Werbung mit Behinderung: Eine umstrittene Kommunikationsstrategie zwischen Provokation und Desensibilisierung [1. Aufl.] 9783839425374

People with disabilities largely do not appear in commercial advertisements. This can be perceived from the perspective

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German Pages 356 Year 2014

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Table of contents :
Vorwort von Michael Jäckel
Vorwort des Verfassers
Inhalt
Verzeichnis der Abbildungen
Verzeichnis der Tabellenh
1 Einführung
1.1 Grundriss der Thematik und Gang der Arbeit
1.2 Hinweise zur Terminologie
2 Menschen mit Behinderungen als Werbeträger: aktueller Forschungsstand
2.1 Der angloamerikanische Literaturstand
2.2 Stand und Forschungsbedarf in Deutschland
3 Eingrenzung und Einordnung der relevanten Begriffe
3.1 Eine Annäherung an den Behinderungsbegriff
3.1.1 Grundlegende Problemstellungen und ausgewählte Modelle
3.1.2 Der Definitionsvorschlag nach Cloerkes und seine Bedeutung für die Einordnung der vorliegenden Thematik
3.1.3 Die ( schwierige) Vereinbarkeit perspektivenübergreifender Überlegungen und themenspezifischer Fokussierungen
3.2 Eingrenzung relevanter Werbeformen
3.2.1 Begriffsbestimmungen und Eingrenzungskriterium „Wirtschaftswerbung“
3.2.2 Behinderung und Wirtschaftswerbung – eine Typologie unter Mitberücksichtigung älterer Fallbeispiele
4 Forschungstheoretische Einordnung und Leitgedanken
4.1 Massenmedien, Realität, Wirkungsmodelle: einführende Anmerkungen zum Ausgangsproblem
4.2 Die soziale Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen nach Günther Cloerkes
4.3 Behinderung, Einstellungsänderung, Massenmedien
4.4 Blicke, Bilder, Stereotype
4.5 Generator, Indikator, Katalysator? Das Zusammenspiel von Behinderung und Werbung als Desensibilisierungsdilemma
4.6 Leitgedanken, Forschungsprogramm und Begründung der methodischen Vorgehensweise
5 Kernbefunde der ersten Expertenbefragungswelle
5.1 Die Konzeption und Auswertung der Experteninterviews: methodische Vorbemerkungen
5.2 Relevanz und Anlässe für eine Neubetrachtung
5.2.1 Die „ersten Gedanken“ und Leitmotive der Experten
5.2.2 Die angloamerikanische Diskussion und ihre Übertragbarkeit auf Deutschland
5.3 Behinderung und Werbung im Spiegel widersprüchlicher Erwartungen
5.3.1 Zwischen moralischer Legitimität und normativer Forderung
5.3.2 Darstellungsmuster von Menschen mit Behinderungen zwischen Wünschbarkeit und Umsetzbarkeit
5.4 Die schwierige Suche nach aktuellen Fallbeispielen
6 Ein nahezu unsichtbares Phänomen wird sichtbar: Fiktive Fallbeispiele für die Online-Befragung
6.1 Vorbemerkungen
6.2 Vorstellung der eingesetzten Stimuli
6.2.1 Ausgeträumt
6.2.2 Auto
6.2.3 Blind Date
6.2.4 Einrichtung
6.2.5 Energy Drink
6.2.6 Flatrate
6.2.7 Mode
6.2.8 Parfum
6.3 Zusammenfassende Kerngedanken zu den Anzeigen
7 Die Bewertung der fiktiven Werbeanzeigen im Rahmen der Online-Befragung
7.1 Stichprobe und Auswahlverfahren
7.2 Werbeanzeigen und Rezipientenurteile – mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede?
7.3 Weiterführende Diskussion zentraler Befunde unter Mitberücksichtigung von Experteneinschätzungen
8 Vertiefende Erhebung der Rezipientenurteile zu den Anzeigen und Annäherung an die Reaktanzproblematik
8.1 Die Erhebungsinstrumente der Schweigespiraltheorie als argumentativer Ausgangspunkt
8.2 Wohlwollend oder kritisch? Einblicke in das Meinungsklima zu den themenrelevanten Fallbeispielen
8.3 Mehrheitsmeinung oder Betroffenensicht: Welcher Referenzpunkt dominiert?
8.4 Interpretation der hier erhobenen Befunde
9 Abschlussdiskussion
9.1 Behinderung und Wirtschaftswerbung: Vorstellbar, aber doch nicht denkbar?
9.2 Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Anhang
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Werbung mit Behinderung: Eine umstrittene Kommunikationsstrategie zwischen Provokation und Desensibilisierung [1. Aufl.]
 9783839425374

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Martin Eckert Werbung mit Behinderung

Edition Medienwissenschaft

Martin Eckert (Dr. phil.), Soziologe und langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Konsum- und Kommunikationsforschung, hat an der Universität Trier promoviert. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen Mediensoziologie, Soziologie der Behinderung, Soziologie der Werbung und Konsumsoziologie.

Martin Eckert

Werbung mit Behinderung Eine umstrittene Kommunikationsstrategie zwischen Provokation und Desensibilisierung

Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich zugleich um eine Dissertation im Fach Soziologie (FB IV) an der Universität Trier (2012) unter dem Titel: »Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung: vom Teufelskreis der Ausblendung zur Desensibilisierung einer umstrittenen Kommunikationsstrategie?« Die Drucklegung dieser Dissertationsschrift wurde gefördert von der Union Stiftung, Saarbrücken. Das dazugehörige Forschungsprojekt wurde gefördert von der Nikolaus Koch Stiftung, Trier, sowie der Schweizer Paraplegiker-Forschung, Nottwil.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Berit Schütte, Trier, 2010 Lektorat & Satz: Martin Eckert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2537-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2537-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Vorwort von Michael Jäckel

Im Nachgang zu den Paralympics des Jahres 2012 hat Hans Ulrich Gumbrecht beschrieben, welche Veränderungen sich in dem Blick auf dieses Ereignis beobachten lassen. Insbesondere ging es ihm um die Wahrnehmung der Athleten und die Art und Weise, wie sich der Blick auf Sport und Körper in diesem Bereich gewandelt hat. Die Überschrift lautete: „Von Mitleids-Humanitarismus und Inklusions-Ethik zur Ästhetik der Prothesen.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. September 2012, S. N 3) Aus meiner Sicht wird ein bis in unsere Alltagswahrnehmung ständig wieder kehrendes Phänomen skizziert. Das Überraschende, das Neue, das Ungewöhnliche – es wird manchmal erst erkannt, wenn auch andere es thematisieren. Gumbrecht schreibt: „Wer die Berichterstattung der Medien zu den vor wenigen Tagen beendeten paralympischen Spielen von London verfolgt hat oder auch ganz zufällig eine Gruppe von Zuschauern am Fernsehschirm den einen oder anderen Wettbewerb begleiten sah, der konnte – davon war bald immer wieder die Rede – eine qualitative Veränderung und eine quantitative Intensivierung des Interesses feststellen. Möglicherweise ist jetzt an die Stelle des so gut gemeinten (aber auch unvermeidlich herablassenden und tautologischen) guten Willens eine ästhetische Faszination getreten, für die uns deshalb noch die Worte fehlen, weil wir nicht recht wissen, ob sie uns peinlich sein soll als eine Art von öffentlichem Voyeurismus.“ (ebenda) In der Tat: Dass Menschen mit Behinderung in Medien keine bedeutende Rolle spielen, scheint durch tägliche Erfahrung belegt. Für die meisten unbemerkt aber ist indessen aus der früheren „Aktion Sorgenkind“ eine „Aktion Mensch“ geworden. Wer sich den Adidas-Werbespot anlässlich der Fußball-Europameisterschaft 2012 noch einmal genauer ansieht, wird dort – wenn auch nur kurz – einen Menschen mit Behinderung sehen. Ebenso ist im Werbespot einer Kran-

