättert in einem Heft mit leicht bekleideten Frauen. Humorvoll kommentiert der Sprecher: „Er ist kein Schnelldreher. An seiner Bank drehen sich die Gedanken um seinen Plan: für den Sonntag.“ Besonders diese Episode ist im Hinblick auf die Intention des gesamten Werbefilms zu verstehen, denn wenn sich die ‚Werktätigen‘ während der Arbeit entspannen konnten und ihren persönlichen Interessen nachgingen, schien die sozialistische Utopie von einer besseren Gesellschaft schon erfüllt. Zeitgleich war in den frühen 1950er Jahren auch ein propagandistischer Slogan besonders populär: „So wie wir heute arbeiten, wird morgen unser Leben sein!“51 Was der Arbeiter durch die AK 8 sah, konnte als Visualisierung dieses Slogans verstanden werden: Erst filmte er die Baustelle als Symbol für den Aufbau und im Anschluss die Früchte dieser Anstrengungen. Hier war die AK 8 mehr als nur Freizeit-, Familien- und Reisemedium. Als Dokumentationswerkzeug nahm es ein utopisches Gesellschaftsbild in den Fokus und zeigte, dass der Staat die Bedürfnisse der Menschen im Blick hat. Urheber dieser prophetischen Bilder war eben nicht die Frau im Badeanzug, sondern der energetische und zielstrebige Mann. Dass die Kommission trotz des humoristischen Grundthemas die Arbeiterklasse sachlich und respektvoll dargestellt wissen wollte, lag auch daran, dass Industriearbeiter zu den wichtigsten Leitmotiven im offiziellen Bildprogramm dieser Phase gehörten. In der Malerei und Fotografie waren Typenporträts wie Brigaden oder Brigadisten vorherrschend, die auf Baustellen, vor Schmelzöfen oder in dunklen Kohleschächten arbeiteten.52 Bereits fünf Jahre später war in dem Industriewerbefilm Form und Farbe53 (1961) über den Schmalfilmprojektor PENTAX M 81 der ideali-
50 Bundesarchiv (BArch): DR 118/2059: DEFA-Studio für Dokumentarfilme – Dramaturgie, Szenarienbeschluß zu „Sommer, Sonne, AK 8“ (Arbeitstitel) vom 24.7.1956. 51 Weberin Frida Hockauf aus Neues Deutschland (3.10.1953), S. 3. 52 Vgl. Kaiser, Paul: Arbeiterlob im Kunstkombinat. Zum Wandel eines Bildprogramms in Malerei und Fotografie. In: Fotogeschichte 102 (2006). S. 9. 53 Bundesarchiv (BArch)-Filmarchiv: B 140077-1: „Farbe und Form“ (1961).
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sierte Arbeiterheld der 1950er Jahre vom Typ des „intellektualisierten Planers“54 als Symbol des ‚neuen Menschen‘ verdrängt worden. Der Kurzfilm verlegte den Mittelpunkt der Erzählung in eine Hochschule für Gestaltung und vor das Reißbrett eines Ingenieursbüros. Dieser ‚ikonografische Wandel‘55 in den Werbemitteln ging auch einher mit den ersten Erhebungen des Institutes für Marktforschung, demnach nicht „Arbeiter“, sondern „Angestellte und Intelligenz“ die sozialen Gruppen waren, die am meisten schmalfilmten.56 Zwar waren Arbeiter*innen eine zentrale Zielgruppe des Sozialismus nicht aber für Schmalfilmgeräte, denn im Alltag griffen diese weit weniger zur AK 8, gerade weil soziale Unterschiede auch in der DDR weiterhin Bestand hatten. Dies spiegelt sich auch in den tradierten Geschlechterstereotypen wieder, die letztlich dem offiziellen Frauenbild in der DDR und dem Ziel, von einer Kamera in einer neuen Zeit zu erzählen, widersprachen.
Urlaub Die vierte Episode thematisiert den Ausflug eines jungen Paares. Diesmal wird von einem Zeltplatz aus eine Rundfahrt mit dem Paddelboot gemacht (Abbildung 6). Der Mann versucht gleichzeitig zu paddeln und zu filmen, was ihm aber nicht so recht gelingen will, denn das Gerät fällt ins Wasser. Die AK 8 nimmt jedoch von dem Tauchgang keinen Schaden. Auffällig an dieser und auch den anderen Episoden von Sommer, Sonne, AK 8 ist, dass die Protagonist*innen in ihrer Urlaubzeit nur einen kleinen Mobilitätsradius nutzen: Erzgebirge, Schrebergarten, Ostsee und in dieser Episode vermutlich die Seenlandschaft in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern. Diese Orte werden ausschließlich zur Erholung aufgesucht und nicht zur Dokumentation touristischer Sehenswürdigkeiten. Sommer, Sonne, AK 8 erweist sich hier auch als Bestandteil eines Tourismusdiskures. In den 1950er Jahren sind es noch Orte auf dem Staatsgebiet der DDR, die besucht werden.57 Dies ist Ausdruck eines Jahrzehnts, in dem Reisen aufgrund fehlender Freizeit und in Ermanglung an Geld für viele kaum möglich wa-
54 Kaiser: Arbeiterlob im Kunstkombinat (wie Anm. 52), S. 6.; Vgl. Mühlberg, Dietrich u. Simone Barck: Arbeiter-Bilder und Klasseninszenierung in der DDR. Zur Geschichte einer ambivalenten Beziehung. In: Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Hrsg. v. Peter Hübner, Christoph Kleßmann u. Klaus Tenfelde. Köln [u. a.] 2005. S. 170–172. 55 Kaiser: Arbeiterlob im Kunstkombinat (wie Anm. 52), S. 8. 56 Bundesarchiv (BArch) DL 102/335: Die Entwicklung des Bedarfs an Konsumgütern der Warengruppe Foto-Kino-Fotochemie bis zum Jahre 1980 – Anlagen – Tabelle 9.8.: Ausstattung der Haushalte mit Filmkameras nach Kaufjahren, gruppiert nach der sozialen Stellung der Haupteinkommensbezieher (1968). 57 Vgl. Natlacen, Christina: Picturing Tourists in Front of Sights. In: Tourists & Nomads. Amateur Images of Migration. Hrsg. v. Sonja Kmec u. Viviane Thill. Marburg 2012. S. 70.
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ren. Erst in den 1960er Jahren erfuhr der Tourismus in der DDR einen deutlichen Aufschwung, der einherging mit internationalen Reiseangeboten des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) oder Jugendtourist und eines begrenzten jedoch stetig anwachsenden Zugangs zu PKWs, die eine individualisierte Massenmobilisierung ermöglichten. Warum aber besuchen die Protagonist*innen in Sommer, Sonne, AK 8 keine Sehenswürdigkeiten, wie dies ab den 1960er Jahren im Werbediskurs der Fall war?
Abb. 5–8: Sommer, Sonne, AK 8 (DDR 1956)
Ähnlich wie in westlichen Konsumgesellschaften war der Schmalfilm eng mit Freizeit und Tourismus verbunden. Doch Sommer, Sonne, AK 8 sollte eben auch von einer sozialistischen Reisepraxis erzählen, wo der Mensch Erholung von der Arbeit sucht und sich als neues, sozialistisches Subjekt emanzipiert.58 Diese Urlaubsform thematisiert die letzte Episode von Sommer, Sonne, AK 8. Ein junger Mann filmt im Vorgarten eines staatlichen Ferienheimes an der Ostsee, wie zunächst zwei Frauen
58 Vgl. Görlich, Christopher: Urlaub vom Staat. Tourismus in der DDR. Köln, Weimar u. Wien 2012. S. 263–264.
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und ein Mann zu Fuß anreisen, denen ein Paar mit Kind auf einer kleinen Droschke folgen. Schließlich parkt auch eine BMW-Limousine vor dem Ferienheim und der Chauffeur öffnet einer „Frau Direktor“ die Autotür. Obwohl also im Jahr 1956 immer noch soziale Unterschiede in der DDR sichtbar sind, zeigt sich dennoch der gesellschaftliche Wandel im Vollzug, denn in der Unterkunft lösen sich diese Distinktionen auf: Alle übernachten in demselben FDGB-Ferienheim. Wenn noch nicht im Alltag so sind zumindest im Urlaub alle gleich und die AK 8 macht diese sozialistische Urlaubspraxis sichtbar.
Familie War Sommer, Sonne, AK 8 während der ersten fünf Episoden in Schwarzweiß, wird der Werbefilm plötzlich farbig, als in der sechsten Episode ein Familienvater einen Farbfilm erwirbt. Die folgenden Familienereignisse erfahren dadurch farbästhetisch eine Aufwertung. Mit seiner Frau und den Zwillingskindern verbringt er seinen Nachmittag auf einem städtischen Spielplatz. Die Kinder spielen in einem flachen Becken mit kleinen Segelschiffen und Wassereimern. Immer wieder versucht der Vater unbemerkt aus unterschiedlichen Kameraeinstellungen die Szenerie einzufangen (Abbildung 7). Er versteckt sich jedoch hinter einer Fontäne, die, zur Freude der Kinder, den Vater plötzlich völlig nassspritzt. Trotz gesellschaftlicher Veränderungen blieb die glückliche Kleinfamilie aus einem heterosexuellen Paar mittleren Alters mit Kind(ern) in den Werbemitteln omnipräsent. Diese Inszenierung von ‚family togetherness‘59 war auch in der DDR stabil und wandlungsresistent. Deutlich reproduzierten diese Episode und auch andere Werbemittel den ‚family gaze‘60: die Idealisierung des Familienlebens während eines gemeinsamen Ausfluges, Urlaubes oder beim Wiedererleben dieses gemeinschaftlichen Erlebnisses im Heimkino. Obwohl das Ideal der Kleinfamilie hinter der Werbefassade gesellschaftliche Wandlungsprozesse erfuhr, blieb sie auch nach Sommer, Sonne, AK 8 in Werbefilmen, Anzeigen und Broschüren das hegemoniale Familienbild. Hierin lagerte wiederum ein konsumtives Argument, das schon für Fotoprodukte galt und auf Schmalfilmangebote übertragen wurde. So empfahl der Fachberater den Verkäufer*innen im Einzelhandel, besonders junge Ehepaare als Zielgruppe zu adressieren, da kleine Kinder eines der am „häufigsten gefilmten Motive“ seien.61 Der Nexus aus Ehe, Kindern und Filmen war auch in der DDR eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit des Konsums. Demnach gehörten zur Familie ge-
59 Vgl. Zimmermann, Patricia R.: Reel Families. A social history of amateur films. Bloomington u. Indianapolis 1995. 60 Haldrup, Michael u. Jonas Larsen: The family gaze. In: Tourist Studies 23/3 (2003). S. 23–46. 61 Vgl. Der Fachberater – Technik und Fahrzeuge 3/1967, S. 13.
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nauso die Kinder wie eine Kamera, die dieses Gemeinschaftsbild bestätigte und absicherte. Dies wird auch an der Darstellung von Jugend im Werbediskurs erkennbar. In Sommer, Sonne, AK 8 zeigen vier von sieben Episoden junge Paare als Protagonist*innen. So wird in der letzten Episode des Werbefilms wieder ein junges Paar begleitet, das zunächst im Park Zärtlichkeiten austauscht. Im Anschluss besucht es einen Rummelplatz, fährt ein Rollband hoch und rasant eine Rutsche wieder hinab. Schließlich ist man noch in einem Ferienheim an der Ostsee (Abbildung 8). Nicht nur war die Jugend Adressat sozialistischer Gesellschaftsutopien, sondern über die jungen Figuren vermittelte sich Schmalfilm als modernes Medium. Sommer, Sonne, AK 8 war dabei dem Werbediskurs seiner Zeit voraus. Erst mit Beginn der 1960er Jahren tauchte in der DDR Jugend als Zielgruppe expliziter in den Anzeigen und Broschüren für Schmalfilmapparaturen auf. Als gäbe es keinen anderen spezifischen Raum, sieht man sie ausschließlich in der Natur oder im Park mit Attributen wie Motorrad, Fahrrad oder Gitarre.62 Anzumerken gilt dabei, dass sich gerade im Bereich Konsum und Freizeit ein enormes Konfliktpotential ergab: Die staatssozialistischen Ansprüchen konnten einer sich eigenständig entwickelnden ostdeutschen Jugend- und Subkultur gegenüberstehen. Verfügbare Medien wie Radio ermöglichten den Zugang zu westlicher Populärkultur. Auch in Schmalfilmen ab den 1960er Jahren zeigten sich immer wieder Zeichen westlicher Massenkultur, sofern die Geräte in den Händen jugendlicher Filmer*innen waren. In den 1950er Jahren hatte es jedoch noch einen restriktiven Umgang mit jugendlicher Subkultur, den sogenannten ‚Halbstarken‘, gegeben, die besonders Symbole der amerikanischen Populärkultur aufgriffen.63 Daher richtete sich insbesondere nach dem Mauerbau 1961 die Konsumgüterproduktion und auch die Werbekommunikation von technischen Medien stärker auf Jugendliche aus, eine Entwicklung, die sich ab den 1950er Jahren schon in der westdeutschen Konsumgesellschaft abgezeichnet hatte. Anders als im politischen Bilddiskurs wurde Jugendlichkeit in der Werbung hingegen nicht durch gesellschaftliche Partizipation an staatlichen Organisationen wie der Freien Deutschen Jugend repräsentiert, sondern über heterosexuelle Zweisamkeit inszeniert. Diese Visualisierung verstärkte sich durch die körperliche Nähe, die Umarmungen junger Paare und die szenische Verortung in die Natur. Jugend wurde hier als Alters- und Lebensphase konstruiert, in der die Menschen ihre ersten partnerschaftlichen Erfahrungen machten. Gerade diese Darstellung zeugt davon, dass
62 Werbeanzeige für ORWO-Film im FOTOKINO-magazin 7/1974, unpag.; Deutsches Filmmuseum (DFMP): Broschüre für die Admira 8 II von MEOPTA (undatiert); Broschüre für die A8L 2 von MEOPTA (undatiert). Broschüre für die Admira 8 F von MEOPTA (undatiert). 63 Poiger, Uta G.: Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a divided Germany. Berkeley [u. a.] 2000. S. 207–208.
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die AK 8 nicht als spezifische Technologie jugend- und subkultureller Distinktion beworben wurde, sondern als Vorstufe der Familie. Erst in Ehe und Familie mit Kindern sollte Jugend seinen sinnhaften Entwicklungsabschluss finden. In dieser Hinsicht unterschied sich die Werbung nicht wesentlich zu westlichen Konsumgesellschaften. Nancy Martha West konnte etwa in ihrer Analyse der Werbekampagnen für Fotoapparate von Eastman-Kodak zwischen 1888 und 1932 herausarbeiten, dass Kodak seine Apparate zunächst als Vergnügungsspielzeug und dann im Zuge des Ersten Weltkrieges als familiales Erinnerungswerkzeug beworben hatte.64 Als Reaktion auf gesellschaftliche, soziale wie auch individuelle Zerrüttungen wurden nun Produkte der Marke Kodak als „confirmation of family unity“65 angeboten. Heather Norris Nicholson argumentierte in ähnlicher Richtung für das Schmalfilmmedium nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Popularität eine Folge des Eskapismus in eine idealisierte Familienwelt nach den dramatischen Kriegserfahrungen von Verlust, Verletzungen, Flucht und Vertreibung gewesen sei.66 In diesem Zusammenhang stellte die Idealisierung der Kleinfamilie in der sechsten Episode auch Tradition und Stabilität dar. Der Werbefilm sollte trotz aller Vorzüge der neuen Gesellschaftsordnung die Sehnsucht nach glücklichen Momenten über tradierte Bilder des Bürgertums befriedigen. Damit deuteten sich in Sommer, Sonne, AK 8 Jugendliche und heterosexuelle Paare mit Kindern als Zielgruppen von fotooptischen Geräten und von Konsumgütern für die Familiengründung an.
„Das Prestige unserer Republik“ – Distribution und Rezeption des Werbefilms Die Staatliche Filmkontrolle war mit dem Ergebnis des Films sehr zufrieden. In ihrem Protokoll wird er wie folgt beurteilt: „Ein köstlicher Lustspielfilm so recht nach dem Geschmack unseres Publikums. Das DEFAFilmkollektiv und alle übrigen Beteiligten haben mit diesem Steifen ein kleines Kunstwerk geschaffen, das allen Zuschauern viel Freude bereiten wird. Die Art, wie man ernste Probleme in lockerer Form kritisiert und Anregung gibt, wie man es besser machen kann, ist für DEFA-Filme einmalig. Der Film wurde einstimmig zugelassen.“67
64 Vgl. West, Nancy Martha: Kodak and the Lens of Nostalgia. Charlottesville u. London 2000. S. 12–13. 65 West, Kodak and the Lens of Nostalgia (wie Anm. 64), S. 13. 66 Vgl. Nicholson, Heather Norris: Amateur film. Meaning and practice, 1927–1977. Manchester 2012. S. 10. 67 Bundesarchiv (BArch): DR 1/Z/4149: Protokoll Nr. 0500/56 des Staatlichen Komitees für Filmwesen (Filmkontrolle) vom 4.10.1956.
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Drei Jahre später war die Staatliche Filmkontrolle von diesem Urteil immer noch überzeugt und bestätigte eine erneute Zulassung bis Ende 1961 „zur Auflockerung unseres Kurzfilmprogrammes“68. Auch im Film für Alle kam man zu einem wohlwollenden Urteil: „Er erreicht seinen Zweck, die Menschen lachen zu machen, und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf eine schöne Liebhaberei und auf deren Licht- und Schattenseiten, und wir können sicher sein, daß er der AK 8 neue Freunde gewinnt. Schönen Dank für diesen kostenlosen ‚Werbefilm‘.“69
Doch der Werbefilm sollte nicht nur der eigenen Bevölkerung die Aufnahmekamera, den Ausleihdienst der HO und die Errungenschaften der neuen Gesellschaft in humorvoller Weise präsentieren. Premiere hatte Sommer, Sonne, AK 8 während der II. Leipziger Kultur- und Dokumentarfilmwoche im November 1956. Der Werbefilm lief also neben Produktionen aus Frankreich, England, Polen, Ungarn, Bulgarien, China und der Sowjetunion von Anfang an vor internationalem Publikum.70 In den darauffolgenden drei Jahren wurde Sommer, Sonne, AK 8 bis 1959 als Bestandteil eines ‚Werbezuges‘ der Fotokinoindustrie nicht nur in Großstädten der DDR wie Berlin, Leipzig, Halle, Eisleben, Zeitz, Gera, Saalfeld, Suhl sowie in zahlreichen Betrieben und in Ostseebädern aufgeführt, sondern auch im Ausland. So bereiste der ‚Werbezug‘ etwa diverse Großstädte in Österreich. Teil dieses Buses war ein Projektionsraum, der über eine Mattglasscheibe Dias und Filme nach außen projizieren konnte (Abbildung 9). Damit sollten die innovativen Leistungen der Fotokinoindustrie als „Prestige unserer Republik im Ausland“71 beworben werden. Grund dafür war, wie man im Fotofalter lesen konnte, dass dort „sehr oft vollkommen falsche Meinungen über das Leben in unserer Republik bestehen, und allein schon das Erscheinen unseres Werbezuges diese falschen Meinungen widerlegte“.72 Sommer, Sonne, AK 8 fügte sich in dieser Hinsicht ideal in die Ansprüche des Werbezuges ein, um nicht nur die erste 8 mm-Kamera der DDR zu präsentieren, sondern auch im Ausland ein positives Bild von der DDR zu zeichnen. In dem sich bis 1961 zuspitzenden Kalten Krieg, der auch ein Krieg mit Bildern war, sollten Werbefilme sowohl in Ost- wie Westdeutschland probates Mittel bleiben, um die Deutungshoheit über das eigene Gesellschaftsbild gegenüber dem konkurrierenden Nachbarland zu behalten. Gera-
68 Bundesarchiv (BArch): DR 1/Z/4149c: Zusatzprotokoll zum Protokoll Nr. 0500/56 des Staatlichen Komitees für Filmwesen (Filmkontrolle) vom 22.12.1959; Berliner Zeitung (24. Mai 1957), S. 7; Neues Deutschland (2. August 1957), S. 6; Neue Zeit (6. September 1957), S. 6; Berliner Zeitung (21. Februar 1958), S. 7; Neue Zeit (7. März 1958), S. 6; Berliner Zeitung (19. Dezember 1958), S. 7; Berliner Zeitung (1. Juli 1960), S. 10. 69 Film für Alle, 2/1957, S. 48–49. 70 Neues Deutschland (20.10.1956), S. 4. 71 Der Fotofalter 5/1959, S. 150. 72 Der Fotofalter 5/1959, S. 150–151; Vgl. Neue Werbung 3/1958, S. 30.
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de das Wohlstandsversprechen in den Werbefilmen der 1950er Jahre war auch ein legitimes Instrument der Systemkonfrontation.
Abb. 9: Neue Werbung, März 1958
Fazit Sommer, Sonne, AK 8 verortete die Praxis des Schmalfilmens in die Urlaubs- und Freizeit und vermittelte dadurch einen optimistischen Grundton vom Leben in der jungen DDR. Darüber hinaus wurden mit der ersten 8 mm-Kamera aus Dresden spezifisch sozialistische Freizeit-, Reise- und Konsumpraktiken popularisiert: Alle Protagonist*innen liehen sich unterschiedslos die AK 8 in der staatlichen HO aus. Trotz sichtbarer sozialer Unterschiede gingen alle Urlauber*innen in dasselbe Ferienheim. Vom bürgerlichen Angestellten im Erzgebirge, über den urbanen Arbeiter, die Geburtstagsgesellschaft im Schrebergarten, die Kleinfamilie im Stadtpark bis zum jungen Paar an der Ostsee hatten sämtliche die Möglichkeit, sich Urlaub zu nehmen und ihre Freizeit zu gestalten. Was diese heterogenen Protagonist*innen verband, waren die ausgeliehene AK 8 und das Filmen im Urlaub. „Jeder filmt“ war die Kernbotschaft und ein Versprechen an die Bevölkerung. Damit diese auch ankamen, griffen die Filmer sogar auf diskriminierende transnationale Stereotype zurück, wie etwa das Bild einer technisch inkompetenten Frau, die diese einfache Schmalfilmtechnologie bedienen könne. Dieser Rückgriff auf transnationales Bildwissen zeigt auch, dass Sommer, Sonne, AK 8 als Vorstufe einer Professionalisierung, insbesondere filmischer Werbeformate, zu deuten ist. Drei Jahre vor Entstehung des DDR-Werbefernsehens ist Sommer, Sonne, AK 8 als Anfang der Werbefilmindustrie zu verstehen, die erst mit der zentralisierten Verantwortung durch die DEWAG Anfang der 1960er Jahre einen professionalisierten Standard erreichte.73 1956 fehlten den Akteur*innen noch die Infrastrukturen des Werbefernsehens und so speisten sich die handwerklichen Erfahrungen
73 Vgl. Tippach-Schneider, Tausend Tele-Tips (wie Anm. 13), S. 55–65.
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u. a. aus dem propagandistischen Dokumentarfilm. Doch schon die Einbindung innerhalb eines multimedialen ‚Werbezuges‘, der durch ganz Ostdeutschland und bis nach Österreich reiste, zeugt von einer Internationalisierung der Werbung. Letzteres war jedoch nicht nur eine Strategie, um Industrieprodukte aus der DDR international bekannt zu machen und an wichtige Devisen zu kommen, sondern auch, um während des Kalten Kriegs, der bekanntlich stark über Massenkommunikationsmittel ausgetragen wurde, dem Ausland ein alternatives Bild vom sozialistischen Deutschland zu präsentieren. Gerade vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Teilung sollten die Werbebilder von der Überlegenheit des Sozialismus zeugen. Gleichzeitig müssen sie aber auch als politische Lenkung von Lebensgefühlen in einer Gesellschaft verstanden werden, die in dieser Phase durch Wirtschaftsmigration vor allem gut ausgebildete Fachkräfte an die BRD verlor.74 Sommer, Sonne, AK 8 sollte so fröhlich und unbeschwert daherkommen, dass die DDR sogar ein bisschen über sich selbst lachen konnte: etwa wenn sich die Gedanken des Werktätigen in der sozialistischen Planwirtschaft um den ‚Plan am Wochenende‘ drehen. Letztlich war Sommer, Sonne, AK 8 weniger ein Werbefilm über die Aufnahmekamera, deren Erwerb der Film animieren sollte, als vielmehr ein Werbefilm über das schöne Leben in der DDR, das vermeintlich sichtbar würde, wenn man durch das Zeiss-Objektiv der Kamera blickte.
Quellenverzeichnis Bundesarchiv (BArch) DL 102/136: Teilstudie des Instituts für Bedarfsforschung zur „Einschätzung der langfristigen Entwicklung des Bevölkerungsbedarfs nach Fotoapparaten, Kinoaufnahmegeräten sowie Fotound Kinofilmen mittels Ausarbeitung von rationellen Verbrauchsnormen.“ (Dezember 1963). DL 102/335: Die Entwicklung des Bedarfs an Konsumgütern der Warengruppe Foto-Kino-Fotochemie bis zum Jahre 1980 – Anlagen – Tabelle 9.8.: Ausstattung der Haushalte mit Filmkameras nach Kaufjahren, gruppiert nach der sozialen Stellung der Haupteinkommensbezieher (1968). DR 118/2059: DEFA-Studio für Dokumentarfilme – Dramaturgie, Exposé vom 19. 7. 1956. DR 1/Z/4149: Protokoll Nr. 0500/56 des Staatlichen Komitees für Filmwesen (Filmkontrolle) vom 4.10.1956. DR 1/Z/4149c: Zusatzprotokoll zum Protokoll Nr. 0500/56 des Staatlichen Komitees für Filmwesen (Filmkontrolle) vom 22.12.1959.
74 Vgl. Gries, Produkte als Medien (wie Anm. 8), S. 215–281; Kaminsky, Anne: „True advertising means promoting a good thing through a good form“. Advertising in the German Democratic Republic. In: Selling Modernity. Advertising in the Twentieth-Century Germany. Hrsg. v. Pamela E. Swett [u. a.]. Durham u. London 2007. S. 262–286; Merkel: Utopie und Bedürfnis (wie Anm. 31), S. 214–223; Tippach-Schneider, „Blumen für die Hausgemeinschaft“ (wie Anm. 41), S. 9–23.
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BArch-Filmarchiv: B 140077-1: „Farbe und Form“ (1961). BArch-Bildarchiv: Bild 183-61232-0001.
DEFA-Filmverleih/Stiftung Deutsche Kinemathek Werbefilm „Sommer, Sonne, AK 8“ (1956)
Deutsches Filmmuseum Potsdam (DFMP) Broschüre „Filmen muß man“ des VEB Zeiss Ikon für die AK 8 (1953) Broschüre „Jeder filmt mit der AK 8“ des VEB Kinowerke Dresden für die AK 8 (1958) Broschüre „Selbst filmen … selbst vorführen" des VEB Kamera- und Kinowerke Dresden (1959) Broschüre für den PENTAX P 80 (1961) Broschüre für den Projektor Pentax P 80 (1962) Bedienungsanleitung der Pentaka 8 (undatiert)
Deutsches Institut für Animationsfilm e. V. (DIAF) Werbefilm „Super einfach mit Super 8“ (1971)
Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt Broschüre der VEB Kinowerke Dresden „Jeder filmt mit der AK 8“ (1957)
Gedruckte Quellen Berliner Zeitung Der Fachberater – Technik und Fahrzeuge Der Fotofalter Film für Alle FOTOKINO-magazin Hotschewar, M. V.: Das Schmalfilm-Lehrbuch. Bearb. v. Richard Groschopp. 1. Aufl. Halle/Saale 1952. Hölzel, Günter u. Günther Sterz: Wir wollen filmen! Halle 1963. Neues Deutschland Neue Werbung Neue Zeit
Internetquellen www.filmportal.de/person/rolf-schnabel_7ba46abcd15c439a961797e0878dd6be [Zugriff: 19.09.2019] www.filmportal.de/person/helmut-schneider_f22b886265bb4e2e81ad85f43c761019 [Zugriff: 19.09.2019]
Privatbesitz des Autors Broschüre der VEB Kamera- und Kinowerke Dresden „Selbst filmen … selbst vorführen“ (1961). Broschüre der VEB Kamera- und Kinowerke Dresden „Selbst filmen … selbst vorführen“ (1959).
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Sächsisches Staatsarchiv Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD): 11591 Kombinat VEB Pentacon Dresden Nr. 146. Vorgängerbetriebe – VEB Zeiss Ikon Dresden: „Programm 8 mm“ vom 21.09.1953, S. 92–94.
Literatur Baudrillard, Jean: Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Hrsg. von Kai-Uwe Hellmann u. Dominik Schrage. Wiesbaden 2015. Dietrich, Gerd: Kulturgeschichte der DDR. Bd. II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976. Göttingen 2018. Dietrich, Isolde: Laubenpiepervergnügen. In: Vergnügen in der DDR. Hrsg. v. Ulrike Häußer u. Marcus Merkel. Berlin 2009. S. 361–372. Eitler, Pascal: Sexualität als Ware und Wahrheit: Körpergeschichte als Konsumgeschichte. In: Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch. Hrsg. v. Heinz-Gerhard Haupt u. Claudius Torp. Frankfurt a. M. u. New York 2009. S. 370–388. Forster, Ralf: Greif zur Kamera, gib der Freizeit einen Sinn. Amateurfilm in der DDR. München 2018. Görlich, Christopher: Urlaub vom Staat. Tourismus in der DDR. Köln, Weimar u. Wien 2012. Goffman, Erving: Geschlecht und Werbung. Frankfurt a. M. 1981. Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig 2003. Haldrup, Michael u. Jonas Larsen: The family gaze. In: Tourist Studies 23/3 (2003), S. 23–46. Kaiser, Paul: Arbeiterlob im Kunstkombinat. Zum Wandel eines Bildprogramms in Malerei und Fotografie. In: Fotogeschichte 102 (2006). S. 3–14. Kaminsky, Anna: Frauen in der DDR. Berlin 2016. Kaminsky, Anne: „True advertising means promoting a good thing through a good form“. Advertising in the German Democratic Republic. In: Selling Modernity. Advertising in the TwentiethCentury Germany. Hrsg. v. Pamela E. Swett [u. a.]. Durham u. London 2007, S. 262–286. Maase, Kaspar: Massenmedien und Konsumgesellschaft. In: Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt u. Claudius Torp: Frankfurt a. M. u. New York 2009. S. 62–78. Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln [u. a.] 1999. Mühlberg, Dietrich u. Simone Barck: Arbeiter-Bilder und Klasseninszenierung in der DDR. Zur Geschichte einer ambivalenten Beziehung. In: Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Hrsg. v. Peter Hübner, Christoph Kleßmann u. Klaus Tenfelde. Köln [u. a.] 2005. S. 163–189. Natlacen, Christina: Picturing Tourists in Front of Sights. In: Tourists u. Nomads. Amateur Images of Migration. Hrsg. v. Sonja Kmec u. Viviane Thill. Marburg 2012. S. 69–78. Nicholson, Heather Norris: Amateur film. Meaning and practice, 1927–1977. Manchester 2012. Nordström, Alison u. John P. Jacob: KODAK GIRL. From the Martha Cooper Collection. Göttingen 2011. Poiger, Uta G.: Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a divided Germany. Berkeley [u. a.] 2000. Roepke, Martina: Privat-Vorstellung. Heimkino in Deutschland vor 1945. Hildesheim 2006. Rudolph, Hermann: Der Schrebergarten. In: Deutsche Erinnerungsorte Bd. 3. Hrsg. v. Etienne François u. Hagen Schulze. München 2001. S. 363–379. Tippach-Schneider, Simone: Tausend Tele-Tips. Das Werbefernsehen in der DDR 1959 bis 1976. Berlin 2004.
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Tippach-Schneider, Simone: „Blumen für die Hausgemeinschaft“. Kollektivformen in der DDR – ein Überblick. In: Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR. Hrsg. v. Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR e. V. Berlin 1999. S. 243–255. Tippach, Simone: Nymphenbad oder Wäschtrog? Exkurs zur Werbung in den fünfziger Jahren. In: … und Du, Frau an der Werkbank. Hrsg. v. Ina Merkel. Berlin 1990. S. 118–141. West, Nancy Martha: Kodak and the Lens of Nostalgia. Charlottesville u. London 2000. Zimmermann, Patricia R.: Reel Families. A social history of amateur films. Bloomington u. Indianapolis 1995.
Solveig Ottmann / Sandra Reimann
Audiovision in drei Teilen Analysen zur Werbeschallplatte unter besonderer Berücksichtigung des Beispiels Was ist Hi-Fi? der Marke Bang & Olufsen (1965)
Einleitung „Lieber Eigenheimfreund! Legen Sie diese Schallplatte – es ist wirklich eine – in Ihren Plattenspieler ein. Lassen Sie sich von dem ‚kleinen Haus im Wiesengrün‘ und von der Melodie dazu anregen, einen langgehegten Wunsch bald zu verwirklichen. Wir helfen Ihnen dabei.“1 Mit diesem Hinweis auf der Rückseite einer sogenannten Schallpostkarte mit dem Titel Ein kleines Haus im Wiesengrün wandte sich die Westfälische Landesbausparkasse Münster/Westf. (LBS) in den 1950er Jahren an seine (potentiellen) Kund*innen (vgl. Abb. 1 & 2). Die LBS ‚informiert‘ die Rezipient*innen der Platte mittels eines beschwingten Liedes im Schlager-Stil, welches das kleine Haus im Wiesengrün als Objekt der Begierde besingt, über die Option eines Bausparvertrages, mit dem die LBS dabei helfen wollte, den Traum vom Eigenheim realisierbar werden zu lassen. Dieser Tonträger in Form einer Schallpostkarte war nichts anderes als eine Werbeschallplatte, die von der LBS eingesetzt wurde, um eine spezifische Dienstleistung zu vermarkten. Schallplatten kamen schon früh zum werberischen Einsatz: Bereits aus der Zeit um 1900 finden sich Phonographenwalzen und Schallplatten, die Werbung enthielten. Ab den 1950er Jahren lässt sich feststellen, dass Schallplatten häufiger und in verschiedensten Varianten für Werbung eingesetzt wurden und dass Werber zunehmend spezifische, auf dieses Medium abgestimmte Werbestrategien entwickelten. Die Werbeschallplatten dieser Zeit weisen einerseits unterschiedlichste Gestalten und Größen auf (Schallpostkarte, Schallfolie, Verpackungsplatte, etc.), andererseits findet sich eine breite Palette an Strategien und Vorgehensweisen, die mit einer Vielfalt an werblichen Funktionen (Appell-, Informations-, Unterhaltungsfunktion, etc.) verbunden sind. Es stellt sich somit die Frage, warum und in welcher Weise gerade das Medium Schallplatte für Werbung genutzt wurde. Wie wirkten sich tech-
1 Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11733, Landesbausparkasse: Ein kleines Haus im Wiesengrün (Fox aus dem Gemeinschaftsfilm ‚Ferien vom Alltag‘ der öffentlichen Bausparkassen und Landesbausparkassen), 1950er Jahre. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11733 (10.01.2019), Rückseite Schallpostkarte. https://doi.org/10.1515/9783110661965-004
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nische und medienhistorische Faktoren auf die strategisch-inhaltliche Gestaltung der Werbung sowie auf deren Distribution und Rezeption aus?
Abb. 1: Rückseite der Schallpostkarte ‚Ein kleines Haus im Wiesengrün‘ der ‚Landesbausparkasse‘ (1950er). Quelle: RAW (wie Anm. 1)
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Abb. 2: Vorderseite der Schallpostkarte ‚Ein kleines Haus im Wiesengrün‘ der ‚Landesbausparkasse‘ (1950er). Quelle: RAW (wie Anm. 1)
Trotz der Vielfalt und den teils aufwändigen Umsetzungen ist die Werbeschallplatte heute tendenziell in Vergessenheit geraten. Während es zur Schallplatte allgemein sowie zur Phonographie durchaus einiges an Forschungsliteratur gibt,2 steht die Forschung zu den hier zu besprechenden Werbeschallplatten erst am Anfang.3 Wie
2 Vgl. z. B. zur Schallplatte: Adorno, Theodor W.: Die Form der Schallplatte [1934]. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M. 2003. S. 530–534; Haffner, Herbert: „His Master’s Voice“: Die Geschichte der Schallplatte. Berlin 2011. Weiter auch bei: Brauers, Jan: Von der Äolsharfe zum Digitalspieler. 2000 Jahre mechanische Musik, 100 Jahre Schallplatte. München 1984; Eisenberg, Evan: Der unvergängliche Klang. Mythos und Magie der Schallplatte. Berlin 1990. Zur Phonographie bietet die mediengeschichtliche und medientheoretische Forschung ergiebige Literatur. 3 Zuletzt erschienen: Reimann, Sandra: Die Schallplatte – sprach- und medienwissenschaftliche Untersuchungen zu einem unerforschten Werbemedium. In: Werbung für alle Sinne – Multimodale Kommunikationsstrategien. Hrsg. von Sabine Wahl, Elke Ronneberger-Sibold u. Karin Luttermann. Wiesbaden 2020. S. 91–125 sowie Ottmann, Solveig: Die Werbeschallplatte als akustisches Dokument. Ein Kommentar zur Werbeforschung. In: Auditive Medienkulturen. Magazin der AG Auditive Kultur und Sound Studies. Juni 2019. http://www.auditive-medienkulturen.de/2019/06/16/die-werbeschallplatte-als-akustisches-dokument-ein-kommentar-zur-werbeforschung/ (16.6.2019). Zu erwähnen ist ebenfalls: Ottmann, Solveig u. Sandra Reimann: „Von Hand auflegen“. Die Werbeschall-
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im folgenden Beitrag gezeigt wird, stellt das Medium Werbeschallplatte jedoch einen ergiebigen Forschungsgegenstand für die Werbe- und Werbesprachenforschung sowie für die Medienwissenschaft dar. Das Regensburger Archiv für Werbeforschung (RAW) an der Universität Regensburg bietet dafür den nötigen Quellenbestand an. Den Hauptbestandteil dieses Archivs stellt das Historische Werbefunkarchiv (HWA), in dem rund 50 000 Hörfunkspots aus den Jahren 1948 bis 1987 archiviert, digitalisiert und zur Nutzung bereitgehalten sind, dar.4 Darüber hinaus existiert im Archiv eine spezielle Untersammlung für Werbeschallplatten, die sogenannte Sammlung Spremberg. Sie stammt aus dem Privatbesitz des ehemaligen Radiomoderators Christian Spremberg und wurde der Universitätsbibliothek Regensburg im Jahr 2007 leihweise zur Digitalisierung überlassen. Diese Sammlung umfasst 500 Werbeschallplatten aus der Zeit zwischen 1950 und 1980. Diese sind vollständig digitalisiert und in die Datenbank des RAW eingebunden. Mittlerweile sind weitere 150 Platten aus anderen Quellen sowie knapp 800 Platten eines weiteren Sammlers (Thomas Schulze), die ebenfalls digital verfügbar gemacht werden, Teil des Bestands des RAW. Die Platten stammen mutmaßlich aus den 1960er bis 2000er Jahren – häufig fehlt eine Jahresangabe.5 Zu erwähnen ist zum einen, dass besagte Sammlungen sich auf den deutschen Werbemarkt beschränken und zum anderen, dass sie nicht systematisch entstanden sind, sondern ihre Entstehung dem Interesse und der Sammelleidenschaft einzelner Personen geschuldet war. Anspruch auf Vollständigkeit gibt es hier also keineswegs. Auch lassen sich auf Basis dieser Informationen keine Aussagen darüber treffen, wie breit die Schallplatte als Werbemittel eingesetzt wurde. Nichtsdestotrotz bieten die Sammlungen eine gute Ausgangslage an Quellen, die darauf warten systematisch erforscht zu werden. Die Sammlung Spremberg umfasst eine große Bandbreite an beworbenen Produkten und Marken, von Lebensmitteln (Bahlsen, Coca-Cola, Kaffee Hag, Langnese, Maggi, uvm.) über Gebrauchsartikel (Persil, Salamander, Uhu, uvm.) bis hin zu Dienstleistungen und Neuerscheinungen aus den Bereichen Schlager und Pop (bspw. die umfangreiche Werbeschallplattenserie Klingende Post des Schallplattenherstellers Teldec).
platte als interaktives Werbemittel. In: Mitteilungen des Regensburger Verbunds für Werbeforschung – RVW 6 (2018). S. 41–53. https://epub.uni-regensburg.de/rvw.html (02.06.2019). Zudem ist im Rahmen des Seminars „Das Medium Werbeschallplatte“ im Sommersemester 2014 am Lehrstuhl für Medienwissenschaft der Universität Regensburg (Leitung: Solveig Ottmann) eine Webseite entstanden, die eine Annäherung an das Werbemittel darstellt, vgl. https://sprembergswerbeschallplatten.wordpress.com/ (02.06.2019). 4 Vgl. den Webauftritt des RAW: https://raw.uni-regensburg.de/spremberg.php. (02.06.2019) Als registrierte*r Nutzer*in erhält man neben den allgemeinen Metadaten auch Zugriff auf die digitalisierten Audioaufnahmen, wenn vorhanden auf die Scans der Originalmanuskripte und auf eventuell verfügbares weiteres Begleitmaterial. 5 Auch hier gilt: Registrierte Nutzer*innen bekommen neben den Metadaten Zugriff auf die digitalisierten Audioaufnahmen sowie die Scans der Originalmedien und Plattencover. Vgl. https://raw. uni-regensburg.de/spremberg.php (02.06.2019).
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Um die in diesem Beitrag behandelte Frage, wie sich Veränderungen der Medientechnik auf die Gestaltung, die Distribution und die Rezeption von Werbung auswirkte, zu erörtern, wird die Schallplatte als Werbemittel zunächst medienhistorisch eingeordnet, bevor eine medial-werbekommunikative Einbettung sowie eine Diskussion der Medien- und Objektspezifik erfolgt. Der folgende Beitrag argumentiert dabei, dass es sich bei der Werbeschallplatte keineswegs um ein rein akustisches Werbemittel handelt(e). Vielmehr soll gezeigt werden, dass die Werbeschallplatte in den meisten Fällen als ein auditives und visuelles Medium konzipiert wurde, das aus drei Teilen – Cover, Etikett und Akustik – bestand. Darüber hinaus erlaubte die Rezeptionssituation der Werbeschallplatten (in der Regel ‚zu Hause‘) und die mögliche Länge (Beispiele mit etwa 15 Minuten sind nicht ungewöhnlich) spezifische Gestaltungsstrategien in Bezug auf die Unterhaltungs- und Informationsfunktion.6 Die Rezipient*innen mussten selbst aktiv werden und die Schallplatte auf den Plattenspieler legen, so dass man davon ausgehen kann, dass ein Anfangsinteresse – oder zumindest eine gewisse Neugierde – am Inhalt vorab vorhanden war bzw. vorhanden sein musste. Dies wirkte sich wiederum auf die Gestaltung der Platten aus: So wurde unter anderem die Interaktion mit den Rezipient*innen (z. B. mittels Handlungsanweisungen) mitunter explizit vom jeweiligen ‚Sender‘ (Hersteller) der Werbeschallplatte auch als Gestaltungsmittel genutzt. Als zentrales Analysebeispiel dient im Folgenden die Werbeschallplatte Was ist Hi-Fi? der Marke Bang & Olufsen (B&O)7, die – natürlich aus einer werblichen Perspektive – den technischen Fortschritt im Bereich der Phonographie bzw. der Schallspeicherung und -wiedergabe thematisiert. Im folgenden Beitrag erfolgt zunächst eine in die Geschichte der Phonographie und Audioaufzeichnung eingebettete Darstellung der Entwicklung des Werbemittels Schallplatte. Daran anschließend wird die Werbeschallplatte anhand von Beispielen aus dem RAW als audiovisuelles Werbemedium charakterisiert. Abschließend wird das genannte Beispiel von B&O einer exemplarischen multiperspektivischen Analyse – vor allem unter Berücksichtigung der damit verbundenen Funktionen – aus medien- und sprachwissenschaftlicher Sicht unterzogen.
6 Zu diesen Spezifika vgl. Ottmann, Solveig u. Sandra Reimann: „Von Hand auflegen“ (wie Anm. 3). 7 Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11592, Single 45, B&O (1965): Was ist Hi-Fi? Die Eroberung einer technischen Wunderwelt. Mit vielen Erläuterungen. Herausgegeben von den Toningenieuren des B&O Akustikstudios von 1965. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11592 (10.01.2019).
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„Die Eroberung einer technischen Wunderwelt“. Die Geschichte der (Werbe-)Schallplatte Beachten Sie genau, was ich Ihnen sage! Ich bin der Edison-Phonograph! Ein Werk des genialen Erfinders Thomas A. Edison. Durch mich hören Sie mit vollkommener Naturtreue die berühmtesten Künstler, die hervorragendsten Kapellen, die beliebtesten Komiker. […] Die Künstler selbst singen, spielen und sprechen zu Ihnen.8
Die Geschichte akustisch gespeicherter Werbebotschaften nahm schon in den frühen Jahren der akustischen Schallspeicherungsmedien ihren Anfang. Das vorangestellte Zitat ist einer der berühmtesten Belege dafür. Thomas Alva Edison, von dem dieser Text (hier in der deutschen Variante) stammt, „hatte in suggestiven Monologen die Vorzüge seiner Erfindung in mehreren Sprachen anpreisen lassen“.9 Der Apparat sprach und warb also für sich selbst. Der Phonograph, im Dezember 1877 von Thomas Alva Edison erfunden, war der erste Apparat, der in der Lage war, akustische Ereignisse – Musik, Geräusche, Stimmen – tatsächlich als hörbare Ereignisse in ihrer weitgehend ursprünglichen Form und damit „akustische Ereignisse als solche“10 zu speichern. Schon zuvor wurde mit der Speicherung von Schallereignissen experimentiert. Abspielbar waren diese Aufzeichnungen allerdings nicht.11 Im Juli 1877 hatte Edison in ein Telefonmundstück „Hulloo“ gebrüllt. Friedrich Kittler beschreibt den Vorgang so: „Die Membran vibrierte und setzte einen angeschlossenen Griffel in Bewegung, der seinerseits auf ein vorrückendes Band Paraffinpapier schrieb. […] Beim Wiederabspulen des Bandes und seiner Schwingungen, die nun ihrerseits die Membran in Bewegung setzten, ertönte ein kaum verständliches ‚Hulloo‘.“12 Edisons Apparat machte nun mit-
8 Reclame-Record. Reklametext auf einer Edison Walze (1905). In: Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1888–1932: Ein Verzeichnis. Zusammengestellt und bearbeitet von Walter Roller (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs). Potsdam 1998. S. 38; Transkription zit. n. Hiebler, Heinz: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003. S. 409 f. 9 Hiebler, Hugo von Hofmannsthal (wie Anm. 8), S. 209. Weiterführend zu Phonographenwerbung siehe auch das Kapitel „‚The phonograph with a soul‘ und ‚Both are Caruso‘: Firmenwerbung“ in der 2019 erschienenen Monografie von Karin Martensen. Darin stellt Martensen die aus Archivquellen recherchierte Tonaufnahmephilosophie der Plattenfirmen Edison Inc. und The Victor Talking Machine der jeweiligen Werbung gegenüber. Vgl. Martensen, Karin: „The phonograph is not an opera house“. Quellen und Analysen zu Ästhetik und Geschichte der frühen Tonaufnahme am Beispiel von Edison und Victor. München 2019. 10 Kittler, Friedrich A.: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. S. 39 f. 11 Die erste Tonaufnahme führt man auf Édouard-Léon Scott de Martinville zurück, der 1860 mit dem von ihm entwickelten Phon-Autographen Schallereignisse speicherte. Zu Scott de Martinville und weiteren Schall-Experimentatoren siehe Haffner, „His Master’s Voice“ (wie Anm. 2), S. 8 ff. 12 Kittler, Grammophon (wie Anm. 10), S. 37.
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tels reiner, nicht elektrifizierter Mechanik „Sinnesdaten zum ersten Mal speicherbar“13, die auch wiedergegeben, also hörbar gemacht werden konnten. Edison, so kommentiert Kittler weiter, „hatte begriffen. Einen Monat später prägte er für seine telephonische Zusatzeinrichtung ein neues Wort: Phonograph“14, also: Schall- oder Klangschreiber. Noch war es aber erst ein Konzept. Er beauftragte den Mechaniker Kruesi einen entsprechenden Apparat zu bauen, „der akustische Schwingungen auf eine rotierende Stanniolwalze einritzte“.15 Und schließlich, am 6. Dezember 1877, sprach Edison laut und noch etwas verkrampft in den Phonographen-Trichter: „Mary had a little lamb“. Diese Aufnahme, die zu einem berühmten Dokument der Phonographie-Geschichte wurde, ist erhalten geblieben und ermöglicht es uns auch heute – wenn auch eher unverständlich und heillos verrauscht – Edisons Stimme zu lauschen. Und so wie die eingangs zitierte Werbewalze beschwört, dass der Edison-Phonograph die Stimme des Besitzers dank der Aufnahmemöglichkeit für spätere Zeiten aufbewahrt,16 hatte Edison seine eigene Stimme für die Nachwelt erhalten und diente knapp 90 Jahre später als Werbefigur auf einer Werbeschallplatte der Firma Bang & Olufsen, eines bekannten dänischen Herstellers hochwertiger und hochpreisiger Unterhaltungselektronik. Der vielversprechende Titel der Werbeschallplatte aus dem Jahr 1965 lautet: Was ist Hi-Fi? Die Eroberung einer technischen Wunderwelt. Mit vielen Erläuterungen.17 Die beidseitig bespielte Werbeschallplatte wurde eingesetzt, um die neueste Hi-Fi-Technologie und die neuen Geräte von B&O zu bewerben. Dazu wird zunächst auf der A-Seite die Geschichte der Schallspeicherung erläutert, wobei die Erläuterungen mit besagter Aufzeichnung von Edison beginnt: „Mary had a little lamb“. Edisons Stimme, ursprünglich auf einer Phonographenwalze konserviert, wird hier also wieder zum Klingen gebracht, um die Weiter- und Neuentwicklungen im Bereich der Phonographie-Technologie zu bewerben. Auf anschauliche (oder besser gesagt ‚anhörliche‘) Weise wird dadurch die recht unverständliche und verrauschte historische Aufnahme den glockenklaren (so sehr es auf Schallplatte eben möglich ist) Klängen der neuesten Hightech-Hi-Fi-Apparaturen kontrastierend gegenübergestellt. Von Edison bis zur Werbeschallplatte von B&O aus dem Jahre 1965 war es natürlich ein langer Weg: Was beim Phonographen noch auf einer Walze ablief und diverse Probleme der Abnutzung, Kopierbarkeit etc. mit sich brachte, sollte mit der Weiterentwicklung vor allem durch Emil Berliner, der 1887 das Patent für sein
13 Kittler, Grammophon (wie Anm. 10), S. 10. 14 Kittler, Grammophon (wie Anm. 10), S. 37. 15 Kittler, Grammophon (wie Anm. 10), S. 37. Vgl. hierzu auch Hans H. Hiebel, Heinz Hiebler, Karl Kogler u. Herwig Walitsch (Hrsg.): Große Medienchronik. München 1999. S. 585. 16 Vgl. Reclame-Record. Reklametext auf einer Edison Walze (1905). In: Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8). S. 38. Transkription zit. n. Hiebler, Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne (wie Anm. 8), S. 410. 17 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), Single 45.
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Grammophon (also: geschriebene Stimme, geschriebener Ton) erhielt, in Form der Schallplatte ‚gelöst‘ werden. Edison selbst arbeitete an der Verbesserung seines Phonographen und stellte im April 1878 „in der Patentschrift Nr. 1644 einen Schallplattenspieler inklusive den dazugehörigen Platten“ vor.18 Auch andere Forscher engagierten sich weiter auf dem Gebiet.19 Der entscheidende Entwicklungsschritt gelang jedoch Emil Berliner mit der Präsentation seines Grammophons vor Mitgliedern des Franklin-Instituts in Philadelphia am 16. Mai 1888, die ihn zum ‚Vater‘ des Grammophons werden ließ. Berliner hatte sein Gerät von Anfang an als Unterhaltungsmedium konzipiert und erklärte seinen Zuhörern „die prinzipielle Möglichkeit, von einer Zink-Originalaufnahme beliebig viele Kopien anfertigen zu können“.20 Innerhalb kürzester Zeit waren somit „zwei Schallaufzeichnungsverfahren vorhanden: Zylinderaufnahmen mit Tiefenschrift“ – also der Phonograph – „und Grammophonaufnahmen mit Seitenschrift“.21 In der sich schnell entwickelnden Phonoindustrie22 spielte der Phonograph in der Rückschau recht bald keine Rolle mehr, da auch die Klangqualität der Platten merklich besser war. Ab 1913 wurde die Produktion ganz eingestellt und der Siegeszug der Schallplatte war nicht mehr aufzuhalten. „Lediglich bei Diktierapparaten und anderen Spezialkonstruktionen wurde das System des Phonographen mit Selbstaufnahmemöglichkeit fortgeführt“23; beispielsweise in der ethnografischen Praxis und für die um 1900 entstandenen Phonogrammarchive waren die Phonographen ein unverzichtbares Instrument.24 Die Schallplatte hingegen ermöglichte aufgrund ihrer Massentauglichkeit schlussendlich die Erschließung eines Massenmarktes für häusliche Musikrezeption und brachte die Musikindustrie auf den Weg. Ne-
18 Hiebel [u. a.] (Hrsg.), Große Medienchronik (wie Anm. 15), S. 587. 19 Vgl. Hiebel [u. a.] (Hrsg.), Große Medienchronik (wie Anm. 15), S. 585 ff. 20 Hiebel [u. a.] (Hrsg.), Große Medienchronik (wie Anm. 15), S. 601. 21 Lechleitner, Gerda: Der fixierte Schall – Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Zur Ideengeschichte des Phonogrammarchivs. In: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Hrsg. von Harro Segeberg u. Frank Schätzlein. Marburg 2005. S. 229–240, S. 230. Interessante zeitgenössische Lektüre über die neuen Apparate und deren Möglichkeiten bietet auch: Parzer-Mühlbacher, Alfred: Die modernen Sprechmaschinen (Phonograph, Graphophon und Grammophon), deren Behandlung und Anwendung. Praktische Ratschläge für Interessenten. Wien/Leipzig 1902. 22 Nachzulesen bei bspw.: Gauß, Stefan: Nadel, Rille, Trichter: Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900–1940). Köln [u. a.] 2009; Hiebler, Heinz: Caruso auf Platte. Die Geschichte der Tonspeicherung und der Tonträger. In: Sound der Zeit: Geräusche, Töne, Stimmen – 1889 bis heute. Hrsg. von Gerhard Paul u. Ralph Schock. Göttingen 2014. S. 67–73. 23 Gauß, Stefan: Der Sound aus dem Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons. In: Sound des Jahrhunderts (wie Anm. 22), S. 31. 24 Vgl. bspw.: Ernst, Wolfgang: Das Gesetz des Gedächtnisses: Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts). Berlin 2007; Lechleitner (wie Anm. 21), Der fixierte Schal, S. 229–240.
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ben dem musikalischen Unterhaltungsmarkt25 kam die Schallplatte auch bald in werberischen Kontexten zum Einsatz. Das notwendige Fundament für eine solche Nutzung stellte erst die Möglichkeit einer systematischen, einheitlichen und massenhaften Verbreitung von akustischen Inhalten bzw. Botschaften dar. Frühe Beispiele für werberische Nutzung von Schallplatten finden sich im Verzeichnis Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1888–1932, herausgegeben vom Deutschen Rundfunk Archiv (DRA). Für das Jahr 1901 findet sich dort eine „Werbeplatte für die Plattenfirma ‚Die Stimme seines Herrn‘“ mit einer Länge von 1′35.26 Ebenfalls für das Jahr 1901 verzeichnet das DRA einen von Adolf Selig gesprochenen „Grammophon-Monolog“, der in einem klassischen Verständnis als Werbung zu bezeichnen ist, in dem der Apparat sich selbst vorstellt: „‚Verehrte Anwesende, mein Name ist Grammophon … Mein Körper besteht aus … Metall, Glas und Hartgummi …‘“.27 Für den März 1920 wird im DRA-Verzeichnis eine „Werbeschallplatte der englischen Plattenfirma ‚Imperial Record‘“, die eine Ansage (0′55) und ein Singstück (0′45) enthält,28 im Jahr 1929 die Platte „Aus der Werkstatt der Ultraphon-Schallplatte“ (6′00) angeführt, die erneut für sich selbst bzw. für die Firma Ultraphon Berlin wirbt. Im Verzeichnis des DRA ist der auditive Inhalt nachzulesen: ‚Achtung! Achtung! Hier spricht Ultraphon Berlin! Verehrte Zuhörer! Wir erleben jetzt den Start der neuen Ultraphon-Schallplatte des Küchenmeister-Konzerns, beruhend auf den modernsten und letzten Ergebnissen der Technik‘ / Durch das Mitwirken internationaler Künstler stellt die Ultraphon-Platte eine Spitzenleistung dar / Reichhaltiges Repertoire / Erzeugnis deutscher Arbeit und deutschen Fleißes / ‚Begleiten Sie uns jetzt einmal in unseren Aufnahmeraum‘ / Es spielt Red Roberts mit seinem Jazz-Orchester / ‚Achtung Aufnahme‘ ‚Haben wir mit dieser kurzen Probe Ihr Interesse geweckt, wird jede der kommenden Ultraphon-Platten für Sie eine Trägerin der Freude und des Gewinnes sein und zu einer dauernden Freundschaft zwischen Ihnen und uns führen, deren Leitmotiv immer heißt: Wenn schon, dann Ultraphon!‘.29
Eine weitere Werbeplatte aus dem Jahr 1930 trägt den vielsagenden Titel Der Apparat spricht und wirbt für den Phonoapparat mit den folgenden Worten: „Meine Le-
25 Der Ruhm großer Opernsänger wie bspw. Enrico Caruso wäre ohne die Schallplattenindustrie wohl nicht denkbar gewesen. Vgl. bspw. Hiebler, Caruso auf Platte (wie Anm. 22), S. 67–73. 26 Vgl. Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8). S. 28 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt]. Bei der Plattenfirma Die Stimme seines Herren handelte es sich vermutlich um die von Emil Berliner gegründete The Gramophone Co. Ltd, deren Leitspruch – bezugnehmend auf das berühmte Gemälde, auf dem der Hund Nipper einem Grammophon lauscht – „His Master’s Voice“ lautete. Vgl. Haffner, „His Master’s Voice“ (wie Anm. 2), S. 42 f. 27 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8), S. 29 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt; Auslassungen im Original]. 28 Vgl. Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8), S. 111 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt]. 29 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8), S. 184 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt].
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bensaufgabe besteht darin, alle Anwesenden stets zu unterhalten, zu bilden und Freude in ihr Heim zu bringen …“.30 Immer noch wirbt das Produkt vor allem für sich selbst. Von besonderem Interesse ist in diesem Fall der zusätzliche Verweis auf folgende Plattenaufschrift: „‚Unverkäuflich. Nur für den internen Gebrauch‘. Rückseite nicht bespielt.“31 Dies legt nahe, dass die Platten entweder direkt an Kunden oder an die Fachhändler ausgegeben wurden. Für dasselbe Jahr lassen sich auch bereits Belege finden, dass Schallplatten nicht nur von Phonotechnik-Firmen für Werbezwecke genutzt wurden. So sind im DRA eine „Werbeplatte für die Sicherungsvorrichtung“ der Firma Tellschow und Co, Heidelberg, die Schutz durch „das automatische Auslösen eines Rechens“ anpreist, sowie eine „Werbeplatte für den Verein ‚Deutsche Erde‘“, die über die Bedingungen und Vorteile einer Mitgliedschaft in besagtem Verein aufklärt, aufgelistet.32 Auch in einem anderen medialen Kontext kam die Schallplatte zum werberischen Einsatz: Ab 1932 wurde sie für Rundfunkwerbung genutzt. Neben normierten, vorgelesenen „Durchsprüchen“ konnten nun vorproduzierte und auf Platte gesprochene Werbetexte gesendet werden. Hatten die Durchsprüche anfangs noch aus „‚launige[n] Unterhaltungen in Vers oder Prosa‘“ bestanden, waren diese bald normiert und hintereinander vorgetragen worden.33 Vertreter der Zeitungsbranche bezeichneten die Durchsprüche als „mißlungene Kopie der Zeitungsinserate“, die, „wie aus dem Katalog abgelesen, eine Aufzählung“ der Produkte und Preisangaben waren.34 Bei größeren Firmen gewann die Schallplatte im Rundfunk an Beliebtheit, für kleinere Geschäfte war die Produktion einer Werbeschallplatte allerdings zu teuer. Außerdem bestand in der Regel kein Interesse daran, deutschlandweit Werbung zu schalten, weshalb weiterhin der Durchspruch dominierte.35 Christian Maatje beschreibt, dass man dank der Schallplatten als Speichermedium für die Rundfunkwerbung „nun in der Lage“ gewesen sei, „den trockenen Ankündigungen Szenen, Gespräche, Lieder und Geräusche entgegenzusetzen“. Interessant war dies vor allem für die „Markenartikelindustrie“, die sich nun „der Radioreklame in höherem Maße zu[wandte]“ und „über alle deutschen Sender ihre Werbung verbreiten“ wollte. Die auf Schallplatten vorproduzierte und gespeicherte Werbung erlaubte es, die Werbezeit gut auszunutzen; zudem wurde „die nunmehr möglich gewordene Untermalung mit Musik“ hervorgehoben.36 Entsprechend schrieb Otto Wollmann 1934
30 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8), S. 198 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt, Auslassungen im Original]. 31 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8), S. 198. 32 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1888–1932 (wie Anm. 8), S. 202. 33 Maatje, Christian: Verkaufte Luft: Die Kommerzialisierung des Rundfunks: Hörfunkwerbung in Deutschland (1923–1936). Potsdam 2000. S. 175. 34 Maatje, Verkaufte Luft (wie Anm. 33), S. 176. 35 Maatje, Verkaufte Luft (wie Anm. 33), S. 178. 36 Maatje, Verkaufte Luft (wie Anm. 33), S. 178.
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über die Begeisterung der Werbetreibenden für die Rundfunk-Werbeschallplatten: „Hier kann mit Hilfe der Werbeschallplatten eine Spielhandlung entstehen, ein nur gesprochenes oder musikalisch illustriertes Spiel, das aus dem Charakter des bisher üblichen, von einem Sprecher verlesenen ‚Durchspruchs‘, der in diesem Falle einer kurzen Zeitungsannonce vergleichbar ist, sich in die höheren Gebiete der angewandten Werbe-Kunst erhebt“.37 Genau diese Art der Werbe-Kunst wurde schließlich ab den 1950er Jahren mittels der Werbeschallplatten umfassend umgesetzt. Doch bereits im zweiten Band des oben zitierten Verzeichnisses des DRA, der die Jahre 1933–1935 abdeckt, gibt es einige Hinweise auf solche ausgefeilteren Formen von Werbeschallplatten. So ist für Dezember 1933 eine „Werbeplatte mit den Lindström-Neuerscheinungen (Teil 1+2)“ und dem Titel Hallo, Hallo! mit einer Länge von 9′15 verzeichnet. Anlässlich des Jahresendes wendet sich Lindström auf dieser Platte mit den Neuerscheinungen an die Rezipient*innen, spielt die entsprechenden Musiktitel an, kommentiert diese auch und endet mit der „Absage: ‚Und nun, meine Damen und Herren, merken Sie sich bitte: Odeon und Gloria-Musikplatten sind kostbare, aber nicht kostspielige Weihnachtsgeschenke. Wir wünschen Ihnen eine gesunde deutsche Weihnacht und ein glückliches 1934!‘“.38 Für das Jahr 1935 sind des Weiteren mehrere Werbeschallplatten genannt, beginnend mit einer Lindström-Werbeplatte vom Februar, die Hinweise auf die Neuerscheinungen im selben Monat gibt (7′35) und weiteren Lindström-Platten vom April 1935 (7′30) und Mai 1935 (7′05).39 Auch die Platten anderer Werbetreibender sind verzeichnet. Lediglich eine jedoch, nämlich die Werbeschallplatte „Rundfunkwerbung für Christophstaler Stoffe“ (3′20), enthält den expliziten Hinweis darauf, dass es sich dabei um Rundfunkwerbung handelte. Die weiteren aufgeführten Werbeplatten sind: „Telefunken. Die deutsche Weltmarke. ‚Achtung, Achtung, hier Phono-Nauen! Eine sprechende Einführung‘“ mit der stolzen Länge von 10′00, eine „Werbeschallplatte für die August Luhn & Co Seifen- und Glycerin-Fabriken, Wuppertal-Barmen“ (3′10), auf der die Kapelle Oscar Joost mit den fünf Parodisters zu hören ist, eine Werbeschallplatte
37 Maatje, Verkaufte Luft (wie Anm. 33), S. 179. Nach: Wollmann, Otto: Die Werbeschallplatte als neuzeitliches Werbemittel. In: Seidels Reklame, Jg. 18, Heft 1 (1934). S. 32. In der Österreichischen Nationalbibliothek (ANNO) finden sich digitalisierte Ausgaben von Seidels Reklame aus den Jahren 1915, 1919, 1925–1928, 1930–1932, 1935–1943, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus? aid=srk&size=45 (10.01.2019). Der Jahrgang 1934 ist allerdings nicht dabei. 38 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1933–1935. Ein Verzeichnis. Zusammengestellt und bearbeitet von Walter Roller (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs). Potsdam 2000. S. 175 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt]. Für das Jahr 1934 gibt es zudem diverse verzeichnete und damit archivierte Rundfunkwerbungen, nämlich von/für Coca Cola, Persil, Nivea, Kienzle-Uhren, Continental-Fox, Kathreiner-Kaffee, TelefunkenMeistersuper (Rundfunkapparat) und Beyer-Moden; vgl. Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1933–1935, 187 f. 39 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1933–1935 (wie Anm. 38), S. 283, 296 u. 307 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt].
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für Rondo-Waschmaschinen mit dem Titel Rondo-Lied (2′25) sowie eine Werbeschallplatte für den „‚Caspar-Blume‘-Kundendienst, Köln (Elektro- und Haushaltsartikel)“ (3′35), die beide ebenfalls Musikstücke enthalten, und zu guter Letzt eine Werbeschallplatte mit „Werbung für ‚Schwarz-Weiß‘-Zigaretten“ (4′30).40 Mit dem Verbot der Rundfunkreklame im Herbst 1935 endete auch die Präsenz der Werbeschallplatte im Hörfunk.41 Nach der eher kurzen Episode, in der die Schallplatte auch als Trägermedium für vorproduzierte Hörfunk-Werbung genutzt wurde und während der man bereits neue stilistische Elemente erprobt hatte, die die akustische Werbung attraktiver werden ließ, kam die Schallplatte ab den 1950er Jahren in ihrer Ursprungsform erneut zum breiten werberischen Einsatz: als eigenständiges und für sich selbst stehendes Werbemittel. So berichtete Der Spiegel am 25. Februar 1959 von der holländischen Schokoladen-Gesellschaft Baronie, die „als erste europäische Firma“ die Schallfolie als Verpackungsschallplatte nutze. „Die Idee stammt, wie die meisten absonderlichen – deshalb aber um so [sic!] wirksameren – Werbegags, aus Amerika; sie konnte allerdings erst verwirklicht werden, nachdem die Phono-Industrie die sogenannten Tonfolien entwickelt hatte – hauchdünne Schallträger aus Kunststoff, oftmals auch auf Pappe aufgezogen.“42 Die Tonfolie hatte den Vorteil der günstigeren Produktion und der einfacheren Distributionswege, da das Material biegsamer bzw. flexibler einsetzbar war und so den breiten Einsatz begünstigte. Die Verpa-
40 Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), Tondokumente 1933–1935 (wie Anm. 38), S. 374 f. [Hervorhebungen aus dem Original entfernt]. 41 Vgl. Maatje, Verkaufte Luft (wie Anm. 33), S. 197. Im vierten Band der Tondokumente-Verzeichnisse finden sich im Jahr 1938 fünf archivierte Werbesprüche für Mercedes-Benz bzw. spezifische Wagen-Modelle von Mercedes-Benz mit einer Länge von 0′25 bzw. 0′30 sowie ein „Werbelied für den Rohöl-Diesel von Daimler-Benz“ mit einer Länge von 4′30, das Zeilen enthält wie: „‚Es blüht der Rohöldieselbau im schönen Städtchen Gaggenau‘“; Vgl. Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1936–1938: Ein Verzeichnis. Zusammengestellt und bearbeitet von Walter Roller (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs). Potsdam 2002. S. 285 [Hervorhebungen aus dem Original entfernt]. 42 o. A.: WERBUNG: Dixieland auf Deckeln. In: Der Spiegel 9 (1959). S. 62. http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-42624636.html (10.01.2019). Zwar stünde „der Masseneinsatz der Schallfolien in der Werbung“ noch bevor, Belege für die Nutzung und weitere Überlegungen, wie diese für Werbezwecke einsetzbar war, finden sich aber neben dem niederländischen auch im englischen Kontext. Schon im Dezember 1958 berichtet der Spiegel über eine Schallfolien-Zeitung namens Sonorama, die „zwischen kartonierten Umschlagblättern sechs einseitig abspielbare Tonfolien, die den in deutschen Kaufhäusern angebotenen Postkarten-Schallplatten ähneln, sowie katalogähnliche Seiten mit Berichten, Photos und Inseraten. Der Käufer kann jede beliebige Folie aufschlagen und auf den Plattenteller legen, um den aktuellen Texten und Geräuschen dieser Novität zu lauschen: der ersten kombinierten Ton-Bild-Text-Zeitung“. Vgl. o. A.: SONORAMA: Die sprechende Zeitung. In: Der Spiegel 51 (1958). S. 62. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42621061.html (10.01.2019). Besagte „Tönende Ansichtspostkarten“ waren aus dünner Pappe, „auf denen eine zum Bild passende Musik – oft ein Heimatschlager – eingepreßt ist“.
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ckungsschallplatte konnte zuhause von den Kund*innen ausgeschnitten und auf den Plattenteller gelegt werden, forderte somit die Aktivität der Rezipient*innen auf besondere Weise. Fortan wurden immer häufiger Schallfolien und Single-Platten als Tonträger für Werbung eingesetzt.43 Der Nutzungs- und Einsatzbereich verbreiterte sich und die Schallplatten wurden für die Bewerbung von Firmen, Marken, Produkten und Dienstleistungen aller Art genutzt. „Werbeplatten wurden als Wurfsendungen, als Beilagen zu Zeitschriften, als Zugabe zu Produkten oder als Werbegeschenk für besondere Berufsgruppen verteilt.“44 Anhand der Werbeschallplatten, die sich in den Sammlungen des Regensburger Archivs befinden, lässt sich schließen, dass die 1950er und 1960er Jahre die Blütezeit für das Werbemittel waren, es liegen aber auch Schallplatten aus den 1970er, 1980er und vereinzelt aus den 1990er Jahren vor.
Die Werbeschallplatte als audiovisuelles Werbemittel: Cover, Etikett, Akustik Der Bestand an Werbeschallplatten im RAW veranschaulicht die breite Palette an Strategien, die im Rahmen dieses Mediums möglich schienen. Vor allem lag dies an der Vielfalt von Funktionen, die neben der naheliegenden Appellfunktion – also der unmittelbaren Aufforderung zum Kauf eines beworbenen Produkts – auftreten konnten. So finden sich Platten, die – letztlich immer im Dienst der Werbung – musikalische, belehrende, Rat gebende, informative oder unterhaltende Inhalte aufweisen. Das Werbeziel konnte dabei ganz unterschiedlich ausfallen: Produkt-, Marken- und Imagewerbung oder auch die Kundenbindung konnte damit angestrebt werden. Anzumerken ist, dass sich die Werbebotschaft dabei nicht auf die auditive Ebene beschränkte, wie man bei einer Werbeschallplatte zunächst annehmen könnte. Vielmehr nutzten Werber*innen den Verbund aus Cover, Etikett und auditiver Botschaft gezielt aus, weshalb die Schallplatte durchaus als audiovisuelles Werbemittel erachtet werden kann. Dies brachte, wie im Folgenden aufgezeigt wird, neue strategisch-gestalterische Möglichkeiten mit sich. Das Cover war das erste visuelle Element, mit dem die Rezipient*innen der Werbeschallplatte in Kontakt kamen. Dessen Funktion und Gestaltung wurde daher von
43 Rein materiell sind Schallfolien nicht als Schallplatten zu bezeichnen. Im Gebrauch und der Anwendung aber qualifizieren sie sich als Schallplatten, weshalb in der weiteren Analyse keine Unterscheidung vorgenommen wird. 44 Schulze, Thomas: Stars on 7 Inch. http://www.stars-on-7-inch.com/Werbeplatten/index_werbeplatten.htm (10.01.2019).
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Werber*innen als besonders wichtig erachtet. Waren Schallplattencover bis ca. in die 1940er Jahre im Wesentlichen nur als die (schützende) Verpackung der Schallplatte – in Form einer Standard-Papiertüte45– erachtet worden, so erkannte man zunehmend auch die funktionalen Potentiale des Covers als Werbe- und Informationsträger. Als Vater des Plattencovers gilt der Art-Designer Alex Steinweiss,46 der sich zum Ziel gesetzt hatte, „dass die Leute das Cover sehen und dabei sofort die Musik hören“: Gerne erinnert er [Steinweiss] sich an das Jahr 1940, als er in einem düsteren Büro arbeitete, im Hauptsitz von CBS Records in Bridgeport, Connecticut. Dort hatte er die Idee seines Lebens: Wie wäre es, wenn die Platten statt der ‚Grabstein‘-Verpackungen ein Gesicht bekommen würden? Ein farbiges, künstlerisch gestaltetes, individuelles Cover? […] Die Firma Columbia kann Anfang der vierziger Jahre den Verkauf seiner Platten [sic!] dank Steinweiss um ein Vielfaches steigern. Seine Art, die Plakatkunst und Typografie kreativ zu nutzen, macht Schule […].47
In verschiedenster Art und Weise bot das Cover von nun an Orientierung über den auditiven Inhalt der Schallplatte.48 Das Album wiederum wurde bereits in den 1920er Jahren geschaffen, um zusammengehörige Platten zu bündeln.49 Auch das (mehrseitige) Booklet, das man wohl als Erweiterung des Covers bezeichnen kann, sei an dieser Stelle erwähnt. Beispielhaft dafür, wie aufwendig die Booklets von Werbeschallplatten sein konnten, sei hier die Platte Diskothek der Meister50 von Philips erwähnt, deren immerhin 20-seitiges Booklet die Appell-, Informations-, Kontakt- und Instruktionsfunktion enthält. Zudem wird die letzte Innenseite in Gänze dazu genutzt, die Besitzer*innen der Schallplatte mittels „Fünf goldene[r] Regeln für die Behandlung und Aufbewahrung Ihrer Schallplatten“ über den sorgfältigen Umgang zu informieren. Elena Ntokas erwähnt in ihrer Arbeit zur Coveranalyse von Werbeschallplatten aus sprachwissenschaftlicher Sicht auch deren „ästhetische Funktion“. Sie schreibt:
45 Vgl. Schmitz, Marina: Album Cover. Geschichte und Ästhetik einer Schallplattenverpackung in den USA nach 1940. Designer – Stile – Inhalte. München 1987 (Beiträge zur Kunstwissenschaft. Bd. 19). S. 31. 46 Vgl. Haffner, „His Master’s Voice“ (wie Anm. 2), S. 98 f. 47 Mayer, Christian: Der Verhüllungskünstler. Süddeutsche Zeitung (17.05.2010). https://www. sueddeutsche.de/kultur/erfinder-des-plattencovers-der-verhuellungskuenstler-1.144510 (2.01.2019). 48 Vgl. Waldinger, Karl-Georg: Semiotische Analyse eines Popmusik-Covers. Möglichkeiten der interdisziplinären Projektarbeit in der Sekundarstufe I. Ratingen/Kastellaun 1975 (Schriften zur Theorie und Praxis der Kunstpädagogik). S 16. 49 Vgl. Schmitz, Geschichte und Ästhetik einer Schallplattenverpackung (wie Anm. 45), S. 31. 50 Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, RNummer: 11765, Single 45, Philips: Diskothek der Meister von 1960. https://raw.uni-regensburg. de/details.php?r=11765 (10.01.2019).
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Betrachtet man beispielsweise Plattenbewertungen nach international anerkannten Oldiemarkt-Qualitätsstufen, so ist es auffällig, dass diese Einstufungen sowohl den Tonträger als auch das Cover berücksichtigen und Letzteres den Wert ebenso mitbestimmt. [Detlef] Siegfried (2011, 188) bezeichnet zum Beispiel das Sgt.-Pepper-Cover der Beatles von 1967 ‚als eines der herausragenden Kunstwerke des 20. Jahrhunderts‘, welches bis heute immer wieder von anderen Musikgruppen aufgegriffen wird (vgl. ebd.), wodurch der ästhetische und künstlerische Wert der Schallplattenhülle nochmals unterstrichen wird.51
Neben dem Cover ist das Etikett der zweite Bestandteil des Gesamtpakets Werbeschallplatte. Frank Wonneberg definiert dieses im Vinyl Lexikon so: [Es handelt sich um die] Bezeichnung für das mittig auf der Schallplatte angebrachte, kreisrunde Stück Papier. Etiketten sind einseitig bedruckt und enthalten normalerweise alle wesentlichen Angaben, die die Schallplatte und den Programminhalt der jeweiligen Seite beschreiben. Dazu gehören Titelbezeichnung, Autor, Verlag, Laufzeit, Katalognummer, Albumtitel, Name des Interpreten, Firmenangaben, Schutzangaben, usw.52
Mitunter erfolgt eine rezeptionsbezogen und funktional raffinierte Verteilung der kommunizierten Themen/Inhalte auf die einzelnen Bestandteile der Platte. Ein Beispiel dazu liefert Ferrero Küsschen (Zum Muttertag, 1976)53: Hier verweist nur das Plattenetikett auf Titel und Produktnamen. Der auditive Teil enthält keinerlei Werbung bzw. Marken- oder Produktbezug. Auf der Platte selbst finden sich „Gedanken zum Muttertag, umrahmt von Ausschnitten aus Mozarts ‚Kleiner Nachtmusik‘“ (Bemerkung in der Datenbank zu dieser Werbeschallplatte). Anders gelagert ist die Informationsverteilung bei Golddollar. Beim Golddollar-Preisausschreiben (1977)54 – beworben werden Zigaretten – weist der Sprecher explizit auf die Instruktion zum Reim-Wettbewerb auf dem Cover hin; die Informationen werden also nicht mündlich präsentiert, sondern auf die Plattenhülle ausgelagert. Der auditive Inhalt als dritter Bestandteil der Werbeschallplatte hat dieselben Darstellungsmittel wie Hörfunkwerbung zur Verfügung. Allerdings finden sich auch Medienspezifika, die eine gänzlich andere Gestaltung ermöglichen. Dies liegt erstens daran, dass Werbung auf Schallplatten wesentlich mehr Zeit zur Verfügung hat
51 Ntokas, Elena: PHILIPS klingender Katalog der Klassiker – Coveranalyse der Werbeschallplatte Diskothek der Meister von Philips (1960). Unveröffentlichte Hochschulschrift. Regensburg 2017. S. 8 f. Nach: Siegfried, Detlef: Sgt. Pepper & Co. Plattencover als Ikonen der Popkultur. In: Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute. Hrsg. von Paul Gerhard. Göttingen 2011. S. 188–195. 52 Wonneberg, Frank: Vinyl Lexikon. Wahrheit und Legende der Schallplatte. Fachbegriffe, Sammlerlatein und Praxistipps. Berlin 2000. S. 14. 53 Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, RNummer: 11681, Ferrero Küsschen: Zum Muttertag 1976 von 1976. https://raw.uni-regensburg.de/ details.php?r=11681 (10.01.2019). 54 Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, RNummer: 11692, Golddollar: Golddollar-Preisausschreiben von 1977. https://raw.uni-regensburg. de/details.php?r=11692 (10.01.2019).
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als im Hörfunk. Zweitens gestaltet sich auch die Rezeptionssituation gänzlich anders. Die Rezipient*innen müssen aktiv werden, die Schallplatte auf den Plattenspieler auflegen. Es muss also ein Grundinteresse an der Rezeption existieren, weshalb es naheliegt, die (werbende) Appellfunktion in den Hintergrund zu rücken. Ein Format, das sich daher, wie der Bestand des RAW zeigt, unter anderem großer Beliebtheit erfreute, war das Gewinnspiel. Dabei erfolgt stets choreographisch geschickt die Verbindung eines Inhalts mit einer Werbefunktion: Durch die für die Lösung der Aufgabe notwendige Rezeption wird sichergestellt, dass der*die Hörer*in Werbespezifisches nicht umgehen kann. Bei der Platte von UHU 1970 (Karl May, Der Schatz im Silbersee) beispielsweise wird – neben der Präsentation des Gewinnspiels auf dem Cover („mit 500 tollen Abenteuer-Preisen / Gesamtwert DM 10 000“) – auch mündlich zu Beginn der Platte auf das Preisausschreiben hingewiesen und das Hörspiel angekündigt.55 Obendrein wird die Unterhaltungsfunktion bedient bzw. der Spaßfaktor gewährleistet, denn mit dem Gewinnspiel ist eine themenspezifische Bastelaufgabe (Schatzkarte) verbunden. Erst am Ende des Hörspiels erfolgt die Instruktion und die Nennung des Erkennungssatzes für das UHU-Gewinnspiel; diesen sollen die Hörer*innen anschließend in die Schatzkarte eintragen und an UHU schicken. Die Instruktion findet sich parallel auch auf der Rückseite des Covers: „1. Schatzkarte ausschneiden, zusammenpuzzlen und auf eine Postkarte kleben. Am besten mit UHU extra, denn mit dem geht’s extra tropffrei und sauber. 2. Abenteuer-Schallplatte anhören und den geheimen Erkennungssatz in das ExtraFeld der Schatzkarte eintragen.“56 Platten für die Zielgruppe Kinder (siehe z. B. die Werbeschallplatte mit dem Kinderwettbewerb von Birkel57) enthalten häufig Geschichten, Abzählverse und Kinderlieder. Bei den Geschichten über Lurchi von Salamander (z. B. Lurchis Abenteuer 658) wird beispielsweise der – eigentlich beworbene – Salamander-Schuh in die Geschichte eingebaut, bei Bahlsen59 werden die Kekse im Anschluss an die Tiergeschichten und auf dem Cover thematisiert; außerdem sind sie indirekt auch in den Geschichten selbst präsent. Diese handeln nämlich nur von jenen Tieren, die als
55 Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11886, Uhu: Karl May Der Schatz im Silbersee von 1970. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11886 (10.01.2019). 56 RAW, Uhu (wie Anm. 55), Rückseite Cover. 57 Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, RNummer: 11611, Birkel: Kinderwettbewerb von 1960. https://raw.uni-regensburg.de/details.php? r=11611 (10.01.2019). 58 Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, RNummer: 12020, Salamander: Lurchis Abenteuer 6 ohne Jahresangabe. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=12020 (10.01.2019). 59 Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, RNummer: 11596, Single 45, Bahlsen: Tiergeschichten von 1960. Werbeschallplatte. https://raw. uni-regensburg.de/details.php?r=11596 (10.01.2019).
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Formen für die Bahlsen-Kekse zum Einsatz kommen.60 Eine ähnliche Strategie zeigt sich auch bei einer Schallplatte von Nesquick aus dem Jahr 1960: Auf dem Etikett steht „Hoppe hoppe Reiter“, darunter Abzählverse und Kinderlieder.61 Hier wird aus dem Suppenkaspar – dieser findet sich im Struwwelpeter-Band von Heinrich Hoffmann (1844) – ein Milchkaspar, der wieder zu Kräften kommt, wenn er Nesquick zu sich nimmt. Oft rückt die Werbefunktion auch insofern in den Hintergrund, als im auditiven Teil der Platte gänzlich auf den Produktbezug verzichtet wird (z. B. keine Markennamennennung; siehe das Beispiel von Ferrero Küsschen oben). Des Weiteren finden sich auch Werbeschallplatten, die entweder Musikstücke im Original oder mit Texten, die entsprechend auf das zu bewerbende Produkt umgeschriebenen wurden, enthielten. Ein Beispiel ist die Werbeschallplatte von Liegelind (ohne Jahresangabe): Beworben werden – ausschließlich auf dem Cover und dem Etikett – Windeln, Lätzchen, Betteinlagen; auf dem akustischen Teil der Platte enthalten sind die Schlaflieder Schlafe, mein Prinzchen und Guten Abend, gut Nacht. Hier wurden die Texte nicht geändert, sondern im Original vom Berliner Mozartchor vorgetragen. Die Auswahl der Stücke erfolgte jedoch produktbezogen, außerdem wird die A-Seite von einem Sprecher so beendet: „Und nun wünscht das Sandmännchen von Liegelind eine gute Nacht.“62 Dass aufgrund der vielfältigen und fokussierbaren Distributionswege eine klare Zielgruppenadressierung möglich war, wurde mitunter auch für die Gestaltung der Werbeschallplatten genutzt. Ein Beispiel ist die Zielgruppe ‚Arzt‘: Unter anderem findet sich eine Werbeschallplatte aus den 1960er Jahren, auf der das Arzneimittel Hylak forte Tropfen der Firma L. Merckle GmbH aus Blaubeuren beworben wird (Gesamtlänge zwölf Minuten).63 Die Zielgruppe wird direkt angesprochen – auf sie ist auch die gesamte Gestaltung ausgerichtet: Sehr verehrte Frau Doktor, sehr geehrter Herr Doktor / mit dieser musikalischen Darbietung hoffen wir, Ihnen eine Freude bereitet zu haben // so wie sich die Vielfalt der Instrumente zum Klangkörper des Orchesters vereint / so erfüllen auch im menschlichen Körper ungezählte
60 Vgl. Greule, Albrecht u. Sandra Reimann: „Es geschah im Städtchen Werther anno 1909“ – Narration in der Werbung. In: „Werbegeschichte(n) – Markenkommunikation zwischen Tradition und Innovation“. Hrsg. von Sabine Heinemann. Wiesbaden 2019. 61 Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11755, Nesquick: Hoppe, hoppe Reiter. Abzählverse und lustige Kinderlieder von 1960. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11755 (10.01.2019), Etikett. 62 Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer 11736, Single 45, Liegelind: Schlafe mein Prinzchen ohne Jahr. https://raw.uni-regensburg.de/ details.php?r=11736 (16.06.2019). 63 Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, RNummer: 11711, Single 45, Hylak: Die diebische Elster von 1959. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11711 (10.01.2019).