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kenkasse, die für mehr Bewegung im Sinne von Gesundheitsförderung plädiert, kurz ein Mensch im Rollstuhl zu sehen. Bourdieu würde diese kleinen Hinweise vielleicht als „Verstecken durch Zeigen“ interpretieren. In der Tat ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit selbst den befragten Expertinnen und Experten eine Benennung von Werbeanzeigen, in denen Behinderte eine erkennbare Rolle spielen, schwergefallen. Es gibt sie. Aber man muss sie suchen. Diese Aufmerksamkeit kann man aber von einem durchschnittlichen Zuschauer, Hörer oder Leser kaum erwarten. So stellte sich von Beginn an die Frage, ob dem Thema überhaupt eine hinreichende Relevanz zukommt und wie es gegebenenfalls gelingen kann, einen Blick „hinter die Kulissen“ zu werfen. Dies ist sicher einer der Gründe für das Fragezeichen im Titel. Martin Eckert hat mit seiner Dissertation ein Forschungsfeld betreten, das in der Tat als Neuland bezeichnet werden kann. Nicht so sehr im Hinblick auf die Vielzahl mittlerweile vorliegender Disability-Studien, auch nicht im Hinblick auf die Frage der Inklusionsthematik. Dieser Integrationsfokus besteht seit vielen Jahrzehnten. Ihn im Feld eher kommerzieller Aktivitäten zu verorten, ist aber, zumindest für den deutschsprachigen Raum, so ungewöhnlich, dass sich diese Arbeit bald schon mit einem quantitativen Problem konfrontiert sah: dem der fehlenden Sichtbarkeit. Ein bislang kaum wahrnehmbares Phänomen durch die Konstruktion fiktiver Fallbeispiele sichtbar zu machen, ist daher ein wesentliches Verdienst dieser Arbeit. Zugleich belegt diese unkonventionelle Vorgehensweise, dass Martin Eckert sehr wohl in der Lage war, für die gerade in solchen Themen immer wieder auftretenden Unwägbarkeiten geeignete Lösungsstrategien, mitunter auch sehr kurzfristig, zu realisieren. Der Gesamtaufbau der Arbeit spiegelt daher auch einen Lernprozess wider. Folgerichtig verdeutlicht der Verfasser zugleich die Grenzen, an die eine Auseinandersetzung mit „ungewöhnlichen“ und daher empirisch kaum sichtbaren Themen unweigerlich stößt. Aber die Leitgedanken, die in der Arbeit diskutiert werden, dürften auch für die zukünftige Auseinandersetzung mit dieser Thematik ein fruchtbarer Ausgangspunkt sein.

Trier, den 17. Juni 2013 Michael Jäckel

Vorwort des Verfassers

„Behinderung in der Werbung? Wer (oder wen) behindert denn die Werbung?“ Diese Frage wurde mir bisweilen in der Konzeptionsphase der vorliegenden Untersuchung gestellt, wenn ich den damaligen Arbeitstitel meiner Dissertation und des dazugehörigen Forschungsprojektes nannte. Nachdem ich dieses Missverständnis aufgeklärt und betont hatte, es gehe um Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung, folgte häufig eine zweite, nicht minder verdutzte, Gegenfrage: „Gibt es das überhaupt?“ Bereits solche kurzen Dialoge spiegeln jene Bedenken wider, denen sich im Falle einer ersten Berührung mit dem Gegenstand dieser Arbeit wohl niemand so ganz entziehen kann. Dem Eindruck, dass Behinderung hierzulande nur sehr selten in der Wirtschaftswerbung dargestellt oder thematisiert wird, lässt sich aktuell nur schwer widersprechen. Und nach mehr oder minder plausibel klingenden Erklärungen für diesen Umstand muss man offenbar nicht lange suchen. Aus eigener Erfahrung kann ich jedoch bestätigen: Angesichts des ungeheuren Facettenreichtums der Thematik weicht diese anfängliche Skepsis schon während der ersten – noch eher flüchtigen – Recherchen einer ausgeprägten soziologischen Neugier. Und je weiter man in die Materie vordringt, desto mehr erschließt sich das immense Potenzial dieser Fragestellung. Zu dieser Entdeckungsreise möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, ganz herzlich einladen. Zuvor ist es mir allerdings noch ein Bedürfnis, mich bei verschiedenen Personen und Institutionen für ihre Unterstützung zu bedanken. Ich danke meinem Erstbetreuer Herrn Prof. Michael Jäckel dafür, dass er mir einerseits einen hohen Gestaltungsspielraum bei der Eingrenzung und Ausarbeitung des Forschungsgegenstandes einräumte und mir zugleich stets engagiert und gesprächsbereit mit hilfreichen Anregungen und konstruktiver Kritik zur Verfügung stand.

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Ich danke Herrn Prof. Michael Schönhuth für seine Bereitschaft, die Zweitprüferschaft zu übernehmen, sowie Herrn Prof. Martin Endress, dem Vorsitzenden der Prüfungskommission. Ich danke der Nikolaus Koch Stiftung in Trier und der Schweizer Paraplegiker-Forschung in Nottwil für die Förderung des zu Grunde liegenden Forschungsprojektes sowie der Union Stiftung in Saarbrücken – und hier besonders Herrn Dr. Markus Gestier – für die freundliche Unterstützung bei der Drucklegung meiner Dissertation. Ich danke Alexandra Mergener und Daniel Röder für ihre engagierte Unterstützung als studentische Hilfskräfte in Teilbereichen des Forschungsprojektes. Ich danke Berit Schütte für die hervorragende gestalterische Umsetzung der fiktiven Werbeanzeigen (siehe hierzu insbes. Kapitel 6 dieser Arbeit). Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen, die meine Arbeit mit interessierten Rückfragen und hilfreichen Denkanstößen begleitet haben – und in diesem Zusammenhang insbesondere Gerrit Fröhlich und Philipp Sischka, die mir darüber hinaus auch wertvolle Anregungen für die Feinjustierung des Layouts lieferten. Ein ganz herzlicher Dank gilt schließlich meinen Eltern sowie Simone Rosenstiel, denen ich diese Arbeit in besonderem Maße widmen möchte.

Trier, den 30. September 2013 Martin Eckert

Inhalt

Vorwort von Michael Jäckel | 5 Vorwort des Verfassers | 7 Verzeichnis der Abbildungen | 13 Verzeichnis der Tabellen | 13 1 Einführung | 17 1.1 Grundriss der Thematik und Gang der Arbeit | 17 1.2 Hinweise zur Terminologie | 24 2

Menschen mit Behinderungen als Werbeträger: aktueller Forschungsstand | 31 2.1 Der angloamerikanische Literaturstand | 31 2.2 Stand und Forschungsbedarf in Deutschland | 34 3 Eingrenzung und Einordnung der relevanten Begriffe | 43 3.1 Eine Annäherung an den Behinderungsbegriff | 43 3.1.1 Grundlegende Problemstellungen und ausgewählte Modelle | 43 3.1.2 Der Definitionsvorschlag nach Cloerkes und seine Bedeutung für die Einordnung der vorliegenden Thematik | 51 3.1.3 Die (schwierige) Vereinbarkeit perspektivenübergreifender Überlegungen und themenspezifischer Fokussierungen | 60

3.2 Eingrenzung relevanter Werbeformen | 66 3.2.1 Begriffsbestimmungen und Eingrenzungskriterium „Wirtschaftswerbung“ | 66 3.2.2 Behinderung und Wirtschaftswerbung – eine Typologie unter Mitberücksichtigung älterer Fallbeispiele | 70 4 Forschungstheoretische Einordnung und Leitgedanken | 85 4.1 Massenmedien, Realität, Wirkungsmodelle: einführende Anmerkungen zum Ausgangsproblem | 85 4.2 Die soziale Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen nach Günther Cloerkes | 92 4.3 Behinderung, Einstellungsänderung, Massenmedien | 97 4.4 Blicke, Bilder, Stereotype | 108 4.5 Generator, Indikator, Katalysator? Das Zusammenspiel von Behinderung und Werbung als Desensibilisierungsdilemma | 118 4.6 Leitgedanken, Forschungsprogramm und Begründung der methodischen Vorgehensweise | 128 5 Kernbefunde der ersten Expertenbefragungswelle | 137 5.1 Die Konzeption und Auswertung der Experteninterviews: methodische Vorbemerkungen | 137 5.2 Relevanz und Anlässe für eine Neubetrachtung | 146 5.2.1 Die „ersten Gedanken“ und Leitmotive der Experten | 146 5.2.2 Die angloamerikanische Diskussion und ihre Übertragbarkeit auf Deutschland | 152 5.3 Behinderung und Werbung im Spiegel widersprüchlicher Erwartungen | 158 5.3.1 Zwischen moralischer Legitimität und normativer Forderung | 158 5.3.2 Darstellungsmuster von Menschen mit Behinderungen zwischen Wünschbarkeit und Umsetzbarkeit | 164 5.4 Die schwierige Suche nach aktuellen Fallbeispielen | 167 6

Ein nahezu unsichtbares Phänomen wird sichtbar: Fiktive Fallbeispiele für die Online-Befragung | 171 6.1 Vorbemerkungen | 171 6.2 Vorstellung der eingesetzten Stimuli | 177 6.2.1 Ausgeträumt | 177 6.2.2 Auto | 182 6.2.3 Blind Date | 187

6.2.4 Einrichtung | 197 6.2.5 Energy Drink | 202 6.2.6 Flatrate | 208 6.2.7 Mode | 213 6.2.8 Parfum | 219 6.3 Zusammenfassende Kerngedanken zu den Anzeigen | 225 7

Die Bewertung der fiktiven Werbeanzeigen im Rahmen der Online-Befragung | 227 7.1 Stichprobe und Auswahlverfahren | 227 7.2 Werbeanzeigen und Rezipientenurteile – mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede? | 231 7.3 Weiterführende Diskussion zentraler Befunde unter Mitberücksichtigung von Experteneinschätzungen | 246 8 8.1 8.2 8.3 8.4

Vertiefende Erhebung der Rezipientenurteile zu den Anzeigen und Annäherung an die Reaktanzproblematik | 255 Die Erhebungsinstrumente der Schweigespiraltheorie als argumentativer Ausgangspunkt | 255 Wohlwollend oder kritisch? Einblicke in das Meinungsklima zu den themenrelevanten Fallbeispielen | 260 Mehrheitsmeinung oder Betroffenensicht: Welcher Referenzpunkt dominiert? | 268 Interpretation der hier erhobenen Befunde | 274

9 Abschlussdiskussion | 277 9.1 Behinderung und Wirtschaftswerbung: Vorstellbar, aber doch nicht denkbar? | 277 9.2 Zusammenfassende Schlussbetrachtung | 281 Literaturverzeichnis | 287 Anhang | 305

V ERZEICHNIS Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:

Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13:

Tabelle 14:

Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20:

ABBILDUNGEN

Das ICF-Rahmenmodell | 49 Behinderung und Werbung: vier Argumentationslinien und ihre gedanklichen Verbindungen | 122 Das Desensibilisierungsdilemma | 124 Das Katalysator-Argument als entscheidendes Bindeglied? | 125

V ERZEICHNIS Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3:

DER

DER

T ABELLEN

Impairment, Disability, Handicap | 47 Behinderung und Wirtschaftswerbung – eine Typologie | 82 Eingrenzung relevanter Werbeformen in Anlehnung an Tabelle 2 | 83 Erklärungsansätze für die soziale Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen nach Cloerkes | 96 Anonymisierte und pseudonymisierte Umschreibung der Experten | 139 Zusammenfassende Beschreibung der fiktiven Fallbeispiele | 173 Lesarten-Modelle am Beispiel behinderungsinklusiver Werbung | 175 Geschlecht | 228 Altersklassen (sechs Kategorien) | 229 Bildung | 229 Gesamtauswertung: Gefallen | 232 Gesamtauswertung: Realismus | 232 Gefallen: Vergleich zwischen Gesamtbetrachtung, Menschen mit Behinderungen (MmB) und Menschen ohne Behinderungen (MoB) | 234 Realismus: Vergleich zwischen Gesamtbetrachtung, Menschen mit Behinderungen (MmB) und Menschen ohne Behinderungen (MoB) | 234 Auswertung Gesamt: Gefallen nach Geschlecht | 235 Auswertung MmB: Gefallen nach Geschlecht | 235 Auswertung MoB: Gefallen nach Geschlecht | 236 Auswertung Gesamt: Realismus nach Geschlecht | 236 Auswertung MmB: Realismus nach Geschlecht | 237 Auswertung MoB: Realismus nach Geschlecht | 237

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Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29: Tabelle 30: Tabelle 31: Tabelle 32: Tabelle 33: Tabelle 34: Tabelle 35: Tabelle 36: Tabelle 37: Tabelle 38: Tabelle 39: Tabelle 40: Tabelle 41:

Tabelle 42:

Tabelle 43:

Gefallen nach Altersklassen (in %) | 239 Realismus nach Altersklassen (in %) | 239 Einfluss des Erfahrungshorizontes (dichotomisiert in MmB/MoB), Alter und Geschlecht auf die Dimension Gefallen | 241 Einfluss des Erfahrungshorizontes (dichotomisiert in MmB/MoB), Alter und Geschlecht auf die Dimension Realismus | 241 Einfluss des Erfahrungshorizontes (dichotomisiert in MmB/MoB) auf die Dimension Gefallen, getrennt nach Geschlecht | 243 Einfluss des Erfahrungshorizontes (dichotomisiert in MmB/MoB) auf die Dimension Realismus, getrennt nach Geschlecht | 244 Ergebnispräsentation Gefallen im Rahmen der zweiten Expertenbefragung | 247 Ergebnispräsentation Realismus im Rahmen der zweiten Expertenbefragung | 247 Die Richtung der eingesetzten Aussagen | 259 Fallzahlen pro Stimulus anlässlich des EBT-Frageblocks | 260 EBT Ausgeträumt | 261 EBT Auto | 261 EBT Blind Date | 262 EBT Einrichtung | 262 EBT Energy Drink | 263 EBT Flatrate | 263 EBT Mode | 264 EBT Parfum | 264 EBT1, EBT2, EBT3: Zustimmung zu Person A (in %; nach MoB und MmB) | 267 EBT1, EBT2, EBT3: Die Mehrheiten im Überblick (nach MoB, MmB, Gesamt) | 267 EBT1 X EBT2: Gesamt sowie getrennt nach Menschen mit Behinderungen (MmB) und Menschen ohne Behinderungen (MoB) | 269 EBT1 X EBT3: Gesamt sowie getrennt nach Menschen mit Behinderungen (MmB) und Menschen ohne Behinderungen (MoB) | 270 EBT2 X EBT3: Gesamt sowie getrennt nach Menschen mit Behinderungen (MmB) und Menschen ohne Behinderungen (MoB) | 273

A BBILDUNGS-

Tabelle 44:

UND

T ABELLENVERZEICHNIS

Die allgemeine Vorstellbarkeit von Behinderung in der Wirtschaftswerbung (vorher) und die konkreten Prognosen zum zukünftigen Grad der Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen als Werbeträger (nachher) im Vergleich | 279

| 15

1 Einführung

1.1 G RUNDRISS

DER

T HEMATIK

UND

G ANG

DER

A RBEIT

„Renault gibt 10 Millionen Euro für kreative Kampagne aus.“ So lautet der Titel einer Meldung von Martin Ladstätter, die u.a. im Internetangebot von Kobinet e.V.1 (vgl. Ladstätter 2003, Stand: 01.11.2003; Abfrage: 24.08.2011) veröffentlicht wurde. Der Spot zeigt einen Autofahrer, der einen schwierigen Parcours mit Hilfe von Zurufen seines Beifahrers meistert. Das Besondere dieser Situation wird spätestens deutlich, als der Fahrer das Fahrzeug abtastet und erst dann verwundert feststellt, dass er einen Kombi (und nicht etwa einen Sportwagen) gelenkt hat. Ergo: Der Autofahrer ist blind. Ladstädter bewertet diesen Werbespot als „witzig“ und vor allem als (positive) Ausnahme: Ansonsten seien Menschen mit Behinderung fast ausschließlich in „Spenden- oder Imagekampagnen“ zu sehen. Der Themenkomplex „Behinderung in der Wirtschaftswerbung“ war zumindest im deutschsprachigen Raum bislang kaum Schwerpunkt einer öffentlichen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Deskriptive Bestandsaufnahmen von Werbekampagnen, die Behinderung thematisieren und/oder Menschen mit Behinderung als Fotomodelle verwenden, sowie quantitative und qualitative Inhaltsanalysen fehlen hierzulande offenbar völlig (vgl. zu dieser Einschätzung auch Reinhardt/Gradinger 2007: 92). Dem ersten Augenschein nach zu urteilen ist der Einschätzung, dass es sich hier offenbar um ein sehr seltenes Phänomen handelt, gleichwohl zuzustimmen. Erste Erklärungsansätze führen in der Regel zu den zahlreichen Bedenken, die mit einer solchen Werbestrategie verbunden sein können. In ihrem klassi-

1

„Kobinet“ steht für „Kooperation Behinderter im Internet“.