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Komponenten ihre Aufgabe nur im Sinn von Zusammenspiel // ein Organsystem, an dem sich eine Vielzahl von Einzelkomponenten auf den Gesamtorganismus auswirkt, ist der Verdauungstrakt [… S. R.].64
Im weiteren auditiven Text findet sich zudem medizinische Fachsprache (z. B. „Biosynthese“, „Diarrhöen, Obstipationen, Gastroenteritis, gastrocardialer Systemkomplex“, „endogen bedingte chronische Ekzeme und andere enteral bedingte Allergosen“); das gilt auch für Teile des Covers (bzw. Booklets), das auf den insgesamt sechs Seiten auffallend textreich gestaltet ist. Dabei ließe sich diskutieren, inwiefern es sich hier um eine Textsorten-Imitation handelt: Das Cover enthält Literaturhinweise, man fühlt sich beim Lesen – auch aufgrund des verwendeten Fachwortschatzes – an einen wissenschaftlichen Aufsatz oder eine Packungsbeilage erinnert. Auf der B-Seite ist ausschließlich Musik zu hören, was wiederum die Unterhaltungsfunktion der Werbeschallplatte unterstreicht. Auch die Zielgruppe des Produkts wird am Ende der A-Seite explizit adressiert: „Ein Versuch mit Hylak forte wird Sie und Ihre Patienten davon überzeugen, biologisch sinnvoll und nicht nur symptomatisch wirksam behandelt zu haben.“65 Wie an diesen knapp behandelten Beispielen ersichtlich wurde, besteht eine starke Verschränkung der drei Bestandteile Cover, Etikett und Akustik bei Werbeschallplatten, die diese zu einem audiovisuellen Werbemittel werden lassen. Um dies weiter ausdifferenzieren zu können, wird im Folgenden auf ein spezifisches Beispiel genauer eingegangen.
Das Beispiel Was ist Hi-Fi? – eine Werbeschallplatte der Marke Bang & Olufsen (1965) Die schon eingangs erwähnte Werbeschallplatte Was ist Hi-Fi? der dänischen Firma für Unterhaltungselektronik Bang & Olufsen aus dem Jahr 1965 bietet sich als anschauliches Beispiel an, um die bisher erörterten strategisch funktionalen Besonderheiten der Werbeschallplatte detaillierter zu analysieren.
64 RAW, Hylak: Die diebische Elster (wie Anm. 63), A-Seite, 02:11–02:42. 65 RAW, Hylak: Die diebische Elster (wie Anm. 63), A-Seite, 04:26–04:36.
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Abb. 3: Vorderseite des Covers der Werbeschallplatte ‚Was ist Hi-Fi?‘ von ‚B&0‘ (1965). Quelle: RAW (wie Anm. 7).
Abb. 4: Etikett (A-Seite) der Werbeschallplatte ‚Was ist Hi-Fi?‘ von B&0 (1965). Quelle: RAW (wie Anm. 7).
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Sowohl auf dem Cover als auch auf dem Etikett ist das Logo von Bang & Olufsen zu sehen (vgl. Abb. 3 und Abb. 4). Das Logo ist ganz im werbenden Sinne – nämlich aufwertend – gestaltet: Neben der Krone finden sich die Hinweise „BANG & OLUFSEN ALS LIEFERANT DES KGL. DÄNISCHEN HOFES“ sowie „Det danske kvalitetsmarke“ (also: Die dänische Qualitätsmarke). Auf der Vorderseite des Covers befindet sich zudem der Titel der Platte (Die Eroberung einer technischen Wunderwelt. Mit vielen Erläuterungen). Auf der Rückseite des Covers findet sich neben dem erneuten Einsatz des Logos eine Art Teaser, ein relativ kurzer Text, der auf den weiteren Inhalt neugierig macht und so zum Weiterlesen bzw. Weiterhören anregen soll.66 Dort ist zu lesen: Über Hi-Fi wird seit Jahren viel geschrieben und gesprochen. In zahllosen Prospekten von Tonband- und Rundfunkgeräten, Plattenspielern und Musiktruhen wird dieser Begriff immer wieder erwähnt. Auch auf den Schallplatten aller Preisklassen findet man fast immer die Bezeichnung Hi-Fi. Was ist denn nun eigentlich Hi-Fi? Ist es mit Stereo identisch? Wird es immer zu Recht angepriesen? Diese Schallplatte sagt Ihnen mehr. Erfahrene Ingenieure erläutern den Begriff Hi-Fi, beseitigen weitverbreitete Irrtümer und geben Ihnen noch zusätzlich wertvolle Tips [sic!].67
Das Etikett zeigt durch den Einsatz von Fachlichkeitselementen aus dem Bereich Technik ebenfalls werbetypische Aufwertung. Unter dem Logo ist zu lesen: „Herausgegeben von den Toningenieuren des B&O-Akustikstudios.“68 Die Platte suggeriert damit eine Experten-Laien-Kommunikation. Diese Strategie setzt sich im auditiven Teil fort, wenn zunächst zwei B&O-Ingenieure (Ingenieur_A & Ingenieur_B) ein Zwiegespräch führen und im späteren Verlauf ein dritter Sprecher hinzukommt, der als Laie fungiert. Spielt man die Werbeschallplatte ab, beginnt die A-Seite zunächst mit den berühmten Worten von Thomas A. Edison: „Mary had a little lamb.“ Ingenieur_A kommentiert diese folgendermaßen: „Schlimm diese Geräusche, nicht wahr? Aber keine Angst / Ihr Händler hat ihnen keine schadhafte Schallplatte mitgegeben.“ Der zweite Sprecher, Ingenieur_B, ergänzt: „Nein / wirklich nicht / Sie hatten nur gerade eben die Gelegenheit, einem historischen Ereignis beizuwohnen […].“69 So wie der Edison-Phonograph um die Jahrhundertwende für sich selbst warb, so greift B&O dieses selbstreflexive Moment hier erneut auf, führt es fort und nutzt somit die Technologie, um wiederum für Technologie zu werben. Auf der A-Seite (mit einer Gesamtlaufzeit von 4′13 Minuten) wird die Werbefunktion dabei gänzlich verschwiegen bzw. nicht konkret angesprochen. Es dominiert die Informationsfunktion, in-
66 Vgl. Hooffacker, Gabriele: Teaser. (17.05.2016). In: Journalistikon. Das Lexikon der Journalistik. http://journalistikon.de/teaser/ (10.01.2019). 67 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), Cover. 68 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), Etikett. 69 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), A-Seite, 00:00–00:33.
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dem die Geschichte der Tonspeicherung auf eine unterhaltsame Weise kommuniziert wird. Im weiteren Verlauf der Platte dauert es bis Minute 03:32 der B-Seite, bis die Werbebotschaft explizit Erwähnung findet. Dramaturgisch wird nichtdestotrotz schon zu Beginn die Stoßrichtung der Botschaft verdeutlicht: Das Wunder der neuesten Hi-Fi-Technologie soll hervorgehoben werden. Es entspinnt sich folgender kleiner Dialog im Anschluss an die historische Aufnahme von Edison: Laie: Naja / ganz schön / aber Hi-Fi war das gerade nicht Ingenieur_A: Nein, das nicht / Den Begriff Hi-Fi kannte man damals noch gar nicht / trotzdem war diese Sprechmaschine / oder ganz offiziell / Phonograph / für unsere Urgroßeltern ein riesiges Wunder Ingenieur_B: Man muss sich das mal vorstellen / zum ersten Mal konnte man Stimmen von Menschen / ja sogar Musik / für immer festhalten Laie: Na, wenn ich heute an meine Langspielplatten denke, dann hat sich wirklich eine Menge getan.70
Die B-Seite beginnt, so wie die A-Seite endet, mit einem Musikstück. Mittlerweile sind die Ingenieure in ihrer Erzählung der Technikhistorie bei den elektrischen Aufnahmeverfahren und den 1930er Jahren angekommen, die sich laut dem Sprecher technisch „schon gut“ anhören.71 Nach weiteren Entwicklungsschritten, so lernen die Zuhörer*innen, wurde nach dem Krieg der Begriff Hi-Fi bekannt, als um etwa 1952 die ersten Langspielplatten auf den Markt kamen, die Rundfunk- und Tonbandtechnologie sich maßgeblich verbesserte und UKW sich zum Weltbegriff mauserte.72 Ingenieur_A schließt an: „Tja / und damals / vor etwa 15 Jahren / war man mit Recht sehr stolz auf das Erreichte / Hi-Fi wurde erstmalig zum allgemeinen Wertbegriff.“73 Nachdem die Ingenieure erläutern, was Hi-Fi wirklich bedeutet und dass bei Weitem nicht alles, was sich Hi-Fi nennt, auch Hi-Fi ist, nähert die Platte sich schlussendlich der werberischen Botschaft. Es wird die Frage aufgeworfen, wie man sich als Laie in diesem Dschungel zurechtfinden solle. Die klare Antwort lautet: „Indem man zum Fachhändler geht und sich beraten lässt.“ Beim Fachhändler soll man sich also „eine ‚echte‘ Hi-Fi-Anlage vorführen lassen“, denn „da hört man nämlich erst den Unterschied“.74 Über Fachhändler – man beachte erneut das Cover der Platte, auf dessen Rückseite der Vermerk „Stempel des Hi-Fi-Fachhändlers“75 zu finden ist – wurde diese Platte schließlich auch ausgegeben. Hier lässt sich erkennen, dass die Werbeschallplatte von Bang & Olufsen für Fachhändler produziert wurde, die diese an (potentielle) Kund*innen weitergeben konnten. Ein Umstand,
70 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), A-Seite, 01:06–01:35. 71 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), B-Seite, 00:30–00:32. 72 Vgl. RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), B-Seite, 01:00–01:15. 73 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), B-Seite, 01:15–01:23. 74 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), B-Seite, 02:12–02:22. 75 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), Cover.
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der auch auf der auditiven Ebene hervorgehoben wird: Nachdem erklärt wird, dass nicht jede Stereo- und auch nicht jede sogenannte Hi-Fi-Anlage ‚echtes‘ Hi-Fi kann, wird darauf hingewiesen, wieso es sich lohnt, in eine neue Anlage zu investieren. Im Abschnitt von Minute 3:32–05:03 kommt es endlich zur expliziten Werbebotschaft: Der Laie, der stellvertretend für die Rezipient*innen und damit die Kund*innen steht, fragt kritisch nach: „Aber / sind diese Anlagen nicht furchtbar teuer?“, woraufhin einer der Ingenieure geduldig und ausgiebig erklärt, welche Vorzüge man sich damit erkauft. Der Dialog mündet schließlich bei Min. 3:47 in die Frage des Laien: „Welches Fabrikat empfehlen Sie mir?“ Einer der Ingenieure antwortet darauf: „Nun / ich empfehle Ihnen eine Anlage von B und O // Diese Empfehlung gilt auch für Sie, sehr verehrter Zuhörer / Sie sind unserm Gespräch gefolgt / Sie haben eine ganze Menge über Hi-Fi und moderne Tonwiedergabe gehört/“. An diese Kaufempfehlung schließt die Thematisierung des Expertenstatus und der beabsichtigten versprachlichten Funktionen (z. B. zu informieren) an, indem die „Toningenieur[e] der weltbekannten dänischen Firma Bang und Olufsen“ die Hörer*innen „ganz zwanglos und neutral informiert“ haben. Diese scheinbare inhaltliche Transparenz soll die Glaubwürdigkeit bei den Rezipient*innen, die – wie auch im vorausgehenden Gespräch – direkt angesprochen werden, fördern: „Machen Sie doch mal eine Probe aufs Exempel // Gehen Sie zu dem Fachhändler, der Ihnen diese Schallplatte überreicht hat / der wird Ihnen gern und für Sie natürlich völlig unverbindlich das Klangwunder einer B-und-O-Hi-Fi-Stereoanlage demonstrieren.“ Abschließend wird die Probe aufs Exempel gemacht und zu einem Musikstück in Hi-Fi-Qualität übergeleitet.76 Die Werbebotschaft wird somit auf der B-Seite doch sehr explizit kommuniziert: B&O wirbt für seine Anlagen und will dem Kunden durch die Informationen und den Hörtest die eigenen Produkte schmackhaft machen. Auch wenn die Botschaft erst nach knapp acht gehörten Minuten konkret ausgesprochen wird, ist die Dramaturgie der Informationen dennoch gänzlich darauf ausgerichtet, die Vorzüge der B&O-Technologie hervorzuheben und den Hörer von ihrer Qualität zu überzeugen. Mit einer Laufzeit von über zehn Minuten weist diese Werbeschallplatte gegenüber anderen Werbeformen und Werbemitteln Vorzüge auf. Während bekanntere Werbeformen wie Anzeigen, Plakate etc. eher unfreiwillig und im Vorbeigehen oder als aufgezwungene Unterbrechungen im regulären Radio- oder TV-Programm rezipiert werden (müssen), kommt der Werbeschallplatte – wenn sie rezipiert wird – tendenziell aktive Aufmerksamkeit zu. Die Schallplatte als Geschenk, Beilage einer Zeitschrift, ausgehändigt z. B. vom Fachhändler, ähnelt einerseits am ehesten der Postwurfsendung, andererseits können hier durch die besonderen Werbestrategien und die schiere Länge (im Radio oder TV sind es rund 30 Sekunden) ganze Geschichten erzählt werden, die die Rezipient*innen unterhalten, informieren und so
76 RAW, Was ist Hi-Fi? (wie Anm. 7), B-Seite, 03:32–05:03.
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die werberische Botschaft einbetten bzw. scheinbar in den Hintergrund rücken. Die exemplarisch dargestellte Werbeschallplatte von Bang & Olufsen stellt ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise dar. Das Zusammenspiel aus Handlung, Produktpräsentation und Hervorhebung der Marke bzw. des damit verbundenen Images ergibt ein schlüssiges, werberisches Gesamtpaket, das den Eigenheiten der Schallplatte als Werbemittel Rechnung trägt. Die Laufzeit der Schallplatte wird ausgenutzt, um die zu transportierende Information und Werbebotschaft unterhaltsam und narrativ auszuführen. Die narrative Ebene steht dabei im Vordergrund, da sie als Hauptanreiz für die potentiellen Kund*innen dient, sich die Zeit zu nehmen, die Platte anzuhören und die Rezeption nicht vor dem Aussprechen der Werbebotschaft abzubrechen.77 Nach Patrick Weber, der sich auf W. D. Wells bezieht, handelt es sich bei dieser Art der Werbung um eine drama-lecture. Wells „argumentiert, dass Werbebotschaften eine lecture-Komponente und eine drama-Komponente haben, die jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sein können“. Der Aufbau der genannten Platte folgt zunächst der drama-Komponente, im Rahmen derer „Erfahrungen von Akteuren mit dem Werbeobjekt im Rahmen einer Handlung dargestellt [werden]. Es bedarf dabei nicht zwangsläufig eines Sprechers in Form eines identifizierbaren Erzählers, der Produktversprechen und Argumente vorträgt – sie werden in der erzählten Geschichte dargestellt. Die drama-Komponente folgt einer narrativen Logik.“ Die Sprecher, also die B&O-Ingenieure, machen genau dies: Sie erzählen über die Geschichte der Tonspeicherung und ihre Erfahrungen damit, also auch ein wenig ihre eigene Geschichte, stellen anhand der Hörbeispiele die Anlage vor und begründen auf diese Weise den Bedarf an dem Produkt. Gleichzeitig weist der auditive Inhalt auch eine lecture-Komponente auf, da „ein Sprecher das Produktversprechen“ formuliert und Argumente präsentiert, „die diese Behauptung stützen“. Dabei folgen die Sprecher einer argumentativen Logik.78 Die B&O-Ingenieure zeigen auf, was die Stereo-Hi-Fi-Anlage von B&O verspricht, geben Argumente für das Produkt (nämlich die B&O-Technologie) und dessen Qualität und fordern die Rezipient*innen auf, sich selbst im Fachhandel vom Produkt zu überzeugen. Die Kombination beider Strategien ergibt schließlich die Kategorisierung drama-lecture.
77 Zur Narration aus sprachwissenschaftlicher Sicht siehe z. B. Gülich, Elisabeth u. Heiko Hausendorf: Vertextungsmuster Narration. (2000). In: Text- und Gesprächslinguistik 1 Halbbd. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Vol 16. Hrsg. von Klaus Brinker. Berlin 2000. S. 369– 385. Siehe auch Titzmann, Michael: Grundlagen narrativer Strukturen. In: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Hrsg. von Hans Krah u. Michael Titzmann. Passau 2017. S. 109–132. 78 Weber, Patrick: Werbegeschichten. Wirkung von Narrativität in der Werbung. In: Handbuch Werbeforschung. Hrsg. von Gabriele Siegert, Werner Wirth, Patrick Weber u. Juliane A. Lischka. Wiesbaden 2016. S. 397–431, S. 399; Weber bezieht sich auf: Wells, W. D.: Lectures and dramas. In: Cognitive and affective responses to advertising. Hrsg. von Patricia Cafferata u. Alice M. Tybout. Ed. compilation of papers presented at the Fourth Annual Advertising and Consumer Psychology Conference, held in Chicago, Ill., July 11–12, 1985. Lexington, Mass. 1989. S. 13–20.
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Die Auffassung, dass die Schallplatte „als audiovisuelles Objekt auf die Welt kommt“79, kann somit – im Hinblick auf das Zusammenspiel von Cover, Etikett und auditivem Inhalt – im Fall des ausgeführten Beispiels bestätigt werden. Bemerkenswert ist, dass Inhalte einerseits werbestrategisch gezielt auf bestimmte Bestandteile der Werbeschallplatte beschränkt werden (keine Markennennung auf der A-Seite), andererseits jedoch auch große inhaltliche Kohärenz vorliegt. Das Thema Hi-Fi ist auf allen Teilen der Platte vertreten: Schon auf dem Cover ist es gleich einer Überschrift – in der Schriftgröße hervorgehoben und an prominenter Stelle – zu lesen („Was ist Hi-Fi?“). Aus textgrammatischer Sicht – hier spricht man von Supratext – ist dies ein Indiz für ein mögliches wichtiges Thema im folgenden Haupttext – in dem Fall ist das der akustische Teil der Werbeschallplatte.80 Auf beiden Seiten findet sich auf dem Plattenetikett eine Wiederholung der Frage „Was ist Hi-Fi?“, wodurch noch einmal explizit Kohärenz geschaffen wird. Auch die Rückseite des Covers wird von diesem Thema dominiert. Der Terminus ‚Hi-Fi‘ kommt allein dort vier Mal vor. Auch auf der auditiven Ebene ist Hi-Fi das Hauptthema, das schlussendlich auf der B-Seite direkt zur beworbenen Marke führt.
Fazit Ziel des Beitrags war es, anhand des Mediums Werbeschallplatte aufzuzeigen, wie sich Veränderungen in medialen Technologien auf die Gestaltung, die Distribution und die Rezeption von Werbung auswirken. Gerade die Frage nach der Rezeptionssituation ist besonders schwierig zu beantworten. Den Autorinnen sind bis dato keine Quellen bekannt, die darüber Auskunft geben, ob und wie die Werbeschallplatten von den Rezipient*innen aufgenommen wurden. Grundsätzlich fehlen Metadaten, die über den weiteren Kontext Aufschluss geben können. Eine umfassende Betrachtung der Rezeption musste daher in dem Beitrag ausgespart bleiben. Hierzu ist eine Recherche bspw. in Werbefachzeitschriften oder in anderer zeitgenössischer (Fach-)Literatur ausstehend. Die medial-werbekommunikative Einbettung und exemplarische multiperspektivische Analyse der Werbeschallplatte Was ist Hi-Fi? von Bang & Olufsen sowie generell die verfeinerten eingesetzten marketingstrategischen Gestaltungsmerkmale lassen jedenfalls den Schluss zu, dass die Werbefachleute die Schallplatte als ernstzunehmendes Werbemittel verstanden. Auch die Frage nach der Distribution weist For-
79 Laar, Kalle: Vinyl Culture und Zeitgeschichte. Schallplattencover als Quellen der visual history. In: Popgeschichte. Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958–1988. Hrsg. von Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel u. Jürgen Danyel. Bielefeld 2014. S. 361–371, S. 362; zit. n. Ntokas, PHILIPS klingender Katalog der Klassiker (wie Anm. 51), S. 8. 80 Greule, Albrecht u. Sandra Reimann: Basiswissen Textgrammatik. Tübingen 2015.
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schungslücken auf. Bekannt ist, dass die Werbeschallplatten kostenlos und auf verschiedenen Wegen an die anvisierten Kund*innen ausgegeben wurden – sei es als Beilage zu Zeitschriften, als Postwurfsendungen, als Mitgabe beim Fachhändler, etc. Eine umfassende Aufarbeitung steht hier noch aus. Notwendig wären insbesondere Recherchen nach Quellen in Firmen- oder auch Werbeagenturarchiven, die Informationen zum Status und zur Bedeutung von Werbeschallplatten aus Sicht der Werbetreibenden liefern. Gleichermaßen müssen auch zeitgenössische Fachzeitschriften, -organe sowie -archive in eine solche systematische Recherche miteinbezogen werden.81 Für die (werbestrategische) Gestaltung hingegen können, anhand der erfolgten medienhistorischen Einordnung des Werbemittels, des vorliegenden Quellenkorpus im RAW sowie der exemplarischen Analyse, einige aussagekräftige Ergebnisse zusammengefasst werden. Die Schallplatte – bzw. zuvor auch deren Vorläufer, die Phonographenwalze – wurde schon sehr früh für werberische Zwecke eingesetzt, zunächst hauptsächlich, um für sich selbst zu werben. In den 1930er Jahren wurde der Einsatz der Schallplatte ausgeweitet, indem man sie als Trägermedium für Rundfunkwerbung einsetzte, wodurch es möglich wurde, gestalterische Neuerungen zu erproben. In den 1950er Jahren schließlich kamen Schallplatten aufgrund technischer Entwicklungen wie der Schallfolie, die den breiten Einsatz von Schallträgern für die werberische Distribution erleichterten und in breiter Anwendung denkbar machten, ins Blickfeld der Werbetreibenden. Häufig wurden die Schallplatten genutzt, um Geschichten zu erzählen und so das Image einer Marke zu stärken.82 Die im RAW archivierten Werbeschallplatten belegen dies eindrücklich. Die Werbeschallplatten als Verbund aus Cover, Etikett und auditivem Inhalt stellen ein multimodales audiovisuelles Werbemittel dar. Wie gezeigt werden konnte, steht in vielen Fällen der auditive Inhalt im Zentrum: Häufig wird ausschließlich dort die zentrale werberische Botschaft auf kunstvoll ausgearbeitete Weise kommuniziert. Meist jedoch sind die drei Bestandteile Cover, Etikett und Akustik erst im Zusam-
81 Das von 2018 bis 2021 laufende BMBF-Forschungsprojekt „Musikobjekte der populären Kultur“ richtet den Blick auf die materielle Bedingtheit von Musik. Dazu sollen Aufnahme- und Abspielgeräte sowie Tonträger als technische Artefakte in ihren Erlebnispotentialen innerhalb von Kulturen populärer Unterhaltung und Vergnügung nach 1945 dokumentiert, historisiert und über Zeitzeugen kontextualisiert werden. Besonders das Teilprojekt „Speichern und Sammeln. Tonträger als Musikspeicher und Sammelobjekte im gesellschaftlichen Wandel“, angesiedelt an der Hochschule für Musik, Weimar, verspricht Forschung, die zukünftig auch für die Werbeschallplatte gewinnbringend sein kann. Die weiteren Projektpartner sind das Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg und das Rock’n’Pop Museum Gronau. Siehe die Projektseite: http://www.musikobjekte.de (18.6.2019). 82 Angemerkt werden muss freilich, dass auch schon bei anderen und teils schon deutlich früher existierenden Werbemitteln große Konzentration auf unterhaltende werberische Erzählungen gelegt wurde. So z. B. bei den frühen Werbefilmen. Vgl. u. a. den Beitrag von Dirk Schindelbeck in diesem Band.
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menspiel umfassend funktional: in Form von Gewinnspielen, Rätseln, Antwortmöglichkeiten, zusätzlichen Informationen zum Produkt oder auch nur zur Bebilderung des akustischen Inhaltes.83 Es kann festgehalten werden, dass die medialen Besonderheiten sowie die Objektspezifik der Werbeschallplatte als auditives und visuelles Werbemedium rezeptionsbezogene und funktional ausgeklügelte Verteilungen der kommunizierten Themen/Inhalte auf die Bestandteile Cover, Etikett und Akustik erlauben und fordern. Die vorgestellte Werbeschallplatte von Bang & Olufsen sticht, wie mit der exemplarischen Analyse gezeigt wurde, besonders dadurch hervor, dass sie das Zusammenspiel medientechnologischer Entwicklungsprozesse (hier: Schallaufzeichnung und -wiedergabe) und sich weiterentwickelnder Werbeformen herstellt und diese in eine informative, unterhaltsame und gleichzeitig werberische Erzählung verpackt.84 Abschließend soll festgehalten werden, dass der hier gelegte Schwerpunkt auf eine medien- und sprachwissenschaftliche Analyse von Werbeschallplatten als Anregung für weitere interdisziplinäre und multiperspektivische Forschungsvorhaben gesehen werden soll. Insbesondere in Bezug auf die oben genannten Desiderate zu Rezeption und Distribution bleibt zu hoffen, dass diese Ideen von anderen Disziplinen aufgegriffen werden und mittels anderer disziplinär verankerter Zugriffsweisen neue Erkenntnisse zur Geschichte der Werbeschallplatte zu Tage gefördert werden.
Literatur Adorno, Theodor W.: Die Form der Schallplatte [1934]. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M. 2003. S. 530–534. Bang & Olufsen. Bang & Olufsen. https://www.bang-olufsen.com/de (10.01.2019). Brauers, Jan: Von der Äolsharfe zum Digitalspieler. 2000 Jahre mechanische Musik, 100 Jahre Schallplatte. München 1984.
83 Die ‚reine‘ Bebilderung erfolgt zum Beispiel bei der Werbeschallplatte Sie kann es. Ein Märchen für unsere kleinen Kunden der Hamburger Elektrizitätswerke (HEW) aus dem Jahre 1975, die den Kindern den Nutzen der Elektrizität erklärt und so sehr subtile Image-Werbung betreibt. Das Cover zeigt sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite die wichtigsten Passagen der Geschichte als Zeichnungen. Vgl. Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), SprembergSammlung, R-Nummer: 11702, Single 33, HEW: Sie kann es. Ein Märchen für unsere kleinen Kunden von 1975. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11702 (10.01.2019). 84 Interessant ist, dass Bang & Olufsen auch heute noch auf Geschichten und Hintergrundinformationen setzt. So gibt es auf der Firmenwebsite den Bereich „Wissenswertes“, der mit dem Header „Lassen Sie sich fallen und entdecken Sie unsere neuesten Geschichten“ angekündigt wird. Bemerkenswert ist somit, dass – trotz der vielfältigen Möglichkeiten, die die online-Technologie bietet – nicht darauf verzichtet wird, audiovisuelle Hintergrundstories zu liefern. Vgl. Bang & Olufsen. Bang & Olufsen. https://www.bang-olufsen.com/de (10.01.2019).
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Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1888–1932: Ein Verzeichnis. Zusammengestellt und bearbeitet von Walter Roller (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs). Potsdam 1998. Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1933–1935: Ein Verzeichnis. Zusammengestellt und bearbeitet von Walter Roller (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs). Potsdam 2000. Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Tondokumente zur Kultur- und Zeitgeschichte 1936–1938: Ein Verzeichnis. Zusammengestellt und bearbeitet von Walter Roller (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs). Potsdam 2002. Eisenberg, Evan: Der unvergängliche Klang. Mythos und Magie der Schallplatte. Berlin 1990. Ernst, Wolfgang: Das Gesetz des Gedächtnisses: Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts). Berlin 2007. Gauß, Stefan: Nadel, Rille, Trichter: Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900–1940). Köln [u. a.] 2009. Gauß, Stefan: Der Sound aus dem Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons. In: Sound des Jahrhunderts: Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute. Hrsg. von Gerhard Paul u. Ralph Schock. Bonn 2013. S. 30–36. Gülich, Elisabeth u. Heiko Hausendorf: Vertextungsmuster Narration. (2000). In: Text- und Gesprächslinguistik 1 Halbbd. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Vol 16. Hrsg. von Klaus Brinker. Berlin 2000. S. 369–385. Greule, Albrecht u. Sandra Reimann: Basiswissen Textgrammatik. Tübingen 2015. Greule, Albrecht u. Sandra Reimann: „Es geschah im Städtchen Werther anno 1909“ – Narration in der Werbung. In: Werbegeschichte(n) – Markenkommunikation zwischen Tradition und Innovation. Hrsg. von Sabine Heinemann. Wiesbaden 2019. S. 95–110. Haffner, Herbert: „His Master’s Voice“: Die Geschichte der Schallplatte. Berlin 2011. Hiebel, Hans H., Heinz Hiebler, Karl Kogler u. Herwig Walitsch (Hrsg.): Große Medienchronik. München 1999. Hiebler, Heinz: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003. Hiebler, Heinz: Caruso auf Platte. Die Geschichte der Tonspeicherung und der Tonträger. In: Sound der Zeit: Geräusche, Töne, Stimmen; 1889 bis heute. Hrsg. von Gerhard Paul u. Ralph Schock. Göttingen 2014. S. 67–73. Hooffacker, Gabriele: Teaser. (17.05.2016). In: Journalistikon. Das Wörterbuch der Journalistik. http://journalistikon.de/teaser/ (10.01.2019). Kittler, Friedrich A.: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. Laar, Kalle: Vinyl Culture und Zeitgeschichte. Schallplattencover als Quellen der visual history. In: Popgeschichte. Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958–1988. Hrsg. von Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel u. Jürgen Danyel. Bielefeld 2014. S. 361–371. Lechleitner, Gerda: Der fixierte Schall – Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Zur Ideengeschichte des Phonogrammarchivs. In: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Hrsg. von Harro Segeberg u. Frank Schätzlein. Marburg 2005. S. 229–240. Maatje, Christian: Verkaufte Luft: Die Kommerzialisierung des Rundfunks: Hörfunkwerbung in Deutschland (1923–1936). Potsdam 2000. Martensen, Karin: „The phonograph is not an opera house“. Quellen und Analysen zu Ästhetik und Geschichte der frühen Tonaufnahme am Beispiel von Edison und Victor. München 2019 (Technologien des Singens 2, Hrsg. von Grotjahn, Rebecca, Malte Kob u. Karin Martensen). Mayer, Christian: Der Verhüllungskünstler. Süddeutsche Zeitung (17.05.2010). https://www.sueddeutsche.de/kultur/erfinder-des-plattencovers-der-verhuellungskuenstler-1.144510 (2.01.2019).
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Werbeschallplatten Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11592, Single 45, B&O (1965): Was ist HiFi? Die Eroberung einer technischen Wunderwelt. Mit vielen Erläuterungen. Herausgegeben von den Toningenieuren des B&O Akustikstudios von 1965. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11592 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11596, Single 45, Bahlsen: Tiergeschichten von 1960. Werbeschallplatte. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11596 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11611, Birkel: Kinderwettbewerb von 1960. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11611 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11681, Ferrero Küsschen: Zum Muttertag 1976 von 1976. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11681 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11692, Golddollar: Golddollar-Preisausschreiben von 1977. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11692 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11702, Single 33, HEW: Sie kann es. Ein Märchen für unsere kleinen Kunden von 1975. https:// raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11702 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11711, Single 45, Hylak: Die diebische Elster von 1959. https://raw.uni-regensburg.de/details. php?r=11711 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11733, Landesbausparkasse: Ein kleines Haus im Wiesengrün (Fox aus dem Gemeinschaftsfilm ‚Ferien vom Alltag‘ der öffentlichen Bausparkassen und Landesbausparkassen) aus den 1950ern. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11733 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer 11736, Single 45, Liegelind: Schlafe mein Prinzchen ohne Jahr. https://raw.uni-regensburg.de/ details.php?r=11736 (16.06.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11755, Nesquick: Hoppe, hoppe Reiter. Abzählverse und lustige Kinderlieder von 1960. https:// raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11755 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11765, Single 45, Philips: Diskothek der Meister von 1960. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11765 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 12020, Salamander: Lurchis Abenteuer 6 ohne Jahresangabe. https://raw.uni-regensburg.de/ details.php?r=12020 (10.01.2019). Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11886, Uhu: Karl May Der Schatz im Silbersee von 1970. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11886 (10.01.2019).
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Rückseite der Schallpostkarte Ein kleines Haus im Wiesengrün der Landesbausparkasse (1950er). Quelle: Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), SprembergSammlung, R-Nummer: 11733, Landesbausparkasse: Ein kleines Haus im Wiesengrün (Fox aus dem Gemeinschaftsfilm ‚Ferien vom Alltag‘ der öffentlichen Bausparkassen und Landesbausparkassen) aus den 1950ern. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11733 (03.06.2019). Abb. 2: Vorderseite der Schallpostkarte Ein kleines Haus im Wiesengrün der Landesbausparkasse (1950er). Quelle: Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), SprembergSammlung, R-Nummer: 11733, Landesbausparkasse: Ein kleines Haus im Wiesengrün (Fox aus dem Gemeinschaftsfilm ‚Ferien vom Alltag‘ der öffentlichen Bausparkassen und Landesbausparkassen) aus den 1950ern. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11733 (03.06.2019). Abb. 3: Vorderseite des Covers der Werbeschallplatte von B&0 Was ist Hi-Fi? (1965). Quelle: Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11592, Single 45, B&O (1965): Was ist HiFi? Die Eroberung einer technischen Wunderwelt. Mit vielen Erläuterungen. Herausgegeben von den Toningenieuren des B&O Akustikstudios von 1965. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11592 (03.06.2019). Abb. 4: Etikett (A-Seite) der Werbeschallplatte von B&0 Was ist Hi-Fi? (1965). Quelle: Regensburger Archiv für Werbeforschung, Regensburg (RAW), Spremberg-Sammlung, R-Nummer: 11592, Single 45, B&O (1965): Was ist HiFi? Die Eroberung einer technischen Wunderwelt. Mit vielen Erläuterungen. Herausgegeben von den Toningenieuren des B&O Akustikstudios von 1965. https://raw.uni-regensburg.de/details.php?r=11592 (03.06.2019).
Karin Moser
Begrenzte Grenzenlosigkeit Inhaltliche Konzeption und filmische Strategien der Werbefilme der Austria Tabak 1948–2000 „Raucht Regie, dann rauchen Österreichs Schornsteine!“ (1949) „Hilf auch Du am Wiederaufbau Österreichs und rauch A Zigaretten!“ (1948/49)1 „Für Dein Österreich rauch Regie!“ (1950)2 „Die Leichte für Starke – Memphis light!“ (1986) „Think Big – Maverick!“ (1986)3 „Memphis Blue Lights. The New Leader in Taste!“ (1997)4 „Ready to take off – Memphis blue lights!“ (1999)5
Die Werbeslogans des traditionsreichen österreichischen Staatsbetriebs Austria Tabakwerke AG (kurz Austria Tabak)6 sind Marker der veränderten Werbestrategien des Unternehmens in der Mitte und am Ende des 20. Jahrhunderts. Um 1950 partizipierte die Austria Tabak noch am Wiederaufbau. Österreichische Qualität und patriotischer Konsum standen im Mittelpunkt der Werbearbeit. Im Verlauf der 1960er Jahre baute das Unternehmen zusehends auf den Export seiner Artikel, international ausgerichtete Werbefilme und Slogans setzten sich mit dem Ausklingen der 1970er Jahre durch. Bis zum EU-Beitritt Österreichs (1995) lag das alleinige Recht, Tabak in Österreich anzubauen, zu importieren, zu erzeugen und zu verkaufen bei der Austria Tabakwerke AG. Sie allein durfte ausländische Zigarettenmarken einführen oder über Lizenzverträge in Österreich erzeugen. Zudem konnten aufgrund des Monopols die Tabakwarenpreise in der Alpenrepublik reguliert werden, da unter der Ägide des Finanzministers im Hauptausschuss des Nationalrats die Preise festgelegt wurden. Der Generaldirektor der Austria Tabak leitete das Unternehmen. Marketing- und Werbekonzepte mussten mit ihm abgesprochen und von ihm freigegeben werden.7
1 Slogan 1 und 2: Fachblatt für Wirtschaftswerbung (November 1949/11). o. S. 2 https://brand-history.com/austria-tabak-ag-co-kg/austria-tabak-ag-osterreichische-tabakregie/ osterreichische-tabakregie-fur-dein-osterreich-rauch-regie (23.3.2020). 3 Slogan 4 und 5: Austria Tabak Information (=ATI), „Eigenmarken auf Erfolgskurs“ (1986/3). S. 13. 4 Werbespot „Memphis Blue Lights, Flieger“ (A 1997). 5 ATI, „Die Legende lebt“ (1999/4). S. 13. 6 Bis 1949 hieß das Unternehmen Österreichische Tabakregie. Trost, Ernst: Rauchen für Österreich. Zur allgemeinen Erleichterung… Eine kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Tabaks in Österreich. Wien 2003. S. 168. 7 Vgl. Reiter, Rudolf: Geschichte der Austria Tabakwerke A. G. vorm. Österreichische Tabakregie von 1939 bis 1970. Eine historische Bilanz- und Betriebsanalyse. Dissertation. Wien 1980. S. 17. Staudigl, Daniel: Rauchen und Recht. Rechtliche Rahmenbedingungen des Tabakkonsums und seiner https://doi.org/10.1515/9783110661965-005
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Gegen Ende der 1990er Jahre bereitete sich das Monopolunternehmen schließlich auf den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und dem damit einhergehenden Verlust seiner Sonderstellung vor. 2001 wurde die Austria Tabak schließlich vollständig privatisiert. Die Austria Tabak stand bislang vor allem im Fokus juristischer, publizistischer und betriebswirtschaftlicher Arbeiten.8 Werbung und Pressearbeit wurden in diesen Studien durchaus berücksichtigt, allerdings blieb eine Auseinandersetzung mit den Werbefilmen dieses Unternehmens aus.9 Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass der Reklamefilm über Jahrzehnte hinweg (speziell) von der historischen sowie kultur- und filmwissenschaftlichen Forschung vernachlässigt wurde.10 Dabei zählte die Tabakindustrie bereits in der Zwischenkriegszeit zu den wichtigsten Auftraggebern der Werbefilmbranche. Zudem war und ist die mediale Vorbildwirkung immer wieder Thema, wenn im Zuge der Debatten um die schädigende Wirkung des Tabaks, Vertreter*innen von Jugendschutzorganisationen und Gesundheitsbehörden, eine Beschränkung bei der Darstellung rauchender Protagonist*innen im Film- und Fernsehschaffen fordern.11 Eine Auseinandersetzung mit der Inszenierung des Rauchens im Werbefilm gibt letztlich Aufschluss über präsentierte Verhaltensmuster, Stereotypisierungen, Rollenbilder, Erwartungshaltungen und Wunschversprechen sowie mediale Wechselwirkungen (Einsatz von Testimonials oder von Versatzstücken aus Spielfilmen und Musikvideos etc.).
Bewerbung im österreichischen Recht unter besonderer Berücksichtigung der Grundrechte. Dissertation. Wien 2009. S. 81 f. Interview der Autorin mit dem langjährigen Werbe- und Marketingleiter der „Austria Tabak“ Christian Mertl, 25.7.2017. 8 Siehe etwa: Staudigl, Rauchen und Recht (wie Anm. 7). Reiter, Geschichte der Austria Tabakwerke (wie Anm. 7). Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6). Sandgruber, Roman: Der Tabakkonsum in Österreich. Einführung, Verbreitung, Bekämpfung. In: Tabakfragen. Rauchen aus der kulturwissenschaftlichen Sicht. Hrsg. von Nils Hengartner u. Christoph Maria Merki. Zürich 1996. S. 43–56. Schmiedel, Doris: Die Öffentlichkeitsarbeit der Austria Tabak. Diplomarbeit. Wien 1990. Baumgartner, Melanie: Rauchen in Österreich nach 1945. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Diplomarbeit. Wien 2009. 9 Mit den Werbefilmen der Tabakregie der Zwischenkriegszeit hat sich die Autorin bereits analytisch befasst. Siehe: Moser, Karin: Der österreichische Werbefilm. Die Genese eines Genres von seinen Anfängen bis 1938. Berlin/Boston 2019. S. 159 f., S. 213, S. 227–230. 10 Ebd., S. 11–15. 11 So forderte etwa die WHO 2016, ein striktes Rauchverbot vor der Kamera: Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Kampf gegen Tabak. Die WHO will, dass in Filmen nicht mehr geraucht wird“, 1.2.2016. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/die-who-will-das-rauchen-in-filmen-verbieten-14045729/der-schauspieler-greg-lee-14045768.html (27.3.2020). Zu den Debatten siehe u. a.: Hanewinkel, Reiner: Rauchen in Film und Fernsehen. Einfluss auf das Rauchverhalten Jugendlicher. In: Monatsschrift Kinderheilkunde 157 (2009). S. 254–259. Reifegerste, Doreen u. Eva Baumann (Hrsg.): Medien und Gesundheit. Wiesbaden 2018.
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In diesem Artikel werden die Reklamefilme der Austria Tabak der Jahre 1948 bis 2000 erstmals auf ihre filmischen Strategien hin untersucht, wobei demonstriert wird, wie ökonomische und gesellschaftspolitische Veränderungen, die Konzeption und Ausrichtung der Reklamefilme beeinflusst haben. Dabei spiegeln die Werbefilme der Austria Tabak der Jahre 1948 bis 2000 selbst- und fremdbestimmte Begrenzungen wider: Nationale und internationale Ausrichtungen, Selbstbeschränkungen und Werbeverbote sowie einseitige „geschlechtsspezifische“ Rollenbilder lassen sich an den Filmen nachvollziehen. Im Zuge eines Projektes zur Emotionalisierung nationaler Marken im österreichischen Werbefilm12 wurden u. a. 58 Filme der Austria Tabak auf den Einsatz nationaler Parameter und damit korrelierender Emotionen, auf Wunsch und Schreckensbilder sowie vorgebrachter Kaufargumente hin untersucht.13 Nachfolgend werden Ergebnisse der Fallstudie zu den Filmen der Austria Tabak in Hinblick auf visualisierte Selbst- und Fremdbe- bzw. -entgrenzungen präsentiert. Das Fallbeispiel Austria Tabak steht dabei – vor allem in Hinblick auf die Verschiebung weg von national hin zu international konzipierten Werbesujets – exemplarisch für die Entwicklung vieler österreichischer Unternehmen nach 1945.
Patriotischer Konsum Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Österreich für zehn Jahre unter der Kontrolle der vier alliierten Mächte (USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich). Produktions-, Lager- und Verwaltungseinheiten der Austria Tabak fanden sich in unterschiedlichen Besatzungszonen, zahlreiche Rohtabaklager waren geplündert worden. Trotzdem wurde bereits am 23. Mai 1945 in Linz mit einer sehr bescheidenen Zigaretten-Produktion begonnen. Erst im Verlauf des Jahres 1947 konnten aufgrund diverser Tauschverträge die Rohstofflieferungen erhöht und die Herstellung ausgebaut werden. Die Marken Austria Spezial, Austria 1, Austria 2, Austria 3, Donau sowie Jonny gingen nachfolgend in die Produktion.14 Mit Ende der 1940er Jahre starteten allmählich auch wieder stärkere Werbeaktivitäten der Austria Tabak, wobei – wie die hier angeführten Namen vieler neuer Zi-
12 Gefördert vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), Projektnummer P 27112; siehe auf https://oesterreichischer-werbefilm.univie.ac.at/ (27.3.2020). 13 In die Untersuchung wurden auch Quellen zu den Werbekampagnen (Drehbücher, Storyboards, Berichte in Firmen- und Mitarbeiter*innenzeitungen) einbezogen sowie Experten*inneninterviews mit Marketingverantwortlichen, Regisseur*innen und Filmproduzent*innen geführt. 14 Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 164–170. Generaldirektion der österreichischen Tabakregie (Hrsg.): Rückschau auf 175 Jahre österreichische Tabakregie, 1784–1959. Tätigkeitsbericht über das Jubiläumsjahr 1959. Wien 1959. S. 75–77.
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garettensorten belegen – eine bewusst national patriotische Ausrichtung verfolgt wurde. Das staatliche Unternehmen nahm Teil am Wiederaufbau- und Identitätsfindungskanon der Nachkriegszeit. Österreich war nach 1945 gefordert, ein eigenständiges nationales Selbstverständnis aufzubauen, welches allen voran eine klare Abgrenzung von Deutschland und damit auch eine Verleugnung der Mitschuld an den Gräueln des Nationalsozialismus mit sich brachte. Seitens der Bundesregierung und aller öffentlichen Stellen setzte eine nachhaltige „Österreichpropaganda“ ein, wobei man mitunter auf den Mythen- und Ideenpool des Austrofaschismus zurückgriff. Der im Zuge dessen propagierte „homo austriacus“ galt als barock, katholisch, künstlerisch, genießerisch, friedfertig und tolerant. Die österreichische Kulturnation wurde gefeiert, der „großen historischen Vergangenheit“ in einer verklärten Rückschau auf die Donaumonarchie gedacht.15 Mit der bereits 1918 gewählten und ab 1945 wieder verwendeten rot-weiß-roten Flagge, der neuen Bundeshymne (1946/ 47), dem Staatsvertrag und der Neutralitätserklärung (beides 1955) sowie dem 1965 erstmals zelebrierten Nationalfeiertag verfügte Österreich schließlich auch über umfassende staatliche Symbole, Feiern und Rituale, die zur Bildung einer sinnstiftenden kollektiven Identität beitrugen.16 Die Medien, ob Presse, Wochenschau oder Film, griffen diese Versatzstücke der neuen/alten Österreichideologie gerne auf und wurden zu wichtigen Werbeträgern des nationalen Selbstverständnisses. ‚Wirtschaftswunder‘ und Wiederaufbau trugen nachhaltig zur österreichischen Nationswerdung bei und spiegelten sich auch in den Werbematerialien der Austria Tabak. Ein immer wieder kehrendes Motiv auf Plakaten und Zündholzschachteln der Jahre 1948/1949 war eine überdimensioniert groß gezeichnete Zigarette, die als zentraler Industrieschornstein einer Fabrikanlage fungierte.17 Mit dem dazugehörigen Slogan „Raucht Regie, dann rauchen Österreichs Schornsteine!“ wurde die Bevölkerung aufgefordert, Produkte der Österreichischen Tabakregie zu kaufen und sich somit aktiv am Wirtschaftsaufschwung zu beteiligen. Der Schriftzug wie auch die Banderole am Mundstück der visualisierten Zigarette waren in den österreichischen Nationalfarben rot-weiß-rot gehalten und stellten eine unmittelbare Verbindung zu nationalen österreichischen Symbolen (wie der Flagge) her.18
15 Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994. S. 163. Leidinger, Hannes, Verena Moritz u. Karin Moser: Streitbare Brüder. Österreich: Deutschland. Kurze Geschichte einer schwierigen Nachbarschaft. St. Pölten/Salzburg 2010. S. 261. 16 Bruckmüller, Ernst: Symbole österreichischer Identität nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1945. In: Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich. Hrsg. von Hannes Stekl u. Elena Mannová. Wien 2003. S. 415–441. 17 Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 162. 18 Zum Einsatz von nationalen Symbolen in der Produktkommunikation siehe: Oliver Kühschelm, Franz X. Eder u. Hannes Siegrist: Einleitung Konsum und Nation. In: Konsum und Nation. Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation. Hrsg. von Oliver Kühschelm, Franz X. Eder u. Hannes Siegrist. Bielefeld 2012. S. 7–44.
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Wie man seitens der Austria Tabak die Verbindung zwischen Konsument*innen, Produkten und „nationalem Bewusstsein“ bewertete, erläutert ein vom Unternehmen gestalteter Artikel, der Ende 1949 im Fachblatt für Wirtschaftswerbung erschien. Diesem zufolge waren die Österreicher*innen allen voran traditionsbewusst und hatten ein „geradezu familiäres Verhältnis“ zum Unternehmen Austria Tabak. Zudem schätzten sie die Qualität der heimischen Produkte und waren „Stolz auf die Rauchwaren des Landes“.19 Trotzdem gab es offenbar Handlungsbedarf: Der Staatsbetrieb sah eine „ethische Verpflichtung“ darin, die Österrreicher*innen über die Werbung „wieder zu einem gewissen patriotischen Empfinden zu erziehen“.20
Abb. 1 u. 2: „Patriotische“ Tabakwerbung um 1949
Dieser selbstauferlegte „Disziplinierungsauftrag“ war eine Folge des blühenden Schleichhandels. Wohl waren die Austria Tabakwerke AG mittels des am 13. Juli 1949 erlassenen Tabakmonopolgesetzes mit der Verwaltung des Monopols betraut, in der Realität der Besatzungszeit sah die Lage aber anders aus. Auf dem Schwarz-
19 Fachblatt für Wirtschaftswerbung, „Die Werbung der österreichischen Tabakregie. A Zigaretten für Österreichs Wiederaufbau“, Nr. 11, November 1949, o. S. 20 Ebd.
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markt herrschte ein reger Handel mit russischen und amerikanischen Zigaretten. In der russischen Besatzungszone wurden zudem seitens der Sowjets USIA-Läden betrieben,21 die in vielen Bereichen nicht der österreichischen Gesetzgebung unterstanden. In den USIA-Verkaufsstellen konnten Zigaretten aus Ungarn und Bulgarien gekauft werden, die bei einem Verkaufspreis von 10 und 12 Groschen, die damals billigste österreichische Marke (Austria 3, Preis: 18 Groschen) unterboten.22 Wie bedeutend die ‚Disziplinierung‘ der österreichischen Konsument*innen – weg von den Schwarzmarkt-Zigaretten, hin zum patriotischen Kauf – in der Werbestrategie der Austria Tabak verankert war, belegen zwei Werbefilme, die sich explizit dieses Themas annahmen.23 Der Film Österreichs beste Mannschaft (A 1949) beginnt mit der Titeleinblendung und den erläuternden Hinweisen „Am Mikrophon Heribert Meisel“ – „Ein Film von Johann Weichberger“. Fanfarenklänge begleiten das Intro. Dem Publikum des Jahres 1949 war Heribert Meisel als der bekannteste österreichische Radio Sportreporter bestens vertraut.24 Ausgewiesene Freunde des Animationsfilms wiederum mussten beim Namen Johann Weichberger zumindest Zeichentricksequenzen erwarten.25 Tatsächlich kombiniert der Werbestreifen Realund Trickfilmelemente. Die erste Szene scheint einer Sportreportage entnommen. Heribert Meisel steht an einem Mikrophon (leichte Untersicht, Nahaufnahme) in einem Stadion. Die Schärfe liegt im Vordergrund (auf dem Reporter), die Zuschauer*innen im Hintergrund sind nur verschwommen zu erahnen (selective focusing).
21 USIA steht für „Upravlenije sovetskogo imuščestva v Avstrii“ (Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Österreich). 22 Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 169–171. 23 Für die Analyse der Filmquellen werden die Untersuchungsmethoden von Thomas Kuchenbuch (kulturelle Codes und rhetorische Grundeinheiten) und Christian Mikunda (filmische Strategien der emotionalen Gestaltung) zusammengeführt. Kuchenbuch, Thomas: Filmanalyse. Theorien. Methoden. Kritik. Wien/Köln/Weimar 2005. Mikunda, Christian: Kino spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung. Wien 2002. 24 Heribert Meisel war ab 1947 für den amerikanischen Besatzungssender Rot-Weiß-Rot tätig, dessen Sportchef er in weiterer Folge wurde. Ab 1954 fungierte Meisel zudem als Leiter des Sportressorts der Zeitung Wiener Kurier. Sein mitreißender Sprechstil machten ihn auch in Deutschland bekannt. Immer wieder trat Meisel als Gastkommentator in deutschen Sendern auf, 1963 moderierte er sogar das erste ZDF-Sportstudio. Er arbeitete für das österreichische Fernsehen (ORF), drehte Sport-Dokumentationen und spielte im patriotischen Science Fiction-Spielfilm 1. April 2000 (A 1952, R: Wolfgang Liebeneiner) einen futuristischen Nachrichtenreporter. Siehe: Karny, Thomas: „Sind’s froh dass Sie zu Hause geblieben sind“: Heribert Meisel (1920–1966). In: „Sind’s froh dass Sie zu Hause geblieben sind“. Mediatisierung des Sports in Österreich. Hrsg. von Marschik, Matthias u. Rudolf Müllner. Göttingen 2010. S. 248–257. 25 Der Zeichner und Grafiker Johann Weichberger setzte in den 1930er Jahren u. a. die 12teilige Trickfilmserie Fritz & Fratz um und war nach dem Zweiten Weltkrieg für den Werbefilm sowie für das österreichische Fernsehen tätig. Renoldner, Thomas: Animation in Österreich – 1832 bis heute. In: Die Kunst des Einzelbildes. Animation in Österreich – 1832 bis heute. Hrsg. von Christian Dewald, Sabine Groschup, Mara Mattuschka u. Thomas Renolder. Wien 2010. S. 92–95.
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Mit alterierter Stimme erläutert Meisel, woran das Publikum nun unmittelbar teilhaben wird: „Meine Damen und Herren, wir bringen jetzt einen Originalbericht vom bedeutungsvollsten Fußballkampf des ganzen Jahres.“ Die Erregung wird auf der Bildebene unterstützt: Meisel tupft sich den Schweiß von der Stirn. Eine Drehblende wird als Übergang zum zentralen Filmteil gewählt. Heribert Meisel ist fortan nicht mehr zu sehen, doch er moderiert den nachfolgenden Animationsfilm. Parallel wird eine Stadionatmosphäre zugespielt (Publikumsgeräuschkulisse), die das Geschehen mitkommentiert. Der nachfolgende Animationsstreifen präsentiert uns ein Fußballmatch: Weiße Zigaretten der Österreichischen Tabakregie stehen schwarzen Zigaretten vom Schwarzmarkt auf dem Spielfeld gegenüber. An den Spielbanden verweist der Schriftzug „Regie“ auf das werbende Unternehmen. (O-Ton Meisel: „Österreichs bewährte Spezialmannschaft steht im Kampf gegen das berüchtigte kombinierte Team ausländischer Schleichverbände. Wir befinden uns bereits in der letzten Spielminute und noch immer steht es 0:0“.) Während die schwarzen Zigaretten sich laufend im Foulspiel üben (Treten, Festhalten des Gegners, Anwenden von Faustschlägen), halten die weißen Tabakregie-Zigaretten an einem fairen und ehrlichen Spiel fest. (O-Ton Meisel: „Durch dauernde Regelwidrigkeiten und aufgestachelt von der kleinen, aber hemmungslosen Schar der Schleichanhänger hat der Gegner seine Niederlage bisher verhindert.“) Nach einer Reihe ungeahndeter Attacken auf die weißen Spieler, zielt ein „Schwarzmarktspieler“ auf das Gegentor. (O-Ton Meisel: „Jetzt gelingt es ihm sogar ganz gefährlich in unseren Strafraum vorzustoßen, unser Tor ist bedrängt, aber – unser prächtiger Tormann hält jeden Schuss mit wunderbarer Parade. Das Publikum ist begeistert. Sie feuern unsere Spieler mächtig an. Jeder einzelne weiß, dass es um eine historische Entscheidung geht!“) Der Ball wird gehalten. Nun setzt ein Konter des ‚österreichischen Teams‘ ein. Drei Schwarzspieler werden übertrippelt, einer hängt sich mit dem ganzen Körper an den weißen Stürmer. Dieser kann den Übergriff abwehren. (O-Ton Meisel: „Nun haben wir die Oberhand – in herrlicher Kombination gehen die Stürmer vor, übertrippeln eins, zwei, drei Schleichspieler. Herrlich – da nützt a ka Foul mehr meine Herren! Das Leder in letzter Sekunde wunderbar platziert vor das schwarze Tor. Da braust der Mittelstürmer heran, Schuss und Tor! 1:0 für Österreich! Und damit auch Sieg für Österreich!“) Gegen allen Widerstand schießt ein weißer Stürmer ein Tor und erzielt damit den Siegestreffer. Die weißen Zigaretten jubeln, die schwarzen Zigaretten verlassen geknickt das Feld. Die ‚österreichischen Spieler‘ formieren sich in Reih und Glied. (Hier setzen hymnische Fanfarenklänge ein.)26 Eine neuerliche Drehblende leitet zum letzten Realfilmteil mit Trickanimation weiter. Eine gleichartig formierte Reihe an realen Zigaretten wird präsentiert (O-Ton Meisel: „Ein Team von solcher Qualität kann sich mit jeder ausländischen Konkur-
26 Das Musikstück erinnert an das Vorspiel zu Richard Wagners Lohengrin.
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renz messen. Hohe Anerkennung gebührt auch dem österreichischen Publikum, das unsere Mannschaft blendend unterstützte und zu diesem Sieg wesentlich beigetragen hat. Ein Sieg zur Ehre und zum Wohle unseres geliebten Heimatlandes!“) Einzelne Markenprodukte (Memphis-, 20 Sport, Memphis Doppelfilter, Donau-, Dames-, Austria C-, Austria 2-, Jonny-Zigaretten) werden als Packshot im Strahlenkranz dargeboten und somit sinnbildlich erhöht und ausgezeichnet. Die wieder verfügbare Vielfalt des Angebots (nach dem Krieg) wird demonstriert. Den Abschluss bildet das Firmensignet der Österreichischen Tabakregie (Schriftzug, Adler mit rot-weiß-rotem Brust-Wappen). In Österreichs beste Mannschaft wird die schädigende Wirkung des Schwarzmarktes (konkret der Schwarzmarktzigaretten) auf die Volkswirtschaft (hier die Tabakindustrie) mittels eines Fußballmatches, das die unlauteren Methoden des Schleichhandels versinnbildlicht, verdeutlicht. Letztlich setzt sich aber die qualitätsvolle, unter fairen Marktbedingungen und vor allem in Österreich erzeugte Ware durch. Der Animationsfilm ermöglicht in seiner spielerischen und symbolischen Umsetzung eine offene Kritik an den durch die Alliierten ins Land gebrachten ‚fremden‘ und eben nicht ‚österreichischen‘ Zigaretten.27 Mit realen Spielern wären die körperlichen Angriffe, gepaart mit der Kampfrhetorik des Moderators (Österreichs stünde im Kampf gegen berüchtigte ausländische Schleichverbände), als aggressiv wahrgenommen worden.28 Die als „Key Visual“29 eingesetzten, animierten Zigaretten ermöglichen eine humoristische Herangehensweise, Auslegung und Reaktion. Durch allgemein bekannte Codes (weiße Zigaretten – gut; schwarze Zigaretten – schlecht, Schwarz- und Weißmalerei etc.) wird das unmittelbare Verständnis der narrativen Dramaturgie gewährleistet. Das Fehlen ausgleichender bzw. für faire Be-
27 Am 1. Oktober 1945 wurde seitens der Alliierten mit dem „Dekret über die Pressefreiheit in Österreich“ die Vorzensur abgeschafft. Die Nachzensur blieb aber weiter in Kraft. Das Gesetz erlaubte jede Veröffentlichung, solange sie zu keiner Gefährdung der militärischen Sicherheit der Besatzungsmächte führte und keine Zwietracht unter den Alliierten säte. Zudem war die Verbreitung jedes nationalsozialistischen, großdeutschen und militaristischen Gedankengutes verboten. Bei allfälligen Zensurentscheidungen beriefen sich die Mächte in der Regel auf dieses Dekret. 1953 erfolgte die offizielle Aufhebung der Zensur. Trotzdem zensierte die sowjetische Besatzungsmacht bis zum Abschluss des Staatsvertrags weiter, wenn auch in beschränktem Ausmaß. Vgl. Moser, Karin: Propaganda und Gegenpropaganda – das „kalte“ Wechselspiel während der alliierten Besatzung in Österreich. In: medien & zeit (2002/1). S. 27–42. Ergert, Viktor: 50 Jahre Rundfunk in Österreich. Bd. II: 1945–1955. Wien 1975. S. 54; Sieder, Elfriede: Die alliierten Zensurmaßnahmen zwischen 1945–1955. Unter besonderer Berücksichtigung der Medienzensur. Dissertation. Universität Wien 1983. S. 103. 28 Der Animationsfilm ermöglichte schon in der Zwischenkriegszeit Grenzüberschreitungen in der visualisierten Darstellung (etwa erotische Szenerien und Anspielungen, Stereotypisierungen). Vgl. dazu: Moser, Der österreichische Werbefilm (wie Anm. 9), S. 214–232. 29 Unter „Key Visual“ versteht Albert Heiser Schlüsselbilder von nachhaltiger visueller Wirkung, welchen eine spezielle Symbolkraft innewohnt. Vgl.: Heiser, Albert: Das Drehbuch zum Drehbuch. Erzählstrategien im Werbespot und -film. Berlin 2004. S. 68–69.
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dingungen sorgende Schiedsrichter kann zudem als indirekte Kritik an den Besatzungsmächten verstanden werden. Auf der intertextuellen Ebene30 wird Heribert Meisel zum Verbindungsglied zwischen medialer Erfahrung und patriotisch-nationalem Pathos. Sein Sprechduktus der Sportreportage war dem Publikum über zahlreiche Radio-Liveübertragungen und Wochenschauberichte bestens bekannt. Sein aufpeitschender, bildhafter Sprechstil visualisierte den Zuhörer*innen die Geschehnisse auf dem Spielfeld. Meisel kreierte Bilder in den Köpfen. In Österreichs beste Mannschaft unterstützt er in gleicher Weise die Animation. Sein unverblümtes Wiener Idiom kombiniert mit patriotischem Sportpathos31 verdichten die transferierten nationalen Emotionen, die auf das Produkt übertragen werden. Die Erfahrung von ‚Sport als nationales Gemeinschaftserlebnis‘ wird mit einem ‚national moralischen Konsumerlebnis‘ (im Sinne eines patriotischen Kaufverhaltens) verknüpft. Die erhebenden Fanfarentöne, der erregt agierende und kommentierende Sportreporter sowie der enthusiastische Kommentar verstehen sich als emotionale Marker,32 die Kampfgeist, Zusammenhalt, Stolz und Euphorie vermitteln und ein patriotisches Gemeinschaftsgefühl ‚erlebbar machen‘.
Abb. 3: Österreichs beste Mannschaft (A 1949)
30 Intertextualität im Sinne von Lothar Mikos bezieht sich auf das Verhältnis des hier Filmtextes zu anderen Texten (etwa den Radio-Sportreportagen Meisels), wobei das Wissen und die Erwartungen der Rezipient*innen Berücksichtigung finden. Vgl. Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz 2008. S. 272–274. 31 „Österreichs bewährte Spezialmannshaft“; „Unser Tormann“; „Nun haben wir die Oberhand“; „Sieg für Österreich“. 32 Unter „Emotion marker“ versteht Greg M. Smith Schlüsselmomente bzw. filmische Zeichen, die kurze emotionale Episoden auslösen und dem Publikum einen Weg hin zu einer (vonseiten der Filmemacher*innen) gewünschten Emotion ebnen. Werden diese Marker von entsprechenden Genre-Mikroskripten (hier etwa die Sportreportage) begleitet, dann erhöht sich die emotionale Wahrnehmung. Siehe dazu: Smith, Greg M.: Film Structure and the Emotion System. Cambridge 2003. S. 44–49.
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Abb. 4 u. 5: Erfolg enorm! (A 1948)
Der zweite Tabak-Werbefilm, der dem Schleichhandel den Kampf ansagte, trägt den Titel Erfolg enorm…! (A 1948). Der von der Helios-Film produzierte Animationsstreifen entspricht einem klassischen Problemlösungsspot, basierend auf einer dissoziativen Dramaturgie: Problemsituation, Empfehlung, Wirkungsdemonstration, Problemlösung, Schlussappell.33 Das Problem manifestiert sich in einer froschähnlichen schwarzen Figur, die hinter einer Hauswand hervortritt und eine Zigarette raucht. Die Froschkreatur verschiebt weiß gezeichnete Pakete. Eine mechanische, an Maschinengeräusche erinnernde, Musik begleitet die Bewegungen der schwarzen Gestalt. Off-Kommentar: „Der Zigarettenschleich im Land ist jedermann von uns bekannt“. In stilisierter Großaufnahme ist nun dreimal die schwarze, mit Zigaretten gefüllte, Hand des Schleichhändlers zu sehen. Schließlich rafft die Froschfigur einen Haufen Geld an sich. Off-Kommentar: „Er nimmt das Geld, von wem ist gleich. Er schädigt täglich Österreich!“ Das Gegenmittel (die Empfehlung/Wirkungsdemonstration) folgt: Ein Mann (mit Zigarette im Mund) krempelt seine Hemdsärmel hoch. Er blickt grimmig, läuft auf den Schleich, der geruhsam auf dem Geld hockt, zu. Der Mann nimmt die Zigarette aus dem Mund, hält sie gegen die schwarze Froschgestalt. Der Schleich sackt, einem Ballon gleich, zusammen. Off-Kommentar: „Doch Österreich hat sich besonnen. Es hat den Kampf jetzt aufgenommen!“ Vereint arbeiten die Österreicher*innen dem Schleich(-handel) entgehen, gemeinsam rauchen sie für die österreichische Volkswirtschaft: Eine Reihe an Identifikationsfiguren – Frauen, Männer unterschiedlichen Alters – stellen sich ‚in den Dienst der guten Sache‘. Sie rauchen heimische Zigaretten und blasen Rauchkringel in den Himmel. Eben dort ist der Schriftzug „Regie“ (Österreichische Tabakregie) zu
33 Heiser, Drehbuch (wie Anm. 29), S. 217. Schmidt, Siegfried u. Brigitte Spieß: Die Kommerzialisierung der Kommunikation. Fernsehwerbung und sozialer Wandel 1956–1989. Frankfurt a. M. 1997. S. 156–158.
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lesen. Das Aufsteigen der Rauchwolken wird rhythmisch synchron mit Tönen untermalt („Mickey-Mousing Technik“).34 Off-Kommentar: „Wie ein Wunder wirkt die Tat, den Nutzen davon, jeder hat. Und jeder raucht nur mehr Regie!“ Die Wirkung und die damit einhergehende Problemlösung werden nachfolgend visualisiert: Den Rauchkringeln folgen Geldstücke (Schillingmünzen), die vom Himmel herabfallen. Der letzte Off-Kommentar entspricht dem Schlussappell: „Erfolg enorm – das wissen sie!“ Der Film endet mit der Einblendung des Signets der Österreichische Tabakregie (Schriftzug, Adler mit Wappen), dazu erklingt Fanfarenmusik. Die negativen Folgewirkungen des Schwarzmarkthandels werden in Erfolg enorm…! anschaulich, wenn auch im Vergleich zu Österreichs beste Mannschaft weniger humorvoll und charmant versinnbildlicht. Die aktive Gegenwehr gegen das, die Volkswirtschaft aus Geldgier schädigende ‚Schleichmonster‘, das außerdem Assoziationen zu der von der NS-Propaganda eingesetzten Figur des Kohlenklaus35 auslöst, scheint ein Stück aggressiver (visualisierte Zerstörung der Bedrohung) zu erfolgen. Die heimische Bevölkerung krempelt die Ärmel hoch, schreitet zur Tat, arbeitet am Wiederaufbau und raucht im Sinne der wieder zu belebenden Volkswirtschaft patriotisch österreichisch. Das Rauchen wird letztlich als ein nationales Gemeinschaftserlebnis präsentiert. Auch nach dem Ende der Besatzungszeit fanden sich in den Werbemitteln der Austria Tabak spezifische österreichische Elemente, wobei sich sowohl in der Vielfalt der Werbeaktionen als auch in deren inhaltlichen Ausrichtung allmählich ein Wandel bemerkbar machte. Das Unternehmen florierte, die Werbeausgaben der Austria Tabak stiegen im Verlauf der 1960er Jahre zusehends an. Flossen 1959 etwa 0,2 % des Umsatzes in Werbegelder, so lag der Anteil im Jahr 1970 bei ca. 1,4 % des Umsatzes.36 Im Jahr 1963 begann die Firma schließlich auch im Fernsehen für ihre Produkte zu werben.37 Nationale Akzente wurden dabei weiterhin gesetzt. Am stärksten kam die nationale Komponente bei einer neuen Zigarettensorte zum Tra-
34 Das Prinzip geht auf die Zeichentrickfilme Walt Disneys zurück, wonach Bewegungen mit Geräuschen bzw. Tönen absolut synchron gesetzt werden. Ein durchaus ironisch komischer Effekt ist die Folge. Vgl. Mikunda, Kino spüren (wie Anm. 23), S. 275. 35 Vgl. https://www.europeana.eu/portal/de/record/08547/sgml_eu_php_obj_p0004625.html; https://www.akg-images.de/archive/-2UMDHUW63YAV.html (23.7.2019). In der politischen Werbung des Zweiten Republik wurde mit dem Rentenklau eine weitere, ähnlich stilisierte Figur geschaffen: Siehe: http://www.demokratiezentrum.org/bildstrategien/soziales.html?index=2&dimension= (27.3.2020) sowie die Dokumentation: Rote Katz und bunte Vögel. Politische Werbung in Österreich (A 2015, R: Karin Moser, Günter Kaindlstorfer). https://www.youtube.com/watch? v=CedyThkBfgE (siehe Minute 9; 23.7.2020). 36 Zudem stieg der Anteil der Ausgaben für Werbemittel im Bereich „Film, Radio und Fernsehen“ von 2,5 % im Jahr 1955 auf 4,4 % 1960 und 13,5 % 1970. Vgl. Reiter, Geschichte der Austria Tabakwerke (wie Anm. 7), S. 87 f. Allein von 1961 bis 1963 erhöhten sich die Werbeausgaben um nahezu 50 %. Vgl. Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak), Nr. 5 und 6, 15.9.1966, S. 16. 37 Austria Tabak Archiv: Das Blatt (Beilage Jahresbericht 1962) (1962/8). S. 1–3.
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gen, die anlässlich zehn Jahre österreichischer Staatsvertrag präsentiert wurde.38 Die Werbelinie der Marke Belvedere39 stellte sowohl im Bereich Print als auch in den Werbespots Assoziationshöfe zur österreichischen Hochkultur her. Kunstwerke der österreichischen Museen, die Hofburg und die Staatsoper wurden in diesen Werbefilmen mit der Zigarettenmarke Belvedere in Verbindung gesetzt. Selbst die „Komposition der Mischung“ bestehend aus 25 Tabaksorten verstand man in den BelvedereFilmen als einen ‚kreativen künstlerischen Prozess‘ der „Tradition und guten Geschmack“ zusammenführte.40 Als äußeres Zeichen des „gehobenen Lebensstils“41 prangte auf der Belvedere-Packung das Wappen des Prinzen Eugen von Savoyen. Andere Sorten der österreichischen Tabakindustrie wurden wiederum im Zuge von Cross Marketing Aktionen mit der heimischen Tourismuswerbung in Verbindung gebracht. In den Jahren 1964 und 1965 waren im TV und im Kino Reklamefilme der Marken Falk und Smart Export zu sehen, die unter dem Titel „Willkommen in Österreich“ parallel für Wintersportorte warben.42 Auch im Bereich der Auslandswerbung setzte man in den 1960er Jahren auf Kooperationen mit der Tourismusbranche. Eigene Werbefilmreihen und Plakatserien priesen unten den Losungen „Groß in Fahrt“ und „Gut angekommen“ Luxusfahrten per Dampfer und Flugreisen sowie parallel Zigaretten der Austria Tabak (Jonny Filter, Smart Export) an. Die jeweiligen Sorten konnten auf den Schiffen und in den Flugzeugen auch käuflich erworben werden.43 Hinsichtlich der in Deutschland verkauften Zigaretten verstand sich die Austria Tabak sogar als „direkter Förderer des Fremdenverkehrs“. Unter anderem warb die jahrzehntelang in Deutschland produzierte Marke Milde Sorte mit der Aufprägung des Herzschilds von Prinz Eugen von Savoyen und dem Kürzel A. E. I. O. U. unterschwellig mit österreichischer Nationalsymbolik.44 Auch in Frankreich wurden As-
38 Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak) (30.4.1965/3). S. 8. 39 Der österreichische Staatsvertrag wurde am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere in Wien unterzeichnet. 40 Bislang konnten in den Archiven keine Werbefilme der Marke Belvedere gefunden werden. Aufgrund der detaillierten Berichte über die Werbefilmreihe – inklusive Slogans, Kommentarfragmenten, inhaltlicher Schwerpunkte und Filmkader – kann die Gestaltung der Filme jedoch genau nachvollzogen werden. Siehe: Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak) (30.4.1965/3). S. 14; ebd. (15.6.1965/4). S. 12 f.; ebd. (31.10.1965/7). S. 10; ebd. (30.4.1967/3). S. 3, 16. 41 1967 warb die Austria Tabak mit dem Slogan „Belvedere – Symbol gehobenen Lebensstils“ für das Produkt. Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak) (15.6.1967/4). S. 9. 42 In der Zeit vom 22. Dezember 1964 bis Ende Februar 1965 liefen diese Filme mit rund 30 Kopien in ca. 160 Kinos in ganz Österreich. Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak) (31.1.1965/1). S. 14. 43 Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak) (15.6.1965/4). S. 15; ebd. (15.9.1966/5 u. 6). S. 6; ebd. (31.10.1966/7). S. 14; ebd. (31.1.1967/1). S. 13; ebd. (15.9.1967/5 u. 6). S. 16. 44 Hirt, Gerulf, Christoph Alten, Stefan Knopf, Dirk Schindelbeck u. Sandra Schürmann: Als die Zigarette giftig wurde. Ein Risiko-Produkt im Widerstreit. Kromsdorf/Weimar 2017. S. 113. Schür-
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soziationen zu Österreich, speziell zu Wien, in der Werbung genutzt. So warben in der französischen Bahn Plakate mit dem Slogan „Smart légère comme une valse vinnoise“ für die Marke Smart Export.45 Im englischsprachigen und im asiatischen Raum wurde die Marke hingegen mit einem europäischen Flair versehen: „Smart Export: World – wide well known. Mild to smoke, superb in tobacco. Satisfying in taste. The first quality cigarette of Europe is Smart Export.“46 Die Beispiele verdeutlichen, dass im Zuge der 1960er Jahre der Warenexport an Bedeutung gewann,47 was sich schließlich auch in der Gestaltung der Werbemittel bemerkbar machte. Speziell im Bereich der Werbefilme war ab den 1970er Jahren die Ausrichtung auf den internationalen Markt klar ersichtlich.
Nationale Selbstbeschränkung und internationale Ausrichtung Ein Grund für den starken Rückgang bzw. das völlige Verschwinden spezifisch österreichischer Inhalte in den Filmen der Austria Tabak war eine in den 1960er Jahren einsetzende Debatte um die gesundheitlichen Folgeschäden des Rauchens. Die WHO hatte diesbezüglich eine Untersuchung (Terry-Report) in Auftrag gegeben, welche die Zusammenhänge zwischen dem Rauchverhalten und Herz-, Kreislaufsowie Krebserkrankungen klar darlegte.48 Die daraus resultierende Debatte um die gesundheitsgefährdende Wirkung des Tabakkonsums veranlasste Beppo Mauhart, den damals stellvertretenden Vorsitzenden und späteren Generaldirektor der Austria Tabak, dazu, Mitte der 1970er Jahre eine aktiv agierende PR-Stelle im Unternehmen zu installieren.49 Die österreichische Tabakindustrie engagierte sich verstärkt in der Forschungsarbeit, etwa im Bereich der Herstellung von schadstoffärmeren Produkten. Zugleich stellten sich die PR-Beauftragten der Austria Tabak den Diskus-
mann, Sandra, Christoph Alten, Gerulf Hirt, Stefan Knopf, Evelyn Möcking, Dirk Schindelbeck u. Merle Strunk: Die Welt in der Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts. Kromsdorf/Weimar 2017. S. 107 f. 45 Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak) (15.3.1965/2). S. 12. 46 Ebd. 47 Hauptabnehmer waren in dieser Periode die DDR, Frankreich, Italien, die CSSR, Polen, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Belgien und mit 1970 schließlich auch die Schweiz. Vgl. Reiter, Geschichte der Austria Tabakwerke (wie Anm. 7), S. 97–99. 48 In der Folge wurden nicht nur in den USA, sondern auch in Europa Maßnahmen zur Eindämmung des Rauchens gefordert. Hirt, Alten et al., Als die Zigarette giftig wurde (wie Anm. 44), S. 13, S. 27. Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 191. DM. Die deutsche Mark. Erste Zeitschrift mit Warentests (7.2.1964/6). S. 50; ebd. (6.8.1965/32). S. 41, 44. 49 Die PR-Stelle wurde anstelle der bis dahin existenten Stabstelle für Publizist und Dokumentation errichtet. Vgl. Schmiedel, Die Öffentlichkeitsarbeit der Austria Tabak (wie Anm. 8), S. 45.
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sionen mit Vertreter*innen der Gesundheitsbehörden, wobei sie gegen „die Diskriminierung der Raucher*innen“ und für „die Freiheit der Konsument*innen“ eintraten. 50 Indes machten das Gesundheits- und das Unterrichtsministerium, die Österreichische Ärztekammer, Gesundheitsämter und die Österreichische Krebsgesellschaft in Anti-Rauch-Kampagnen gegen den Tabakkonsum mobil.51 Schon 1975 wurde in Österreich „theoretisch“ über ein absolutes Werbeverbot von Tabakprodukten sowie über Maßnahmen, die eine „soziale Diskriminierung des Rauchens“ nach sich ziehen sollten, nachgedacht.52 In den 1980er Jahren machte ein Gesetzesbeschluss schließlich Warnaufdrucke auf allen Tabakwaren obligatorisch, parallel wurden die Preise für Zigaretten erhöht.53 Die Wirkung der Anti-Rauch-Aktivitäten machte sich in Österreich aber nur allmählich bemerkbar.54 Vorerst nahm der Raucheranteil allen voran bei den Frauen zu. Rauchten 1979 17,1 % der Österreicherinnen, so waren es 1986 bereits 21,3 % und 1997 schließlich 23,3 %.55 Bei den Männern gingen die Raucherzahlen zurück, und zwar von 41,2 % im Jahr 1979 auf 40,0 % im Jahr 1986 bis schließlich auf 35,9 % im Jahr 1997. In Hinblick auf die Altersgruppen lag der Höchstwert bei den 25 bis 29jäh-
50 Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 247–249. 51 1974 präsentierte die österreichische Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter etwa den Bericht „Rauchen und Gesundheit in Österreich“ sowie eine „Raucherfibel“. Im Österreichischen Rundfunk wurde im November 1974 der TV-Film Gesundheit in eigener Hand – die akzeptierte Droge Tabak ausgestrahlt. Siehe: Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (Hrsg.): Rauchen und Gesundheit in Österreich. Wien 1975. S. 2 f., S. 53 f. 52 Ebd., S. 47 f. 53 Sandgruber, Roman: Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte der Genussmittel. Wien/Köln/Graz 1986. S. 169 f. 54 Für den Untersuchungszeitraum bis 2000 liegen Daten des Statistik Austria zu den Jahren 1979, 1986 und 1997 vor. https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/gesundheit/gesundheitsdeterminanten/rauchen/index.html (27.3.2020). 55 Nachdem rauchende Frauen im 19. Jahrhundert, in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus mit diversen ‚Stigmata‘ behaftet waren (unweiblich, emanzipatorisch, Halbwelt- und Unterschichtenphänomen, „undeutsch“ etc.), wurde der weibliche Tabakkonsum im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre gesellschaftlich zusehends akzeptiert und schließlich wie Sabina Brändli meint „zum Bestandteil eines Unisex-Habitus“. In Österreich ging der weibliche Rauchkonsum außerdem mit einem höheren Bildungsgrad einher. Zusätzlich begünstigte die Einführung der „leichten Filterzigarette“ das weibliche Rauchverhalten. Vgl. Brändli, Sabina: „Sie rauchen wie ein Mann, Madame“. Zur Ikonographie der rauchenden Frau im 19. und 20. Jahrhundert. In: Tabakfragen. Rauchen aus der kulturwissenschaftlichen Sicht. Hrsg. von Nils Hengartner u. Christoph Maria Merki. Zürich 1996. S. 83–109. Sandgruber, Der Tabakkonsum in Österreich (wie Anm. 8), S. 50–53. Rauchgewohnheiten. Ergebnisse des Mikrozensus Dezember 1997. Statistik Austria 2002.
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rigen (1979: 41,9 %; 1986: 45,0 %; 1997: 39,4 %).56 Ab dem 40. Lebensjahr ist ein stetiger Rückgang des Raucher*innenanteils zu verzeichnen.57 Infolge des Terry-Reports entschloss sich die Austria Tabak 1973 letztlich zu einer freiwilligen Selbstbeschränkung im Bereich der Werbung. Die Reklame für Tabakwaren in Radio und Fernsehen wurde eingestellt. In der Print- und in der Kinowerbung wurden nur noch „leichte Marken“, also Filterzigaretten, beworben, auch wurden die Nikotin- und Teeranteile seit den 1960er Jahren kontinuierlich gesenkt.58 Zugleich war das Kaufinteresse an Filterzigaretten gestiegen, 1965 machte deren Verkauf bereits 55 % des Gesamtzigarettenabsatzes aus.59 Die Werbe- und Marketingaktivitäten der Austria Tabak mit explizit nationalen österreichischen Komponenten beschränkten sich ab Mitte der 1970er Jahre fast ausschließlich auf den Bereich Sponsoring. Im Kultursponsoring initiierte und unterstützte man Nachwuchswettbewerbe für Operette und Oper, gleichermaßen förderte das Unternehmen Dichterlesungen, Konzerte, Vernissagen, Theater- und Kabarettvorstellungen.60 Zusätzlich kofinanzierte der Staatsbetrieb Kultur- und Unterhaltungsprogramme des Österreichischen Rundfunks.61 In den 1980er und 1990er Jahren versuchte sich die Austria Tabak bei Fernsehfilmen vereinzelt auch im Bereich Product Placement.62
56 Bei den Jugendlichen zeigt sich folgendes Bild: Bei den 16 bis 17jährigen rauchten 1979 19,9 %, 1986 18,1 % und 1997 sogar 26,1 %. Bei den 18 bis 19jährigen zeigte sich nach einem Rückgang in den 1980er Jahren, ein neuerlicher Anstieg Ende der 1990er Jahre: 1979 (35,2 %); 1986: 32,8 %; 1997: 36,8 %). https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/gesundheit/gesundheitsdeterminanten/rauchen/index.html (27.3.2020). 57 Die letzten zugänglichen Erhebungen der Statistik Austria stammen aus dem Jahr 2014. Diesen zufolge rauchen (jeweils täglich) 24,3 % der Männer und 22,1 % der Frauen in Österreich. Der höchste Raucher*innenanteil liegt bei den 30 bis 45jährigen (Männer: 33,2 %; Frauen: 27,9 %). file:///H:/ Tabak%20Neue%20Artikel%20etc/aktueller_raucherstatus_2014%20(1).pdf (27.3.2020). 58 ATI, „Mauhart: Liberale Werbung für die Leichtmarken“ (1980/3). S. 4 f. Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 192. 59 Nachrichtenblatt des Betriebsrates (der Austria Tabak) (31.10.1965/7). S. 9. 60 Rupp, Herbert u. Sabine Fellner: Austria Tabak. Die Sammlung des Österreichischen Tabakmuseums. Wien 1991. S. 9. Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 188 f. Memphis Time, „100 Jahre Memphis“ (1989/1). S. 14. 61 Von der Austria Tabak mitfinanzierte Kultur- und Konzertfilme entstanden etwa im Umfeld der Salzburger Festspiele, der Schubertiade in Hohenems oder im Rahmen der Kammerkonzerte im Grazer Schloss Eggenberg. Vgl. ATI, „Austria Tabak als TV-Filmproduzent“ (1986/3). S. 12 f. Ebd., „Hudriwudri als TV-Filmstar“ und „Belvedere – Schloßkonzerte in Graz“ (1991/4). S. XIX. Außerdem wurde die Unterhaltungssendung Hoppala über Jahre in den Räumlichkeiten des Österreichischen Tabakmuseums gedreht und von der Austria Tabak gesponsert. Vgl. ATI, „Austria Tabak in Kino und TV“ (1989/1). S. 19. 62 Im TV-Film Lex Minister (A 1990) raucht der zentrale Protagonist, gespielt von Hans-Peter Heinzl, unentwegt die Marke Milde Sorte. Vgl. a3 Boom, „Product Placement. Plazieren Sie Ihre Produkte auffällig unauffällig?“, Jänner 1991, S. 96.
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Im Sportsponsoring konzentrierte sich der Tabakbetrieb vorerst auf den Motorsport, später v. a. auf Fußball.63 Der Wiener Traditionsverein Austria Wien war über Jahrzehnte (1977 bis 2004) unter dem Namen Austria Memphis aktiv – benannt nach einer der führenden Zigarettenmarken der Austria Tabak.64 Schließlich sponserte das Unternehmen auch die alpinen Skiteams der österreichischen Damen und Herren sowie das heimische Fallschirmspringerteam.65
Abb. 6: Autogrammkarte des Austria Memphis Spielers Toni Polster
63 ATI, „Marketing – der Weg zum Erfolg“ (1974/1). S. 12. Ebd., „Die große Memphis Story“ (1989/ 3). S. 4 f. 64 Von den 58 Werbefilmen der Austria Tabak hat nur einer Bezüge zu den gesponserten Sportteams. In Memphis naturecht – Sport (A 1979) werden Aufnahmen des Fallschirmteams und des Klubs Austria Memphis kombiniert. 65 ATI, „Memphis Alpin Ski-Truppe“ (1988/1). o. S. Ebd., „Die Legende lebt“ (1999/4). S. 13. Interview der Autorin mit dem langjährigen Werbe- und Marketingleiter der Austria Tabak Christian Mertl, 25.7.2017.