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schen Beitrag zu provokanter Werbung stellen Jäckel und Reinhardt hierzu fest: „Im Falle behinderter Menschen ist wohl deren bloße Präsentation für werbliche Zwecke oftmals bereits Anlass genug für die Provokation sozialer Reaktionen.“ (Jäckel/Reinhardt 2002: 537) So empfindet offenbar gerade die so definierte Normalbevölkerung ungewohnte Darstellungen von Menschen mit Behinderung in den Massenmedien – und insbesondere in der Werbung – als Tabu-Bruch, „werden doch normative Erwartungen des Zeigbaren und Gewohnheitsgrenzen überschritten“ (Jäckel 2007: 14). Daneben besteht die Gefahr, durch vereinfachende, stereotype oder aus sonstigen Gründen (ungewollt) stigmatisierende Darstellungen Empörung bei Betroffenen auszulösen (vgl. Reinhardt/Gradinger 2007: 103). Zudem gilt Behinderung als nahezu unvereinbar mit den in der Werbung proklamierten Schönheits- und Gesundheitsidealen. Lothar Sandfort bringt diesen Gegensatz prägnant auf den Punkt: „Beschreiben wir den Idealmenschen unserer Gesellschaft: Er ist jung und dynamisch, sagen wir besser beweglich, stark, zielstrebig, sicher, leistungsfähig. Er sieht gut aus, ist kerngesund, sportlich natürlich, erfolgreich in Beruf und Liebe, potent also im weitesten Sinne, intelligent und ist am besten männlich.“ (Sandfort 1982a: 150)

Die hier aufgeführten Eigenschaften werden, so Sandfort, bereits seitens Heranwachsender als erstrebenswerte Ziele internalisiert. Diesem Idealbild gegenüber stehe jedoch „ein Negativbild, das all die Qualitäten umfaßt, die ich meiden will. Den obengenannten Beispielen angepaßt gehören dazu: Lahmheit, Nichts-Leisten-Können, Impotenz, Krankheit, Unästhetik, Steifheit, Arbeitsunfähigkeit, mehr oder weniger ‚geistig daneben‘ zu sein. Gerade diese Qualitäten werden aber den Behinderten zugeschrieben. Den Nichtbehinderten, die sich die Werte wie Leistung, Unversehrtheit usw. zu eigen gemacht haben [...] erscheinen wir Behinderten als ihr personifiziertes Negativbild, und jeder von ihnen weiß [...], daß er morgen selbst behindert sein kann.“ (ebd.: 151)

Die allgemeine Formulierung „unserer Gesellschaft“ impliziert hierbei nicht zuletzt potenzielle Werbeadressaten und es überrascht daher kaum, wenn sich die hier skizzierte Dichotomie auch in den durch die Werbung proklamierten Menschenbildern wieder findet. So kommt Buschmann erst vor wenigen Jahren zu dem Schluss:

E INFÜHRUNG

| 19

„Der Mensch in der Werbung repräsentiert den heutigen Körperkult, er ist auffallend schön, attraktiv, körperbetont, jung, sportlich, dynamisch, gesund, wohlhabend, intelligent und kreativ [...]. Er hat kreative Ideen, Talent und zeigt Resultate [...], d.h. ist ergebnisund erfolgsorientiert. Er ist abwechslungsreich und gestaltet seine Freizeit aktiv und sportlich mit diversen Trendsportarten.“ (Buschmann 2005: 57f.)

So unverkennbar die Parallelen zu den von Sandfort genannten Eigenschaften des Idealmenschen sind, so plausibel scheint die Schlussfolgerung, dass die mit Behinderung assoziierten Zuschreibungen auch hier dem Gegenpol entsprechen. Die vielfältigen Bedenken und die daraus resultierende Gefahr widerspenstiger Publikumsreaktionen legt die Vermutung nahe, dass sich das weitgehende Fehlen von Menschen mit Behinderung in der kommerziellen Kommunikation u.a. mit der so genannten Ausblendungsregel erklären ließe: „Alles, was die Überzeugungskraft einer Information oder eines Arguments bzw. die (Oberflächen-)Attraktivität eines Produktes oder einer Person beeinträchtigen könnte, wird ausgeblendet. Werbung produziert ausschließlich positive Botschaften, wobei sie unterstellt, daß alle an Werbekommunikation Beteiligten dies wissen und erwarten und bei ihren jeweiligen Aktivitäten berücksichtigen.“ (Schmidt/Spieß 1994b: 234)

Dennoch scheint angesichts verschiedener Indizien eine genauere Analyse der Thematik relevant: So können aus Sicht von Menschen mit Behinderungen nicht nur stigmatisierende Darstellungsformen, sondern gerade „auch die NichtBehandlung von Behinderung in der Werbung [...] Erfahrungen des Andersseins und der ästhetischen Minderwertigkeit [...] subkutan verstärken“ (Reinhardt/Gradinger 2007: 92). Wie der sprichwörtliche rote Faden zieht sich durch diese Thematik zudem die – gerade auch von Menschen mit Behinderungen selbst häufig aufgegriffene – Einschätzung, dass eine erhöhte Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung in der Werbung wiederum zu einer Enttabuisierung der Behinderungsthematik bzw. dem Abbau von Berührungsängsten gegenüber Betroffenen – und somit letztlich zu einer positiveren Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen auch im Alltag – beitragen könne (vgl. u.a. Kapitel 2.1 & 2.2 und zur forschungstheoretischen Einordnung: Kapitel 4.5). Es ist zudem nicht zuletzt der Literatur- und Forschungsstand im angloamerikanischen Raum, der den Blick weniger auf die Bedenken, sondern vielmehr auf mögliche Chancen des Zusammenspiels von Menschen mit Behinderung und Wirtschaftswerbung (sowohl für Werbetreibende als auch für Betroffene) lenkt und somit Anlass zu einer Neubetrachtung auch hierzulande gibt. Zumindest deuten die aufge-

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führten Indizien darauf hin, dass eine vorwiegend risikoorientierte Bewertung der Komplexität dieser Thematik bzw. der Vielzahl möglicher Perspektiven (z.B. Werbetreibende oder Adressaten mit Behinderungen auf der einen, Adressaten ohne Behinderungen auf der anderen Seite) nicht gerecht wird. Die Ziele des vorliegenden Forschungsprojektes bestehen also darin, die im deutschsprachigen Raum bislang allenfalls rudimentär geführte Diskussion um Menschen mit Behinderungen als Werbeträger wieder aufzugreifen, die diversen Betrachtungsperspektiven zu systematisieren und mittels Experteninterviews (zwei Befragungswellen) sowie einer Online-Befragung (die von den beiden Expertenbefragungswellen zeitlich umschlossen wird) empirisch zu analysieren. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in folgende Teile: Nach einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand und einer grundlegenden Klärung des Forschungsbedarfs (Kapitel 2) sollen zunächst die Begriffe „Behinderung“ (Kapitel 3.1) und „Wirtschaftswerbung“ (Kapitel 3.2) definiert und im Hinblick auf die vorliegende Thematik konkretisiert werden. Da sich, wie an gegebener Stelle zu zeigen sein wird, gerade eine angemessene Annäherung an den Behinderungsbegriff als sehr schwieriges Unterfangen erweist, scheint es für das Verständnis dieser Ausführungen durchaus hilfreich, dass dieses Kapitel nicht den Auftakt dieser Arbeit bildet, sondern der grundlegende Einstieg in den Forschungsgegenstand zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogen wurde. Unter Wirtschaftswerbung ist zunächst einmal das zu verstehen, was der Begriff bereits vermuten lässt: Werbung, die von einem Wirtschaftsunternehmen geschaltet wird und folglich mit dem Fernziel der Absatzsteigerung verbunden ist. Die eigentliche Begriffsbestimmung (Kapitel 3.2.1) kann in diesem Fall recht knapp ausfallen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Einbindung von Behinderung in die Wirtschaftswerbung auf sehr vielfältige Weise erfolgen kann und sicherlich nicht jede Einbindungsform als gleichermaßen erwünscht (aus Sicht Betroffener) bzw. gleichermaßen relevant für die vorliegende Arbeit einzustufen ist (vgl. Kapitel 3.2.2). Der Vorwurf, die Ausblendung von Behinderung aus der Werbung trage zur Fortschreibung der negativen Werthaltungen gegenüber der Behinderungsthematik bei und die daraus resultierende Schlussfolgerung, eine verstärkte Sichtbarkeit von behinderten Menschen in der Werbung könne zu einer Normalisierung und einem Abbau von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen beitragen, mögen auf geradezu entwaffnende Weise einleuchtend erscheinen, doch legt bereits ein erster Blick auf das Zusammenspiel zwischen Medienwirkungen und Rezipienteneinstellungen nahe, dass solche monokausalen Annahmen mit Vorsicht zu bewerten sind. Eine ausführliche und differenzierte Diskussion dieser Problematik steht im Mittelpunkt der forschungstheoretischen Einordnung

E INFÜHRUNG

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(Kapitel 4): Nach einigen grundlegenden Anmerkungen aus Sicht der Medienwirkungsforschung (Kapitel 4.1) und einem Überblick über Erkenntnisse zur Beschaffenheit der vorhandenen Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen (Kapitel 4.2) befasst sich Kapitel 4.3 mit den Aussichten auf eine Änderung dieser Einstellungen mit Hilfe der Massenmedien, während in Kapitel 4.4 die – gerade auch im Kontext der Werbung – hochrelevante Problematik stereotyper Repräsentationsformen von Behinderung diskutiert wird. Eine Zusammenführung dieser Gedanken unter Mitberücksichtigung einiger zentraler Überlegungen zum Verhältnis zwischen Werbung und Gesellschaft führt dann zu einer Einordnung des vorliegenden Forschungsgegenstandes als Desensibilisierungsdilemma (Kapitel 4.5). In Kapitel 4.6 werden schließlich erste zusammenfassende Leitgedanken abgeleitet und das methodische Vorgehen in der Feldphase näher erläutert. Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst die Dreiteilung der Feldphase in eine erste Expertenbefragungswelle, eine auf eine möglichst breite Basis abzielende Online-Befragung sowie eine zweite Expertenbefragungswelle, in der wiederum auf die Online-Befragung Bezug genommen werden sollte. Die nachfolgenden Kapitel widmen sich dann vorwiegend der Auswertung und Interpretation der Ergebnisse aus der Feldphase und nicht zuletzt den weiterführenden Überlegungen, die sich für den jeweils nachfolgenden Schritt ergeben. Im Mittelpunkt von Kapitel 5 steht zunächst die erste Expertenbefragungswelle. Nach einigen methodischen Vorbemerkungen (Kapitel 5.1) geht es in Kapitel 5.2 um die Frage, inwieweit aus Sicht der konsultierten Experten die Relevanz für eine Wiederbelebung der Thematik gegeben ist (Kapitel 5.2.1) und inwieweit die im angloamerikanischen Raum zu beobachtenden Tendenzen einer höheren Sichtbarkeit von Behinderung in der Werbung (siehe auch Kapitel 2.1) auf den deutschsprachigen Raum übertragbar sind (Kapitel 5.2.2). In Kapitel 5.3 werden die Frage nach der moralischen Legitimität einer solchen Werbestrategie (Kapitel 5.3.1) und das Problem der z.T. widersprüchlichen Erwartungen (Betroffenensicht, Werbesicht, Standpunkt der so genannten Normalbevölkerung) an massenmediale Repräsentationsformen von Behinderung (Kapitel 5.3.2) wieder aufgegriffen. Im Mittelpunkt von Kapitel 5.4 steht schließlich die Frage, welche neueren themenrelevanten Fallbeispiele denn existieren und wie diese Anzeigen (wiederum aus Expertensicht) ggf. zu bewerten sind. Diesen Befunden kommt insofern eine mit entscheidende Bedeutung zu, da eine auf breiter Basis angelegte Neubetrachtung (also die Online-Befragung) letztlich nur dann Sinn hat, wenn die Teilnehmer auch mit konkreten Werbebeispielen konfrontiert werden und diese bewerten sollen. Um es vorweg zu nehmen: Angesichts der nur marginalen Sichtbarkeit des Phänomens konnte diese soeben beschriebene Zielsetzung nur

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erfüllt werden, indem auf Basis der theoretischen Vorüberlegungen (ergänzt um Befunde aus der ersten Expertenbefragungen) eigene fiktive Fallbeispiele konzipiert wurden. Diese Stimuli werden ausführlich in Kapitel 6 diskutiert unter Bezugnahme auf wissenschaftstheoretische Überlegungen und aktuelle Trends (die z.T. aus Pressemeldungen o.ä. ersichtlich werden), ergänzt um (die allerdings erst in der zweiten Welle erhobenen/siehe zur Begründung Kapitel 6.1 und 6.3) Experteneinschätzungen zu diesen Anzeigen. Die zentralen Befunde der OnlineBefragung werden in Kapitel 7 präsentiert. Im Mittelpunkt steht nach einigen grundlegenden Anmerkungen (Kapitel 7.1) zunächst die Frage, inwieweit die (in der Umfrage als tatsächlich geplante Anzeigen vorgestellten) Stimuli den Geschmack der Befragungsteilnehmer getroffen haben und inwieweit eine Schaltung der jeweiligen Anzeige als realistisch eingestuft werde (Kapitel 7.2). In die anschließenden Interpretation der Ergebnisse (Kapitel 7.3) fließen u.a. auch Einschätzungen aus der zweiten Expertenbefragungswelle zu einem der zentralen Befunde der Online-Befragung ein. Kapitel 1 befasst sich schließlich mit einem weiteren Befragungsteil der Online-Studie, der – in Anlehnung an den Eisenbahntest nach Noelle-Neumann (u.a. 1996) – mittels einer Gegenüberstellung zweier (ebenfalls fiktiver) Einschätzungen zum einen die Möglichkeit einer über die bloßen Dimensionen Gefallen und Realismus hinausgehenden Stellungnahme zu den fiktiven Fallbeispielen bietet und zum anderen als Versuch einer Annäherung an die gerade bei sensiblen Forschungsfeldern sehr ausgeprägte Reaktanzproblematik aufgefasst werden kann. Im Rahmen der Abschlussdiskussion (Kapitel 9) wird u.a. noch einmal kurz auf das in Kapitel 4.5 thematisierte Desensibilisierungsdilemma Bezug genommen. Abschließend bliebe noch zu ergänzen, dass einige ausgewählte Basiserkenntnisse bereits thematisiert wurden im Rahmen der insgesamt vier Beiträge, die während der Laufzeit des dazugehörigen Forschungsprojektes entstanden (vgl. Jäckel/Eckert 2009 & 2010 & 2011 & 2012). Insbesondere sind hierbei die folgenden Themenkomplexe hervorzuheben: •

Die in diesem ersten Kapitel aufgeführten und als Einstieg in die Thematik nahezu unabdingbaren Überlegungen finden sich in mehr oder minder vergleichbarer Form in allen vier Beiträgen wieder (auch wenn selbstverständlich nicht jeder Aspekt in jedem Beitrag gleichermaßen ausführlich thematisiert wurde); es handelt sich um die ersten Grundüberlegungen, die den Ausgangspunkt für das Forschungsvorhaben bildeten und sich folglich seit dem ersten Beitrag nicht mehr verändert haben.