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Ab den 1980er Jahren setzte der Tabakbetrieb auch eine Vielfalt an Merchandisingartikeln ein. Im Zuge der Neuausrichtung der Werbekampagne für Johnny FilterZigaretten, mit welcher eine jugendliche Zielgruppe angesprochen werden sollte, zierte das einprägsame Packungsmotiv (Rückseite einer Jeanshose mit Tascheneinsatz) unter anderem eigens produzierte Plakate, Plastikbeutel, Einwegbecher, Overalls, Pullover, T-Shirts und Sonnenbrillen.66 Die Marke Memphis Light wurde Mitte der 1980er Jahre in einen assoziativen Rahmen zu Sport und Fitness gesetzt (Slogan „Die Leichte für Starke“). Werbesujets und -spots präsentierten sportliche junge Menschen, die zugleich der „leichten Zigarette“ den Vorzug gaben. Die Sportkleidung der Testimonials konnte in dem Fachgeschäft Intersport unter dem Label „Memphis Action Wear“ käuflich erworben werden.67 Für die Marke Memphis Blue Lights wurde eine Werbelinie rund um die Welt des Sportfliegers entwickelt. Dazu wurde ein Sortiment an Merchandising Produkten vertrieben (Fliegerbrille, T-Shirts, Energy Drinks etc.).68 Ab Mitte/Ende der 1960er Jahre ist die Mehrzahl der Werbefilme der Austria Tabak nicht mehr national konnotiert und national zuordenbar. Vielmehr setzte man auf die Inszenierung von Lebenswelten, die jedenfalls im westlichen Kulturraum allgemein verständlich waren, entsprechende Assoziationen auslösten und daher über die nationalen Grenzen hinweg eingesetzt werden konnten. Dabei nahmen die Spots – beginnend mit den 1980er Jahren – verstärkt bei der Populärkultur Anleihen. Klassiker sowie Blockbuster der US-amerikanischen Filmproduktion wurden zitiert.69 Die Ästhetik von Musikvideos wurde breit genutzt, wobei sich die Werbefilme oft kaum mehr von einem MTV-Clip unterscheiden lassen.70
66 Gewinn, „Die Werbestrategien der Austria Tabak“ (Juli/August 1984). S. 22. 67 Der Spot Memphis Light – Die Leichte für Starke (A 1986) lief im TV rein als Werbefilm für die Sportbekleidung, wobei die letzte Sequenz mit den rauchenden Sportler*innen entfiel. Damit umging man das TV-Werbeverbot. Da der Film als Tabakspot in den Kinos in voller Länge lief, war die Assoziation zu den Zigaretten letztlich auch im Fernsehen gegeben. Vgl. dazu: ATI, „Eigenmarken auf Erfolgskurs“ (1986/3). S. 13. Interview mit Christian Mertl, 25.7.2017. 68 U. a. wurden folgende Werbespots umgesetzt: Memphis Blue Lights – Flieger (A 1997), Memphis Blue Lights. Ready for Testflight? (A 1999), Memphis Platinum (A 2000). Zu der Memphis Blue Lights Marketingkampagne siehe auch: ATI, „Memphis mit historischem Höchststand“ (1997/3). S. 12 f.; ebd., „Memphis Blue allgegenwärtig“ (1997/4). S. 16; ebd., „Von Österreich bis ins Land der Kirschblüte“ (1998/1). S. 16 f. 69 U. a. lassen sich folgende Film-/TV-Assoziationen finden: Serie Dallas (Spot Maverick – Großstadtcowboy 1 und 2, A 1988 und 1989; Indiana Jones und Mad Max (Spot York, A 1989); Top Gun (Spot Memphis Blue Lights. Ready for Testflight?, A 1999); Casablanca (Spot Casablanca – Strand und Filmset, A 1986). 70 Allen voran die Spots für die Marke Memphis Lights sowie der Werbefilm für die Marke Corso (A 1990) setzen auf Videoclipästhetik. Für Corso wurden mit Rudi Dolezal und Hannes Rossacher zwei damals bereits sehr bekannte und erfolgreiche Musikvideoproduzenten und -regisseure engagiert. Zu dieser Auftragsarbeit äußerten sich die beiden Künstler 1992 folgendermaßen: „Der Spot setzt nicht zuletzt auf einen Popsong mit aktuellem Arrangement und Zuschnitt, welcher nach unserem
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Die Anlehnung an US-amerikanische Bilderwelten setzte aber bei der Austria Tabak schon viel früher ein. 1948 brachte die Österreichische Tabakregie mit der Marke Jonny erstmals eine Zigarette mit amerikanischem Virginier Tabak auf den heimischen Markt, nachdem die bis dahin üblichen Orient-Tabake nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich ihre dominante Position verloren hatten. Über die US-amerikanischen Besatzungssoldaten hatten sich „American Blend“ Zigaretten zusehends verbreitet und langfristig auch den Geschmack der österreichischen Konsument*innen verändert.71 Besonders deutlich zeigte sich die „Amerikanisierung“ bei der Zigarettenmarke Memphis, die bereits 1897 von der Tabakregie produziert wurde. Über Jahrzehnte hinweg setzte man bei der Vermarktung dieses Orient-TabakProdukts auf Assoziationen zur ägyptischen Stadt Memphis. 1961 wurde die Memphis ohne Filter, 1965 jene mit Filter eingestellt. 1969 kam die Zigarette schließlich wieder als „naturreine American Blend“-Zigarette auf den Markt. Jetzt erfolgte auch in der Werbelinie eine Umstellung – aus der orientalischen Marke war ein US-amerikanische geworden; fortan wurde die Memphis mit dem US-amerikanischen Bundesstaat Tennessee assoziiert.72 Letztlich dominieren auch in den USA verortete Szenerien die Austria Tabak -Werbefilme der 1980er und 1990er Jahre. Prärie- und Wüstenlandschaften,73 TabakPlantagen74 und Wolkenkratzer75 dienten als abrufbare visuelle Schablonen eines per Film- und TV-Serien geschulten westlichen Publikums. Wie amerikanisch anmutende Bilderwelten in der Werbung der österreichischen Tabakindustrie inszeniert wurden, soll am Werbefilm Maverick – Großstadtcowboy 1 (A 1988) beispielhaft dargelegt werden. Die Mitte der 1980er Jahre neue eingeführte starke „Full Flavour“-Zigarette warb mit dem Slogan „Think Big“ und der visualisierten Figur eines „Stadtcowboys“, der eine Skyline überblickt und ein Sinnbild für „Überlegenheit und Kraft“ darstellen sollte. Im englischen Sprachgebrauch steht „Maverick“ zudem für eine Person, die Unabhängigkeit im Denken und Handeln zeigt; ein Non-Konformist, ein Rebell, mitunter ein Außenseiter wird mit diesem Begriff in Verbindung gebracht.76
Ermessen in seiner Qualität weit über den Durchschnitt der Werbejingles hinausgeht und das Potential zum Dancefloor-Hit in sich trägt.“ Vgl. Werbung aktuell, „Dancefloor-Spot“ (17.12.1992/268). S. 35. 71 ATI, „Die große Memphis Story“ (1989/3). S. 4 f. Trost, Rauchen für Österreich (wie Anm. 6), S. 172, S. 180. 72 Memphis Time, „100 Jahre Memphis“ (1989/1). S. 11. Schürmann/Alten et al., Die Welt in einer Zigarettenschachtel (wie Anm. 44), S. 109. 73 Z. B.: York, A 1989. 74 Z. B.: Memphis Tennessee (A 1980), Memphis – get the real taste (A 1983). 75 Z. B.: Memphis – get the real taste (A 1983), Maverick – Großstadtcowboy 1 und 2, A 1988 und 1989. 76 Geschäftsbericht der Austria Tabak 1988, S. 25. ATI, „Think Big Maverick“, Nr. 3, 1986, S. 3. Ebd., „Die Starke wird light“, Nr. 2, 2003, S. 14. Weitere Assoziationen zur amerikanischen Populärkultur
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In sehr aufwändig gedrehten Werbespots wurden die bereits in der Plakatlinie herangezogenen Assoziationshöfe filmisch umgesetzt. Maverick – Großstadtcowboy 1 beginnt mit einer extremen Obersicht (Vogelperspektive) auf eine Plattform mit der Aufschrift „Maverick“. Der sich darauf abzeichnende Schatten eines Hubschraubers lässt erkennen, dass das Publikum das Geschehen aus dem Blickwinkel der Insassen des Helikopters wahrnimmt. Motorengeräusche sowie eine rhythmisch dynamisierende Musik begleiten die Flugaufnahmen. Die Plattform wird überflogen, der tiefe Abgrund wird ersichtlich. Der Schatten des Hubschraubers zieht sich weit nach unten, parallel setzen dissonante Akkorde ein, welche die Tiefenwirkung verstärken und Spannung vermitteln. In der Folge wird aus subjektiver Kameraperspektive die verspiegelte Skyline der Wolkenkratzer abgeflogen. Diese Sequenz scheint dem Vorspann der Serie Dallas (USA 1978–1991) entlehnt, wo gleichfalls verspiegelte Fronten die Skyline der texanischen Großstadt aus der Flugperspektive präsentieren.77 Durch den Einsatz der subjektiven Kamera (Blick aus dem Cockpit) werden die Zuschauer*innen stärker in das Geschehen hineingezogen. Die Kanten der Wolkenkratzer steuern geradezu auf das Publikum zu. Der Blickwinkel ändert sich, der rasante Flug des Hubschraubers wird nun aus der Außensicht eines*einer Beobachters*in verfolgt. Der Helikopter fliegt hinter Fassaden vorbei, durch schnell gesetzte Schnitte, wird visuell die Flugzeit verkürzt (schneller als real möglich, schnellt das Fluggerät hinter den Häusern hervor). Die Schärfe liegt auf dem Hubschrauber, der Hintergrund ist bewusst unscharf gesetzt, um das Gefühl der Dynamik (der zunehmenden Geschwindigkeit) zusätzlich zu erhöhen. Die Handlungsachsen, Kameraperspektiven (Normalsicht, Vogelperspektive, Froschperspektive) und Einstellungsgrößen (Detail, Halbtotale, Totale, Nah, Halbnah) wechseln nun in rascher Abfolge. Nachdem der Helikopter direkt auf die Zuschauer*innen zusteuert, leitet ein Schnitt neuerlich zur subjektiven Kamera über (Flug über die Skyline). Schnitt: In Nahaufnahme wird dem Publikum erstmals der Protagonist des Films präsentiert. Ein Mann um die 30 (karierter Anzug, schmale rote Krawatte, Cowboyhut) blickt mit gerunzelter Stirn in Richtung des gegenüberliegenden Fensters. Die Mimik und Posen des Schauspielers lösen Assoziationen zu Bildikonen des in Texas spielenden Western-Epos Giants (US 1956) aus. Der hier in-
eröffneten sich für das zeitgenössische Publikum durch die US-Fernsehserie Maverick (USA 1957– 1962) sowie durch den Film Top Gun (USA 1986), in welchem der Hauptakteur (gespielt von Tom Cruise) Pete „Maverick“ Mitchell hieß. Zu den Bedeutungsmarkern des Begriffs „Maverick“ siehe auch: Allen, Martina: „Blow Some My Way“. Darstellungen weiblicher (Un-)Abhängigkeit in Zigarettenwerbung des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Politik und Poesie der Werbung. Ästhetik und Literarizität an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz. Hrsg. von Martina Allen u. Ruth Knepel. Bielefeld 2018. S. 187. 77 Die Musik des Werbespots erinnert hingegen an eine andere, damals ebenfalls in Europa sehr populäre amerikanische Fernsehserie – Miami Vice (USA 1984–1989).
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szenierte „Stadtcowboy“ lehnt sich an das Gebärdenspiel von James Dean in der Rolle des Jett Rink an.
Abb. 7–9: Maverick – Großstadtcowboy 1 (A 1988)
Der Hubschrauber steuert schließlich wieder die Ausgangsplattform mit dem „Maverick“-Schriftzug an und landet. In einer kurzen, quer angeschnittenen Detailaufnahme sehen wir einen Piloten Knöpfe im Cockpit bedienen. Der Protagonist saß also nicht am Steuer, sondern wurde geflogen. Der „Stadtcowboy“ entsteigt dem Helikopter (Aufnahme Halbnah, von hinten), seine Cowboystiefel sind für eine Sekunde groß um Bild. Schnitt: Aus der Untersicht sehen wir neuerlich den Mann beim Ausstieg (nur der Köper ist im Bild). Schnitt/Aufsicht: Der Protagonist schreitet die Plattform entlang (im Hintergrund die Skyline, im Vordergrund dominiert der Propeller des Helikopters als technisch-mechanisches Kleinod). Nach einer kurzen Detailansicht der nach vorne schreitenden Stiefel ist der Protagonist in Nahaufnahme mit Zigarette im Mund zu sehen. In der linken Hand hält er eine Packung Maverick, mit der rechten zündet er sich die Zigarette an. Aus dem Off erklingt der Kommentar: „Think Big! Maverick! American Blend!“ Der Mann blickt beim Erklingen des Markennamens hoch. Schnitt: Der „Stadtcowboy“ lässt den Blick (Halbnah) über die Skyline schweifen; aufgrund des gewählten Bildausschnitts (kleiner He-
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adroom) erscheint er größer als die Wolkenkratzer. Ähnlich dem Steppencowboy eröffnet sich für ihn die Weite. Er steht über den Dingen, bewahrt den Überblick und wird in der Tradition des unabhängigen Einzelkämpfers (Western) inszeniert.78 Die Tonalität79 des Spots ist somit dynamisch und dominant – Charakterzüge, die letztlich auch auf den*die Raucher*in der Marke transferiert werden sollen. Der Spot Maverick – Großstadtcowboy 1 steht beispielhaft für die internationale Ausrichtung der Werbefilme der Austria Tabak ab den späten 1970er Jahren. Diese Produktionen schufen vielfältige, positiv besetzte Lebens-, Wunsch- und Phantasiewelten, die allen voran die Selbstverwirklichung der Identifikationsfiguren in den Fokus rückten. Klar zeigt dies die Auswertung der erfassten Wunschszenarien, die in den Filmen der österreichischen Tabakindustrie eine narrative und dramaturgische Umsetzung fanden.80 25 % der Filme fokussierten auf die Selbstverwirklichung der Protagonist*innen („Entfaltung der Persönlichkeit“). 14 % stellten eine Verbindung zwischen dem Konsum des Produktes und einer daraus folgenden „physischen Attraktivität und erotische Anziehungskraft“ der Identifikationsfiguren her. 13 % der Filme konstruierten eine phantastisch idealisierte Wirklichkeit („Verzauberung/Poetisierung der Wirklichkeit“), welche den Testimonials eine neue Selbstwahrnehmung und -entfaltung ermöglichte (Held*innenstatus, erotische Abenteuer, Flucht aus dem Alltag etc.). Bezüglich des Kaufarguments dominiert ganz eindeutig die „Wirkung des Produkts“ (etwa Gelassenheit, physische Attraktivität) mit 38 %. In 19 % der Austria Tabak-Filme wurde die „Einzigartigkeit des Produkts“ als Verkaufsargument vorgebracht. Diese „Einzigartigkeit“ korreliert mit dem Wunsch (-bild), die eigene Persönlichkeit entfalten zu können.
Konsumpraktiken und Rollenbilder Die in den Werbefilmen der Austria Tabak wiederkehrenden Szenarien der Wunschund Phantasieerfüllung korrelieren mit diversen Lebensstilen und Konsumpraktiken.81
78 Der Spot endet mit einem Packshot: Neben dem freeze frame des „Stadtcowboys“ wird eine überdimensional große Zigarettenpackung eingeblendet. Dazu ertönt der abschließende Off-Kommentar: „Geschmack über alles – Maverick!“. 79 Unter Tonalität versteht Heiser den Grundton, den Stil, die Anmutung der Gestaltung des Spots. Vgl. Heiser, Drehbuch (wie Anm. 29), S. 173. 80 Im Zuge des Forschungsprojektes „Die Emotionalisierung nationaler Marken im österreichischen Werbefilm 1950–2000“ wurden eine Datenbank konzipiert und mit Informationen u. a. zu „Wunsch- und Schreckensbildern“ befüllt. Die Kategorisierung dieser Wunsch- und Angstszenarien sowie der Kaufargumente basieren auf den Forschungen von Thomas Kuchenbuch. Vgl. Kuchenbuch, Filmanalyse (wie Anm. 23), S. 347–349. 81 Diese „sozialen Skripte“ geben Verhaltensschablonen für soziale Konstellationen vor und verankern kognitive situationsbedingte Verhaltensschemata, die abrufbar sind und Konsumhandlun-
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Hochpreisige Zigarettenmarken (Champagne, Milde Sorte ultra, Milde Sorte deluxe) werden als Teil einer gehobenen Genusswelt inszeniert. In diesen Filmen sind es stets Paare, die gemeinsam in eine luxuriöse, mitunter dekadente, Sinnes- und Erlebniswelt eintauchen. In den Spots wird gezielt mit assoziativen Bildsplittern gearbeitet: Die Paare bereisen per Yacht, Sportwagen oder Privatjet die ganze Welt – von Nizza, über London bis nach New York. Freizeitaktivitäten wie Heißluftballonfahrten, Golf- oder Polo-Spiel gehören zum Lifestyle. Sie residieren in Luxushotels und frequentieren Haubenlokale. Teil des exklusiven Konsumambientes ist schließlich auch die hochpreisige Zigarettenmarke, die zum Abschluss des Bilderreigens geraucht wird.82 Eine weitere Funktion bzw. Konsumpraxis, die sich vielfach in der Tabakwerbung findet, ist die Anbahnung eines zwischenmenschlichen Kontakts. In den Werbespots der Austria Tabak erfolgen erotische Interaktionen ausschließlich zwischen Mann und Frau, wobei das Anbieten einer speziellen Zigarettensorte bzw. der Akt des Rauchens erst das Interesse des Gegenübers weckt.83 Ab Mitte der 1980er Jahre wird die Zigarette in den Spots des Unternehmens wiederholt als Teil eines Gemeinschaftserlebnisses im Bereich Freizeitsport, Musik und Tanz inszeniert.84 In diesen Filmen gehen ‚Tabakgenuss und Bewegungsfreude‘ eine Symbiose ein, wobei Unbeschwertheit und pure Lebensfreude vermittelt werden sollen. In der Gruppe (Frauen und Männer) betreibt man Sport (Krafttraining, Aerobic), um danach zusammen – als Belohnung – eine „leichte Zigarette für Starke zu konsumieren“. Diese Spots greifen die Ästhetik von Musikvideoclips, welche aus Musikspartensendern wie MTV oder TV-Hitparadenformaten bekannt waren, auf. Letztlich lässt sich noch eine vierte, immer wieder kehrende, ‚Funktion der Zigarette‘ in den Spots der Austria Tabak von Mitte der 1970er Jahre bis 2000 ausmachen: In vielen Filmen ermöglicht der Rauchgenuss dem männlichen Konsumenten, sich der Realität, dem Alltag zu entziehen und in eine andere Sphäre einzutauchen.
gen beeinflussen können. Vgl. Bless, Herbert u. Norbert Schwarz: Konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung. In: Theorien der Sozialpsychologie, Volume III: Motivations-, Selbst- und Informationsverarbeitungstheorien. Hrsg. von Dieter Frey u. Martin Irle. Bern/Göttingen 2002. S. 259. Abelson, Robert P.: Psychological Status of the Script Concept. In: American Psychologist 36 (1981/7). S. 717. 82 Siehe z. B. die Spots Champagne – international (A 1981), Champagne, Schloss (A 1982), Milde Sorte ultra, Polo (A 1992), Milde Sorte deluxe (A 1998). Eine Ausnahme bildet der Film Memphis Platinum (A 2000). Kein Paar, sondern ‚der souveräne Einzelkämpfer‘ wird hier stilisiert. Der Pilot startet sein Flugzeug und bewegt es nur ein kleines Stück nach vorne. Ziel dieser Aktion ist es, sich Schatten in der sengenden Hitze zu schaffen. Das Verschieben seines Sitzsofas hätte nicht genügt, um das Gefühl überlegener Dekadenz zu vermitteln. 83 Vgl. z. B.: Casablanca – Paris (A 1985), Memphis – Saxophon Bar (A 1990), Milde Sorte ultra, Polo (A 1992). 84 Z. B. Memphis Light – Die Leichte für Starke (A 1986), Milde Sorte – Du schmeckst mir! (A 1985), Corso (A 1990).
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Der Raucher findet sich entweder in exotisch anders anmutenden Welten wieder, wo er zu seiner Ruhe findet, oder aber er taucht in abenteuerliche Szenerien ein. Mitunter übernehmen die so konzipierten Werbefilme auch Elemente der filmischen Populärkultur.85 Tatsächlich werden in diesen Filmen nur männliche Personen gezeigt, die der Realität entfliehen. Das weist bereits auf die sehr unterschiedliche Typisierung von Frauen und Männern in den Filmen der Austria Tabak hin. Vor allem erweisen sich die Identifikationsangebote für erstere als erschreckend eindimensional und begrenzt.86 In den Spots – auch in jenen, die ein weibliches Zielpublikum ansprechen – gibt es fast ausschließlich eine Form der ‚Typisierung‘, eine Form der Wahrnehmung von Frauen, und zwar jene ‚der Verführten‘ (mehrheitlich) oder aber ‚der Verführerin‘.87 Frauen ‚brauchen‘ in diesen Filmen immer ein männliches Gegenüber, das ‚auf sie reagiert‘. Es gibt keine Spots, die Frauen als eigenständige Persönlichkeiten in eigenen Lebenswelten, auch nicht in Berufswelten zeigen.88 Es finden sich auch keine Filme, die ausschließlich Frauen präsentieren, die mit Frauen interagieren. Die Darstellung von Frauen als eigenständige Gruppe bzw. selbstbestimmte Frauen ohne einen männlichen Bezugspunkt fehlt. Die Präsentation der weiblichen Identifikationsfiguren erfolgt meist innerhalb eines in sich geschlossenen Rahmens/Raums – in einer Bar, bei einer Veranstal-
85 Z. B. Casablanca – Weltall (A 1988), York, (A 1989); Memphis Blue Lights. Ready for Testflight? (A 1999); Casablanca (A 1986), Dames u. Horror (A 1992). 86 Auf die eingeschränkten Rollenbilder und Identifikationsangebote für Frauen weisen auch folgende Arbeiten hin, die sich Werbeeinschaltungen während der Hauptsendezeit bzw. während Kinderprogrammen widmeten: Ganahal, David J. Thomas J. Prinsen u. Sara Baker Netzley: A Content Analysis of Prime Time Commercials: A Contextual Framework of Gender Representation. In: Sex Roles 49 (November 2003/9/10). S. 545–551. Davis, Shannon N.: Sex Stereotypes in Commercials Targeted Towards Children. A Content Analysis. In: Sociological Spectrum 23 (2003). S. 407–424. 87 Die einzigen Ausnahmen sind folgende: Melody (A 1964): Hier werden jeweils einzeln ein Mann und eine Frau in den Fünfzigern sowie in den Zwanzigern beim genussvollen Rauchen einer Zigarette präsentiert. Falk – und der Tag wird leicht (A 1977): Die Hausfrau eilt dem Ehemann, der sich auf den Weg in die Arbeit macht nach, um ihm seine Zigarettenpackung mitzugeben. Memphis Tennessee (A 1980): In der Südstaatenszenerie serviert ein schwarzes Hausmädchen Getränke. Letztlich tanzt sie barfuß zwischen den muszierenden Männern und raucht genüsslich eine Zigarette. Zudem gibt es einzelne Filme, welche Frauen als Teil einer Gemeinschaft (nationale Zuordnung oder sportliche Gruppenzuordnung) mit Männern präsentieren: Erfolg enorm! (A 1948), Memphis Light – Die Leichte für Starke (A 1986). 88 Wohl findet sich im Werbefilm Men – Flugzeug (A 1984) eine Flugbegleiterin. Sie wird allerdings ausschließlich auf ihre ‚erotischen Reize‘ reduziert und sexualisiert. In den Plakatsujets zur Werbekampagne „Milde Sorte. Das Leben ist hart genug“ des Jahres 1979 finden sich auch berufstätige Frauen (Blumenbinderin, Sekretärin, Schuhverkäuferin). Einzelne Sujets der Reihe präsentieren aber auch andere weibliche Typisierungen (Hausfrau nach dem Einkauf; Frau in ihrem Badezimmer/Schminkzimmer). Vgl. ATI, „Mildes Sorte und Memphis mit neuer Werbelinie“ (1979/3). S. 9. Huster, Gabriele: Wilde Frische – Zarte Versuchung. Männer- und Frauenbild auf Werbeplakaten der fünfziger bis neunziger Jahre. Marburg 2001. S. 60.
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tung, im Restaurant, im Hotelzimmer, im Flugzeug.89 Eine erweiterbare Lebenswelt (etwa eine andere ‚exotische‘ und/oder abenteuerliche Lebensraumerfahrung), wie sie sich für Männer in den Spots offeriert, existiert für Frauen nicht. Vielmehr wird der weibliche Körper erotisch inszeniert. Die Körperpartien der Frauen (Beine, Mund, Augen, Rücken, Brust) werden mit Lichtreflexen versehen, hell ausgeleuchtet und rücken somit in den Blickpunkt. Nah- und Detailaufnahmen kommen vermehrt zum Einsatz, die Kamera haftet – auch in Filmen, die Frauen als Zielgruppe im Fokus haben – auf den ‚Reizen‘ des weiblichen Körpers, der geradezu stellvertretend abgetastet wird. Der Blick des männlichen Protagonisten gibt die Sichtweise vor, die Kamera folgt Bewegungen, betont körperliche Details. Oftmals kommen auch phallische Symbole zum Einsatz, die eine sexuelle Annäherung bzw. einen nicht darstellbaren Akt versinnbildlichen.90 Ein Film, der für die „leichte“ Filterzigarette Milde Sorte91 wirbt, veranschaulicht diese stereotype Inszenierung ‚der Frau‘ deutlich. Der Spot Milde Sorte – Du schmeckst mir! (A 1985) präsentiert einen erotischen ‚Werbungs- bzw. Paarungstanz‘, der sich um einen rot beleuchteten Milde Sorte-Schriftzug vollzieht. Dazu wird ein Popsongmotiv mit dominantem Saxophon eingespielt. In der ersten Einstellung ist ein Mann um die 30 (in dunkler Hose und weißem Hemd zu sehen (Nahaufnahme), der seinen Kopf nach links wendet. Schnitt: In seiner Blickrichtung sehen wir eine Frau (etwa im gleichen Alter), die sich mit geschlossenen Augen und nach oben gestrecktem Arm an den Schriftzug lehnt. Die Kamera bewegt sich von den Beinen aufwärts bis zum Gesicht der Frau. Somit wird von Beginn an definiert, dass die uns – als Zuschauer*innen – gewährte Perspektive vom männlichen Protagonisten ausgeht. Die Frau trägt ein silbern schimmerndes, körperbetontes Abendkleid. Ihre rot gewellten Haare gemeinsam mit ihrem modischen Stil und akzentuierten Makeup lassen Assoziationen zu Rita Hayworth im „Film noir“-Klassiker Gilda (USA 1946) zu. Die Protagonistin wird angelehnt an die Starfotografie Hollywoods der 1920er bis 1950er Jahre als Diva inszeniert. Während einzelne Kör-
89 Erweiterte Lebensräume für Frauen ermöglichen sich in den Spots nur in einer Paarkonstellation, konkret in jenen Filmen, die eine luxuriöse Genuss- und Erlebniswelt präsentieren. Siehe dazu die Ausführungen zuvor. 90 Beispiele dafür sind u. a.: Men – Casino (A 1983), Men – Flugzeug (A 1984), Milde Sorte – Du schmeckst mir! (A 1985), Casablanca – Strand und Filmset (A 1986). Du schmeckst mir – Saxophon (A 1989), Milde Sorte deluxe (A 1998), Ronson (A 1999). 91 Die Marke Milde Sorte wurde von 1935 bis 1968 im Bayrischen Werk der Österreichischen Tabakregie produziert (danach wurde die Produktion nach Österreich verlegt). Nachdem die Schädlichkeit des Rauchens im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit erlangte, erlebte die Milde Sorte einen Aufschwung. Sie wurde in den 1970er Jahren und frühen 1980er Jahren zur bestvertriebenen „Leichtmarke“ der Austria Tabak in Europa. 1978 wurde sie in zwölf europäischen Staaten verkauft. Vgl. Schürmann, Alten et al., Die Welt in einer Zigarettenschachtel (wie Anm. 44), S. 108; ATI, „Milde Sorte international“ (1982/2). S. 30 f.; ebd., „Zuwachs für MildeSorte-Familie“ (1991/4). S. VIf.
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perteile ins Dunkel tauchen, werden andere Partien (Beine, Rücken, Teile des Gesichts) durch die Lichtsetzung betont. Das Präsentieren und Verhüllen einzelner Körperpartien wird zum ‚erotischen Spiel‘.92 Mann und Frau bewegen sich langsam aufeinander zu. Während der Protagonist (sein Sakko um die Schulter gehängt) aufrecht und zielstrebig auf sein Gegenüber zusteuert, vollzieht die Protagonistin eine Art ‚Balztanz‘. Sie bewegt sich auf ihn zu, hält inne, posiert (die Hand legt sie auf ihr hell ausgeleuchtetes gestrecktes Bein), sie dreht sich um die eigene Achse. Im Schnitt-/Gegenschnitt sehen wir jeweils die beiden abwechselnd aufeinander zukommen. Sie macht mit ihrer Hand eine einladende, lockende Bewegung und wendet sich ab. Er bleibt stehen, sie dreht sich wieder zu ihm, berührt sanft sein Kinn (Großaufnahme) und geht ein Stück weiter. Er folgt ihr, sie dreht sich um, hält ihn mit ihrer Hand auf seiner Brust von sich weg. Schließlich umschließt sie seinen Nacken mit den Händen, parallel nimmt er sie an der Taille, sie scheinen kurz zu tanzen. Rote Lichtquellen zentrieren sich auf ihr Haar und auf jene Körperstellen, wo sich die beiden berühren. Der Rücken (tiefer Ausschnitt) wird mit hellem Licht ausgeleuchtet. Die körperliche Nähe und erotische Anziehungskraft werden über die Lichtreflexe emotional verstärkt. Es kommt beinahe zu einem Kuss (Großaufnahme), sie stößt ihn leicht weg, wendet sich mit gesenktem Blick ab. Er fasst von hinten ihre Hand. Sie dreht sich zu ihm (ihr Gesicht in Großaufnahme). Schnitt: Großaufnahme einer Packung Milde Sorte (die Szenerie mit Schriftzug ist im Hintergrund zu erahnen). Schnitt: Die Frau macht einen tiefen Knicks vor dem Mann (Totale). Amerikanische: Sie blickt (noch kniend) zu ihm hoch. Die Frau erhebt sich langsam, öffnet ihre Arme und legt sich in die seinen, wobei sie den Kopf weit nach hinten neigt. Schnitt: Die Packung ist nun offen, eine Zigarette blickt ein Stück hinaus und springt deutlich nach oben. Rasanter Schwenk: Mann und Frau nehmen eine Zigarette aus der Packung (Detailund Großaufnahme). Ein brennendes Zündholz entfacht die Zigarette der Protagonistin (Detail). Schließlich liegt das Paar am Boden, beide stützen sich mit einem Arm ab, wobei er seinen Arm über ihren Körper positioniert und eine dominante Position einnimmt. Aus der Vogelperspektive wird uns dieses Bild nochmals dargeboten, wobei nun zwei überdimensionierte Milde Sorte-Packungen neben dem Paar erscheinen. Dazu erklingt auf dem Off eine männliche Stimme: „Milde Sorte!“, gefolgt von einer weiblichen „Du schmeckst mir!“
92 Vgl. auch die Ausführungen zur Star-Fotografie bei: Gozalbes Cantó, Patricia: Fotografische Inszenierungen von Weiblichkeit. Massenmediale und künstlerische Frauenbilder der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland und Spanien. Bielefeld 2012. S. 97.
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Abb. 10–13: Milde Sorte – Du schmeckst mir! (A 1985)
Der Spot präsentiert letztlich einen erotischen Akt, dem eine ‚erotische Umwerbung‘ vorangeht. Die Frau tanzt, posiert, wirbt, gibt sich weiter zurückhaltend, abweisend. Die schräge Kopfhaltung, die Präsentation der Kehle und vor allem der tiefe Knicks vor dem Partner können als Gesten der „freiwilligen Unterordnung“ gedeutet werden.93 Der Mann geht zielorientiert vor, lässt sich nicht abweisen, sondern ergreift letzten Endes die entscheidende Initiative. Die herausstrebende Zigarette ist klar als Phallussymbol zu deuten, das brennende Streichholz vermittelt direkt (banal) die nun sinnbildlich ‚lodernde Leidenschaft‘. Auch die Positionierung am Ende (der Mann legt den Arm über den Körper der Frau) erzeugt eine Hierarchisierung auf der Bildebene. Folgt man den drei von den Soziologen Scott Coltran und Michele Adams definierten Grundmustern, wie Sexualität in der Werbung zum Einsatz kommt, so finden sich all diese im Werbefilm Milde Sorte – Du schmeckst mir! (A 1985). Die Protagonistin des Spots wird zum ‚Blickobjekt‘ des Protagonisten („object of another gaze“ oder „self-gaze“ – z. B. Blick in den Spiegel). Gesten und Berührungen
93 Mühlen Achs, Gitta: Körpersprachliche Inszenierungen. München 1998. S. 64 f. Henley, Nancy M.: Körperstrategien: Geschlecht, Macht und nonverbale Kommunikation. Body Politics. Frankfurt a. M. 1993. S. 221 u. S. 258.
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zeugen von einem Werbungsverhalten („express alluring behavior“). Zudem trägt die weibliche Werbefigur ein köperbetontes Kleid mit tiefem Rückenausschnitt und Schlitz („wearing provocative clothing“).94 Dabei entspricht die „hyper-ritualisierte“ Männer- und Frauendarstellung in diesem Spot den Beobachtungen, die der Soziologe Erving Goffman und die Psychologin Nancy M. Henley bereits in den 1970er bzw. in den 1980er Jahren machten,95 wobei die Protagonistinnen v. a. als „subordinate to men, in passive roles, and as sex objects“ präsentiert werden.96 Während weiblichen Identifikationsfiguren in den Filmen der Austria Tabak nur begrenzte Rollen bzw. Entfaltungsmöglichkeiten geboten werden, eröffnen sich für die männliche Zielgruppe erweiterte Lebenswelten und Identifikationskonzepte. Dabei lassen sich drei zentrale, wiederkehrende Grundtypen festmachen. Der erste Typus ist ‚Der Lebenskünstler‘ bzw. ‚Der Chaot‘. Diese männlichen Identifikationsfiguren finden sich v. a. in den Werbefilmen der Marken Dames97 und Casablanca.98
94 Coltrane, Scott u. Michele Adams: Work-family Imagery and Gender Stereotypes: Television and the Reproduction of Difference. In: Journal of Vocational Behavior 50 (1997). S. 334 f. 95 Goffman untersuchte Systeme von Dominanz und Unterwerfung in Werbeanzeigen. U. a. machte er die Beobachtung, dass sich die gesellschaftliche Status-Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau etwa visuell in erhöhten Körperpositionen und im größeren Körperumfang bemerkbar machte, wie auch in zugewiesenen aktiven (tendenziell „männlichen“) und passiven (tendenziell „weiblichen“) Funktionen. Vgl. Goffman, Erving: Geschlecht und Werbung. Gender Advertisements. Frankfurt a. M. 1981. S. 120. Henley analysierte v. a. Körperhaltungen, Gesichtsausdrücke, Blicke, Berührungen und räumliche Anordnungen. Henley, Körperstrategien (wie Anm. 93), S. 232, S. 258 f. 96 Zu ähnlichen Ergebnisse kommen auch Studien der 1990er und 2000er Jahre. Coltrane and Adams, Gender Stereotypes (wie Anm. 94), S. 232–347. Ganahal et al., Prime Time Commercials (wie Anm. 86), S. 545–551. Bei der Auswertung von 287 ganzseitigen Werbeanzeigen in neun Magazinen (2007) durch ein US-amerikanisches Soziolog*innenteam zeigte sich außerdem, dass Werbeeinschaltungen für Tabak und Alkohol besonders oft (62 %) auf sexualisierte Inhalte zurückgriffen. Siehe: Monk-Turner, Elizabeth et al.: Derrick: Who is Gazing at Whom? A Look How Sex is Used in Magazine Advertisements. In: Journal of Gender Studies 17 (September 2008/3). S. 201–209. 97 Die Marke Dames sollte 1990 mittels eines anderen Erscheinungsbildes (Verpackung, Zigarettenpapier), einer modifizierten Tabakmischung und einer neuen Werbekampagne für eine „jüngere Zielgruppe attraktiv werden“. Die Werbeagentur Young & Rubicam entwickelte eine Werbelinie mit dem Slogan „Mit einer Dames bist Du nie allein“ und einer männlichen Werbefigur, die folgendermaßen beschrieben wurde: „Alex D. ist auf der ganzen Welt zu Hause. Er ist über 40, zwar nicht gerade eine Schönheit, aber durchaus sympathisch männlich. Daher von den Frauen geliebt und von den Männern als Idol bewundert. Steht für Leichtlebigkeit und Lässigkeit. Seine größte Stärke ist sein unverbesserlicher Optimismus“. Vgl. ATI, „Dames-Relance“(1989/1). S. 7; ebd. „Dames“ (1989/2). S. 13; ebd., „Marketing Dames“ (1989/3). S. 7; Memphis Time… Aus Freude am Genießen, „Bronze für Young & Rubicam“ (Oktober 1989/1). S. 25. 98 Die Marke Casablanca wurde im Herbst 1982 auf den Markt gebracht. Der Karikaturist Manfred Deix kreierte eine Phantasiefigur mit dem Namen „Hudriwudri“ („Rothaariges Wesen mit Rüsselnase und Schlapphut“). In den Werbefilmen war „Hudriwudri“ wiederholt an der Seite eines chaotischen Mannes (menschliches Alter Ego der Phantasiegestalt) zu sehen. Vgl. ATI, „Casablanca – eine Zigarette neuen Stils“ (1982/3). S. 5–7; ebd., „Hudriwudri“ (1986/1). S. 21. Tiroler Tageszeitung, „Starke Umsatzsteigerung. Der Weg zum Erfolg“ (2./3. März 1985). S. 9.
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Es sind sympathisch gezeichnete Anti-Helden, die sich mit Humor und Selbstironie durch den Alltag schlagen. In den um sie inszenierten (exotischen und surrealen) Lebenswelten treffen sie auf Frauen, die sie begehren, mitunter beschützen und idealisieren (Dames, Casablanca).99
Abb. 14: Dames (A 1990)
Der zweite wiederkehrende männliche Typus ist ‚Der Konservative‘ bzw. ‚Der Macher‘: Er wird als erfolgreich, selbstbewusst, dominant und zielstrebig inszeniert. Er steht über den Dingen, setzt sich durch, wirkt unterkühlt und gibt sich männlichüberlegen. Diese Identifikationsfigur findet sich in den Spots für die Zigarettenmarken Maverick und Men,100 wobei der Protagonist in den Maverick-Filmen, der „Großstadtcowboy“, völlig ohne weibliches Gegenüber agiert. Bei den Men-Werbefilmen wird hingegen ein Dandy im Nadelstreifanzug präsentiert, der einen rein sexualisierten Blick auf Frauen hat und diese mit seinem dominant selbstsicheren Auftreten beeindruckt. Er ‚braucht‘ weibliche Projektionsfiguren, die schließlich seinem „männlich herben Charme“ erliegen.101 Der dritte „Männertypus“, der sich in den Werbefilmen der Austria Tabak findet, ist ‚Der freiheitsliebende Einzelkämpfer‘. Er ist ungebunden, abenteuerlustig und mutig. Er lebt die Unabhängigkeit, agiert oft in rein als ‚männlich‘ ausgewiese-
99 Beispiele dafür sind u. a.: Dames (A 1990), Casablanca – Paris (A 1985). 100 Die hochpreisige Marke Men wurde 1983 eingeführt; die Packung hatte die Anmutung eines Nadelstreifanzuges. Die Agentur GGK konzipierte um diese Verpackung eine entsprechende Werbelinie, wobei die Zigarette mit den Merkmalen „männlich, konservativ, chauvinistisch“ assoziiert werden sollte. Die Werbefilme waren schwarz-weiß gedreht und arbeiteten mit Versatzstücken des „Film noir“ (Lichtsetzung, Musikgestaltung, Set). Die Marke Men sollte die „Generation der Yuppies“ und somit „exklusive, anspruchsvolle Prestigeraucher“ ansprechen. Vgl. Geschäftsbericht der Austria Tabak 1983, S. 12. Bestseller, „In’s Schwarze getroffen“ (1984/3). S. 58. ATI, „Men light“ (1990/1). S. 6 f. 101 Die Men-Werbefilme zeichnen sich durch ein sexistisches (Großaufnahmen von Gesäßen, Beinen in Strapsen) und stereotypes Frauenbild aus (‚die dienende Flugbegleiterin‘, ‚die verruchte Verführerin‘, ‚die hysterische Betrogene‘). Vgl. Men – Casino (A 1983), Men – Flugzeug (A 1984).
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nen bzw. konzipierten Szenerien und er hat kein weibliches Gegenüber. Diese Werbefigur findet sich in den Spots der Marken Memphis classic und den Filmen des Memphis blue Sortiments.102 Rund um die jeweiligen männlichen Identifikationsfiguren konzipierte das Marketingteam unter der Leitung von Christian Mertl, der allen voran die Markenfamilie Memphis im Fokus hatte, spezifische Lebenswelten, die in allen Werbemitteln reproduziert wurden. Für das Memphis blue Sortiment wurde etwa eine Szenerie rund um ‚die Welt der Piloten‘ kreiert, wobei die Markenattribute „Freiheit, Abenteuer, Action, Fun“ über Anzeigen, Plakate, Merchandising Produkte und Kinowerbefilme transportiert werden sollten.103 Ein Bespiel dafür ist der Werbefilm Memphis blue lights (A 1999), der diese Vorgaben aufgreift und über filmische Mittel und kulturelle Assoziationshöfe emotional umsetzt. Der Spot präsentiert Bilder von einem Hangar, Piloten begutachten ihre Flieger, sie besteigen (springen in) die Flugzeuge. Aus unterschiedlichen Kameraperspektiven (Obersicht, Untersicht) steigen die Flieger in den Himmel, sie bewegen sich in einer Formation. In kurzen Zwischenschnitten sind ein Pilot im Cockpit sowie zwei männliche Zuschauer am Boden zu sehen. Loopings werden geflogen, dabei fällt eine Packung Memphis blue lights aus dem Cockpit. Die Schachtel fliegt (Animation) direkt auf die Kamera zu. Spektakuläre Flugaufnahmen folgen, der Pilot versucht mit allen Mitteln (Drehungen, Wendungen) die Packung wieder zu erlangen. Letztlich gelingt es ihm, die Schachtel mit dem Mund zu fangen. Schnitt (Detail): Eine (die letzte!) Zigarette wird aus der Packung genommen und entzündet. Der Pilot ist wieder am Boden (Totale), er schreitet – die Zigarette rauchend – den Hangar entlang. Es folgt der Packshot: Zwei Memphis blue light-Packungen und eine Pilotenbrille liegen auf einem Stück Metall (vermutlich auf dem Rumpf oder Flügel eines Flugzeugs), der Schriftzug: „Ready for Testflight?“ erscheint, dazu erklingt die Off-Stimme (verzerrt, metallisch, ähnlich der Durchsage einer Kontrollstelle): „Ready for Testflight? Memphis blue light“.
102 Z. B. Memphis Tennessee (A 1980), Memphis Blue Lights, Flieger (A 1997), Memphis Blue Lights. Ready for Testflight? (A 1999), Memphis Platinum (A 2000). 103 Die Marke Memphis blue war 1996 die erste vertriebene Sorte des neuen Zigarettensortiments. Die neue Markenlinie war national und international (Deutschland, Italien, Frankreich, China, Japan) sehr erfolgreich. Die Marketingkampagne, die eine blauverspiegelte Pilotenbrille als Markenzeichen einsetzte, inkludierte auch eine eigene tägliche Radiosendung (Memphis blue Power Radio auf dem Sender Antenne Wien) sowie den ersten Internetauftritt einer Marke der Austria Tabak im Jahr 1997. Siehe: ATI, „Watch out for the blue!“ (1996/4). S. 6 f.; ebd., „Austria Tabak – Abflug ins Internet“ (1997/1). S. 11; ebd., „Von Österreich bis ins Land der Kirschblüte“ (1998/1). S. 16 f.; ebd., 1998: „Internationalisierung der Memphis Blue“ (1999/1). S. 11; ebd., „On a high level“ (2003/1). S. 14; ebd., „Memphis Moviestar“ (2003/2). S. 13.
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Abb. 15: Memphis blue lights (A 1999)
In diesem Spot werden Attribute wie Dynamik, Individualität und Freiheit, zugleich Überlegenheit und Gelassenheit mit dem Typus des ‚freiheitsliebenden Einzelkämpfers‘ in Verbindung gebracht. Man setzt auf bekannte kulturelle Codes sowie auf filmische Mittel, die die Emotionen der Zuschauer*innen beeinflussen und steuern sollen. Zu Beginn wird uns der Pilot als ein Schatten im Gegenlicht und somit als überhöhte mythische Figur präsentiert (eine Darstellung wie sie aus Heldeninszenierungen bekannt ist). Langsame Bildfolgen am Beginn geben uns einen Überblick über die Gesamtsituation. Die Dynamik des Spots verändert sich in dem Moment als die Flieger aus der Dreierformation ausbrechen, zum Sturzflug ansetzen und parallel dazu laute Motorengeräusche einsetzen. Permanente Bewegungsreize vor der Kamera erzeugen Spannung und lösen Orientierungsreflexe aus, die Konzentration einfordern. Rasche Bildfolgen (montage rapide), Reiß-Schwenks, schräge Perspektiven, ein verschwommener Hintergrund (flache Tiefenschärfe) und der rasante Wechsel der Handlungsachsen verstärken optisch den Eindruck der Beschleunigung. Durch den Einsatz eines Weitwinkelobjektivs erscheinen näherkommende Objekte größer, schwellen rasant an und rasen geradezu auf das Publikum zu. Die Zigarettenpackung selbst wird zu einem beinahe bedrohlich erscheinenden Flugobjekt, das Teil der phantastisch inszenierten „Welt des Piloten“ ist. Der Pilot selbst setzt sich über Regeln hinweg. Er jagt der verloren scheinenden Packung Memphis blue lights nach, womit die Marke in ihrer Bedeutung, in ihrem Wert hochstilisiert wird. Er fängt sie schließlich mitten im rasanten Flug mit dem Mund auf. Der erste Ruhemoment tritt ein, als die Packung in Großaufnahme das Bild dominiert. Ganz nahe, im Detail, wird nun über Sekunden das Entnehmen, das Entzünden und das Glimmen der letzten und somit einzigen noch in der Packung befindlichen Zigarette inszeniert. Die Totale eröffnet uns schließlich den Blick auf den Piloten, der gelassen über den Hangar schreitet. Flimmernde Luft vermittelt den Eindruck hoher Temperaturen, was wiederum den Moment der Ruhe, des Innehaltens, die Wirkung der Zigarette verstärkt. Die metallische Stimme am Ende lässt uns nochmals in die „Welt der Piloten“ eintauchen. Die neben der Packung platzierte
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Pilotenbrille war den Rauchern der Memphis blue-Zigaretten als eines von vielen Merchandising Produkten und als das signifikante Element der Werbekampagne bereits bekannt. Die männliche Zielgruppe dieser Kampagne sollte sich mit dem ‚selbstsicheren Piloten‘ auf mehreren Ebenen identifizieren. Der athletische Körperbau und die sportliche Beweglichkeit (körperliche Identifikation), die Zugehörigkeit zu einer elitären Pilotenmannschaft (soziale Identifikation)104 sowie die Präsentation der Fliegerkünste und der damit einhergehenden mentalen Stärke (psychische Identifikation) ermöglichen dem Zuschauer eine „imaginative Übernahme der Figurenperspektive“.105 Die Attraktivität der männlichen Werbefigur erfolgt hier über die Ästhetisierung in seiner Inszenierung als ‚Held der Lüfte‘ wie auch über die präsentierte ‚souveräne Beherrschung‘ des Flugzeugs. Demzufolge entspricht die im Werbespot Memphis blue lights (A 1999) dargebotene „männliche Attraktivität“ den begrenzten ‚verlockenden‘ Darstellungsmöglichkeiten des Mannes in der Werbung. Dem Medienwissenschaftler Guido Zurstiege zufolge wird männliche Anziehungskraft in erster Linie in Form von Sportlichkeit vermittelt. Der Sport bilde „einen legitimen Rahmen, in dem männliche Attraktivität und zugleich Leistung, Leistungsfähigkeit, Kampf, Auseinandersetzung inszeniert werden können“.106 Abseits des sportlichen Kontextes wird in den Spots der Austria Tabak „männliche Anziehungskraft“ bzw. „Sex-Appeal“ über den Einsatz von Humor (‚Der Lebenskünstler‘/ ‚Der Chaot‘ in den Dames- und Casablanca-Spots), über klassische (historische) Vorbilder (Westernallegorien, Anleihen beim Heldenepos in den Maverick-, Memphis classic- oder Memphis blue-Spots) und über künstlerische Ästhetisierung (etwa durch die Übernahme einer „Film noir“-Ästhetik bei den Men-Spots) kreiert.107
Resümee Identitätsstiftende und volkswirtschaftliche Beweggründe, innenpolitische Bedingungen, gesellschaftspolitischer Druck von außen, ökonomische Überlegungen so-
104 Der Spot zitiert in der Gestaltung und in der Bekleidung des Protagonisten den Film Top Gun (USA 1986). 105 Siehe dazu die Identifikationskonzepte von Berys Gaut und Jens Eder: Gaut, Berys: Identification and Emotion in Narrative Film. In: Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion. Hrsg. von Carl Plantinga u. Greg M. Smith. Baltimore 1999. S. 201–208; Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Hamburg 2008. S. 601 f. 106 Zurstiege, Guido: Fit und flott – und ein wenig sexy in schwarz-weiß: Die strukturelle Ambivalenz werblicher Medienangebot. In: Stereotype? Frauen und Männer in der Werbung. Hrsg. von Christina Holtz-Bacha. Wiesbaden 2008. S. 120. 107 Vgl. dazu auch die von Zurstiege dargelegten Männlichkeitsinszenierungen in der Werbung: Ebd.
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wie traditionell verhaftete, rollenspezifische Denkmuster beeinflussten die Selbstund Fremdbegrenzungen, aber auch die Erweiterung der Werbekonzepte der Austria Tabak in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Nachkriegszeit stand der Einsatz nationaler Codes hoch im Kurs. Um die Volkswirtschaft wieder zu beleben, sagte man den Schwarzmarktzigaretten den Kampf an. Die Filme der Austria Tabak setzten in ihrer Werberhetorik auf den explizit national-patriotischen Pathos des Kommentars, der als „emotionaler Marker“ Kampfgeist, Zusammenhalt, Stolz und Gemeinschaftsgefühl bei den Österreicher*innen verinnerlichen sollte. Die Tabakregie nutzte in der Besatzungszeit den Animationsfilm um auf symbolisch spielerische Art Kritik an den durch die Alliierten ins Land gebrachten Tabakwaren zu üben. Der Trickfilm ermöglichte es, eine Botschaft, die im Realfilm aggressiv oder überzeichnet wirken kann, humoristisch pointiert zu vermitteln. Während in der Nachkriegszeit für den ‚patriotischen Konsum‘ und gegen den Kauf von Schwarzmarktzigaretten geworben wurde und sich die Marketingkonzepte auf den österreichischen Markt zentrierten, änderte sich dies allmählich im Verlauf der 1960er Jahre. ‚Nationale Codes‘ wurden nun im Zuge des wachsenden Exports auch über die heimischen Grenzen hinweg eingesetzt, wobei vor allem über kulturelle Assoziationen und Kooperationen mit der Tourismusbrache, die österreichischen Tabakwaren ihren Absatz finden sollten. Aufgrund des Drucks infolge der Terry-Reports entschloss sich die Austria Tabak zu einer selbstgewählten Werbebeschränkung. Die Reklame im Bereich Radio und TV wurde 1973 eingestellt. Die Kinospots bewarben nun ausschließlich Filterzigaretten. Parallel intensivierte das Unternehmen seine Forschungstätigkeit und suchte die direkte Konfrontation mit Vertreter*innen der Gesundheitsbehörden. Die in den 1970er Jahren einsetzenden Anti-Rauch-Kampagnen zeigten nur langsam Wirkung, wobei gerade bei der Gruppe der Jugendlichen und der Frauen Ende der 1990er Jahre noch ein Anstieg der Raucher*innen zu verzeichnen war. Ab den späten 1970er Jahren waren die Werbefilme der Austria Tabak in ihren Inhalten und ihrer Gestaltung international ausgerichtet und ebenso auch einsetzbar, wobei deren Inszenierungsstil die Grenzen zu populären Spielfilmen und Musikvideos mitunter verschwimmen ließen. Vielmehr orientierten sich die Spots an US-amerikanischen Serien, klassischen und zeitgenössischen Spielfilmen Hollywoods sowie an Musikvideos und nutzten die hier eingesetzten filmischen Mittel und kulturellen Assoziationshöfe. Auf unterschiedlichen Ebenen (dynamisierende Bewegungsreize, Geräusch- und Tonlandschaften, rhythmisierende Bewegungsund Musikabfolgen, Blickkonstellationen, kulturelle Codes etc.) wurden Spannung bzw. Konzentration generiert und Emotionen frei gesetzt, wobei eine imaginative Übernahme der Charakterzüge und Attraktivität der Figuren auf den*die Raucher*in der Marke erfolgen sollte. Dabei konzentrierte sich die ‚Textebene‘ nun ausschließlich auf den Packshot. Die sprachliche Rhetorik blieb ab den 1970er Jahren völlig aus. Einzig Bild-Assoziationen sowie Musik- bzw. Geräuschkulissen kreierten Erleb-
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nis- und Genuss-Szenerien, die Selbstverwirklichung und/oder physische Attraktivität versprachen. Hinsichtlich der Identifikationsangebote für Frauen und Männer in den Werbefilmen zeigten sich gravierende Unterschiede. Frauen wurden in den Spots der Austria Tabak nur sehr eindimensionale Rollenbilder (‚die Verführte‘, ‚die Verführerin‘) und keine erweiterten Entfaltungsmöglichkeiten (keine Berufswelten, keine rein weiblichen Lebenswelten etc.) geboten. Männern eröffneten sich in den Werbefilmen mehr Lebenswelten und Identifikationsangebote, wobei in fast allen Spots eine männliche Perspektive eingenommen wurde. Auffallend ist die hochgradige Sexualisierung der Frauen in den Werbefilmen der Tabakindustrie im Vergleich zu anderen Spots dieser Periode.108 Studien USamerikanischer Soziolog*innen der 2000er Jahre bestätigen dieses Bild auch noch für das Jahr 2007. Demnach greifen Werbeeinschaltungen für Tabak und Alkohol in hohem Maß auf sexualisierte Inhalte zurück. Eine gleichwertige Darstellung von Frauen und Männern im Tabak-Werbefilm findet allein im Rahmen von Gemeinschaftserlebnissen statt. In den national konnotierten Werbefilmen der Nachkriegszeit nehmen Frauen am ‚national moralischen Konsumerlebnis‘ (im Sinne eines patriotischen Kaufverhaltens) teil. Auch in den Spots, die Freizeitsport, Musik und Tanz als kollektives Erlebnis inszenieren, werden Frauen äquivalent präsentiert. Eine sexuell erotische Inszenierung der Frau bleibt in diesen Filmen aus. Über geschlechtsspezifische Zielgruppen hinweg, stehen die Selbstverwirklichung der Protagonist*innen, die Einzigartigkeit des Produkts und somit auch der jeweiligen Konsument*innen sowie deren physische Attraktivität im Zentrum der Tabakwerbefilme. Dabei schuf die Tabakindustrie für ihre vielfältigen Marken eigene positiv besetzte Lebens-, Wunsch- und Phantasiewelten und offerierte entsprechende Konsumpraktiken. Der individuelle alleinige Genuss der Zigarette wurde hier ebenso dargeboten, wie die Möglichkeit der Kontaktanbahnung und der Konsum in einer Gruppe. Präsentiert wurden fast ausschließlich junge Menschen um die 30, die durch den Zigarettenkonsum ihr jeweiliges momentanes Bedürfnis stillen. Angesichts der steigenden Raucher*innenzahlen in der Gruppe der Frauen und der Jugendlichen in Österreich in den 1970er bis 1990er Jahren wären weiterführende Forschungen im Bereich der Werbewirkung von Interesse. Im Zuge von OralHistory Projekten könnten Ex-Raucher*innen, die in den 1970er bis 1990er Jahren
108 Ein Vergleich mit Werbefilmen derselben Periode (Ende 1940er Jahre bis 2000) des österreichischen Wäscheunternehmens Palmers macht die Sexualisierung der Frauen in den Tabakspots deutlich. Die Unterwäsche-Spots setzen nahezu nie auf explizit erotische Inszenierungen aus männlicher Perspektive. Die Frauen sind Großteils unter sich (kein männliches Gegenüber). Auch steht das eigene Befinden der Frauen (Selbstbestimmtheit, Wohlbefinden, Qualität der Ware etc.) im Fokus.
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mit der Werbung der Austria Tabak konfrontiert waren, auf ihre Erinnerungen, Motive und heutigen Assoziationen zu den Werbemitteln hin befragt werden. Parallel wären die Aktivitäten der Anti-Rauch-Kampagnen einzubeziehen. Die Vorbildwirkung von Tabak-Werbungen wie auch von Kampagnen, die sich gegen den Tabakkonsum stellten, müssten interdisziplinär erforscht werden und könnte folglich zu wertvollen Studienergebnissen für die Soziologie, Gesundheits-, Werbe-, Konsum-, Film-, Kommunikations- wie auch für die historischen Kulturwissenschaften führen.
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Begrenzte Grenzenlosigkeit
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Filme Österreichs beste Mannschaft (A 1949) Erfolg enorm…! (A 1948) Melody (A 1964) Falk – und der Tag wird leicht (A 1977) Memphis naturecht – Sport (A 1979) Memphis Tennessee (A 1980) Champagne – international (A 1981) Champagne, Schloss (A 1982) Memphis – get the real taste (A 1983) Men – Casino (A 1983) Men – Flugzeug (A 1984) Casablanca – Paris (A 1985) Milde Sorte – Du schmeckst mir! (A 1985) Memphis Light – Die Leichte für Starke (A 1986) Casablanca – Strand (A 1986) Casablanca – Filmset (A 1986) Casablanca – Weltall (A 1988) Maverick – Großstadtcowboy 1 (A 1988) Maverick – Großstadtcowboy 2 (A 1989) Milde Sorte – Du schmeckst mir – Saxophon (A 1989) York (A 1989) Corso (A 1990) Dames (A 1990) Memphis – Saxophon Bar (A 1990) Milde Sorte ultra, Polo (A 1992) Dames und Horror (A 1992) Memphis Blue Lights – Flieger (A 1997) Milde Sorte deluxe (A 1998) Memphis Blue Lights. Ready for Testflight? (A 1999) Ronson (A 1999) Memphis Platinum (A 2000)
Bernhard Dietz
Revolte in der Warenwelt Konsumkritik, nonkonformistische Ästhetik und der Paradigmenwechsel in der westdeutschen Werbeindustrie von 1968–86
Einleitung: Kapitalismuskritik und Konsumwirtschaft Welche Bedeutung hat gesellschaftliche Kritik am Kapitalismus für den Formwandel des Kapitalismus? Zwingt die Herausforderung durch antikapitalistische Kritik das kapitalistische System zu neuen Rechtfertigungsformen, zu einer neuen kulturellen Legitimation der eigenen Vorherrschaft? Ist die moderne Wirtschaftswelt, die sich normativ an Kreativität, Teamarbeit und selbstbestimmten – postmodernen – Konsument*innen orientiert, gar eine langfristige Folge der Revolte von 1968? Aus historischer Sicht spricht einiges dafür, die Entstehung eines solchen „neuen Geist des Kapitalismus“1 für die Bundesrepublik Deutschland um 1970 zu lokalisieren. Demnach gab es durchaus so etwas wie ein ökonomisches Erbe der 1968er: Ihre Autoritäts- und Systemkritik hat im Zusammenspiel mit einer kritischeren Medienöffentlichkeit und der ersten sozialdemokratisch geführten Bundesregierung die westdeutschen Wirtschaftsführer massiv herausgefordert.2 Der normative Druck, die
1 Boltanski, Luc u. Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006. Vgl. dazu auch Du Gay, Paul u. Glenn Morgan (Hrsg.): New Spirits of Capitalism. Crises, Justifications, and Dynamics. Oxford 2013; Wagner, Gabriele u. Philipp Hessinger (Hrsg.), Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie. Wiesbaden 2008. 2 Vgl. hierzu Dietz, Bernhard: Weniger Autorität wagen. „1968“ und der Wandel von Führungskonzepten in der westdeutschen Wirtschaft. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 27 (2018), Heft 6. S. 43–64; Dietz, Bernhard: „Die Ressource Mensch“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2018, S. 6; Plumpe, Werner: „1968 und die deutschen Unternehmen. Zur Markierung eines Forschungsfeldes“. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 49 (2004). S. 44–65; Kleinschmidt, Christian: „Das ‚1968‘ der Manager. Fremdwahrnehmung und Selbstreflexion einer sozialen Elite in den 1960er Jahren“. In: Kulturalismus, neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt – Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte. Hrsg. von Jan-Otmar Hesse, Christian Kleinschmidt u. Karl Lauschke. Essen 2002. S. 19–31; Malinowski, Stephan u. Alexander Sedlmaier: „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitige Durchdringung. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006). S. 238–267; Kurzlechner, Werner: Von der Semantik der Klage zu einer offensiven Medienpolitik. Selbstbild und Wahrnehmung westdeutscher Unternehmer 1965–1975. In: Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“, Hrsg. von Morten Reitmayer u. Ruth Rosenberger. S. 289–318; Vgl. https://doi.org/10.1515/9783110661965-006
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Wirtschafts- und Arbeitswelt humaner, egalitärer und demokratischer zu gestalten, war enorm gestiegen. Die westdeutschen Wirtschaftsführer reagierten zunächst defensiv und larmoyant. Man fühlte sich von Student*innenprotesten, Gewerkschaften und „linken Medien“ provoziert und beklagte die vermeintliche Undankbarkeit der Bevölkerung für die eigene Leistung des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und den geschaffenen allgemeinen Wohlstand seit dem „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre. Diese Haltung währte aber nur recht kurz. Schon bald verbreitete sich in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft die Erkenntnis, dass Selbstmitleid nicht weiterhelfen würde und es stattdessen eines zunehmend konstruktiv-gestalterischen Umgangs mit der Kritik bedurfte.3 Dies war eine Reaktion auf die antikapitalistische Kritik, vor allem aber auch den ökonomischen Strukturveränderungen geschuldet. Um 1970 wurde immer deutlicher, dass ‚alte‘ Industrien (insbesondere die arbeitsintensive Schwerindustrie) an Bedeutung verlieren würden und sich gleichzeitig ‚neue‘ Industrien (insbesondere Konsumartikel- und Exportindustrie sowie Dienstleistungssektor) in Zukunft einem stärker werdenden internationalen Wettbewerb würden stellen müssen. Auch der Erwartungshorizont der Unternehmen veränderte sich zunehmend: In einer angebotsorientierten Konsumwirtschaft mit starker Konkurrenzdynamik würden sich die Produkte nicht mehr von selbst verkaufen; die Kreativität der eigenen Mitarbeiter*innen für neue Produkte und ökonomische Strategien wurde so zur überlebenswichtigen Ressource. Neuen Managementmethoden und Führungsstilen kam nun die Aufgabe zu, in offeneren betrieblichen Situationen die Kreativität der Mitarbeiter*innen zu stimulieren. Von der ‚Ressource Mensch‘ erhoffte man sich neue Wachstumsstimulation, um auch in einem gesättigten Markt weiter Produkte zu verkaufen. Die hier nur grob skizzierten – durch Kapitalismuskritik und ökonomische Strukturveränderungen ausgelösten – Entwicklungen betrafen vor allem die Arbeitswelt. In dem vorliegenden Beitrag soll es nun um die Produktwelt und speziell um die Entwicklungen in der Werbeindustrie seit 1970 gehen. Auch hier hatten die ökonomischen Strukturveränderungen massive Auswirkungen: Der Zwang der Un-
auch Rehling, Andrea: Die deutschen Wirtschaftseliten in der öffentlichen Wahrnehmung am Beispiel von „Spiegel“, „Stern“ und „Quick“. In: Akkumulation. Informationen des Arbeitskreises für kritische Unternehmensgeschichte 18 (2003). S. 1–14. 3 Vgl. hierzu Dietz, Autorität (wie Anm. 2); Dietz, Bernhard: Von der Industriegesellschaft zur Gesellschaftsindustrie. Wirtschaft, Wirtschaftspresse und der „Wertewandel“ 1970–1985. In: Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Arbeit, Leistung und Führung in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Bernhard Dietz u. Jörg Neuheiser. München 2016. S. 179–206; Dietz, Bernhard: Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren. In: Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren. Hrsg. von Bernhard Dietz [u. a.]. München 2014. S. 169–197.
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ternehmen zu Diversifizierung und kürzer werdenden Produktlaufzeiten in gesättigten Märkten steigerte die Bedeutung von Marketing und Werbung. Zwar war Werbung in der Wirtschaftspraxis seit Jahrzehnten verbreitet, doch war diese oft kaum wissenschaftlich fundiert. Als verhaltenswissenschaftlich fundiertes Managementkonzept wurde Marketing im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften erst zum Ende der 1960er Jahre eingeführt. Der erste Lehrstuhl für Marketing an einer deutschen Universität wurde beispielsweise erst 1969 in Münster etabliert.4 Um das Spannungsfeld zwischen Kapitalismuskritik und Entwicklung der Werbewirtschaft zu erfassen, wird der zeitliche Bogen hier bewusst etwas weiter gespannt und es werden sowohl die 1970er als auch die 1980er Jahre in den Fokus genommen. Gleichzeitig wird unter ‚1968‘ nicht nur die die Studentenbewegung im engeren Sinne verstanden, sondern auch das in den frühen 1970er Jahren entstehende alternative Milieu bzw. die sogenannte „Gegenkultur“, die sich durch eine ambivalente Mischung aus Kapitalismuskritik und Konsum als Ausdrucksmittel von Individualität und Nonkonformität auszeichnete.5 Dieses weite Verständnis von ‚1968‘ entspricht dem von der Geschichtswissenschaft gezeichnetem Bild der Geschehnisse, das inzwischen deutlich vielschichtiger geworden ist. Schon länger wird die transnationale Dimension der Ereignisse betont, also den unterschiedlichen politisch-kulturellen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen globalen Zentren des Protestes nachgegangen.6 Neuerdings wird aber auch das „andere 1968“ erforscht: die von den linken Student*innen angefeindeten Gegner vom Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) und ihre ebenso tiefgreifenden politisch-generationellen Prägungen rücken ins Rampenlicht;7 aber auch die Rolle der Frauen, der Provinz und der Eltern der „1968er“ komplementieren die immer umfassendere „Gesellschaftsgeschichte einer Revolte“.8 An diese Forschungen knüpft der vorliegende Beitrag an. Die Leitfrage lautet: Welche Auswirkungen hatte die Kapitalismuskritik von ‚1968‘ auf die westdeutsche
4 Borscheid, Peter: Agenten des Konsums. Werbung und Marketing. In: Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch. Hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt. Frankfurt a. M. 2009. S. 79–96. Hier: S. 92–95; Köhler, Ingo: Marketing als Krisenstrategie. Die deutsche Automobilindustrie und die Herausforderungen der 1970er Jahre. In: Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik. Hrsg. von Hartmut Berghoff. Frankfurt a. M. u. New York 2007. S. 259–295; Reinhardt, Dirk: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland. Berlin 1993. 5 Vgl. Siegfried, Detlef: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur. Ditzingen 2018. 6 Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München 2017; Brown, Timothy: West Germany and the Global Sixties. The Anti-Authoritarian Revolt, 1962–1978. Cambridge 2013; Gassert, Philipp (Hg.): 1968. Memories and Legacies of a Global Revolt. Washington 2009. 7 Von der Goltz, Anna: „Other ’68ers in West Berlin. Christian Democratic Students and the Cold War City“, In: Central European History 50 (2017). S. 86–112. 8 Von Hodenberg, Christina: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. München 1968.
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Werbung und mit welchen Modellen versuchte die Werbewirtschaft in der Folge zukünftige Konsumentscheidungen zu prognostizieren und zu beeinflussen? Um diese Frage zu beantworten, ist dieser Beitrag in vier Abschnitte gegliedert: Nach diesem ersten Schritt einer knappen Einleitung soll zweitens gezeigt werden, wie die Werbewirtschaft durch die Kapitalismuskritik der 1970er Jahre massiv herausgefordert wurde und einen Paradigmenwechsel in der theoretischen Fundierung von Konsum und Werbung auslöste. Zentral für die neue theoretische Erfassung von Werbung war das Konzept der postmodernen Konsument*innen, das ganz wesentlich auf der sozialwissenschaftlichen Diagnose vom ‚Wertewandel‘ basierte. In einem dritten Schritt soll anhand eines Praxisbeispiels gezeigt werden, wie aus dem sozialwissenschaftlichen Befund ‚Wertewandel‘ neue Marketingstrategien und Werbeideen abgeleitet wurden, mit denen auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert werden sollte. Dafür wird das Beispiel der 1968 auf den deutschen Markt gekommenen Zigarettenmarke Camel und ihrer Bewerbung mit dem Camel-Mann herangezogen. Dies ist gerade deswegen ein interessantes Beispiel, weil mit dieser Marke die Zigarettenindustrie das von ‚1968‘ ausgegangene alternative Lebensgefühl aufgreifen wollte und weil der Camel-Mann darüber hinaus einem sehr aufschlussreichen gestalterischen Wandel unterlag. Es wird daher analysiert, wie diese ab 1968 für Nonkonformismus und Abenteuer stehende Werbefigur in den 1980er Jahren einen Imagewandel zum ‚leistungsorientierten‘ Yuppie vollzog. In einem kurzen Resümee soll dann viertens eine Antwort auf die Leitfrage gegeben werden.
Werbekritik und Wertewandel Von Marcuse lernen, heißt siegen lernen – so könnte man das Ergebnis eines Treffens von hochrangigen Wirtschafts- und Hochschulvertreter*innen am 30. November 1972 in Köln zusammenfassen.9 Auf der Tagung ging es um die Kapitalismuskritik an westdeutschen Universitäten und ihre Bedeutung für die zukünftige Marktwirtschaft. Der Direktor des von BDI und BDA getragenen Deutsche Industrieinstitut, Prof. Burghard Freudenfeld, war davon überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit den linken Kritiker*innen vor allem ein Kampf um Begriffe war. Um die bundesdeutsche Marktwirtschaft zu retten, bedürfe es daher einer reformierten kapitalistischen Sprache: „Wenn es nicht gelingt, eine für alle akzeptable Sprachebene zu finden, wird die progressive Linke mit einem Verfahren Erfolg haben, das Marcuse als ‚linguistische Therapie‘ bezeichnet hat. Er meint damit, daß werttragende Begriffe wie Mündigkeit, Emanzipation, Demokratisierung usw. mit sozialistischen Inhalten
9 Bericht über den Erfahrungsaustauch Hochschule – Wirtschaft am 30.11.1972. Historisches Archiv Deutsche Bank (HADB) V 30 659.
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angereichert werden müssen.“ Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass zentrale Begriffe der Zeit wie Mündigkeit, Emanzipation, Demokratisierung wieder mit kapitalistischen Inhalten zu füllen seien. „Wer die Jugend gewinnen will, muß ihr Identifikationsmöglichkeiten mit gesellschaftlichen Leitbildern und Werten bieten“, fasste Freudenfeld diesen Gedanken zusammen.10 In der Folge wurde dies als neue Strategie in die Tat umgesetzt: Vor allem die Wirtschaftsverbände (BDA, BDI) und das von Freudenfeld geleitete Deutsches Industrieinstitut (ab 1973 Institut der Deutschen Wirtschaft) professionalisierten entschieden ihre Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem begannen sie damit, ihre leitenden Angestellten und Spitzenmanager in Rhetorikkursen für die Diskussion mit linken Kritiker*innen zu schulen und auf Betreiben einzelner Unternehmen wurde viel Geld in die Modernisierung der Führungskräfteausbildung investiert. Gerade weil der ökonomische Strukturwandel die Bedeutung von akademisch ausgebildetem Personal stark ansteigen ließ, galt es sicherzustellen, dass der wissenschaftliche Nachwuchs und die zukünftigen Führungskräfte auf dem ideologisch sicheren Terrain der sozialen Marktwirtschaft standen.11 Dass deutsche Wirtschaftsführer sich auf den deutsch-amerikanischen Soziologen und Philosophen Herbert Marcuse bezogen, lag auch an dessen zentraler Rolle für die theoretische Fundierung der westdeutschen Kapitalismuskritik. Sein 1967 erschienenes Buch Der eindimensionale Mensch12 avancierte zu einem Standardwerk der 1968er, weil es die von Theodor Adorno und Max Horkheimer in den 1940er Jahren formulierte Kapitalismusanalyse für die Anwendung auf die moderne Konsumgesellschaft aktualisierte.13 Der zentrale Gedanke des Buches bestand darin, dass das Individuum durch Konsumwerbung subversiv manipuliert werde, es also einen Zusammenhang zwischen Werbung, Wohlstand und Unfreiheit gebe. Marcuse lieferte damit einige der zentralen Schlagworte und Ideen für die Gesellschaftskritik der 1968er: die herrschende Verblendung durch Massenmedien und Konsum auf der einen Seite und die notwendige Verweigerung von Konformismus und Opposition gegen Manipulation auf der anderen Seite.14 In dieser Perspektive war Werbung nichts
10 Bericht über den Erfahrungsaustauch Hochschule – Wirtschaft am 30.11.1972. Historisches Archiv Deutsche Bank (HADB) V 30 659. 11 Vgl. hierzu Dietz, Autorität (wie Anm. 2); Dietz, Industriegesellschaft (wie Anm. 3); Dietz, Wertewandel (wie Anm. 3). 12 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied 1969. 13 Adorno, Theodor u. Max Horkheimer: Philosophische Fragmente. New York 1944. 14 Vgl. hierzu Sedlmaier, Alexander: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik. Berlin 2018; Gasteiger, Nepomuk: Vom manipulierbaren zum postmodernen Konsumenten. Das Bild des Verbrauchers in der westdeutschen Werbung und Werbekritik. 1950–1990. In: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008). S. 129–157; Gasteiger, Nepomuk: Konsum und Gesellschaft. Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009). S. 35–57; Gasteiger, Nepomuk: Der
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anderes als das Propagandainstrument stumpfsinnigen Massenkonsums. Diese Ideen verbreiteten sich rasch und machten Marcuse aus Sicht von Wirtschaftsvertreter*innen zu einem „modernen Rattenfänger“15, der die studentische Bewegung mit einer „effektvollen Kampfsprache“16 ausgestattet habe. Und es sei eine „offene Frage“, so BDA-Präsident Otto A. Friedrich, ob diese „raffinierte Agitationstechnik“ zukünftig auch außerhalb der Universitäten erfolgreich sein könnte und wohlmöglich „eines Tages auf eine unsicher gewordene Gesellschaft wirken wird.“17 Es stand also viel auf dem Spiel. Entsprechend führte das Deutsche Industrieinstitut seine ideologische Auseinandersetzung mit der neuen Linken – den Kampf um die Begriffe – auch auf dem Feld von Konsum und Werbung.18 Tatsächlich wurde Marcuses Kritik an der Werbung auch außerhalb der 1968erBewegung stark rezipiert. Populärwissenschaftliche Bücher mit konsumkritischer Stoßrichtung griffen die Thesen auf.19 Dabei verband sich Konsumkritik oft auch mit dem Ziel, die – als besonders empfänglich eingestuften – Kinder und Jugendlichen vor Werbung und ‚Konsumterror‘ zu schützen.20 Dieser Gedanke griff in den 1970er Jahren auf die Schulen über: Schulbücher aller Klassenstufen kritisierten Werbung als ein von kommerziellen Interessen gesteuertes Manipulationsinstrument.21 Werbung setze nicht auf Information, sondern auf Suggestion – so die gängige Argumentation.22 Dabei agiere sie derartig subversiv, dass es ihr sogar gelungen sei, die größte jugendkulturelle Verweigerung gegen Konsum und Leistungsgesellschaft der jüngsten Zeit – die der Hippies – für sich zu vereinnahmen, so der
Konsument. Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945–1989. Frankfurt a. M. u. New York 2010. 15 Tuchtfeldt, Egon: Die Marktwirtschaft zwischen gestern und morgen. In: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 2 (1972). S. 7–14. Hier: S. 10. 16 Helmstädter, Ernst: Die ökonomischen Leitbilder des neuen Radikalismus. In: Vortragsreihe des Deutschen Industrieinstituts, Nr. 47, 23.11.1971. 17 Friedrich, Otto A.: Der Unternehmer und die freie Gesellschaft. In: Vortragsreihe des Deutschen Industrieinstituts, Nr. 46, 17.11.1970. 18 So z. B. in Heft 15 der über die ganzen 1970er Jahre erschienenen Reihe „Die Neue Linke“. Vgl. Werbung. Manipulation und Konsumterror. Hrsg. vom Deutschen Industrieinstitut. Köln 1972. 19 Menge, Wolfgang: Der verkaufte Käufer. Die Manipulation der Konsumgesellschaft. München 1971; Schmidbauer, Wolfgang: Homo Consumens. Der Kult des Überflusses. Stuttgart 1972; Bühler, Karl-Werner: Der Warenhimmel auf Erden. Trivialreligion im Konsum-Zeitalter. Wuppertal 1973. 20 Künnemann, Horst: Kinder und Kulturkonsum. Überlegungen zu bewältigten und unbewältigten Massenmedien unserer Zeit. Weinheim 1972; Marquart, Alfred: Glück zu verkaufen. Werbung, Leistung, Konsum. Ravensburg 1974. Vgl. auch: Nur mit faulen Tricks. Manipuliert uns die Werbung?. In: Die Zeit. 25.10.1974. 21 Gasteiger, Konsument (wie Anm. 14), S. 177 f. 22 Vgl. auch Lindner, Rolf: Kritik der Konsumgüterwerbung. Gesellschaftliche Voraussetzungen, ökonomische Funktionen und ideologische Implikationen eines Kommunikationsmittels. Berlin 1975; Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Warenästhetik. Beiträge zur Diskussion, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Kritik. Frankfurt a. M. 1975.
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Hörfunkjournalist Alfred Marquardt. In einem konsumkritischen Diskussionsbuch für Jugendliche beschrieb dieser die Eingliederung der Hippies „in den gewohnten Konsum-Rhythmus“ als perfide Anbiederung an die Jugend „durch clevere Werbemanager“.23 Das zeige die Übernahme des „Hippie-Looks“ für Anzeigen, insbesondere aber auch die Sprache der Agenturtexter: „Da gibt es Schokolade-Riegel, die nicht ‚gut‘, ‚lecker‘ oder ‚fein‘ sind, sondern ‚groovy‘. Da gibt es Cola-Getränke, die nicht ‚kühl‘, ‚erfrischend‘ oder ‚saftig‘ schmecken, sondern sie vermitteln einen ‚xycola-Rausch‘. Die Werbe-Büros haben die Revolte gewinnbringend angelegt, und auch daran ist sie zugrunde gegangen“.24 Darüber hinaus habe die Werbung aus dieser Herausforderung gelernt und die Warenindustrie werde in Zukunft jede Kritik an sich schon frühzeitig absorbieren, so Marquardt: „Wenn die Konsumenten schon den Konsum verweigern wollen, dann bitteschön unter Anleitung der Konsumindustrie!“25 Scharfe Kritik an der Werbewirtschaft kam auch aus der Politik. Die SPD, die Gewerkschaften, vereinzelte Politiker*innen der CDU/CSU und später dann auch Die Grünen setzten sich für Werbebeschränkungen und teilweise für Werbeverbote in einzelnen Medien ein.26 Dabei wurde mit Verbraucherschutz, Kinderschutz aber auch mit der Gleichberechtigung der Frauen argumentiert, da diese in der Werbung allzu oft nur in der Rolle der Hausfrau oder des Sexobjekts dargestellt würden.27 Um solche Beschränkungen und staatliche Reglementierungen abzuwehren und gegen ihr schlechtes Image anzugehen, gründete der Zentralausschuss der Deutschen Werbewirtschaft 1972 den Werberat. Im Sinne einer freiwilligen Selbstkontrolle stellte das Gremium Verhaltensregeln und Leitlinien zur inhaltlichen Gestaltung von Werbung auf und diente als Beschwerdeinstanz für Verbraucher*innen: Werbespots oder Anzeigen konnten nun beim Werberat beanstandet werden. Fiel dann die Prüfung der beanstandeten Werbung im Sinne des*der Klägers*in aus, wurde die betroffene Kampagne in der Regel von dem verantwortlichen Unternehmen zurückgezogen.28 Um der populären ‚Reklameschelte‘ etwas entgegenzusetzen, druckte der Zentralausschuss der Deutschen Werbewirtschaft außerdem Argumentationshilfen, die mündige, selbstverantwortliche Verbraucher*innen und ihre Rolle in der freien
23 Marquart, Glück (wie Anm. 20), S. 80–84. 24 Marquart, Glück (wie Anm. 20), S. 83. 25 Marquart, Glück (wie Anm. 20), S. 84. 26 Boss, Michael A.: Unternehmenspolitische und gesellschaftliche Konsequenzen einer staatlich verordneten Einschränkung der Werbung. Berlin 1976. Merk, Gerhard: Zur Begrenzung der Offensivwerbung. Berlin 1977. 27 Martiny, Anke: Die Diskriminierung von Frauen in der Werbung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 32/33 (1979). S. 32–41; Schmerl, Christiane u. Michaela Huber: Frauenfeindliche Klischees in der Werbung. In: Psychologie heute 2 (1979). S. 24– 25; Schmerl, Christiane: Frauenfeindliche Werbung. Sexismus als heimlicher Lehrplan. Berlin 1980. 28 Vgl. hierzu Gottzmann, Nicole: Möglichkeiten und Grenzen der freiwilligen Selbstkontrolle in der Presse und der Werbung. Der Deutsche Presserat und der Deutsche Werberat. München 2005.
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Marktwirtschaft in den Mittelpunkt stellten.29 Doch diese Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache war zunächst nur bedingt erfolgreich. Nicht nur der massive gesellschaftliche Widerstand machte der Werbebranche zu schaffen. Hinzu kam eine Auftragsflaute in Folge der Ölkrise 1973/1974, sodass sich die Werbeindustrie Mitte der 1970er Jahre in einer handfesten Krise befand.30 Im Zuge der tiefen Verunsicherung wurden nun innerhalb des eigenen Fachdiskurses auch die theoretischen Grundlagen der eigenen Arbeit in Frage und schließlich zur Disposition gestellt. Das betraf insbesondere das Axiom, wonach sich der*die Konsument*in massenmedial direkt beeinflussen und kontrollieren lasse. Gestützt durch den in der Sozialpsychologie lange dominanten Behaviorismus, ging man bis in die 1970er Jahre davon aus, dass menschliches Verhalten auf der Basis experimental-psychologischer Methoden analysiert und manipuliert werden könne.31 Insofern teilte man in der Werbeindustrie lange Zeit durchaus die Grundannahmen der schärfsten Konsumkritiker*innen: Aus Sicht der Werbeexpert*innen war in Übereinstimmung mit dem Paradigma des ‚scientific management‘ der Mensch ein formbarer und auf der Ebene des Unter- oder Unbewussten steuerbarer Konsument. Mitte der 1970er Jahre geriet dieses Axiom ins Wanken. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass in einer sich immer weiter differenzierenden Konsumgesellschaft Werbung immer schwieriger geworden war. Gesättigte Märkte, divergierende Konsument*inneninteressen und gestiegenes Selbstbewusstsein von Verbraucher*innen machten Werbung zu einem kaum kalkulierbaren Geschäft. In einem wirtschaftswissenschaftlichen Kommentar wurde dies bereits 1971 so zusammengefasst: „Während die Kritiker den Eindruck erwecken, als lasse sich mit der modernen psychologisch ausgerichteten Werbung praktisch jedes Absatzproblem lösen, weil der Konsument zur Knetmasse in den Händen der Marketer geworden ist, sieht die Wirklichkeit anders aus. Die Erfahrungen der Werbepraktiker zeigen, daß Werbung ein hartes, risikoreiches Geschäft ohne Geheimnisse ist, dem der Konsument noch keineswegs zum Opfer gefallen ist“.32 Diese Selbstentzauberung der eigenen Fähigkeiten erlebte ihren Höhepunkt im Werbe- und Marketingdiskurs nach 1973. Die Wirkungsmöglichkeiten der Werbung und die Beeinflussung der Konsument*innen durch ihre Botschaften werde massiv überschätzt, lautete die ernüchternde Botschaft. Im Jahrbuch der Werbung, in der Zeitschrift absatzwirtschaft und auch in den Publikationen des Zentralausschusses
29 Rechte verteidigen. In: Der Spiegel. 25.3.1974. 30 Gasteiger, Konsument (wie Anm. 14), S. 178–183. 31 Koppetsch, Cornelia: Die Werbebranche im Wandel. Zur Neujustierung von Ökonomie und Kultur im neuen Kapitalismus. In: Konsum der Werbung. Zur Produktion und Rezeption von Sinn in der kommerziellen Kultur. Hrsg. von Kai-Uwe Hellmann u. Dominik Schrage. Wiesbaden 2004. S. 147– 161. 32 Cassel, Dieter: Manipulation des Verbrauchers? Über die Rolle der Werbung in der Marktwirtschaft. In: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 4 (1971). S. 217–220. Hier: S. 220.