E INFÜHRUNG









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Die Tendenzen in den USA (Kapitel 2.1) sowie die Annäherung an den deutschsprachigen Forschungsstand mittels einer „Drei Phasen-Metapher“ (Kapitel 2.2) standen im Mittelpunkt des ersten Beitrages (Jäckel/Eckert 2009)2, auch die ICF wurde in diesem Zusammenhang bereits kurz erläutert. Die in Kapitel 3.2.2 diskutierte „Typologie möglicher Einbindungsformen von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung“ tauchte in Grundzügen erstmals im zweiten Beitrag (Jäckel/Eckert 2010) auf, wurde seitdem fortwährend konkretisiert, ergänzt, in Teilbereichen auch leicht modifiziert (vgl. Jäckel/Eckert 2011 & 2012) und liegt nun in einer deutlich ausführlicheren Fassung vor. Die im Rahmen der Expertenbefragungen (und eigenen Recherchen) erhobenen Fallbeispiele wurden insbesondere im zweiten und dritten Beitrag (Jäckel/Eckert 2010 & 2011) thematisiert. Im vierten Beitrag (Jäckel/Eckert 2012) wurden erste Grundergebnisse und Schlussfolgerungen der Online-Befragung aufgeführt; ferner wurde ein im Rahmen der hier vorgelegten Abschlussdiskussion (Kapitel 9.1) vertiefter Befund bereits in Grundzügen thematisiert. Es bedarf jedoch sicher keiner Erläuterung, dass Umfang und Aussagekraft der in dieser Arbeit vorgestellten Ergebnisse der empirischen Analyse deutlich über diese ersten Einblicke aus dem genannten Beitrag hinaus gehen.

Im folgenden Kapitel sei nun zunächst – nicht zuletzt in eigener Sache – ein Hinweis zu der in der vorliegenden Arbeit angewandten Terminologie der Phänomene „Behinderung“/„Menschen mit Behinderung“ etc. gestattet, zumal die damit verbundenen Überlegungen bereits einen ersten Einblick liefern in eine Reihe von Problemstellungen, die sich in analoger Form auch auf einige der im Rahmen der theoretischen Verortung des Forschungsgegenstandes diskutierte Problemstellungen übertragen lassen.

2

Da auch jener Beitrag innerhalb der theoretischen Konzeptionsphase des Vorhabens entstand, konnte folgerichtig auch die damalige Kurzzusammenfassung zum angloamerikanischen Forschungsstand weitgehend unverändert übernommen werden. Die Überlegungen zu den „drei Phasen“, für die prinzipiell das Gleiche gelten würde, sind in Teilbereichen allerdings etwas ausführlicher gehalten, als es im Rahmen des besagten Beitrags möglich (und erforderlich) war.

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1.2 H INWEISE

ZUR

T ERMINOLOGIE 

Die Gefahr, Menschen mit Behinderung – nicht zuletzt im Kontext massenmedialer Darstellungsformen – durch ungeeignete Formulierungen zu stigmatisieren und somit – wenn auch in vielen Fällen sicher ungewollt – zu diskriminieren, ist bei jeder Auseinandersetzung mit dem Phänomen Behinderung allgegenwärtig. „Bekanntlich beeinflusst die Sprache das Denken, und dieses wiederum hat Auswirkungen auf unsere Konzeption der Wirklichkeit [...] Es kann nicht egal sein, welche Termini und Satzkonstruktionen gerade in den Medien verwendet werden. Hieraus resultieren nämlich Assoziationen, die sich im ungünstigsten Fall fatal für das Verständnis von Menschen mit Behinderungen auswirken können.“ (Radtke 2003: 8)

Radtke erläutert dies u.a. anhand der laut seiner Einschätzung in den Medien immer noch weit verbreiteten Formulierung „an den Rollstuhl gefesselt“ (vgl. hierzu auch Kapitel 6.2.1) und der Unterscheidung zwischen den Formulierungen „der Behinderte“ und „der Mensch mit Behinderung“ (ebd.: 9). Wenig überraschend scheint zunächst die Erkenntnis, dass die letztgenannte Formulierung vorzuziehen sei, da auf diese Weise deutlich werde, „dass zuerst die Menschen als Personen mit ihrem Leben gemeint sind und erst dann die Behinderung“ (Sporschill/Urban 2007: 109). Doch zeigen weitere Recherchen, dass diese Einschätzung weit umstrittener ist, als auf den ersten Blick eigentlich zu vermuten wäre: So bewerten z.B. manche Vertreter des so genannten sozialen Modells (vgl. auch Kapitel 3.1.1) in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen impairment – im Sinne eines medizinischen Zustandes – und disability – im Sinne sozialer Diskriminierungserfahrungen – gerade die Formulierung people with disability als Reduktion der betreffenden Personen auf ihre Behinderungen (impairment) und plädieren stattdessen für die Formulierung disabled people (vgl. u.a. Barnes 1992; Abfrage: 04.10.2012: 6f.); deren deutsche Übersetzung allerdings

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Der Vollständigkeit halber sind diese Ausführungen ferner zu ergänzen um den Hinweis, dass bei Aussagen, die sowohl für Personen männlichen als auch weiblichen Geschlechts gültig sind, zum Zwecke der Lesbarkeit durchweg die männliche Form verwendet wird – sofern keine triftigen Gründe (z.B. wörtliche Zitate) entgegen stehen.

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„Er/sie wird behindert“ (und nicht: „Er/sie ist behindert“) lauten würde (siehe hierzu Felkendorff 2003: 29). Zunehmend populärer sind zudem Überlegungen, in denen der potenziell stigmatisierende Begriff „Behinderung“ völlig vermieden und durch Formulierungen wie etwa „Menschen mit Assistenzbedarf“ (vgl. hierzu Radtke 2003: 8) ersetzt werden soll. Auf Initiative eines Unternehmens, das Computer speziell für Menschen mit Behinderungen herstellte, wurde in den USA bereits 1991 ein Wettbewerb veranstaltet mit dem Ziel, Termini wie “disabled” und “handicapped“ durch (vermeintlich) besser geeignete Bezeichnungen zu ersetzen; der Sieg ging an die Formulierung “people of differing abilities” (vgl. Johnson 1994: 25), zu Deutsch also: Menschen mit anderen Fähigkeiten. Eine Steigerung hierzu markiert die – von Bruner (2005: 68) mit einem offenkundig ironischen Unterton „als Favorit für den Korrektheitsoscar der unbedenklichsten Formulierung“ bezeichnete – Umschreibung „Menschen mit besonderen Fähigkeiten“ (bzw. Fertigkeiten). Bei der Bewertung entsprechender Bemühungen, stigmatisierende Termini durch besser geeignete Umschreibungen zu ersetzen, scheint zunächst eine Unterscheidung der folgenden beiden Argumentationsstränge4 sinnvoll:

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Nicht näher thematisiert wird an dieser Stelle die von Deborah Marks als „trotzige Selbstbezeichnung“ bzw. “defiant self-naming” (Marks 1999) bezeichnete Strategie, einen eigentlich abwertend gemeinten Begriff bewusst und offensiv als Eigentitulierung aufzugreifen. Das im Behinderungskontext bekannteste Beispiel hierzulande dürfte hierbei die so genannte „Krüppelbewegung“ sein: Als Begründung für die bewusste Selbsttitulierung „Krüppel“ (statt der damals noch üblichen Umschreibung „Behinderte“) wird in der Regel sinngemäß die folgende Argumentationslinie aufgeführt: „Der Begriff Behinderung verschleiert für uns die wahren gesellschaftlichen Zustände, während der Name Krüppel die Distanz zwischen uns und den so genannten Nichtbehinderten klarer aufzeigt. Durch die Aussonderung in Heime, Sonderschulen oder Rehabilitationszentren werden wir möglichst unmündig und isoliert gehalten. Daraus geht klar hervor, dass wir nicht nur behindert (wie zum Beispiel durch Bordsteinkanten), sondern systematisch zerstört werden. Ehrlicher erscheint uns daher der Begriff Krüppel, hinter dem sich die Nichtbehinderten mit ihrer Scheinintegration (‚Behinderte sind ja auch Menschen‘) nicht so gut verstecken können.“ (zit. nach Mürner/Sierck 2009: 17) Diese Erklärung findet sich, zumindest in leicht abgewandelter Form, z.B. in jeder Ausgabe der damaligen „Krüppelzeitung“ (vgl. hierzu ebd.: 16f./31ff.).