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der deutschen Werbewirtschaft konnte so zwar die Manipulationsthese mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Kommunikationswissenschaften entkräftet werden.33 Gleichzeitig aber stellte sich die Frage, wie dem*der modernen bzw. postmodernen Konsumenten*in denn nun aus Sicht der Werbewirtschaft beizukommen sei. Was sollte an die Stelle des Glaubens an die psychologische Kontrollierbarkeit des*der Konsumenten*in treten? Um 1980 war dies die sozialwissenschaftliche Diagnose vom ‚Wertewandel‘. Diese auf sozialwissenschaftlicher Umfrageforschung basierende Theorie wurde von den Werbeexpert*innen in den 1980er Jahren geradezu begierig rezipiert. Der ‚Wertewandel‘ bot neue Orientierung, neue Deutungsangebote und neue Prognosemöglichkeiten. Die Unübersichtlichkeit des sozialkulturellen Wandels erklärte die Theorie mit einem einfachen und komplexitätsreduzierten Konzept. Unterschiedlichste gesellschaftliche Phänomene wie die Frauenbewegung, die Umweltbewegung, verschiedene Jugendkulturen von den Gammlern bis zu den Punks, aber auch Verschiebungen in der bundesdeutschen Arbeitsgesellschaft und der Wunsch nach mehr Freizeit ließen sich alle mit demselben, einfachen Modell eines gesellschaftlichen Basistrends erklären. Im Kern beschrieb die von Ronald Inglehart, Helmut Klages, Elisabeth Noelle-Neumann und Heiner Meulemann vorgetragene Forschung einen Wandel von traditionell bürgerlichen Werten hin zu postmaterialistischen Selbstentfaltungswerten, der sich vor allem zwischen 1965 und 1975 vollzogen habe.34 Zu Beginn der 1980er Jahre wurde das wissenschaftliche Theorem ‚Wertewandel‘ dabei recht freihändig diskursiv eingesetzt und diente vor allem der Gegenwartsbeschreibung und Zukunftsprognose, ohne dass man sich mit dem demoskopischen Material der Wertewandelforschung oder der Validität ihrer Theoriebildung intensiv auseinandergesetzt haben musste. Aus sozialwissenschaftlicher Analyse wurde in der Bundesrepublik der 1980er Jahre ein genereller Wissensbestand und Erwartungshorizont, der nicht mehr hinterfragt wurde.35
33 Gasteiger, Konsument (wie Anm. 14), S. 217 f. 34 Hillmann, Karl-Heinz: Zur Wertewandelsforschung. Einführung, Übersicht und Ausblick. In: Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften. Resultate und Perspektiven der Sozialwissenschaften. Hrsg. von Georg W. Oesterdiekhoff u. Norbert Jegelka. Opladen 2001. S. 15–39; Thome, Helmut: Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung. In: Die kulturellen Werte Europas. Hrsg. von Hans Joas u. Klaus Wiegandt. Frankfurt a. M. 2005. S. 386–443; Neumaier, Christopher u. Thomas Gensicke: Wert/Wertwandel. In: Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. von Günter Endruweit [u. a.]. Konstanz 32014. S. 610–616. 35 Dietz, Industriegesellschaft (wie Anm. 3); Neuheiser, Jörg: Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialistischen Arbeiten? Werteforschung, neue Arbeitssemantiken und betriebliche Praxis in den 1970er Jahren. In: Semantiken von Arbeit. Diachrone und vergleichende Perspektiven. Hrsg. von Jörn Leonhard u. Willibald Steinmetz. Köln 2016 (Industrielle Welt 91). S. 319–346; Rödder, Andreas: Vom Materialismus zum Postmaterialismus? Ronald Ingleharts Diagnosen des Wertewandels, ihre Grenzen und ihre Perspektiven. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary
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Entsprechend widmeten sich auch Marketingexpert*innen und Werbefachleute dem Thema intensiv, versprach doch ein richtiges Verständnis dessen, was die Menschen für wünschenswert hielten, eine Möglichkeit der Prognose zukünftiger Konsumentscheidungen. Das galt umso mehr, als die Produktmärkte Anfang der 1980er als „stagnierend“, „gesättigt“ und „reif“ galten. Die Analyse des ‚Wertewandels‘ eröffnete, so hoffte man zumindest, den „Weg zum neuen Konsumenten“36. Den besten analytischen Anknüpfungspunkt bot hierfür die Wertewandel-Interpretation des Speyerer Sozialwissenschaftlers Helmut Klages mit seiner Theorie der Wertesynthese. Anders als Ronald Inglehart ging Klages nicht von einer Priorisierung von Werten aus, sondern sah in „Wertesynthesen“ die Möglichkeit verschiedener Kombinationen von Pflicht- und Akzeptanzwerten und von Selbstverwirklichungswerten.37 Diese Interpretation war also nicht deterministisch, sondern enthielt ein Element der Entwicklungsfreiheit, das sich für die Wirtschaft in Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume für Personal- und Marketingexpert*innen übersetzen ließ.38 In diesem Sinne bedeutete die Übersetzung der Postmaterialismus-These in die Konsumwelt also nicht den Verzicht auf Konsum, sondern verwies auf neue Formen des Konsums, die sich an den ‚neuen Werten‘ wie z. B. mehr Freizeit, Selbstverwirklichung, gesunder Lebensstil oder Umweltbewusstsein orientierten. Der ‚Wertewandel‘ erzwang damit aus Sicht von Produktdesigner*innen, Marketingexpert*innen und Werbefachleuten gänzlich neue Ästhetiken für den*die postmodernen Konsumenten*in. Die Gestaltung des ‚Wertewandels‘ in der Produkt- und Konsumwelt wurde auch deswegen als dringlich interpretiert, weil die ‚Postmaterialisten‘ mit gewandelten Verbraucherbedürfnissen in gehobener sozialer Stellung vermutet wurden. Wertebasiertes Konsumgütermarketing sei allein schon deshalb wichtig, weil „es sich bei den Wertgewandelten um Angehörige höherer sozialer Schichten han-
History 3 (2006). Online-Ausgabe. http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Roedder-32006 (19.06.2019). 36 Rode, Friedrich A.: Der Weg zum neuen Konsumenten. Wertewandel in der Werbung. Wiesbaden 1989. Vgl. auch Silberer, Günter: Werteorientiertes Management im Handel. In: Jahrbuch für Absatz und Verbrauchsforschung 4 (1987). S. 332–351; Tietz, Bruno: Die Wertedynamik der Konsumenten und Unternehmer in ihren Konsequenzen auf das Marketing. In: Marketing. Zeitschrift für Forschung und Praxis 2 (1982). S. 91–102; Erschütterung im Marketing. Der neue Konsument kommt. In: Werben + Verkaufen 45 (1983). S. 30–39. 37 Vgl. Klages, Helmut: Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Frankfurt a. M. 1984; Klages, Helmut: Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1993; Klages, Helmut: Entstehung, Bedeutung und Zukunft der Werteforschung. In: Sozialpsychologie und Werte. Hrsg. von Erich H. Witte. Lengerich 2008. S. 11–29. 38 Im Bericht des Manager Magazins über den Bamberger Soziologentag 1982 wurde entsprechend das „Klagessche Sowohl-als-auch der Werte“ als besonders realitätsnah beschrieben und durch Berichte aus der Wirtschaftspraxis bestätigt. Derschka, Peter: Krise der Arbeit. Zweifel am Ziel. In: Manager Magazin 12 (1982). S. 102–107.
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delt, die oft als Meinungsführer*innen gelten und insgesamt nicht als Konsumverweigerer bezeichnet werden können“.39 Entsprechend hoben Marketingexpert*innen auch die Bedeutung der neuen alternativen Milieus hervor und betonten ihre Avantgarde-Position für das zentrale neue Marketingthema Lebensqualität und Umweltbewusstsein. Die Klages-Schüler Hans Raffée und Klaus-Peter Wiedmann vom Mannheimer Institut für Marketing erklärten daher im Manager Magazin die Notwendigkeit eines „gesellschaftsorientierte[n] Marketing“: „Über die sich unmittelbar anbietende Suche nach Innovationsmöglichkeiten im Zeichen der Öko-, Bio- und Gesundheitswelle hinaus ist grundsätzlich die Frage aufzuwerfen, welche neuen Konsumverhaltenstrends sich ergeben können“.40 Unternehmerische Strategien, die ökologische Aspekte der Produkte und eine stärkere Umweltorientierung des Unternehmens in den Vordergrund rückten, waren die offensichtlichste, aber nicht die einzige Schlussfolgerung für den Konsum im Zeichen des ‚Wertewandels‘.41 „Gesellschaftsorientiertes Marketing“ wurde generell als Konzept strategischer Unternehmensführung entwickelt und angewandt.42 In der Fachzeitschrift Marketing. Zeitschrift für Forschung und Praxis ging man davon aus, dass der ‚Wertewandel‘ ein entschiedenes Umdenken im Marketing zur Folge haben müsse und neue Werbeinstrumente entwickelt werden müssten: Eine Verschiebung hin zu höheren Produktqualitäten, „insbesondere zu emotionalen Qualitätselementen“, verlange eine Anpassung der Sprache, den verstärkten Einsatz von Bildern und eine erlebnisorientierte Designpolitik, um dem Streben nach Individualisierung gerecht zu werden.43 Werbung müsse demnach kreativer, ästhetisch und
39 Konsumgüter-Marketing (III). In: Wirtschaftswoche. 31.8.1984. Vgl. auch Windhorst, Karl-Götz: Wertewandel und Konsumentenverhalten. Ein Beitrag zur empirischen Analyse der Konsumrelevanz individueller Wertvorstellungen in Bundesrepublik Deutschland. Münster 1985. 40 Raffée, Hans u. Klaus Peter Wiedmann: Wenn Werte wichtig werden. In: Manager Magazin. März 1984. S. 172–176. Vgl. auch Müller, Günter u. Michael Schmid: Umbruch im Handel. Sechs Thesen zu den Konsequenzen des Wertewandels. In: Harvard-Manager. Theorie und Praxis des Managements 4 (1985). S. 104–107. 41 Töpfer, Armin: Umwelt und Benutzerfreundlichkeit von Produkten als strategische Unternehmungsziele. In: Marketing. Zeitschrift für Forschung und Praxis 4 (1985). S. 241–251; Brunowsky, Ralf-Dieter u. Lutz Wicke: Der Ökoplan. Durch Umweltschutz zum neuen Wirtschaftswunder. Zürich 1984; Thomé, Gotthardt: Produktgestaltung und Ökologie. München 1981; Raffée, Hans: Marketing und Umwelt. Stuttgart 1979. 42 Raffée, Hans u. Klaus Peter Wiedmann: Der Wertewandel als Herausforderung für Marketingforschung und Marketingpraxis. In: Marketing. Zeitschrift für Forschung und Praxis 3 (1988). S. 198– 210; Raffée, Hans u. Klaus Peter Wiedmann (Hrsg.): Strategisches Marketing. Stuttgart 1985; Raffée, Hans u. Klaus Peter Wiedmann: Die Selbstzerstörung unserer Welt durch unternehmerische Marktpolitik. In: Marketing. Zeitschrift für Forschung und Praxis 4 (1985). S. 229–240; Raffée, Hans u. Klaus Peter Wiedmann: Das gesellschaftliche Bewußtsein und seine Bedeutung für das Marketing. Hamburg 1983. 43 Konert, Franz-Josef: Konsumgütermarketing im Zeichen veränderter Marktstrukturen. In: Marketing. Zeitschrift für Forschung und Praxis 4 (1984). S. 279–285. Vgl. auch Neumann, Noelle u.
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künstlerisch anspruchsvoller werden und sich am Ideal „authentischer Lebensführung“ orientieren. Diesen Trend formulierte Ulrich Becker von der Sinus-Lebensweltforschung für das Produktdesign so: „Ästhetiken, die den Konformismus betonen, die Sauberkeit und Ordnung demonstrieren, verlieren an Bedeutung – auch wenn sie nach wie vor den Mehrheitsgeschmack prägen. Dafür kommen verstärkt ästhetische Motive zur Geltung, die Individualität, ja Originalität des Einzelnen – mit unterschiedlichen Stilmitteln – hervorheben.“44
Werbung für den*die postmoderne*n Konsumenten*in war in dieser Lesart also nicht mehr vordergründig am Produkt orientiert, sondern sollte einen individuelllibertären Lebensstil in den Vordergrund rücken. Weil der*die postmoderne Konsument*in dem Konsum gegenüber kritisch geworden war, erhöhte dies die Bedeutung einer glaubhaften emotionalen Botschaft. Offensichtlich manipulative Produktpolitik gelte es unbedingt zu vermeiden, so Hans Raffée und Klaus-Peter Wiedmann: „Wird die Beeinflussungsabsicht durchschaut bzw. durch die aktive Öffentlichkeit aufgedeckt […] so sind Trotzreaktionen und erhebliche Umsatzverluste zu erwarten“.45 Angesichts dieser „Launen des postmodernen Konsumenten“ seien die besten „geheimen Verführer“ jene, die „mit dem Konsumenten reden würden“, ohne ihm etwas verkaufen zu wollen, erklärte ein Artikel der Fachzeitschrift Werben + Verkaufen.46 Die effektivste Kommunikation mit dem „postmodernen Kunden“ laufe daher „über das Herz direkt zur Brieftasche“.47 Der ‚Wertewandel‘ war in der Werbewirtschaft handlungsleitend geworden, und indem die neue Wertewelt massenwirksam präsentiert wurde, wirkten die neuen Ideale, die mit den Produkten verbunden wurden, und die als erstrebenswert
Elisabeth: Wertewandel. Was kommt, was geht, was gilt? Marketing antwortet. In: Absatzwirtschaft 27 (1984). S. 26–33. 44 Becker, Ulrich: Wer „macht“ die neuen Werte? Wertewandel, Stilwandel und Alltagsästhetik. In: Erkundungen. Katalog zum Internationalen Design-Kongreß und zur Ausstellung in Stuttgart. Stuttgart 1986. S. 165–169. Hier: S. 169. 45 Raffée, Hans u. Klaus Peter Wiedmann: Gesellschaftsbezogene Werte, persönliche Lebenswerte. Lebens- und Konsumstile der Bundesbürger. Mannheim 1986. S. 281. 46 Rudolph, Peter: Die Launen des postmodernen Konsumenten. In: Werben + Verkaufen. 10.4.1987. Vgl. auch Hüppe, Bernhard: Muß die Werbung neue Wege gehen. In: Marketing. Zeitschrift für Forschung und Praxis 4 (1983). S. 294 f.; Wertewandel voller Widersprüche. In: Werben + Verkaufen. 11.6.1986. Die Formel von den „geheimen Verführern“ geht auf den amerikanischen Publizisten Vance Packard zurück. Vgl. Packard, Vance: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann [dt. Übersetzung von The hidden Persuaders]. Düsseldorf 1958. Vgl. hierzu auch Cohen, Lizabeth: A Consumers’ Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America. New York 2004. 47 Rudolph, Launen (wie Anm. 46).
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dargestellten Lebenshaltungen und Lebensentwürfe wiederum normativ.48 Diese Entwicklung rief auch Kritik hervor. Kurt Biedenkopf, der grundsätzlich den Wert der Werbung für die marktwirtschaftliche Ordnung und die Finanzierung freier Medien als sehr positiv einschätzte, war hinsichtlich der in der Werbung transportierten normativen Botschaften sorgenvoll: Die Tendenz der Werbung, nicht mehr allein das Produkt vorzustellen, sondern einen Lebensentwurf, ein Lebensideal zur Norm zu erheben, könne auf viele Menschen einen Verhaltensdruck ausüben, dem sie nicht mehr gewachsen seien. Die „Fetischisierung der Jugend“ und die Pluralisierung der vorgestellten Lebensentwürfe könnten gar zu einer „Entsolidarisierung der Gesellschaft“ führen, so Biedenkopf 1987 in einem Vortrag vor dem Zentralausschuss der Werbewirtschaft.49 Zu dem Zeitpunkt, als Biedenkopf diese Kritik äußerte, war ein bestimmter, von der Werbung lange Zeit propagierter Lebensentwurf bereits in eine Krise geraten. Die Rede ist vom freiheitsliebenden und nonkonformistischen Abenteurer, wie ihn der Camel-Mann geradezu sinnbildlich fast 20 Jahre lang verkörpert hatte.
Der Camel-Mann: vom Loch im Schuh zum Yuppie im Dschungel 1968 war nicht nur das ikonisch gewordene Jahr der Studentenrevolte, sondern auch das Jahr, in dem die Zigarettenmarke Camel auf den deutschen Markt kam. In den USA existierte die Marke bereits seit 1913 und den Deutschen war die Camel noch aus der Nachkriegszeit als Ersatzwährung auf den Schwarzmärkten bekannt.50 Aber erst 20 Jahre später kam die Zigarette mit dem berühmten Kamel (bzw. Dromedar) auf der Schachtel in die westdeutschen Tabakgeschäfte und Zigarettenautomaten. Vertrieben wurde die Marke nun durch die Kölner Zigarettenfirma Haus Neuer-
48 Wölfel, Sylvia: Vom Energiekonsum zur Energieeffizienz. Werbung für umweltfreundliche Haushaltsprodukte in der Bundesrepublik und der DDR. In: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften 33 (2012). S. 83–96; Gries, Rainer: Produktkommunikation. Geschichte und Theorie. Wien [u. a.] 2008; Haas, Stefan: Sinndiskurse in der Konsumkultur. Die Geschichte der Wirtschaftswerbung von der ständischen bis zur postmodernen Gesellschaft. In: Der lange Weg in den Überfluß. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Hrsg. von Michael Prinz. Paderborn [u. a.] 2003. S. 291–314; Borscheid, Peter u. Clemens Wischermann (Hrsg.): Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg, Stuttgart 1995 (Studien zur Geschichte des Alltags 13). 49 Biedenkopf, Kurt: Der Wert der Werbung in der modernen Gesellschaft. Bonn 1987; Albaum, Michael: Der Wert der Werbung – Vordenker Biedenkopf denkt nach. In: Lebensmittelzeitung. 2.10.1987. 50 Vgl. hierzu Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950. Göttingen 2008. S. 279–287.
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burg, die seit 1960 mehrheitlich zur amerikanischen R. J. Reynolds Tobacco Company gehörte. Die Camel wurde in der Bundesrepublik sehr rasch ein großer ökonomischer Erfolg. Der kometenhafte Aufstieg der Marke in den späten 1960er und 1970er Jahren und ihr relativer Niedergang in den 1990er Jahren interessiert daher bis heute die anwendungsorientierte Marketingliteratur.51 Dabei wird die Geschichte der Marke meist simplifizierend als Lehrbuchbeispiel für Erfolg und Misserfolg von Werbestrategien herangezogen oder nostalgisch-ironisch der berühmte Camel-Mann zu einem von „unseren Reklamehelden“ gemacht.52 Historisch-kritisch ist die Geschichte der Camel bisher noch nicht bearbeitet worden, wie auch generell die Zigarettenindustrie noch weitestgehend ein Desiderat der deutschen Wirtschaftsgeschichte darstellt.53 Relevant für diesen Beitrag ist die Geschichte der Camel, weil anhand dieser Marke beispielhaft gezeigt werden kann, welche Wechselwirkungen zwischen zeitgenössisch festgestelltem sozialkulturellem Wandel und Produktwerbung bestanden und wie in den 1980er Jahren aufgrund des ‚Wertewandels‘ eine Marken-Leitfigur einen Imagewechsel vollzog. Als Haus Neuerburg 1968 mit der Markteinführung begann, waren große Erwartungen mit der neuen Zigarettenmarke verbunden, denn das Unternehmen kämpfte seit Jahren mit Absatzschwierigkeiten seiner verschiedenen Zigarettenmarken. Der Marktanteil war seit 1961 von 5,3 Prozent stetig gesunken, bis er Ende 1967 lediglich 3,3 Prozent betrug. „Wir brauchten eine junge neue Marke, die dem Hause einen neuen Anfang geben sollte“, hieß es daher in einem internen Bericht, der Mitte der 1980er Jahre die bisherige Marketingstrategie ausführlich reflektierte, um der Geschäftsleitung Empfehlungen für eine Neujustierung der Marke geben zu können.54 Ende der 1960er Jahre wollte Haus Neuerburg mit der globalen Marke Camel an dem
51 Vgl. u. a. Pepels, Werner: Entwicklung einer Relaunch-Positionierung. In: Praxishandbuch Relaunch. Potenziale vorhandener Marken richtig ausschöpfen. Hrsg. von Werner Pepels. Düsseldorf 2013. S. 87–117. Hier: S. 110–115; Gelbrich, Katja [u. a.]: Erfolgsfaktoren des Marketing. München 2 2018. S. 106; Andree, Martin: Medien machen Marken. Eine Medientheorie des Marketing und des Konsums. Frankfurt a. M. 2010. S. 85 ff. 52 Vgl. Hars, Wolfgang: Lurchi, Klementine & Co. Unsere Reklamehelden und ihre Geschichten. Frankfurt a. M. 2002. S. 60–65. 53 Die große Ausnahme stellt der Reemtsma-Konzern dar, dem bereits mehrere einschlägige Unternehmensgeschichten gewidmet sind. Vgl. Roth, Karl Heinz: Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944. Hamburg 2011; Jacobs, Tino: Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961. Göttingen 2008; Lindner, Erik: Die Reemtsma. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie. Hamburg 2007. Vgl. auch Schindelbeck, Dirk: Verblassende Rauchzeichen. 150 Jahre Zigarettengeschichte zwischen „sozialem Vergnügen“ und Gesundheitsrisiko. In: Universitas 05/2017, S. 89–101. Der im Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA) zu Köln liegende Archivbestand von Haus Neuerburg/R. J. Reynolds ist noch nicht erschlossen, konnte aber für diesen Beitrag teilweise herangezogen werden. 54 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. Pagelow war Produktmanager für Camel Filters von 1968–1973.
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sehr wachstumsstarken Tabakhandel und prosperierenden Zigarettenmarkt teilhaben.55 Zur Markteinführung setzten die deutschen Camel-Produktmanager auf spektakuläre Marketing-Aktionen: Im damals bevorzugten Testmarkt Nürnberg wurde ein Kamel durch die Straßen geführt, um die neue Zigarette zu bewerben. Im Herbst 1969 veranstaltete Camel in Köln dann sogar ein aufwändig organisiertes Kamelrennen, das sich 20 000 Zuschauer*innen im Müngersdorfer Stadion ansahen und über das in der Presse ausführlich berichtet wurde.56 Für die wichtige TV-Werbung setzte man auf die Übernahme von einigen der amerikanischen Spots, „wobei wir auf eine sorgfältige Typenauswahl achteten und zu sehr ‚amerikanisch‘ aussehende Männer vermieden“.57 Typisch für die Werbefilme war die immer gleiche Dramaturgie: Ein Mann läuft zielbewusst durch unberührte Natur, um dann irgendwo eine Packung Camel zu kaufen. Für die folgende Zigarettenpause schlägt er die Beine übereinander, sodass ein Loch in der Schuhsohle groß zu sehen ist, „als Symbol für meilenweites Laufen“. Der dann im amerikanischen Original gesprochene Slogan „I’d walk a mile for a Camel“ wurde für die deutsche Version lippensynchron übersetzt in „Ich geh’ meilenweit für eine Camel“.58 Die Markteinführung verlief außerordentlich erfolgreich und die Werbekampagne wurde sehr schnell zum Publikumserfolg mit hohem Wiedererkennungswert. Aus Sicht der Camel-Produktmanager hatte man ganz offenbar einen gesellschaftlichen Nerv getroffen. Insbesondere für die vornehmlich junge und männliche Zielgruppe59 habe man die „Bedürfnisse einer etwas zivilisationsmüden Gesellschaft“ artikuliert und der „Sehnsucht nach Natur und Abenteuer“ und dem Wunsch, unabhängig, frei und „anders als die Anderen“ zu sein, einen ästhetisch-emotionalen Ausdruck geschaffen.60 Zugleich mutmaßten die Produktmanager, dass sie mit der Kampagne auch den politischen Zeitgeist getroffen hatten: „Vielleicht hängt auch ein Teil des Erfolges der CF [Camel-Filter, Anm. B. D.] mit den psychologischen Auswirkungen der Studentenunruhen im Herbst 68 in ihrer Negierung von Establish-
55 Vgl. Zigaretten-Marken haben treue Raucher. In: Die Welt. 25.10.1969; Camel im Jubiläumsjahr. 100 Jahre weltweit und 45 Jahre in Deutschland. In: Die Tabakzeitung. 31.5.2013. 56 Vgl. Hars, Lurchi (wie Anm. 52), S. 58; Schaum vorm Maul. In: Der Spiegel. 30.9.1969. 57 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. 58 Ebd. 59 Die Zielgruppe wird in dem Bericht so zusammengefasst: „Männer 80 %, Frauen 20 %, hauptsächlich 18–39 Jahre, breite Mittelklasse; jung, modern, in Orten über 2000 Einw. Wettbewerbsziel Raucher der PST [Peter Stuyvesant, B. D.]; HB, Ernte, Lux.“ Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. 60 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27.
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ment und Tradition und dem Protestverhalten zusammen“.61 Sicher waren sich die Camel-Verantwortlichen, dass sie mit der Übertragung der US-amerikanischen ‚Meilenweit-Story‘ und ihrer leichten Anpassung an den deutschen Markt das grundsätzliche Lebensgefühl der Jugend getroffen hatten. Es seien die „Symbole des Eskapismus“ wie das berühmte „Loch in der Schuhsohle“ gewesen, mit denen die Marke „gewissermaßen offene Türen“ eingerannt habe. „Von der Raucherschaft gesehen war die CF die jüngste Marke; sie war die Zigarette der Studenten“.62 Allerdings blieb der Erfolg nicht ungetrübt. Ironischerweise führte gerade die Kapitalismus- und Konsumkritik der (Camel rauchenden) ‚1968er‘ die gesamte Werbeindustrie ab 1973 in eine tiefe Krise. Denn – wie oben gesehen – hatte auch die Konsumkritik der Frankfurter Schule über ‚1968‘ eine enorme Verbreitung erfahren und übte auch jenseits der Universitäten große Strahlkraft aus.63 Die im Zuge der Studentenrevolte artikulierte These vom*von der manipulierten Konsumenten*in führte zu Beginn der 1970er Jahre in der Bundesrepublik zu einer breiten Debatte über die grundsätzliche Rechtschaffenheit und Moralität von Konsum, Marketing und Werbung. Der Schutz des*der Verbrauchers*in vor Manipulation und vor einer Werbung, die „falsche Bedürfnisse“ schaffe, wurde zu einem politischen Thema und führte gleichzeitig zum Beginn des organisierten Verbraucherschutzes.64 Forderungen nach Gesetzen zum Schutz der Konsument*innen vor der Werbung wurden laut und ließen die sozialliberale Bundesregierung tätig werden. Eine Vielzahl von gesetzlichen Regelungen zum Verbraucherschutz wurde erlassen und 1974 traf es die Werbeindustrie in Form von Paragraph 22 des Gesetzes zur Reform des Lebensmittelrechts: Werbung für Tabakerzeugnisse im Fernsehen sowie im Radio wurde mit der Begründung des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes verboten.65 Treibende Kraft des Werbeverbots war die Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Katharina Focke von der SPD. Gegenpositionen wie die des CDU-Abgeordneten Hugo Hammans, der sich entschieden gegen die Manipulationsthese wandte und auch Zigarettenwerbung als ein Informationsangebot, als „Teil zwischenmenschlicher Verständigung“ verstand, konnten sich nicht durchsetzen.66 Insbesondere das TV-Verbot traf die Camel hart: „Für die CF war das besonders schmerzlich, da damit ein breitstreuendes Medium, das am Erfolg der Marke großen
61 Ebd. 62 Ebd. [Hervorhebung im Original, B. D.] 63 Gasteiger, Konsument (wie Anm. 14), S. 162–209. 64 Ebd., S. 193–207. Vgl. auch Kleinschmidt, Christian: Konsumgesellschaft, Verbraucherschutz und soziale Marktwirtschaft. Verbraucherpolitische Aspekte des „Modell Deutschland“ (1947– 1975). In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2006). S. 13–28. 65 Gesetz zur Neuordnung und Bereinigung des Rechts im Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnisse, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen vom 15.8.1974. In Bundesgesetzblatt. I/95 (1974). S. 1953. 66 Plenarprotokoll des Deutschen Bundestags, 7. Wahlperiode. 108. Sitzung. 18. Juni 1974. S. 7309.
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Anteil hatte und in dem die Meilenweit-Konzeption sich hervorragend umsetzen ließ, verloren ging“.67 Der Wegfall der TV-Werbung wurde in der Folge durch verstärkten Einsatz von Plakaten, Zeitschriftenwerbung und Kinowerbung ausgeglichen. Doch die Werbebeschränkung war nicht das einzige Problem für Camel. Durch die Ölkrise von 1973/1974 und die sich verändernde ökonomische Gesamtsituation drohte der optimistische Eskapismus der Camel-Kampagne fehl am Platze zu sein. 1975 mehrten sich daher die Zweifel an der bisherigen Marketingstrategie: „In der Zeit der beginnenden wirtschaftlichen Unsicherheit sind Werte wie Leistung, Arbeit, Pflichtbewußtsein, Durchsetzungsvermögen eher gefragt als Werte aus dem Bereich des Eskapismus. Das sind die langfristigen Probleme, mit denen sich CF auseinander zu setzen hat“.68 Eine zusätzliche, wenn nicht sogar die eigentliche Gefahr für die Position von Camel kam durch eine neue direkte Konkurrenz auf dem Zigarettenmarkt: Seit 1971 bewarb der Hersteller Philip Morris seine Marke Marlboro mit der schnell berühmt gewordenen Cowboy-Kampagne und dem Slogan: „Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer“. Damit tangierte Marlboro das männliche Abenteuerimage der Camel direkt. Daher sorgten sich die Camel-Produktmanager, dass bei identischen „Basiswerten Freiheit, Männlichkeit und Abenteuer“ im Vergleich mit der Marlboro die Camel Filters als weniger ernsthaft und stark nonkonformistisch beurteilt würde, während die Marlboro „kultivierter, ernsthafter, und etablierter“ daherkomme.69 Diesen Herausforderungen wurde mit einer leichten Neujustierung der Werbekampagne begegnet. Grundsätzlich sollte die Camel-Werbung zwar weiterhin ein Image von legerer Männlichkeit, Freiheit und exotischem Abenteuer verbreiten, allerdings dabei weniger jugendlich-eskapistisch, sondern stärker traditionell und persönlicher wirken. Zu diesem Zweck sollte der „Tramp-Eindruck“ des CamelManns durch „bessere und qualitativere Kleidung“ vermieden werden und verstärkt auf menschliche Nähe mit Hilfe von Close-Up-Fotos gesetzt werden. Um die Identifikation mit der Marke zu erhöhen, wurde außerdem mit einem Partner aus der Bekleidungsindustrie die Camel-Collection entworfen, die aus hochpreisiger, aber lässiger Outdoor-Mode bestand.70 Zudem wurde mit dem US-Amerikaner Bob Beck ein Schauspieler gefunden, der gleichzeitig Sympathie und Männlichkeit vermitteln sollte und ab 1976 dann tatsächlich für zehn Jahre mit Wuschelkopffrisur, braungebranntem Gesicht, Schnauzbart und offenem Hemd erfolgreich den Camel-Mann verkörpern sollte. Als Schlüssel zum Marketing-Durchbruch galt, dass die Werbefi-
67 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. [Hervorhebung im Original, B. D.]. 68 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. 69 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. 70 Von Kopf bis Fuß auf Camel eingestellt. In: Die Zeit. 1.4.1977.
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gur, bisher eher ein anonymes Symbol, nun zu einer sympathischen, wiedererkennbaren Persönlichkeit geworden war. Dies habe wieder größere Identifikationsmöglichkeiten mit der Marke geschaffen. Der Camel-Mann war ruhiger geworden, er „läuft nicht mehr meilenweit, sondern raucht genußvoll die CF nach einer vollbrachten Leistung“71 und trug dazu die Hemden und Hosen aus der Camel-Collection, ohne dass dies in den Anzeigen kenntlich gemacht wurde.72 Aber auch der sympathisch-legere Camel-Mann kam schließlich aus der Mode. Dies hatte zunächst ökonomische Gründe: Mitte der 1980er Jahre hatten sich generell die Bedingungen für die Zigarettenindustrie verschlechtert, da 1982 die Tabaksteuer für Fabrikzigaretten um 39 Prozent erhöht wurde. Hinzu kam, dass sich der Marktanteil von Camel ab 1985 deutlich verschlechterte, was nicht zuletzt am Erfolg des Konkurrenten Marlboro lag. 1985 betrug der Marktanteil der Marlboro bereits 18,8 Prozent, während die Camel auf 6 Prozent zurückfiel.73 Die Ursache war schnell gefunden. Aus Sicht der Geschäftsführung der Reynolds Tobacco war das Image der Camel nicht mehr zeitgemäß und es wurde eine Kurskorrektur der Marken-Leitfigur eingeleitet. Zwar sollte weiterhin mit „Sehnsucht nach fremden Ländern“ und dem „Eindruck des ursprünglichen, kernigen, echten Mannes“ geworben werden, aber was früher Aussteigertum, Abenteuer und „Freiheit im Sinne von Freizügigkeit und Ungebundenheit“ war, müsse nun für die zweite Hälfte der 1980er Jahre umgemünzt werden in „vollbrachte Leistung, Aufgabe, Pflicht“.74 Für die zweite Hälfte des Jahres 1986 wurde daher der Camel-Mann ausgewechselt und eine neue, vom Frankfurter Ableger der internationalen Werbeagentur McCann-Erickson entwickelte Anzeigenkampagne geschaltet.75 Tatsächlich stand hinter der Ablösung von Bob Beck das Ergebnis einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung, die auf einen „gravierenden Wertewandel in der Kernzielgruppe“ hindeutete.76 In der Fachzeitschrift Werben + Verkaufen wurde die
71 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. 72 Von Kopf bis Fuß auf Camel eingestellt, in: Die Zeit, 1.4.1977. 73 Vgl. Der Dampf ist raus. Der Zigarettenabsatz in der Bundesrepublik geht zurück. In: Der Stern. 12.6.1986. Vgl. auch: Ein neuer Werbe-Hero soll der Camel neues Wachstum bringen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 21.7.1986. 74 Die Camel-Filter-Story 1968–1978 Marketinggeschichte der Marke. Bericht von Günter Paegelow. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-96-27. 75 Geworben wurde u. a. in: Auto Motor Sport, Auto Zeitung, Alpin Magazin, Auto und Verkehr, Abenteuer und Reisen, Bild am Sonntag, Boote, Cinema, Camp, Chip, Club 28, Computer Persönlich, Drachenflieger, Fußball Magazin, Film Illustrierte, Fotoheft, Fachblatt Musikmagazin, Fotomagazin, Fona Forum, Frontal, Geo-Spezial, Kicker, Motorrad, Metal Hammer, Off Road, Playboy, P. M. Magazin, Spiegel, Titanic. Vgl. Belege aus Zeitungen 2. HJ 1986. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-72-5. 76 Ein neuer Werbe-Hero soll der Camel neues Wachstum bringen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 21.7.1986. Das Handelsblatt stellte bezüglich der sich verändernden Leitfigur der Marke fest:
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Geschichte des Camel-Manns als paradigmatisch für die notwendigen Reaktionen der Werbeindustrie auf die sich verändernden Werte dargestellt.77 Dem Hersteller Reynolds sei es darum gegangen, „sozio-kulturelle Trendwechsel und sozialpsychologische Verschiebungen aufzunehmen, ohne die Grundpositionierung einer Marke in ihrer Substanz zu gefährden“.78 Vor allem die „starke Anti-Establishment-Komponente“ der alten Kampagne sei nicht mehr zeitgemäß. Ein Reynolds-Firmensprecher erklärte, „daß ein Anwachsen konservativer und konformistischer Werte vor allem bei Jugendlichen festzustellen ist. Leistungsorientierung und die zunehmende Präferenz gepflegter im Gegensatz zu legerer Kleidung sind der sichtbarste Ausdruck. Eskapismus und Ziellosigkeit haben als entgegengesetzte Werte über alle Altersgruppen hinweg deutlich an Boden verloren. Dieser Wertewandel war besonders unter potentiellen Camel-Rauchern ausgeprägt.“79
Wertewandel wurde also bei Reynolds ganz im Sinne der ‚Wertesynthese‘ von Helmut Klages interpretiert und es ist entsprechend nur folgerichtig, dass man sich hinsichtlich der Zielgruppe als auch der dazu passenden neuen Werbeleitfigur am „aktiven Realisten“ orientierte. Der „aktive Realist“ konnte „alte“ und „neue“ Werte verbinden, er war sowohl „Selbstverwirklicher“ als auch erfolgsorientiert. Entsprechend wurde für die neue Werbekampagne der ‚alte‘ Bob Beck mit dem jüngeren kanadischen Darsteller Peter Warnick ersetzt. Dieser sollte ebenfalls Abenteuer erleben, allerdings nicht mehr ganz so spontan und ungeregelt wie bisher, sondern deutlich zielstrebiger – oder wie es Reynolds-Geschäftsführer Wilfried Dembach ausdrückte: „stärker leistungsorientiert“80. Das Erscheinungsbild des neuen Camel-Manns war dementsprechend deutlich gepflegter und städtischer. Er war jünger, hatte einen korrekten Haarschnitt, trug gebügelte Outdoor-Hemden und in allen Anzeigen eine Rolex-Armbanduhr. Band der alte Camel-Mann noch barfuß, ohne Uhr und mit nasser Hose seinen selbstgebauten Katamaran an einer Palme fest,81 so stand dem neuen Camel-Mann ein modernes Expeditionsboot mit zwei leistungsstarken Außenbordmotoren, Taucherausrüstung und Equipment in glänzenden Aluminiumkoffern zur Verfügung.82 Rauchte der alte Camel-Mann seine Zigaret-
„Gesellschaftlicher Wertewandel hat direkten Einfluß auf das Kaufverhalten und muß daher laufend in der Werbung aufgenommen werden.“ „Camel“ hat neues Image. Wertewandel erzeugte eine neue „Leitfigur“. In: Handelsblatt. 12.6.1986. 77 Wertewandel und Marketing. Beispiel „Camel“. In: Werben + Verkaufen. 1.8.1986. 78 Wertewandel und Marketing. Beispiel „Camel“. In: Werben + Verkaufen. 1.8.1986. 79 Meilenweit. In: Die Zeit. 25.7.1986. 80 Bis in die Haarspitzen. In: Der Spiegel. 28.7.1986. 81 Vgl. Camel-Anzeige in: Auto, Motor, Sport 12 (1986). Belege aus Zeitungen 1986. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-71-4. 82 Der Spiegel. 28.7.1986. Vgl. Camel-Anzeige in: Auto, Motor, Sport 23 (1986), S. 149. Belege aus Zeitungen 2. HJ 1986. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-72-5.
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te am Lagerfeuer in der Hängematte einen Brief lesend,83 so kniete der neue CamelMann zum Aufbruch bereit vor dem großen Frontpropeller seines Wasserflugzeugs, trug Ray-Ban-Sonnenbrille und die Pilotenkopfhörer um den Hals.84 In seiner domestizierten Form bewegte sich der ‚neue‘ Camel-Mann damit in Richtung einer sozialkulturellen Etikettierung, die, aus den USA kommend, auch in der Bundesrepublik in der zweiten Hälfe der 1980er Jahre eine kurze Konjunktur hatte. Gemeint ist der Begriff des ‚Young Urban Professional‘, der unter dem Akronym Yuppie in US-Medien in den Jahren 1983/1984 auftauchte und sich zu einem Stereotyp für erfolgs- und konsumorientierte Berufstätige in leitender Stellung entwickelte.85 Der Yuppie und sein Prestigekonsum standen dabei in der Bundesrepublik vermeintlich in diametralem Gegensatz zu dem seit Jahren diskutierten ‚Wertewandel‘, denn ‚postmaterialistisch‘ war der konsumverliebte Yuppie sicher nicht.86 Tatsächlich lässt sich die besagte Figur als zeitgenössischer Vorstoß deuten, die sozialkulturelle Kombination von libertär und materialistisch zu typologisieren; oder anders und in der Terminologie von Helmut Klages ausgedrückt: als ein kultureller Versuch, der ‚Wertesynthese‘ in den 1980er Jahren ein menschliches Gesicht zu geben. Der Yuppie war in dieser Hinsicht ein Extrembeispiel für Vorstellungen, die in der bundesdeutschen Wirtschaft weit verbreitet waren: nämlich, dass sich ‚alte‘ und ‚neue‘ Werte gerade bei ökonomischen Eliten durchaus verbinden ließen. Ob aber ausgerechnet der Camel-Mann eine solche Wertesynthese sinnvoll repräsentieren konnte, war schon unter Zeitgenoss*innen umstritten. Die Reaktionen auf die Neuinterpretation des Camel-Manns in der bundesdeutschen Presse waren jedenfalls erstaunlich stark. „Der Camel-Mann ist tot. Wegen hohen Alters liquidiert. Wieviel Meilen ist er gegangen, durch Dschungel, Wüste und Flüsse, hin zum nächsten Zigarettenautomaten?“, fragte sich die Zeit ironisch-melancholisch.87 Der Spiegel kommentierte: „Der Individualist hat ausgedient, weil sich der RaucherNachwuchs immer weniger damit identifizieren konnte“.88 Der Camel-Mann gehöre wieder „zu uns Mitteleuropäern“ spottete der Stern.89 Und die Frankfurter Rundschau erinnerte sich, wie die Einführung der Camel im Jahr 1968 dem Bedürfnis nach „Ausbruch aus der normierten uniformen Leistungsgesellschaft“ Ausdruck ge-
83 Vgl. Camel-Anzeige in: Chip 2 (1986). Belege aus Zeitungen 1986. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-71-4. 84 Der Spiegel. 28.7.1986. Vgl. Camel-Anzeige in: Bild am Sonntag 45 (1986), S. 115. Belege aus Zeitungen 2. HJ 1986. JT International Germany GmbH. Köln, RWWA Abt. 351-72-5. 85 Ferguson, Kevin L.: Eighties People. New Lives in the American Imagination. New York 2016. S. 79–108; Fabian, Sina: Das Yuppie-Phänomen in den 1980er Jahren. In: Heuss-Forum. TheodorHeuss-Kolloquium 2016. http://www.stiftung-heuss-haus.de/heuss-forum_thk2016_fabian (19.06.2019). 86 Absatzwirtschaft. Zeitschrift für Marketing. 1.10.1986. 87 Meilenweit (wie Anm. 9). 88 Haarspitzen (wie Anm. 80). 89 Ein Weltbild ist zerbrochen. In: Der Stern. 4.9.1986.
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geben habe und fragte sich für die Zukunft, ob „mit dem frisch gekürten Helden nicht das Camel-Image im Matsch der angepaßten Karrieretypen bundesdeutscher Werbung versinkt“.90 Die Skepsis war angebracht und tatsächlich konnte die Zigarettenmarke nie wieder an den großen Erfolg der 1970er Jahre anknüpfen, wozu auch eine erneute Marketingkorrektur nur ein Jahr nach der Auswechslung des Camel-Manns beitrug. Als 1987 von der Werbeagentur McCann-Erickson das neue Cartoon-Maskottchen Joe Camel eingeführt wurde, um für jüngere Raucher*innen attraktiv zu werden, und ab 1991 animierte Camel-Plüschkamele in witzigen Reklamespots in die Kinos kamen, half das den Zigaretten-Verkaufszahlen nicht. Dafür animierte dies vor allem in den USA die Anti-Raucher-Lobby, weil die Kampagne in ihrer Machart offenbar speziell Kinder ansprechen sollte.91
Fazit: Paradigmenwechsel in der Werbeindustrie Die Geschichte der Werbung für die Zigarettenmarke Camel ist deshalb so interessant, weil sie teilweise quer zu dem im zweiten Abschnitt dargestellten Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Werbeindustrie seit den späten 1960er Jahren liegt. Gewissermaßen bewegte sich der Camel-Mann auch hinsichtlich seiner Stellung in der Marketinggeschichte auf eigenen Pfaden. Als die Marke in der Bundesrepublik 1968 auf den Markt kam, profitierte sie wie keine andere Zigarettenmarke von dem in der Camel-Werbung verbreiteten Image des (männlichen!) Nonkonformismus und ungezwungenen Aufbruchs. Die Camel wurde somit Teil von neuen Mechanismen der Konsumkultur, die sich dadurch auszeichneten, dass Protest und Kritik zu neuem – mehr oder weniger subkulturellem – Konsum führten. Genauso wie Popmusik, Miniröcke und Jeans wurde die Camel somit ursprünglich Teil einer Zurschaustellung des nonkonformistischen Lebensstils (und kam wie so viele andere jugendliche Konsumaccessoires ursprünglich aus den USA). Das Image der Zigarette passte zu der Vorstellung eines alternativen Konsums als Ausweg aus Massengesellschaft und Standardisierung. Freiheit, Abenteuer, Ungebundenheit, Ausbruch aus den Zwängen der Zivilisation – all dies verkörperte die Camel mit ihrer Werbung auf geradezu kongeniale Art und Weise. Wer Camel rauchte, konnte somit zu einem gewissen Grad auch den latenten Widerspruch zwischen Kapitalismus- und Konsumkritik auf der einen Seite und hedonistischer Lebensfreude und ästhetischen Wünschen auf der anderen Seite überbrücken. Von den 1968ern losgetreten, aber schnell verbreitet und popularisiert, erlebten dann die frühen 1970er Jahre eine beispiellose Welle der Kritik an Werbung, die
90 Dem Zeitgeist auf der Spur. In: Frankfurter Rundschau, 14.6.1986. 91 Joe Camel, a giant in tobacco marketing, is dead at 23. In: New York Times. 11.7.1997.
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nun selbst bei großen Teilen der Politik als subversives Manipulationsinstrument galt. Kinder, Jugendliche, Frauen und allgemein Verbraucher*innen galt es jetzt vor der Werbung zu „schützen“. Die Werbewirtschaft befand sich somit seit Beginn der 1970er Jahre in der Defensive. Als Reaktion startete sie Imagekampagnen und legte sich selbst Regeln und Kontrollmechanismen auf. Außerdem verabschiedete sie sich in der Folge von einem bis dahin für sie zentralen Paradigma: Die Vorstellung, dass der*die Konsument*in psychologisch steuerbar und manipulierbar ist, galt nun als obsolet. Stattdessen rückte mit dem ‚Wertewandel‘ ab 1979 ein neues Paradigma in das Zentrum der Werbe- und Marketingwelt. Das sozialwissenschaftliche Theorem des ‚Wertewandels‘ half zunächst einmal, jenen sozialkulturellen Veränderungen der Zeit 1965–1975 einen einfachen theoretischen und begrifflichen Rahmen zu geben. Nun wussten beispielsweise auch die Camel-Marketingexpert*innen, welchen Veränderungen sie ihren außerordentlichen Erfolg ab 1968 zu verdanken hatten. Gleichzeitig war der ‚Wertewandel‘ aber auch Gegenwartsanalyse und Zukunftsprognose – für die Werbe- und Marketingwelt bot sich durch die Analyse vermeintlich der Schlüssel zum ‚postmodernen Konsumenten‘, der nicht mehr vordergründig mit einem Produkt, sondern auf ästhetisch anspruchsvolle Art und Weise mit einem Lebensstil angesprochen werden sollte. Dabei dominierte in den 1980er Jahren rasch eine positiv-voluntaristische Auslegung des ‚Wertewandels‘, die nicht mehr von ‚Postmaterialismus‘ im Sinne von ‚Konsumverweigerung‘ und ‚Leistungsverfall‘ ausging, sondern die Chancen des ‚Wertewandels‘ in Form neuer kritisch-individualisierter Konsument*innen betonte. Verbraucher*innen, die ‚neue Werte‘ wie Selbstverwirklichung und Hedonismus mit ‚alten Werten‘ wie Leistung und Erfolg verbinden konnten, galten dabei als die eigentliche Avantgarde und gesellschaftliche Meinungsführer*innen. Die Adaption des ‚Wertewandels‘ durch die Werbewirtschaft ist somit ein zeithistorisches Beispiel für die immer engere Verflechtung von soziologischer Analyse und Vermarktungsstreben. Dies veranschaulicht, wie der Konsumkapitalismus immer feinere und wissenschaftlichere Antennen entwickelte, um sozialkulturellen Veränderungen und Kritik an sich selbst auf die Spur zu kommen und diese in seinem Sinne zu verwerten. Das Beispiel Camel wiederum zeigt, dass diese Antennen zuweilen auch falsche oder missverständliche Signale sendeten. Die Wandlung des Camel-Manns zum domestizierten, leistungsorientierten Abenteurer zu einer Art ‚Outdoor-Yuppie‘ im Jahr 1986 war ein Fehlschlag. Gewissermaßen bestätigte dieser Misserfolg aber auch die in den späten 1970er Jahren gewonnene Erkenntnis, dass der*die Konsument*in eben kein passives, manipulierbares Objekt ist und Werbung in einer segmentierten und vielschichtigen Konsumgesellschaft ein riskantes Geschäft blieb.
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Mario Keller
„Provokant und in keiner Weise tragbar“ Die Humanic-Werbung der 1970er Jahre als Grenzerfahrung 1 zwischen Avantgardekunst und Werbung Welcher von Ihnen ist für die Fernsehreklame verantwortlich? Dieser ist doch ein ausgesprochener Idiot! Sie erreichen das Gegenteil von Wirkung mit dieser abnormalen Sendung! Das FRANZ FRANZ geht jedem auf die Nerven, so ein Blödsinn! (…) Eine Schande so einen Dreck den Fernsehern zuzumuten! Sie schaden mit solchem Mist Ihrer Firma. Werfen Sie den Fetzenschädel aus Ihrem Betrieb! Eine alte Kundin!2
Das angeführte Zitat entstammt einem anonymen Brief, der im Frühjahr 1971 bei dem traditionsreichen Grazer Schuhkonzern Humanic3 als Reaktion auf dessen aktuelle Fernseh- und Radiowerbung eingelangt war. Es handelte sich dabei keineswegs um einen Einzelfall. Vielmehr erhielt die Firma in den 1970er und 1980er Jahren unzählige Beschwerdeschreiben, in denen sich das österreichische Publikum über die Humanic-Spots empörte und die Werbemacher*innen teils aggressiv beschimpfte. Andere Zuschriften wiederum zeugten von begeisterter Zustimmung und großem Interesse.4 Wie keine andere Kampagne der österreichischen Werbegeschichte polarisierte die Humanic-Werbung und rief teils heftige emotionale Reaktionen hervor. Grund dafür war, dass sich die Spots radikal von dem unterschieden, was die Österreicher*innen im Werbefernsehen zu sehen gewohnt waren. Statt mit einer heilen Konsumwelt wurden sie bei Humanic mit surrealen Bildwelten konfrontiert, in denen meist keinerlei beworbene Produkte vorkamen. Darüber hinaus verzichteten die Spots auf eindeutige und leicht verständliche Botschaften. Vielmehr ließen sie bewusst große Interpretations- und Assoziationsspielräume.5 Jener Spot, auf den
1 Teile des Beitrages finden auch in der Dissertation des Autors Verwendung. 2 Anonymer handschriftlich verfasster Leserbrief einer Kundin (1971). In: Humanic aktuell. 10 jahre ‚franz‘ im spiegel der öffentlichkeit 1971–81. Hrsg. von Humanic/Abteilung Zukunft. Graz 1981. S. 7. 3 Die offizielle Firmenbezeichnung änderte sich im Laufe der langen Firmengeschichte mehrfach. Der aktuelle Firmenname ist Leder & Schuh AG, wichtigste Handelsmarke ist nach wie vor Humanic. Vgl. https://www.humanic.net/at/about-us (26.09.2019); Sinabell, Sonja: Die Humanic AG 1914– 1950. Eine historische Betriebsanalyse. Diplomarbeit. Graz 1988 sowie Erhardt, Jakob: Handel ist Wandel. Chronik der Leder & Schuh Aktiengesellschaft (unveröffentlicht). Graz 1995. 4 Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2). 5 Zugänglich sind die Filme über das Firmenarchiv sowie teils über www.youtube.com. Eine von der Abteilung Zukunft erstellte DVD mit einem Großteil der Werbespots von Humanic befindet sich im Besitz des Autors. https://doi.org/10.1515/9783110661965-007
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die eingangs zitierte Kundin Bezug nahm, zeigte beispielsweise die Sprengung eines Haufens roter, blauer und gelber (Styropor-)Würfel auf einem weiten Flugfeld. Untermalt wurde die in verschiedenen Einstellungen gefilmte Explosion von einer Frauenstimme, die in variierender emotionaler Intensität den Namen ‚Franz‘ rief, schrie oder flüsterte.6 Besagter Spot mit dem Titel Sprengung war unter der Ägide des Bildhauers Roland Goeschl und des Regisseurs Axel Corti entstanden. Er stellte den fünften Film einer Kampagne des neuen Werbeleiters Horst Gerhard Haberl dar,7 die auf eine Imagekorrektur der Firma in Richtung „jung, dynamisch, modern“ abzielte.8 Erreicht werden sollte dies durch die systematische Einbeziehung zeitgenössischer Künstler*innen in die Gestaltung der Werbespots. Humanic besaß in den 1960er Jahren zunehmend den Ruf eines altmodischen, traditionellen und eher verstaubten Unternehmens.9 Gegen dieses Image versuchte man mit massenmedialer Werbung, insbesondere mit Kino- und Fernsehwerbung, anzukämpfen. Schon die Werbespots aus den 1960ern wiesen – vor allem aufgrund der Vorgaben des langjährigen Firmenchefs Hans Mayer-Rieckh10 – Bezüge zum Kunstgeschehen auf. Ein nachhaltiger Imagewandel gelang Humanic zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht. Erst der aus der Grazer Kunstszene stammende Werbeleiter Horst Gerhard Haberl verwandelte den bis dahin wenig systematischen Bezug zur zeitgenössischen Kunst ab 1969 in eine umfassende und theoretisch fundierte Werbekampagne, die für enormes Aufsehen sorgte und das österreichische Publikum polarisierte.11 Haberls Konzept bestand darin, herkömmliche Werbefilme schlichtweg durch Kunstfilme zu ersetzen.12 Schon aufgrund ihrer Einzigartigkeit im Vergleich zum restlichen Werbeblock würden die Spots Aufmerksamkeit generieren. Aus dieser Grundidee entwickelte sich eine Kampagne, in der Künstler*innen verschiedener Sparten jeweils für einen oder mehrere Spots freie Hand bei der Umsetzung ihrer Ideen gelassen wurde. Vorgabe war lediglich, dass der Markenname Humanic in ir-
6 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=9oVPdoflqHE (26.09.2019). 7 Eine vollständige Liste der Humanic-Werbespots ab 1969 findet sich bei: Hinterwaldner, Inge: Humanic-Spots zwischen Kunst und Werbung. Die Ära Goeschl 1970–1973. Diplomarbeit. Innsbruck 1999. S. 123. 8 Interview geführt mit Horst Gerhard Haberl per E-Mail. 28.2.2017. 9 Vgl. Wagner, Barbara: Fallstudie Humanic. Kommunikationsgestaltung. Wien 1984. S. 45. 10 Zur Person Hans Mayer-Rieckh (1910–1994) vgl. Glattauer, Herbert O.: Menschen hinter großen Namen. Salzburg 1977. S. 151 f., sowie Groß, Renate: Hans Mayer-Rieckh – ein Mythos? 100 Zeitzeugen berichten. Wien 2017. Dissertation (gesperrt bis 2022). 11 Bis heute gilt die Kampagne in Österreich als „Institution der Werbegeschichte“. Vgl. Hilpold, Stephan: Guter Franz, böser Franz. In: Der Standard/Rondo, 10.12.2010. http://derstandard.at/ 1577837040456/Shoemanic-Guter-Franz-boeser-Franz (8.10.2019) sowie Huber, Michael: Als Kunst in die Werbung ausfranzte. In: Kurier, 7.8.2014. 12 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8); eine umfassende Analyse und Beschreibung des Konzeptes findet sich bei Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 25–40.
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gendeiner Form Erwähnung finden musste. Das Konzept beruhte laut Haberl auf der „Erkenntnis, daß unverbrauchte, neue Kunst höchste Aufmerksamkeit beim Verbraucher hervorruft“. Denn „nicht das Was, sondern das Wie formt die Einmaligkeit in den Hirnen der Verbraucher“.13 Mode sei, so Haberl, ohnehin immer ein „Derivat der Kunst“.14 Warum also nicht gleich ‚unverfälschte‘ zeitgenössische Kunst direkt als Werbemittel einsetzen? Diese müsse freilich mehr sein als nur „das Mascherl am Produkt“, wie dies andernorts häufig der Fall war. Von besagter Kooperation sollte nicht nur das Unternehmen selbst profitieren, die Werbung sollte auch ein Mittel zur Förderung „junger ‚ungesicherter‘ Avantgardekunst“ darstellen.15 In der Konzeption des Werbeleiters standen die von zeitgenössischen Künstler*innen gestalteten Fernsehspots im Zentrum. Um sie herum erfolgte zudem eine generelle Neugestaltung und Vereinheitlichung des gesamten Firmenauftrittes. Wie in weiterer Folge gezeigt wird, betrat Haberl mit seiner Abteilung Zukunft nicht nur mit avantgardistischen Werbespots, sondern auch in Bezug auf Marketing und Imagebildung Neuland in Österreich.16 Entgegen den Prophezeiungen der eingangs zitierten ‚alten Kundin‘ und vieler anderer Österreicher*innen, schadete die „andere Art zu werben“ der Firma keineswegs. Vielmehr entwickelten sich die eigenwilligen Auftritte zu einem Alleinstellungsmerkmal, weshalb das in den 1970er Jahren entwickelte Konzept bis ins Jahr 1996 beibehalten wurde.17 Den Erfolg der Kampagne belegte die Abteilung Zukunft von Beginn an mit Hilfe externer Meinungs- und Marktforschungsinstitute, die zeigten, dass die Erinnerungswerte an einzelne Werbespots und die Bekanntheit der Firma weit über dem Durchschnitt lagen.18 Im Laufe der Jahre wurde das Konzept systematisch weiterentwickelt. Da sich das Publikum auch Jahre nach dem Spot Sprengung vor allem noch an den Namen ‚Franz‘ erinnerte, kreierte die Abteilung Zukunft unter anderem ein gleichnamiges Maskottchen in Form eines ‚Faustfuß-Männ-
13 Haberl, Horst Gerhard: Fraaanz – die andere Art zu werben (1988). Der Text wurde auch abgedruckt in: Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 129–132. 14 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 15 Haberl, Fraaanz (wie Anm. 13). 16 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9). 17 Vgl. Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 123–125. 18 Vgl. Transkript Interview mit Gerhart Schrammel geführt von Andrea Doczy am 12.3.2008. In: Warum aus ‚franz‘ ein ‚shoemanic‘ wurde. Diplomarbeit. Wien 2009. S. 109; vgl. o. A.: Franz, hascht guat verdient, Franz? In: Trend 7/1974. S. 102–104; Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 113–126. Durchgeführt wurden die Umfragen erst von Gallup und später von IMAS und Nielsen. Auswertungen ab 1980 finden sich im Firmenarchiv der Leder & Schuh AG.
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chens‘.19 Auch der Name Franz an sich sowie zahlreiche damit verbundene Wortspiele wurden zu einem festen Bestandteil der späteren Humanic-Werbespots.
Abb. 1: Faustfußmännchen ‚Franz‘, Humanic Firmenarchiv (Anm. 19)
Die Humanic-Werbung als (zeittypische) Grenzüberschreitung? Die Humanic-Kampagne unter Haberl stellte mit ihrer ‚anderen Art zu werben‘ ein bemerkenswertes und vielschichtiges Phänomen dar. Von Beginn an war es Teil des Konzeptes, mit kulturellen Grenzen zu ‚spielen‘, diese aufzuzeigen, teilweise zu überwinden, jedoch auch eine bewusste Abgrenzung gegenüber dem sonstigen Werbegeschehen zu bewirken. In mehrfacher Hinsicht kann die Kampagne dabei als Grenzüberschreitung beschrieben werden. Erstens stellte sie institutionelle Zuordnungen in Frage: Die maßgeblichen Akteur*innen stammten nicht aus der Werbebranche, sondern aus der Kunstszene. Zweitens überschritten die Werbespots von Humanic offensichtlich mediale Grenzlinien: Sie folgten der Logik von Avantgardefilmen und konfrontierten die Österreicher*innen mit einer audiovisuellen Ästhetik, die der Mehrheit bis dahin vollkommen unbekannt war. Drittens machen die in Briefen und Zeitungsartikeln dokumentierten Reaktionen deutlich, dass die Humanic-Werbung durchwegs als ‚Provokation‘ und somit als gezielte Normverletzung ge-
19 Vgl. Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8) sowie Interview mit Gerhart Schrammel geführt vom Autor am 3.5.2016. Kreiert wurde das Maskottchen laut Schrammel von Karl Neubacher und Klaus Hoffer. Auf die Idee kamen diese über das Sprichwort: „Alles was gut ist hat Hand und Fuß.“
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deutet wurde. Die Adjektive „obszön“, „geisteskrank“20 und „entartet“21, die Kritiker*innen in besagten Reaktionen verwendeten, verweisen auf den gesellschaftlichen Diskurs im Österreich der 1960er und 1970er Jahre, in dem zeitgenössische Kunst ein heftig umstrittenes und polarisierendes Thema darstellte.22 Im folgenden Beitrag werden besagte Grenzüberschreitungen23 untersucht, wobei vor allem die Anfangsphase der Werbekampagne in den frühen 1970er Jahren sowie der eingangs erwähnte Spot Sprengung im Mittelpunkt stehen. Dem Beitrag liegt die These zu Grunde, dass die von Haberl Anfang der 1970er Jahre umgesetzte Humanic-Werbelinie auch deshalb zu einem medial-diskursiven Ereignis avancierte, weil sie in einer Zeit stattfand, in der vielerorts kulturelle und gesellschaftliche Grenzziehungen grundlegend hinterfragt und neu ausgehandelt wurden. Eine solche Neuverhandlung geschah vor allem als Folge der weltweiten Jugend- und Studentenproteste um das Jahr 1968 sowie im Rahmen der vielschichtigen Wandlungsprozesse, die zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre in Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft Platz griffen.24 Genannt sei hier insbesondere der allgemeine Bedeutungsgewinn der Jugend im öffentlichen Diskurs, das Aufkommen verschiedener sozialer Bewegungen (zweite Frauenbewegung, Umweltbewegung, u.a.) sowie die Enttabuisierung der Popkultur (Gründung des Jugend-Radios Ö3, Austropop, etc.).25 Auch die Wirtschaft veränderte sich rasant, weg von der stark auf Bedarfsdeckung fokussierten Nachkriegsmentalität, hin zu einem Bewusstsein, dass weite-
20 Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2). 21 o. A.: Franz, hascht. In: Trend 7/1974 (wie Anm. 18), S. 102. 22 Dies wird insbesondere anhand von Schilderungen damals aktiver Avantgarde-Künstler*innen deutlich. Beispielsweise erzählt Gerhard Rühm (damals Wiener Gruppe): „Bei meinen ersten Publikationen hieß es in Leserbriefen, dass mir dafür die Finger zerquetscht gehören. Es herrschte eine unglaublich aggressive Stimmung. (…) Die Leute haben gesagt, wir gehören ins KZ.“ Interview geführt von Sebastian Fasthuber. In: Falter 7/2020. S. 37. 23 Zur Metapher von Grenzen und Grenzerfahrungen vgl. Liessmann, Konrad Paul: Grenzerfahrungen. Eine Philosophie der Zugehörigkeit. In: Indes 1.4 (2012). S. 46–54. DOI: 10.13109/ inde.2012.1.4.46. 24 Das Verhältnis von gesellschaftlichem Wandel und 68er-‚Revolte‘ wird in der Geschichtswissenschaft nach wie vor kontrovers diskutiert. Vgl. Siegfried, Detlef: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur. Ditzingen 2018. S. 8 f. Zur Geschichte von ‚1968‘ in Österreich vgl. Rathkolb, Oliver u. Friedrich Stadler (Hrsg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre. Wien 2010; Schwendter, Rolf: Das Jahr 1968. War es eine kulturelle Zäsur? In: Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Hrsg. von Reinhard Sieder, Emmerich Tálos u. Heinz Steinert. 2. Aufl. Wien 1996. S. 166–176 sowie Keller, Fritz: Wien, Mai 68. Eine heiße Viertelstunde. Wien 2008. 25 Vgl. Die 70er – damals war Zukunft. Hrsg. von Schallaburg Kulturbetriebsges. m. b. H. Schallaburg 2016 sowie Smudits, Alfred: I AM FROM AUSTRIA. Austropop: Die Karriere eines musikkulturellen Phänomens von der Innovation zur Etablierung. In: Österreich 1945–1995 (wie Anm. 24), S. 382–395.
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res Wachstum nur mittels Weckung neuer Konsumbedürfnisse erzielt werden könne.26 Als Folge dessen rückte Werbung, der in der Nachkriegszeit tendenziell geringe Bedeutung beigemessen wurde, immer stärker in den Fokus von Unternehmensstrategen. Die vielschichtigen Wandlungsprozesse dieser Zeit gingen häufig mit Tabubrüchen, dem Spiel mit Regelverstößen und der Freude am Experiment einher. Als Beispiele dafür können die zunehmende Enttabuisierung (und Kommerzialisierung) der Sexualität, die Aneignung des öffentlichen Raumes mittels Demonstrationen und aktivistischer Kunstformen sowie das Experimentieren mit neuen sozialen Konstellationen und Kooperationsformen angeführt werden. Letztere fanden nicht nur im privaten Bereich (WGs, Kommunen, etc.) statt, auch in der Arbeitswelt hinterfragte man mancherorts die Effizienz traditioneller hierarchischer Unternehmenskulturen. In Bezug auf die Etablierung dieser neuen Arbeitskulturen nahm die Werbe- und Kreativbranche eine Vorreiterrolle ein.27 Von Relevanz ist die Untersuchung des Phänomens Humanic-Werbung erstens für die Medien- und Kulturgeschichte Österreichs: Die breitenwirksame Skandalisierung dieser ist nicht ohne den Bedeutungsgewinn des Fernsehens seit den späten 1960er Jahren zu erklären.28 Die 1970er Jahre können als Jahrzehnt der „klassischen Fernsehnation“ beschrieben werden, in der der staatliche Österreichische Rundfunk (ORF) mit seinen beiden Fernsehprogrammen, das wichtigste Massenmedium Österreichs darstellte.29 Fernsehen bildete einen zentralen Bezugspunkt für die Ausverhandlung des kollektiven Selbstverständnisses und der österreichischen Nation.30 Gleichzeitig fand mit Beginn der sozialdemokratischen ‚Ära Kreisky‘ in den 1970er
26 Malinowski, Stephan u. Alexander Sedlmaier: „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaption und ihre gegenseitige Durchdringung. In: Geschichte und Gesellschaft. 32 (2006). S. 253; König, Wolfgang: Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart 2000. S. 387–421; Cohen, Lizabeth: A consumers’ republic. The politics of mass consumption in postwar America. New York 2003; Eder, Franz X.: Vom wirtschaftlichen Mangel zum Konsumismus. Haushaltsbudgets und privater Konsum in Wien, 1918–1995. In: Wien. Die Metamorphosen einer Stadt (Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945). Hrsg. von Michael Dippelreiter et al. Wien/Köln/Weimar 2013. S. 228 ff. 27 Malinowski, Sedlmaier, „1968“ als Katalysator (wie Anm. 26), S. 248; Der unkonventionelle Zugang zu herkömmlichen Arbeitszeitmodellen wird in einer Reportage über die junge Wiener Werbeagentur Wirz explizit hervorgehoben. Vgl. o. A.: Die Hoffnungsverkäufer. In: Trend, 1/1970, S. 41– 44; vgl. den Beitrag von Bernhard Dietz in diesem Band. 28 Bernold, Monika: Das Private sehen. Fernsehfamilie Leitner, mediale Konsumkultur und nationale Identitätskonstruktion in Österreich nach 1955. Wien u. a. 2007. S. 66. 29 Bernold, Monika: Wünsch Dir Was … Eine Fernsehnation im Werden. In: Die 70er – damals war Zukunft. Hrsg. von Schallaburg Kulturbetriebsges. m. b. H. Schallaburg 2016. S. 124–132. Zur Geschichte des ORF vgl. Novak, Andreas u. Oliver Rathkolb (Hrsg.): Die Macht der Bilder. Berndorf 2017. 30 Zu Medien und nationaler Identität vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. überarb. Version. London/New York 2006.
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Jahren auch eine Öffnung staatlicher Institutionen und Fördergeber in Richtung zeitgenössischer, häufig auch Österreich-kritischer Kunst dar. Eine Entwicklung, die zu heftigen Kontroversen und massiver Kritik durch Konservative führte.31 Die polemischen Angriffe auf die Humanic-Werbung sind somit auch vor dem Hintergrund dieses Kulturkonfliktes zu sehen. Zweitens ist die Geschichte der Humanic-Werbung auch ein bemerkenswertes Beispiel für die in die 1970er Jahren stattfindenden Transferprozesse aus der alternativen (Post-)68er ‚Gegenkultur‘ in die Werbung.32 Am Augenscheinlichsten wurde dies dadurch, dass Werber*innen die subkulturellen Stile und Ästhetiken begeistert aufgegriffen und weiterverarbeiten. Doch auch darüber hinaus lassen sich, wie die jüngere Forschung zeigt, bemerkenswerte strukturelle Transferprozesse konstatieren. So stellten beispielsweise Stephan Malinowski und Alexander Sedlmaier die These auf, dass der „Zeitgeist von 68“, als dessen Kern sie den „performativen Regelverstoß“, also den Glauben an die Veränderbarkeit von Gegenwart und Zukunft mittels Experimenten, Tabubrüchen und Provokation, annehmen, geradezu eine Katalysatorfunktion für die weitere Entwicklung des Konsumkapitalismus besaß.33 Die ‚68er‘-Revolte habe mit ihrer ambivalenten Haltung – einerseits gab man sich werbe- und konsumkritisch, andererseits propagierte man hedonistischen Konsum –, indirekt dazu beigetragen „konservative Konsumhindernisse zu brechen, neue Märkte zu erschließen und einen neuen Konsumententypus zu erschaffen“.34 Der Einfluss auf die Werbebranche äußerte sich dabei unter anderem in der generellen Aufwertung von Kommunikations- und Kreativarbeit durch die „explosionsartige Zunahme von Diskussion, Kommunikation und Außendarstellung“35. Darüber hinaus wurden die „performativen Regelverstöße […] zu Urbildern unzähliger kommerzieller Mutationen“. Malinowski und Sedlmaier stellen weiters fest, dass die „Beziehung zwischen Protest und Werbung […] nicht nur die strukturelle Analogie, des performativen begrenzten Regelverstoßes, sondern auch die gemeinsame Ablehnung und Überwindung hemmender Bindungen“ beinhaltete.36 Vor diesem Hintergrund stellt sich somit die Frage, inwiefern die Humanic-Werbung – gerade wegen ihrer Außergewöhnlichkeit – nicht auch als zeittypisches Phänomen gedeutet werden sollte? Schließlich verschrieben sich die Werbemacher*in-
31 Vgl. Polt-Heinzl, Evelyne (Hrsg.): Staatsoperetten, Kunstverstörungen. Das kulturelle Klima der 1970er Jahre. Wien 2010 (Zirkular/Sondernummer/Dokumentationsstelle für Neuere Österreichische Literatur 75). 32 Vgl. Bien, Helmut M.: Werbung am Puls der Zeit. In: ’68 Design und Alltagskultur. Zwischen Konsum und Konflikt: Design, Mode, Werbung, Grafik, Musik, Film. Hrsg. von Wolfgang Schepers. Köln 1997. S. 144–155. 33 Malinowski, Sedlmaier, „1968“ als Katalysator (wie Anm. 26), S. 239. 34 Malinowski, Sedlmaier, „1968“ als Katalysator (wie Anm. 26), S. 243. 35 Malinowski, Sedlmaier, „1968“ als Katalysator (wie Anm. 26), S. 248. 36 Malinowski, Sedlmaier, „1968“ als Katalysator (wie Anm. 26), S. 263.
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nen dem bewussten Konventionsbruch und dem Experiment. Darüber hinaus war ihr Projekt zu Beginn durchaus vom „Glauben an die Veränderbarkeit schlechthin“37 getragen. Zum Ausdruck kommt dieser Zeitgeist unter anderem in der Selbstbetitelung der Werbeabteilung als Abteilung Zukunft sowie in einem der Werbeslogans, der dezidiert die „Veränderung der Umwelt“ postulierte.
„Ein Haberl greift ein und ordnet“: Eine strukturelle, personelle und konzeptionelle Grenzüberschreitung 38
Bei Humanic handelt es sich um ein altes Familienunternehmen, dessen Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert und die Habsburgermonarchie zurückreichen.39 Seit Anfang des 20. Jahrhunderts befindet sich der Hauptsitz in der steirischen Landeshauptstadt Graz. Anders als andere österreichische Schuhkonzerne, war die Firma sowohl als Schuhproduzent als auch als Schuhhändler tätig. Lange Zeit galt der Konzern als größter Schuhhersteller Österreichs, ab den 1970er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Unternehmenstätigkeit jedoch immer stärker von der Produktion auf den Handel. Ein Prozess der 1996 mit der endgültigen Schließung der letzten Fabrik seinen Abschluss fand.40 Die Affinität für zeitgenössische Kunst war auf den langjährigen Firmenchef Hans Mayer-Rieckh selbst zurückzuführen.41 Mayer-Rieckh galt Zeit seines Lebens als begeisterter Kunstsammler und -mäzen und hatte es sich zum Ziel gesetzt auch in seiner Firma „zeitgenössische Kunst mit Werbung zusammen zu spannen“.42 Im Jahr 1969 lernte er den jungen Horst Gerhard Haberl bei einer Ausstellungseröffnung der Neuen Galerie des Joanneum kennen, in der dieser als Assistent tätig war. Da beide eine ähnliche Vision von der Einbeziehung zeitgenössischer Kunst in die Werbung hatten, machte Mayer-Rickh Haberl das Angebot, die Werbelinie für seine
37 Schepers, Wolfgang: Back to the Sixties? In: ’68 Design und Alltagskultur (wie Anm. 32), S. 7. 38 Vgl. o. A.: Ein Haberl greift ein und ordnet. In: Kurier. 13.10.1974. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 29. 39 Zur Firmengeschichte vgl. Sinabell, Die Humanic AG sowie Erhardt, Handel ist Wandel (wie Anm. 3). 40 Erhardt, Handel ist Wandel (wie Anm. 3), S. 121–143. 41 Vgl. Anm. 10. 42 Es handelte sich dabei bereits um eine Idee seines Vaters Felix Alexander Mayer, die er umsetzen wollte. Vgl. Interview mit Hans Mayer-Rieckh 1988, OHA 933-12/88, WISOG Graz.
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Firma neu zu konzipieren.43 Laut Haberl war man sich darüber einig, „dass die schon in den Jahren davor begonnene Image-Werbung für die Marke den Vorrang vor Produkt-Werbung haben sollte“.44 Eine Strategie, die zu diesem Zeitpunkt in der restlichen Branche, die Werbung primär als Mittel verstand Produkte in Szene zu setzen, auf dezidierte Ablehnung stieß.45 Der studierte Kunsthistoriker Haberl war bis dahin nicht nur als Assistent in der Neuen Galerie tätig gewesen, sondern auch in der Grazer Avantgarde-Kunstszene rund um das Forum Stadtpark gut vernetzt.46 Sein besonderes Interesse galt interdisziplinärer Kunst sowie Medienkunst, weshalb er gemeinsam mit Gleichgesinnten die ‚Kunstproduzentengruppe‘ pool gründete.47 Diese setzte sich explizit für eine gesellschaftliche Integration der Kunst ein und bildete auch das „erste künstlerische Reservoir für die Gestaltung der Werbespots“.48 Haberls berufliche Berührungspunkte mit Werbung bzw. Gebrauchskunst dürften sich bis dahin vor allem auf seine Tätigkeit als Grafiker für die Neue Galerie beschränkt haben. Sein Eintritt in den Humanic-Konzern markierte auch insofern einen Wendepunkt in der Werbegeschichte des Unternehmens, als mit seiner Bestellung überhaupt erst der Posten eines Werbeleiters geschaffen wurde. Bis dahin existierte keine Werbeabteilung im eigentlichen Sinn, die das Auftreten des Großkonzerns koordinierte.49 Nichts desto trotz betrieb Humanic, verglichen mit anderen Schuhfirmen, schon sehr früh massenmediale Werbung. Der erste Kino-Spot stammt aus dem Jahr 1952, im Fernsehen begann man bereits ab 1962 mit Einschaltungen.50 Mit der Konzeption und Umsetzung wurden zuerst einzelne Werbefilmfirmen und ab 1962 die Wiener Werbeagentur Hager Gesellschaft beauftragt. Zuständig für Humanic war dort der aus einem steirischen Adelsgeschlecht stammende Georg Herberstein.51 Auch unter Haberl kooperierte Humanic noch mit Herberstein, bis dieser sich 1974 im Streit von seinem Kunden trennte.52 Ein nachhaltiger Imagewandel war Herber-
43 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 44 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 45 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 46 Rigler, Christine: forum stadtpark. In: Forum Stadtpark. Die Grazer Avantgarde von 1960 bis heute. Hrsg. von Christine Rigler. Wien u. a. 2002. S. 9–17. 47 Pool existierte von 1969 bis 1975. Von der Gruppe wurde mehrmals im Jahr die großformatige Zeitschrift Der Pfirsich herausgegeben. Weiters betrieb man den Ausstellungsraum poolerie. Über das Selbstverständnis von pool vgl. Der Pfirsich. Nr. 1/1970. Hrsg. von pool. Graz 1970. 48 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 49 Laut Haberl bestand lediglich eine Art Marketingabteilung, „die für den Vertrieb von Schuhen an sogenannte Großverkaufskunden“ zuständig war. Vgl. Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 50 Vgl. Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 123. 51 Die Hager Gesellschaft befand sich im Besitz des Industriellen Manfred Mautner-Markhof. Herberstein gründete Anfang der 1970er Jahre seine eigene Agentur und nahm Humanic als Kunden mit. Vgl. o. A.: Franz, hascht. In: Trend 7/1974 (wie Anm. 18). 52 Vgl. o. A.: Franz, hascht. In: Trend 7/1974 (wie Anm. 18).
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stein und der Agentur offenbar nicht gelungen. Anfang der 1970er haderte der Traditionskonzern nach wie vor mit dem altmodischen und braven Image.53 Das Firmenlogo zierte ein Schuh mit zwei Flügeln, die traditionelle Markenfarbe war ein mattes, dunkles Grün. Entgegen dem Logo, das Leichtigkeit versprach, war Humanic vor allem für langlebige und robuste, nicht jedoch für modische Schuhe bekannt.54 Um neue, vor allem junge Käuferschichten anzusprechen und die Zukunft des Unternehmens zu sichern, schien ein Imagewandel somit unausweichlich.55 Die Entscheidung, Horst Georg Haberl zum Werbeleiter zu machen, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens veranschaulicht sie die enorme Macht des Firmenchefs innerhalb des Familienunternehmens, der dies im Alleingang bestimmen konnte.56 Zweitens ist auffallend, dass das Angebot der externen Werbeagentur – dieses war von den Full-Service-Angeboten wie sie in den USA und später auch in Österreich üblich waren, wohl noch weit entfernt – nicht ausreichte, um das Firmenimage umfassend zu erneuern. Drittens wählte Mayer-Rieckh für diesen Posten eine Person aus, die nicht aus der Werbebranche stammte. Auch wenn die Begeisterung des Firmenchefs für moderne Kunst bekannt war, ist die Entscheidung, einem 29-jährigen, der nur wenig Erfahrung mit Werbung hatte, die Rundumerneuerung des Firmenimages anzuvertrauen, wohl als mutig zu bezeichnen. Andererseits scheint es auch nicht abwegig für die Verjüngung des Firmenauftrittes neues und junges Personal mit kreativem Potential anzuheuern. Letzteres ortete der Firmenchef wohl eher in der Kunstszene als in der Werbebranche. Während Künstler*innen bislang in der Werbebranche vor allem als freie Mitarbeiter*innen beschäftigt waren, übernahm nun eine Person, die direkt aus der Kunstszene stammte, die Verantwortung für die gesamte Werbelinie. In der Umsetzung seiner Konzepte ließ der Firmenchef dem Werbeleiter weitgehend freie Hand. Die Freiheit zu Experimenten gab Haberl wiederum an die beauftragten Künstler*innen weiter.57 Der erste, den er für die Humanic Werbung gewinnen konnte, war der Bildhauer Roland Goeschl. Kennzeichnend für sein Werk war ein formalistischer Ansatz und die Verwendung einiger weniger geometrischer Formen, insbesondere großer rechteckiger Kuben, sowie der Primärfarben Blau, Gelb
53 Vgl. Schrammel, 12.3.2008 (wie Anm. 18), S. 108. 54 Vgl. Schrammel, 12.3.2008 (wie Anm. 18), S. 108 sowie Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 45. 55 Schon zehn Jahre zuvor wird im zuständigen Branchenblatt eben diese Orientierung an der Mode gefordert. Vgl. o. A.: Die Schuhwirtschaft wird auch 1959 im Zeichen der Mode stehen. In: Die Schuh-Zeitung, Zentralorgan für Schuhindustrie und Schuhhandel. Offizielles Organ des Verbandes der Schuhindustrie. 15.1.1959. S. 13. 56 Dass Mayer-Rieckh stets das letzte Wort hatte wird u. a. deutlich in: Interview Hans-MayerRieckh, 1988 (wie Anm. 37) sowie Interview mit Roland Goeschl geführt von Inge Hinterwaldner. 22.10.1999. In: Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 98. 57 Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 36.
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und Rot.58 Er interessierte sich insbesondere für das Verhältnis von Körpern im Raum und deren Dimensionsveränderungen.59 Besagte rote, blaue und gelbe Kuben, die bereits in anderen Arbeiten Goeschls verwendet worden waren, kamen nun als Protagonisten der ersten acht Humanic-Spots zum Einsatz, die in den Jahren 1970 bis 1972 entstanden. Haberl meint dazu: „Seine gelb-rot-blauen Farbraumgestaltungen schienen mir optimal dazu geeignet, den bis dahin blassgrünen Firmenauftritt radikal zu verändern.“60 Das Bekenntnis zu Buntheit und Farbe passte ausgezeichnet zu Mode, Design und dem Zeitgeist der frühen 1970er Jahre, in dem durch die Einführung des Farbfernsehen 1969, Farbigkeit generell zum Thema wurde. Da die Umstellung von Schwarz/Weiß- auf Farbfernsehen langsam und uneinheitlich erfolgte, war das Farb-Bekenntnis keineswegs selbstverständlich und stellte eine bewusste Strategie dar.61 In einer Anzeige im Branchenblatt Schuhzeitung wird dies deutlich formuliert: „Aus Goeschls Mitarbeit, seinem unkonventionellen Farbangriff entstand die Idee der Fernsehfilme. Zuschütten, Ausfüllen, Verändern. Dazu wurden wir aber (zum ersten Mal!) farbig. Sehr farbig. Und an den 20 000 Farbfernsehgeräten sehen ungefähr 150 000 Menschen unsere Spots in Farbe.“62
Goeschls Farbkonzeption wurde zu einem zentralen Element der Corporate Identity von Humanic. Auch das Markenzeichen, der geflügelte Schuh vor dunkelgrünem Hintergrund, wurde mit dem simplen „HUMANIC“-Schriftzug erst in Schwarz, später in den Farben Rot (HU), Blau (MA) und Gelb (NIC) ersetzt.63 Die zuvor überall – von den Fensterläden bis zur Berufskleidung – dominierende Farbe Grün wurde nun von der vom Werk Goeschls beeinflusste Farbkomposition abgelöst und verlieh dem Konzern ein gänzlich anderes Erscheinungsbild.64 Auch was die Formensprache betraf, lehnte man sich in der Gestaltung von Bekleidung der Mitarbeiter*innen, Schuhkartons, Tragetaschen etc. an das Werk Goeschls an.65 Dreh- und Angelpunkt war die Fernsehwerbung. Zweimal im Jahr, jeweils zu Saisonbeginn, flimmerte ab 1970 ein neuer Humanic-Spot über die österreichischen Bildschirme. Die Gestaltung von Schaufenstern und Verkaufsflächen wurde in wei-
58 Vgl. Steiner, Christian T.: Roland Goeschl. Formel 1,2,3. In: formalismus, Hrsg. von Österreichische Galerie Belvedere. Wien 1997. S. 46. 59 Vgl. Interview Goeschl, 22.10.1999 (wie Anm. 56), S. 97 f. 60 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 61 Balzer, Jens: Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er. Berlin 2019. S. 174. 62 Schuhzeitung. Jg. 56/Nr. 18, 1970 (Werbeanzeige von Humanic). 63 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 44–47. 64 Interview mit Gerhart Schrammel, 12.3.2008 (wie Anm. 21), S. 109. 65 Goeschl, Roland: Goeschl und die Humanic. Rückblick auf die Jahre 1971/72/73. In: Transparent. Zeitschrift für Architektur, Theorie, Umraum, Kunst, Polemik. Jg. 6, 9/1975. S. 5.
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terer Folge auf die aktuellen TV-Werbespots abgestimmt.66 Am Point-of-Sale sollten die Kund*innen auf diese Weise, wie Haberl es ausdrückte, „Relikte dieser (elektronischen) Botschaften“ vorfinden.67 Flankiert wurde die Fernseh- zeitweise von Hörfunkwerbung, die zu Beginn einfach aus der Tonspur der TV-Spots bestand (siehe unten). Print- und Plakatwerbung kam nur am Anfang der Kampagne sowie vermehrt ab Mitte der 1980er Jahre zum Einsatz und spielte eine untergeordnete Rolle.68 Anstelle dieser klassischen Werbemittel, setzte man unter dem Motto „Veränderung der Umwelt“ lieber auf innovative Marketing-Methoden. Ein besonders spektakuläres Werbemittel stellte beispielsweise ein mit Goeschls Würfeln verfremdeter Humanic-LKW dar, mit dem die Abteilung Zukunft eine „fahrbare Farbskulptur“ direkt in die Grazer Altstadt transferierte.69 Nicht nur innerhalb der Schaufenster und Verkaufsflächen, auch nach außen hin sollten sich die Humanic-Filialen vom restlichen Straßenzug abheben. So hüllte man beispielsweise Pfeiler von Filialen, die sich an Eckhäusern befanden, sowie Außenwände großflächig mit Plakaten ein, auf denen Szenen aus den Humanic-Spots – beispielsweise die Sprengung des KubenHaufens – zu sehen waren. Ab 1976 begann das Unternehmen auch die Filialen selbst architektonisch umzugestalten. Bis 1983 wurden zwei Drittel „im Sinne einer gebauten Werbung“ neu gestaltet.70 Gerade in der Anfangsphase der Ära Haberl fiel Humanics Abteilung Zukunft auch mit aktionistischen Marketing-Ideen auf.71 Nicht selten spielte man dabei auf ironische Weise mit Jargon und Methoden der ‚68er‘ und verstärkte auf diese Art das mediale Image eines ‚progressiven Werberebellen‘. Neugestalte Filialen wurden beispielsweise mit einem ‚Franz-Sturm‘ eröffnet. Die Postwurfsendung, die diese ankündigten, zeigten das Faustfuß-Männchen, das kämpferisch die Faust ballt. Daneben zu lesen sind Textfragmente in verschiedensten Schriftformaten und -größen, die über das Event informieren. Sowohl die chaotische Do-it-yourself-Ästhetik des Flyers als auch die Wortwahl können als Anspielung auf die alternative Gegenkultur interpretiert werden.72 Ein Spiel mit der Anti- bzw. Protesthaltung wird auch in der 1972 im burgenländischen Seewinkel veranstalteten ‚Unschuh-Modenschau‘ deutlich, die medial für
66 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 45–61. 67 Haberl, Fraaanz (wie Anm. 13). 68 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 45–61. sowie Interview mit Gerhart Schrammel, 3.5.2016 (wie Anm. 19). 69 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 11. 70 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 10. Neben Roland Goeschl wurden dafür Günter Domenig und das international renommierte Architekturbüro coop himmelblau für die Gestaltung von Filialen engagiert. 71 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 28–33. 72 Wagner, Fallstudie Humanic (wie Anm. 9), S. 12.
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großes Aufsehen sorgte. Im sumpfigen Umland des Neusiedlersees präsentierten drei junge Models eine „Versuchsreihe ursprünglicher Schuhtypen“. Anstelle von Modefragen sollten bei den vom Designer Günther Herzog gestalteten ‚Unschuhen‘ ausschließlich das ursprüngliche und optimale Gehgefühl im Vordergrund stehen.73 Eine auf ähnliche Art satirisch gemeinte Aktion stellte die 1974 erfolgte Gründung der SFP, der Steirischen Fußpartei dar. Auf einem Flyer, der die Gründung der Partei ankündigte, hieß es: „Liebe Mitfüße! Kommt zur steirischen Fußpartei! Jeder Fuß kann Mitglied werden, egal ob linker oder rechter!“74 Die SFP sollte dabei nicht nur mediale Aufmerksamkeit generieren, sondern auch eine Art Fanclub sein, der einen direkten Kontakt mit interessierten Konsument*innen erleichterte. Wie sich bald herausstellte, beanspruchte die Betreuung der Vereins-Mitglieder jedoch unverhältnismäßig viele Ressourcen, weshalb die SFP nach sechs Jahren offiziell wieder aufgelöst wurde.75 Anhand der genannten Beispiele wird der humorvolle und verspielte Zugang der Abteilung Zukunft in Bezug auf die Marketing-Bemühungen augenscheinlich. Gerade diese Experimentierfreudigkeit, die Selbstironisierung, die Betonung des eigenen Aktionismus sowie der Anspruch, durch das eigene Tun die Umwelt zu verändern, speisten sich aus dem Gestus der alternativen Gegenkultur der frühen 1970er Jahre. Eine Maßnahme, die wesentlich nachhaltiger wirkte als die beschriebenen Aktionen, war die Gründung der Galerie H in den Räumen der Grazer Firmenzentrale. Es handelte sich dabei um einen von Haberl kuratierten Kunstraum, in dem wechselnde Ausstellungen, Medieninstallationen sowie Performances stattfanden. Haberl beschreibt sie als „Zentrum für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Strömungen der Gegenwartskunst“. Die Galerie H, die über ein Jahrzehnt (von 1973 bis 1984) existierte, sei darüber hinaus ein „wesentlicher Bestandteil der Kommunikation über das Unternehmen nach innen und zugleich nach außen“ gewesen. Nach innen, da sie den zahlreichen Humanic-Mitarbeiter*innen die Möglichkeit eröffnete, in Kontakt mit zeitgenössischer Kunst und einer „kunstinteressierten Öffentlichkeit“ zu treten.76 Nach außen, da auf diesem Weg Kunst-Sponsoring geschickt mit massenmedialer Werbung verknüpft wurde. Die dort stattfindenden Veranstaltungen
73 Vgl. Baum, Peter: „Unschuhe“ als Sensibilisierungsfaktor. In: OÖ-Nachrichten. 18.5.1972; Adabei. Krone. 28.5.1972 (vgl. Anm. 106); o. A., Unschuh für den Steh-Fex. In: stern mode. 25.6.1972; o. A.: Der Unfranz, Wochenpresse, 24.5.1972; o. A.: Humanic präsentiert: „Unschuh“ Zukunft der Mode: „Unkleider“. In: Neue Zeit, 18.5.1972. Alle zit. nach Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 11–14. 74 Vgl. Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 28. 75 Interview Schrammel, 3.5.2016 (wie Anm. 19). Laut dem damaligen Assistenten Haberls, Gerhart Schrammel, stieß die SFP auf ungeahnte Popularität und hatte in etwa sieben- bis achthundert Mitglieder*innen. 76 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 9).
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(Vernissagen, Kunst-Aktionen, etc.) boten Journalist*innen zahlreiche Anlässe, über das Unternehmen selbst, dessen Werbung sowie die an Ausstellungen und Werbespots beteiligten Künstler*innen zu berichten. Durch diese Verknüpfung wurde auch in den Zeitungsberichten das Image eines progressiven Konzerns vermittelt, der zeitgenössische Kunst förderte und dieser medialen und physischen Raum gewährte.77 Hauptberuflich beendete Horst Gerhard Haberl 1984 die Arbeit für Humanic, blieb der Firma jedoch als externer Berater erhalten. Der von ihm etablierte Werbekanal wurde von seinem ehemaligen Assistenten Gerhart Schrammel bis 1996 weiter bespielt. In seinem weiteren beruflichen Werdegang als Journalist, Intendant des steirischen herbst sowie Professor und Rektor der Kunsthochschule Saarbrücken, wandte er sich schlussendlich voll und ganz dem zeitgenössischen Kunstgeschehen zu und ließ die Werbung hinter sich.78
Die mediale Grenzüberschreitung: Ein ‚Farbangriff‘ in rot, blau und gelb „Werbung für Fortschritt. (…) Die gute neue Zeit. Detonationen sind nicht jedermanns Sache, aber es muß eben einiges in die Luft gehen, bevor wir einen Schritt vorwärts kommen. Wir Schrittmacher! Unsere Fortschritte hinterlassen Fußstapfen, in denen sich’s leichter geht. Wir Schuhmacher! Unsere Ideen sprengen Ihnen den Weg frei – HUMANIC also – HUMANIC – etwas das immer paßt, spielt mit Dingen die keinem passen.“79
Mit dieser Erläuterung beschrieb Axel Corti den bereits erwähnten Spot Sprengung, den er gemeinsam mit Roland Goeschl gestaltet hatte und der ab April 1971 im ORFWerbeblock zu sehen war. Die poetisch-ironischen Wortspiele Cortis geben Aufschluss über das Selbstverständnis der Abteilung Zukunft als (Werbe-)Avantgarde, die metaphorisch das Alte wegsprengt und sowohl Takt als auch Richtung hin zu etwas Neuem, Fortschrittlichem vorzeichnet. Was die Humanic-Werbespots aus Sicht der Werbemacher*innen neu und fortschrittlich, aus Sicht vieler Fernseher*innen provokant und irritierend machte, war, dass sie sich nicht nur konzeptionell, sondern auch ästhetisch fundamental von anderen Werbungen unterschieden. Die ästhetische Grenzüberschreitung wird im Folgenden einerseits mit Blick auf den damaligen Werbemainstream, andererseits im Vergleich mit älteren Humanic-Spots erörtert. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Jahre 1968 bis 1971 gelegt, jener Zeit also, in der es zu einem Übergang von der ebenfalls experimentellen Werbung vor
77 Vgl. Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 25–70. 78 https://www.hbksaar.de/personen/details/haberl (30.09.2019). 79 Corti, Axel: Sprengung. In: Transparent (wie Anm. 58), S. 15.
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der Anstellung Haberls zu dem von ihm angestrebten ‚eigenen Kanal‘ kam. Dabei soll gefragt werden, worin genau die Grenzüberschreitung bestand, die zur eingangs erwähnten Welle der Empörung führte. Die Entwicklung des Werbefilms in den 1960er Jahren war geprägt von einem elementaren Medienwandel, präziser formuliert, von einem Medienwechsel. Produzierten die österreichischen Werbefilmfirmen zu Beginn des Jahrzehnts überwiegend für das Kino, dominierten am Ende der 1960er Jahre Fernseh-Werbespots. Handelte es sich bei den Kino-Werbungen oft um ein- bis zweiminütige Filme, in denen eine Handlung ausgebreitet und eine Geschichte erzählt werden konnte, musste die Botschaft in den TV-Spots nun in zwanzig bis dreißig Sekunden komprimiert dargeboten werden. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich in Kino- wie auch in den Fernsehwerbungen der 1960er Jahren Formate, in denen Prominente, häufig Schauspieler oder Kabarettisten, auftraten und sich auf humorvolle Art und Weise rund um das beworbene Produkt eine Geschichte entwickelte.80 Darüber hinaus stellen die 1960er Jahre auch die Hochzeit des Trickfilms sowie von zahlreichen Markenfiguren bzw. Symbolpersonen dar, die teilweise bis heute die Werbewelt bevölkern.81 Gegen Ende des Jahrzehnts lässt sich ein langsamer Trend hin zu einer vermehrten Sexualisierung der Werbung sowie zu Life-Style-Sujets erkennen, die später das Werbefernsehen dominieren sollten. Die traditionell-gemütliche Tonalität wich dabei immer mehr einem Modernisierungsparadigma, das die Slogans „neu, modern, international“ ins Zentrum stellte.82 Obwohl zunehmend auf kontinuierliche Entwicklungen von Marken und Markenimages Wert gelegt wurde, dominierte in der Dramaturgie der Werbefilme nach wie vor der Fokus auf einzelne konkrete Produkte. Imagewerbung, in der das Produkt in den Hintergrund trat, war hingegen weitgehend unbekannt.83 Bis Ende der 1950er Jahre bewegte sich die Humanic-Werbung noch klar innerhalb dieses Mainstreams. Die Filme waren in einer bürgerlich-traditionellen Tonalität gehalten. So drehte sich der erste Humanic-Werbefilm aus dem Jahr 1952 beispielsweise um einen älteren gemütlichen Herrn, der genüsslich in seine Hausschuhe schlüpft und erleichtert aufatmet. Bereits mit Humanic-Varese änderte sich ab 1959 die Tonalität grundlegend. Zu sehen waren collagierte, sich rhythmisch zu Musik bewegende abstrakte Formen, Zeichnungen und Fotos.84 Auf die avantgardisti-
80 Schmidt, Siegfried J. u. Brigitte Spieß: Die Kommerzialisierung der Kommunikation. Fernsehwerbung und sozialer Wandel 1956–1989. Frankfurt a. M. 1997. S. 165. 81 Schmidt, Spieß, Kommerzialisierung der Kommunikation (wie Anm. 73), S. 210. 82 Schmidt, Spieß, Kommerzialisierung der Kommunikation (wie Anm. 73), S. 210–213. 83 Schmidt, Spieß, Kommerzialisierung der Kommunikation (wie Anm. 73), S. 210–213. 84 Gestaltet wurden die Varese Filme vom Avantgarde-Trickfilmer Hans Albala. Vgl. Renolder, Thomas u. Lisi Frischengruber: Animationsfilm in Österreich. Teil 1: 1900–1970. Begleitheft zur Filmschau. ASIFA. Wien 1995. S. 35–37 sowie Dewald, Christian u. a. (Hrsg.): Die Kunst des Einzelbilds Animation in Österreich – 1832 bis heute. Wien 2010.
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schen Varese-Spots folgten die TV-Spotserien Näher zur Kunst, sowie die von Georg Lhotsky und Axel Corti gestaltete Serie 7 ½,85 die deutliche Bezüge zur Nouvelle Vague aufwiesen. In den Jahren 1968 und 1969, unmittelbar vor dem Eintritt Haberls in die Firma, war der Karikaturist und Maler Walter Schmögner gemeinsam mit dem Avantgardefilmer Georg Lhotsky über die Hager Gesellschaft für die Gestaltung zweier Spot-Serien beauftragt worden (siehe Buchcover). In diesen insgesamt zwölf Spots spielt der junge Schmögner selbst gemeinsam mit einem blonden Model (‚Humanize‘) die Hauptrollen. Die erste Serie ‚Wochentage‘ zeigt die beiden in kurzen Szenen und alltäglichen Lebenssituationen. Gedreht wurden die Filme in einem Studio mit weißer Kulisse. Die Möbel und Gegenstände, mit denen die Darsteller interagieren, wirken auf diese Art, als wären sie ins Nichts platziert. Humanize und Schmögner sprechen nie direkt miteinander, stattdessen sind ihre inneren Monologe und assoziativen Gedankenspiele zu vernehmen (z. B.: „Montag. Beginnt mit dem Wecker. Hört auf mit dem Traum. Wo sind meine Gedanken? Im Schrank?“). In den einzelnen Spots spielen die beiden verschiedene Rollen, verhalten sich teilweise wie Kinder, Jugendliche, wie ein Liebespaar oder wie Erwachsene, die sich gerade zum Ausgehen bereit machen. Die zweite Serie ist deutlich surrealer gestaltet. Vor den von Schmögner kreierten überzeichneten Kulissen, spielen die beiden jugendlich wirkenden Darsteller wiederum verschiedene Rollen. Auffallend dabei sind die wiederkehrenden Assoziationen zu England (englische Palastwache) und zur Hippiekultur (Kleidung), womit eindeutig ein junges Publikum adressiert werden sollte. Wie bereits oben erörtert, trat im Herbst 1969 der neue Werbeleiter Horst Gerhard Haberl in die Firma ein und gründete bald darauf seine Abteilung Zukunft. Die ersten unter seiner Leitung gestalteten TV-Werbespots wurden im Frühjahr 1970 ausgestrahlt. Es handelte sich dabei um zwei Versionen des Spots Schwimmbadfüller.86 Neben Goeschls blauen, gelben und roten Kuben, traten auch zwei menschliche Darsteller, nämlich das dunkelhäutige Modell Lauretta sowie der „häßliche“ Engländer Derek als Protagonisten auf. Drehort war ein privates Hallenbad in einer Döblinger Villa.87 Die beiden 30-sekündigen Spots gliedern sich in zwei Abschnitte. Während dem jeweils ersten Abschnitt sieht man Lauretta und Derek im Schwimmbecken herumalbern. Passend zur Farbigkeit der Kuben trägt Lauretta einen roten Bikini und
85 Georg Lhotsky war Filmregisseur. Sein Film Moos auf Steinen gilt als erster österreichischer Avantgarde-Spielfilm. Axel Corti war Radio- und Fernsehmoderator, Filmemacher, Autor und bekannter Intellektueller in Österreich. In den 1970er und 1980er Jahren moderierte er zahlreiche Folgen der bekannten Fernseh-Talk-Sendung Club 2. 86 Vgl. Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 47–50. Neben Roland Goeschl und Axel Corti war auch der englische Regisseur Anatol Driver beteiligt. Teil dieses ersten Kreativteams waren weiters Karl Neubacher, Klaus Hoffer und Ingeborg G. Pluhar. 87 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8).
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Derek einen altmodischen blauen Männerbadeanzug. Die Darsteller plantschen im Wasser, posieren auf den schwimmenden Kuben oder schmeißen diese ins Wasser, Derek trinkt aus einem der Schuhe und Lauretta taucht anmutig durch den Pool. Eingefangen werden diese Szenen mit verschiedenen, teils experimentellen Filmtechniken (Unterwasserkamera) und aus verschiedensten Kameraperspektiven. Ästhetisch auffallend ist das Spiel mit Farbkontrasten sowie die extrem hohe Schnittfolge. Untermalt werden die Filmsequenzen mit elektronisch verzerrten Soundeffekten, die treffend als „rhythmisch synthetisches Blubbern“, das in „Mundgeräusche eines Mannes“ und in „hämisches Sich-ins-Fäustchen-Lachen“ übergeht, beschrieben wurden.88 Der jeweils zweite Teil der Spots besteht aus zehn Einstellungen, in denen nach jedem Schnitt mehr und mehr Kuben auftauchen, die am Ende das gesamte Bild ausfüllen. Die letzten Einstellungen zeigen die Gesichter von Derek und Lauretta verstohlen und erschrocken hinter den Kuben hervorlugen. Während im ersten Teil noch die menschlichen Darsteller im Vordergrund stehen, übernehmen die Kuben im zweiten Teil die Hauptrolle und verdrängen sowohl Wasser als auch Lauretta und Derek. Goeschl meinte diesbezüglich, dass seine Skulpturen, die im Medium Film ja nicht haptisch erlebt werden konnten, wenigstens den Bildschirm so füllen sollten, „daß entweder die Kuben aus dem Fernseher herauskommen oder daß die Kuben den Fernsehschirm zumachen“.89
Abb. 2: Filmstill Schwimmbadfüller (1970)
88 Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 47. 89 Vgl. Interview Goeschl, 22.10.1999 (wie Anm. 56).
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Abb. 3: Filmstill Schwimmbadfüller (1970)
Den ‚Schwimmbadfüllern‘ sieht man die Experimentierfreudigkeit der Werbemacher*innen regelrecht an. Die Filme nutzen auf geschickte Weise die Potentiale des multisensualen bzw. multimodalen Mediums Film. Durch das kreative und vielfältige Zusammenspiel von Bild- und Tonebene werden dabei auf rasante und unmittelbare Weise eine Vielzahl von Affekten und Emotionen kommuniziert. Eine ähnliche Strategie verfolgten auch die beiden im Herbst 1970 ausgestrahlten Spots, in denen anstelle des Schwimmbads ein Kornfeld als Drehort genutzt wurde. Wiederum erfolgt ein Spiel mit Soundcollagen, vielfältigen Kameraperspektiven und den beiden Werbefiguren, die mit den Kuben interagieren. Nebenbei sind immer wieder kurz Schuhe im Bild zu sehen. Diese ersten vier Spots der Serie riefen noch kein Medienecho hervor.90 Erst der fünfte, bereits eingangs erwähnte Fernsehspot Sprengung sowie der dazugehörige Radio-Spot ließ die Humanic-Werbung im Frühjahr 1971 auch zu einem medial-diskursiven Ereignis werden und sorgte für heftige Proteste beim Publikum.91 Um nachvollziehbar zu machen, was diesen Spot auszeichnete, wird er an dieser Stelle im Detail beschrieben. Schauplatz von Sprengung ist eine weite leere Betonfläche.92 Gefilmt wurde eine Kunstaktion, im Rahmen derer die roten, gelben und blauen Kuben Roland Goeschls in die Luft gesprengt wurden. Anders als in den bisherigen Spots, spielen
90 Um den Zeitpunkt des Erscheinens der Spots wurden drei der wichtigsten Tageszeitungen (Krone, Kurier, Kleine Zeitung) durchgesehen. Es finden sich keine Beiträge über Humanic in diesem Zeitraum. Generell gab es bis dahin in den Tages- und Wochenzeitungen praktisch keine Berichterstattung über Werbung. Erst das Wirtschaftsmagazin Trend (gegr. 1970) berichtete regelmäßig über das Werbegeschehen in Österreich. 91 Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2). 92 Drehort war das stillgelegte Flugfeld Aspern nahe Wien.
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menschliche Darsteller in Sprengung so gut wie keine Rolle. Lediglich zu Beginn ist Derek zu sehen, wie er einen farbigen Würfel über seinen Kopf stemmt. Bereits in der zweiten Einstellung kommt der Kubenhaufen ins Bild: Die roten, blauen und gelben Kuben sind dabei erst in Froschperspektive zu sehen, auf einem der monochromen Kuben ist ein Teil des Humanic-Schriftzuges zu erkennen. Aus der Froschperspektive springt die Kamera unvermittelt in die Totale und zeigt den Haufen mitten auf dem leeren Flugfeld. Es folgt nun – verlangsamt abgespielt – die Sprengung der Kuben, die in einer Feuersbrunst und anschließend in einer grau-schwarzen Rauchwolke verschwinden. Die Explosion ist ein zweites Mal durch eine weiter entfernte Kamera zu sehen.
Abb. 4: Filmstill Sprengung (1971)
Abb. 5: Filmstill Sprengung (1971)
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Bemerkenswert ist dabei vor allem die Tonebene: Anstatt der von der Sprengung verursachten Geräusche vernimmt man den ganzen Spot über ausschließlich die hallende Stimme einer Frau, die insgesamt vierzehnmal den Namen „Franz“ ruft. Durch die stimmliche Variation – mittels langer und kurzer, schriller und schallender, tiefer, gehauchter und gemurmelter Rufe – werden eine Vielzahl emotionaler Zustände ausgedrückt. Die emotionale Intensität steigert sich dabei von neutral zu erstaunt, sehnsüchtig (schriller Schrei), hin zu liebevoll (gemurmelt), lasziv, leidend und sehnsüchtig (tief, gehaucht, gemurmelt). Zuletzt wird die Frauenstimme immer intensiver und verzweifelter. Auffallend ist, dass das aggressive Geschehen der Sprengung mit einem besonders zärtlichen ‚Franz‘-Murmeln kontrastiert wird.93 Zuletzt sind die Schatten der Kuben zu sehen, die geisterhaft durch den Explosionsrauch gleiten. Eine Männerstimme schließt mit dem Slogan: „Humanic passt immer.“ Der Spot unterschied sich radikal von dem, was im übrigen Werbeblock zu sehen war und sorgte dementsprechend für großes mediales Aufsehen. Dieses resultierte zudem aus dem Verbot des dazu passenden Radio-Spots – dieser bestand lediglich aus der Tonspur des Fernsehspots – durch den Direktor des ORF-Hörfunks. Begründet wurde das Verbot unter anderem mit dem vehementen Protest von Hörer*innen (siehe unten). Auch bei Humanic trafen erste wütende Briefe ein, die sich sowohl gegen die Radio- als auch gegen die Fernseh-Werbung richteten. Doch was verstörte die Zuseher*innen genau an diesem Spot? Anders als die bisherigen Fernsehwerbungen hat Sprengung einen formal verhältnismäßig simplen filmischen Aufbau: Auf der Bildebene besteht der Spot lediglich aus fünf Einstellungen, der gesprochene Text beschränkt sich auf die Worte „Franz“ und den Slogan „Humanic passt immer“. Gefilmt wird im Wesentlichen eine einzige kraftvolle Aktion, nämlich die Sprengung von Goeschls Kunst-Kuben. Die Emotionalität, die mittels der Frauenstimme und der Explosion vermittelt wurde, belebte – wie von den Werbemacher*innen beabsichtigt – die Phantasie des Publikums. In einigen der Beschwerdebriefe wurden die Schreie als eindeutig sexueller, wenn nicht pornografischer Natur, in anderen als die Geräuschkulisse einer ‚Irrenanstalt‘ kategorisiert. Die Frauenstimme erweckte durch den starken Nachhall den Eindruck als würde sie in eine große Leere hineinrufen. Dies und die Gewalt der Sprengung erinnerte manche Zuseher- und Zuhörer*innen an die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg oder auch an den Verlust geliebter Menschen. Obwohl (fast) keine menschlichen Darsteller*innen und auch keine konkret identifizierbaren Schauplätze vorkamen, weckte der Spot also Assoziationen mit Krieg, ‚Irrenanstalt‘ und Sexualität. Die verstörende Wirkung resultierte somit aus der Abstraktion als solcher: Schließlich wurde hier einem diffusen, abstrakten ‚Nichts‘ der konkrete Name ‚Franz‘ gegeben. Genau mit dieser Abstraktion unternimmt Sprengung eine
93 Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 59–61.
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Grenzüberschreitung und macht den Schritt hin zum Avantgarde-Kunstfilm, der keinerlei Gemeinsamkeit mehr mit dem bisherigen Format des Werbefilms hat. Im Gegensatz dazu waren – trotz ihrer avantgardistischen Ästhetik – in den früheren Spots von Schmögner/Lhotsky und Goeschl/Corti, durchaus noch Stil-Elemente des Werbefilms erkennbar. Sie verfügten über eine erkennbare Dramaturgie bzw. Erzählung und nutzten gezielt Werbefiguren, die dem Publikum potentiell als Projektionsfläche und Identifikationspotential dienen konnten; zudem kam – wenigstens ab und zu – auch ein beworbenes Produkt ins Bild. Diese drei Elemente waren bei Sprengung nicht mehr vorhanden. Mit diesem Spot machte die Humanic-Werbung einen Schritt hin zur Etablierung eines eigenen ‚Kanals‘ im Werbefernsehen. Der eingeschlagene Weg wurde von der Abteilung Zukunft in den darauffolgenden Jahren konsequent weiterverfolgt. Auch in den weiteren Werbespots war meist keine klare Dramaturgie erkennbar, auf Werbefiguren und das Zeigen von Produkten verzichtete man größtenteils. Die Werbung funktionierte damit als reine Imagewerbung, die sich ausschließlich auf die Assoziation von zeitgenössischer Kunst mit der Marke Humanic fokussierte. Anzumerken ist dabei freilich, dass eine derartig radikale Imagewerbung nur deshalb zweckmäßig schien, da die Firma aufgrund ihrer Tradition und Größe, in Österreich per se einen extrem hohen Bekanntheitsgrad genoss. Die implizite Botschaft lautete unter anderem, dass Humanic eine so starke und bedeutende Firma darstellte, dass man sich solche kontroversiellen Werbeexperimente leisten konnte.94 In den 1970er Jahren entwickelte sich die Werbelinie in mehreren Phasen weiter: Nach der Ära Goeschl, in der insgesamt acht Filme entstanden, folgte eine ‚Konzeptuelle Phase‘ (1973–1975), eine ‚Performance-Kunst-Phase‘ (1975–1977), eine ‚Spielerische Phase‘ (1978–1980) und die ‚Literarische Phase‘ (1980–1983).95 Nach 1984 lässt sich nur schwer ein Zusammenhang zwischen den von verschiedenen Künstler*innen gestalteten Spots herstellen. Diese blieben – wie Haberl anmerkt – „phasenlos experimentell“.96 Allgemein lässt sich konstatieren, dass sich die Reihe durch eine enorme Vielfalt und Heterogenität an Stilen und Ideen auszeichnet. Es finden sich darunter gefilmte öffentliche Aktionen, verspielte Auseinandersetzungen mit Körperlichkeit genauso wie mit Sprache und Poesie.97 Trotz der Pluralität weisen die Humanic-Spots durchaus Gemeinsamkeiten auf. Auffallend ist insbesondere, dass – wie schon anhand der Goeschl/Corti-Spots veranschaulicht wurde – zahlreiche Folgefilme mit der Multimodalität des Mediums experimentierten. Ein Großteil spielte mit verfrem-
94 Interview mit Hans Mayer-Rieckh geführt von Peter Vujica. In: Kleine Zeitung, 12.3.1980. S. 18 f. 95 Phaseneinteilung nach Hinterwaldner, Die Ära Goeschl (wie Anm. 7), S. 12–15. 96 Vgl. Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 97 Für besonderes Aufsehen sorgten unter anderem die Spots aus der ‚Literarischen Phase‘ an der u. a. Wolfgang Bauer, H. C. Artmann und Gerhard Rühm beteiligt waren. Besagte Phase bezeichnet auch Haberl als sein persönliches Highlight. Vgl. Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8).
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deten Geräuschen und Tönen, mit Musik und Sprache, um die Bildebene zu kontrastieren. Auch die tendenziell humorvolle und (selbst-)ironische Tonalität, die bereits in den ersten Spots der Reihe erkennbar war, blieb weitgehend erhalten.
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Unzählige dokumentierte Reaktionen auf die Humanic-Spots kategorisieren diese implizit oder explizit als „Provokation“. Auf die Frage, ob diese Wirkung kalkuliert war, antwortete Haberl, dass sich diese schlichtweg aus der Konfrontation des Publikums mit „dem Fremden oder Unbekannten“ ergeben habe.99 Geplant war weniger zu provozieren, als vielmehr das Publikum zu irritieren, es zum Nachdenken und zu selbstständigen Assoziationen zu motivieren. Der folgende Abschnitt untersucht erstens, wie Tages- und Wochenzeitungen Anfang der 1970er Jahre über die Humanic-Werbung berichteten. Zweitens werden die zahlreichen, bei der Firma eingelangten Briefe danach befragt, wie diese Irritation von den Briefeschreiber*innen artikuliert wurde. Möglich ist eine solche Analyse, da die Abteilung Zukunft Reaktionen in Briefen und Zeitungen gut dokumentierte und in einem Heft, das 1981 aus Anlass von ‚10 Jahre Franz‘ sowie der Verleihung des Staatspreises für Werbung, erstellt wurde, kompilierte.100 Auch wenn es sich dabei nur um eine „Dokumentation in Auszügen“ handelt, ergibt sich ein vielschichtiges Bild der Debatte um die aufsehenerregende Kampagne. Insgesamt sind in dem Heft 42 Briefe, 64 Erwähnungen in Tages- und Wochenzeitungen sowie einige von der Abteilung Zukunft selbst herausgegebene Schriften dokumentiert. Chronologisch beginnt die Dokumentation mit der ersten medialen Thematisierung der Humanic-Werbung im Jahr 1971. In den Printmedien fand die Werbekampagne in unterschiedlichsten Zusammenhängen Erwähnung: Von Karikaturen über Kurzmeldungen bis hin zu ausführlichen Reportagen tauchen ‚Franz‘ und Humanic in allen möglichen Textformaten der Tages- und Wochenzeitungen auf. Den Beginn der medialen Debatte markiert nicht die Werbung selbst, sondern das Verbot des Radio-Spots zu Sprengung durch den ORF-Hörfunkdirektor Alfred Hartner. Wie schon angesprochen, waren dort nur
98 Brief an Humanic, mehrere Unterzeichner. Wien 6.10.1977. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S 47. 99 Interview Haberl, 28.2.2017 (wie Anm. 8). 100 Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2). Darin finden sich Briefe, Zeitungsartikel, Firmenzeitungen. Anlass für dessen Erscheinen war die Verleihung des Staatspreises für Werbung. Alle abgedruckten Briefe und Zeitungsartikel sind mit Datum bzw. Eingangsstempel versehen.
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die ‚Franz‘-Rufe sowie der Slogan „Humanic passt immer“ zu hören. Hartner untersagte im April 1971 per Weisung, dass der Spot weiterhin gesendet wird. Ein derartiges Verbot einer Radio-Werbung war, wie die Kärntner Tageszeitung anmerkte, bis dahin in Österreich beispiellos.101 Über die Gründe des Eingriffs wurde in weiterer Folge heftig spekuliert. Einige Kolumnisten äußerten den Verdacht parteipolitischer Einflussnahme: Der ÖVP-nahe Hörfunkdirektor habe den Spot aufgrund einer möglichen Schleichwerbung für die eine Woche später stattfindende Bundespräsidentschaftswahl, bei der der SPÖ-Kandidat den Vornamen Franz trug, interpretiert.102 In der Kleinen Zeitung heißt es dazu: „Franz ist out. Es könnte Jonas gemeint gewesen sein, so dürften Schwarze schwarzgesehen haben.“103 Sowohl Hartner als auch der ORF-Werbeleiter dementierten diese Vermutungen und begründeten das Verbot mit den vielen Beschwerden, in denen die Spots unter anderem als „obszön und sinnlos“ bezeichnet wurden.104 Erst nach mehreren Überarbeitungen konnte eine veränderte Version schlussendlich gesendet werden.105 Die erste Phase dieser Berichterstattung über die Humanic-Werbung war somit einerseits durch die Kritik am Verbot, andererseits durch eine oft implizit gehaltene Problematisierung der Spots selbst gekennzeichnet. Wie Haberl feststellte, trug zur Skandalisierung vor allem die Erwähnung in der Adabei-Kolumne der einflussreichen Kronen Zeitung bei, in der die ‚Franz‘-Rufe als „Lustschrei der Nation“ bezeichnet wurden. Dort findet sich auch die Behauptung, das Verbot sei ausgesprochen worden, da „zu viel Erotik in der Stimme“ gelegen hätte.106 Ein ähnlicher Tonfall kennzeichnet auch einen im Mai 1971 im AZ-Magazin erschienenen dreispaltigen Bericht, auf den an dieser Stelle näher eingegangen werden soll.107 Der Haupttitel des Beitrags lautete „‚Fraaanz‘ trat ins Fettnäpfchen“. Im
101 o. A.: M&S in Allen Gassen. In: Kärntner Tageszeitung. 1.5.1971. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 3. 102 Die Wahl fand am 25.4.1971 statt. Es handelte sich um Franz Jonas, den Kandidaten der SPÖ. Dieser trat gegen den ÖVP-Kandidaten Kurt Waldheim an und gewann die Wahl. 103 Wimmer, Kurt: Franz, Fraanz, Fraaanz – aus! In: Kleine Zeitung. 23.4.1971. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 3; Hintergrund dieser Mutmaßungen ist die seit den 50er Jahren schwelende Debatte um den massiven Einfluss der beiden Großparteien auf den Rundfunk in Österreich, die insb. zum vielbeachteten Rundfunk-Volksbegehren 1964 und einer umfassenden ORF-Reform 1967 geführt hatte. Vgl. Ergert, Viktor: Die Geschichte des Österreichischen Rundfunks. Band III, 1955–1967. Wien 1999. 104 o.A.: Ist der Name Franz wirklich obszön? Express, 21.4.1971. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 5. 105 Die Aufregung und Kritik an der Intervention von Seiten der Zeitungsjournalisten spiegelt deren besondere Sensibilität, in Bezug auf potenzielle parteipolitische Interventionen im staatlichen Rundfunk kurz nach der großen ORF-Reform, wider. 106 Adabei. In: Kronen Zeitung, 25.5.1971. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 5; Die Adabei Kolumne (erst im Express dann in der Kronen Zeitung) wurde von Roman Schliesser verfasst. Er galt als einer der bekanntesten ‚Society‘-Reporter Österreichs. Vgl. https://wien.orf.at/v2/news/stories/ 2735763/ (06.02.2020).
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Untertitel formulierte der Autor Manfred Marschalek: „Der Vielgerufene stirbt an Protesten – aber die Avantgarde darf weiter werben“. Marschalek beginnt den Text mit der Debatte um das Verbot der Radiospots und schildert danach die Dreharbeiten des nächsten Humanic Fernseh-Spots ‚Mölkerbastei‘, der von Goeschl und Otto M. Zykan gestaltet wurde. Neben dem Text ist dabei unter anderem ein Foto von den Dreharbeiten zu sehen. Beteiligt waren daran rund „80 junge Leute“, die begeistert an dem in der Werbung zu sehenden „wilden Happening“ teilnahmen. Weiters erinnert der Autor daran, dass Humanic bereits zuvor mit seiner Werbung aufgefallen sei. Indirekt artikuliert er daraufhin nicht nur gegenüber den ‚Franz‘-Spots, sondern auch gegenüber den Werbungen mit Derek und Lauretta Bedenken, denn das Publikum stoße sich sowohl an den als „obszön“ erachteten ‚Franz‘-Rufen, als auch an den „Bilder[n] der braunhäutigen Lauretta in den Schuhgeschäften“. Diese würden schließlich gegen „das ‚gesunde Volksempfinden‘ vieler Österreicher“ verstoßen. Der Artikel schließt mit der beruhigten Feststellung, dass Goeschl im neuen Spot nun „weder den ‚Franz‘ noch die Negerin Lauretta“, sondern vor allem „‚normale‘ junge Leute“, die sich begeistert zur Verfügung gestellt hätten, verwenden würde. Der Text endet mit der süffisanten Feststellung: „Denn was Göschl da macht ist ja Kunst.“108 Mehrere Aspekte sind an dem Artikel bemerkenswert. Erstens die deutliche Betonung der Beteiligung von Jugendlichen an den Dreharbeiten, die der Autor sowohl am Beginn als auch am Ende des Textes hervorstreicht. Implizit kommt so zum Ausdruck, dass Jugendliche sich naiv und unreflektiert von Goeschl und seiner modernen Kunst beeindrucken und beeinflussen ließen. Zweitens wird schon mittels des Untertitels, laut dem die Avantgarde weiterwerben „darf“, suggeriert, dass ein mögliches weiteres Verbot im Raum stehe. Drittens problematisiert Marschalek nicht nur die vermeintliche Sinnlosigkeit und Obszönität der Werbespots, sondern auch das Auftreten einer dunkelhäutigen Frau per se. Die Fremdheit und Andersartig der „braunhäutigen“ Lauretta wird dabei implizit den „normalen“ jungen Menschen gegenüberstellt. Seine rassistische Etikettierung begründet er mit dem „gesunden Volksempfinden“, das der NS-Justiz, genauso wie konservativen Sittenwächtern der Nachkriegszeit, als Argumentationsgrundlage gedient hatte.109
107 Marschalek, Manfred: ‚Fraaanz‘ trat ins Fettnäpfchen. Der Vielgerufene stirbt an Protesten – Aber die Avantgarde darf weiter werben. In: AZ-Magazin. 27.5.1971. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 8. Beim AZ-Magazin handelte es sich um eine Magazinbeilage der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung. 108 Marschalek, Fraaanz (wie Anm. 98). 109 Im NS-Staat wurde das gesunde Volksempfinden (ab 28.6.1935) zu einer juristischen Kategorie erhoben, die strafrechtlich geahndet werden konnte. Zur Begriffsgeschichte des „Gesunden Volksempfindens“ vgl. Volkstum und Volksgemeinschaft. In: Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte. Hrsg. von Wolfgang Benz. 13. Auflage. München 2006.
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Auch dieser Text folgte dem Tonfall jener ‚Sittenwächter‘, die seit den 1950er Jahren die Jugend vor dem Einfluss von „Schmutz und Schund“ zu bewahren suchten.110 Auch in einem weiteren Artikel wurde NS-Vokabular verwendet, um die Humanic-Werbung zu kritisieren. Es handelt sich dabei um eine Reportage im Wirtschaftsmagazin Trend, die sich vor allem dem Zerwürfnis von Haberl und Herberstein widmet. Wiederum wird NS-Vokabular nur indirekt verwendet, indem ein angeblicher Beschwerdebrief zitiert wird. Dort heißt es laut Trend: „Es beginnt das Zeitalter der entarteten Kunst.“111 Unter anderem versuchte besagte Reportage die Humanic-Werbung weiter zu skandalisieren, indem sie einen Zusammenhang mit der Mühl-Kommune sowie der ‚Uni-Ferkelei‘ des Jahres 1968, in der die Wiener Aktionisten gezielt die österreichischen Staatssymbole herabgewürdigt hatten, konstruierte. Ein Zusammenhang für den sich sonst in keiner Quelle Hinweise fanden und der vermutlich dazu dienen sollte, Haberl und die Abteilung Zukunft zu diskreditieren.112 Nach dieser ersten Phase der Berichterstattung entwickelte sich diese in eine deutlich wohlwollendere Richtung. Die Vielfalt der Kontexte, in denen über die Humanic-Werbung berichtet wurde, ist bemerkenswert. So finden sich Berichte über die aktionistischen Aktivitäten der Abteilung Zukunft, wie die Unschuh-Modenschau im burgenländischen Seewinkel, Ankündigungen der aktuellen Humanic-TV-Spots sowie zahlreiche Nachrichten über die Aktivitäten der Galerie H (siehe oben). Die Artikel beschränken sich dabei nicht nur auf Meldungen, sie erörtern auch das Konzept hinter der Kampagne und porträtieren die Kunstschaffenden oder Haberl selbst. Unterfüttert sind sie nicht selten mit amüsanten Anekdoten und Zitaten des auskunftsfreudigen Werbeleiters. Häufig belegen Zahlen aus der Marktforschung den Erfolg der Werbung. Gleichzeitig wird stets auch betont, dass es nicht nur um Werbung gehe, sondern auch darum, moderne Kunst in die Massenmedien zu bringen. So erklärt beispielsweise der Kurier die Humanic-Werbung zu einem „modernen Mäzen“ und zum „Kunstlehrer der Nation“, denn: „Die Einschaltziffern beim Werbefernsehen triumphieren allemal über die von ‚Kultur aktuell‘.“113 Den Höhepunkt der medialen Berichterstattung erreichte man im Jahr 1980/81 während der
110 Blaschitz, Edith: Der Kampf gegen „Schmutz und Schund“. Film, Gesellschaft und die Konstruktion nationaler Identität in Österreich (1946–1970). Wien 2014. S. 9–21. 111 o. A.: Franz, hascht. In: Trend 7/1974 (wie Anm. 18), S. 102. 112 Ein Zusammenhang, der weder in besagtem Artikel belegt, noch in anderen Quellen nachweisbar ist. Als „Uni-Ferkelei“ bezeichnete die Kronen Zeitung die Aktion „Kunst und Revolution“ der Wiener Aktionisten, die im Mai 1968 im Hörsaal I des NIG der Universität Wien stattgefunden hatte. Unter anderem entledigten sich die Aktionisten ihrer Kleider, onanierten und verrichteten ihre Notdurft auf der österreichischen Fahne, während sie die Bundeshymne sangen. In der medialen Berichterstattung diskreditierte die Aktion sowohl die Künstler*innen wie auch die Studentenbewegung in Österreich. Vgl. Keller, Mai 68 (wie Anm. 24), S. 75. 113 John, Rudolf: Humanic spaßt immer. In: Kurier. 4.12.1972. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2).
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‚Literatenphase‘, in der unter anderem H. C. Artmann, Gerhard Rühm und Wolfgang Bauer Werbespots für Humanic gestalteten. Anders als in den Medienberichten, in denen die Aktivitäten der Abteilung Zukunft ab Mitte der 1970er Jahre überwiegend in einem positiven Licht gesehen wurden, flaute die Vehemenz der in Briefen geäußerten Kritik nur bedingt ab. Dokumentiert sind zwischen 1971 und 1981 insgesamt 42 Briefe, die direkt an die Firma adressiert waren. Die äußere Form dieser Beschwerde- und Fan-Briefe ist variantenreich und vielseitig. Manche sind handschriftlich, andere mit Schreibmaschine verfasst. Teils handelt es sich um sehr kurze, teils um lange und umfassende Schreiben. Manche Autor*innen artikulierten ihre Kritik oder ihr Lob ausführlich und umfangreich, andere begnügen sich mit – teils sehr kreativen – Beschimpfungen. 28 Briefe bewerten die Humanic-Werbung eindeutig negativ, zehn eindeutig positiv, vier Zuschriften nehmen keine eindeutige Bewertung vor. Die positiven Rückmeldungen nahmen dabei in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre leicht zu, die negativen blieben konstant. Auffallend an letzteren ist, dass die Kritik meist diffus und wenig konkret erscheint. In einem anonymen Brief aus dem Jahr 1976 heißt es beispielsweise: „Ich habe gegen eine Reklame nichts einzuwenden solange sie sich in einem netten Rahmen bewegt! Ihre Reklame ist geschmacklos! Blöde u. grenzt an Perversität! Ich nehme an, dass in ihrem ‚Reklamemacher‘ etwas nicht ‚stimmt‘! TV-Reklame kostet viel Geld – Hier sage ich Nein u. kaufe meine Schuhe eben nicht bei Humanic.“114
Anlass für die Empörung ist hier, dass die Werbung anders ist und eben außerhalb des üblichen Rahmens steht. Eine Feststellung, die die Abteilung Zukunft wohl als Kompliment gewertet haben dürfte, denn einen eigenen Kanal zu besetzen, war von Beginn an deren Ziel gewesen. Interessant an dem Brief sind die Argumente, die gegen die Werbung ins Treffen geführt werden: Erstens verstoße diese gegen den ‚guten‘ Geschmack, zweitens gegen die Vernunft („blöde“, etwas „stimmt“ nicht) und drittens wird sie mit devianter Sexualität („pervers“) in Verbindung gebracht. Mit diesen Kategorisierungen stand der*die anonyme Autor*in nicht alleine da. Von den 28 negativen Reaktionen brachten insgesamt 16 die Werbelinie in Verbindung mit Wahnsinn oder Geisteskrankheit. Zahlreiche Schreiber*innen äußerten darüber hinaus die Forderung, die Werbemacher*innen selbst gehörten in eine „Irrenanstalt“, die je nach geografischer Herkunft auch explizit genannt wurde (Gugging, Hoff, Steinhof). Mit Vehemenz wurde somit eingefordert, derartige Werbung nicht nur zu verbieten, sondern gleich die dafür Verantwortlichen an einem Ort für ‚Abnormale‘ wegzusperren.
114 Anonymer Brief. Eingelangt am 16.3.1976. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2). S. 39. Brief verfasst in Blockbuchstaben, Unterstreichung im Original.
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Der Spot Sprengung weckte bei den Seher*innen jedoch auch vielfältige andere Assoziationen, bei manchen auch Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. So heißt es beispielsweise in einem der Briefe: „Man kann einen Namen rufen, freudig erregt (…) wir haben geliebte Menschen auf den Schlachtfeldern verloren, die vielleicht in höchster Todesnot schrieen [sic], so wie Ihr Franz, bevor sie jämmerlich starben …!“115
Auch der Name ‚Franz‘ an sich erinnerte manche an den Verlust geliebter Menschen. Eine Seherin beklagt beispielsweise, dass sie die ‚Franz‘-Rufe in Radio und Fernsehen tief getroffen hätten, da sie dadurch an ihren kürzlich verstorbenen Mann erinnert wurde. Nach der Abwandlung des Radio-Spots zeigte sich dieselbe Frau beruhigt und versöhnt: „Ich bin sooooooo erfreut, daß Sie das klagende ‚Franz‘ in ein nettes liebes: ‚aber Franzerle, wer wird sich denn gleich so aufregen‘, änderten.“116 Besagte Briefe belegen dabei, dass die Abteilung Zukunft tatsächlich versuchte, in Austausch mit den Kunden zu treten und Aufklärungsarbeit zu leisten. Die Schreiberin bedankt sich in ihrem zweiten Brief nachdrücklich bei der Werbeabteilung, durch deren Antwort sie eingesehen habe, dass es durchaus Menschen gäbe, die besagte Werbung unterhaltsam oder sogar originell fänden.117 Während die negativen Kommentare in den 1970er Jahren konstant blieben und in ähnlichen Argumentationsmustern verharrten, nahmen die positiven, teils begeisterten Reaktionen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu. Positiv wurde insbesondere bewertet, dass sich die Humanic-Spots vom restlichen Werbegeschehen abhoben. Ein Seher schreibt beispielsweise: „Ich bin vom Werbefernsehen im österr. Fernsehen angeekelt (…), mit Ausnahme ihrer leider so selten gebrachten Reklame. (…) Hirn, Geist, Idee, Können, Intelligenz zeichnen sie aus.“118 Als positive Rückmeldung können auch die Fotos von Franz-Fans gewertet werden, auf denen diese mit ihren selbstgemachten Fan-T-Shirts posieren.119 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Briefe aus einer Vielzahl von Motivationen – aus ehrlicher Empörung, aus Faszination oder auch einfach nur um sich einen Spaß zu machen – verfasst wurden. Vor allem jedoch können sie als Zeugnis dafür gewertet werden, dass die Werbespots eine emotionale Wirkung bei den Seher*innen erzeugten. Auf den Punkt gebracht wird dies in einem Beschwerde-Brief aus dem Jahr 1976, in dem es heißt: „Was mich betrifft, fühle ich mich durch Ihre absurde Werbung gehänselt, unangenehm berührt und belästigt.“120
115 Anonymer Brief. Eingelangt im April 1971. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 3. 116 Brief von Elisabeth Lappel. Ohlsdorf, 7.5.1971. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 6. 117 Brief von Elisabeth Lappel (wie Anm. 116). 118 Brief von Franz Schenk. Wien. 27.9.1975. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 33. 119 Abteilung Zukunft (Hrsg.), 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 57, S. 60. 120 Brief von Walter Pöschl an die Fa. Humanic. Pfaffstätten. 5.3.1976. zit. nach 10 jahre ‚franz‘ (wie Anm. 2), S. 30.
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Die Briefe belegen außerdem, dass die Seher*innen emotional involviert wurden und dies zu einer Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der HumanicWerbung führte. Anders wäre es wohl kaum erklärbar, dass sie sich die Mühe machten ihre Meinung in einem Schreiben an die Firma kundzutun. Wenige der Schreiber*innen reflektierten dabei, dass sie dadurch auf eine gezielte Werbestrategie reagierten, die Aufmerksamkeitsgenerierung durch emotionale Aktivierung zum Ziel hatte. Im Gegenteil waren die meisten der Meinung, dass diese Werbung der Firma nur schaden konnte.
Conclusio Dieser Beitrag zeigt, dass die Humanic-Werbung geradezu ein Musterbeispiel für den, von Malinowski und Sedlmaier in Bezug auf den ‚68er‘-Zeitgeist als typisch beschriebenen, „performativen Regelverstoß“ darstellte.121 Durch den bewussten Bruch mit Erwartungshaltungen wurde die Grenze zwischen Kunst und Werbung verwischt und eine innovative und einmalige Fernseh- und Radiowerbung geschaffen. Möglich war die Umsetzung einer solchen experimentellen Werbelinie freilich nur, weil es einerseits die Bereitschaft des Firmenleiters Hans Mayer-Rieckh gab, diese zu finanzieren und dem Werbeleiter Horst Gerhard Haberl freie Hand zu lassen. Andererseits bedurfte es der Kooperationsbereitschaft der Künstler*innen, die in Zeiten allgemeiner Skepsis und Aversion gegenüber Massenmedien, Konsumindustrie und Werbung keineswegs auf der Hand lag. Der gewährte Freiraum für ästhetische und konzeptionelle Experimente wurde von der Abteilung Zukunft schlussendlich dazu genutzt, einen ‚eigenen Kanal‘ innerhalb des Werbegeschehens zu etablieren, in dem sich zeitgenössische Kunst und Werbung auf Augenhöhe begegneten. In einer Zeit, in der sich die junge Generation in Werbe- und Konsumkritik übte, gelang damit eine konsequente Abgrenzung vom üblichen Werbegeschehen und ein Imagewandel vom verstaubten Traditionskonzern zum progressiv und modern erscheinenden Unternehmen. Die Geschichte der Entstehung der Humanic-Werbung und ihrer Skandalisierung veranschaulicht darüber hinaus, wie wenig das Publikum in den 1970er Jahren mit der Logik medialer Aufmerksamkeitsökonomie vertraut war. Für einen Großteil der Briefeschreiber*innen lag auf der Hand, dass die Werbung der Firma nur schaden könne. Dass die Humanic-Werbung, gerade weil sie Neues wagte und Tabus brach, erfolgreich sein wird, konnten sich damals nur wenige vorstellen. Haberl, die Abteilung Zukunft und die beteiligten Künstler*innen begingen dabei nicht nur durch die Ästhetik der Filme einen Tabubruch, sondern vor allem inso-
121 Malinowski, Sedlmaier, „1968“ als Katalysator (wie Anm. 26), S. 243.
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fern, als diese nun im Rahmen der Werbung zu sehen war. Anstatt in den dafür vorgesehenen Nischenprogrammen spätabendlicher Kulturmagazine, kam Avantgardekunst durch Humanic in die beste Sendezeit und erreichte damit die Masse der Zuseher*innen. Auf diese Art wurde nicht nur Aufmerksamkeit für die Firma generiert, auch die Avantgardekunst wurde zum Gesprächsthema der Österreicher*innen. Die Humanic-Werbung trug damit à la longue auch dazu bei, zeitgenössische Kunst in Österreich generell zu enttabuisieren. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die Entstehung der Humanic-Werbung Anfang der 1970er Jahre durchaus als zeittypisches Phänomen erachtet werden kann, die konsequente und langfristig angelegte Umsetzung jedoch beispiellos blieb. Über einen langen Zeitraum hinweg – insgesamt 26 Jahre – erfolgte die Kooperation zwischen Werbung und Kunst auf Augenhöhe.
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„Provokant und in keiner Weise tragbar“
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Gabriele Fröschl
Das Audiovisuelle im Archiv Der Begriff des Archivs erlebt in der Alltagssprache genauso wie im kulturwissenschaftlichen Diskurs in den letzten Jahren eine Konjunktur. Er wird für viele ganz unterschiedliche Bereiche verwendet: für private Ansammlungen von Schriftstücken und Gegenständen genauso wie etwa für ältere, nicht mehr ganz aktuelle Bereiche von IT-Systemen oder Webseiten; für die Institution des Archivs genauso wie für theoretische und methodologische Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis, die sich weit vom konkreten Ort des Archivs entfernen. Der Begriff des Archivs ist schillernd und breit – und für manche Archivar*innen zu breit gesteckt, weil damit auch eine gewisse Beliebigkeit einhergeht. Der folgende Beitrag beleuchtet das Archiv, konkret das audiovisuelle Archiv als kulturbewahrende Institution: Die Praktiken des Sammelns und Nicht-Sammelns, die Transformation von Archivmaterialien ins Digitale und die damit einhergehenden Herausforderungen einer dauerhaften Bewahrung sowie Aspekte der Veröffentlichungspraxis im Spannungsfeld zwischen rechtlichen und ethischen Parametern. Archive schaffen mit ihrer Sammlungs- und Bewahrungsstrategie eine der Grundlagen für historische und kulturwissenschaftliche Forschungen. Die Tatsache, dass bestimmte Quellentypen in der Forschung unterrepräsentiert sind – wie gerade audiovisuelle Quellen –, ist nicht nur, aber auch der Archivsituation und der daraus resultierenden Forschungspraxis geschuldet.
(Audiovisuelle) Archive – Entstehung und Geschichte „Wenn wir wissen wollen, was das Archiv bedeutet haben wird, so werden wir es nur in zukünftigen Zeiten wissen. Vielleicht. Nicht morgen, sondern in zukünftigen Zeiten, sogleich oder vielleicht niemals. Eine gespenstische Messianizität beeinflusst den Begriff Archiv und bindet ihn, wie die Religion, wie die Geschichte, wie die Wissenschaft selbst, an eine ganz einzigartige Erfahrung des Versprechens.“1 Kulturbewahrende Institutionen wie Bibliotheken, Archive und Museen ermöglichen mit ihren Sammlungen wissenschaftliche Forschung. Das Selbstverständnis dieser kulturbewahrenden Institutionen ist, bei vielen Gemeinsamkeiten, doch unterschiedlich, was sich nicht nur anhand der Geschichte der Institutionstypen, son-
1 Derrida, Jaques: Dem Archiv verschrieben. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Hrsg. von Knut Ebeling u. Stephan Günzel. Berlin 2009. S. 44. https://doi.org/10.1515/9783110661965-008
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dern auch an der Genese ihrer Sammlungen, der Materialität ihrer Sammlungen, der Zusammensetzung ihrer Sammlungen sowie der Bereitstellung der Sammlung zeigt. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen audiovisuelle Archive, die eine Sonderform des Archivs darstellen. Der Begriff ‚Archiv‘ ist in seiner Verwendung vieldeutig und nicht auf den Institutionstypus allein beschränkt. Der Archivar und Medienhistoriker Edgar Lersch spricht in diesem Zusammenhang von einem „schillernden“ Begriff, der „mehrdeutig und rechtlich nicht geschützt“ sei.2 Im institutionellen Zusammenhang versteht man unter Archiv ursprünglich eine, einer (Verwaltungs-)Institution angegliederte Einrichtung, deren Sammlung durch die Abgabe von Schriftstücken definiert wird und die keine aktive Sammlung betreibt. Mittlerweile sammeln jedoch manche Archive auch aktiv, weil die „gesellschaftliche Lebenswelt“ nicht mehr in ausreichendem Maß dokumentiert wird, wenn der Fokus alleine auf amtlichem Schriftgut liegt,3 wenngleich der klassische Archivbegriff dem Sammeln bzw. der Entwicklung einer entsprechenden Strategie entgegensteht.4 Archive waren (und sind) nicht nur Speicherorte des Wissens, sondern auch Instrumente von Verwaltung und Herrschaft. Die dauerhafte Aufbewahrung von Schriftstücken diente ursprünglich dazu, Herrschaft zu legitimieren und Rechtsansprüche zu belegen. Archive waren zunächst keine zentralen Orte der Forschung – dieser Aspekt trat erst seit Ende des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund, zu dem sich im 19. Jahrhundert die Idee des Nationalarchives gesellte. Damit einher ging das steigende Interesse der Geschichtswissenschaft an diesen Institutionen und auch die Archive selbst betrachteten sich zunehmend als wissenschaftliche Einrichtung, es entstand die Fachrichtung der Archivwissenschaft und die Ausbildung von wissenschaftlichen Archivar*innen. Es bildeten sich verschiedene Organisationsformen und Nutzungsrechte heraus, von Verwaltungsarchiven über Unternehmens- bis zu Kirchen-, Vereins-, Privat- – und Medienarchiven. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nehmen sich die Kulturwissenschaften vermehrt des Archivbegriffs an und es wird die Institution selbst zum Gegenstand der Forschung. Archive werden hier als ge-
2 Lersch, Edgar: What is the State of Art for Media Archivists? Grundsätze der AV-Medienarchivierung im Kontext allgemeiner archivwissenschaftlicher Erkenntnisse. In: Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen. Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte. Hrsg. von Sascha TrültzschWijnen, Allessandro Barberi u. Thomas Ballhausen. Köln 2016. S. 39. Zum kulturwissenschaftlich gewendeten Begriff des Archivs vgl. etwa den Band: Ebling, Knut u. Stephan Günzel (Hrsg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin 2009. 3 Vgl. Henzler, Juliane: Sammeln. In: Terminologie der Archivwissenschaft. https://www.archivschule.de/uploads/Forschung/ArchivwissenschaftlicheTerminologie/Terminologie.html, (18.10.2018). 4 Vgl. etwa Reimann, Norbert: Grundfragen und Organisation des Archivwesens. In: Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste. Hrsg. von Norbert Reimann. Münster 2004. S. 22.
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sellschaftliches Gedächtnis definiert sowie als Orte einer dauerhaften Reproduktion von Vergangenheit. Wie passen nun audiovisuelle Archive in diese Entwicklung und Definitionen? Audiovisuelle Archive, also Archive, die Töne und Bewegtbild sammeln, sind schon wegen ihres Sammlungsgegenstandes eine junge Erscheinung. 1877 wurde der erste so genannte Phonograph hergestellt (Patent 1878), sein Erfinder war der Amerikaner Thomas Alva Edison (1847–1931). Damit begann die Geschichte der Tonaufzeichnung und rund zwanzig Jahre später, 1899, begann mit der Gründung des weltweit ältesten Schallarchivs, dem Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die Geschichte der audiovisuellen Archive. Die Sammlung von Tonaufnahmen stand am Beginn, Filmarchive folgten dann in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts und entstehen vielfach aus privaten Vereinigungen im Nahebereich der Filmindustrie. Audiovisuelle Archive basieren auf der Möglichkeit der Wiedergabe ihrer Sammlung mit der entsprechenden technischen Ausstattung und Expertise. Dies ist eine der wesentlichen Eigenschaften des audiovisuellen Archivs, dass die Zugänglichkeit zu den Inhalten der Archivstücke nur über das Vorhandensein einer entsprechenden technischen Ausstattung zur Wiedergabe möglich ist – ohne diese ist der Inhalt nicht reproduzierbar und somit unzugänglich. „Medienarchive sind [also] Orte, an denen das Wechselverhältnis von Medialität und Historizität durch die Materialität der Archivalien in besonderer Weise deutlich und auch immer wieder problematisiert wird.“5 Mit ihren technischen Voraussetzungen sind audiovisuelle Archive aber auch in der Lage, Sammlungsgut selbst zu erzeugen und so die Bestände nach (selbst) gewählten Vorgaben zu erweitern und zu ergänzen. Dieses Charakteristikum stand schon ganz am Anfang der Geschichte audiovisueller Archive, hatte sich doch schon das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften von Beginn an nicht nur mit der Archivierung, sondern auch mit der Herstellung von Tonaufnahmen für die Wissenschaft befasst.6 Dass audiovisuelle Archive Medien nicht nur sammeln, sondern diese auch selbst herstellen, ist eine typologische Besonderheit von audiovisuellen Archiven – denn weder Bibliotheken, noch klassische Archive, die Schriftgut bewahren, oder Museen produzieren Teile ihrer Sammlungen selbst. Das Herstellen von Sammlungsgut umfasst heute das aktive Produzieren von Quellen7 genauso wie Mitschnitte von Radio- und Fernsehproduktionen. Bei der
5 Trültzsch-Wijnen, Sascha, Allessandro Barberi u. Thomas Ballhausen: Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen – Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte: Einleitende Bemerkungen. In: Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen. Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte. Hrsg. von Sascha Trültzsch-Wijnen, Allessandro Barberi u. Thomas Ballhausen. Köln 2016. S. 9. 6 https://www.oeaw.ac.at/phonogrammarchiv/phonogrammarchiv/geschichte-des-pha,(3.12.2018). 7 Siehe als Beispiel das Projekt „MenschenLeben“ der Österreichischen Mediathek: https://www. mediathek.at/forschen-und-lernen/aktuelle-projekte/menschenleben (14.11.2018).
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Herstellung von Quellen muss hervorgehoben werden, dass es methodisch ein großer Unterschied ist, aus dem Vorhandenen das auszuwählen, was in die eigene Sammlung kommen soll (passive Quellensammlung), oder selbst aktiv Quellen herzustellen, indem bestimmte Abläufe audiovisuell festgehalten werden. Generell kann für audiovisuelle Archive festgestellt werden, dass das Sammelgebiet durch das Sammlungsprofil ebenso strukturiert wird, wie durch technische Voraussetzungen und die Produktionsbedingungen unter denen das Medium entstanden ist. Hier ist vor allem die Unterscheidung zwischen publizierten audiovisuellen Medien, die zugleich vervielfältigt sind, und nicht-publizierten audiovisuellen Medien, die oft als Unikate vorliegen, relevant. Beide Erscheinungsformen werden in den meisten audiovisuellen Archiven parallel gesammelt, was insofern von Bedeutung ist, als bei Schrift- und Druckwerken dafür zwei unterschiedliche kulturbewahrende Institutionen zuständig sind: Bibliotheken und Archive.
Audiovisuelle Archive im Spannungsfeld zwischen analog und digital Ton- und Videoaufnahmen ist die Tatsache gemein, dass sie auf Trägern gespeicherte Aufzeichnungen sind – sowohl im analogen als auch im digitalen Bereich. Mit der Digitalisierung verlassen audiovisuelle Archive nicht die Welt der analogen Träger – sie wechseln nur zu anderen Trägerformaten, denn auch die virtuelle Sphäre kann, anders als häufig durch Metaphern wie ‚Cloud‘ suggeriert wird, nicht ohne analoge Träger (Speichersysteme bzw. Serverfarmen) bestehen, die einem raschen technologischen Wandel unterworfen sind. Im audiovisuellen Archiv war die Verbindung zwischen Aufnahme und Träger über größere Zeiträume hinweg – vor allem im Bereich publizierter Aufnahmen – schon immer relativ lose. Aufnahmen, die zu ihrer Entstehungszeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa auf Wachswalzen vertrieben wurden, finden sich heute als Files in Archiven oder im Internet. Durch diese häufigen Trägerwechsel stellt sich die Frage nach dem ‚Original‘ in anderer Weise als etwa in einem musealen Kontext. Ist dieses File, das Digitalisat der Wachswalze ein Äquivalent zur historischen Aufnahme und kann man es als ‚Original‘ bezeichnen? Ja, in dem Sinne, als es das Wesen der Schallaufzeichnung8 im Laufe ihrer Geschichte war, die menschliche Stimme, Musik oder Geräusche festzuhalten und beliebig wiederzugeben. Das war ein entscheidender technologischer Schritt, der eine zusätzliche Dimension der Erinnerung an Vergangenheit und die dauernde Reproduzierbarkeit dieser Erinnerung ermöglicht hat. Das bedeutet, dass man die Aufnahme aber auch vom Träger lösen kann – etwa durch Digitalisierung – ohne das We-
8 Diese Aussagen treffen in ihrem Kern auch auf die Aufzeichnungen von Bewegtbild zu.
Das Audiovisuelle im Archiv
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sentliche, nämlich den Inhalt, zu verlieren. Die technischen Möglichkeiten der Aufnahme beziehungsweise die Verbreitung bestimmter technischer Möglichkeiten in der Gesellschaft haben jedoch Einfluss auf den Inhalt und damit auf die Sammlung im Archiv genommen. Die jeweiligen Rahmenbedingungen zur Zeit der Aufnahme werden auch ins Digitale mitgenommen und wir können sie noch heute hören und sehen. So ermöglichten etwa frühe Tonaufzeichnungen auf Schellackplatten, die von 1887 bis etwa Mitte der 1950er Jahre produziert wurden, nur die Aufnahme eines begrenzten Klangbereichs und das charakteristische ‚Knistern‘ beim Abspielen mit der Nadel ist auch in digitaler Form hörbar. Dazu kommt die relativ kurze Spieldauer von drei bis fünf Minuten auf jeder Plattenseite. Dieses vom Träger vorgegebene Limit hatte nicht nur inhaltliche Auswirkungen auf das Repertoire, das aufgenommen wurde, es beeinflusste auch seine Form. Die Unterhaltungsmusik, die mit den Möglichkeiten der Massenmedien neue Märkte und neues Publikum fand, passte sich in der Spieldauer an die technischen Möglichkeiten der Tonaufzeichnung an – und auch im Bereich der klassischen Musik waren es jene Arien, die den technischen Gegebenheiten entsprochen haben, die zum bis heute andauernden Ruhm eines Enrico Caruso geführt haben. Ein anderes Beispiel, an dem ersichtlich ist, dass die Aufnahme vom Träger gelöst werden kann, die Gegebenheiten des ursprünglichen Trägers aber charakteristisch für die Aufnahme bleiben, sind die – viele Jahrzehnte später entstandenen – Amateurvideos. Private filmische Dokumentationen waren seit der stärkeren Verbreitung von Schmalfilmkameras ab den 1930er Jahren möglich. Diese Filme haben eine relativ kurze Spieldauer, einerseits aus technischen Gründen, aber vor allem, weil das Material teuer war und man daher in der Regel sparsam damit umging. Zudem war es technisch nicht möglich Bild und Ton gleichzeitig aufzunehmen. Das Aufkommen von handlichen und tragbaren Videokameras ermöglichte ab den 1980er Jahren die Herstellung längerer Filme inklusive Ton. Die technische Voraussetzung lässt eine andere Dimension der Erinnerung zu und ändert die Narrative des Gefilmten.9 Diese Beispiele verdeutlichen, dass es möglich ist, ohne entscheidenden Verlust den Inhalt vom Träger zu lösen. Sie zeigen aber auch, dass für die Beurteilung der Umstände der Entstehung sowie für Form und Inhalt der Aufnahme es notwendig ist, die Information über den ursprünglichen Träger im Laufe der Migrationsprozesse zu erhalten. Nicht nur bei analogen Trägern, sondern auch bei digitalen Formaten, lässt sich diese Verbindung zwischen technischen und inhaltlichen Möglichkeiten beobachten. Die Chancen rasch und billig digitale Ton- und Videoaufzeichnungen herzustellen veränderte und prägte sowohl den professionellen als auch den privaten Bereich. Die Anzahl an Dokumenten steigt aktuell rapide an. Stand früher bei den
9 Ganz typisch für diese privaten Videoaufnahmen ist, dass nicht nur das Ereignis selbst gefilmt wurde, sondern auch – und das z. T. sehr ausführlich – das Umfeld. Dadurch ergibt sich auch eine spannende Vermengung von Inszenierung und Dokumentation.
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Hersteller*innen dieser Dokumente der Aspekt des Festhaltens auf Dauer im Vordergrund, so kommt jetzt der Aspekt der Kommunikation hinzu. Nicht jedes Handyvideo, nicht jeder Clip auf YouTube, Facebook oder Instagram ist von den Produzent*innen für eine Bewahrung auf Dauer gedacht, vielmehr dienen sie zu einem guten Teil zur Kommunikation innerhalb familiärer sowie anderer sozialer Gruppen. Gleichzeitig sind sie zweifellos auch zeittypische Dokumente, die es wert sind, in Auswahl bewahrt zu werden, um künftigen Generationen anschauliche Einblicke in soziale Phänomene gewähren zu können. Für Archive stellen zurzeit einerseits die Vielfalt an Dateiformaten, die nur zum Teil für dauerhafte Bewahrung geeignet sind, und andererseits die Menge an Dokumenten, die entsteht, Herausforderungen sowohl für die Sammlungspolitik als auch für die Langzeitarchivierung dar. Vor allem im Videobereich entstehen große Datenmengen – hier werden die Archive Strategien entwickeln müssen, die es erlauben, repräsentative und qualitativ hochwertige Videobestände für die Nachwelt zu erhalten.
Transformation ins Digitale Für audiovisuelle Archive ist die Digitalisierung der Bestände die einzige Form um die analoge Sammlung – d. h. die Aufzeichnungen – langfristig erhalten zu können. Dies zieht nach sich, dass eine langsame Transformation von einem analogen Archiv in ein digitales Archiv stattfindet, auch wenn die digitalisierten analogen Träger in wissenschaftlichen Archiven noch Teil der Sammlung bleiben. Durch den Zusammenhang zwischen Aufnahme und Aufnahmetechnik vollziehen audiovisuelle Archive allgemeine technische Änderungen zwangsläufig rasch – rascher als viele andere kulturbewahrende Institutionen wie (Papier)Archive, Bibliotheken oder Museen. Bei der Sammlungstätigkeit begegnet man – und das wird sich in den nächsten Jahren nicht ändern – beiden Varianten: Einerseits der Übernahme analoger Sammlungen, die derzeit noch überwiegen, auch, weil sowohl bei Institutionen als auch Privatpersonen oft mittlerweile die zur Benützung notwendigen Abspielgeräte fehlen und andererseits der Übernahme schon digitaler Sammlungen. Für die Aufgabe des Sammelns – eine zentrale Aufgabe von Medienarchiven – tun sich in der Praxis Unterschiede zwischen diesen beiden Arten der Sammlungsübernahmen auf. Neben inhaltlichen Aspekten, die am Beginn jedes Entscheidungsprozesses stehen und im Vordergrund sind, stellen sich bei analogen Sammlungen zusätzlich Fragen nach dem Erhaltungszustand sowie nach den technischen Möglichkeiten zur Digitalisierung und damit zur Bewahrung. Dazu kommt, dass analoge Sammlungen einen hohen Aufwand an Evaluierung benötigen, um die Inhalte erfassen zu können, da viele Sammlungen oft unzureichend beschriftet oder dokumentiert sind. Um Inhalte tatsächlich erfassen zu können, müssen sie abgespielt bzw. digitalisiert werden. Bei der Übergabe von digitalen Sammlungsbeständen stellt sich, neben der inhaltlichen, vor allem die Frage nach dem Dateiformat. Nicht alle Dateiformate sind für
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eine digitale Langzeitarchivierung geeignet, vor allem dann, wenn es sich um nicht offen gelegte oder um komprimierte und damit dateireduzierte Formate handelt. Hier wird es notwendig sein, im Sinne einer dauerhaften Archivierung, Migrationen in dafür geeignete Formate durchzuführen. Weiters sollte bei den Produzent*innen Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass diese von Beginn an für die Archivierung geeignete Dateiformate wählen.
Digitalisierung: audiovisuelle Quellen und Erhaltungszustand Wie fragil audiovisuelle Medien sind, ist auch außerhalb der Archivwelt nachvollziehbar. Selbst gebrannte CDs, die nicht mehr spielen, Videomitschnitte auf VHSKassetten, für die kein Videorekorder mehr verfügbar ist – das ist eine Erfahrung, die private Sammler*innen mit Archiven teilen – würden diese nicht mittels Digitalisierung Vorsorge treffen. Denn auch unter optimalen Lagerbedingungen in klimatisierten Lagerräumen verfügen audiovisuelle Medien selbst in Archiven und Bibliotheken nur über eine begrenzte Haltbarkeit. Dazu kommt, dass nicht nur die Medien, sondern auch die Abspielgeräte einem beständigen technologischen Wandel unterworfen und viele dieser Geräte bereits jetzt nicht mehr im Handel erhältlich sind bzw. die große Vielzahl an (analogen) Formaten mit ihren Abspielgeräten es praktisch unmöglich macht, dass Archive diese Fülle an funktionierenden Abspielgeräten auf lange Dauer verfügbar halten können. „Seit wir nicht mehr nur schriftliche Quellen aufbewahren, spricht man vom ‚Schwelbrand in den Archiven‘. Gemeint ist damit die Uhr; die förmlich im Material selbst tickt. Die Zeit ist in die Archive eingewandert, die Archive sind nicht mehr Orte, an denen man der Zeit entrinnt.“10 Die einzige Chance, der Zeit zu entrinnen und die Inhalte analoger audiovisueller Datenträger dauerhaft zu bewahren, besteht in der Digitalisierung des Materials. Ziel der Digitalisierung ist die Erstellung einer digitalen Kopie, die dem Original möglichst gleicht und dieses auf lange Sicht zwangsläufig ersetzen kann bzw. muss. Das bedeutet, dass in den Digitalisierungsprozess möglichst nicht bzw. nur so wenig wie nötig eingegriffen wird, d. h. für die Digitalisierung eine Wiedergabe unter bestmöglichen Bedingungen Voraussetzung ist. Falls für eine weitere Verwendung (Produktionen, Ausstellungen) Nachbearbeitungen nötig sind, etwa für Ausstellungen, werden diese ausschließlich im Nachhinein an der digitalen Kopie vorgenommen und das digitale Original wird nicht verändert.
10 Assmann, Alaida: Tontafeln halten länger. In: Kultur digital: Begriffe, Hintergründe, Beispiele. Hrsg. von Hedy Graber, Dominik Landwehr, Veronika Sellier. Basel 2011. S. 77.
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Welche Bestände zu welcher Zeit in den Digitalisierungsworkflow eingebracht werden, ist von mehreren Parametern abhängig, die, je nach Archiv, unterschiedlich gewichtet werden. Die grundlegenden Prinzipien sind: – Welches sind die Dokumente mit dem höchsten Quellenwert? – Welche Dokumente sind besonders gefährdet? – Welche Dokumente werden von der aktuellen Benützung besonders nachgefragt? – Welche Dokumente lassen sich online zur Verfügung stellen (Rechte)? Daraus werden dann, abhängig von den finanziell-organisatorischen Möglichkeiten der jeweiligen Institution sowie der Gewichtung der einzelnen Parameter die konkreten Digitalisierungspläne entwickelt. Für die Digitalisierung in Archiven gibt es unterschiedliche Möglichkeiten den Workflow bzw. die Workflows aufzusetzen, abhängig von der Wahl der technischen Ausstattung der Digitalisierungsstationen bzw. der Einbindung der Digitalisierung in das Gesamtsystem der Institution (Katalogdatenbank, Langzeitarchivierungssystem, Webumsetzung bzw. Zugänglichkeit). Im Folgenden wird erörtert, welche der Schritte für das Funktionieren eines, nach international gültigen Richtlinien11 funktionierendes System, als unabdingbar zu erachten sind.
Ablauf der Digitalisierung 1 Inhaltliche Metadaten: Unabhängig von einer Tiefenerschließung des Materials müssen vor der Digitalisierung Metadaten erhoben werden, die das Material basishaft beschreiben. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil, vor allem in Archiven, nicht nur gut erschlossene Medien digitalisiert werden, sondern auch Bestände, die aufgrund ihrer Materialbeschaffenheit möglichst bald in ein digitales Format gewandelt werden müssen, um deren Erhalt zu sichern. Für eine spätere Zuordnung zu einer Sammlung bzw. inhaltliche Erschließung und Kontextualisierung ist der Abruf von Basismetadaten von Bedeutung. Die zweite wesentliche Information ist der Dateiname, der eine Konkordanz zum analogen Original aufweisen muss, um auch hier die Möglichkeit späterer Zuordnungen sicherzustellen, denn die Signatur dient nicht nur zum Auffinden des physischen Trägers im Analogarchiv, sondern auch als ‚Unique Identifier des Digitalisats‘ auf dem digitalen Massenspeicher.
11 Richtlinien finden sich bei der International Association of Sound and Audiovisual Archives (IASA): https://www.iasa-web.org/technical-guidelines (16.11.2018).
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2 Reinigung bzw. Restaurierung der Träger: Um eine qualitativ hochwertige Digitalisierung zu erzielen, ist es notwendig, dass das analoge Material in einem Zustand vorliegt, der diese auch ermöglicht. Ein erster Arbeitsschritt ist somit die Reinigung des Materials, denn sonst könnten sich Ablagerungen im Laufe eines Digitalisierungsvorganges auf dem Lesekopf absetzen und zu massiven Ausfällen bei Bild- und Toninhalten führen. Weitere Arbeitsschritte liegen im Bereich der Restaurierung des analogen Ausgangsmaterials. Dies betrifft gerissene Magnetbänder, sich lösende Klebestellen von Tonbändern, Rostbefall am Bandträger (Bobby, Wickelkern), Schimmelbefall oder Tonbänder, die durch Hydrolyse-Prozesse verklebt und daher nicht abspielbar sind – um hier die häufigsten zu nennen. Alle Arbeitsschritte zur Reinigung, Restaurierung und Konservierung führen nicht nur zu besseren digitalen Kopien, sondern schonen auch die Abspielgeräte, was bei der begrenzten Verfügbarkeit nicht unwesentlich ist.
3 Optimierung der Abspielgeräte: Um eine optimale Abspielsituation zu erreichen, ist es notwendig, die Abspielgeräte regelmäßig zu warten (z. B. Einmessen der Geräte, Ersatz von Verschleißteilen wie etwa Tonköpfen usw.) bzw. zu reinigen. Hier gilt: Sämtliche Ersatzteile sind derselben Obsoleszenz unterworfen wie die Abspielgeräte selbst – dazu kommt, dass das Wissen über die Wartung und Reparatur der Geräte zurückgeht und optimaler Weise in den Archiven selbst vorhanden sein sollte.
4 Technische Metadaten zum Format des Ausgangsmaterials und zum Digitalisierungsprozess: Um auch künftig eine umfassende Kontextualisierung der Aufnahme zu ermöglichen, ist es unumgänglich, Metadaten des analogen Trägers zu erheben. Für die Beurteilung der Quelle ist das Ursprungsmedium des Digitalisats von Bedeutung, denn der analoge Träger gibt durch seine technische Beschaffenheit Rahmenbedingungen vor, die auch Einfluss auf den Inhalt haben. Diese technischen Metadaten zum Träger (Format, Hersteller, Spieldauer, Abspielgeschwindigkeit bei Magnettonbändern, Zustand des Ausgangsmaterials usw.) und zum Digitalisierungsvorgang (Abspielgerät, Analog-Digital-Wandler, Einstellungen des Analog-Digital-Wandlers, Workstation, Software) sind Teil der Archivquelle, werden mit dieser abgespeichert und ebenso wie das Digitalisat langzeitgesichert.
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5 Digitalisierungsvorgang: Der eigentliche Digitalisierungsvorgang, also der Wandel des analogen in ein digitales Signal, findet mittels Digitalisierungshardware (Analog-Digital-Wandler) sowie Digitalisierungssoftware statt. Ziel der Digitalisierung ist die Erstellung eines für die Langzeitarchivierung geeigneten ‚Archivmasters‘. Im Archivkontext bezeichnet der ‚Archivmaster‘ jenes File, dessen dauerhafte Erhaltung im Rahmen einer digitalen Langzeitarchivierung sichergestellt werden soll. Dementsprechend kommt der Formatwahl für einen Archivmaster ganz besondere Bedeutung zu. Für die digitale Langzeitarchivierung von Tonaufnahmen gibt es im Bereich der wissenschaftlichen audiovisuellen Archive klar definierte Richtlinien12: Archivmaster: Broadcast Wave (Auflösung: 96 kHz/24 Bit); Sichtungskopie: MP3 (Bitrate: 128 kbit/s). Im Gegensatz zum Audiobereich gibt es für die digitale Langzeitarchivierung von Video noch keine in dieser Form definierten Richtlinien. Nur wenige Formate (Codecs, Container) erfüllen die Anforderungen für eine digitale Langzeitsicherung. Unter den möglichen Optionen hat sich derzeit vor allem FFV113 aus vielerlei Gründen als ideales Format zur archivischen Langzeitsicherung herausgestellt: verlustfreie Kompression durch eine Datenreduktion um Faktor 2–3 (ein nicht unwesentliches Argument bezüglich der anfallenden Kosten für den Langzeitspeicher), offenes Format (open source), weite Verbreitung und große Auswahl an Applikationen. Eine Empfehlung zur Langzeitarchivierung von Videodaten kann deshalb lauten: Archivmaster: Video Codec: FFV1, Audio Codec: PCM, unkomprimiert, Container: AVI; Sichtungskopie: MPEG-2. Neben der eigentlichen Digitalisierung, also der Herstellung des Archivmasters, laufen zusätzliche Prozesse ab, die für eine künftige Arbeit mit dem Archivmaterial notwendig sind: Zu diesen automatischen Prozessen zählen die Erstellung einer Ansichtskopie oder die Erstellung von Prüfsummen (z. B. MD5), die mit dem Archivmaster abgelegt werden und als Nachweis dienen, dass die Datei (der Archivmaster) im Laufe ihrer Lebensdauer nicht verändert wurde. Verändert sich die Datei (oder verändert man die Datei) ändert sich auch die Prüfsumme. Der Vergleich einer neu erstellten Prüfsumme mit der originalen ist eine wesentliche Möglichkeit des Nachweises der Authentizität der Quelle ab dem Zeitpunkt der Erstellung des Archivmasters. Im Archivkontext geht es hier weniger um den Nachweis einer bewussten inhaltlichen Manipulation an der Quelle (dies ist für künftige Benutzer*innen von Interesse), sondern um die regelmäßige Kontrolle des Funktionierens der Langzeitsicherung.
12 Siehe: IASA-TC 03: https://www.iasa-web.org/iasa-special-and-technical-publications (16.11.2018). 13 Siehe: Jaks, Marion: FFV1 an der Österreichischen Mediathek. Fragen & Antworten. https://www. mediathek.at/digitalisierung/ffv1-an-der-mediathek-dt (28.6.2019).
Das Audiovisuelle im Archiv
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6 Qualitätskontrolle: Am Ende des Digitalisierungsprozesses steht die Qualitätskontrolle. Hierbei werden die Digitalisate anhand von Analysegraphen kontrolliert. Ziel ist es, eventuelle Fehler im Digitalisierungsprozess aufzudecken um sicherstellen zu können, dass das Digitalisat dem Original weitestgehend entspricht. Im Falle einer fehlerhaften Digitalisierung wird der Digitalisierungsprozess wiederholt bzw. im Falle unüberwindbarer technischer Probleme werden diese dokumentiert und die Dokumentation mit dem Digitalisat abgespeichert.
7 Langzeitsicherung (Digital Long-term Preservation): Das gesamte digitalisierte Material wird, gemeinsam mit den technischen Metadaten am Ende des Digitalisierungsprozesses auf einem Massenspeichersystem (Festplattenspeicher bzw. RAID-System und/oder Magnetbandkassetten bzw. Tape Library) langzeitgesichert, wobei die gespeicherten Daten in mehreren (idealerweise 3) redundanten Datenpools archiviert werden. Wie diese technischen und ökonomischen Parameter die Sammlungspolitik von Institutionen beeinflussen, wird später im Text noch weiter erörtert. Der oben beschriebene Workflow ist darauf ausgelegt, dass neue Originale entstehen. Nicht jede Sammlungsstrategie ist auf Langzeitarchivierung ausgelegt: Für bestimmte Bestände bzw. Forschungsergebnisse ist es oft nur das Ziel, diese durch Digitalisierung zeitweise besser zugänglich zu machen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass man sich dieser wesentlichen Unterschiede und der damit verbundenen Strategien und Ergebnisse sowohl in einem Forschungs- als auch in einem Archivkontext bewusst ist. Im Bibliothekswesen z. B. gibt es eine übliche Differenzierung in Sammlungsgut für die Benützung nur im Hier und Jetzt (wie in normalen Bibliotheken) und einer Benützung auch durch künftige Generationen (wie in ‚Archivbibliotheken‘, wie z. B. die Österreichische Nationalbibliothek). Generell könnte man diese Differenzierung auch bei audiovisuellen Beständen treffen, bzw. wird diese schon getroffen – vor allem aus finanziellen Überlegungen, denn der Unterschied zwischen ‚für bestimmte Zeit‘ und ‚auf Dauer‘ ist, in einem Bereich, der (vor allem bei kleinen Archiven) über begrenzte Mittel verfügt, äußerst relevant. Digitalisierung und digitale Langzeitarchivierung erfordern einen hohen Kapitaleinsatz, der konventionelle Bestandspflege bei weitem übersteigt. Was heißt ‚nur auf bestimmte Dauer‘ konkret für eine bestimmte Aufnahme? In der Regel ist damit gemeint, dass der analoge Träger benützt wird solange dies technisch möglich ist und danach keine Überspielung
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(Digitalisierung) mehr vorgenommen wird.14 Eine Ausscheidung aus dem Sammlungsbestand ist damit nicht verbunden, denn auch ‚tote‘ Träger können – gerade bei publiziertem Material – wichtige Informationsträger bleiben (Label, Cover etc.). ‚Tote‘ Träger haben ihren audiovisuellen Kern verloren, sind aber immer noch museale (Rest-)Objekte. Der langfristige Umgang mit dem analogen Träger ist in vielen Archiven noch ungeklärt, vor allem, was jene analogen Träger betrifft, deren Inhalte schon digitalisiert wurden. Für viele wissenschaftliche Archive gilt, dass die analogen Träger weiterhin unter bestmöglichen Bedingungen aufbewahrt werden, um gegebenenfalls in Zukunft auf das Ausgangsmedium zurückgreifen zu können, vor allem dann, wenn dem analogen Träger ein zumindest musealer Wert beigemessen wird. In audiovisuellen Archiven, die einen stärkeren kommerziellen Hintergrund haben, wie etwa Rundfunk- und Fernseharchive, zeigt sich eine Tendenz zur Entsorgung der analogen Träger und der vollständigen Wandlung in ein rein digitales Archiv.15 Dieser Wandel von einem analogen zu einem digitalen Archiv ist eine Entwicklung, die sich, unabhängig von der Strategie des einzelnen Archivs, früher oder später vollziehen wird. Dies allein deshalb, weil auch die Produktionsprozesse mittlerweile rein digital ablaufen und Archive diese Praxis abbilden (müssen). Damit wird – in noch ferner Zukunft – die Bedeutung der Digitalisierung, also der Wandel von analogen Trägern in digitale Quellen für Archive sinken. Die Bedeutung der Formate bzw. des Formatwandels digitaler Sammlungen wird somit steigen, da künftige Zugänge ins Archiv zu einem großen Teil Born-Digital-Materialien sein werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass mit künftigen Übergaben digitaler Träger und dem Wegfall der oben beschriebenen Arbeitsschritte der Weg einer Aufnahme in den Langzeitspeicher wesentlich einfacher und rascher möglich sein wird. Dateiformate, vor allem im Videobereich, bedürfen oftmals einer digitalen Migration, um zu gewährleisten, dass die Datei mit allen ihren Bild- und Toninhalten und ihren Metadaten künftig noch lesbar ist. Vom digitalen Original zur ‚Archivkopie‘ ist genauso ein spezieller Workflow notwendig, wie er jetzt für Digitalisierungen in Archiven schon etabliert ist, denn digital heißt nicht automatisch langzeitgesichert.16 Mit dem Formatwandel in ein langzeitarchivierungsgeeignetes Format17 ist eine genaue
14 ‚Auf bestimmte Dauer‘ kann auch heißen, dass das Ergebnis des Digitalisierungsprozesses ein platzsparendes, weil dateireduziertes und damit in der Speicherung günstigeres Format ist, das für die Langzeitarchivierung aufgrund des laufenden Datenverlustes bei Migrationen nicht geeignet ist. 15 So werden etwa die analogen Originale des Hörfunkarchivs des Österreichischen Rundfunks (ORF) nach der Digitalisierung der Österreichischen Mediathek angeboten, die Teilbestände übernimmt. Der ORF archiviert nur mehr das Digitalisat. 16 Eine Übersicht über für die Langzeitarchivierung geeignete Videoformate ‚Whitelist‘: http:// download.das-werkstatt.com/pb/mthk/info/video/video_byproduct.html (16.11.2018). 17 Nicht langzeitarchivierungsgeeignet bedeutet – vor allem bei Videoformaten – nicht nur, dass eine Aufnahme in einer schlechten Qualität gesichert ist (was, wenn es nur darum geht, einen Ein-
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Kenntnis der möglichen Formate nötig. Das Fehlen dieser Kenntnisse ist eine der Ursachen, dass diese Formatwechsel nicht vollzogen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, was eine potenzielle Gefährdung der Datensicherheit bedeutet. Waren Archive bislang vor allem mit der Digitalisierung ihrer analogen Bestände beschäftigt, werden sie sich künftig zunehmend mit Formatmigrationen zur Langzeitarchivierung auseinandersetzen müssen. Alle oben aufgezeigten Punkte betreffen vordergründig vor allem IT-Systeme, definieren aber letztendlich auch den Inhalt von Archiven und das, was archiviert wird. Vor allem im Bereich von Medienarchiven greifen inhaltliche und technische Entscheidungen stark ineinander und bestimmen was gesammelt und wie es bewahrt wird. Wenn in Archiven Mitarbeiter*innen mit einer kulturhistorischen Ausbildung jene Quellen auswählen und sichern, die für die historischen Geisteswissenschaften die Basis ihrer derzeitigen und zukünftigen Arbeit sind, dann tun sie das in einem Medienarchiv nicht nur aber auch anhand von Entscheidungskriterien, die in der Medialität der Quellen und damit in ihren technischen Eigenschaften liegen. Dazu bedarf es einerseits zumindest Basiskenntnissen über die technischen Risken und Möglichkeiten auch bei jenen Mitarbeiter*innen, die aus dem Bereich der Geisteswissenschaften kommen (nicht zuletzt deshalb, weil sie oft die Entscheidungsträger in Gedächtnisinstitutionen sind) und andererseits einer engen Zusammenarbeit zwischen jenen, die inhaltlich arbeiten und jenen, die die technischen Systeme in diesen Gedächtnisinstitutionen betreuen. Zuletzt bedarf es aber auch bei den Mitarbeiter*innen, die wissenschaftlich mit diesen Quellen arbeiten, einer gewissen Einsicht in diese Vorgänge im Archiv, denn nur so kann die Quelle selbst bewertet bzw. können die Zusammensetzung von Archivbeständen und die Lücken im Archiv verstanden werden.