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Argumentationslinie 1 (Selbstwahrnehmung): Wenn Träger bestimmter Merkmale (wie z.B. Menschen mit Behinderungen) durch stigmatisierende Begriffe beschrieben werden, besteht die Gefahr, dass betreffende Personen ein dementsprechend negatives Selbstbild internalisieren (vgl. z.B. Haller 2006). Eine Sensibilität für geeignete Sprache sei also alleine schon im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung von Menschen mit Behinderungen anzustreben. Argumentationslinie 2 (Fremdwahrnehmung): Stigmatisierende Termini können dazu beitragen, bestehende Vorurteile von Außenstehenden gegenüber dem so umschriebenen Personenkreis fortzuschreiben (vgl. hierzu die Einschätzung von Radtke weiter oben). Im Unkehrschluss könnten fähigkeitsorientierte Umschreibungen dazu beitragen, unerwünschte Negativstereotypen von Menschen mit Behinderungen zu revidieren bzw. ein positiveres Bild von Menschen mit Behinderungen in den Köpfen der so genannten Normalbevölkerung zu verankern. Gerade diese zweite Argumentationslogik wird im Übrigen auch bei der späteren Einordnung des Forschungsgegenstandes eine wesentliche Rolle spielen.

Vom Standpunkt der ersten Argumentationslinie scheinen die hier geschilderten Bemühungen durchaus plausibel: Alle Menschen – ob behindert oder nicht – verfügen sowohl über Fähigkeiten als auch über Grenzen; ein Plädoyer für eine Umschreibung wie „Menschen mit besonderen Fähigkeiten“ liegt daher nahe (vgl. hierzu ausführlich Schmidt 2008a: bes. 59ff.). Doch stellt sich andererseits die Frage, ob solche Formulierungen nicht zuviel des Guten sind und letztlich eher das Gegenteil bewirken: In ihren Überlegungen zu solchen von ihr als new euphemisms bezeichneten Formulierungen betont Johnson, der eigentliche Problemkern läge gerade nicht auf der sprachlichen Ebene, sondern in der dahinter stehenden Realität: So lange das Phänomen Behinderung durch Vorurteile geprägt sei und Menschen mit Behinderungen als minderwertige Existenzen betrachtet werden, sei es müßig, fortwährend bestehende Begriffe durch vermeintlich besser geeignete, faktisch jedoch meist euphemistische, Formulierungen zu ersetzen: “The reality seems negative; any word will take on that reality until the reality itself changes – and then any word will do fine as an identifier” (Johnson 1994: 26). Auch Radtke beschließt seine Ausführungen zur sprachlichen Diskriminierung mit einer Warnung vor einer „Überstrapazierung der ‚political correctness‘ [...]. Hierdurch kann es zu einer weiteren Verkrampfung eines an sich bereits verkrampften Verhältnisses kommen.“ (Radtke 2003: 10) Ein ausführli-

E INFÜHRUNG

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cher Forschungsüberblick von Auslander/Gold (1999: 1397) legt darüber hinaus den Schluss nahe, dass sich ohnehin keine eindeutigen Aussagen über mögliche Zusammenhänge zwischen sprachlichen Umschreibungen und den damit einhergehenden Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen folgern lassen. Selbstverständlich sprechen diese kritischen Einschätzungen keineswegs gegen das aus der ersten Argumentationslinie resultierende (und im Übrigen nicht nur für hochsensible Themen gültige) Postulat, Formulierungen mit Bedacht zu wählen und auf ihr Stigmatisierungspotenzial hin zu überprüfen. Jedoch ist eine wünschenswerte terminologische Wachsamkeit strikt zu trennen von einem übertriebenen Schönreden. Insbesondere ist im Falle manch überpositiver Umschreibungen durchaus kritisch zu hinterfragen, ob die dahinterstehende euphemistische Verbalakrobatik tatsächlich aufrichtig gemeint ist oder nicht eher der von Allport als „Doppelzüngigkeit des Vorurteils in einer Demokratie“ (Allport 1971: 315/vgl. zur Übertragung auf die Behinderungsthematik: Cloerkes 2007: bes. 121f.) diskutierten Logik folgt: Ausgangspunkt der betreffenden Überlegungen ist die Beobachtung, dass sich Kinder ab dem Alter von etwa acht Jahren zwar sehr abfällig über Randgruppen äußern, aber „immer noch verhältnismäßig demokratisch [verhalten]. Während sie gegen sie reden, spielen sie womöglich mit ihnen“ (Allport 1971: 315). Diese frühkindliche Diskrepanz wird etwa im zwölften Lebensjahr durch die „Doppelzüngigkeit“ abgelöst bzw. in ihr genaues Gegenteil verkehrt: „Wenn jetzt die Wirkung der Belehrung in der Schule einsetzt, lernt das Kind eine neue Sprachregelung: Es muß sich zur Gleichheit aller Rassen und Herkünfte bekennen. Daher finden wir im Alter von 12 Jahren verbale Freundlichkeit, aber Ablehnung im Verhalten. In diesem Alter endlich beginnt das Vorurteil das Verhalten zu beeinflussen, während im sprachlichen Bereich sich die demokratischen Vorschriften auszuwirken beginnen.“ (ebd.: 315)

Folgt man dieser Überlegung, besteht der Hauptunterschied zwischen abwertenden und euphemistischen Formulierungen in vielen Fällen lediglich darin, dass die negativen Werthaltungen im ersten Fall (gewollt oder ungewollt) direkt zum Ausdruck gebracht, im zweiten Fall jedoch ganz bewusst hinter dem erhobenen Mahnfinger der sozialen Erwünschtheit verborgen werden. Die Quintessenz dieser Überlegung lässt sich durch das folgende Fazit von Cloerkes zusammenfassen:

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„Die plakative Verwendung politisch korrekter Begriffe kann zudem schnell zu Euphemismen und zu einer Unehrlichkeit führen, die Menschen mit einer Behinderung nicht verdient haben. Behinderung ist nichts Positives, auch nicht unter einem anderen Etikett. Das Menschsein von uns allen ist mit Positivem und Negativem verbunden. Beides sollte man ehrlich bezeichnen dürfen, denn jeder ist viel mehr als nur eines seiner Attribute.“ (Cloerkes 2007: 9)

So umstritten der Behinderungsbegriff – inklusive der daraus abzuleitenden Umschreibungen (z.B. „Mensch mit Behinderung“) – auch sein mag, so existiert zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt5 offenbar kein überzeugender Alternativkompromiss, der den sehr widersprüchlichen Kriterien eher gerecht wird. Sofern also keine triftigen Gründe entgegenstehen, soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Regenfall von „Menschen mit Behinderungen“ bzw. – in Anlehnung an die nachfolgend zitierten Überlegungen – von „so definierten Menschen mit Behinderungen“ die Rede sein: „Die Unterscheidung der Menschen in Menschen mit und ohne Behinderung ist von Menschen erdacht. Prinzipiell haben alle Menschen Grenzen und Gaben. Einige aber weichen vom Durchschnitt der Bevölkerung ab und werden dann behindert genannt. Dieser Durchschnitt, diese Norm wird von Menschen definiert. Ist ein Brillenträger sehbehindert? Wir definieren, ab welcher Sehschwäche er einen Behindertenausweis bekommt. Korrekt müssen wir also von »so definierten Menschen mit Behinderung« sprechen.“ (Schmidt 2008b: 16)

Die oben angesprochenen triftigen Gründe, von dieser Regel abzuweichen, ergeben sich z.B. – selbstverständlich – bei der wörtlichen Wiedergabe direkter Zitate oder wenn es darum geht, Wortwiederholungen auf allzu engem Raum tun-

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Es ist fast schon damit zu rechnen, dass ein Leser, der sich in 50, 30, vielleicht auch schon 20 Jahren mit der vorliegenden Arbeit beschäftigt, die Formulierung „Menschen mit Behinderungen“ als veraltet einstuft und aus ähnlichen Gründen sicherlich auch eine ganze Reihe weiterer Formulierungen mit einem kritischen Kopfschütteln zur Kenntnis nimmt. Inwieweit die tatsächliche Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen dem dann gültigen verbalen Anspruch entspricht, sei allerdings dahingestellt.