Sammeln und Nicht-Sammeln Der Begriff ‚Entsammeln‘ erweckt den Eindruck, als würde ein Archiv das Gegenteil dessen machen, wofür es steht – nämlich sammeln. Selektion gehört jedoch zu den Grundaufgaben aller kulturbewahrenden Institutionen. Das alles sammelnde Archiv, das ohne inhaltliche Einschränkungen und Überlegungen hortet und aufbewahrt, ist weniger eine Utopie als eine Dystopie – denn ohne Selektion würden wir nicht nur von einer Überfülle der Archivalien erdrückt werden, es würde letztendlich auch alles als gleichwertig klassifiziert werden. Um dem entgegenzuwirken ist
druck vom Inhalt zu bekommen, unter Umständen akzeptabel ist), sondern kann auch bedeuten, dass es z. B. stellenweise zu vollständigen und unwiederbringlichen Bild- und Tonausfällen kommen kann, also die Quelle nicht vollständig erhalten ist.
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es Aufgabe der Archivar*innen, Selektionskriterien und eine Sammlungsstrategie zu entwickeln. Der Begriff des ‚Entsammelns‘ kann um den Begriff des ‚Nicht-Sammelns‘ erweitert werden und hat unterschiedliche Dimensionen: In Österreich existiert im Bereich audiovisueller Medien kein so genanntes ‚Pflichtstückgesetz‘, das die Grundlage schaffen würde, dass die österreichische Produktion mit einem Anspruch auf Vollständigkeit gesammelt werden kann.18 Die Sammlungen der audiovisuellen Archive setzen sich deshalb zuallererst aus Schenkungen und Ankäufen zusammen, was bedeutet, dass der erste Selektionsschritt bei der Aufnahme – oder Nicht-Aufnahme – ins Archiv stattfindet. Vor diesem Selektionsschritt steht jedoch schon jener der Schenker*innen, die entscheiden, was sie dem Archiv überlassen und davor was sie überhaupt aufbewahren. Mit der Aufnahme ins Archiv wird den Archivalien dann eine Perspektive auf lange Dauer eröffnet. Dieses Bewahren über Jahrzehnte und Jahrhunderte hat bei audiovisuellen Medien durch die Obsoleszenz der Träger und Abspielgeräte eine spezielle Komponente, d. h. es kann, wie oben ausgeführt, nur die Aufnahme dauerhaft erhalten werden, nicht ein funktionsfähiger Träger oder ein funktionstüchtiges Abspielgerät. Werden analoge Medien nicht rechtzeitig digitalisiert, droht der Verlust des Inhalts. Ohne lesbaren Inhalt werden diese analogen Medien zu ‚totem‘ Archivgut und zu musealen Trägern mit keinerlei Funktion und somit eine Art von Restbestand im Archiv. Es findet somit ein ungeplantes ‚Entsammeln‘ in einem Bereich statt, in dem zuvor schon einmal eine bewusste Entscheidung für das Sammeln gefallen ist. Digitalisierung ist im audiovisuellen Archiv also nicht nur ein Thema der Technik, der Workflows und der Dateiformate, sondern auch ein wesentliches inhaltliches Thema. In allen großen audiovisuellen Archiven ist davon auszugehen, dass es nicht immer gelingen wird, alle Bestände vollständig zu digitalisieren. Das kann unterschiedliche Gründe haben, etwa, weil die schon im Archiv befindlichen Bestände zu umfassend sind, um alles – in einem zum Teil sehr schmalen Zeitfenster – mit den Mitteln, die zur Verfügung stehen, zu digitalisieren. In vielen Archiven werden auch gerade jetzt noch laufend weitere analoge Bestände übergeben, in der Hoffnung, dass sie durch Digitalisierung erhalten werden können. Die Kapazitäten der Digitalisierung können hier nicht immer mit diesem Zuwachs Schritt halten – und zuletzt ist die Frage nach dem System und der Nachhaltigkeit der digitalen Langzeitarchivierung entscheidend. Um ein ungeplantes und damit auch ungewolltes ‚Entsam-
18 Ohne gesetzliche Basis im Bereich der Pflichtabgabe, aber auf der gesetzlichen Grundlage der Museumsordnung für die Bundesmuseen erfüllt in Österreich die Österreichische Mediathek die Aufgabe eines audiovisuellen Nationalarchivs für Audio- und Videoaufnahmen (http://www.ris.bka.gv. at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Dokumentnummer=NOR40112068 (3.12.2018). Das Filmarchiv Austria verwahrt die Belegexemplare der österreichischen Filmproduktion https:// www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009500 (3.12.2018).
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meln‘ zu verhindern, müssen die Sammlungs- und die Digitalisierungsstrategie eng miteinander verschränkt werden. In diesem Zusammenhang muss der Bestand laufend (neu) evaluiert werden und sich die Digitalisierung anhand dieser Prioritäten orientieren, in Kombination mit den Aspekten der Haltbarkeit der Träger sowie der Verfügbarkeit der Abspielgeräte. Sammeln führt zu einem Zuwachs an analogen Sammlungsstücken, aber auch – bedingt durch die Digitalisierung – parallel zu einem Zuwachs im Bereich der digitalen Sammlung. Ausgehend davon, dass audiovisuelle Materialien, genauso wie die nötigen Abspielgeräte eine beschränkte Haltbarkeit haben, so trifft das noch viel mehr für digitale Sammlungen zu. Es ist keineswegs so, dass mit dem Schritt der Digitalisierung eine Transformation in ein stabileres Medium stattgefunden hat – im Gegenteil: Files und die dazugehörige Hardware haben einen wesentlich kürzeren Lebenszyklus als alle analogen Träger. Digitalisierung bedeutet somit den Wechsel von einem kurzlebigen zu einem noch kurzlebigeren Träger. Die Langlebigkeit im Bereich der Langzeitarchivierung ergibt sich nur durch beständige Migrationszyklen. Diese betreffen den permanenten Austausch der Speichermedien wie Festplatten oder Magnetbänder, der aufgrund der beschränkten Lebensdauer sowie der laufenden Weiterentwicklung im Bereich der Hardware notwendig ist, genauso, wie eventuelle Migrationen in andere Fileformate. Die Chance auf dauerhafte Archivierung ergibt sich durch diesen ununterbrochenen Migrationszyklus und genau darin liegt auch ein mögliches Risiko. Digitale Speicher benötigen eine dauerhafte technische Obsorge, eine regelmäßige Erneuerung sowie eine regelmäßige Erweiterung. Das bedeutet, dass mit dem stetigen Anwachsen der digitalen Sammlung nicht nur die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für die laufende Erweiterung zur Verfügung stehen müssen, sondern auch die regelmäßige Erneuerung des bestehenden Systems: je größer und je schneller wachsend diese Systeme sind, desto mehr kostet der laufende Betrieb. Wird dieser Zyklus der Erneuerung unterbrochen, droht ein weitgehend unkontrollierter Verlust der Daten. Digitale Sammlungen können nicht in einem Archivraum Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte überdauern, um dann als Entdeckungen wieder an das Licht der Öffentlichkeit zu kommen. Der einmal beschrittene Weg der Digitalisierung und digitalen Langzeitarchivierung ist in dem Sinn unumkehrbar, sodass selbst bei der Einstellung sämtlicher Digitalisierungsaktivitäten immer noch die Aufgabe der Betreuung des bestehenden Langzeitarchives, mit allen ihren Anforderungen hinsichtlich Hardund Softwaremigration, bleibt. In größeren Archiven ist man sich dieser Konsequenz und Verantwortung für die Sammlung bewusst, für viele kleinere digitale Sammlungen – private Sammlungen oder Sammlungen, die im Zuge wissenschaftlicher Forschung entstanden sind – stellt sich jedoch die Frage, ob die notwendige Langzeitperspektive gegeben ist. Für die Forschung – vor allem für die zukünftige Forschung – ist die Bedeutung zentraler Orte digitaler Sammlungen, an denen das nötige Wissen zur Erhaltung vorhanden ist, entscheidend. Andernfalls werden wir
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in Zukunft wahrscheinlich mit vielen Formen des ‚Entsammelns‘ von Kulturgut konfrontiert sein – bevor die Sammlungen von Archiven übernommen werden. Trotz des hohen Stellenwerts von technischen Parametern bei der Sammlungspolitik im audiovisuellen Archiv ist letztendlich immer die inhaltliche Zusammensetzung der Sammlung jene Leitlinie, an der sich die Arbeit der Institution orientiert. Archive mit expliziten Sammlungsschwerpunkten, wie etwa Archive, die einen konkreten Nachlass verwalten oder auch Firmenarchive, können hier leichter ein eindeutiges Profil entwickeln als Archive mit einem generalistischen Ansatz wie die Österreichische Mediathek. Audiovisuelle Aufnahmen mit Werbeinhalten fallen genauso in ihr Sammlungsprofil wie etwa Musikaufnahmen, soll sie doch laut Gesetz für die „Archivierung von veröffentlichten und unveröffentlichten audiovisuellen Medien mit Österreichbezug“19 sorgen. Am Beispiel von Werbung als (kleiner) Sammlungsschwerpunkt in der Österreichischen Mediathek lassen sich einige Aspekte der Sammlungstätigkeit aufzeigen, die charakteristisch für die Arbeit im Archiv sind: Zum einen die Unterscheidung zwischen publizierten und nicht publizierten Materialien. Ein Hemd von Gloriette, ein Lied von Hermann Leopoldi mit einem Text von Rudolf Skutajan aus dem Jahr 1952 ist Unterhaltungsmusik – aber auch eine Form der Werbung. Das Lied wurde auf Schellackplatte veröffentlicht und die Platte hat keinen Unikatcharakter. Im Gegensatz dazu sind z. B. die Werbeaufnahmen aus dem Firmenarchiv von Palmers zu einem großen Teil unveröffentlichte Originalaufnahmen, da sie zahlreiche ungeschnittene Rohmaterialien beinhalten, aus denen dann Werbespots entstanden sind. Die Unterscheidung zwischen publiziert und nicht publiziert bzw. zwischen Massenmedium und Unikat spielt eine entscheidende Rolle schon bei der Übernahme von Quellen – Unikate haben in dieser Hinsicht eine höhere Relevanz – als auch bei der Digitalisierungsstrategie, bei der diesen Sammlungen Vorrang eingeräumt wird. Werbeaufnahmen sind in der Österreichischen Mediathek sehr oft auch ‚Beiwerk‘ von Archivmaterial. Ein Beispiel dafür sind große Teile der Fernsehmitschnitte die auch Werbung enthalten, wobei die Werbung aber nicht bewusst und gezielt aufgenommen wurde. Diese findet sich vor allem vor und zwischen jenen Sendungen, die als Mitschnitte ausgewählt und damit als archivwürdig klassifiziert wurden. Wenn jetzt nach Werbespots gesucht wird – und vielleicht gar nicht nach den gezielt aufgenommenen Sendungen – ist das ein Beispiel dafür, dass eine Sammlungsstrategie zwar wesentlich für ein Archiv ist, aber niemals alles abdecken kann, was eventuell einmal nachgefragt werden wird, bzw. dass Archivar*innen sich der Frage, was in Zukunft gesucht werden wird, nur annähern können.
19 http://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Dokumentnummer=NOR40112068, (28.06.2019).
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Die Frage nach der Relevanz von Archivmaterialien für das aktuelle und künftige kulturelle Gedächtnis stellt sich in jüngster Zeit ganz neu für die audiovisuellen Inhalte sozialer Medien. Die Rolle der Influencer etwa ist – nicht nur im Bereich der Werbung – zunehmend von Bedeutung. Diese Phänomene sind sehr schnelllebig und die Frage, was von ihnen Aufnahme ins Archiv finden soll – und damit zuverlässig für künftige Generationen bewahrt wird, ist nicht nur eine rechtliche, sondern vor allem eine inhaltliche. Hier gilt es, beständig Sammlungs- und Langzeitarchivierungsstrategien zu hinterfragen und an soziale Realitäten anzupassen.
Verfügbarkeit von Quellen: öffentliche und private ‚Internetarchive‘ versus Rechtslage und Ethik Der ‚digital turn‘ hat in den Kultur- und Geisteswissenschaften auch den Umgang mit zentralen lebensgeschichtlichen audiovisuellen Quellen tiefgreifend verändert. Das betrifft nicht nur die Forschungspraxis, die vermehrt ihren Fokus auf im Internet verfügbare Repositorien legt, und Sammlungen, die nicht online verfügbar sind, zunehmend vernachlässigt, sondern auch neue Ansätze, der Digital Humanities. Visualisierungen von Datenstrukturen und Zusammenhängen, Auswertungen von Sprach- und Bilderkennung, Big Data – auch wenn viele Bereiche in der Praxis manchmal noch in den Kinderschuhen stecken, zeichnet sich doch ein Weg ab, für den (audiovisuelle) Archive zukünftig gerüstet sein müssen. Basis all dieser Forschungsansätze sind, neben den Audio- und Videoquellen, Metadaten von und über Personen, Orte und Ereignisse. „Die neuen elektronischen Speichermedien bergen ein wichtiges Versprechen – jenes der Zugänglichkeit“ – stellte Aleida Assmann einmal fest.20 Grosso modo stimmt diese Aussage insofern, als alles was digital vorhanden ist auch digital zugänglich sein kann, wobei hier vor allem die Frage nach einer Onlinezugänglichkeit im Mittelpunkt steht. Basis der Zugänglichkeit ist jedoch, neben der Realisierung der technischen Infrastruktur vor allem die Klärung der Rechte sowie eine ethische Beurteilung, was in welcher Form öffentlich zugänglich gemacht werden kann. Die digitalen Quellen und die zugehörigen Metadaten sind rechtlich und ethisch differenziert zu betrachten. Generell verfügen audiovisuelle Archive in vielen Fällen (bei zahlreichen Archiven in den meisten) nicht über die Rechte an ihrem Material, verwalten und erhalten also einen Bestand, den sie erst in Zukunft, wenn die Urheberund Leistungsschutzrechte abgelaufen sind, in vollem Umfang digital zur Verfügung stellen können.
20 Assmann, Tontafeln (wie Anm. 10), S. 77.
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Die Rechtslage bei audiovisuellen Medien ist zudem meist sehr komplex, da durch den aufwändigen Produktionsprozess oftmals eine Vielzahl an Beteiligten Personenrechte am Material innehaben. Dazu kommt, dass Werke im Laufe ihrer Geschichte auch verschiedene Kopier- bzw. Veröffentlichungsprozesse durchlaufen können (Veröffentlichungen auf diversen Trägern), wodurch weitere Rechte oder auch Bearbeitungsrechte entstehen können. Generell gilt in diesem Komplex von Rechten, dass Leistungsschutzrechte 70 Jahre nach dem Zeitpunkt der Aufnahme abgelaufen sind (das betrifft vor allem die Rechte der Produzenten oder Interpreten) und Urheberrechte 70 Jahre nach Tod des Urhebers/der Urheberin. Diese rechtlichen Einschränkungen gelten nicht nur für publiziertes Material bzw. Rundfunkund Fernsehmitschnitte, sondern auch für alle im privaten Kontext hergestellten audiovisuellen Quellen (etwa Interviewte und Interviewer*innen von Oral History Interviews). Alle Aufnahmen, bei denen diese Rechte noch nicht abgelaufen sind, bedürfen, um sie online zur Verfügung stellen zu können, einer individuellen Rechtsklärung bzw. Zustimmung aller Rechteinhaber*innen. Große Digitalisierungsprojekte im Printbereich, die ihre Ergebnisse zur Gänze online zur Verfügung stellen, wie etwa das Projekt ‚Austrian Books Online‘ der Österreichischen Nationalbibliothek legen deshalb die Grenze bei Werken an, die Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen sind,21 um große Bestände ohne Rechtsklärung gesamt digitalisieren und zur Verfügung stellen zu können und dabei auszuschließen, dass sich durch die Veröffentlichung rechtliche Probleme für die veröffentlichende Institution ergeben. Diese Vorgehensweise ist bei audiovisuellen Archiven nicht anwendbar, da praktisch alle Dokumente, die derartige Archive besitzen, in einer Zeitspanne produziert wurden, wo es theoretisch möglich ist, dass noch aufrechte Urheberrechte bestehen. Allen digitalen Editionen mit audiovisuellen Quellen im Internet geht deshalb eine mehr oder weniger umfangreiche Rechteklärung voraus, die zeitaufwändig ist und oft nur für einen Teil der Bestände das gewünschte Ergebnis bringt.22 Die Rechtslage und die aufwändigen Verfahren zur Rechtklärung sind der Grund, warum manche Institutionen praktisch keine Bestände im Internet anbieten und auf eine Benützung im Archiv verweisen. Dies hat direkt Auswirkung auf die Forschungspraxis, lässt sich doch – zumindest aus Sicht des Archivs – feststellen, dass jene Quellen, die online bereitgestellt werden, wesentlich häufiger genutzt werden, als jene, die nur offline (und z. T. schlechter inhaltlich erschlossen) verfügbar sind. Archiv- und Forschungspraxis bewegen sich hier auseinander, stellen doch die On-
21 Siehe die Projektbeschreibung der Österreichischen Nationalbibliothek. https://www.onb.ac.at/ fileadmin/user_upload/PDF_Download/ABO_FAQ_de_201304_v1.2.3.pdf (26.11.2018). 22 Als Beispiel liegen in der Österreichischen Mediathek Zahlen vor, wo im Rahmen eines Onlineeditionsprojektes (‚Österreich am Wort‘ – https://www.mediathek.at/oesterreich-am-wort (26.11.2018)) in den Jahren 2010 bis 2012 über 2 500 Personen bezüglich Rechtezustimmung recherchiert und angeschrieben wurden, wovon rund 64 % der Veröffentlichung der Aufnahme zugestimmt haben.
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line-Repositorien in vielen Fällen ein eingeschränktes und oft auch inhaltlich verzerrtes Bild der im Archiv vorhandenen Quellenlage dar – vor allem bei jenen Materialien, die einem Urheber- und Leistungsschutzrecht unterliegen – was auf den überwiegenden Teil der Bestände mit Werbeinhalten zutrifft. Aussagen, wie sehr die aktuelle Schwerpunktsetzung sowie die Ergebnisse bei Forschungsvorhaben durch Online-Repositorien beeinflusst werden und ob Archive Strategien entwickeln, um hier eine aktivere Rolle zu spielen, können derzeit noch nicht getroffen werden, wären aber bei einer künftigen Einrichtung von Forschungsclustern von Interesse, vor allem für Archive mit audiovisuellen Inhalten, die derzeit noch unterrepräsentiert sind. Archive sind auch Orte gesellschaftlicher Abbilder und wurden in den letzten Jahren mit grundlegend neuen Formen der Wissensbewahrung und -vermittlung konfrontiert. Sie bewegen sich im virtuellen Raum neben umfangreichen, user-generierten Online-Medien-Plattformen, die neben der emanzipatorischen Möglichkeit, eigene (Medien-)Inhalte ohne Zwischeninstanzen in die Öffentlichkeit zu bringen, auch eine stark ansteigende Zugänglichkeit dieser Inhalte bewirkt haben. Mit den aktuellen Möglichkeiten hat sich ein interessantes Spannungsfeld zwischen öffentlich und privat ergeben, denn nie zuvor waren die Produktionsmöglichkeiten dieser Quellen so breit gestreut und den technisch bzw. finanziellen Aufwand betreffend so einfach umsetzbar. Eine Entwicklung, die auch einen Wandel der Deutungshoheit einleitete. Denn auch wenn die Perspektive einer langfristigen Erhaltung bei YouTube, Facebook, WhatsApp und Co fehlt bzw. fragwürdig ist, so bewegen sich Archive und Sammlungen mit ihrem rezenten Material dennoch in Konkurrenz zu diesen Plattformen. Das Internet hat – wie in vielen anderen Bereichen – auch bei den Archiven einen tiefgreifenden Wandel ausgelöst. Nicht nur, dass die Benutzung von Archiven nicht mehr ortsgebunden ist und – trotz aller rechtlicher Einschränkungen – eine ungleich größere Zahl an möglichen Quellen zur Verfügung steht als zuvor, hat dieses Aufbrechen des Archiv-Raums eben auch bewirkt, dass jeder/jede ein ‚Archiv‘ im Internet betreiben und digitale Quellen zur Verfügung stellen kann. Die ‚Gatekeeper-Funktion‘ der Archivarin/des Archivars wird dadurch zum Teil aufgehoben – oder eben nicht, wenn Archive künftig eine Rolle einnehmen, wo hinter der Veröffentlichung die Aspekte der Langzeitsicherung, Datenqualität, Transparenz und Überprüfbarkeit der Information eine wichtige Rolle spielen. Genauso, wie jede/jeder ein Archiv ins Internet stellen kann, kann auch jede/jeder wesentlich einfacher mit diesen Quellen arbeiten und die Ergebnisse dieser Arbeit publizieren, d. h. auch Forschung verbreitert sich und geht über einen rein akademischen Kontext hinaus (Stichwort ‚Citizen Science‘). Wie mit den so entstehenden Materialien umgegangen wird, welche Perspektive sie auf Dauer haben und ob sie Teil eines kulturellen Gedächtnisses werden, wird erst nach einer gewissen Zeitspanne beurteilt werden können. Bis dahin sollten sich Archive auf ihre Kernkompetenzen besinnen, die auch für den digitalen Raum gelten: Sammeln – bewahren – zugänglich machen.
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Diese Kernkompetenzen von Archiven zielen nicht nur auf eine aktuelle Nutzung, sondern im gleichen Maße auf alle zukünftigen Nutzungen. Im Zusammenhang mit rechtlichen und ethischen Fragen handelt es sich hinsichtlich zukünftiger Nutzung vor allem um jene audiovisuellen Sammlungsbestände, wie etwa Werbeaufnahmen, die aus Gründen der Erhaltung aktuell gesammelt werden müssen, die aber nicht (in vollem Umfang) zur Verfügung gestellt werden können. Jetzt zu sammeln, um es nach Jahren oder Jahrzehnten zur Verfügung stellen zu können, ist gängige Archivpraxis, die jedoch mit zunehmender Kommerzialisierung von Kultureinrichtungen unter Druck gerät. Was dabei auf der Strecke bleiben könnte, sind vor allem jene Bestände, die noch nicht Eingang ins Archiv gefunden haben, die bei Privatpersonen und in kleineren Firmenarchiven liegen und bei denen die Erhaltungsperspektive kaum gegeben ist. Vor allem ephemere Ton- Film- und Videosammlungen geraten so in Gefahr, gar nicht erst im Archiv gesammelt bzw. mit dem hohen, für audiovisuelle Sammlungen notwendigen, Aufwand bewahrt zu werden, wenn eine sofortige Bereitstellung für alle Nutzungsformen nicht gegeben ist, was sowohl retrospektiv als auch zukünftig zu einer Ausdünnung der Überlieferung führt. Zuletzt sei in der Frage nach dem Online-Zugriff auf Archivmaterial auf eine spezielle Quellenform verwiesen, bei der nicht nur rechtliche, sondern in einem hohen Maße auch ethische Parameter eine wesentliche Rolle spielen: lebensgeschichtliche audiovisuelle Quellen. Diese sind in Archiven einerseits zu einem bestimmten (Forschungs-) Interesse hergestellte Interviews und andererseits Quellen, die von Privatpersonen selbst hergestellt wurden. Die Einführung von Amateur-Aufnahmegeräten für Video hat beispielsweise dazu geführt, dass sich die Quellenlage beim Bewegtbild potentiell stark verändert, d. h. erweitert hat. Es ist dadurch eine weitere Demokratisierung der Quellenherstellung eingetreten, die es breiten Schichten ermöglicht hat, ihren Lebensbereich und Alltag, ihre Feste und Urlaube in neuer und umfassender Weise zu dokumentieren. Diese Quellen nehmen eine Sonderstellung in audiovisuellen Archiven ein, da sie zumeist Unikate sind – was eine Auswirkung auf die Erhaltungsstrategie hat – und in vielen Fällen nicht für eine Veröffentlichung gedacht waren (im Unterschied zu publizierten Materialien bzw. Rundfunkund Fernsehmitschnitten). Die Aspekte einer möglichen Veröffentlichung seien an einem konkreten Projekt der Österreichischen Mediathek ‚Wiener Video Rekorder‘23 näher erläutert. Dieses Projekt wurde mit dem Ziel durchgeführt, private Videoaufnahmen ab den 1980er Jahren zu sammeln, zu dokumentieren, langfristig zu sichern und zugänglich zu machen. Damit sollte ein bislang vernachlässigter Aspekt privater Erinnerung in ein kollektives Gedächtnis überführt werden. Es wurde den Übergeber*innen im Rahmen ausführlicher und dokumentiertet Übergabegespräche freigestellt, in welcher Form der Bestand künftig im Archiv genutzt werden kann,
23 https://www.mediathek.at/wienervideorekorder (3.12.2018).
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wie sehr also das Private öffentlich wird. In diesem Projekt zeigt die Tendenz eindeutig in Richtung eingeschränkte Öffentlichkeit. Von vielen Übergeber*innen wurde einerseits Anonymität im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Quelle gewünscht und andererseits die Veröffentlichung der Quelle in Ausschnitten. Dies lässt aus rechtlichen und ethischen Gründen damit in vielen Fällen online nur ein beschränktes Maß an Zugriff auf die Quelle und dazugehöriges kontextualisierendes Material zu. Dies sind Einschränkungen, die dem Archiv von den Übergeber*innen auferlegt wurden und die sie an die Benützer*innen weitergeben. Von den Übergeber*innen kam in den allermeisten Fällen die Zustimmung zur Forschung an den Beständen im Archiv. Die Restriktion erfolgte vielfach bei der Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit den anonymisierten Übergeber*innen sowie eben der Freigabe für das Internet. Dieses Projekt hat auch gezeigt, dass, wenn man die Veröffentlichungsstrategie mit stärkeren ethischen Grundsätzen verknüpft und die Entscheidung über die Art der Zugänglichkeit den Übergeber*innen überlässt (und sie nicht als Gegenleistung für eine etwa erfolgte Digitalisierung zur zumindest teilweisen Veröffentlichung verpflichtet), der Zugang tendenziell stark eingeschränkt ist. Hier steht dem Wunsch von Forschenden (und Archiven) möglichst viel im Internet zu finden (und verfügbar zu machen) der Wunsch der Übergeber*innen nach Wahrung ihrer Privatsphäre entgegen.
Metadaten – Basis für Forschung Zu den audiovisuellen Quellen existieren in der Regel mehr oder weniger ausführliche inhaltliche Metadaten, die von den Gedächtnisinstitutionen erhoben, strukturiert erfasst und zur Verfügung gestellt werden. Diese werden hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Rechte getrennt von den eigentlichen Quellen betrachtet, ihnen wird kein Werkcharakter beigemessen und sie spielen bei vielen Projekten, die sich mit Vernetzungen oder Auswertung von Quellen befassen, eine entscheidende Rolle. Besonders seit dem Aufkommen der Digital Humanities in den Geisteswissenschaften wird den Metadaten eine gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil. Haben die Metadaten früher vor allem dem Auffinden der Quelle gedient – mit Regelwerken, die sich stark an den Gegebenheiten analoger Zettelkataloge orientiert haben – so sollen sie heute idealerweise online gleichzeitig auch der Auswertung der Quelle dienen, d. h. Forschung soll möglichst nicht im Archiv sattfinden, sondern ortsunabhängig über Onlinezugriffe möglich sein. Die Digitalisierung von schriftlichen Quellen und die damit verbundenen Möglichkeiten zur Auswertung großer Quellenbestände, die darauf beruht, dass die Quelle im Volltext erfasst werden kann, haben neue Forschungsansätze hervorgebracht. Dieser Zugang zur Quelle wird – zumin-
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dest was den Anspruch vieler Forschender an Archive betrifft – auch bei audiovisuellen Quellen gefordert, was auf eine Reihe von Problemen stößt.24 Zuallererst stellt sich die Frage, ob die Verschriftlichung eines Ton- oder Videodokuments ein vollwertiger Ersatz für das Original sein kann. Die Antwort der audiovisuellen Archive darauf ist ein klares Nein, denn jede Verschriftlichung, und sei sie ein noch so genaues Transkript, gibt nur einen Teilaspekt der Quelle wieder. Entscheidende Aspekte, die das eigentliche Wesen audiovisueller Quellen ausmachen, beispielsweise wie etwas gesagt oder gezeigt wird, werden andernfalls weitgehend ausgeblendet.25 Verschriftlichungen von audiovisuellen Inhalten reduzieren diese auf ihren reinen Informationsgehalt und stellen sie schriftlichen Quellen gleich. Audiovisuelle Aufnahmen bedürfen im Forschungsprozess jedoch – wie alle Quellen – spezifische Zugangsweisen und Analysemethoden. Da Forschungsergebnisse in der Regel schriftlich vorliegen – eine Ergänzung um das audiovisuelle Dokument scheitert oft an der komplexen Rechtelage – gibt es den (verständlichen) Wunsch, dass von den Quellen möglichst vollständige Transkripte vorliegen, die den Forschungsprozess wesentlich vereinfachen würden. Abgesehen vom Einwand, dass dann ausschließlich mit dem Transkript gearbeitet werden würde und dies nicht quellengerecht sei, sind trotz aller technischen Fortschritte der letzten Jahre die ‚Speech-totext-Verfahren‘ noch nicht so weit gediehen, dass sie für die heterogenen Bestände audiovisueller Archive befriedigende Ergebnisse erzielen. Spracherkennung basiert, sehr vereinfacht gesagt, auf Sprachmodellen, die individuell angepasst und verbessert werden können. Je kleiner der Wortschatz eines derartigen Modells ist und je homogener das Material ist, umso besser sind die Ergebnisse. Viele audiovisuelle Archive verfügen jedoch über sehr heterogenes Material hinsichtlich des Inhalts, der Aufnahmequalität und der Sprache (Hochsprache, Dialekt), sodass die Ergebnisse über den Gesamtbestand hinweg derzeit noch nicht jenen Grad an Treffsicherheit aufweisen, der einen Einsatz dieser Technologie sinnvoll erscheinen lässt. Es steht jedoch außer Zweifel, dass diese Form der Metadatengewinnung durch laufende technische Fortschritte in Zukunft in audiovisuellen Archiven eingesetzt werden wird – und künftigen Forscher*innen andere und zusätzliche Auswertungsmöglichkeiten bieten wird. Bei der Frage, wie offen zugänglich die in Archiven generierten Metadaten sind, geht es meist nicht nur um Onlinekataloge der Institutionen oder um das Einbringen von Metadaten in eine Plattform (wie etwa Europeana, http://www.europeana. eu/portal/de), sondern auch um die Forderung, dass Metadaten – vor allem jene, die aus Institutionen stammen, die von der öffentlichen Hand finanziert sind, als
24 An dieser Stelle ist ausdrücklich nicht von der audiovisuellen Quelle an sich die Rede, sondern von Metadaten über die Quelle. 25 Transkripte können auch diese Beschreibungen beinhalten – trotzdem ist das nur eine Annäherung an die Quelle.
Das Audiovisuelle im Archiv
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open data zur freien Nutzung, Weiterverbreitung und -verwendung zur Verfügung gestellt werden sollen. Solange es sich hier nicht um personenbezogene Daten handelt, ist diese Forderung durchaus berechtigt. Schwieriger wird es bei den oben schon erwähnten lebensgeschichtlichen Quellen, die oftmals persönliche Daten enthalten, die vor allem in ihrer Kombination (geografische Angaben, Name, Beruf, Geburtsdatum) eine genaue Suche bzw. eine Identifizierung der Person ermöglichen – unter Umständen selbst dann, wenn die Person anonymisiert wurde. Zu diesen Eckdaten kommen in vielen Fällen weitere Metadaten hinzu. Je besser die Quelle inhaltlich erschlossen ist, desto umfangreichere und in die Tiefe gehenden Metadaten stehen zur Verfügung: Dies reicht von Schlag- und Stichworten bis hin zu vollständigen Transkripten der Ton- oder Videoquellen. Seitens der User*innen von OnlineQuellenrepositorien besteht ein Interesse an möglichst gut erschlossenen Quellen, seitens der Archive das Interesse, dass diese Quellen mit allen ihren Metadaten online auffindbar sind, also von Suchmaschinen indiziert werden. Dem steht gegenüber, dass die Akteur*innen dieser Quellen ein Anrecht auf Privatsphäre geltend machen. Neben den Akteur*innen, also den Interviewten oder den Hersteller*innen der Quellen selbst, sind es aber auch Angehörige oder das soziale Umfeld, die dieses Recht auf Privatsphäre einforderen. Diese unterschiedlichen Interessen von Übergeber*innen von Sammlungen, von Akteur*innen und ihrem Umfeld, von Archiven und von Forschenden auszugleichen, ist eine zentrale Aufgabe im Rahmen der Veröffentlichungsstrategie von Archiven. Mit neuen Arbeitsmethoden der Digital Humanities stellt sich nicht nur die Frage nach dem Umgang mit digitalen Objekten sowie Forschungsdaten und deren Qualitätssicherung und Normierung bzw. Standards,26 sondern auch nach Formen der Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Gedächtnisinstitutionen in diesem Bereich. Aktuell ist diese Zusammenarbeit meist so definiert, dass einerseits die Institutionen von den Forschenden für die Quellenakquise genützt werden und Kataloge und Metadaten zum Auffinden der Quelle dienen und andererseits (bestenfalls) ein Exemplar der Forschungsergebnisse bei den Gedächtnisinstitutionen hinterlegt wird. Künftig könnte dieses Verhältnis wesentlich dynamischer werden: Gedächtnisinstitutionen stellen ihre normierten Metadaten zur Verfügung und reichern sie umgekehrt mit den normierten Forschungsdaten an, die ihnen zur Verfügung gestellt werden. Diese stehen wiederum anderen Forscher*innen zur Verfügung, wodurch sich der Zugang zu und das Wissen über die Quellen wesentlich verbessern könnte. Und Archive stellen ihre Expertise in der digitalen Langzeitarchivierung zur Verfügung: um nicht nur Metadaten, sondern vor allem digitale Quellen dauerhaft zu erhalten.
26 Zum Umgang mit Forschungsdaten bzw. zu Netzwerken und Normierungen siehe z. B.: http:// www.parthenos-project.eu sowie https://ssk-application.parthenos.d4science.org/ssk/# (3.12.2018).
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Eine methodologische Reflexion der Arbeit im Archiv – durch Archivar*innen selbst, aber auch durch Forscher*innen, und damit eine kritische Auseinandersetzung mit der Praxis des Archivs ist ein Desiderat. Das Interesse am Archiv ist in erster Linie das jeweils fachspezifische Interesse an seinen Inhalten. Um die Arbeit mit Archivquellen und deren quellenkritische Betrachtung durch theoretisch-methodologische Überlegungen zu Praktiken des Sammelns, Bewahrens und Zugänglichmachens zu ergänzen, bedarf es genauerer Kenntnis der archivarischen Praxis. In Bezug auf audiovisuelle Medien wurde zentrale Aspekte in diesem Beitrag dargelegt.
Literatur Assmann, Alaida: Tontafeln halten länger. In: Kultur digital: Begriffe, Hintergründe, Beispiele. Hrsg. von Hedy Graber, Dominik Landwehr u. Veronika Sellier. Basel 2011. S. 73–83. Barberi, Allessandro u. Thomas Ballhausen (Hrsg.): Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen. Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte. Köln 2016. Derrida, Jaques: Dem Archiv verschrieben. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Hrsg. von Knut Ebeling u. Stephan Günzel. Berlin 2009. 29–60. Henzler, Juliane: Sammeln. In: Terminologie der Archivwissenschaft (https://www.archivschule.de/ uploads/Forschung/ArchivwissenschaftlicheTerminologie/Terminologie.html). IASA-TC 03 (https://www.iasa-web.org/iasa-special-and-technical-publications). Lersch, Edgar: What is State of the Art for Media Archivists? Grundsätze der AV-Medienarchivierung im Kontext allgemeiner archivwissenschaftlicher Erkenntnisse. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Hrsg. von Sascha Trültzsch-Wijnen, Knut Ebling u. Stephan Günzel: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin 2009. S. 39-50. Reimann, Norbert: Grundfragen und Organisation des Archivwesens. In: Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste. Hrsg. von Nobert Reimann. Münster 2004. S. 25-54. Trültzsch-Wijnen, Sascha, Allessandro Barberi, u. Thomas Ballhausen: Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen – Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte: Einleitende Bemerkungen. In: Geschichte(n), Repräsentationen, Fiktionen. Medienarchive als Gedächtnis- und Erinnerungsorte. Hrsg. von Sascha Trültzsch-Wijnen, Allessandro Barberi u. Thomas Ballhausen. Köln 2016. S. 9-16.
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Das Geschäft mit den Spielzeughelden Kinderfernsehen zwischen Pädagogik und Program-Length Commercials Was passiert, wenn Spielzeugheldinnen und -helden in die Jahre kommen? Aus den Regalen der on- und offline Spielwarenhandlungen schauen von Büchern, DVDs, Rucksäcken und Bettwäsche Charaktere, die vielen Erwachsenen aus Kindertagen bekannt sind. Ob Winnie the Pooh, My Little Pony, Hot Wheels oder Die Schlümpfe: Figuren, die schon vor Jahrzehnten in den Kinderzimmern und Kinderherzen der Welt einen Platz hatten, sind immerwährender Teil der Wertschöpfungskette Kinderfernsehen. Welche Lizenzinhaber und Ideengeber speziell dahinterstecken, ist jedoch wenigen bekannt. Medien gelten als zentrale Sozialisierungsagenten1, die insbesondere Kindern im Alltag eine Orientierungsfunktion2 bieten. Soziales Lernen3 findet nicht nur durch menschliche Interaktion statt, sondern auch anhand des Konsums von Medieninhalten. Forschende sind sich zudem einig, dass Kindheit immer stärker durch Kommerzialisierung geprägt wird.4 Kinderfernsehen wird meist aus Perspektive der Inhalts-, Rezeptions- und Wirkungsforschung betrachtet. Ökonomische Hintergründe wie Eigentumsstrukturen, Content-Produktion oder Lizenzund Formathandel werden hingegen selten untersucht. Hinter dem Programmangebot stehen aber immer auch wirtschaftliche Zwänge, die sich massiv auf den Inhalt auswirken.
1 Vgl. Dürager, Andrea u. Jens Woelke: Fernsehprogramm für Kinder oder Fernsehprogramm der Kinder? Medienpädagogische Betrachtung eines zentralen Programmbereichs öffentlicher Kommunikation. In: Medienwelten im Wandel: Kommunikationswissenschaftliche Positionen, Perspektiven und Konsequenzen. Hrsg. von Christine W. Wijnen. Wiesbaden 2013. S. 167–168. 2 Vgl. z. B. Paus-Hasebrink, Ingrid u. Jasmin Kulterer: Kommerzialisierung von Kindheit. In: Handbuch Kinder und Medien. Hrsg. von Angela Tillmann [u. a.]. Wiesbaden 2014. S. 50; Raabe, Claudia [u. a.]: Orientierung, Gender, Medienkompetenz. Beiträge des Fernsehens zur Lebensgestaltung und Alltagsorientierung von Kindern. In: MedienPädagogik: Online-Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 13 (2007). S. 5/30–11/30. 3 Vgl. z. B. Bandura, Albert [u. a.]: Transmission of Aggression through Imitation of Aggressive Models. In: The Journal of Abnormal and Social Psychology 63/3 (1961). S. 575–582; Bandura, Albert: Social Cognitive Theory of Mass Communication. In: Media Effects. Advances in Theory and Research. 2nd Edition. Hrsg. von Jennings Bryant u. Dolf Zillmann. Mahwah, New Jersey 2002. S. 121–153. 4 Siehe z. B.: Paus-Hasebrink u. Kulterer, Kommerzialisierung (wie Anm. 2), S. 48–50; Mjøs, Ole J.: The Symbiosis of Children’s Television and Merchandising: Comparative Perspectives on the Norwegian Children’s Television Channel NRK Super and the Global Disney Channel. In: Media, Culture and Society 32/6 (2010). S. 1031. https://doi.org/10.1515/9783110661965-009
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Dieser Artikel widmet sich daher der Wertschöpfungskette Kinderfernsehen und beleuchtet Einzelinteressen und Abhängigkeiten zwischen TV-Produzenten, Medienkonzernen, Rundfunkveranstaltern, Verlagen, Werbekunden sowie Spielwarenherstellern und deren Auswirkungen auf Eltern und Kinder als Konsument*innen der Inhalte. Zudem werden ineinandergreifende Marketingstrategien und (Re-)Finanzierungsmodelle von Kinderprogramminhalten durch Kommerzialisierung wie Merchandising oder Product-Placement aufgezeigt, die den Balanceakt zwischen pädagogischen Ansätzen und Dauerwerbesendungen (Program-Length Commercials) zur Produktvermarktung veranschaulichen. Im Vordergrund steht dabei die Verschmelzung von Werbe- und Fernsehmarkt durch die Verknüpfung von immateriellen Narrativen mit dinglichen Spielwaren und folglich deren Präsenz in vielerlei Lebenswelten über den audiovisuellen Konsum hinaus, sei es im Erlebnispark, in (Hör-)Büchern oder im Supermarktregal. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Fernsehen als wiederholendem Multiplikator dieser Charaktere und Figuren zu.
Forschungsstand: Kinderfernsehforschung Kinderfernsehen ist ein Nischenmarkt. Nur wenige Studien beschäftigen sich daher dezidiert mit der Analyse von Produktions- oder Eigentumsstrukturen. Wirkungsmechanismen hingegen wurden bereits intensiv von deutschsprachigen5 und internationalen6 Forschenden beleuchtet. Fokus sind dabei häufig Themen wie Jugend-
5 Vgl. z. B. Paus-Hasebrink, Ingrid: Heldenbilder im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Symbolik von Serienfavoriten in Kindergarten, Peer-Group und Kinderfreundschaften. Opladen 1998; PausHasebrink u. Kulterer, Kommerzialisierung (wie Anm. 2); Theunert, Helga: Lehrstücke fürs Leben in Fortsetzung: Serienrezeption zwischen Kindheit und Jugend. München 2000; Schorb, Bernd: Medienalltag und Handeln: Medienpädagogik im Spiegel von Geschichte, Forschung und Praxis. Opladen 1995; Götz, Maya (Hrsg.): Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen: Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen. München 2013; Götz, Maya: Die, die die Lieblingsfiguren von Jungen und Mädchen herstellen. Forschungsstand und offene Fragen. In: Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen: Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen. Hrsg. von Maya Götz. München 2013. S. 760–761; Götz, Maya: Wer produziert Kinderfernsehen? In: Televizion 26/2 (2013). S. 18–19. 6 Vgl. z. B. Christensen, Claire G. u. Carol M. Myford: Measuring Social and Emotional Content in Children’s Television: An Instrument Development Study. In: Journal of Broadcasting & Electronic Media 58/1 (2014). S. 21–41; Huesmann, L. Rowell u. Leonard D. Eron: Television and the Aggressive Child: A Cross-National Comparison. 1st Edition. London 2013; Padilla-Walker, Laura M. [u. a.]: Is Disney the Nicest Place on Earth? A Content Analysis of Prosocial Behavior in Animated Disney Films. In: Journal of Communication 63/2 (2013). S. 393–412; Coyne, Sarah M. u. Emily Whitehead: Indirect Aggression in Animated Disney Films. In: Journal of Communication 58/2 (2008). S. 382– 395; Dobrow, Julia R. u. Calvin L. Gidney: The Good, the Bad, and the Foreign: The Use of Dialect in Children’s Animated Television. In: The ANNALS of the American Academy of Political and Social
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schutz, Aggressionen, prosoziales Handeln oder die Frage inwiefern die Inhalte altersgerecht erscheinen. Forschungsberichte des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest7 porträtieren anhand von Befragungen detailliert, wie sich die Nutzungsgewohnheiten und -motive von deutschen Kindern, Jugendlichen und deren Familien veränderten. In Berichten der Media Perspektiven8 werden diese aufgegriffen und um Analysen ergänzt. Eine Übersicht der deutschen Kinderfernsehgeschichte der 1990er Jahre bietet Hans Dieter Erlinger9, eine etwas aktuellere Perspektive ermöglicht Tilmann P. Gangloff.10 Kommunikations- und Fernsehforschende11 beanstanden, dass zwar die Wirkungen der Inhalte auf Kinder relativ gut erforscht ist, jedoch wenige Untersuchungen zur Produktion der Sendungen selbst vorliegen und Fernsehverantwortliche kaum Teil dieser Studien sind. Im deutschsprachigen Raum werden bei Untersuchungen auf der Angebotsseite – aufgrund ihrer hohen Reichweiten als Vollprogramme – meist die RTL Group und die ProSiebenSat.1 Media AG, sowie die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter in den Fokus gerückt.12 So beschäftigt sich eine Studie von Joachim Trebbe und
Science 557/1 (1998). S. 105–119; Dobrow, Julia R. [u. a.]: Cartoons and Stereotypes. https://now. tufts.edu/articles/cartoons-and-stereotypes (02.12.2018). 7 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): FIM-Studie 2011. Untersuchung zur Kommunikation und Mediennutzung in Familien. Stuttgart 2012; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): KIM-Studie 2014. Kinder + Medien, Computer + Internet. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2015; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM 2015. Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2015; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): miniKIM 2014. Kleinkinder und Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 2- bis 5-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2015. 8 Vgl. Feierabend, Sabine u. Walter Klingler: Was Kinder sehen. Eine Analyse der Fernsehnutzung Drei- bis 13-Jähriger 2014. In: Media Perspektiven 2015/4 (2015). S. 174–185; Feierabend, Sabine [u. a.]: Mediennutzung von Kleinkindern. Ergebnisse der miniKIM-Studie 2014. In: Media Perspektiven 2015/5 (2015). S. 234–240. 9 Vgl. Erlinger, Hans Dieter (Hrsg.): Kinder und der Medienmarkt der 90er Jahre: aktuelle Trends, Strategien und Perspektiven. Opladen 1997. 10 Vgl. Gangloff, Tilmann P.: Willkommen im Paradies. Die Geschichte des deutschen Kinderfernsehens. In: tv diskurs 16/1 (2012). S. 16–22. 11 Vgl. Götz, Fernsehheld(inn)en (wie Anm. 5), S. 760; Hackl, Christiane: Sympathisch und mit Seele. Filmfiguren aus Sicht von Kinderfernsehproduzent(inn)en. In: Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen: Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen. Hrsg. von Maya Götz. München 2013. S. 763; Zabel, Christian: Wettbewerb im deutschen TV-Produktionssektor: Produktionsprozesse, Innovationsmanagement und Timing-Strategien. 1. Auflage. Wiesbaden 2009. S. 21–22. 12 Vgl. ALM GbR – die medienanstalten (Hrsg.): Programmbericht 2015. Fernsehen in Deutschland Programmforschung und Programmdiskurs. Leipzig 2016; Krüger, Udo Michael: Profile und Funktionen deutscher Fernsehprogramme. Programmanalyse 2010 – Teil 1: Sparten und Formen. In: Media Perspektiven 2011/4 (2011). S. 204–224; Krüger, Udo Michael: Profile deutscher Fernsehprogramme – Tendenzen der Angebotsentwicklung. Programmanalyse 2014 – Teil 1: Sparten und For-
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Bertil Schwotzer mit den Anteilen spezifischer Genres – darunter auch Zeichentrick – am Gesamtprogramm von Vollprogrammen sowie der Herkunft dieser Inhalte. Sie konstatieren dabei eine deutliche Dominanz US-amerikanischer fiktionaler Kaufproduktionen in den Programmen der Sender RTL und ProSieben. Regionale Eigenproduktionen verorten sie hingegen im non-fiktionalen Bereich.13 Europaweite Studien legen ebenfalls eine starke Vormachtstellung der USA als Exportland von Kindersendungen nahe. Auf europäischer Seite werden hingegen – vor allem durch TV-Produktionen aus Großbritannien, Deutschland und Frankreich – nur knapp ein Drittel der weltweiten Umsätze im Bereich Kinderfernsehen erzielt.14 Vermehrt treten in Deutschland auch eigens auf junges Publikum ausgerichtete Spartenkanäle auf, die rund um die Uhr Programm für Kinder senden. Anhand von Daten der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle (OBS) ist generell ein Trend zum Wachstum neuer Kinderspartensender zu erkennen. In der MAVISE-Datenbank waren im Jahr 2012 mehr als 290 aktive Kinderspartensender für die Europäische Union eingetragen, im Jahr 2013 waren es mit 304 knapp 6 % aller TV-Sender.15 Frühere Statistiken zeigen, wie stark die Anzahl an Kindersendern in den letzten 30 Jahren gestiegen ist. Gab es im Jahr 2006 weltweit 110 Kindersender, waren es 1985 lediglich drei.16 Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit 16 Kindersendern17 eher im Mittelfeld. Ein weiterer Trend ist die Expansion von paneuropäischen oder sogar globalen Kinderkanälen wie Disney, Nickelodeon, Cartoon Network und Boomerang, die sich im Besitz von US-Medienkonzernen wie The Walt
men. In: Media Perspektiven 2015/3 (2015). S. 145–163; Trebbe, Joachim u. Bertil Schwotzer: Fernsehunterhaltung: Platzierung, Formate und Produktionscharakteristika. In: Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung. Hrsg. von Klaus-Dieter Altmeppen [u. a.]. 1. Auflage. Wiesbaden 2010. S. 67–80; Raabe [u. a.], Orientierung (wie Anm. 2), S. 1–30; Bachmair, Ben: Kinderfernsehen als Thema öffentlicher Debatten, eine Einordnung in ein kulturtheoretisches Modell. In: MedienPädagogik 13 (2008). S. 1–9. 13 Vgl. z. B. Trebbe u. Schwotzer, Fernsehunterhaltung (wie Anm. 12), S. 74–78. 14 Vgl. EYGM Limited: Creating Growth. Measuring Cultural and Creative Markets in the EU. o. O. 2014. S. 58. 15 Vgl. Schneeberger, Agnes: Origin and Availability of Television Services in the European Union. Strasbourg 2015. S. 12–13; European Audiovisual Observatory (OBS): Pressemitteilung: Kindersender in Europa weiter auf Wachstumskurs. http://www.obs.coe.int/-/pr-mavise-continued-growth-ofchildren-s-television-services-in-europe (03.12.2018). 16 Vgl. Hogan, Lindsay u. Matt Sienkiewicz: 1001 Markets: Independent Production, ‚Universal Childhood‘ and the Global Kids’ Television Industry. In: Interactions: Studies in Communication & Culture 4/3 (2013). S. 223. 17 Damit hat Deutschland eine Quote von etwa 6 % an Kindersendern, gemessen am Gesamtangebot (ca. 420 empfangbare eigene TV-Sender, plus 245 fremdländische empfangbare Sender). Vgl. Schneeberger, Origin (wie Anm. 15), S. 21. Eine detaillierte Aufstellung aus dem Jahr 2010 gibt die OBS zusammen mit der CINEKID. Vgl. Kanzler, Martin u. Susan Newman-Baudais: Audiovisual Media for Children in Europe: The Theatrical Circulation of European Children’s Films. Strasbourg 2011. S. 39–44.
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Disney Company, Viacom sowie Time Warner befinden. Diese Sender werden in Großbritannien bei der Regulierungsbehörde Ofcom, sowie in den Niederlanden oder der Tschechischen Republik zugelassen und von dort aus in unterschiedlichen Sprachversionen verbreitet.18 Eine Untersuchung der Kindervollprogramme KiKA, Super RTL und Nickelodeon unternahm Udo Michael Krüger im Jahr 2009.19 Er codierte und wertete das aufgezeichnete Material einer künstlichen Sendewoche mittels formaler, struktureller und inhaltlicher Merkmale aus und attestierte – unabhängig von der Akzeptanz seitens des Publikums der drei konkurrierenden Kinderprogramme – eine höhere Programmstruktur- und Produktqualität zugunsten des öffentlichrechtlichen Kinderkanals KiKA.20 In den letzten Jahren widmete sich die Forschung vermehrt der Untersuchung von Medienproduktionen. Speziell Faktoren der Herstellung von Unterhaltungssendungen stehen jedoch weiterhin kaum im Fokus.21 Forschende fordern daher, eine intensivere Betrachtung der TV-Produktion und des Rechtehandels sowie eine Berücksichtigung des institutionellen Gefüges im deutschen Fernsehmarkt.22 Aus ökonomischen Untersuchungen fällt das Themengebiet Kinderfernsehen häufig aufgrund seiner verhältnismäßig geringen Zielgruppe, einer schwierigen Abgrenzung gegenüber anderen Altersgruppen23 oder aus Mangel an auswertbaren Daten heraus.24
18 Vgl. Kanzler u. Newman-Baudais, Media (wie Anm. 17), S. 43–44; OBS, Pressemitteilung (wie Anm. 15), www.obs.coe.int/-/pr-mavise-continued-growth-of-children-s-television-services-in-europe (03.12.2018); European Audiovisual Observatory (OBS): TV and on-Demand Audiovisual Services in Germany. http://mavise.obs.coe.int/country?id=2 (17.09.2016). 19 Vgl. Krüger, Udo Michael: Zwischen Spaß und Anspruch: Kinderprogramme im deutschen Fernsehen; Programmanalyse von KI.KA, Super RTL und Nick. In: Media Perspektiven 2009/8 (2009). S. 413–431. 20 Vgl. Krüger, Spaß (wie Anm. 19), S. 431. 21 Vgl. Altmeppen, Klaus-Dieter [u. a.]: Unterhaltungsbeschaffung und Unterhaltungsproduktion. Merkmale und Strukturen am Beispiel des Fernsehformathandels. In: ALM Programmbericht. Fernsehen in Deutschland 2009. Programmforschung und Programmdiskurs. Hrsg. von Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2010. S. 273. 22 Vgl. z. B. Fröhlich, Kerstin: Organisation für Innovation: Kreativfördernde Organisation in der TV-Unterhaltungsproduktion. In: Zur Ökonomie der Unterhaltungsproduktion. Hrsg. von Gabriele Siegert u. Bjørn von Rimscha. Köln 2008. S. 169. 23 Vgl. Hofmann, Ole u. Oliver Schmid: Wertschöpfungskette Kinderfernsehen Strukturen des deutschen Kinderfernsehmarkts. In: Televizion 15/2 (2002). S. 1. 24 Für eine detaillierte Auflistung zu Literatur betreffend Produktion und Beschaffung von (Kinder-) Fernsehinhalten siehe: Scholz, Stephanie Verena: Lizenz- und Formathandel im deutschen Kinderfernsehen. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Wien 2016. S. 11–17.
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Werbung im Kinderfernsehen: Children’s Television Act und Program-Length Commercials Kommunikationsforschende sind sich einig, dass allein die Tatsache, dass Kinder bestimmte Inhalte im Fernsehen rezipieren, nichts über die Eignung dieser Sendungen für Kinder aussagt.25 Als exemplarisch für die Entwicklung von Kinderfernsehen in der Bundesrepublik Deutschland kann die Historie des US-amerikanischen Kinderfernsehens angesehen werden. Zeitversetze Parallelen bezogen auf Privatisierung und Fragmentierung des Fernsehens sowie Produktion, Umfang und Timing von Programminhalten für Kinder sind daher wegweisend für die Entstehung von heutigen deutschen Kinderspartenkanälen. In den 1970er Jahren richteten besorgte US-amerikanische Eltern eine Forderung des Verbots der 1960 vom Spielwarenhersteller Mattel erschaffenen Animationsserie Hot Wheels an die US-amerikanische Zulassungsbehörde Federal Communications Commission (FCC), da sie die Serie als Dauerwerbesendung für den Absatz von Spielzeugautos ansahen. Spielwarenhersteller und Konsumgüterriesen hatten in den 1960er und 1970er Jahren schnell festgestellt, dass sie im Kinderfernsehen, etwa am Samstagmorgen, Zugriff auf ihre Zielgruppe ohne Streuverluste hatten.26 Sie produzierten im Rahmen von Bartering-Geschäften immer mehr Medieninhalte, meist Zeichentrickserien, sodass die Anzahl an spielzeugbasierten Sendungen in den USA zwischen 1983 und 1988 von 13 auf über 70 stieg. Die Umsätze der Merchandising-Produkte erhöhten sich zeitgleich von 26,7 auf 64,6 Milliarden US-Dollar.27 Einige Sendungen hatten sogar Fast-Food Produkte oder Frühstücksflocken als Protagonisten, eine Serie mit einem Schokoriegel als Star war unter dem Titel The Garbage Pail Kids geplant.28 Eltern sprachen in ihren Beschwerden an die FCC von einem „video equivalent of a Toys-R-Us catalog“29. Sendungen wie He-Man, Ninja Turtles und G. I. Joe, die später auch im deutschsprachigen Kinderfernsehen liefen,30 dienten lediglich dem Verkauf von Konsumgütern und lizensierten Produkten. Im Zuge der Kontroversen und der Deregulierung des Kinderfernsehens in den USA prägten die FCC und Kritiker*innen dieser Entwicklung den Begriff der Program-Length Commercials für solche Medienin-
25 Vgl. z. B. Müntefering, Gert K.: Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen. In: Betrifft Erziehung 17/1 (1984). S. 69; Ridder, Christa-Maria: US-Kinderfernsehen zwischen Kommerz und Regelungsversuchen im öffentlichen Interesse. In: Media Perspektiven 1997/1 (1997). S. 36. 26 Vgl. Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 32; 33. 27 Vgl. Rostron, Allen: Return to Hot Wheels: The FCC, Program-Length Commercials, and the Children’s Television Act of 1990. In: Hastings Communications and Entertainment Law Journal 19 (1996). S 61. 28 Vgl. Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 35. 29 Congress Records, Rep. Markey, zitiert nach: Rostron, Return (wie Anm. 27), S 63. 30 Vgl. Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 35.
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halte.31 Ein Problem bei der Regulierung wurde bereits in den 1990er Jahren von USamerikanischen Forschenden32 und Gesetzgebenden festgehalten: „[W]e cannot define a program-length commercial, but we know it when we see it.“33 Laut Children’s Television Act aus dem Jahr 1990, der in den USA eine klare Regelung zur Verknüpfung von Medieninhaltsproduktion und dem Bewerben von Spielwaren bringen sollte, galten Programminhalte als Program-Length Commercial, wenn Werbespots für die in den Sendungen vorkommenden Produkte im Umfeld der Sendungen ausgestrahlt wurden. Demnach hatte die FCC – mit Hinweis auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne von Kindern34 – nichts zu beanstanden, wenn diese Werbespots auf einem anderen Sender oder zu einer anderen Zeit gezeigt wurden.35 Den Kritiker*innen ging es allerdings ursprünglich nicht um die Commercials, sondern um die Kommerzialisierung des Programms.36 Also um die Vermischung von Inhalten (Unterhaltung bzw. Entertainment und Information) auf der einen und dem Bewerben und Vermarkten von Produkten auf der anderen Seite. Werbung spielt neben dem Handel von Lizenzen eine zentrale Rolle in der Refinanzierung von Kinderprogramminhalten.37 In Deutschland fielen im Jahr 2017 – von allen Werbeausgaben mit einem Gesamtvolumen von 26 Milliarden Euro – 59 % für Werbung im Fernsehen an.38 Die Gesetzgebung begrenzt den Umfang, in dem öffentlich-rechtliche und private Fernsehanbieter Werbung im Umfeld von Kindersendungen ausstrahlen dürfen, stark.39 Programmtrailer und -hinweise sowie Pro-
31 Vgl. Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 34; Rostron, Return (wie Anm. 27), S 61. 32 Vgl. Eßer, Kerstin: Auf der Suche nach dem Geld von morgen: Aspekte der Finanzierung und Vermarktung von Kinderfernsehprogrammen. In: Handbuch des Kinderfernsehens. Hrsg. von Hans Dieter Erlinger [u. a.]. Reihe praktischer Journalismus 27. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Konstanz 1998. S. 400. 33 Justice J. Stewart paraphrasiert nach: Rostron, Return (wie Anm. 27), S. 74. 34 Vgl. Rostron, Return (wie Anm. 27), S 64; Lawlor, Margaret-Anne u. Andrea Prothero: Exploring Children’s Understanding of Television Advertising – beyond the Advertiser’s Perspective. In: European Journal of Marketing 42/11/12 (2008). S. 1216–1217. 35 Vgl. Andrews, Edmund L.: The Media Business; F. C. C. Adopts Limits on TV Ads Aimed at Children. http://www.nytimes.com/1991/04/10/business/the-media-business-fcc-adopts-limits-on-tv-adsaimed-at-children.html (24.11.2017); Rostron, Return (wie Anm. 27), S. 70. 36 Vgl. Rostron, Return (wie Anm. 27), S. 59. 37 Vgl. Stötzel, Dirk Ulf: Entwicklung des Kinderfernsehens im deutschen Markt. In: Handbuch des Kinderfernsehens. Reihe praktischer Journalismus 27. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Konstanz 1998. S. 60. Vgl. Nielsen Media Research zitiert nach: AGF: AGF – Werbespendings. Anteile der Medien am Brutto-Werbemarkt (in %). http://www.agf.de/daten/tvdaten/werbespendings/ (24.11.2018). 38 Vgl. AGF, Werbespendings (wie Anm. 37) www.agf.de/daten/tvdaten/werbespendings/ (24.11.2018). 39 Vgl. § 7a Abs. 1; § 8 Abs. 6; § 15; § 16 Abs. 1; § 44; § 45 RStV. Die Medienanstalten: Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (Rundfunkstaatsvertrag – RStV) vom 31. August 1991 in der Fassung des Achtzehnten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achtzehnter Rund-
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dukte, die direkt mit Sendungen verbunden sind,40 können jedoch im Kinderfernsehen beworben werden, ohne als Werbezeit zu zählen.41 Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann mit kommerziellen Tätigkeiten zusätzliche finanzielle Mittel generieren.42 Er darf den Werbetreibenden dabei allerdings keinen Einfluss auf die Programmgestaltung einräumen. Dadurch entsteht ein Konflikt zwischen den gesetzlichen Vorgaben43 und einer ‚vollständigen‘ und vielfältigen Lizenzverwertung. Generell kann an dieser Stelle bereits festgestellt werden, dass durch die Perpetuierung von Figuren als Werbeträger letztendlich Werbe(zeit)beschränkungen unterwandert und zu Nichte gemacht werden.
Eltern als Gatekeeper: Die Lebenszeit von Spielwaren Der Erfolg von Spielzeugheldinnen und -helden am Markt zeigt sich zum einen anhand der Verkaufszahlen,44 d. h. anhand der Bereitschaft für dingliche (Konsum-) Artikel mit dem Konterfei bestimmter Charaktere Geld auszugeben, und zum anderen darüber, wie lange sich diese der Beliebtheit von Kindern und Erwachsenen erfreuen. Bei einer genaueren Betrachtung von Marken- und Charakteruniversen fallen Spielwaren auf, mit denen Eltern oder sogar Großeltern in ihrer Kindheit schon Kontakt hatten. Unter ihnen befinden sich Figuren wie My Little Pony, He-Man oder Hot-Wheels, die über die Jahrzehnte hinweg immer wieder Facelifts unterzogen wurden und auch in anderen Medien – im Bücheregal, auf dem Computer und im World Wide Web – anzutreffen sind. Die Motivation der dahinterstehenden Spielwarenher-
funkänderungsstaatsvertrag) in Kraft seit 1. Januar 2016. http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/gesetze.html (01.07.2016); Ziff. 6 Abs. 1 WerbeRL. Die Landesmedienanstalten: Gemeinsame Richtlinien der Landesmedienanstalten für die Werbung, die Produktplatzierung, das Sponsoring und das Teleshopping im Fernsehen (WerbeRL/FERNSEHEN i. d. F. vom 18. September 2012). http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/richtlinien.html (27.07.2016). 40 Vgl. § 16 Abs. 4 RStV. Die Medienanstalten, Staatsvertrag (wie Anm. 39), http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/gesetze.html (01.07.2016); Ziff. 1 WerbeRL. Die Landesmedienanstalten, Richtlinien (wie Anm. 39), http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/richtlinien.html (27.07.2016). 41 Vgl. § 45 Abs. 1 RStV. Die Medienanstalten, Staatsvertrag (wie Anm. 39), http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/gesetze.html (01.07.2016). 42 Vgl. § 16 Abs. 1 RStV. Die Medienanstalten, Staatsvertrag (wie Anm. 39), http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/gesetze.html (01.07.2016). 43 Vgl. § 7 Abs. 3 RStV. Die Medienanstalten, Staatsvertrag (wie Anm. 39), http://www.die-medienanstalten.de/service/rechtsgrundlagen/gesetze.html (01.07.2016). 44 Vgl. z. B. European Audiovisual Observatory (OBS): Focus on Animation. Strasbourg 2015. S. 62.
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steller wie Hasbro oder Mattel die Universen der Figuren zeitgemäßen Umgebungen anzupassen, wird in diesem Artikel als Teil der Analyse von Wertschöpfungsketten untersucht. Zentrum ökonomischer Überlegungen ist einerseits das sogenannte Shelf Life. Darunter wird die Haltbarkeit, sprich Lebenszeit, einer Figur und damit eines Medieninhalts verstanden. Diese gilt es zu verlängern um einzelne Stufen der Wertschöpfungskette immer wieder auszuschöpfen.45 So wird nicht nur das Verfallsdatum eines Produkts durch erneut aktivierte Relevanz ausgedehnt,46 sondern auch die Verwurzelung der Figuren als kulturelles Gut in der Gesellschaft manifestiert.47 Auf der anderen Seite steht der hart umkämpfte Shelf Space: nur ein gewisses Kontingent an Charakteren hat in den Spielzeugregalen und den Herzen der jungen Konsument*innen Platz. ‚Klassiker‘48 wie Die Schlümpfe, Garfield oder Tom & Jerry werden immer wieder aufgegriffen und in Wiederholungen gezeigt.49 Eltern agieren als Gatekeeper für die Auswahl des Programms ihrer Kinder50 und bevorzugen potenzi-
45 Vgl. Hecker, Gerd: Chancen und Perspektiven des europäischen Zeichentrickfilms. In: Kinder und der Medienmarkt der 90er Jahre: aktuelle Trends, Strategien und Perspektiven. Hrsg. von Hans Dieter Erlinger. Opladen 1997. S. 36; Tashjian, Joy u. Jamie Campbell Naidoo: Licensing and Merchandising in Children’s Television and Media. In: The Children’s Television Community. Hrsg. von J. Alison Bryant. New York 2007. S. 181. 46 „Merchandising, bezeichnet die produktorientierte Verwertung einer Story, einer Medienmarke (Marke) oder einer Medienfigur über die massenmediale Vermittlung hinaus. […] Die über die Medieninhalte hinausgehende Thematisierung entsprechender Marken, Figuren und Symbole durch Waren und deren Gebrauch finanziert einerseits die Produktion und Distribution, fungiert aber andererseits auch als Sympathie- und Werbeträger und sorgt für Rezipientenbindung und Nachfrage nach den Medienoriginalen. Die Kooperation der beteiligten Unternehmen wird überwiegend über Lizenzverträge organisiert und abgesichert.“ Vgl. Sjurts, Insa: Gabler Lexikon Medienwirtschaft. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2011. S. 406. Einen detaillierten Überblick über die Anfänge des Merchandising gibt z. B. Kerstin Eßer. In: Eßer, Suche (wie Anm. 32), S. 402–404. 47 Vgl. Goudreau, Jenna: With Disney Buying Maker, Do All Big Media Companies Need To Up Their YouTube Game? http://www.forbes.com/sites/dorothypomerantz/2014/04/01/with-disneybuying-maker-do-all-big-media-companies-need-to-up-their-youtube-game/ (11.1.2017). 48 Vgl. Brechtel, Detlev: Schlümpfe im Trend. TV-Sender und Filmindustrie besinnen sich beim Kinderprogramm auf Klassiker, um das Merchandising wieder stärker ankurbeln. In: HORIZONT 24 (2005). S. 57. 49 Eine Auswertung der Zeichentrickangebote aus dem Jahr 1995 zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt unter anderem Serien wie Alfred J. Kwak, Inspektor Gadget, Familie Feuerstein, Bugs Bunny, Tom & Jerry, Die Schlümpfe, Lucky Luke, Die Simpsons, Pinocchio, Arielle, die Meerjungfrau, Goofy und Max, Classic Cartoons, Alvin und die Chipmunks, Die Fraggles, Benjamin Blümchen, The Scooby-Doo Show oder Garfield im wöchentlichen Programm zu sehen waren. Vgl. Eßer, Kerstin: Von Null auf Hundert: Das Zeichentrickangebot im deutschen (Kinder-)Fernsehen – ein historischer Abriß. In Handbuch des Kinderfernsehens. Hrsg. von Hans Dieter Erlinger [u. a.]. Reihe praktischer Journalismus 27. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Konstanz 1998. S. 352 f. 50 Vgl. Brechtel, Schlümpfe (wie Anm. 48), S. 57.
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ell Inhalte, die sie selbst aus ihrer Kindheit kennen und für ‚nachhaltig‘ befunden haben.51 Kinder sind eine schnell wechselnde Zielgruppe, denn es „wächst alle vier bis fünf Jahre eine neue Kinder- und somit Konsumentengeneration heran.“52 Diese dient wiederum als Publikum für Wiederholungen, Fortsetzungen und Spin-Offs von erfolgreichen Narrativen, die oft kostengünstiger realisiert werden.53 Animierte Programminhalte sind aufgrund von Abstraktion, kulturübergreifenden Charakteren, sowie einer einfacheren Synchronisation zudem langfristig international verwertbar.54 Sie weisen dadurch eine wesentlich längere Lebenszeit als Realfilme auf. Studien von Susan Auty und Charlie Lewis55 sowie von Jörg Matthes und Brigitte Naderer56 zu Product-Placement weisen darauf hin, dass Produkte in Filmen die Wahl von Snacks bei Kindern beeinflussen. So wählten Kinder nach dem Sehen von Filmausschnitten mit den platzierten Produkten Pepsi oder Cheeseballs diese häufiger als andere Nahrungsmittel, die nicht in den Sequenzen vorkamen. Besonders bei wiederholtem Konsum wird, so Auty und Lewis, Gezeigtes ins implicit- oder sogar ins explicit memory übernommen, was sich wiederum auf reale Entscheidungen auswirkt: „Given the tendency of young children to watch videos of their favorite films over and over again, the findings have ethical implications for the use of product placement in films targeted at young children who have not yet acquired strategic processing skills.“57 Ging es in diesen Studien um von Protagonisten konsumierte Produkte, so liegt die Vermutung nahe, dass auch das Konterfei von Charakteren auf Produkten einen starken Einfluss auf das Consideration Set und so das Kaufverhalten von Kindern ausüben kann. Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass Kinder, wenn sie Spielzeugheldinnen und -helden wieder und wieder sehen,
51 Vgl. Goudreau, Disney (wie Anm. 47), www.forbes.com/sites/dorothypomerantz/2014/04/01/ with-disney-buying-maker-do-all-big-media-companies-need-to-up-their-youtube-game/ (11.1.2017). 52 Hecker, Chancen (wie Anm. 45), S. 36. 53 Vgl. Hecker, Chancen (wie Anm. 45), S. 36; License Global: Sony Pictures Bets on Licensing Flashback. o. O. 2018. S. 28. 54 Vgl. z. B. Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK): Von der Fernsehzentrierung zur Medienfokussierung – Anforderungen an eine zeitgemäße Sicherung medialer Meinungsvielfalt: Bericht der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) über die Entwicklung der Konzentration und über Maßnahmen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk; Konzentrationsbericht der KEK nach § 26 Abs. 6 RStV. Hrsg. von ALM GbR. Band 49. Schriftenreihe der Landesmedienanstalten. Leipzig 2014. S. 331; Brandt, Stefanie: Marketinghandbuch Licensing: Brands und Lizenzthemen professionell vermarkten. Wiesbaden 2011. S. 166; Hecker, Chancen (wie Anm. 45), S. 36; Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 40; Steemers, Jeanette: Growing Up: The Rise of the Global Market in Preschool Programming. In: Creating Preschool Television. Hrsg. von Jeanette Steemers. London 2010. S. 38. 55 Vgl. Auty, Susan u. Charlie Lewis: Exploring Children’s Choice: The Reminder Effect of Product Placement. In: Psychology and Marketing 21/9 (2004). S. 697–713. 56 Vgl. Matthes, Jörg u. Brigitte Naderer: Children’s consumption behavior in response to food product placements in movies. In: Journal of consumer behaviour 14/2 (2015). S. 127–136. 57 Auty u. Lewis, Children’s (wie Anm. 55), S. 699–700, 710.
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diese als Alltag erleben und in ihr Spiel integrieren wollen. Sei es durch Spielwaren, Nahrungsmittel oder Alltagsgegenstände, die mit den Figuren in Verbindung stehen. Folglich wäre eine Beeinflussung der Narrative mit einer Einmischung in die Fantasie und reale Lebenswelt der Kinder gleichzusetzen.58 Für die Produzenten von Kinderprogramminhalten wiederum gewinnen dadurch jene Lizenzen, die mit besagten Charakteren verknüpft sind, immens an Wert.
Refinanzierung von Medieninhalten: Globaler Lizenz- und Formathandel Im Fernsehmarkt wird unter Lizenz59 die Praxis des Fernsehprogrammhandels verstanden, bei der Ausstrahlungs- oder Senderechte veräußert werden.60 Zudem beschreibt der Terminus die Veräußerung von Nebenverwertungsrechten, die etwa für die Herstellung und den Vertrieb von Merchandising-Produkten genutzt werden.61 Durch dieses sogenannte Licensing, das Branchen und Produktkategorien wie Computer- oder Videospiele, Bücher, Mode, Schmuck, tägliche Bedarfsprodukte oder Nahrungsmittel umfasst, werden kostenintensive Film- oder TV-Produktionen schlussendlich refinanziert.62 Zusätzlich existieren Fanclubs oder Portale in denen die Zuschauer*innen mit den Charakteren ‚interagieren‘ können.63 Der Kindersender
58 Vgl. auch: Bilandzic, Helena u. Patrick Rössler: Life according to Television: Implications of Genre-Specific Cultivation Effects: The Gratification/Cultivation Model. In: Communications: The European Journal of Communication Research 29/3 (2004). S. 296–298; Havens, Timothy: The Business and Cultural Functions of Global Television Fairs. In: Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Produktion von Fernsehunterhaltung. Hrsg. von Klaus-Dieter Altmeppen [u. a.]. 1. Auflage. Wiesbaden 2010. S. 195–208; Matthes u. Naderer, Children’s (wie Anm. 56), S. 128; Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 35. 59 Als Lizenznehmer treten Unternehmen auf, die Lizenzen für die Nebenrechtsverwertung eines Lizenzthemas von Lizenzgebern selbst oder einer beauftragten Agentur erwerben. In Bezug auf die Nutzung von Charakteren als Werbeträger übernehmen Lizenzagenturen die Vermarktung auf Lizenzmessen und erhalten dafür üblicherweise 10 bis 20 % der Lizenzgebühren. In Marketinghandbuch Licensing beschreibt Stefanie Brandt ausführlich die verschiedenen Formen von Lizensierungen und die daran beteiligten Akteure und Lizenzmessen, sowie Strategien des Aufbaus und der Pflege von Lizenzthemen. Siehe: Brandt, Marketinghandbuch (wie Anm. 54), S. 47–51; 95–99; 249; 255. 60 Vgl. Sjurts, Gabler (wie Anm. 46), S. 352; Schaal, Ulrich: Das strategische Management von Contentrechten. Schlüsselherausforderung für audiovisuelle Medienunternehmen. 1. Auflage. Wiesbaden 2010. S. 32. 61 Vgl. Sjurts, Gabler (wie Anm. 46), S. 406. 62 Vgl. Brandt, Marketinghandbuch (wie Anm. 54), S. 13–14; Sjurts, Gabler (wie Anm. 46), S. 407. 63 Siehe z. B. ausführlich Nieland, Jörg-Uwe: Kult-Marketing revisited. Glanz, Elend und Kritik unterhaltender Fernsehproduktionen. In: Handbuch Unterhaltungsproduktion. Beschaffung und Pro-
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Super RTL erwirtschaftete bereits im Jahr 2005 etwa 20 % seiner Einnahmen durch Merchandising.64 Forschende gehen davon aus, dass bei großen Animationsproduktionen knapp die Hälfte der Umsätze durch Merchandising erzielt wird.65 Ein ökonomischer Hintergrund für die Reanimierung bereits bekannter Narrative ist die Abwendung von Erfolgsrisiken seitens der Produzenten.66 Eine Studie des OBS zu europäischen Kinderfilmen in Deutschland und der EU belegt, dass bei neuen audiovisuellen Inhalten für Kinder viele bekannte Narrative aufgegriffen werden, um ökonomische Risiken möglichst gering zu halten. Zwischen 2001 und 2010 wurden in europäischen Kinos 564 Real- und Animationskinderfilme gezeigt.67 Unter den jeweiligen Top 25 Kinderfilmen zwischen 2001 und 2010 befanden sich viele deutsche (Ko-)Produktionen, wie Asterix & Obelix, Der kleine Eisbär, Wickie und die starken Männer oder Emil und die Detektive,68 deren Stoff bereits durch Serien, Comics oder Kinderbücher bekannt war. Wenngleich der Merchandising-Markt in Deutschland, verglichen mit anderen europäischen Ländern wie Spanien oder Italien, wenig ausgeprägt ist, ‚funktionieren‘ Charaktere wie Bob der Baumeister, die gewisse Lerneffekte und somit aus Sicht der Eltern Nutzen bringen, verhältnismäßig gut zur Vermarktung von Büchern, DVDs und Spielen.69 Generell bewirkt Merchandising eine längere Auseinandersetzung mit Serienfiguren und erweitert somit deren Shelf Life bei gleichzeitigen Einnahmen durch den Verkauf von Produkten. Als Urvater des Merchandisings und ‚Dauerbrenner‘ im globalen Licensing gilt Star Wars,70 zu den erfolgreichsten Lizenzen im deutschen Markt zählen SpongeBob, Prinzessin Lillifee oder Ice Age.71
duktion von Fernsehunterhaltung. Hrsg. von Klaus-Dieter Altmeppen [u. a.]. 1. Auflage. Wiesbaden 2010. S. 291–293. 64 Vgl. Brechtel, Schlümpfe (wie Anm. 48), S. 57. 65 Vgl. Havens, Timothy: Universal Childhood: The Global Trade in Children’s Television and Changing Ideals of Childhood. Global Media Journal: American Edition 6/10 (2007). S. 6. 66 Vgl. auch detailliert: Rimscha, Bjørn von: Risikomanagement in der Entwicklung und Produktion von Spielfilmen. Wie Produzenten vor Drehbeginn Projektrisiken steuern. Wiesbaden 2010. S. 258–264. 67 Animierte Filme wurden dabei in mehr Ländern gespielt als Realfilme, was Thesen der einfacheren Synchronisation und kulturübergreifenden Charaktere bestärkt. 68 Weitere Narrative waren 7 Zwerge, Urmel aus dem Eis, Felix – Ein Hase auf Weltreise, Prinzessin Lillifee, Die Konferenz der Tiere, Lauras Stern, Mr. Bean’s Holiday, Pinocchio, Das fliegende Klassenzimmer, Das Sams – der Film, Bibi Blocksberg sowie Die Wilden Kerle 2. Vgl. Kanzler u. NewmanBaudais, Media (wie Anm. 17), S. 15–17, 31. 69 Vgl. Brechtel, Schlümpfe (wie Anm. 48), S. 57. Pädagogik-Klassiker wie Die Sendung mit der Maus oder Sesamstraße sind vermutlich aufgrund ihrer Lokalität sowie ihrer immer neu aufbereiteten Lerneffekte bei Eltern beliebt. 70 Vgl. Fritsche, Julia: „Star Wars“: Die Kultreihe als Vater des Merchandising http://www.handelszeitung.ch/unternehmen/die-geldmaschinerie-des-star-wars-imperium (27.10.2018); Kapell, Matthew Wilhelm u. John Shelton Lawrence: Finding the Force of the Star Wars Franchise: Fans, Merchandise, and Critics. 1st Edition. New York 2006. S. 193.
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Im Rahmen des seit den 1970er Jahren praktizierten Barter Business werden statt Geld, Güter, Dienste oder Rechte gehandelt.72 Werbetreibende Unternehmen übernehmen so die Produktion von Sendungen, liefern diese an Rundfunkveranstalter und erhalten im Gegenzug gratis Programmplätze um Werbung zu schalten.73 Weltweit werden Programminhalte gegen Werbezeiten eingetauscht und führen zu einer Amortisation der Kosten bei gleichzeitiger Senkung der Werbeausgaben,74 sowie der Schaffung eines ‚günstigen‘ Umfelds für beworbene Produkte.75 In den 1980er Jahren stellten US-amerikanische Kinderfernsehveranstalter pro ‚gelieferter‘ Episode von He-Man and the Master of the Universe zwei Minuten Werbezeit zur Verfügung. Um die Serie Thunder Cats in den USA zu promoten, schütteten Spielwarenhersteller bei einem Zuseher*innenanteil von 4 % jeweils 2 % der nationalen Gewinne an die Rundfunkveranstalter aus.76 Zu Beginn der 2000er Jahre kündigten in Deutschland große Werbefirmen dezidiert an, auf den Entwicklungsprozess von TVInhalten einwirken zu wollen, um „produktaffine Umfelder“77 für die Promotion ihrer Waren zu schaffen. Bezogen auf den globalen Handel von Lizenzen im Kinderfernsehmarkt und damit verbundenes Merchandising listet die OBS innerhalb der Top 150 die weltweit größten Lizenzgeber für animierte Charaktere und TV-Serien auf (siehe Abbildung 1). Unter ihnen befinden sich sowohl im Rundfunksektor tätige Konzerne und Produktionsstudios wie The Walt Disney Company, die BBC, DHX Media, Warner Bros., DreamWorks Animation oder Nickelodeon, als auch Spielzeughersteller wie Hasbro oder Lego.78 Die Liste offenbart zudem eine starke Dominanz US-amerikanischer, britischer und japanischer Unternehmen.
71 Vgl. Brandt, Marketinghandbuch (wie Anm. 54), S. 185–186. Eine der bekanntesten deutschen Lizenzagenturen war die 1989 von Thomas Haffa gegründete EM-Entertainment München, Merchandising, Film und Fernseh GmbH (EM.TV). Stefanie Brandt listet die deutschen 50 bekanntesten Lizenzthemen der 6- bis 12-Jährigen auf. Die Aufstellung, enthält z. B. Asterix & Obelix, Bibi Blocksberg, SpongeBob, Mickey Mouse, Tom & Jerry, Sesamstraße, Die Sendung mit der Maus, Bob der Baumeister, Prinzessin Lillifee, Die Simpsons oder Wickie und die starken Männer auf den obersten Rängen. Vgl. Brandt, Marketinghandbuch (wie Anm. 54), S. 24, 180. 72 Vgl. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: Bartering – Lexikon der Filmbegriffe. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=1930 (11.04.2016). 73 Vgl. Rostron, Return (wie Anm. 27), S. 71; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: Bartering – Lexikon der Filmbegriffe. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=1930 (11.04.2016). 74 Vgl. KEK, Fernsehzentrierung (wie Anm. 54), S. 423. 75 Vgl. Eßer, Suche (wie Anm. 32), S. 414. 76 Vgl. Rostron, Return (wie Anm. 27), S. 62. 77 Zabel, Wettbewerb (wie Anm. 11), S. 66. 78 Vgl. OBS, Focus (wie Anm. 44), S. 62.
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Abb. 1: Auf dem Lizenzmarkt aktive Firmen unter den Top 150 der weltweit größten Lizenzgeber im Jahr 201579
79 OBS, Focus (wie Anm. 44), S. 62.
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Produzenten von Kinderfernsehinhalten sind daher einerseits Ideengeber für kindliches Spiel, andererseits globale Handelsgrößen. Anhand eines konkreten Beispiels lässt sich der Zwiespalt zwischen Pädagogik und Vermarktung, in dem sich die Erschaffer von Kinderfernsehen befinden, veranschaulichen. Die erfolgreiche US-amerikanische Animationsserie Dora the Explorer wurde zwischen 2000 und 2015 vom Sender Nickelodeon produziert und ausgestrahlt. Die siebenjährige Protagonistin Dora erlebt mit dem Affen Boots und ihrem sprechenden Rucksack Backpack Abenteuer und löst Rätsel. Sie spricht im Originalton Englisch und Spanisch, bei der deutschen Synchronisation sind es Deutsch und Englisch. In jeder Folge sind neben dem sprachlichen Schwerpunkt auch Lernelemente eingebaut.80 Daraus ließe sich ableiten, dass es sich um eine unterhaltende Kinderserie mit pädagogischen Ansätzen, wie etwa der Integration von Sprache und Kultur sowie dem Erlernen von Lösungsstrategien, handelt. Das Universum von Dora the Explorer beschränkt sich nicht nur auf die Serie oder weitere audiovisuelle Inhalte. Vielmehr lassen sich anhand einer einfachen Suchmaschinen-Recherche Merchandising-Artikel wie DVDs, Bücher, Brettspiele, Computerspiele, Spielfiguren, Taschen und Rucksäcke, eine Spielzeugküche, elektronische Spielfiguren, Kleidung, Geschirr, Lunchboxen, Frühstücksflocken, ein Autositz, Lampen, ein Kindertelefon, diverse Stifte, ein Zahnputzset, ein Regal, ein Planschbecken, ein Fahrradhelm, Tisch und Sessel, ein Fahrrad, ein Bett sowie Kosmetikprodukte finden. Statt einer Vielfalt an Narrativen wird auf eine Vielfalt an Vermarktungsmöglichkeiten für die Lizenz Dora the Explorer und damit Verkaufserlöse gesetzt, wodurch pädagogische Inhalte, die sich durchaus in der Kinderserie finden, in den Hintergrund rücken.81 Wie präsent diese Figur in der US-amerikanischen Medien- und Alltagskultur ist, machte unter anderem ein hausgroßer Dora the Explorer-Ballon deutlich, der im Jahr 2005 sein Debut bei der Macy’s Thanksgiving Day Parade in New York hatte. Generell sind Jahr für Jahr die wichtigsten Spielzeugheldinnen und -helden bei der Parade als Ballons auf den Straßen New Yorks vertreten.82 Das Lizenzgeschäft der Serie steht also auf Erfolgskurs. Vier Jahre nach dem Launch betrugen die Umsätze der Dora the Explorer-Lizenz über 1 Milliarde US-
80 Vgl. Viacom UK & Ireland Press Centre: Dora the Explorer. http://www.vimn.com/press/nick-jr/ series/dora-the-explorer (20.11.2018); Viacom Newsroom: Nickelodeon Celebrates 10th Anniversary of Groundbreaking Preschool Series Dora the Explorer With New Primetime TV Movie, ‚Dora’s Big Birthday Adventure‘, Premiering Sunday, Aug. 15. https://news.viacom.com/press-release/nickelodeon/nickelodeon-celebrates-10th-anniversary-groundbreaking-preschool-series-do (20.11.2018). 81 Ridder bemängelte diesen Umstand im US-amerikanischen Kinderfernsehen schon im Jahr 1997. Vgl. Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 36. 82 Vgl. Ratner-Arias, Sigal: ‚Dora the Explorer‘ May Change a Whole Generation. http://www.spokesman.com/stories/2010/sep/06/soaring-stardom/ (20.11.2018).
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Dollar,83 zum zehnten Jubiläum im Jahr 2010 existierten bereits 950 verkaufte Lizenzen, sprich Produkte und Produktkategorien, bei einem Umsatz von über 11 Milliarden US-Dollar.84 Zwei Jahre später war Dora the Explorer Nummer 3 der Top 20 Lizenzen für Vorschulkinder mit globalen Einzelhandelsumsätzen von 933 Millionen US-Dollar.85 Weltweit findet sich die Serie Dora the Explorer auf 140 Märkten, wurde in 33 Sprachen übersetzt und hat auf 29 nationalen Nickelodeon-Webseiten eine eigene Sektion oder Mikrowebseite.86
Abb. 2: Erfolgreichste Lizenzthemen im Vorschulkindersektor87
83 Vgl. Starr, Michael: Search For Real Dora. https://nypost.com/2008/02/18/search-for-real-dora/ (20.11.2018). 84 Vgl. Loveday, Samantha: Dora the Explorer. http://www.licensing.biz/brand-profiles/read/dorathe-explorer/038293 (20.11.2018). 85 Vgl. The Licensing Letter: Top 20 Preschool Properties in the $ 12.8 Billion Industry. http://www. thelicensingletter.com/top-20-preschool-properties-in-the-12-8-billion-industry/ (23.11.2017). 86 Vgl. Loveday, Samantha: Dora the Explorer. www.licensing.biz/brand-profiles/read/dora-theexplorer/038293 (20.11.2018). 87 The Licensing Letter, Preschool (wie Anm. 85), www.thelicensingletter.com/top-20-preschoolproperties-in-the-12-8-billion-industry/ (23.11.2017).
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In den Top 20 erfolgreichsten Figuren im Vorschulkindersektor (siehe Abbildung 2) sind neben Dora the Explorer Charaktere wie Winnie the Pooh (Rang 1, gehört seit 1961 zur The Walt Disney Company), Sesame Street (Rang 4, gehört zur non-profit Organisation Sesame Workshop), My Little Pony (Rang 10, gehört zum Spielwarenhersteller Hasbro) oder Strawberry Shortcake (Rang 16, gehörte ursprünglich zur Grußkartenfirma American Greetings88 inzwischen zur DHX Media) vertreten. Generell wird die Liste jedoch von Disney-Narrativen wie Frozen, Doc McStuffins, Minnie’s Bow-Toons, Mickey Mouse Clubhouse und Sofia the First dominiert, die insgesamt mehr als 24 % der weltweiten Marktanteile dieser 20 erfolgreichsten Lizenzprodukte ausmachen. Nur wenige kommerzielle Kindersender übernehmen inzwischen ein Programm, das nicht bereits von Spielwarenherstellern unterstützt wird. Der Verkauf von Figuren oder Spielen fördert die Bindung zwischen den jungen Zuseher*innen und der Sendung erheblich, sodass Synergieeffekte genutzt werden und sich Produzenten finanziell absichern können.89 Auf dem Lizenzmarkt zeichnen sich daher generell zwei Herangehensweisen für die Verknüpfung von Spielwaren und Programminhalten ab: A. Ein Narrativ (Buch, Comic Strip, Film, Serie) ist erfolgreich. Im Anschluss werden passende Lizenzprodukte hergestellt und vermarktet (z. B.: Sesame Street, Winnie the Pooh, The Peanuts).90 B. Zeitgleich mit der Veröffentlichung eines Produkts (insbesondere Spielwaren) werden audiovisuelle Narrative produziert, um die Charaktere zu ‚pushen‘, auch Shortcake Strategy genannt.91 Es existiert folglich erst das Spielzeug, audiovisuelle Narrative werden lediglich zur Promotion erschaffen (z. B.: He-Man, Care Bears, Hot Wheels, Strawberry Shortcake).
In den Animationsserien My Little Pony von Hasbro, He-Man und Hot Wheels von Mattel sowie Strawberry Shortcake und Care Bears von Kenner werden so seit Jahrzehnten fiktionale Welten erschaffen, in denen die gleichnamigen Spielzeugautos, Plastikpferdchen, Superhelden, Plüschbären und Puppen als Spielanreiz agieren.92 Ole J. Mjøs spricht in diesem Zusammenhang voneiner Symbiose in der Produktion
88 Strawberry Shortcake (auch: Emily Erdbeer) stammt aus den 1970er Jahren. Im Laufe der Zeit kamen 32 weitere Figuren hinzu, wobei jede mit einem alliterierenden Namen nach einem Dessert oder einer Frucht benannt war, dazu passende Kleidung trug und ein ebenso nach Früchten oder Nachspeisen benanntes Haustier hatte. 89 Vgl. Havens, Childhood (wie Anm. 65), S. 6; Paus-Hasebrink u. Kulterer, Kommerzialisierung (wie Anm. 2), S. 50, 52; Rimscha, Risikomanagement (wie Anm. 66), S. 260. 90 Vgl. z. B. Lowry, Patricia: Strawberry Shortcake: A Billion Dollars in Sales. https://news.google. com/newspapers?id=zBgeAAAAIBAJ&sjid=BGAEAAAAIBAJ&dq=strawberry-shortcake&pg=6747% 2C130245 (27.10.2018). 91 Vgl. Engelhardt, Tom: Children’s Television. The Shortcake Strategy. In: Watching Television: A Pantheon Guide to Popular Culture. Hrsg. von Todd Gitlin. 1st Edition. New York 1987. S. 73 u. 88– 89. Wie abgedroschen die Narrative um die Heldinnen und Helden dieser Dauerwerbesendungen waren, verdeutlicht Engelhardt anhand einer fiktiven Zusammenfassung dieser Kinderwelten in einer Kurzgeschichte mit austauschbaren Orten, Protagonisten und Antagonisten.
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von (animierten) Programminhalten und Konsumgütern.93 Diese Verknüpfung von Medienproduzenten und Spielwarenherstellern führt dazu, dass viele Kinderserien schlichtweg als Dauerwerbesendungen für die mit den Figuren beworbenen Produkte angesehen werden können.
Empirische Untersuchung: Durchschnittliche Woche im deutschen Kinderfernsehen Grundsätzlich sind bei einer Untersuchung von Kinderfernsehinhalten verschiedenste Ansätze denkbar: Sendungen können durch Inhaltsanalysen medienpädagogisch oder -psychologisch betrachtet, die Programmvielfalt anhand von Genres ermittelt, oder Handelsströme der Programminhalte nachverfolgt werden. Der Forschungsstand legt nahe, dass das Spektrum an verfügbarem Kinderspartenprogramm und die ihm zugrunde liegenden medienökonomischen Mechanismen bzw. deren Auswirkungen kaum erforscht sind und auch offizielle Untersuchungen wie Programmberichte der ALM das Kinderprogramm nur im Rahmen der Vollprogramme betrachten. Das Analysekonzept der jährlichen ALM-Studien, das die Aufsichtsaufgaben der Medienanstalten umsetzt, bezieht sich auf deutsche Fernsehvollprogramme. Dabei werden die Qualitätsdimensionen strukturelle Programmvielfalt, inhaltliche Programmvielfalt sowie gesellschaftliche Programmrelevanz anhand der Qualitätsindikatoren Produktions- und Angebotsstruktur (Gesamtprogramm), Themenstruktur (Fernsehpublizistik), sowie Stellenwert kontroverser Themen (Fernsehpublizistik) untersucht. Als Methoden werden Programmstruktur- sowie Inhaltsanalysen eingesetzt.94 Eine Kinderprogrammbetrachtung, insbesondere bezogen auf eine Vielfalt an Herkunftsländern sowie Handelsströmen, blieb bisher aus. Für eine Bestandsaufnahme der Kinderprogramme in Deutschland bietet sich zunächst eine Strukturanalyse bezogen auf die Programmvielfalt an. Die vorliegende empirische Studie begrenzt sich dabei auf das in der Bundesrepublik Deutschland empfangbare Kinderspartenprogramm (Free-TV und Pay-TV). Ziel der Untersuchung war es, im Rahmen eines angebotsorientierten Ansatzes die Produktionsbedingungen und Handelsströme im deutschen Kinderfernsehmarkt zu identifizieren. Methodisch und inhaltlich knüpft die Studie daher an die ALM-Studien an und verwendet
92 Vgl. auch: Brandt, Marketinghandbuch (wie Anm. 54), S. 21–22; Engelhardt, Children’s (wie Anm. 91), S. 76; Lowry, Strawberry (wie Anm. 90), https://news.google.com/newspapers?id=zBgeAAAAIBAJ&sjid=BGAEAAAAIBAJ&dq=strawberry-shortcake&pg=6747%2C130245 (27.10.2018); Mjøs, Symbiosis (wie Anm. 4), S. 1031; Rostron, Return (wie Anm. 27), S. 61. 93 Vgl. Mjøs, Symbiosis (wie Anm. 4), S. 1031. 94 Vgl. ALM GbR – die medienanstalten (Hrsg.): Programmbericht 2014. Fernsehen in Deutschland Programmforschung und Programmdiskurs. Leipzig 2015. S. 222.
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zudem weitestgehend die von Udo Michael Krüger in seiner Analyse der Kindervollprogramme KiKA, Super RTL und Nickelodeon angewandten Kategorien.95 Als Untersuchungszeitraum wurde eine Sendewoche festgelegt. Innerhalb des Jahresverlaufs liegen unterschiedliche Nutzungsmuster von Fernsehen vor, sodass auf die Praktiken der ALM zurückgegriffen wurde, eine sogenannte natürliche Sendewoche aus den Kalenderwochen 41–42 (Herbst) bzw. 12–16 (Frühjahr) mit sieben aufeinanderfolgenden Sendetagen (Mo–So) als Untersuchungsgegenstand auszuwählen. Für die Stichprobe der vorliegenden Analyse wurde mit KW 41 (Mo–So) des Jahres 2015 ein Zeitraum gewählt, bei dem zum einen ein Jahresmittelwert in der Sehdauer des Publikums vorlag, und zum anderen keinerlei politische, gesellschaftliche oder sportliche Ereignisse das Programm dominierten. Bei zwei der untersuchten Kindersender (nicktoons, Nick Jr.) konnte für diesen Zeitraum, sowie davor und danach kein nutzbares Datenmaterial generiert werden. Im Rahmen einer Stichprobenkorrektur wurde hier als Ausweichwoche auf eine natürliche Sendewoche im Frühjahr 2016 (April, KW 15), ebenfalls ohne Feiertage, zurückgegriffen. Für die Erhebung der Daten für die Sendelisten wurden die jeweiligen Programmveranstalter der Kinderspartensender kontaktiert und fehlende Sendelisten durch Daten von Programmzeitschriften ergänzt. Als Kindersendung wurden alle Programminhalte betrachtet, die von den Kindersendern und Programmzeitschriften als solche mit Titel und Sendungstitel aufgelistet wurden. Lag Material aus mehreren Quellen vor, wurde dieses miteinander abgeglichen. Zusätzlich zu diesen Ressourcen wurden die Sendelisten durch Recherche um Merkmale der Programmentstehung (Produktionsjahr, Produktionsart, Produktionsländer, Produzenten) des Sendungstyps (z. B. animierte Inhalte, Live Action) sowie Distributoren und Laufzeiten ergänzt. Formale Merkmale wie Sender, Sendungstitel, Sendezeit, Sendungsdauer und Datum wurden genutzt um kurzfristige Wiederholungen zu ermitteln.96 Bei der Untersuchung der 13 ausgewiesenen Kinderspartensender97 ergab sich dadurch eine Stichprobe mit einer Gesamtstundenanzahl von 1 836 Stunden, 6 Minuten und 20 Sekunden. Folgende weitere Merkmale zur Stichprobe sind festzuhalten:
95 Vgl. ALM GbR, Programmbericht 2015 (wie Anm. 12), S. 224; Krüger, Spaß (wie Anm. 19), S. 415. 96 Für detaillierte Auswertungen und Senderprofile sowie weitere Details zum Methodendesign siehe: Scholz, Formathandel (wie Anm. 24), S. 107–149. In der empirischen Betrachtung wurde dezidiert zwischen den Veranstaltungskategorien öffentlich-rechtlich, kommerziell privat und Pay-TV unterschieden um auf die jeweiligen (gesetzlichen) Gegebenheiten und Besonderheiten einzugehen. 97 KiKA, Super RTL, Disney Channel, Nickelodeon, RIC, Disney Junior, Disney XD, Nick Jr., nicktoons, Fix & Foxi, Junior, Boomerang und Cartoon Network. Aufgrund der Zulassung, Zielgruppe sowie Sprache wurden die Sender BabyTV, Detski Mir/Telebom sowie Disney Cinemagic (HD) aus der empirischen Analyse herausgenommen und lediglich bezüglich der jeweiligen Veranstaltern und Beteiligungen porträtiert; Scholz, Formathandel (wie Anm. 24), S. 110 u. S. 145–149.
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nGesamt = 5 456 Sendungen inklusive sogenannter kurzfristiger Wiederholungen nSendungen = 3 517 verschiedene Episoden bzw. Filme (ohne Wiederholungen) = 488 verschiedene Sendungstitel nTitel
Um die Strukturen von Sendern und Senderfamilien zu zeigen, evaluiert die Untersuchung weiterhin Herkunftsländer, Produktionsjahre und -firmen sowie die Wiederholungsrate gezeigter Inhalte anhand der Sendelisten. Die Ergebnisse der umfassenden Analyse verdeutlichen die Verflechtungen der TV-Veranstalter mit Produktionsfirmen und Rechteinhabern, schlüsseln die Besitzverhältnisse der Spartenkanäle auf und gleichen sie mit statistischen Daten zur Fernsehnutzung98 ab. Bei der Gesamtstundenanzahl von 1 836 Stunden, 6 Minuten und 20 Sekunden ist eine durchschnittliche Wiederholungsrate von etwa 31 % (siehe Abbildung 3) festzustellen. Wiederholungsraten von bis zu über 50 % und durchschnittliche Produktionsjahre um die Jahrtausendwende verdeutlichen das Ausmaß der Wiederholung von seit Jahrzehnten bekannten Narrativen wie Tom und Jerry, Die Schlümpfe, Garfield, Die Muppet Show, DuckTales, Bugs Bunny oder Biene Maja im Programm einiger Kinderspartensender. Auf diese Weise äußert sich der in der Literatur beschriebene Trend, dass mit einer gestiegenen Anzahl an digitalen Spartenkanälen auch die Anzahl an (kurzfristigen) Wiederholungen von Programminhalten steigt.99 Die hoch frequentierte Verwendung von Sendungen, die für Spielwaren und Merchandising bekannt sind, veranschaulicht, in welcher Weise Rundfunkveranstalter und Rechteinhaber vorhandene (Vermarktungs-)Lizenzen und hart umkämpfte Senderechte nutzen. Auf internationalen Fernsehmessen wird der Markt zudem von kostengünstigen Program-Length Commercials überflutet, die – von Spielwarenherstellern produziert, finanziert oder unterstützt – oft Teil erworbener umfangreicher Rechtepakete, sogenannter Output-Deals, sind. Diese werden von kleineren Rundfunkveranstaltern miterworben und als Füllmaterial genutzt.100 Die Abbildungen 4 stellen exemplarisch die beiden frei empfangbaren Kindervollprogramme KiKA und Disney Channel gegenüber, die sich in Bezug auf Produktionsbedingungen und strukturelle
98 Dass Kinderfernsehen bei weitem nicht den gesamten Fernsehkonsum von Kindern ausmacht, verdeutlichen die Hitlisten der Top 100 von Kindern konsumierten Sendungen in regelmäßigen Erhebungen durch die AGF und GfK, die ebenfalls in die Auswertung einflossen. Streamingdiensten und Mediatheken sowie Videoplattformen muss zusätzlich eine immer größere Bedeutung beigemessen werden. Diese werden jedoch bisher noch nicht durch die AGF und GfK erfasst. Vgl. Feierabend u. Klingler, Kinder (wie Anm. 8), S. 184; Scholz, Formathandel (wie Anm. 24), S. 92–98. 99 Vgl. Popp, Wolfgang [u. a.]: Rechtemanagement in der digitalen Medienwelt: Herausforderung und Erfolgsfaktor für Rundfunkunternehmen. In: Media Perspektiven 2008/9 (2008). S. 458. 100 Vgl. Karstens, Eric u. Jörg Schütte: Firma Fernsehen: Alles über Politik, Recht, Organisation, Markt, Werbung, Programm und Produktion. Reinbek bei Hamburg 1999. S. 259, 261; Hoskins, Colin u. Rolf Mirus: Reasons for the US Dominance of the International Trade in Television Programmes. Media, Culture & Society 10/4 (1988). S. 499–515.
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Vielfalt stark unterscheiden. So weist der KiKA eine doppelt so hohe Anzahl gesendeter Titel sowie beteiligter Produktionsfirmen auf, die Anzahl der Herkunftsländer der Inhalte ist verglichen mit dem Disney Channel sogar fast dreimal so hoch. Die Weltkarte (siehe Abbildung 5) visualisiert, dass die insgesamt 580 identifizierten Produktionsfirmen innerhalb der Stichprobe vor allem in den USA und Kanada, in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Australien und Japan Kinderfernsehinhalte herstellen. Allein zum Disney-Konzern (Firmensitz: USA) gehörten mehr als 20 Produktionsfirmen101, bei Viacom (Firmensitz: USA) waren es ein Dutzend. Mattel (Firmensitz: USA), Corus Entertainment bzw. Nelvana, DHX Media bzw. Cookie Jar, CINAR, Nerds Corporation, Studio B (jeweils Firmensitz: Kanada), Gaumont Animation (Firmensitz: Frankreich) und Turner Broadcasting (Firmensitz: USA) konnten jeweils etwa eine Handvoll Firmen zugerechnet werden. Deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten waren an gut einem Dutzend Produktionsfirmen beteiligt und auch weitere europäische öffentlich-rechtliche Anstalten aus Frankreich, der Schweiz und Großbritannien befanden sich unter den 580 Produktionsfirmen. Mehr als ein Drittel aller Produktionsfirmen konnten so als von nordamerikanischen Konzernen abhängige, d. h. mit diesen Konzernen verwobene Unternehmen kategorisiert werden. Zahlreiche weitere waren darüber hinaus mit nordamerikanischen TV-Sendern verflochtene. Die hohe Anzahl an Firmen deutet zwar eine starke Fragmentierung der Produktionslandschaft an, gleichzeitig verweist die hohe relative Beteiligung einzelner Konzerne an der Erstellung von Kinderfernsehinhalten als Produzenten oder Rechteinhaber jedoch auf deren potenzielle Markt- und Meinungsmacht. Besonders aktive Akteure waren der Viacom-Konzern (ca. 25 % Beteiligung), der Time Warner-Konzern (ca. 20 % Beteiligung) sowie der Disney-Konzern (ca. 18 % Beteiligung).102 Mit großem Abstand folgten die DHX Media-Gruppe (ca. 9 % Beteiligung), die deutschen Öffentlich-Rechtlichen (ca. 5 % Beteiligung), NBC Universal (ca. 4 % Beteiligung) und DreamWorks (ca. 3,5 % Beteiligung). Die Your Family Entertainment erreichte eine Beteiligung von ca. 2,7 %, darauf folgten die Studio 100 N. V. (1,6 % Beteiligung), die BBC (0,6 % Beteiligung) und RTL (0,3 % Beteiligung). Die Stichprobe belegt zudem eine starke Dominanz von Ko-Produktionen, welche auf Bestrebungen zur Risikostreuung und Kooperation hinweisen. Die Analyse veranschaulicht einerseits die Verflechtungen von Fernsehproduzenten, Rundfunkveranstaltern und Spielwarenherstellern, andererseits identifiziert die Betrachtung von Eigentumsstrukturen und Beteiligungen veranstaltender Unternehmen unter Einbeziehung von Handelsströmen insgesamt eine Vorherrschaft von US-amerikanischen
101 Zum Beispiel ABC Disney, Disney Enterprises, Lucasfilm, Marvel Studios. 102 Da es sich jeweils um eine Vielzahl an Tochterfirmen handelt und eine Gesamtmenge von 580 Produktionsfirmen vorliegt, fallen die prozentualen Anteile extrem gering aus. In dieser Teilbetrachtung wurden nur die produktionsstärksten Firmen einbezogen. Aufgrund von Mehrfachbeteiligungen und Ko-Produktionen liegt die Gesamtsumme der Beteiligungen über 100 %.
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(Medien-)Konzernen auf dem deutschen Kinderfernsehmarkt. Einen besonders hohen Anteil an deutschen und europäischen Inhalten wiesen die Sender KiKA, Junior und RIC auf. Starke angelsächsische Prägung hatten die Sender der Disney-, Viacomund Time Warner-Gruppen. Zusätzlich handelte es sich hauptsächlich um Eigen-, Kooder Auftragsproduktionen, die vielfach, das heißt wiederholend oder sogar zeitnah in verschiedenen Spartensendern, verwertet wurden. Übergreifend weisen diese Spartensender nach dem Prinzip „more of the same“ statt Pluralität, eine geringe Vielfalt in Hinblick auf Herkunft und formale Merkmale der Programminhalte auf. Einblicke in die Nutzungszahlen und -gewohnheiten von Zuseher*innen weisen jedoch nicht auf eine Ablehnung des Publikums gegenüber solcher Programmstrukturen hin. Ein starker Markteinstieg im Free-TV-Sektor sowie die beständige Führungsrolle des Senders Super RTL deuten sogar auf die Präferenz der Zuseher*innen hinsichtlich dieser Inhalte hin.103 Nicht nur im Nachrichtensektor, sondern vor allem über stark frequentierte Unterhaltungsprogramme können Produktionsfirmen und Besitzer von Lizenzen Meinungsbildung innerhalb der Gesellschaft aktiv beeinflussen. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die Gefahr einer Konzentration von Meinungsmacht in deren potenziellen Missbrauch durch die Inhalteersteller besteht.104 Die Kontrolle von Fusionen großer Medienkonzerne ist insbesondere im Kinderprogramm-Sektor angebracht, da Kinder vor allem unterhaltende bzw. für sie dezidiert ausgeschriebene Programminhalte wiederholt nutzen. Die Ergebnisse der empirischen Studie verdeutlichen weiterhin, dass die traditionelle Wertschöpfungskette Kinderfernsehen überdacht und angepasst werden sollte.
Abb. 3: Vergleich der Titel-, Produktionsländer-, Aktualitäts- und Wiederholungsraten aller Kinderspartensender105
103 Vgl. AGF, GfK und TV Scope nach: Feierabend u. Klingler, Kinder (wie Anm. 8), S. 181. 104 Vgl. KEK, Fernsehzentrierung (wie Anm. 54), S. 489. 105 Quelle: Eigene Erhebung. Vgl. Scholz, Formathandel (wie Anm. 24), S. 110–116.
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Abb. 4: Senderprofile und Produktionsländer der Kindersender KiKA und Disney Channel106
106 Quelle: Eigene Erhebung. Vgl. Scholz, Formathandel (wie Anm. 24), S. 119 u. 124.
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Abb. 5: Globale Beteiligungen der Produktionsländer bei Kinderfernsehinhalten nach Intensität der Handelsströme107
Wertschöpfungskette Kinderfernsehen In der klassischen Wertschöpfungskette von audiovisuellen Medieninhalten108 werden die Stufen Programmentwicklung und -produktion, Programm- bzw. Rechtehandel, Programmveranstaltung, sowie technische Distribution durchlaufen. Als Akteure treten neben Autor*innen, Produzenten, Sendern und Werbekunden bzw. Lizenznehmern auch Verlage, Distributoren sowie Merchandising-Agenturen und Werbezeitenvermarkter auf.109 Während vor der Digitalisierung und voranschreitenden Globalisierung eine Gliederung in Aufgabenbereiche und Akteure klar abzustecken war, verschwimmen diese Grenzen mittlerweile. Durch das Vorantreiben von Vorwärts- und Rückwärtsintegration übernehmen Produzenten, Filmstudios, Film-
107 Quelle: Eigene Erhebung. Vgl. Scholz, Formathandel (wie Anm. 24), S. 154. 108 Siehe z. B. Wirtz, Bernd W.: Medien- und Internetmanagement. 6., überarbeitete Auflage. Wiesbaden 2009. S. 384; KEK, Fernsehzentrierung (wie Anm. 54), S. 20; Hofmann u. Schmid, Wertschöpfungskette (wie Anm. 23), S. 2; Beck, Klaus: Das Mediensystem Deutschlands: Strukturen, Märkte, Regulierung. Studienbücher zur Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden 2012. S. 182; Popp [u. a.], Rechtemanagement (wie Anm. 99), S. 455; Kiefer, Marie Luise u. Christian Steininger: Medienökonomik. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. München 2014. S. 168. 109 Vgl. Hofmann u. Schmid, Wertschöpfungskette (wie Anm. 23), S. 2; Wirtz, Internetmanagement (wie Anm. 108), S. 384.
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verleiher oder Rechtehändler nun zusätzliche Kernaufgaben in den einzelnen Wertschöpfungsstufen (vgl. Abbildung 6). Über Program-Length Commercials und Bartering beeinflussen Spielwaren- und Produkthersteller Programmentwicklung, Produktion und Refinanzierung, was die Unterscheidung zwischen Werbung und redaktionellen Inhalten nahezu unmöglich macht.110
Abb. 6: Aktualisierung und Adaptierung der Wertschöpfungskette Kinderfernsehen111
Als Betreiber deutscher Kinderspartensender treten öffentlich-rechtliche, private sowie US-Affiliate Programmveranstalter auf. Öffentlich-rechtliche Betreiber sind finanziell relativ abgesichert und müssen einen Programmauftrag erfüllen, der auf programmstruktureller Ebene Inhalte aus möglichst vielfältigen nationalen und internationalen Bezugsquellen vorsieht. Europäische Pay-TV Betreiber wiederum verfügen der durchgeführten Analyse zu Folge über eigene Rechtebibliotheken von meist traditionellen europäischen Narrativen (z. B. Sagen, Märchen, Fabeln). Etwaiges kostengünstiges Füllprogramm wie Program-Length Commercials kaufen sie auf dem freien Markt bzw. bei Programmmessen etwa im Rahmen von Output Deals ein. Auf der anderen Seite stehen Betreiber von US-Affiliate-Sendern wie Disney Channel, Nickelodeon oder Cartoon Network, die eine umfangreiche Rechtedatenbank von Eigenproduktionen besitzen, mit der mehrere auf unterschiedliche Zielgruppen (Jun-
110 Siehe auch: Ridder, US-Kinderfernsehen (wie Anm. 25), S. 33; KEK, Fernsehzentrierung (wie Anm. 54), S. 325–327. 111 Eigene und adaptierte Darstellung vgl. Scholz, Formathandel (wie Anm. 24), S. 177. in Anlehnung an: Wirtz, Internetmanagement (wie Anm. 108), S. 384; KEK, Fernsehzentrierung (wie Anm. 54), S. 20; Hofmann u. Schmid, Wertschöpfungskette (wie Anm. 23), S. 2; Beck, Mediensystem (wie Anm. 108), S. 182; Popp [u.a.], Rechtemanagement (wie Anm. 99), S. 455; Kiefer u. Steininger, Medienökonomik (wie Anm. 108), S. 168.
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gen, Mädchen, Kleinkinder, Vorschulkinder, Tweens, Teenager) ausgerichtete Kinderspartensender bespielt werden können. Sie benötigen lediglich eine ‚Bühne‘ für ihre bereits vorhandenen Inhalte, die Dank der Digitalisierung leicht in Form von verschiedenen Spartenkanälen realisierbar ist. Zusätzliche Gewinne erzielen die dahinter stehenden globalen Unternehmen mit dem Verkauf von Senderechten und der Vermarktung von Lizenzen, etwa für Merchandising-Artikel.
Fazit: Kinderfernsehen zwischen Pädagogik und Program-Length Commercials Die Produktion von Medieninhalten ist mit den Vermarktungsstrategien von Spielwaren mittlerweile so eng verwoben, dass einige Kinderprogramminhalte als Dauerwerbesendungen für Figuren und somit Konsumgüter mit deren Konterfei eingestuft werden können. Kindersendungen vereinen kommerzielle Inhalte mit nicht-kommerziellen Narrativen112 und stehen dadurch symbolhaft für die Verschmelzung von Werbe- und Fernsehmarkt. Die Verwendung von ‚erwerbbaren Spielwaren‘ in fiktionalen Lebenswelten regen die Wünsche der Kinder nach diesen Charakteren und Figuren an und begünstigen den Zugriff auf die direkte und indirekte Kaufkraft von Kindern. In Hinblick auf die Vermarktung medienbezogener Produkte lohnt es sich für den Disney-Konzern mittlerweile das Programm des Disney Channels ‚gratis‘ im Free-TV anzubieten. Durch perpetuiertes Zeigen von ‚erwerbbaren Spielwaren‘ wird die Notwendigkeit von klassischer Werbung ausgehebelt, da Kinder Spielzeuge und Konsumgüter-Produkte mit dem Abbild der Charaktere langfristig bevorzugen. So werden auf lange Sicht zudem gesetzliche Werbebeschränkungen unterwandert. Für Fernsehveranstalter ist das Betreiben zahlreicher Spartenkanäle lukrativ, um einerseits das Shelf Life alter Filme, Episoden und Staffeln zu erweitern und andererseits den Absatz von Merchandising-Produkten zu steigern. Solche Programme können aus diesem Grund nicht uneingeschränkt als ‚gratis‘ beurteilt werden, da vor einem Vermarktungshintergrund produzierte Medieninhalte mit der Aufmerksamkeit der (jungen) Konsument*innen bezahlt werden. Teure Abonnements für ‚werbefreie‘ Spartenkanäle, auf denen Kinder zwischen My Little Pony, Dora the Explorer, He-Man, Strawberry Shortcake oder Hot Wheels wählen können, müssen folglich mit Vorsicht genossen werden, da diese Sender nur klassische Werbeformen exkludieren, wodurch eine vermeintliche Werbefreiheit suggeriert wird. Festzustellen ist jedenfalls, dass es auch Narrative der öffentlich-rechtlichen Medieninhalte in die Regale der Spielwarenhandlungen geschafft haben. Ob Tigerentenclub, Janosch, Der
112 Vgl. Rostron, Return (wie Anm. 27), S. 78.
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kleine Maulwurf oder Yakari: Von der Sandmännchen-Tütensuppe bis zum Biene Maja-Koffer ist alles erwerbbar, was das große und kleine Konsument*innenherz begehrt. Die programmstrukturelle Analyse einer natürlichen Sendewoche veranschaulicht, dass der Löwenanteil der analysierten Inhalte in Nordamerika produziert wurde und seinen Ursprung in globalen (Medien-)Konglomeraten hat. Wichtig ist dementsprechend festzuhalten, dass es sich um eine ökonomische Potenz einiger weniger Akteure und Produzenten im internationalen Kinderfernsehen handelt, wodurch eine mangelnde strukturelle Vielfalt der Inhalte hervorgerufen wird. Eine Liberalisierung der rechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Werbung im Umfeld von Kinderfernsehen, und dezidiert Program-Length Commercials führen dazu, dass Inhalte immer stärker kommerzialisiert werden. Speziell privatwirtschaftlich organisierte Kindersender setzen auf Wiederholungen und Füllprogramm, um mehrere Spartenkanäle für unterschiedliche Teilgruppen des Zielpublikums unter dem Dach einer Senderfamilie zu veranstalten und so größere Zuschauer*innenzahlen zu akquirieren. Medienkonzerne wie Disney, Viacom und Time Warner verfügen über umfassende eigene Rechtebibliotheken, die sie zusammen mit Kooperationspartnern, zu denen auch Spielwarenhersteller oder Comicverlage gehören, aufbauen und immer wieder recyceln können. In Deutschland zielt die Konzentrationskontrolle der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) zwar auf die Sicherung von Meinungsvielfalt bei gleichzeitiger Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht ab. Der Rundfunkstaatsvertrag (RStV) berücksichtigt jedoch dezidiert das Nebeneinander von ökonomischem und publizistischem Wettbewerb.113 Beschränkungen durch die KEK können sich meist nur auf nationale Verflechtungen auswirken, was beim Betrieb von lokalen Spartensendern durch internationale Medienkonglomerate Schwierigkeiten verursacht. Als ‚zahnloser Tiger‘ bleibt der KEK häufig nur die Feststellung von Missständen sowie die Warnung vor weiterer Unternehmens- und Medienkonzentration.114 Wie auch andere Medienprodukte gehört qualitativ hochwertiges Kinderfernsehen, das unterhält aber auch pädagogische Werte vermittelt und
113 Vgl. auch: KEK, Fernsehzentrierung (wie Anm. 54), S. 16. 114 Ende Oktober 2018 veröffentlichte die KEK ihren 20. Jahresbericht, in dem sie auf den Trend sogenannter „Senderfamilien“ und deren Expansion sowie den Bedeutungszuwachs von Pay-TV und Streaming-Services hinwies. Außerdem strebt die KEK weiterhin eine Reform des Medienkonzentrationsrechts, insbesondere in Hinblick auf Internetplattformen sowie angesichts der angestrebten Megafusionen amerikanischer Medienunternehmen an. Vgl. Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK): 20. Jahresbericht der KEK und Stellungnahme zum Entwurf eines neuen Medienstaatsvertrags: Reform des Medienkonzentrationsrechts bleibt auf der Agenda. http://www.kek-online.de/service/pressemitteilungen/meldung/news/20-jahresbericht-der-kekund-stellungnahme-zum-entwurf-eines-neuen-medienstaatsvertrags-reform-de/ (25.11.2018); Die Medienanstalten – ALM GbR: 20. Jahresbericht der KEK. Leipzig 2018. S. 170–171.
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gleichzeitig wenig kommerziell durchsetzt ist, zu den sogenannten meritorischen Gütern115. Die Produktion und der Konsum dieser Güter ist zwar gesellschaftlich erwünscht (meritorious), stimmt aber auf den Märkten nicht mit den Präferenzen der Konsument*innen überein, so dass diese aufgrund der mangelnden Nachfrage explizit hergestellt werden müssen. Der Markt alleine kann ein vielfältiges Angebot von Kinderfernsehen aufgrund der Meritorik nicht ausreichend zur Verfügung stellen. Weiterhin kann festgehalten werden, dass die Kommerzialisierung von Kinderfernsehen zwar von Erwachsenen, jedoch nicht von Kindern als solche identifiziert werden kann. Für Eltern bleibt es daher wichtig, sich mit den von Kindern konsumierten Programminhalten auseinanderzusetzen, und sich die Verschmelzung von Inhalten und Werbung stets vor Augen zu halten.
Literatur AGF: AGF – Werbespendings. Anteile der Medien am Brutto-Werbemarkt (in %). www.agf.de/daten/ tvdaten/werbespendings/ (24.11.2018). ALM GbR – die medienanstalten (Hrsg.): Programmbericht 2015. Fernsehen in Deutschland Programmforschung und Programmdiskurs. Leipzig 2016. ALM GbR – die medienanstalten (Hrsg.): Programmbericht 2014. Fernsehen in Deutschland Programmforschung und Programmdiskurs. Leipzig 2015. Altmeppen, Klaus-Dieter, Katja Lantzsch und Andreas Will: Unterhaltungsbeschaffung und Unterhaltungsproduktion. Merkmale und Strukturen am Beispiel des Fernsehformathandels. In: ALM Programmbericht. Fernsehen in Deutschland 2009. Programmforschung und Programmdiskurs. Hrsg. von Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2010. S. 107–125. Andrews, Edmund L.: The Media Business; F. C. C. Adopts Limits on TV Ads Aimed at Children. www. nytimes.com/1991/04/10/business/the-media-business-fcc-adopts-limits-on-tv-ads-aimed-atchildren.html (24.11.2017). Auty, Susan u. Charlie Lewis: Exploring Children’s Choice: The Reminder Effect of Product Placement. In: Psychology and Marketing 21/9 (2004). S. 697–713. Bachmair, Ben: Kinderfernsehen als Thema öffentlicher Debatten, eine Einordnung in ein kulturtheoretisches Modell. In: MedienPädagogik 13 (2008). S. 1–9. Bandura, Albert, Dorothea Ross u. Sheila A. Ross: Transmission of Aggression through Imitation of Aggressive Models. In: The Journal of Abnormal and Social Psychology 63/3 (1961). S. 575– 582.
115 Für eine Diskussion zu Musgraves meritorischen Bedürfnissen (merit wants) und der Bedeutung der Eingriffe in die Konsument*innensouveränität in Zusammenhang mit mangelnder Beurteilungsfähigkeit oder Vertrauensgütern vgl. Kiefer, Marie Luise: Medienökonomik: Einführung in eine ökonomische Theorie der Medien. 2., vollständig überarbeitete Auflage. München 2005. S. 139–141 sowie Kiefer, Marie Luise: Meritorik. In: Gabler Lexikon Medienwirtschaft. Hrsg. von Insa Sjurts. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2011. S. 408.
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Michael Cowan
Public Advertising Screens and the Ambivalence of Interactivity Digital Advertising and Surveillance: The Minority Report Paradigm One would be hard pressed to name a film more frequently cited in popular discussions of big data than Steven Spielberg’s Minority Report (2002). The film’s dystopian scenario, where surveillance technologies combine with a trio of paranormal future-gazers to all-but eradicate free will, shows up in news articles, tech blogs, Ted Talks, and books on the so-called “big data revolution” – in particular almost anytime the discussion turns to the question data-driven policing.1 For the authors of the best-selling 2013 book Big Data: A Revolution that Will Change How We Live, Work and Think, that proximity spelled out one of the dangers of a technology their book otherwise touted: “It is the quintessential slippery slope – leading straight to the society portrayed in Minority Report, a world in which […] our individual moral compass has been replaced by predictive algorithms. […] If so employed, big data threatens to imprison us – literally – in probabilities.”2
1 Thus a 2014 BBC article entitled “Crime Fighting with Big Data Weapons” informed readers that “[P]ublicly shared information, combined with data from local authorities, social services and intelligence gathered by beat officers, is helping police around the world stop trouble before it starts. It’s not quite the ‘pre-crime’ scenario featured in Minority Report, but it’s getting close.” Mark Ward: Crime fighting with big data weapons, BBC News, 18 March 2014. http://www.bbc.co.uk/news/business-26520013. See also Dickinson, Katie and Jasper Hamill: British cops test Minority-Report-style system to stop crimes before they happen. In: The Sun (11 May 2017). https://www.thesun.co.uk/ tech/3536544/british-cops-test-minority-report-style-system-to-stop-crimes-before-they-happen/; Manning, Clarissa: Is Predictive Policing like Minority Report? In: BOTEC Analysis Corporation. n. d., accessed 3 December 2017. http://botecanalysis.com/is-predictive-policing-like-minority-report/; Techdirt: Chicago PD Believes It Can See the Future, Starts Warning Citizens About Crimes They Might Commit. n. d. accessed 3 December 2017. https://www.techdirt.com/articles/20140220/ 09312226296/minority-report-chicagos-new-police-computer-predicts-crimes.shtml; Grant, Ed: Could Predictive Policing Lead to a Real-Life Minority Report? In: Singularity Hub (02 February 2017). https://singularityhub.com/2017/02/02/could-predictive-policing-lead-to-a-real-life-minorityreport/; Cukier, Kenneth: Big Data is Better Data. In: Ted Talk, filmed June 2014 in Berlin. Video, 11:40. https://www.ted.com/talks/kenneth_cukier_big_data_is_better_data?language=en; Schönberger, Viktor Meyer and Kenneth Cukier: Big Data: A Revolution that will Transform How We Live, Work and Think. London 2013. 2 Schönberger and Cukier, Big Data (see note 1), pp. 57–58, 163. https://doi.org/10.1515/9783110661965-010
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261
Fig. 1: Screenshot Business Insider, “Predictive Policing”
In these and other writings, Minority Report has become a kind of cultural shorthand for anxieties about technology and surveillance in an era defined by big data. Of course, one might wonder whether the probabilistic methods of data correlation really align with Spielberg’s quasi-mythical scenario (adopted from Philipp K. Dick’s 1956 story) of a trio of extraordinary clairvoyants. But one can also question scenarios of technology-driven “revolutions” on other grounds. As media historian Kelly Gates has argued in her study of the history of facial recognition technologies, technological infrastructures never simply set themselves up. Rather, they require myriad – and profoundly contingent – investments of capital, labor, research, physical infrastructure and logistics by a wide array of social actors over many decades.3 Just as crucially, such infrastructures require cultural groundwork: strategies for endowing technologies with plausibility, legitimacy and desirability; campaigns to generate public trust; and the articulation of social problems such that certain technologies can appear as solutions. In the case of predictive policing, such cultural work could be traced back at least to the 19th century, when criminologists – reacting to urbanization, population changes and the spread of revolutionary sentiments – sought to mobilize the ‘data’
3 Gates, Kelly: Our Biometric Future: Facial Recognition Technology and the Culture of Surveillance. New York 2011. p. 5.
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of statistical photography to match physiognomic features to a supposed propensity for certain crimes.4
Fig. 2: Plate from Cesare Lombroso – l’homme criminal
4 Indeed, 19th-century debates about predictive criminology could be seen as part of a larger debate around ‘statistical fatalism’ with remarkable parallels to the anxieties expressed in relation to ‘big data’ today. See Hacking, Ian: The Taming of Chance. Cambridge 1990. p. 121.
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263
Such genealogies are rarely, if ever, referenced in stories of the contemporary data “revolution”, which tend instead to assume a technological causality and posit the digital turn as a break with the past. In such technological narratives, culture is relegated to the reactive role of providing legal and moral “safeguards” to keep technology’s excesses in check, rather than being seen as a productive agent in its own right.5 To a great extent, Minority Report itself participated in that narrative, positing pervasive biometric surveillance as a quasi-inevitable outgrowth of digital technologies. Indeed, this assumption informed Spielberg’s very strategy for generating visual and narrative plausibility in the film, when he hired a much publicized “think tank” of technology experts – including science advisor John Underkoffer and cultural luminaries such as Steward Brand and Douglas Coupland – to design the “smart world” of 2054 based on their understanding of current technology trends. The group’s visions were marketed at the time as an act of collective technological prophecy, and much of the film’s reception has followed suit, celebrating Spielberg’s uncanny ability to predict subsequent developments.6 For instance, an entire Wikipedia article is devoted to cataloguing the technologies from Minority Report that have either been realized or are on the verge of implementation, with no mention of anything the film might have gotten wrong.7 Hence, one might say that a film like Minority Report performed a self-fulfilling cycle of plausibility: While it drew on existing industry discourses to undergird its own plausibility as a science fiction film, it also serves as a template for those industry discourses in turn, continuously reinforcing a narrative of technological inevitability. But as much as Minority Report served to frame discussions of digital policing, there was also another aspect of the film widely picked up by business and technology publications, namely its representations of digital advertising in the form of “smart” billboards, which identify the protagonist John Anderton and hail him as he passes before their screens.
5 Schönberger and Cukier, for example, argue in their conclusion that “[The world of big data] will require that we establish new principles by which we govern ourselves. […] In a world of predictions, it’s vital that human volition is held sacrosanct and we preserve not only people’s capacity for moral choice but individual responsibility for individual acts. And society must design safeguards to allow a new professional class of ‘algorithmists’ to assess big data analytics”. Schönberger and Cukier: Big Data (see note 1), p. 193. 6 See e. g. Kennedy, Lisa: Spielberg in the Twilight Zone. In: Wired (2 June 2002). https://www. wired.com/2002/06/spielberg/?pg=1&topic=&topic_set=. 7 Wikipedia: “Technologies in Minority Report”, last modified 30 October 2017. https://en.wikipedia.org/wiki/Technologies_in_Minority_Report.
264 Michael Cowan
Fig. 3: Filmstill from Minority Report (USA 2002)
Presented as an integral part of the film’s all-pervasive surveillance apparatus, advertising in Minority Report contributes to the film’s dystopian take on the invasive potentials of digital technologies. In this essay, I want to examine the way in which this “Minority Report” paradigm has influenced popular perceptions of interactive advertising as a menacing outgrowth of the digital turn, and how such perceptions might intersect with more optimistic ideas about digital interactivity as a means of spectatorial empowerment. As I will argue, both approaches to interactivity, inasmuch as they subscribe to narratives of technological causality, ignore both the longer genealogies of mobile advertising technologies and the productive role of culture in determining the directions such technologies might take today.
Advertising Screens in Minority Report: Between Science Fiction and Plausibility The representations of advertising in Minority Report have no equivalent in Dick’s original story, but they do take up a longstanding preoccupation with “future” screens in science fiction film, which has formed one of the places where film thinks about competing types of screen experience. For example, the television screens that populated interwar films such as Aelita: Queen of Mars (1924), Metropolis (1927), High Treason (1929) and Things to Come (1936) all served to thematize another potential of cinema as a medium of simultaneous broadcast rather than indexical preservation – a potential placed firmly on the radar by the implementation of radio in the 1920s.8 This interest in ‘other’ screens would come to focus specifically
8 Cowan, Michael: The Realm of the Earth: Simultaneous Broadcasting and World Politics in Interwar Cinema. In: Intermédialités 23 (2014). http://id.erudit.org/iderudit/1033343ar; Uricchio, Wil-
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265
on advertising in later science fiction films such as Blade Runner (1982), where the giant animated urban screens and advertising blimps connoted a world of globalized simulacra, or John Carpenter’s They Live (1988), which drew on the more familiar model of the Society of Spectacle to depict an opposition between advertising surface and the capitalist reality underneath.
Fig. 4: Filmstill from High Treason (UK 1929)
For its part, Minority Report upped the ante with its representation of a public space saturated by screen technologies that are resolutely interactive – whereby the term should be understood in a double sense. On the one hand, the film’s screens respond to users’ gestural input, employing the so-called G-Speak system patented by Underkoffer. But the film’s diegetic screens are also interactive in the reverse operational sense of acting upon people by gathering biometrical data (here through iris recognition). Not coincidentally, Spielberg’s film came out just as both modes of technological interactivity – touch screens and biometric facial recognition – were beginning to gain visibility in commercial applications in the late 1990s. Though facial recognition had been part of experimental laboratory research since the 1960s, the mid-1990s oversaw the first initiatives by companies such as Visionics, Miros
liam: Storage, Simultaneity, and the Media Technologies of Modernity. In: Allegories of Communication: Intermedial Concerns from Cinema to the Digital. edited by John Fullerton and Jan Olsson. Eastleigh 2004. pp. 123–138.
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and Viisage to develop commercial applications in the banking industry, state bureaucratic agencies (e. g. drivers’ license bureaus), and the prison and welfare industries.9 At the same time, touch screens, which had been around in the form of pen-operated devices since the 1970s, were finding their first widespread commercial use in video game consoles, early smart phones (e. g. the IBM Simon) and business applications such as the “Portfolio Wall”.10 Spielberg’s technical team was clearly drawing on this new visibility to lend plausibility to the film’s vision of future screens.11 But they could also draw on an intensifying theoretical discourse around interactivity in advertising more broadly. By the fall of 2001, that discourse had grown loud enough to merit the founding of a specialized journal, The Journal of Interactive Advertising, which would go on to become one of the two official publications of the American Academy of Advertising. In the lead editorial of the first issue, editors John Leckenby and Hairong Li argued that the rise of the Internet had unleashed veritable sea change in the advertising world, and that both the theory and practice of advertising needed to be rethought for what they called “our interactive age”. Specifically, the authors developed a three-stage model of advertising remediation. The first stage, already accomplished, involved transporting traditional forms of advertising into new media through phenomena such as banner ads.12 Stage two, which they believed was happening at the time, involved the development of medium-specific forms of Internet advertising, including interactive ads but also “user-centric audience measurement methods”.13 The final and future phase, they predicted, “will be apparent when techniques for the new medium ‘turn back’ on the older formats. TV ads then look like interactive ads, for example”.14 This template for thinking about the future of advertising in the interactive age is analogous to the one that Spielberg’s team followed in imagining future cities as spaces where billboards would imitate qualities of online experience. But it’s also a
9 See Gates: Our Biometric Future (see note 3), pp. 25–63. 10 See Meadows, Jennifer: Digital Signage. In: Communication Technology Update and Fundamentals. ed. by August Grant and Jennifer Meadows. New York and London 2014. pp. 117–126.; Ion, Florence: From Touch Displays to the Surface: A Brief History of Touch Screen Technology. In: Ars Technica (04 April 2013). https://arstechnica.com/gadgets/2013/04/from-touch-displays-tothe-surface-a-brief-history-of-touchscreen-technology/2/. 11 This effort to generate plausibility was further underscored by Spielberg’s deals with actually existing trademark companies; thus in one well-known sequence, we see and hear billboards for Lexus, Guiness, Century 21 and American Express hail Anderton by name as he passes through a shopping mall. And in a later sequence, he learns of the origin of his newly implanted eyes when an interactive Gap billboard falsely identifies him as “Mr. Yakomodo”. 12 Leckenby, John and Hairong Li: From the Editors: Why We Need the Journal of Interactive Advertising. In: Journal of Interactive Advertising 1/1 (2000). p. 1. 13 Leckenby and Li: From the Editors (see note 12), p. 2. 14 Leckenby and Li: From the Editors (see note 12), p. 2.
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template that has increasingly framed industry research over the last decade. Since the introduction of digital billboards in the mid-2000s, the advertising industry has witnessed a boom of investment in public screens that interact with users via touch response, gesture recognition, motion capture, mobile phone links, and indeed facial recognition.15 The result is a seemingly endless array of screens that demand our interaction in various ways, from time-passing games at bus stops to interactive dance displays to more clever ads, such as a Mercedes campaign that invited subway riders in Berlin’s Friederichstrasse to ‘open up’ a Mercedes mini-van with their electronic car keys to humorous results.16
Fig. 5: Key to viano interactive Mercedes billboard
Other billboards purport to make consumers part of the display; for instance, Coca Cola ads permitting passers-by to insert their faces into the display, replace the Cola trademark with their own names, or dance with the figures on a vending machine.17
15 An overview from an industry perspective can be found in Meadows: Digital Signage (see note 11). 16 Kiefaber, David: Unlock a Mercedes With Your Own Car Key on These Subway Ads. In: Adweek (13 February 2012). http://www.adweek.com/creativity/unlock-mercedes-your-own-car-keys-thesesubway-ads-138210/. 17 Keliher, Mike: Coke’s Times Square billboard goes interactive with Expedition 206. In: Fast Horse (3 September 2010). http://www.fasthorseinc.com/blog/2010/09/cokes-times-square-billboard-goesinteractive-with-expedition-206/; Ho, Ying-Hei-Elise: The Coke Dance Vending Machine Rewards Participants for Dancing in Public. In: Trendhunter Marketing (3 October 2012). https://www.trendhunter.com/trends/coke-dance-vending-machine.
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Fig. 6: Coca Cola interactive dancing vending machine, South Korea
And many advertisements operate by interfacing with social media, like the Jello “Pudding-Face” ad erected on Times Square in 2011, which kept track of “America’s mood” by tabulating the number of smile and frown emoticons in twitter messages and changing its expression appropriately (while also giving away free Jello when the national mood got too low).18 Still other advertisements recall the legacy of avant-garde collaborations. For example, a “Scratch Poster” by the Danish DJ software producer Slussen allows passers-by to test out their DJ skills on a specially prepared surface,19 and in a campaign financed by the Mexican paper company Scribe, the artist Cecelia Beaven lived inside a billboard for 10 days and created a work of art based on the tweeted requests of passers-by.20 Here too, Minority Report has remained a central point of reference. A Nexis search revealed no fewer than 31 mentions of the film in the pages of Advertising Age between 2003 and 2015, particularly in the context of what theorists have come to call “out of home” advertising, including billboards, shop windows bus-stop screens, taxicab screens and related forms.21 Similarly, a search on trendhunter.com results in 43 hits, many of them in articles on interactive billboards, vending machi-
18 The Huffington Post: Mood-Reading Billboard: Jello’s ‘Pudding-Face’ Ad in New York City Smiles or Frowns Based on Twitter Emoticons, published 8 March 2011. http://www.huffingtonpost.com/ 2011/08/03/mood-reading-billboard-jell-o_n_917475.html. 19 Steven, Rachael: Uncle Grey’s scratch vinyl posters. In: Creative Review (18 June 2013). https:// www.creativereview.co.uk/uncle-greys-scratch-vinyl-posters/. 20 Boer, Joop de: Billboard Turned Into An Artist Residency. In: Popup City (14 April 2013). http:// popupcity.net/billboard-turned-into-an-artist-residency/.
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nes and shop windows.22 All of this points to a consensus in the world of advertising that – as the title of an article from the journal Entrepreneur put it – “The Future of Advertising Will Probably Look a Lot Like ‘Minority Report’”.23
Archaeologies of Outdoor Advertising Screens But here again, one would do best to avoid reduplicating narratives of technological causality. This goes for industry hype, of course. But it also goes for Film Studies accounts that reflexively understand our current proliferation of digital screens primarily as a “relocation” (in Francesco Casetti’s terminology) of the classic movie theater driven by technological change.24 By now, most readers are familiar with debates over whether our contemporary screen experience outside the movie theater can still merit the term ‘cinema’. As André Gaudreault and Philipp Marion rightly observe, one’s position here really depends on one’s presuppositions about what cinema is.25 What has received less attention, however, is the question of what is really new here in any qualitative sense. Casetti, for example, seems to take the novelty of outdoor screens as a given, arguing that they are working to fundamentally reshape our relation to screen media. Where classic movie screens once promised attentive spectators seated in the darkened temple of the movie theater a revelation of the world or of themselves, today screens positioned in waiting rooms and building facades appear to distracted spectators as mere “interceptors” or landing-points for information in perpetual transit.26 The difficulty of such narratives of digital revolution is that there is, in fact, a long history of film screens in spaces outside the cinema, which become visible as soon as we shift our focus from feature film to advertising. Indeed, probably no other sector has been more invested, historically, in efforts to transport projection into public spaces for distracted viewers on the go. As Erkki Huhtamo has shown, the ge-
21 E. g. Hampp, Andrew: What Are Online Giants Doing in Out-of-home? Microsoft, Google Dabble in Technology to Better Target Outdoor. In: Advertising Age (29 January 2007). http://adage.com/ article/digital/online-giants-home/114552/. 22 E. g. Abdulaziz, Salman: Immersive Labs Amps Up Advertising with Smart Digital Signs. In: Trendhunter Marketing (28 April 2011). https://www.trendhunter.com/trends/digital-signage. 23 Entis, Laura: The Future of Advertising Will Probably Look A Lot Like ‘Minority Report’. In: Entrepreneur (12 October 2015). https://www.entrepreneur.com/article/251627. 24 See Casetti, Francesco: The Relocation of Cinema. In: NECSUS: European Journal of Media Studies (Autumn 2012). http://www.necsus-ejms.org/the-relocation-of-cinema/. 25 See Gaudreault, André and Philippe Marion: The End of Cinema? A Medium in Crisis in the Digital Age, translated by Timothy Barnard. New York 2015. 26 See Casetti, Francesco: What is a Screen Nowadays? In: Public Space, Media Space. ed. by Chris Barry, Janet Harbord and Rachel Moore. New York 2013. pp. 16–40.
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nealogy of this phenomenon can be traced back at least as far as the late 19th century, when various types of automatic lantern projectors were patented to project advertising slides in alternation in windows or onto building facades.27 But advertising also played a key role in the development of portable film projection in the early 20th century, especially in the period after WWI. A good example can be seen in the socalled “film cabinet” system. The device, which concealed looped films in a cabinet much like the Kinetoscope but projected them onto a rear-projection daylight screen, first appeared around 1921 under the name “Picturola” in the U. S., where it was used primarily for showing film trailers on a loop in movie theater lobbies.28
Fig. 7: Picturola advertisement from Exhibitors Trade Review, 1923
27 See Huhtamo, Erkki: Messages on a Wall: An Archaeology of Public Media Displays. In: The Urban Screens Reader. ed. by Scott McQuire, Meredith Martin and Sabine Niederer. Amsterdam 2005. pp. 15–29. 28 See Daylight Continuous Projecting Machine Now on Market. In: Motion Picture News (27 August 1921). p 1124; The Perfect Silent Salesman. In: Exhibitors Trade Review (16 February 1924), n. p.
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But imitators soon arrived on the scene with display cabinets touted as ideal for distributing advertising and industrial films more widely.29 In Europe, similar devices such as the ‘Petra cabinet’, the ‘Duoskop cabinet’ and the ‘Grawor cabinet’ were produced widely for showing advertising films in shop windows, commercial spaces and exhibitions of all sorts.
Fig. 8: Duoskop advertisement, 1925
The film cabinet was part of an astounding array of ‘out-of-home’ projection technologies developed in the interwar period, including advertising vehicles, advertising projectors for shop windows and various types of suitcase cinema.30 No doubt, the existence of such forms of portable cinema depended on several technological developments. These include fire-safe forms of celluloid for projecting films outside of closed iron booths, rear-projection ‘daylight screens’ for showing film in illuminate spaces (a feature often touted in the advertising for such devices), and more complex systems of looping that allowed several short advertisements to run continuously and automatically for mobile crowds. But here again, technological causality is only half the story, for developments such as daylight screens and new loo-
29 Develops Projector for Industrial Use. In: Exhibitors Herald (2 February 1924). p. xviii. 30 See Cowan, Michael: Taking it to the Street: Screening Advertising Film in the Weimar Republic. In: Screen 54/4 (2013). pp. 463–479.
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ping mechanisms were themselves anything but inevitable. If they became desirable in the 1920s, this was at least partly because of the cultural groundwork already accomplished, among other places, in advertising psychology, which had emerged a decade earlier to outline a specific epistemology of a mobile spectatorship in public and commercial space. That model, articulated by scientists such as the German pioneer of advertising psychology Theodor König, was concerned above all with catching and directing the “fleeting glances” of a newly mobilized consumer public. This was not simply the familiar flâneur, but the masses of consumers now traveling in automobiles and on public transport. Of course, visual attention had been on the radar of media producers for some time, as we know from Jonathan Crary’s work.31 But what was new here was the emergence of an entire infrastructure for measuring and governing advertising attention: professional advertising societies, new university programs, and experimental laboratories such as the Institute for Economic Psychology in Berlin where König and his teacher Walter Moede both worked.32 These were institutes of applied experimental psychology, where every aspect of visual advertising – distance, font, composition, color combinations, and so on – was tested to produce a maximum effect on spectatorial attention in minimal exposure time. This is the cultural background against which mobile film projectors like the Duoskop became both intelligible and desirable, along with many other related apparatuses of ‘animating’ images in the city – for example, the Atrax device, a hit of mid-1920s advertising, which allowed shop-owners to transform any urban surface into a screen for the projection of slide advertisements. The Atrax was meant to astound spectators, but also to guide visual attention, since operators could literally move the projected image in real time due to the ball and swivel construction (Figure 9). Particularly popular was the practice of projecting images onto a sidewalk and then moving them to ‘guide’ passers-by and their gaze towards a shop window or a storefront.33 And just as touch-screens found their way into science fiction film around 2000, so films of the 1920s were well ‘aware’ of these competing forms of moving images. For example, in Karl Grune’s 1923 film The Street – the prototype of the Weimar ‘street film’ – an animated sidewalk lights up to lead the protagonist’s feet, in a fashion reminiscent of contemporary Atrax marketing, to an animated shop window, where the film’s dark story of crime and prostitution will begin to play itself out. The period after WWI, then, oversaw the rise of a new paradigm of mass mobile public spectatorship, where efforts to guide attention became paramount and dist-
31 See e. g. Crary, Jonathan: Suspensions of Perception: Attention, Spectacle and Modern Culture. Cambridge 2001. 32 Cowan: Taking it to the Street (see note 30). 33 See Fuld, Alexander: Wo lässt man den Atrax-Reklame-Projektor wirken? In: Die Reklame 139 (1921). p. 334.
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raction constituted a moment of danger. Advertising theory helped to lend that paradigm plausibility and excitement, but that excitement was hardly limited to advertising. As we know, portable film projection also attracted the interest of avant-garde artists. Perhaps most famously, El Lissitzky commissioned the same Duoskop projectors mentioned above for his famous “Russian Room” at the famous Film und Foto exhibition in Stuttgart in 1929 (Figure 10). Writing on the latter exhibition for the Czech avant-garde journal RED, Karel Teige praised El Lissitzky’s use of the Duoskop precisely for its ability to cater to a mobile audience: “In the Soviet exhibition, two Duoskop apparatuses project films continuously in broad daylight: what a marvelous invention! At any time, you can see fragments of Potemkin, Strike and Vertov’s reportages Kino-Glaz and Lenin Kino-Pravda”.34
Fig. 9: Atrax advertising projector, 1921
34 Teige, Karel: ‘Fifo’ ve Stuttgartu. In: Red 2/10 (1929). p. 321.
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Fig. 10: El Lissitzky’s Russian Room
The Ambivalence of Interactivity Thus, the mobile film technologies of the 1920s had an ambivalent scope; while they fueled the designs of advertising theorists, they also nurtured the hopes of progressive artists. Our current era of interactive advertising shows both similarities to, and differences from, the interwar paradigm of mobile spectatorship.
Fig. 11: Witches of East End. Internactive subway advertisement
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While many of the old protocols of animated outdoor advertising (such as alternating or looped presentations) still endure today, ‘interactivity’ clearly points to a different grid of intelligibility. Still, I believe that an analogous ambivalence is at work here. Networked media are often seen as the main bearers of the “control society” famously theorized by philosopher Gilles Deleuze, on account of the new forms of governmentality they seek to enact through tagging, tracking and identification (as opposed to the forms of mass discipline familiar from pre-digital institutions like factories, prisons or cinemas).35 But the metaphorical ankle bracelet – or the “biopolitical tattooing” decried by philosopher Giorgio Agamben – may not quite capture the ambivalence of the new paradigm.36 A better framework might be Kelly Gates’s oxymoronic term “mass individuation”, which seeks to think questions of individual tracking together with the promise of personalization and customized experience driving our interactive moment.37 While interactive advertising still seeks to reach and influence the masses no less than its modernist predecessor, it now promises more individualized forms of consumer engagement, whether that individuation be conceived in terms of personalizing a user’s experience or reading the user’s biometrical data to create targeted ads. Theories addressing the experiential side of interactivity have often struck an optimistic tone, emphasizing new level of agency afforded to consumers in our current media landscape. This is, of course, a driving idea in much current work on participation drawing on Henry Jenkins, particularly his model of “spreadable media,” where savvy participatory users now actively influence the directions media companies can take rather than simply absorbing content passively. As Jenkins and his co-authors put it in their 2013 study of the same title: “Brands can no longer return to the one-directional communication flows of the broadcast era, when they had the perception of control, and so companies must listen and learn from their audiences to assure long-term success”.38 Interactive advertising screens perform this shift symbolically, as it were, in their very dispositival configuration, allowing users to ‘talk back’ to the display, to control its movements and shape its content in
35 See Deleuze, Gilles: Postscript on Societies of Control. In: October 59 (1992). pp., 3–7; Galloway, Alexander: Protocol: How Control Exists After Decentralization. Cambridge 2004. p. 3. 36 Agamben famously refused to fly to the US for academic conferences after the government instituted a general policy of collecting fingerprints and photos of all visitors to the country (a policy previously reserved for convicted criminals. Agamben saw this as the generalization of digital control technologies. “In recent years, there have been efforts to convince us to accept as normal and humane those means of control that have always been considered as exceptional and properly inhuman.” Agamben, Giorgio: No to Biopolitical Tattooing. In: Communication and Critical/Cultural Studies 5/2 (2008). p. 201. The original French version of the text appeared as Non au tatouage biopolitique. In: Le Monde (10 January 2004). 37 Gates: Our Biometric Future (see note 3), p. 15. 38 Jenkins, Henry, Sam Ford and Joshua Green: Spreadable Media: Creating Value and Meaning in a Networked Culture. New York 2013. p. 24.
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ways unthinkable a century ago. In the words of a 2014 trend hunter article, interactive advertising billboards “allow consumers to get involved and invested in the overall message and theme”.39 This desire for spectatorial empowerment has also informed many political uses of interactive screens, which often draw on a Brechtian heritage to promote the emancipatory potentials of new media. A good example here is the Urban Screens Project, launched in 2005 by Mirjam Struppek, which sought to use interactive screens to encourage acts of civic engagement and critical reflection on urban space. Many of the projects featured here drew on 1960s performance art in their efforts to jar audiences out of their complacency. The installation Stalk Show, for instance, asked passers-by to interact with a touch screen mounted on a strangers’ back, which prompted a critical dialogue about the increasing securitization of public space and the role that our own fears and desire play in the process.40 More recently, other groups have sought to use interactive screens in campaigns of public advocacy. A good example here is the 2015 campaign Look at Me, created by the UK charity group Women’s Aid in collaboration with advertising agency WCRS, in which a billboard featured a victim of domestic violence, whose face gradually heals the more people stop to look at it.41
Fig. 12: Look at me. Interactive billboard for Women’s Aid
39 McManee, Tara: 20 Interactive Billboard Campaigns: From Motion Activated Displays to Social Media Feeders. In: Trendhunter Marketing (6 July 2013). https://www.trendhunter.com/slideshow/ interactive-billboard-campaigns. 40 Lancel, Karen and Hermen Maat: Stalk Show. In: The Urban Screens Reader. ed. by Scott McQuire, Meredith Martin and Sabine Niederer. Amsterdam 2005. pp. 191–199. 41 See Nud, Tim: The Bruised Woman on This Billboard Heals Faster as More Passersby Look at Her. In: Ad Week (5 March 2015). http://www.adweek.com/creativity/bruised-woman-billboardheals-faster-more-passersby-look-her-163297/#/. The Look at Me campaign won Ocean Screen’s annual “Art of Outdoor Digital Creativity Competition” for outdoor advertising in the category of “Interactivity” in 2014. http://www.oceanoutdoor.com/digital-competition/previous-winners/.
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Such projects often start from the assumption that the experience of spectatorial ‘activity’ – here the awareness that one’s choice to look at the sign is helping to heal the woman represented – can catalyze further political action, in opposition to the supposed ‘passivity’ of traditional consumption.42 As one writer for the Urban Screens Project put it, interactive digital installations aim to “change the status of an individual from a ‘consumer of time and space’ into an active participant in socio-temporal modalities”.43 And yet, the dichotomy here between ‘active’ (progressive) participation and ‘passive’ (manipulated) consumption might no longer be so evident in an era of interactive advertising, since advertising companies themselves are thoroughly aware of the need to cater to more ‘active’ or ‘participatory’ consumers – and indeed strive to enlist the labor of participation in the dissemination of trademarks and the formation of brand communities. Whether dancing with a motion-sensing Coke screen, contributing Twitter emoticons for mass correlation operations (as in the Jello Pudding Face ad mentioned above), or simply playing with an advertisement at a bus stop, the interactive consumers posited by these digital screens are intended to become part of the advertising display itself, their actions contributing directly to the impression of a brand community. In this sense, interactive billboards strive to enlist the work of consumers as – in the words of G. Günter Voß and Kerstin Rieder – “unpaid collaborators”.44 This suspicion that media users are being asked to contribute unpaid or unrecognized labor has led other media theorists, in turn, to push back against Jenkinsinspired celebrations of participation and interactivity. Thus the philosopher Slavoj Zizek, in an oft-quoted line from his 2015 book Trouble in Paradise, could assert provocatively: “The threat today is not passivity, but pseudo-activity, the urge to ‘be
42 As the director of technology at WCRS puts it in a promotional video for the Look at Me campaign: “You can just see that they [the passersby] are making that connection between their looking at [the face on the billboard] and their making [the face’s healing] happen. So I think that’s where the technology is going and the industry is going: How can you make things relevant and personal? So you think, I’m actually making a difference when I’m just somebody walking past an ad?” Hoddinott, Helen: Watch: Behind Women’s Aid’s ‘Look at me’ Interactive Billboard Campaign. In: Campaign (09 March 2015). http://www.campaignlive.co.uk/article/watch-behind-womens-aids-lookme-interactive-billboard-campaign/1337266. 43 Bounegru, Liliana: Interactive Media Artworks for Public Space: The Potential of Art to Influence Consciousness and Behavior in Relation to Public Spaces. In: The Urban Screens Reader. ed. by Scott McQuire, Meredith Martin and Sabine Niederer. Amsterdam 2005. p. 206. Further on, the author writes: “In order to oppose the privatization, rationalization and functionalism of public space design that results in a loss of the unpredictable, spontaneous and creative side of urban life, interactive media art installations aim to inject temporary artistic zones of creative human interaction into public space by means of large digital displays and digital media” (ibid., 212). 44 See Voß, G. Günter and Kerstin Rieder: Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden. Frankfurt a. M. 2005.
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active’, to ‘participate’, to mask the Nothingness of what goes on”.45 Similarly and more directly related to my topic here, media theorist Jonathan Sterne has asked whether “interactivity” has not itself become the new “passivity”: “What if interactivity is now one of the central hinges through which power works? In many moments today, the most compliant gesture we can make is to consent to interact on the terms presented to us by our software and machines. This pull is especially strong in those commercial platforms that celebrate their own difference from the so-called passive media of previous decades, and in the process monetize their users’ participation either directly or indirectly.”46
At stake here, then, is a broader conundrum in thinking about spectatorship today: Whereas decades of theoretical models – from Brechtian theater to apparatus theory and beyond – have seen the overcoming of ‘passive’ spectatorship as the political moment par excellence, spectatorial ‘activity’ now appears to be an integral part of the very apparatus of power, the central way in which we are interpellated by digital technologies. As advertisers know well, moreover, ‘interactivity’ is hardly limited to conscious or experiential interaction, and interactive screens can hardly be understood apart from concomitant industry goals of data collection. Accordingly, yet other scholarly writing has struck a more paranoid tone, focusing on the potentials of advertising screens for mass control and surveillance. For urban theorist Adam Greenfield – one of the most vocal critics of the ‘smart city’ – interactive advertising screens form part of a paradigm shift marked by efforts to transform the city itself into a data gathering machine.47 Prognostications like this could obviously find a parallel in Minority Report itself, where advertising screens participate in a thoroughly converged surveillance network. And this is the same thinking that drives the development of other technologies today, such as the so-called ‘Privacy Visor’, a set of high-tech glasses developed in 2013 by the National Institute of Informatics in Japan, which promises to scramble recognition technologies lurking behind fixtures – and billboards – of smartified cities,48 or various forms of anti-surveillance camouflage (Figure 13).49
45 Zizek, Slavoj: Trouble in Paradise. Brooklyn 2015. pp. 174–175. 46 Sterne, Jonathan: What if Interactivity is the New Passivity? In: Flow Journal (9 April 2012). https://www.flowjournal.org/2012/04/the-new-passivity/. 47 See Newitz, Annalee: The Dark Side of the ‘Smart City’. Interview with Adam Greenfield. In: io9. We Come from the Future (30 January 2014). http://io9.gizmodo.com/the-dark-side-of-the-smartcity-1512608758; Greenfield, Adam: Everyware. The Dawning Age of Ubiquitous Computing. Berkeley 2010. p. 33. 48 Privacy Visor Blocks Facial Recognition Software. In: BBC News (22 January 2013). http://www. bbc.co.uk/news/technology-21143017. 49 Meyer, Robinson: Anti-Surveillance Camouflage for Your Face, In: The Atlantic (24 July 2014). https://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/07/makeup/374929/.
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What such visions have in common with more euphoric discourses on the big data ‘revolution’ is precisely the potential for paranoia that digital theorist Wendy Hui Kyong Chun has seen as endemic to our technological thinking today. Chun was one of the first to really pinpoint the ambivalence of online experience: how the Internet came packaged in a language of empowerment, while simultaneously engaging us in forms of interactivity beyond our experiential control through cookies, packets and other forms of data tracking.50 A similar ambivalence characterizes divergent takes on interactive screens today, which seem to go hand in hand with the transformation of urban space into an ‘Internet of things.’ And this might also point to a broader challenge in understanding them. What promises of technological empowerment and nightmares of technological enslavement share, as Chun has shown, is precisely the attribution of agency to technology itself – the scenario of a technologically driven ‘revolution,’ which can elide the cultural work that goes into making interactivity a self-evident grid of media consumption in the first place. In the case of advertising screens, it is important to emphasize that this work is still very much in progress. As Anne Cronin observes, out of home advertising is hardly the smooth functioning system that the industry and films like Minority Report like to project, but rather a messy affair, often plagued by visual noise, material clutter and changing urban geographies.51 We could add to Cronin’s list the factor of unpredictable audiences, who might not look at billboards at all and might occasionally hack them in acts of culture jamming.52 Moreover, it’s worth emphasizing that, at least for the present, the integration of data collection into public advertisements is still relatively limited. Where it does exist, it is generally confined to attempts at audience measurement – that is, to the (highly conventional) practice of counting eyeballs, which can now theoretically be done more accurately through biometric cameras that recognize factors such as eye contact (as in the Look at Me campaign), spectator distance, and what advertisers call “dwell time”.53 After all, these are still the factors that impact the ability of media companies to determine market values of out-of-home advertising real estate. On the more disconcerting side, companies have increasingly introduced biometrical facial recognition into billboards and other commercial fixtures such as
50 See Chun, Wendy Hui Kyong: Control and Freedom: Power and Paranoia in the Age of FiberOptics. Cambridge 2013. pp. 1–31. 51 Cronin, Anne M.: Publics and Publicity: Outdoor Advertising and Urban Space. In: Public Space, Media Space. ed. by Chris Barry, Janet Harbord and Rachel O. Moore. New York 2013. pp. 265–276. 52 Internet publications are awash with stories of digital billboards hijacked, as well as instructions on how to do so. 53 See e. g. Ravnic, Robert and Franc Solina:Audience Measurement of Digital Signage: Quantitative Study in Real World Environment Using Computer Vision. In: Interacting with Computers 25/3 (2013). pp. 218–228.
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shop mannequins in an effort to customize ads according to gender or age.54 For example, a much-publicized ‘Girl Detection Billboard’, created by the German advertising agency Philipp und Keuntje for Astra beer products, targeted female passersby in Hamburg with humorous messages in an attempt to gain more women customers for the traditionally male habit of beer consumption (Figure 14).55
Fig. 13: Privacy Visor
Fig. 14 : Astra girl detection billboard
54 E. g. Clark, Liat: Mannequins are spying on shoppers for market analysis. In: Wired (23 November 2012). http://www.campaignlive.co.uk/article/watch-behind-womens-aids-look-me-interactivebillboard-campaign/1337266. 55 Peterson, Lucas: This ‘Girl Detection Billboard’ Only Advertises Beer to Women. In: Eater (21 May 2015). https://www.eater.com/2015/5/21/8640831/this-girl-detection-billboard-only-advertises-beerto-women.
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At least hypothetically, such billboards could also detect spectators’ ethnicity, though it is difficult to find a reliable example of ethnic targeting analogous to the girl detection billboard. The important point, it seems to me, is that such technologies still work with aggregate data (classifying individuals) rather than individualized data. There is, in other words, no public advertising screen capable of identifying any individual from the faces alone.56 The infrastructure for such identification is far from existent; many public screens are not, in fact, ‘jacked in’ to the Internet at all, but rather premise-based (i. e. using localized memory and software).57 Where Internet connections are present, these mostly serve the purpose of content delivery, and unlike airport security systems, advertisers have no reliable databases with which to compare images of random faces. More importantly, it’s thoroughly unclear how much interest such a scenario would even have for ‘out of home’ media companies, since ads targeted to a single individual (as opposed to a social group) would likely be construed as a waste of precious real estate in the attention economy of mass advertising – and advertisers also have every interest in generating relations of trust with potential consumers. And yet, fears about privacy and data collection still drive discussions of interactive advertising screens. This was the overwhelming concern of a meeting convened in 2012 by the Federal Trade Commission under the title Facing Facts: A Forum on Facial Recognition, where a group of advertising professionals, consumer advocates, academics and technology experts sought to institute ethical guidelines for facial recognition in public space. The subsequent ‘best uses’ guidelines, published in 2012, begin, predictably, with a reference to Minority Report: “In 2002, Steven Spielberg imagined a world in which companies use biometric technology to identify us and serve us targeted ads. Ten years later, that vision is coming closer to reality”.58 The report goes on to rehearse all the standard questions of privacy: the need to include provisions for customer consent and mechanisms for discarding data, to avoid sensitive spaces, to refrain from targeting children, and so on. These questions are important, of course, and they arguably merit more than a set of voluntary ‘best use’ guidelines. But by starting out from assumptions of tech-
56 The only uses of personalized identification I have been able to verify are experiments in voluntary identification through RFID-tagged store cards or hotel cards. Otherwise, facial recognition is still limited to systems linked to existing databases such as security checkpoints in airports. 57 On the distinction between “premise-based” digital signage and “software as a service” (webbased) digital signage, see Meadows: Digital Signage (see note 11), p. 118. 58 Federal Trade Commission: Facing Facts: Best Practices for Common Uses of Facial Recognition Technologies (2012). https://www.ftc.gov/reports/facing-facts-best-practices-common-uses-facialrecognition-technologies. A similar, if more detailed, set of voluntary guidelines was created around the same time by the Digital Signage Federation under the title Digital Signage Federation Privacy Standards (2011). http://www.digitalsignagefederation.org/resources/standards/privacy-standards/ #.WiparrSFiwA. See also Geiger, Harley Lorenz: A Standard for Digital Signage Privacy. In: Pervasive Advertising. ed. by Jörg Müller, Florian Alt and Daniel Michelis. London 2011. pp. 103–117.
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nological causality, they once again relegate culture to a reactive function – in this case that of protecting privacy. What is left out, when the ethics of facial recognition is reduced to the rubric of privacy, are all the other questions that might inform our thinking about the future of interactive advertising – questions like the ones raised by Johanna Drucker and Lisa Gitelman in their critical examinations of data.59 After all – and even before we broach the question of stereotypes in advertising – how does a camera decide who belongs to what gender or what ethnicity? How do such categories get defined in the first place? And how are these definitions then written into algorithms? Data, as these theorists remind us, is never objective, but always the result of all-too-human acts of collecting, classifying, generating and imagining. Such questions point once again to the productivity of culture, and they are no less crucial for the future of interactive screens than questions of privacy. But if we wish to keep them on the radar, we would do well not to write that future with the storyboard of films like Minority Report.
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Guido Zurstiege
Digitale Transformation der Werbung Herausforderung für die Werbeforschung
The Party is over – oder? Vor rund 30 Jahren haben Rolf Kloepfer und Hanne Landbeck1 in ihrem viel zitierten Buch Ästhetik der Werbung. Der Fernsehspot in Europa als Symptom neuer Macht darauf hingewiesen, dass Werbung eine ubiquitäre, alle Lebensbereiche durchdringende Alltagserscheinung sei, die sich, gemessen an ihren historischen Vorläufern in einer neuen qualitativ aufgewerteten Ästhetik ihren Betrachter*innen darbiete. Dieser auf das Entstehen einer Mediengesellschaft zurückzuführende ästhetische Wandel der Werbung habe im Verbund mit einer veränderten, aufgeschlosseneren Einstellung gegenüber der Werbung zu neuen Allianzen und Symbiosen im Mediensystem geführt, zu einer engen Verzahnung unterschiedlicher, auf die Medien hin ausgerichteter Akteure.2 Mit meinem Beitrag zu diesem Sammelband möchte ich an diese einschlägige Diagnose von Kloepfer und Landbeck anschließen und sie aus der zeitlichen Distanz von mehr als einem Vierteljahrhundert und damit vor dem Hintergrund eines weiter vorangeschrittenen tiefgreifenden Umbauprozesses im Mediensystem aktualisieren.3 Blickt man auf aktuelle Werbephänomene sowie die sie flankierenden fachlichen und praxisorientierten Diskurse, so scheint es, dass die Diagnose von Kloepfer und Landbeck paradoxerweise verjährt ist und zugleich nichts an ihrer Aktualität verloren hat, ja möglicherweise sogar in einem abermals gesteigerten Maße Geltung für sich beanspruchen kann. Aktuell erscheint die Diagnose, weil Kreativität in der Werbung nach wie vor hoch im Kurs steht. Kloepfer und Landbeck attestierten im Ergebnis ihrer Analyse der Fernsehwerbung gegen Ende der 1980er Jahre eine ästhetische Reifung und Konsolidierung. Diese habe dazu geführt, dass die Werbung inzwischen „als dominante Quelle ästhetischer Lust begrüßt“ werde4. Verjährt erscheint diese Diagnose, da die ausgehenden 1980er Jahre und die beginnenden
1 Kloepfer, Rolf u. Hanne Landbeck: Ästhetik der Werbung. Der Fernsehspot in Europa als Symptom neuer Macht. Frankfurt a. M. 1991. 2 Kloepfer u. Landbeck, Ästhetik der Werbung (wie Anm. 1), S. 21. 3 Wenn auch viele der Beobachtungen in diesem Beitrag auch im internationalen Kontext angestellt werden können, und daher auch gelegentlich entsprechende Bezüge hergestellt werden (wie etwa im Zusammenhang mit dem elektronischen Festplattenrekorder Tivo), konzentriere ich mich im Wesentlichen auf Werbung im deutschsprachigen Raum. 4 Kloepfer u. Landbeck, Ästhetik der Werbung (wie Anm. 1), S. 223. https://doi.org/10.1515/9783110661965-011
Digitale Transformation der Werbung
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1990er Jahre nach weitgehend übereinstimmender Auffassung vieler Beobachter*innen eine scharfe Zäsur markieren, den Anfang des Endes der klassischen Werbung. „Never has advertising appeared so pale and lifeless“, so leiteten Roland T. Rust und Richard W. Oliver5 nur drei Jahre nach der Publikation des Buches von Kloepfer und Landbeck im Journal of Advertising ihren viel diskutierten Aufsatz über den Tod der Werbung ein. Die voranschreitende Zielgruppenfragmentierung, die allmählich Fahrt aufnehmende Medienkonvergenz und der erstarkende E-Commerce, die bereits Anfang der 1990er Jahre deutlich zu erkennende Bedeutung neuer, besserer Konsument*innen-Daten, all dies, so erkannten Rust und Oliver, stellte eine Bedrohung für die Werbung dar. Das Ende der reichweitenstarken Werbung und vor allem ihres ‚Schlachtschiffs‘ des werbefinanzierten Fernsehens schien nahe. Denn der technologische Fortschritt rüttelte an dessen Grundfesten.6 Immer deutlicher war zu erkennen, dass nicht nur das werbefinanzierte Fernsehen, sondern auch die tagesoder wochenaktuellen Printmedien immer stärker in den Sog der digitalen Transformation des Mediensystems gerieten. Wie konnte die Werbung Ende der 1980er Jahre nun also so krisenbehaftet und zugleich so kreativ und angesagt sein? Die Antwort auf diese Frage liefern Kloepfer und Landbeck mit Bezug auf einen Aphorismus des damals zu einiger Berühmtheit gelangten französischen Werbepraktikers Jaques Séguéla. Nichts, so Séguéla, sei bessere Werbung für die Werbung als die Verkündung ihres Todes.7 Die Werbung, so hat Michail Bachtin8 einmal mit Blick auf die Reklame des mittelalterlichen Marktplatzes gesagt, hat stets über fast alles gelacht und damit eben immer auch über sich selbst. Sie hat sich zu jeder Zeit geradezu notorisch selbst aufs Korn genommen. Sie hat sich auf diese Weise gewissermaßen schon immer über sich selbst hinweggesetzt, sich selbst überwunden. Man kann sagen: Die Werbung lebt geradezu von der kreativen Zerstörung – auch von der kreativen Zerstörung der eigenen Inventare. Werbung ist immer am Ende bzw. am Anfang, wie man es nimmt9. In diesem Sinne hat sich die Werbebranche etwa seit Mitte der 1980er Jahre vor dem Hintergrund eines faktisch nicht im vollen Umfang gerechtfertigten, in seinen Folgen jedoch sehr weitreichenden Krisendiskurses abermals auf die Suche nach neuen Darstellungsformen und nach neuen Strategien begeben, um den Herausforderungen des digitalen Zeitalters begegnen zu können. Die folgenden Abschnitte sollen diesen Wandel im Mediensystem mit Blick auf zwei der Flaggschiffe der klassischen
5 Rust, Roland T. u. Richard W. Oliver: The Death of Advertising. In: Journal of Advertising 23 (1994). S. 71–77. 6 Carlson, Matt: Tapping into TiVo. Digital video recorders and the transition from schedules to surveillance in television. In: new media & society 8 (2006). S. 97–115. 7 Kloepfer u. Landbeck, Ästhetik der Werbung (wie Anm. 1), S. 212. 8 Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2003. 9 Schmidt, Siegfried J.: Werbung ist von Anfang an am Ende. In: Marketingjournal (2003). S. 30–31.
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Werbung, das Fernsehen und die Zeitung, skizzieren. Am Anfang des Werbewandels, so wird sich hier zeigen, steht zunächst einmal ein tiefgreifender Wandel des Mediensystems, auf den die Werbung reagieren musste.
Die digitale Transformation und der ästhetische Klimawandel Rund 4 500 Kilometer Luftlinie trennen die beiden Herzkammern der globalen Kreativwirtschaft. Auf der einen Seite, an der Atlantikküste der USA, schlägt das Herz der Werbung. Madison Avenue, New York City, so lautet noch immer ihre erste und wohl auch vornehmste Adresse. Hier lag das Jagdrevier jener ‚Mad Men‘, die in der Blütezeit der klassischen Werbung aus ein wenig Psychologie und Marktforschung, aus jeder Menge Nikotin und Whisky die Welt der bunten Bilder entstehen ließen. Auf der anderen Seite, am Pazifischen Ozean, ganz im Westen der USA, schlägt seit jeher das Herz der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Vine Street, Hollywood, Kalifornien, so lautet ihre Adresse. Von hier aus trat das Entertainment im großen Maßstab seinen globalen Siegeszug an. Auf dem berühmten „Hollywood Walk of Fame“ haben Ikonen der Populärkultur wie Charly Chaplin, Marilyn Monroe, Frank Sinatra, Liza Minnelli, Michael Jackson, John Lennon und James Brown ihre Spuren hinterlassen. Ganz in der Nähe, nur fünf Autostunden weiter nördlich, befindet sich an einer malerischen Bucht gelegen, das Santa Clara Valley. Die renommierte Eliteuniversität Stanford ist gleich um die Ecke. Menlo Park, Palo Alto, Cupertino heißen die kleinen Städtchen in der Umgebung. Die großen Konzerne der amerikanischen Elektronik- und Computerindustrie haben hier ihren Hauptsitz. Von hier aus verbreitete sich in konzentrischen Kreisen seit den 1990er Jahren gleichsam eine Pulswelle über die Herzkranzgefäße der globalen Kreativwirtschaft. Beide Herzkammern waren von dem Schock betroffen. Nur im harmonischen Miteinander würde man zurück zur alten Form finden. Madison und Vine mussten zusammenarbeiten, um zu überleben.10 Bis zu diesem Zeitpunkt war die Arbeitsteilung zwischen den beiden Zentren der globalen Kreativwirtschaft klar aufgeteilt. Auf der einen Seite wurde mit großem Aufwand spannende und mitreißende Unterhaltung produziert. Auf der anderen Seite wurde dafür die Rechnung bezahlt.11 Werbung und Entertainment waren zwar
10 Donaton, Scott: Madison & Vine. Why the entertainment & advertising industries must converge to survive. New York 2004. 11 Sebastian, Michael: ’Madison & Vine’ Turns 10 – But How Far Has Branded Content Really Come? In: Advertising Age, 13.05.2014, http://adage.com/article/media/madison-vine-turns-10/293147/ (05.02.2015).
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in existenzieller Weise aufeinander bezogen. Das eine gab es nicht ohne das andere. Gleichzeitig waren sie aber auch grundverschieden. Weiter konnten sie in der Tat nicht auseinanderliegen: die einen an der Westküste, die anderen an der Ostküste der USA. Jene 4 500 Kilometer, die sie trennten, so schien es, waren eben kein Zufall. Die Ikonen des Äthers, der Leinwand, der Bühne, des Bildschirms, sie alle wurden verehrt, ja, nicht selten vergöttert. Entertainment, heißt das, wurde also genossen. Werbung wurde unterdessen ertragen. Auch ihre Ikonen sind Legende – für Eingeweihte. Wer kennt schon Rosser Reeves, David Ogilvy, Leo Burnett, William Bernbach? Sie alle sind Werbe-Stars, ohne Zweifel und haben bis heute Spuren hinterlassen. Auf einem ‚Walk of Fame‘ haben sie sich jedoch nicht verewigt. Trotz des grundlegenden Unterschieds wurden beide, die Werbe- und die Unterhaltungsindustrie gleichermaßen schwer von der unaufhaltsamen Transformation des Mediensystems getroffen. Auslöser waren jene digitalen Medientechnologien, die Rezipient*innen in die Lage versetzten, ihr Programm selbstständig und unter Umgehung der klassischen Verbreitungskanäle zusammenzustellen. In beiden Fällen hatte der gewaltige Innovationsstoß, der den beiden Industrien so schwer zusetzte, einen Namen. TiVo, das war die Inkarnation der digitalen Herausforderung, mit der sich die Werbung konfrontiert sah. Das Schreckgespenst der Unterhaltungsindustrie trug den Spitznamen eines 19-jährigen Studienabbrechers aus Boston: Napster. Bereits seit den 1980er Jahren bestand kein Mangel an gut dokumentierten Belegen dafür, dass und warum Werbung nicht gesehen wird: Switching, Flipping, Channel Hopping, Grazing, Jumping, Arrowing, Leaving und natürlich Zapping. So lauteten die verzweifelten Wehrufe, mit denen der Untergang der Werbung in düsteren Farben an die Wand gemalt wurde.12 Dann kam Ende der 1990er Jahre auch noch TiVo auf den Markt. Und alles wurde noch einmal sehr viel schlimmer als zuvor. Das Gerät war im Wesentlichen ein digitaler Festplattenrekorder. „Fernsehfee“ hieß sein Pendant in Deutschland. Mit seiner Hilfe konnte man Fernsehsendungen aufzeichnen und später anschauen. TiVo enthielt einen elektronischen Programmführer. Dieser wurde täglich per Telefonleitung auf den neuesten Stand gebracht. Der Festplattenrekorder konnte sich darüber hinaus die Programmvorlieben seiner Besitzer merken. Das Gerät war damit imstande, den zukünftigen Fernsehkonsum auf der Grundlage des bisherigen Fernsehkonsums zu extrapolieren. Diese Informationen sendete das Gerät seinerseits zurück an einen Server. Der Festplattenrekorder war also zugleich ein intelligentes Instrument der Marktforschung, mit dem die Programmvorlieben, aber auch die Werbeakzeptanz von Fernsehzuschauern sehr präzise protokolliert werden konnten. Die aus Sicht der Werbung gefährlichste Funkti-
12 Fox, Stephen: The Mirror Makers. A History of American Advertising and its Creators. Urbana u. a. 1997; Mikos, Lothar: Fernsehen im Erleben der Zuschauer. Vom lustvollen Umgang mit einem populären Medium. Berlin/München 1994.
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on des Geräts bestand darin, dass man bei der zeitversetzten Nutzung der zuvor aufgezeichneten Angebote Werbung direkt überspringen konnte. Nach eigenen Angaben des TiVo-Managements nutzten immerhin rund 90 % aller Besitzer*innen diese Möglichkeit. TiVo war das „Rettungsboot vor der Werbeinsel“13, der „ultimative Zapper“14, der „Antichrist der Werbung“15. Die Berichterstattung überschlug sich. Dieser Festplattenrekorder war eine disruptive Technologie, so schien es, die das Potenzial besaß, das gesamte Werbegeschäft auf den Kopf zu stellen. Rückblickend betrachtet war TiVo selbst gewiss keine so durchschlagende und disruptive Technologie wie zunächst befürchtet. Möglicherweise lag dies auch daran, dass die Originalität der Programmvorschläge, die der Festplattenrekorder auf der Grundlage der Fernsehnutzung seiner Besitzer*innen extrapolierte, sich in Grenzen hielt.16 Das klassische lineare Fernsehen besitzt daher auch heute noch einen hohen Stellenwert in der Gunst des Publikums. Rund drei Stunden beträgt immerhin die durchschnittliche Fernsehnutzung in Deutschland pro Tag. Etwas weniger als viereinhalb Stunden sind es in den USA. Man kann also sagen, dass das lineare Fernsehen die TiVo-Krise überstanden hat. Es ist jedoch nicht unverändert aus ihr hervorgegangen. Fernsehen ist bequemer geworden, es ist mobiler geworden und ästhetischer. TiVo war selbst kein großer finanzieller Erfolg. Der Festplattenrekorder läutete aber die so genannte Post-Network-Ära ein.17 Was ist Fernsehen eigentlich? Diese Frage lässt sich in der heutigen TV-Ära nicht mehr so leicht beantworten wie früher. Und das hat bis heute weitreichende Konsequenzen für die Werbung. In der Post-Network-Ära haben sich die Zuschauer*innen daran gewöhnt, konkrete Inhalte ganz nach eigenem Belieben abrufen zu können. Diesen gesteigerten Bedarf nach Convenience, nach der bequemen Nutzung audiovisueller Inhalte, die jederzeit verfügbar sind, haben Festplattenrekorder und elektronische Programmführer populär gemacht. Viele Zuschauer*innen wollen sich nicht mehr mit ihrem Fernsehgerät zu einem festen Zeitpunkt gleichsam verabreden, um ihre Lieblingssendung zu sehen. Stattdessen wollen sie immer häufiger auch selbst entscheiden können, wann der richtige Moment dafür ist. Fast alle TV-Sender haben inzwischen auf diese Entwicklung mit dem Angebot von online verfügbaren Mediatheken reagiert. Allerdings konnten sie damit nicht den früheren Status quo wieder voll herstellen. Denn zwei zentrale Veränderungen sind mit der Convenience-Kulturrevolution im Reich des Fernsehens verbunden. Zum einen haben sich das Nutzungsverhalten der Zuschauer*innen und, damit eng verbunden, auch ihre Erwartungen an anspruchsvolle Inhalte stark verändert. Zum anderen konkurrieren TV-Sender
13 Campillo-Lundbeck, Santiago: TV-Werbung. Personalisierte Videorekorder sollen zum Marketingtool werden. In: Horizont (2000). S. 85. 14 Johnson, Bradley: Ultimate Zapper Hits the Spot. In: Advertising Age (1999). S. 8. 15 Ebenkamp, Becky: Return to Peyton Placement. In: Brandweek 42 (2001). S. 10. 16 Jenkins, Henry: Of TREK and TIVO. In: Technology Review (2002). S. 89. 17 Lotz, Amanda d.: The television will be revolutionized. New York 2007.
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heute mit einer Vielzahl neuer Anbieter attraktiver Inhalte. Diese neuen Anbieter versprechen den Zuschauer*innen in einem nochmals gesteigerten Maße Convenience und ästhetische Qualität. Wie stark sich die Fernsehnutzung des Publikums in den vergangenen Jahren verändert hat, lässt sich an der Königsdisziplin der TV-Unterhaltung ablesen: an der Fernsehserie. Seit den 1970er Jahren hat sie sich als eines der wichtigsten Genres der fiktionalen Fernsehunterhaltung etabliert.18 Serien wie Dallas oder DenverClan, Magnum oder Detektiv Rockford erfüllten aus Sicht der TV-Sender eine geradezu überlebensnotwendige Funktion. Sie sollten Faszinationskraft auf ihre Zuschauer ausüben. Diese sollte nach Möglichkeit so groß sein, dass die Zuschauer*innen Woche für Woche immer wieder einschalteten, um in den Genuss ihrer favorisierten Serien zu gelangen. Anders als die Tageszeitung wurde das Fernsehen traditioneller Weise ja nie abonniert. Daher konnten TV-Sender stets mit deutlich weniger Selbstbewusstsein als Tageszeitungen von ihrem Publikum sprechen. Die Fernsehserie sollte dies ändern und einem Sender ein treues Stammpublikum sichern. Diese Rechnung ist ohne Zweifel aufgegangen. Mehr noch: Aus Sicht der Sender war die Serie in dieser Hinsicht sogar fast zu erfolgreich. Jene von Woche zu Woche ausgestrahlten Serien waren in den 1970er Jahren im Wesentlichen darauf ausgelegt, neue Geschichten in einem stets wiederkehrenden Rahmen zu präsentieren. Sie waren ein Massenprodukt und bedienten in aller Regel den kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikumsgeschmacks. Dies war die Zeit der sogenannten LOP-Theory. Deren Erfinder Paul Klein, seines Zeichens Vize-Präsident der einflussreichen National Broadcasting Company (NBC), vertrat die Auffassung, dass Fernsehzuschauer im Grunde nicht sehen, was ihnen gefällt, sondern, was ihnen am wenigsten missfällt: Least objectionable programming (LOP), lautete die daraus abgeleitete Zielvorgabe für die Programmplanung. Bloß niemanden abschrecken. Das Fernsehen fungierte als eine Art kulturelles Forum in der Mitte der Gesellschaft. Dieses Forum war für alle zugänglich. Hier wurden in einem absolut zuverlässigen Rahmen kollektiv gültige Geschichten erzählt.19 Derrick, Dallas, Schwarzwaldklinik. Damit konnte jeder etwas anfangen. Der Kommissar löste jeden Fall. Der Schurke wurde niemals ehrlich. Der Chefarzt konnte immer helfen. Woche für Woche. Ganz sicher. Etwa seit Anfang der 1980er Jahre, lange bevor TiVo und die DVD die Bühne betraten, änderte sich diese Form der Serien-Konzeption. Das Paradebeispiel jener Zeit ist die von der Kritik in den allerhöchsten Tönen gelobte amerikanische Fern-
18 Ludes, Peter: Programmgeschichte des Fernsehens. In: Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Jürgen Wilke. Bonn 1999 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 361). S. 255–276, S. 260. 19 Newcomb, Horace u. Paul M. Hirsch: Television as a Cultural Forum. In: Television: The Critical View. Hrsg. von Horace Newcomb. New York 1983. S. 561–573.
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sehserie Hill Street Blues (1981). Nicht weniger als eine „Quality Revolution“20 attestierten viele Chronisten des amerikanischen Fernsehens dieser Serie. Das US-Fernsehen erlebte nach seiner Gründerzeit in den 1980er Jahren geradezu ein zweites goldenes Zeitalter. Die Ursache war die enorme Ausweitung an Kanälen infolge der Einführung des Kabelfernsehens in den USA. Die TV-Sender jener Zeit schraubten vor diesem Hintergrund ihre Erwartungen an die Reichweite einzelner Serien deutlich zurück. Wie sollte man auch noch ein Massenpublikum erreichen, wo doch immer mehr Anbieter um dessen Aufmerksamkeit buhlten? Den kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikumsgeschmacks zu treffen, war von nun an ein Modell vergangener Zeiten. Von nun an versuchten Fernsehsender Nischen zu besetzen.21 Besonders attraktiv waren hier natürlich vor allem jene Nischen, in denen sich die Hauptzielgruppen der Werbung tummelten: junge, gut situierte und gebildete Zuschauer. In den 1980er Jahren nannte man sie Young Urban Professionals – kurz: Yuppies. LOP interessierte sie nicht. Sie wollten Qualität und bekamen sie.22 Seit Ende der 1990er Jahre ermöglichten es digitale Videorekorder Serien-Archive anzulegen. Dadurch ließ sich zwar nicht die zermürbende Wartezeit zwischen zwei Folgen reduzieren. Jedoch konnten die verschiedenen Episoden einer Serie nun zu einem späteren Zeitpunkt nochmals in einem Durchgang gesehen werden. Die im gleichen Jahr wie TiVo auf den Markt kommende Digital Versatile Disc (DVD) bescherte Serienfans dieses Vergnügen in einem nochmals gesteigerten Maß.23 Plötzlich konnte man ganze Serien in einem handlichen Schuber kaufen und konsumieren. Das Star Trek-Wochenende und die lange Ally McBeal-Nacht waren geboren. Serienfans konnten die begehrten Inhalte nun an einem Stück genüsslich verschlingen, ohne ihre Leidenschaft für sieben lange Tage auf Eis legen zu müssen. Sie konnten sich die einzelnen Episoden mehrmals hintereinander ansehen, die
20 Thompson, Robert J.: Television’s Second Golden Age: From Hill Street Blues to ER. New York 1996. S. 59. 21 Niche envy: marketing discrimination in the digital age; Wu, Tim: The master switch. The rise and fall of information empires. New York 2011. 22 Der Begriff der ‚Qualität‘ ist gewiss einer der am meisten umstrittenen und schwierigsten zu definierenden Begriffe medien- und kommunikationswissenschaftlicher Debatten. Im Zusammenhang dieses Beitrags bezieht er sich auf die Bedeutung, die ihm etwa auf neue Unterhaltungsformate im Fernsehen (Quality TV) zugeschrieben worden ist. In der Regel werden damit neue Serienformate gemeint, die sich von früheren Formaten durch komplexere Narrationen und Charaktere auszeichnen. Wenn auch der Trend aus den USA kommt, haben auch Programmmacher*innen aus Deutschland auf diese Entwicklung reagiert und bieten mehr „Sex, Drugs and Rock’n Roll“ in Serie an, als es früher in der Fernsehunterhaltung made in Germany üblich war. Siehe dazu Marschall, Susanne: Sex, Drugs and Rock’n Roll. Das Konzept der Schwabenserie Die Kirche bleibt im Dorf. In: TV Glokal. Europäische Fernsehserien und transnationale Qualitätsformate. Hrsg. von Susanne Schrader u. Daniel Winkler. Marburg 2014. S. 108–122. 23 Kompare, Derek: Publishing Flow. DVD Box Sets and the Reconception of Television. In: Television & New Media November 7 (2006). S. 335–360.
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Handlung einer Episode mit der Handlung einer früheren in Beziehung setzen, sich vertiefen, vergessen, verlieren. In ihrer aktuellen Evolutionsstufe nennt man diese ungezügelte, aber auch genüssliche und hoch konzentrierte Form der Fernsehnutzung Binge Watching. Eine Folge der neuen, sehr intensiven Zuwendung zu favorisierten Serien-Inhalten war die klar veränderte Anspruchshaltung, die deren Fans rasch entwickelten. Je mehr Verfügungsgewalt Rezipienten durch das gestiegene Programmangebot, die Fernbedienung, den Festplattenrekorder oder die DVD erhielten, desto komplexere Plots und Charaktere fragten sie nach. Solche Angebote begegnen uns heute in amerikanischen Erfolgsserien wie Homeland, Lost, Mad Men oder Breaking Bad. Die zunehmende gesellschaftliche Verbreitung dieser Form der TV-Nutzung ist Ausdruck einer paradoxen Erfolgsgeschichte: Höchst erfolgreich hat das Fernsehen eine glühende Leidenschaft nach attraktiven Serien-Inhalten in die Seele seiner Zuschauer*innen gepflanzt. Am Ende sollten jedoch andere Anbieter besser geeignet sein als das Fernsehen, diese Leidenschaft zu befriedigen: Netflix, Amazon prime, iTunes, sie alle bieten für die Serienfans ein intensiveres Genusserleben als das lineare Fernsehen. In der Serie triumphiert das „Watching Programs“ über das „Watching Television“.24 In gewisser Hinsicht ist das Fernsehen der Post-Network-Ära zum Opfer seiner wichtigsten und erfolgreichsten Erfindung geworden: der Serie. Und nun muss es sich genau jenen Veränderungen stellen, die es mit verursacht hat.25 Jene drei Stunden, in denen der durchschnittliche Fernsehzuschauer pro Tag noch immer vor dem Fernseher sitzt, verbringt er eben größtenteils nicht mehr mit Inhalten, für die er brennt. Lauwarm ist seine Zuneigung. Dies hat auch damit zu tun, dass TV-Sender angesichts wachsender Konkurrenz und geringerer Gewinnmargen auf Nischenmärkten mit der Produktion günstigerer Programme reagiert haben. Nicht der Umfang, sondern die Qualität der Fernsehzeit hat sich aus Sicht der Werbung damit verändert. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Parallelnutzung des sogenannten second screen beim Fernsehen in den vergangenen Jahren beständig zugenommen hat. Während das TV-Gerät läuft, gehen die Zuschauer immer häufiger anderen Tätigkeiten nach. Das heißt, sie benutzen vor allem ihr Smartphone, ihren Tablet Computer oder ihr Notebook, um im Internet zu surfen oder ihren Status in den sozialen Medien auf den neuesten Stand zu bringen. Dessen ungeachtet ist das Fernsehen für die Werbung ohne Zweifel nach wie vor eines der wichtigsten Medien, wenn es darum geht, schnell viel Aufmerksamkeit zu generieren. Dennoch hat sie sich darauf eingestellt, dass sich ihre favorisierten Zielgruppen anderenorts tummeln. Sie sind an einem Ort, an dem ihre Interessen und Vorlieben viel genauer
24 Hasebrink, Uwe: Lineares und nicht-lineares Fernsehen aus der Zuschauerperspektive. Spezifika, Abgrenzungen und Übergänge. Hamburg 2009. 25 Beil, Benjamin [u. a.]: Die Fernsehserie als Reflexion und Projektion des medialen Wandels. In: Mediatisierte Welten. Hrsg. von Friedrich Krotz u. Andreas Hepp. Wiesbaden 2012. S. 197–223.
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beobachtet werden als beim linearen Fernsehen. Sie sind an einem Ort, an dem sie mit anspruchsvollen, künstlerisch wertvollen Nischenprogrammen bedient werden. Eine Unterbrechung durch Werbung ist in diesem Rahmen noch weitaus weniger willkommen, als dies bis dahin ohnehin schon der Fall war. Keine andere Epoche in der Geschichte des Fernsehens hat einen derart tiefgreifenden Wandel der Produktionsbedingungen, Angebotsformen und Nutzungsweisen mit sich gebracht wie die 2000er Jahre, die Epoche der digitalen Medien26.
Die digitale Transformation und die Ökonomie des radikalen Preises Die Vervielfachung von Kanälen konfrontiert auch die Unterhaltungsindustrie mit großen Problemen. Noch vor wenigen Jahren wäre es schier undenkbar gewesen, dass nahezu jeder Film, jede Serie, fast jeder beliebige Musiktitel online sofort verfügbar ist. Dies ist heute der Fall. Und es betrifft nicht nur die Hits vergangener Jahre, sondern fast ausnahmslos auch alle aktuellen Premiuminhalte. Die Kassenschlager des Kinos, die begehrten aktuellen TV-Serien oder die aktuellen Musik-Charts, man kann sagen, das gesamte Archiv der populären Unterhaltungskultur ist online verfügbar, wann immer und wo immer man will. In den USA bieten nicht weniger als 34 legale Online-Plattformen auf der Grundlage unterschiedlicher Geschäftsmodelle Zugang zu aktuellen Film- und Fernsehinhalten an.27 Jeder, der einen ganz bestimmten Inhalt sucht, wird fündig – auch auf einer der zahlreichen illegalen Streaming-Plattformen. Fast keiner der legalen Anbieter arbeitet in der Gewinnzone. Hier kommt die gleiche ökonomische Paradoxie zum Tragen, die die gesamte Internetökonomie kennzeichnet, das Nachfrage-Preis-Paradoxon: Die digitalen Inhalte sind heiß begehrt und zugleich chronisch unterfinanziert. Dies schlägt sich direkt in den Lizenzvereinbarungen und Preisverhandlungen zwischen Streaming-Anbietern und der Unterhaltungsindustrie nieder. Die Vervielfachung der Kanäle ist für die Unterhaltungsindustrie daher nicht mit höheren Gewinnen verbunden, sondern vor allem mit einem zunehmenden Kostendruck. Seinen Anfang nahm diese Entwicklung, als der damals 19-jährige College-Student Shawn Fanning 1999 die Musiktauschbörse Napster erfand. Bereits ein Jahr später wählte die angesehene amerikanische Musikzeitschrift SPIN als Seitenhieb
26 Mittel, Jason: Serial Boxes. DVD-Editionen und der kulturelle Wert amerikanischer Fernsehserien. In: Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu den aktuellen Quality-TV- und OnlineSerien. Hrsg. von Robert Blanchet u. a., Marburg 2011. S. 133–152. 27 kpmg: Film and TV title availability in the Digital Age. A report on the U. S. availability of the most popular and critically acclaimed film and TV titles on legal digital streaming and download services. 2014.
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auf die digitale Tauschbörse „Deine Festplatte“ zum besten Album des Jahres 2000. Napster selbst hat sich inzwischen zu einer ganz und gar legalen Streaming-Plattform gewandelt und versucht sich im Schatten größerer Anbieter wie Amazon, Apple oder Spotify zu behaupten. Angesichts dieser großen Konkurrenz ist Napster bis heute in finanzieller Hinsicht kein bahnbrechender Erfolg beschieden. Dennoch war Napster – genauer: das Prinzip Napster – wie auch schon das Prinzip TiVo eine technologische Innovation, die die Geschäftsmodelle der Musikindustrie erschüttert hat. In wenigen Monaten gelang es Napster, den Tausch von Copyright geschützten Musik-Titeln so populär zu machen, dass sich die Musikindustrie ihrer Existenzgrundlage beraubt sah. Mehr als 20 Mio. Menschen beteiligten sich an diesem Tausch der Titel. Vor allem in dieser Hinsicht war Napster enorm erfolgreich: Die illegale Nutzung Copyright geschützter Inhalte im Internet ist inzwischen etabliert. Sie stellt aus Sicht der Unterhaltungsindustrie ein großes ökonomisches Problem dar. Megaupload, Pirate Bay, Rapidshare, Kino.to heißen die Erben Napsters, die inzwischen auch audiovisuelle Inhalte feilbieten. Laut einer im Auftrag der britischen Regulierungsbehörde OFCOM durchgeführten Studie berichten immerhin 30 % aller Internet Nutzer, die in den zurückliegenden drei Monaten online entweder Musik, Filme, Serien oder Bücher konsumiert hatten, dass zumindest einer dieser Inhalte illegal bezogen wurde28. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass sich die Erlösstrukturen der Unterhaltungsindustrie in den zurückliegenden Jahrzehnten stark verändert haben. Die Umsätze der Musikindustrie haben sich nach drei aufeinander folgenden Schockwellen (Napster, iTunes, Spotify) einmal halbiert29. Inzwischen macht die US-amerikanische Musikindustrie mit einem Rückgang von $ 14 Mrd. Jahresumsatz im Jahr 2000 auf rund $ 6 Mrd. im Jahr 2015 weniger Umsatz als die Buchbranche in Deutschland, die das Jahr 2015 mit rund 9,3 Mrd. Euro (umgerechnet zum Wechselkurs des Jahres 2015 = $ 10,01 Mrd.) Einnahmen abschloss.30 Die „Ökonomie des radikalen Preises“31 betrifft also auch die Produzent*innen attraktiver Angebote selbst. Ob Musik oder Film, ob TV-Serie, journalistischer Inhalt oder Literatur, dies alles ist in den digitalen Medien heiß begehrt und zugleich schlecht bezahlt. Es gibt eigentlich keine Branche der Kreativwirtschaft, die mit Blick auf ihre Inhalte den enormen Preisverfall in den digitalen Medien nicht beklagt. Diese Entwicklung hat natürlich auch Konsequenzen für das kreative Personal der Kreativwirtschaft. Obwohl Musik in einem bisher kaum gekannten Maß ver-
28 Online Copyright Infringement Tracker Wave 4 (Covering period Mar 13 – May 13). Overview and key findings. Prepared for Ofcom. 29 Keen, Andrew: The Internet is not the Answer. London 2015. 30 Kroker, Michael: Totale Disruption. So stark hat die digitale Transformation die Musikindustrie getroffen. https://blog.wiwo.de/look-at-it/2016/01/07/totale-disruption-so-stark-hat-die-digitaletransformation-die-musikindustrie-getroffen/ (8.1.2016). 31 Anderson, Chris: Free. How Today’s Smartest Businesses Profit by Giving Something for Nothing. New York 2009.
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fügbar ist und von breiten Nutzerschichten rund um die Uhr konsumiert wird, sinken für professionelle Musiker*innen die Erwerbsmöglichkeiten. In den USA verzeichnet etwa die offizielle Arbeitsmarktstatistik zwischen 2002 und 2012 einen Rückgang von professionellen Musiker*innen von rund 45 %. Im Journalismus ist es ganz ähnlich. Auch in der Film- und Fernsehindustrie wirkt sich der Kostendruck auf die Arbeitsbedingungen des kreativen Personals aus. Der Übergang zur PostNetwork-Ära war mit einer gesteigerten Nachfrage nach attraktiven Inhalten und zugleich harten Tarifauseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften und den großen Studios verbunden.32 Im Literaturbetrieb lässt sich die gleiche Entwicklung beobachten. Laut einer Umfrage der amerikanischen Author’s Guild ist das durchschnittliche Einkommen von Autor*innen von $ 25 000 im Jahr 2009 auf rund $ 17 000 im Jahr 2015 und damit um rund 30 % zurückgegangen.33 Wenn man sich alleine diese Arbeitsmarktzahlen einer zunehmend „flexploiteten“34 Generation an Kreativen anschaut, ist es kein Wunder, dass in der Kommunikationspraxis in den vergangenen Jahren immer stärker auf hybride Formate gesetzt wurde, mit denen sich im Spannungsfeld zwischen Information, Unterhaltung und Persuasion ein Leben finanzieren lässt. Der Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung waren ausgerechnet jene Medientechnologien, die in den 1990er Jahren vermeintlich das Ende der klassischen Werbung einläuteten: die digitalen Medien. Hier tritt die Werbung heute aus dem Schatten von Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendern heraus. Hier ist sie mehr als nur das „Rauschen im Programm“35. Hier macht sie Angebote, die oftmals gefallen, unterhalten und informieren. Hier vermischen sich aber auch geradezu notorisch ehemals strikt getrennte Inhalte im Programm der klassischen Medien zu neuen, hybriden Verbundangeboten (Branded Content, Product-Placement, Native Advertising etc.). Klassische Definitionen des Begriffs der Werbung sind in der Fachdebatte vor dem Hintergrund dieser Entwicklung grundsätzlich in Frage gestellt worden36.
32 Lotz, The television will be revolutionized (wie Anm. 17). 33 The Authors Guild, Inc.: An Open Letter to the Members of the Association of American Publishers from the Authors Guild, Members of the Authors Coalition, and Members of the International Authors Forum. New York 2016. 34 Bourdieu, Pierre: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz 1998. 35 Rühl, Manfred: Publizieren. Eine Sinngeschichte der öffentlichen Kommunikation. Opladen u. Wiesbaden 1999, S. 22. 36 Rühl, Publizieren (wie Anm. 33); Schultz, Don: The Future of Advertising or Whatever We’re Going to Call It. In: Journal of Advertising 45 (2016). S. 276–285; v. Kumar u. Shaphali Gupta: Conceptualizing the Evolution and Future of Advertising. In: Journal of Advertising 45 (2016). S. 302– 317; Johar, Gita Venkataramani: Mistaken Inferences from Advertising Conversations. A Modest Research Agenda. In: Journal of Advertising 45 (2016). S. 318–325; Deuze, Mark: Living in Media and the Future of Advertising. In: Journal of Advertising 45 (2016). S. 326–333; Dahlen, Micael u. Sara
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Mit der begrifflich konzeptionellen Neubestimmung auf der einen Seite korrespondieren auf der anderen Seite empirische Diagnosen von der voranschreitenden „Entgrenzung“ der Werbung.37 Der Begriff der Entgrenzung stellt freilich eine in den meisten Modernisierungsdebatten gängige Prozessfigur dar, die in vielen Fällen eine chronisch unterbestimmte catch-all-Kategorie38 ist, mit der sehr unterschiedliche Formen des sozialen Wandels beschrieben werden. Angesichts der damit durchaus angebrachten Skepsis gegenüber Entgrenzungshypothesen, heißt das, muss sich jedes Vorhaben der Beschreibung und Systematisierung solcher Entgrenzungsphänome daher die Frage stellen, an welchen empirisch beobachtbaren Orten diese Prozessfigur konkret festgestellt werden kann und welche Prozessdynamiken dabei theoretisch vorausgesetzt werden sollen. Wo und wie also vollzieht sich die Entgrenzung der Werbung an den beobachtbaren Prozessorten? Die Grenzenlosigkeit, so machen die folgenden Abschnitte deutlich, vollzieht sich in drei Transformationsprozessen: Werbung will – wie schon so oft in ihrer Geschichte – einmal mehr unterhalten, sie will im Gewand des Journalismus berichten und sie wird überall dort in gewisser Hinsicht postideologisch, wo neben die großen stereotypen Persasionsnarrative, mit denen die Werbung zu allen Zeiten gearbeitet hat, ganz einfach nur das Ergebnis einer Google-Suchanfrage als persuasiver Mikro-Stimulus gerückt wird.
Werbung unterhält, Unterhaltung wirbt Werbewandel vollzieht sich co-evolutiv mit dem voranschreitenden Medienwandel und ist auf diese Weise ebenfalls sehr eng verwoben mit dem Wandel der gesamten medienbasierten Kreativwirtschaft. Was sich heute als Entgrenzung der Werbung beobachten lässt, ist möglich und aus Sicht der beteiligten Industrien aber auch notwendig geworden durch eine Allianz zwischen jenen Industrien der Kreativwirtschaft, die sich durch den Prozess der Digitalisierung gegen Ende der 1990er Jahre in ihrer Existenzgrundlage bedroht sahen. Eine der wichtigsten Konsequenzen der digitalen Transformation besteht darin, dass die Unterhaltungsindustrie in den vergangenen Jahren beständig nach neuen Einnahmequellen gesucht hat. Die Werbung empfing sie mit offenen Armen. Ihre Probleme sind gleichsam komplementär zu denen der Unterhaltungsindustrie. Werbetreibende Unternehmen sind heute in
Rosengren: If Advertising Won’t Die, What Will It Be? Toward a Working Definition of Advertising. In: Journal of Advertising 45 (2016). S. 334–345. 37 Zurstiege, Guido: Werbung – Gesellschaft – Kultur. In: Handbuch Werbeforschung. Hrsg. von Gabriele Siegert u. a. Wiesbaden 2015. S. 77–97. 38 Loosen, Wiebke: Entgrenzung des Journalismus. Empirische Evidenzen ohne theoretische Basis? In: Publizistik 52 (2007). S. 63–79.
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der Lage, ihre Zielgruppen mit Hilfe eigener Medien anzusprechen. Der Werberaum in den klassischen Massenmedien spielt gewiss noch immer eine große Rolle. Immer wichtiger werden aber darüber hinaus auch Verbreitungskanäle, über die werbetreibende Unternehmen gänzlich in eigener Regie verfügen. Es sind dieselben Kanäle, auf denen das Publikum mit einer maximalen ästhetischen Anspruchshaltung und einer minimalen Zahlungsbereitschaft nach attraktiven Inhalten sucht. Die Werbung erhält Unterstützung durch die Unterhaltungsindustrie und unterbreitet ihren anspruchsvollen Zielgruppen vielfältiges Entertainment als Geschenk. Dies erfolgt im Programm der klassischen Medien sowie daneben, auf Distributionsplattformen, über die die Werbetreibenden ohne Einschränkungen selbst bestimmen können. So ist es im Fernsehen inzwischen eine herrschende und von großen Teilen des Publikums nicht im Geringsten hinterfragte Werbestrategie, Produktbotschaften und Unterhaltungsangebote aufs Engste miteinander zu verweben. Die Integration von Werbung und Programm ist bekanntlich ein Leitwert, an dem sich die Werbung schon immer orientiert hat. Werbliche Anzeigen gehörten seit den Anfängen der periodischen Presse zur Geschichte der journalistischen Druckerzeugnisse. Anfänglich wurden Anzeigen von den Nachrichten formal nicht unterschieden, weil sie ebenso wie diese den Lesern Neuigkeiten vermittelten. Eine deutlichere Trennung zwischen dem redaktionellen und dem Anzeigenteil erfolgte erst in dem Moment, in dem sich die Blätter stärker durch kommerzielle Geschäftsanzeigen zu finanzieren begannen. Schon immer hat die Werbung also darauf spekuliert, von der Glaubwürdigkeit und der Strahlkraft der höherwertigeren Bestandteile im Programm der Medien zu profitieren, ob erkennbar als Anzeige oder Spot, ob in der Grauzone als Product-Placement oder Schleichwerbung. Eine neue Qualität hat die Orientierung am Leitwert der programmintegrierten Werbung dadurch bekommen, dass Werbetreibende gemeinsam mit Rundfunk-Medien in den vergangenen Jahren deutlich mehr Spielräume für die Entwicklung neuer hochintegrierter Werbeformate erstritten haben, über die sie heute zumindest ebenso viel Gestaltungsmacht besitzen, wie sie die Waschmittelhersteller in der Sturm-und-Drangphase des amerikanischen Radios auf die sogenannten Seifenopern hatten. Die Kosmetik-Industrie (Germany’s Next Topmodel), die Mode-Industrie (Shopping Queen), die Musik-Industrie (Deutschland sucht den Superstar), die Auto-Industrie (Wetten dass…?) sie alle betreiben Entertainment. Ganz selbstverständlich bieten sie im regulären Programm Unterhaltung an – für alle Beteiligten, die Programmmacher, die Stars und die Zuschauer ist es scheinbar das Normalste auf der Welt. Nicht nur im Programm der Medien verschwimmen die Grenzen zwischen Werbung und Entertainment. Die Werbung bespielt in immer stärkerem Maße auch eigene Bühnen. Ein in diesem Sinne erfolgreiches Unterhaltungsgeschenk ist aus der Kooperation des Chipherstellers Intel und des Computerbauers Toshiba hervorgegangen. Die auf dem berühmten Werbefestival in Cannes hochdekorierte Kurzfilmserie The Beauty Inside handelt von Alex, einem jungen Mann, der jeden Tag von neuem in einem anderen Körper aufwacht – jung oder alt, Mann oder Frau, schön
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oder hässlich. Die Kurzfilmserie, die von rund 70 Mio. Menschen im Internet gesehen wurde, verdankt ihren Namen natürlich der Anspielung auf den bekannten Slogan „Intel inside“, wird aber inhaltlich eng durch die Handlung der insgesamt sechs Episoden getragen. Denn eines Tages verliebt sich Alex in die bezaubernde Leah. Und nun muss sich bewahrheiten, dass wahre Liebe tatsächlich auf innere Werte setzt. Die Episoden der Kurzfilmserie wurden auf einer eigenen Website sowie auf YouTube verbreitet. Die eigentlichen Hauptakteure dieses „Social films“ sind dabei die Zuschauer*innen selbst. Denn sie können ihrerseits in die Rolle von Alex schlüpfen und die Liebesgeschichte zwischen Alex und Leah mit eigenen Videos fortschreiben. Das Folgeprojekt von Intel und Toshiba, The Power Inside feierte im August 2013 Premiere. Die ebenfalls sechs Episoden mit Harvey Keitel in der Hauptrolle handeln von einer Invasion durch Außerirdische, der sich eine Gruppe von tapferen Menschen entgegenstellt. Wieder konnten sich die Zuschauer*innen mit eigenen Videos in die Geschichte einschreiben. Neu an diesem Projekt war, dass Intel und Toshiba nun erstmals auch Werberaum für integrierte Produktplatzierungen an Unternehmen wie Spotify, Skype, Fossil oder Skullcandy verkauften. Kooperationen wie diese sind freilich die Ausnahme, sie sind nicht repräsentativ für eine herrschende Praxis im Mediensystem. Aber sie zeigen sehr deutlich, wie weitreichend die möglichen Konsequenzen der strategischen Umorientierung werbetreibender Unternehmen sind. Früher gaben Firmen etwa ein Drittel ihrer Werbeausgaben für die Produktion einer Kampagne aus und etwa zwei Drittel für deren Platzierung in Tageszeitungen und Zeitschriften, im Fernsehen, im Hörfunk oder auf Plakaten. Heute hat sich dieses Verhältnis in vielen Fällen umgedreht. Zwei Drittel des Budgets verschlingt die Produktion der Kampagne, nur noch ein Drittel wird für deren mediale Verbreitung eingeplant. Die Folgen dieser finanziellen Gewichtsverlagerung für die Medienfinanzierung liegen auf der Hand. Aber nicht nur die traditionellen Geschäftsmodelle in der Dreiecksbeziehung zwischen den werbetreibenden Unternehmen, den Agenturen und den Medien sind in Bewegung geraten. Auch die Ästhetik der Werbung verändert sich in digitalen Medienumgebungen. Das kommunikative Repertoire der klassischen Werbung, also etwa die kurzen emotional besetzten Kaufappelle, wie man sie aus Werbeanzeigen oder TV-Spots kennt, wird erweitert um erzählerische Formen der Markeninszenierung bzw. der Markensublimierung. Virale Spots bedienen sich in deutlich stärkerem Maße Aufsehen erregender Darstellungen als Werbung in klassischen Medien. Dies hat viele Gründe, so etwa die deutlichen Unterschiede zwischen Internet- und TV-Publikum sowie die starke öffentliche Kontrolle von Fernsehprogrammen im Vergleich zu einer eher schwachen Kontrolle des Internets und seiner Dienste. Um sich als Thema und Tauschobjekt in sozialen Netzwerken behaupten zu können, setzen virale Kampagnen überdies auf vergleichsweise spektakuläre und provokative Darstellungen. Da die Werbung bereits traditionell mit diesen Darstellungen nicht gerade geizt, kann man sagen, dass hier die weitere Zuspitzung einer bereits bestehenden Kommunikationspraxis erfolgt.
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Werbung berichtet Noch nie standen so vielen Menschen so viele, so leistungsstarke und so unterschiedliche Medien der Information zur Verfügung wie heute. Eine Bibliothek, ein Archiv, ein Fernsehgerät, ein Radio, eine Zeitung, eine Zeitschrift, eine Enzyklopädie: All dies befindet sich in der Jackentasche von Jugendlichen heute, stand-by, in Form eines Smartphones. Wo immer sie sich gerade aufhalten, was immer sie gerade tun, diese Jugendlichen tragen ein digitales Füllhorn der Information mit sich herum. Die Voraussetzungen dafür, dass die aktuelle Generation einmal als die am besten informierte Generation aller Zeiten in die Geschichte eingehen könnte, sind wahrlich blendend. Ob Süddeutsche oder FAZ, ob NZZ, New York Times oder Guardian, die großen Titel der internationalen Qualitätspresse bieten in reicher Fülle mobil abrufbare journalistische Informationen an. Gemessen an der großen Bedeutung, die diese Angebote nicht nur für das jugendliche Publikum besitzen, fallen die Werbeeinnahmen, die die klassischen Nachrichtenmedien mit ihren digitalen Angeboten erzielen, freilich sehr bescheiden aus. Eine Ursache ist jene geradezu epochale Fehleinschätzung, mit der die großen Verlagshäuser die Vermarktung digitaler Verbreitungskanäle verpasst haben. Die meisten der journalistischen Online-Angebote waren von Anfang an kostenlos. Zum großen Verdruss der Verlagshäuser sind sie es bis heute. Bezahlte Angebote konnten sich jedoch bislang kaum durchsetzen. Ökonomisch tragfähige Geschäftsmodelle sind nicht in Sicht. Die Folge ist, dass selbst renommierte Verlagshäuser wie die New York Times, der britische Guardian, die Süddeutsche Zeitung oder die FAZ nur schwer in die Gewinnzone kommen. Die Problemlage ist auch hier paradox, denn man kann sagen, dass die aufgeklärten Zeitungsleser*innen in gewisser Hinsicht zum Problem der Zeitungen geworden sind. Sie haben eine ähnliche Metamorphose durchlaufen wie die leidenschaftlichen Fans von TV-Serien. So wie das Fernsehen im Zuge seiner digitalen Transformation zum Opfer jener Serien-Leidenschaft zu werden droht, die es selbst in die Seele seiner Zuschauer gepflanzt hat, droht nun auch die Zeitung zum Opfer einer Generation von Leser*innen zu werden, die sie sich im Verbund mit der Medienaufklärung der vergangenen Jahrzehnte immer gewünscht hat. Diese heutige Generation an Zeitungsleser*innen ist kritisch, sie informiert sich nicht nur durch eine, sondern durch eine Vielzahl von Quellen. Wenn es ernst wird, liest sie den Spiegel, die Zeit und die FAZ – online. Nur zahlen will sie für ihr gesteigertes Informationsbedürfnis nicht. Information ist eine Pflicht und ein Recht, das hat diese Generation verinnerlicht. Endlich stehen Medientechnologien zur Verfügung, die es uns gestatten zu tun, was die medienpädagogische Aufklärung seit Jahrzehnten gefordert hat: die breit gestreute Lektüre unterschiedlicher Nachrichtenquellen, um in der Lage zu sein zu differenzieren, abzuwägen, sich selbst ein Bild zu machen, mündig zu sein. Vom Bezahlen war dabei nie die Rede. Dies betrifft übrigens auch den Nachrichtenhunger von Google, Yahoo und Co., die die Online-Nachrichten der Verlage sammeln und in aggregierter Weise als „News“
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ihren Nutzern präsentieren – ohne dafür den Verlagen ein angemessenes Entgelt gezahlt zu haben. Die Einnahmenbilanz ist aber aus Sicht der Pressehäuser nicht nur auf dem Lesermarkt, sondern auch auf dem Anzeigenmarkt dunkelrot gefärbt. Die gedruckte Auflage der Tageszeitungen in Deutschland ist seit Anfang der 1990er Jahre um rund 11 Millionen Exemplare zurückgegangen. Vor allem die kommende Lesergeneration bereitet den Zeitungsverlegern große Sorgen. Für sie ist es eben längst nicht mehr so selbstverständlich wie für ihre Eltern, zur Zeitung zu greifen, um sich zu informieren. Da sich die Anzeigenpreise in aller Regel an der Höhe der Auflage bemessen, ist mit dieser rückläufigen Entwicklung auf dem Lesermarkt auch auf dem Inseratenmarkt der Zeitungen eine negative Preisspirale in Gang gesetzt worden. Diese Spirale dreht sich so schnell, dass die Einnahmenrückgänge auf der einen Seite durch die allmähliche Zunahme der Online-Erlöse auf der anderen Seite bei Weitem nicht kompensiert werden. Dies hängt einmal damit zusammen, dass Werbetreibende grundsätzlich niedrigere Preise für Online-Inserate zahlen. In vielen Fällen wird überhaupt nur dann gezahlt, wenn es einer Anzeige gelingt, den Betrachter zu einer Folgehandlung zu veranlassen, indem er z. B. online eine Probefahrt vereinbart, einen Newsletter abonniert oder gar das beworbene Produkt kauft. Zum anderen haben Zeitungen vor allem im Bereich der Kleinanzeigen Konkurrenz durch neue Anbieter bekommen. Diese heißen: Immobilienscout24, Autoscout24 oder Ebay. Wenn von Werbung die Rede ist, haben die meisten wohl nicht Kleinanzeigen vor Augen. Paradoxerweise ist es aber gerade die große Konkurrenz durch digitale Anbieter in diesem Segment, die viele lokale Tageszeitungen in die Knie zwingt. Auch in ihrem journalistischen Kerngeschäft, der aktuellen Berichterstattung, haben Zeitungen Konkurrenz bekommen. Aktualität stellt seit jeher einen der wichtigsten Leitwerte des Nachrichtenjournalismus dar. Wer als erster eine Nachricht veröffentlichen konnte, hatte im Wettbewerb um die Gunst des Publikums die Nase vorn. „Neueste Informationen!“, darum geht es seit jeher im Nachrichtengeschäft. Dieser Lockruf des Zeitungsverkäufers auf dem Boulevard setzte Auflagen in Millionenhöhe ab. Denn in aller Regel stimmte er. Niemand berichtete von fernen Ereignissen schneller als die Zeitung und dann später das Radio und das Fernsehen. Heute haben allem voran die Zeitungen aber auch alle anderen klassischen Medien den Wettlauf um die neuesten Nachrichten des Tages gegen die sozialen Medien verloren. Twitter, Facebook und News-Blogs sind schneller. Das Neueste vom Tage trifft in gedruckter Form stets mit großer Verspätung am Frühstückstisch ein. Die sozialen Medien berichten hingegen unschlagbar schnell, oftmals schon zeitgleich mit den Ereignissen. Aktualität bemisst sich heute nicht mehr in Stunden. Man ist entweder live dabei oder kümmert sich um den Schnee von gestern. Mit diesem Tempo halten nicht einmal Fernseh- und Hörfunkredaktionen mit. Die Berichte und Beobachtungen in den sozialen Medien stammen von Menschen, die mittendrin im
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Geschehen sind. Mit nur wenigen Tastenanschlägen machen sie ihre Leser*innen zu Augenzeugen jener Ereignisse, die am Folgetag in der Zeitung stehen werden. Der Journalismus ist also von verschiedenen Seiten massiv unter Druck geraten. Das Publikum sucht zunehmend im Internet nach Informationen. Dort ist es allerdings weniger bereit, für professionell recherchierte und aufbereitete journalistische Inhalte zu zahlen. Die Werbung folgt dem Publikum. Aber auch sie zahlt im Onlinegeschäft schlecht. Die Verlagshäuser bemühen sich daher um Kostensenkung auf der einen Seite sowie um die Erschließung neuer Finanzierungsquellen auf der anderen.39 Neue Formen der Werbung setzen genau hier an. Viele Online-Nachrichtenseiten, auch solche respektabler Verlagshäuser wie der New York Times, des Wall Street Journal, des Guardian oder der Washington Post, verdienen inzwischen Geld damit, dass werbetreibende Unternehmen hier ihre Werbebotschaften in Form journalistischer Beiträge veröffentlichen dürfen. „Native Advertising“ oder „Branded Content“ nennt man solche Beiträge. Für den US-amerikanischen Online-Nachrichtenmarkt liegen Prognosen vor, wonach mit Native Advertising in den kommenden Jahren jährliche Erlöse in Höhe von mehr als vier Milliarden Dollar erwirtschaftet werden.40 Für eine Reihe digitaler Nachrichtenseiten wie etwa BuzzFeed, The Atlantic, The Huffington Post, Mashable oder Upworthy stellen „Native Advertisements“ inzwischen eine Haupteinnahmequelle dar. „Native Advertisements“ sind in aller Regel als „Werbung“, „paid post“, „Advertorial“ oder „gesponserter Inhalt“ gekennzeichnet. Ansonsten wirken sie jedoch genauso wie ein richtiger Artikel. Für viele Leser*innen ist diese Form der integrierten Werbung weniger aufdringlich und daher akzeptabler als herkömmliche Popup-Anzeigen. Vor allem bei der mobilen Nutzung journalistischer Online-Angebote empfinden es Nutzer*innen als störend, wenn sich Pop-up-Anzeigen über den eigentlichen Inhalt legen oder sich die Ladezeiten einer Seite verzögern. Viele Nutzer*innen leiden überdies an einer Form der selektiven Erblindung, der sogenannten Banner-Blindness: Sie haben gelernt, Werbebanner zu übersehen. In der Hoffnung zu ihren Zielgruppen besser durchdringen zu können und bei diesen auf Interesse zu stoßen, sind Werbetreibende daher bereit, mehr Geld für „Native Advertising“ auszugeben als für Werbebanner und Pop-up-Anzeigen. Jener journalistische Grundsatz, nach dem Werbung und Programm klar voneinander zu trennen sind, wird damit freilich einem permanenten Stresstest ausgesetzt. Dank der Unterstützung durch die Redaktion ähneln die Beiträge in Form und Inhalt dem journalistischen Kontext, in dem sie ihren Leser*innen begegnen. Dies erhöht die Wahrschein-
39 Ruß-Mohl, Stephan: Newspaper Death Watch. Der amerikanische Journalismus als existenzgefährdetes Ökosystem. In: Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation. Hrsg. von Roger Blum u. a. Wiesbaden 2011. S. 81–95. 40 Pew Research Center: The Revenue Picture for American Journalism, and How It Is Changing. 2014. www.pewresearch.org (2.2.2020).
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lichkeit, dass sie gelesen, goutiert und in den sozialen Netzwerken womöglich geteilt werden. Diese Anpassung an den journalistischen Kontext hat weitreichende Folgen für die Nutzer*innen solch hoch integrierter Angebote in der Grauzone zwischen Werbung und Journalismus. Denn sie müssen in einem gesteigerten Maße darauf achten, wer sich gerade mit welcher Botschaft und mit welchem Interesse um ihre Aufmerksamkeit bemüht. Für viele Leser*innen ist dies heute keine leicht zu beantwortende Frage mehr. Das Krankheitsbild des krisengeschüttelten Journalismus ist paradox. Nicht wenige Verlagshäuser müssen sich von großen Teilen ihrer Belegschaft trennen, um angesichts der rückläufigen Einnahmen auf dem Leser- und Anzeigenmarkt Kosten einzusparen. Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst einmal höchst widersprüchlich, dass sich heute mehr Menschen Journalist*innen nennen als jemals zuvor.41 Immer weniger dieser Menschen können indessen ausschließlich von ihrer journalistischen Berufstätigkeit leben. Dies liegt auch daran, dass der Preis, der für bestimmte Formen der Standard-Berichterstattung gezahlt wird, durch automatisierte Formen der Nachrichtenproduktion einem starken Druck unterliegt. Viele Standard-Nachrichten wie etwa Spielberichte im Sportjournalismus, Börsennachrichten oder Wettervorhersagen werden inzwischen von Computern geschrieben. Pro Quartal erscheinen etwa bei der renommierten Nachrichtenagentur Associated Press (AP) rund 3.000 automatisch generierte Nachrichten.42 Dieser Robo-Journalismus wird in Zukunft bei faktenorientierten, aktuellen Berichterstattungen, wie etwa in der Sportberichterstattung, eine immer wichtigere Rolle einnehmen.43 Es ist kein Wunder, dass viele Journalist*innen daher in benachbarte Branchen abwandern und ihr Geld mit „journalismusähnlichen Tätigkeiten“44 verdienen. Diese sind der Wachstumsmarkt und das journalistische Arbeitsfeld der Zukunft: der Quasi-Journalismus. In der Grauzone zwischen Werbung und Journalismus tummeln sich daher schon heute viele berufliche Pendler*innen. Inzwischen gehen rund 40 % aller freien Journalist*innen in Deutschland neben ihrer journalistischen Tätigkeit anderen Tätigkeiten nach – in Rufweite des Journalismus.45 Immer häufiger stehen Journalist*innen damit vor der schwierigen Aufgabe, gegensätzliche berufs-
41 Weischenberg, Siegfried u. a.: Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz 2006. 42 Lobe, Adrian: Nehmen Roboter Journalisten den Job weg? In: FAZ.NET 17.4.2015 https://www. faz.net/aktuell/feuilleton/medien/automatisierter-journalismus-nehmen-roboter-allen-journalistenden-job-weg-13542074.html (21.4.2015). 43 Thurman, Neil u. a.: When Reporters Get Hands-on with Robo-writing. Professionals Consider Automated Journalism’s Capabilities and Consequences. In: Digital Journalism 5 (2017). S. 1240– 1259. 44 Weischenberg [u. a.], Die Souffleure der Mediengesellschaft (wie Anm. 41). 45 Koch, Thomas u. a.: Tanz auf zwei Hochzeiten. Rollenkonflikte freier Journalisten mit Nebentätigkeiten im PR-Bereich. In: Medien und Kommunikationswissenschaft 60 (2012). S. 520–535.
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bezogene Werteorientierungen und berufsethische Standards des Journalismus, der Public Relations und der Werbung in Einklang miteinander zu bringen. Überdies sorgen drohende Stellenkürzungen, der höhere Zeitdruck sowie die zunehmende Orientierung an Klickraten dafür, dass der Arbeitsdruck im journalistischen Berufsalltag heute deutlich zugenommen hat.46 Es ist gut belegt, dass die Werbung seit jeher Druck auf den Journalismus ausgeübt hat, um die Berichterstattung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Fast jeder Journalist kann daher von entsprechenden Erfahrungen berichten.47 Angesichts der höheren Arbeitsbelastung von Journalist*innen sowie der zunehmenden Verschränkung ehemals klar getrennter Berufsfelder nehmen die Einflussmöglichkeiten für Werbetreibende aber an Menge und Qualität rapide zu. Unter diesen Bedingungen sind die Schleusentore des Journalismus heute weiter geöffnet als jemals zuvor.48
Werbung wird postideologisch Ein Großteil der Werbekritik der vergangenen Jahrzehnte hat sich auf die Analyse und Dekonstruktion der ideologischen Tiefenstrukturen werblicher Medienangebote konzentriert. Diese Form der Kritik fokussierte sehr klar erkennbare und unterscheidbare Appelle der Werbung, wie sie in Anzeigen, TV-Spots oder auf Plakaten erscheinen. Sie fokussierte auf das große, persuasive Bild. Im Gegensatz zu den anderen Bestandteilen des Medienprogramms hatte die Werbung im Lichte der Kritik nicht Aufklärung, sondern Ideologie, nicht Selbstbestimmung, sondern Entfremdung der Menschen zum Ziel. Hier ist etwa an die einschlägige neo-marxistische Kritik Guy Debords,49 Herbert Marcuses,50 Wolfgang Fritz Haugs51 oder Judith Williamsons52 zu erinnern, ebenso wie an die semiotische Kritik Roland Barthes53 oder Leo Spitzers54. Freilich mit jeweils recht unterschiedlichen theoretischen Bezügen und
46 Puppis, Manuel u. a.: Abschlussbericht des vom Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) geförderten Projekts. Arbeitsbedingungen und Berichterstattungsfreiheit in journalistischen Organisationen. Freiburg (Schweiz) 2014. 47 Nyilasy, Gergely u. Leonard N. Reid: Advertiser Pressure and the Personal Ethical Norms of Newspaper Editors and Ad Directors. In: Journal of Advertising Research 51 (2011). S. 538–551. 48 Neuberger, Christoph u. Peter Kapern: Grundlagen des Journalismus. Wiesbaden 2013. 49 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996. 50 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Zürich 1969. 51 Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M. 1971. 52 Williamson, Judith: Decoding advertisements: Ideology and meaning in advertising. London 1978. 53 Barthes, Roland: Le degré zéro de l’écriture suivi de Éléments de sémiologie. Paris 1965. 54 Spitzer, Leo: A method of interpreting literature. Northampton, Mass. 1949.
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methodischen Ansätzen schwingt hier überall das gleiche Ensemble von Grundannahmen und Argumentationsszenarien mit: Qua Behauptung schreibt die Werbung den falschen Wünschen, Hoffnungen, Bedürfnissen Relevanz zu. Werbung bringt damit einen Enttäuschungszusammenhang hervor, weil die oberflächlichen Freuden des Konsums angesichts der Authentizität unseres Wünschens strukturell zum Scheitern verurteilt sind. Werbung bringt darüber hinaus einen Verblendungszusammenhang hervor, weil wir zwar meinen, authentisch zu wünschen, dabei jedoch das tatsächlich Wahre, Schöne, Gute aus dem Blick verlieren. Bei allen Unterschieden im Detail hat die Werbekritik der vergangenen Jahrzehnte immer wieder die hochgradig stereotypisierten Darstellungen der Werbung im Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften oder auf Plakaten ins Zentrum ihrer Analysen gestellt. Der dabei in aller Regel zugrunde gelegte Stereotypen-Begriff lässt sich in Anlehnung an den einflussreichen Begriffsvorschlag des amerikanischen Publizisten Walter Lippman55 wie folgt zusammenfassen: Die Welt, in der wir leben, begreifen wir durch den Filter von „Preconceptions“, von verkürzten, stenografierten Vorstellungen. Diese Vorstellungen nannte Lippmann ‚Stereotype‘. Stereotype spielen eine zentrale Rolle in unserer persönlichen Aufmerksamkeitsökonomie. Stereotype, so lässt sich mit Lippmann weiter festhalten, sind aber auch kognitive Abwehr- und Schutzmechanismen. Stereotype errichten eine Festung aus Vorstellungen in Bezug auf die Welt, an denen empirische Gegenbeweise abprallen. Stereotype stehen in diesem Sinne unter Ideologieverdacht. Das rechtfertigt nun wiederum die ihnen gegenüber oft vorgebrachte Kritik. Stereotype entfalten ihre volle Wirkungskraft dort, wo sich Menschen Wissen ohne direkte Erfahrung aneignen. Die Medien sind einer der wichtigsten Orte, an denen genau dies geschieht. Sie schaffen Teilnahme auf Distanz, fragiles Wissen ohne unmittelbare Erfahrung, an dessen Bruchkanten Stereotype ihre volle Wirkungskraft entfalten können. Und schließlich: Wir verlassen uns vor allem dann auf die Dienste von Stereotypen, so grenzte Lippmann deren situative Funktionsbedingungen ein, wenn wir eilig, unaufmerksam, gehetzt oder sonst wie abgelenkt in eine Situation eintreten. Die Frage, ob wir uns auf stereotype Vorannahmen verlassen oder nicht, so lässt sich folgern, hängt also von Bedingungen ab, und diese Konditionalität macht das Konzept so relevant für die Analyse von Werbung. Denn Werbung operiert unter ganz spezifischen Bedingungen und diese sind der Grund dafür, warum die Werbung in ganz besonderem Maße auf Stereotype setzen muss. Schon vor rund hundert Jahren hat der Begründer der Zeitungskunde in Deutschland, der Leipziger Nationalökonom Karl Bücher, die Bedingungen, unter denen Reklame zu wirken versucht, auf den Punkt gebracht: Die Werbung, so sagte
55 Lippman, Walter: Public opinion. New York 1922.
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Bücher56, begegne uns überall dort, wo unsere Aufmerksamkeit durch ein anderes Interesse abgelenkt werde: auf Häuserwänden und Litfaßsäulen, im Theater und im Kino, in Straßenbahnen, U-Bahnen und Omnibussen, in Zeitungen und Zeitschriften. Und überall dort begegne sie uns als „Nebenzweck“, der „einem bestimmten Kreis von Menschen wider ihren Willen aufgenötigt“ werde. Kein Mensch, heißt das, kauft eine Zeitung wegen der Werbung, kein Mensch schaltet den Fernseher ein wegen der Werbung, kein Mensch betritt die Straße wegen der Werbung, die ihm dort ganz sicher begegnen wird. Überall hier streben wir nach anderem: Wir wollen Nachrichten lesen, einen Film schauen oder spazieren gehen. Diese in der Medien- und Kommunikationswissenschaft, in der Werbewirkungsforschung, aber auch in der Praxis der vergangenen Jahrzehnte vorausgesetzte Prämisse ist so etwas wie ein ehernes Gesetz der klassischen Werbung. Gerät Werbung in unser Gesichtsfeld, sind wir in aller Regel unaufmerksam. Und genau dies ist der Grund, warum die klassische Reklame geradezu notorisch auf besonders eindringliche Stereotype gesetzt hat. Hierauf richtete sich nun die intellektuelle Energie der klassischen Werbekritik: auf die wirkungsmächtigen und hochverdichteten persuasiven Spots, auf die Slogans und Schlüsselbilder, auf die überzogenen und verzerrten Geschlechterbilder der Werbung, die an die geheimen Wünsche und Motive der Menschen appellieren sollten. Der Tiger im Tank stand für wahre Männlichkeit. Der Mann von der Hamburg Mannheimer für eine sichere Geldanlage. Die Kirschenexpertin Claudia Bertani schürte den Klassenkampf im Geschlechterverhältnis. Im Lichte der Kritik glich die Werbung geradezu einem Jahrmarkt der Stereotype. Auf diesen richteten sich die Erfolgserwartungen der einen, im gleichen Umfang aber auch der mahnende Zeigefinger der anderen. Die Werbetreibenden auf der anderen Seite hofften ihrerseits, dass wir dank jener so vehement kritisierten Darstellungsstrategien ihre Botschaften verstehen, obwohl wir sie nur in unserem Augenwinkel aufnehmen und verarbeiten. Dieses klassische Kalkül gilt über weite Strecken auch heute noch. Werbung in Zeitungen und Zeitschriften, auf Plakaten, im Hörfunk und vor allem im Fernsehen folgt dieser Logik. Dennoch hat sich die Werbung heute an vielen Stellen aber auch von diesem klassischen, das geringe Involvement ihrer Zielgruppen voraussetzenden Kalkül emanzipiert und neue Wege beschritten. Wie die vorangegangenen Abschnitte deutlich gemacht haben, ist Werbung heute an vielen Stellen auf spektakuläre Art und Weise weitaus mehr als klassische Werbung: Sie erzählt Geschichten, die bewegen, die hoch ästhetisch sind und die die klassische Werbeästhetik über Bord werfen. An vielen Stellen berichtet Werbung ganz ähnlich, wie es der Journalismus tut, oder sie spricht eine Empfehlung aus wie ein Freund oder ein guter Bekannter. Aktuelle Formen der Werbung sind an anderer Stelle aber auch radikal weniger als all dies. Kei-
56 Bücher, Karl: Die wirtschaftliche Reklame. Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 73 (1917). S. 461–483, S. 476.
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ne hochglänzende ansprechende Ästhetik zeichnet sie aus, keine ideologisch aufgeladenen stereotypen Bilder, keine mitreißende Narration, kein journalistischer Stil, sondern einfach nur die Antwort auf eine Frage, die man bei der Online-Suche stellt. Kritik an diesen postideologischen Formen der Werbung lässt sich nicht mehr an den konkreten Werbebotschaften festmachen. An dem Ergebnis einer Google-Suche beißt sich die auf die Analyse von Stereotypen hermeneutisch hochgerüstete Medienkritik die Zähne aus. Gegenstand der Werbekritik heute sind weniger (oder doch zumindest nicht nur) die stereotypen, ideologisch aufgeladenen Bilder und Slogans der Werbung. Vielmehr sind es oftmals ästhetisch ganz unscheinbare Inhalte, die nicht an und für sich, sondern aufgrund der Voraussetzungssysteme ihrer Entstehung problematisch sind und Kritik herausfordern. Dabei lässt sich vor allem der Umgang mit Kundendaten als einer der derzeitig am meisten diskutieren Problembereiche hervorheben. Die Spuren, die heutige Internetnutzer*innen online hinterlassen, bestimmen die Attraktionen, die sie auf zukünftigen Reisen im Netz zu sehen bekommen. Wer etwa in einem Reiseportal mehrmals nach einer bestimmten Flugverbindung sucht, wird nicht selten die Erfahrung machen, dass der Flug von Mal zu Mal teurer wird. Wer mit einem noblen Apple Laptop ein Hotelzimmer bucht, zahlt schon heute auf manchen Plattformen mehr als jemand, der dasselbe Zimmer mit einem normalen Windows-Rechner anfragt.57 Mit der gleichen Technologie ließen sich Preise für online abgeschlossene Krankenversicherungen individuell staffeln, je nachdem welche Angebote der potentielle Versicherungsnehmer im Vorfeld des Vertragsabschlusses online konsumiert hat. In der Tat arbeiten verschiedene Versicherungsanbieter trotz massiver öffentlicher Proteste genau an solchen Angeboten.58 Verschiedene Krankenkassen zahlen ihren Mitgliedern einen Zuschuss für den Erwerb einer AppleWatch, die den allgemeinen Gesundheitszustand und das Maß an sportlicher Betätigung protokolliert. Wer alles Zugang zu diesen Daten erhält, ist noch ungeklärt. Die Allianz Versicherung bietet vor allem jungen Kund*innen im Alter zwischen 18 und 28 bereits Telematik-Tarife an, bei denen eine Smartphone-App des Versicherers den Fahrstil des Fahrers protokolliert und auf diese Weise die Tarifstufen berechnet. Im Zuge dieser voranschreitenden Digitalisierung der Konsumwelt, so lautet die These vieler Beobachter*innen, werden diese Formen der Konsument*innen-Diskriminierung weiter zunehmen59. Mit Werbung und ihren stereotypen Formen der persuasiven Konsumerziehung ihrer Zielgruppen hat all dies nicht mehr viel zu tun,
57 Hannak, Aniko u. a.: Measuring Price Discrimination and Steering on E-commerce Web Sites. Paper presented at the Proceedings of the 2014 Conference on Internet Measurement Conference, Vancouver, BC, Canada. 58 Krempl, Stefan: Generali will Krankenversicherte per Fitness-Rabatt-App beobachten. Heise online (Heise online 2015). https://www.heise.de/newsticker/meldung/Generali-will-Krankenversicherte-per-Fitness-Rabatt-App-beobachten-2750276.html (2.2.2020). 59 Krempl, Generali will Krankenversicherte per Fitness-Rabatt-App beobachten (wie Anm. 58).
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und doch dient es dem gleichen Zweck: der massenhaften Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen.
Folgen für die Werbeforschung Werbung will unterhalten, Werbung will im Gewand des Journalismus berichten und Werbung begegnet uns an vielen Stellen als postideologische, auf die großen stereotypen Persusasionsnarrative verzichtende, persuasive Mikro-Stimuli instrumentalisierende Kommunikationsform. Das sind drei wichtige Entwicklungslinien der digitalen Transformation der Werbung. Mit diesen Entwicklungen sind weitreichende Konsequenzen für die Werbepraxis verbunden. Die Entwicklungen besitzen aber auch Konsequenzen für die Werbeforschung. Eine Reihe dieser Konsequenzen soll in diesem Abschnitt noch einmal abschließend hervorgehoben werden. Mit Blick auf das, was heute alles unternommen wird, um folgenreiche Aufmerksamkeit zu produzieren, erscheint der Begriff ‚Werbung‘ reichlich antiquiert. Werbetreibende bedienen sich inzwischen einer Vielzahl von Maßnahmen, die über sehr unterschiedliche Kanäle distribuiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Kanalproliferation übernehmen Agenturen heute immer stärker Integrationsaufgaben. In der Fachdiskussion findet dies seit den frühen 1990er Jahren vor allem in der Beschäftigung mit ‚Integrated Market Communication‘ (IMC) seinen Niederschlag. Große, international tätige Full-Service-Agenturen bieten immer mehr unterschiedliche Dienstleistungen an, die sie dann in der Folge auch systematisch orchestrieren müssen. Daher gewinnt in der Agenturpraxis der Strategiebegriff immer stärker an Bedeutung.60 Agenturen und Agenturkund*innen haben dabei, wie etwa Fred Beard61 oder Stephen J. Gould, Andreas F. Grein und Dawn B. Lerman62 gezeigt haben, zuweilen recht unterschiedliche Vorstellungen davon, wer die Steuerung des gesamten IMC-Prozesses übernimmt. In gleicher Weise, so konnten Philipp J. Kitchen und Kollegen63 zeigen, bestehen auch innerhalb einer Agentur unterschiedliche Vorstellungen darüber, welcher der beteiligten Kommunikationsexpert*innen die Führung übernimmt. Mit der Ausweitung des Leistungsspektrums von Agenturen nimmt die
60 Turow, Joseph: The Future of Shopping Is More Discrimination. In: The Atlantic (27.2.2017). https://www.theatlantic.com/business/archive/2017/02/turow-aisles-future-of-shopping/517413/ (2.2.2020). 61 Beard, Fred K.: Integrated Marketing Communications: New Role Expectations and Performance Issues in the Client-Ad Agency Relationship. In: Journal of Business Research 37 (1996/3), 207–215. 62 Gould, Stephen J., Andreas F. Grein u. Dawn B. Lerman: The Role of Agency-Client Integration in Integrated Marketing Communications: A Complementary Agency Theory-Interorganizational Perspective. In: Journal of Current Issues and Research in Advertising 21 (1999/1), 1–12. 63 Philipp J. Kitchen u. a.: Will Agencies Ever „Get“ (or Understand) IMC? In: European Journal of Marketing 38(2004/11/12), 1417–1436.
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Komplexität des Entscheidungsprozesses zu, werden solche „turf battles“ wahrscheinlicher, wird Überblickswissen immer wichtiger und die (Selbst-)Zuschreibung von Strategie-Kompetenz für die Agenturen zu einer erfolgskritischen Zielgröße. Auch aus diesem Grund betonen die meisten Agenturen inzwischen Strategiebildung als eine ihrer zentralen Aufgaben: Wer die Strategie entwickelt, übernimmt die Führung und versammelt die taktischen Maßnahmen unter seiner Schirmherrschaft. Die Werbepraxis ist aus den genannten Gründen schon lange von dem zunehmend als eng empfundenen Begriff ‚Werbung‘ abgerückt. Die Forschung sollte ihr auf diesem Kurs folgen, anderenfalls würde sie Gefahr laufen, eine andere Sprache zu sprechen, als der soziale Phänomenbereich, auf den sie ihre Aufmerksamkeit richtet. Diagnosen der voranschreitenden „Entgrenzung“ der Werbung haben deutlich gemacht, dass die klassischen Sinn- und Deutungsmuster der Werbung an vielen Stellen zunehmend in den Hintergrund rücken. In manchen Fällen werden sie spektakulär überboten. Dies geschieht etwa dort, wo Werbung sich ihren Zielgruppen als „Branded Entertainment“ präsentiert. In anderen Fällen werden die klassischen Sinn- und Deutungsmuster der Werbung aber auch spektakulär unterboten. Dies ist etwa dort der Fall, wo sich Werbung als das Ergebnis einer Google-Suche präsentiert. In beiden Fällen greift der Bezug auf Werbung als historische Quelle, gemessen an der bisherigen, für weite Teile nicht nur der medienkritischen Werbeforschung, buchstäblich ins Leere. Im Falle der ästhetisch stark abgerüsteten Werbung wie dem Suchwortmarketing ist in der Regel nicht mehr die werbliche Inszenierung an sich das interessante Detail einer zukünftigen Geschichte, sondern die Voraussetzungssysteme ihrer Entstehung. Konnte die historische Werbeforschung das Plakat, die Anzeige, den TV-Spot zwar nie auf die Wahrheit befragen, sondern immer nur im Sinne John Bergers64 oder Erving Goffmans65 in Bezug auf die Frage, welchem Begehren die Werbung in ihrer Zeit Anerkennung66 und damit Geltung verschafft hatte, wird sich dies auf der Grundlage der am klassischen Werbematerial geschulten Hermeneutik in zukünftigen Geschichtsschreibungen, die auf die Werbung unserer Tage zurückblicken werden, nicht mehr so leicht sagen lassen. Ein weiter gefasster Begriff dessen, was Werbung heute alles ist, stellt natürlich auch eine enorme Herausforderung für die historische Dokumentation und Systematisierung des Materials dar. Mit der Ausnahme von Printwerbung, die eben schon immer mitarchiviert wurde, war Werbung in dieser Hinsicht zu allen Zeiten ein problematischer Untersuchungsgegenstand der historischen Forschung, weil sie stets dezentral und damit hochgradig selektiv archiviert wurde. In einer Zeit der voranschreitenden Entgrenzung von Werbung wird sich dieses Problem weiter verschär-
64 Berger, John: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Reinbek bei Hamburg 1998. 65 Goffman, Erving: Gender advertisements. New York 1979. 66 Kitchen, Will Agencies Ever „Get“ (or Understand) IMC? (wie Anm. 63).
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fen. In einer solchen Zeit muss sich die Werbegeschichtsschreibung heute womöglich stärker als früher zum Anwalt zukünftiger Werbegeschichtsschreibungen machen und in die Systematisierung und Archivierung heutiger Formen von Werbung investieren.
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Autor*innenverzeichnis Prof. Michael Cowan ist Professor für Film- und Mediengeschichte an der University of St Andrews. Seine Veröffentlichungen umfassen Monografien, Sammelbände und Artikel zu Filmgeschichte und deutscher Kulturgeschichte. Wichtige Publikationen: Walter Ruttmann and the Cinema of Multiplicity: Avant-Garde – Advertising – Modernity. Amsterdam 2014; Interactive Media and Imperial Subjects: Excavating the Cinematic Shooting Gallery. In: NECSUS: European Journal of Media Studies (2018); Learning to Love the Movies. In: Film History 27/4 (2016); und Taking it to the Street: Screening the Advertising Film in Weimar Cinema. In: Screen 54/4 (2013). [email protected] PD Dr. Bernhard Dietz ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz tätig und untersucht Wertewandelsprozesse im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Nach dem Studium in Mainz, Berlin und Brighton absolvierte er Forschungs- und Lehraufenthalte in London, Glasgow und Washington. Er habilitierte an der Johannes Gutenberg-Universität und wurde dort im Januar 2020 zum Akademischen Rat ernannt. Wichtige Publikationen: Der Aufstieg der Manager. Wertewandel in den Führungsetagen der westdeutschen Wirtschaft 1949-1989. Berlin/Boston 2020; Wertewandel in Wirtschaft und Arbeitswelt? Hrsg. mit Jörg Neuheiser. München 2016; Gab es den Wertewandel? Hrsg. mit Christopher Neumaier und Andreas Rödder. München 2014. [email protected] Univ.-Prof. Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Er forscht zur Geschichte der Familie, der Arbeitsorganisation und des Konsumierens, des Körpers und der Sexualität sowie zu Fragen der Digital Humanities und der Diskursanalyse. Er ist Mitherausgeber der ÖZG, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften sowie der Reihe Sozial- und wirtschaftshistorische Studien. Zuletzt erschienen: Produzieren/konsumieren – prosumieren/konduzieren (= Themenschwerpunktheft der ÖZG). Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 30 (2019/1). Hrsg. gem. mit Mario Keller, Oliver Kühschelm und Brigitta Schmidt-Lauber; Eros, Wollust, Sünde. Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit. Frankfurt a. M/New York 2018. [email protected] Dr. Gabriele Fröschl ist Historikerin und Leiterin der Österreichischen Mediathek. Sie studierte Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Soziologie an der Universität Wien und promovierte mit einer Dissertation zu „Ein reinliches, aufgeputztes Städtchen“: Bürgertum und Stadtpolitik in Wels 1887–1914. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie in der Österreichischen Mediathek, deren Leitung sie 2011 überhttps://doi.org/10.1515/9783110661965-012
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nahm. Zuletzt erschienen: „Mein Leben – ins Archiv projiziert“: Drei audiovisuelle Interviewprojekte und Quellensammlungen in der Österreichischen Mediathek. In: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Jg. 30 (1-2/2017); Authentisch im Netz: Perspektiven auf Verantwortungen und Herausforderungen zukünftiger Archivarbeit, Hrsg. von Christina Waraschitz,, Gabriele Fröschl u. Thomas Ballhausen. Wien 2016. [email protected] Mag. Mario Keller hat Geschichte an der Universität Wien studiert. Zwischen 2015 und 2018 war er Projektassistent im FWF-Projekt „Die Emotionalisierung nationaler Marken im österreichischen Werbefilm 1950-2000“. Er ist derzeit Prae Doc am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien sowie Assistent der Geschäftsführung der Zeitschrift Historische Anthropologie. Publikationen: Experienced Mood and Commodified Mode. Forms of Nostalgia in the Television Commercials of Manner. In: Medien & Zeit 4 (2016); Die Emotionalisierung regionaler/nationaler Marken im TV-Werbespot. Eine exemplarische Analyse der Anker-„Länderbackstuben“ (1996). In: Produzieren/konsumieren – prosumieren/konduzieren (Themenschwerpunktheft der ÖZG). Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 30 (2019/1). Hrsg. gem. mit Franz X. Eder, Oliver Kühschelm und Brigitta Schmidt-Lauber. [email protected] Dr. Karin Moser ist Zeit- und Medienhistorikerin, Lehrbeauftragte an der Universität Wien und der Universität Innsbruck. 2018 Gastprofessur für Medien- und politische Geschichte an der Universität Hradec Králové. 2020 Gastprofessur für Sozialgeschichte an der Universität Wien. Kuratorin von Filmreihen und Ausstellungen. Arbeitet im Bereich Dokumentarfilm, u.a. als (Drehbuch)-Autorin. Zahlreiche Publikationen, Forschungsarbeiten und DVD-Editionen zu den Themenbereichen: Film-, Rundfunk- und Mediengeschichte, politische Geschichte, Werbe- und Industriefilm, Propagandafilm, nationale Identitätskonstruktionen, Ost-West-Stereotypen, Kalter Krieg, Filmzensur, Filmpolitik, Konsumgeschichte. Zuletzt erschienen: Der österreichische Werbefilm. Die Genese eines Genres von seinen Anfängen bis 1938. Berlin/Boston 2019 (https://bit.ly/2UUykk0). „Mit Rücksicht auf die Notwendigkeiten des Staates…“ – Autoritäre Propaganda und mediale Repression im austrofaschistischen „Ständestaat“. In: Österreichische Mediengeschichte. Band 2: Von Massenmedien zu sozialen Medien (1918 bis heute). Hrsg. von Matthias Karmasin und Christian Oggolder. Wiesbaden 2019. (https://bit.ly/2Rnukq1) [email protected] Dr. Solveig Ottmann ist Akademische Rätin (LfbA) am Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Regensburg. Dort lehrt und forscht sie in den Bereichen Mediengeschichte und Medientheorie mit besonderen Schwerpunkten auf akusti-
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sche Medien und Theorien sowie Entwicklungen (in) der digitalen Kultur. Sie promovierte 2011 an der Ruhr-Universität Bochum mit der Dissertation Im Anfang war das Experiment. Das Weimarer Radio bei Hans Flesch und Ernst Schoen. Berlin 2013. Aktuelle Publikationen: Schlaf(modus). Pause/ Verarbeitung / Smartphone / Mensch. Hrsg. mit Ulrike Allouche u. Silke Roesler-Keilholz; AugenBlick 77. (= Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, 2020); Noisy Internet! Web Journalism as an Epitome of the Internet's Acousticness (mit Bernhard J. Dotzler). In: Explorations in Digital Cultures. Hrsg. von Markus Burkhardt u.a. (2020). DOI: 10.14619/1716 (Online first version). [email protected] Dr. Sandra Reimann studierte Germanistik, Politik, Soziologie und Journalistik in Regensburg und Eichstätt. Seit 2019 ist sie Professorin der Germanistik an der Universität Oulu. Sie ist weiterhin Privatdozentin an der Universität Regensburg, wo sie seit 2001 am Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft tätig ist. Zwischendurch vertrat sie Professuren in Paderborn, Bonn und Regensburg und war als Gastprofessorin an der Karl-Franzens-Universität Graz. Seit 1992 ist sie Hörfunkjournalistin. Sandra Reimann ist Sprecherin des Regensburger Verbunds für Werbeforschung (RVW) und hat die wissenschaftliche Betreuung des Regensburger Archivs für Werbeforschung (RAW) inne. Thematisch passende Publikationen: MEHRmedialität in der werblichen Kommunikation. Synchrone und diachrone Untersuchungen von Werbestrategien. Tübingen 2008; Reimann, Sandra (Hrsg.): Werbung hören. Beiträge zur interdisziplinären Erforschung der Werbung im Hörfunk. Münster 2008; Die Schallplatte – sprach- und medienwissenschaftliche Untersuchungen zu einem unerforschten Werbemedium. In: Werbung für alle Sinne – Multimodale Kommunikationsstrategien. Hrsg. von Sabine Wahl, Elke Ronneberger-Sibold u. Karin Luttermann. Wiesbaden 2008. S. 91–125. [email protected]; [email protected]; sandra. [email protected] Dr. Dirk Schindelbeck studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Freiburg; Kulturwissenschaftler, Wissenschaftspublizist und Lyriker; 1992 bis 1997 „DFG-Projekt Propagandageschichte der beiden deutschen Staaten im Vergleich zwischen 1948/49 bis 1971“, zuletzt im BMBF-Projektverbund Hamburg – Jena – Wien „PolitCiGs. Die Kulturen der Zigaretten und die Kulturen des Politischen“ (2013-2016); diverse Veröffentlichungen zur Kultur- und Kommunikationsgeschichte, u.a. Marken, Moden und Kampagnen. Illustrierte deutsche Konsumgeschichte. Darmstadt 2003; Der aus Reklame Werbung machte, Johannes Weidenmüller. Werbewissenschaftler und Agenturgründer. Berlin 2016; Tropfenfänger und kreisende Kolben. Deutsche Marken-Sonette 2.0.15. Freiburg 2015. www.Dirk-Schindelbeck.de
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Dr. Anne Schmidt ist Historikerin und Ausstellungskuratorin. 2004 promovierte sie an der Universität Bielefeld. Von 2002 bis 2008 arbeitete sie als Kuratorin in Deutschland und der Schweiz. Anschließend war sie zehn Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig. Sie forscht zu kultur-, wirtschafts- und technikgeschichtlichen Themen, zur Geschichte der Gefühle, der Medien- und Kommunikationsgeschichte sowie zu Fragen der Public History. MMag. Stephanie Scholz studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und in den USA. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit unterschiedlichen Aspekten der Finanzierung von Fernsehen sowie dem Lizenz- und Formathandel von Programminhalten. Als Journalistin hat sie in diversen lokalen Medien publiziert. Derzeit ist sie in der Öffentlichkeitsarbeit der Veterinärmedizinischen Universität Wien im Bereich Corporate Publishing tätig. Publikationen: Cashing In. The „Casino Indian“ on Television. In: Transgressive Television: Politics and Crime in 21st-Century American TV Series. Hrsg. von Birgit Däwes, Alexandra Ganser und Nicole Poppenhagen. Heidelberg 2015. Sebastian Thalheim, MA hat Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Von 2013 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Universität Münster. Als Gastdozent lehrte er an den Universitäten Granada, Sevilla, Warschau und Bologna. Daneben war er viele Jahre als Mediengestalter beim Jüdischen Museum Berlin tätig. Seine Promotionsforschung über Familienfilm in der DDR. Schmalfilmtechnologie als mediale Alltagspraxis, populäres Konsumgut und Erinnerungsmedium schloss er 2020 erfolgreich mit „magna cum laude“ ab. Publikationen: Bilder für den Speicher. Alltagspraxen analoger „home movies“ (mit Michael Geuenich). In: Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Hrsg. von Ute Holfelder und Klaus Schönberger. Köln 2017. [email protected] Prof. Dr. Guido Zurstiege hat den Lehrstuhl für Medienwissenschaft und empirische Medienforschung an der Universität Tübingen inne. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Werbung, Unternehmenskommunikation, Strategische Kommunikation, Gesundheitskommunikation, Rezeptions- und Wirkungsforschung. Wichtige Publikationen: Zwischen Kritik und Faszination. Was wir beobachten, wenn wir die Werbung beobachten, wie sie die Gesellschaft beobachtet. Köln 2005; Medien und Werbung. Wiesbaden 2015. [email protected]