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lichst zu vermeiden6. Da nicht in jedem dieser Fälle auf etwa gleichwertige Formulierungen wie „behinderte Menschen“ oder „Menschen, die selbst eine Behinderung erfahren“ zurückgegriffen werden kann, scheint es bisweilen unumgänglich, auf die sicherlich diskussionswürdige Formulierung „Betroffene“ auszuweichen. Prinzipiell kann ein Mensch zwar nicht nur von einer Krankheit oder einer Behinderung betroffen sein, sondern ebenso gut auch von einem lukrativeren Rahmentarifvertrag oder einem günstigeren Busfahrplan. Erfahrungsgemäß ist der Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch jedoch meist negativ konnotiert (sinngemäß z.B. „tiefe Betroffenheit angesichts des schweren Schicksals“)7 und könnte demzufolge gerade im Behinderungskontext unerwünschte Assoziationen wecken. Insofern sei an dieser Stelle betont, dass der Begriff „Betroffene“ im Kontext dieser Arbeit als wertneutral, etwa im Sinne von „der betreffende Personenkreis“, verstanden werden sollte. Nach diesen Vorbemerkungen geht es in den folgenden Kapiteln nun im Anschluss an einen kurzen Forschungsüberblick um die theoretische Grundstrukturierung des Untersuchungsgegenstandes und die Ableitung erster Forschungsfragen.

6

So würden sich Sätze wie „Aus Sicht von Menschen mit Behinderungen ist eine zunehmende Einbindung von Menschen mit Behinderungen offenbar wünschenswert“ zwar mit den hier vorgestellten Überlegungen zum Sprachgebrauch decken, jedoch ohne Zweifel auf Dauer recht negativ auf die Lesbarkeit des Textes auswirken.

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Verdeutlichen lässt sich diese Diskrepanz u.a. durch Bezugnahme auf die in Hillmanns „Wörterbuch der Soziologie“ aufgeführte und nachfolgend auszugsweise wiedergegebene Definition verdeutlichen: Demnach meint Betroffenheit „im sozialwissenschaftl. [sic!] Bereich die Bezeichnung für die Tatsache, dass bestimmte Ereignisse (z.B. Umweltkatastrophen), Vorgänge (z.B. soziale Konflikte), Neuerungen (z.B. neue Waffensysteme), Projekte (z.B. Atomkraftwerke) und Wandlungen (z.B. Wiederkehr des Mangels) für die Lebensmöglichkeiten von Menschen nicht folgenlos bleiben [...].“ (o.V. 2007: 93) Die grundlegende Aussage, dass bestimmte Ursachen nicht ohne Wirkungen bleiben, impliziert für sich genommen zunächst keine Wertung, ob diese Konsequenzen positiver oder negativer Natur sind. Erst die zusätzlich aufgeführten Beispiele (Umweltkatastrophen, soziale Konflikte etc.) legen dagegen sehr wohl eine negative Rahmung nahe.

2 Menschen mit Behinderungen als Werbeträger: aktueller Forschungsstand

2.1 D ER

ANGLOAMERIKANISCHE

L ITERATURSTAND

In den USA wurden Menschen mit Behinderungen bereits in den 1980er Jahren für die Wirtschaftswerbung entdeckt, bereits 1999 wurden über 100 Unternehmen mit einschlägigen Kampagnen gezählt (vgl. Williams 1999). Wann genau das erste Beispiel anzusiedeln ist, scheint jedoch, nicht zuletzt wegen der jeweils zu Grunde liegenden Kriterien, umstritten8. Einige Autoren verweisen auf einen CBS-TV-Spot, der 1982 (nach Nelson 1994: 14) bzw. 1983 (nach Farnall 2006: 40) ausgestrahlt, jedoch offenbar kritisch wahrgenommen wurde (vgl. Farnall 2000: 308). Andere (z.B. Haller/Ralph 2001; Abfrage: 24.08.2011) nennen einen TV-Spot der Firma Levi's aus dem Jahre 1984, den auch Nelson (Nelson 1994: 14) explizit als frühes Beispiel erwähnt: Gezeigt wurde dort ein Rollstuhlfahrer, der einen Wheelie vorführte. Wiederum andere (vgl. hier und im Folgenden v.a. Farnall 2006) heben wiederum die Pionierrolle des Discounters Target hervor. Wichtiger als die Klärung der genauen Anfänge scheint jedoch Farnalls Einschätzung, wonach in den USA die Zahl von Behinderungsdarstel-

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Elliot et al. (1983) identifizierten bereits für die Woche vom 25. bis 31. Oktober 1980 u.a. 74 Werbeeinspielungen (Anm.: commercials), in denen Behinderung dargestellt wurde. Allerdings wurde im Rahmen jener Studie auch hohes Alter als Behinderungskategorie interpretiert und – wenig überraschend – mit einem Anteil von 50% als die im Analysematerial am häufigsten dargestellte „Behinderung“ identifiziert. Weiterführende Informationen zu der vorliegenden Thematik lassen sich aus der genannten Untersuchung jedoch nicht ableiten.

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lungen in Print-Werbung und TV-Spots in den späten 1980er oder frühen 1990er Jahren ein öffentlichkeitswirksames Niveau erreichte. Im Hinblick auf das vorliegende Vorhaben ist zu ergänzen, dass Farnall sich auf das so genannte “Ability-Integrated Advertising” bezieht, also auf Fälle, in denen der Werbeträger mit Behinderung ein Alltagsprodukt bewirbt und nicht etwa ein Produkt speziell für Menschen mit bestimmten Behinderungsformen (vgl. hierzu Kapitel 3.2.2). Auch einige US-Studien (vgl. u.a. Ganahl/Arbuckle 2001; Abfrage: 24.08.2011 sowie Parashar/Devanathan 2006) bzw. Angaben (wiederum z.B. Farnall 2006) jüngeren Datums deuten zwar nach wie vor zumindest auf eine deutliche Unterrepräsentation von Behinderung in der Wirtschaftswerbung hin, jedoch ändert dies nichts an dem bereits eingangs geschilderten Eindruck, dass der vorliegenden Thematik in den USA ein merklich höherer Stellenwert zukommt als in Deutschland; sowohl bezogen auf den Umfang einschlägiger Literatur als auch auf die – tendenziell weniger auf Risiken bzw. stärker auf Chancen fokussierte – Rahmung der Diskussion: So wird in der angloamerikanischen Diskussion häufig auf die hohe Anzahl und die (infolgedessen) hohe kollektive Kaufkraft von Menschen mit Behinderungen verwiesen (vgl. u.a. Haller/Ralph 2001; Abfrage: 24.08.2011, Ganahl/Arbuckle 2001; Abfrage: 24.08.2011, Williams 1999): Nach Angaben der National Organization on (sic!) Disability (NOD) verfügen in den USA die 54 Mio. Menschen mit Behinderungen (=20% der Gesamtbevölkerung) über eine kollektive Kaufkraft von 220 Mrd. Dollar (vgl. Farnall 2006: 39). Nach Einschätzung u.a. von Haller/Ralph (2001; Abfrage: 24.08.2011) haben u.a. günstige Modifikationen im Behindertenrecht9 dazu beigetragen, Menschen mit Behinderungen auch als Konsumenten völlig alltäglicher Güter (z.B. Milch, Kleidung etc.) verstärkt in das Blickfeld von Unternehmen zu rücken. Gleichwohl herrschte auch in den USA zunächst eine gewisse Skepsis gegenüber der Verknüpfung von Behinderung und Werbung. So sahen Werbetreibende auch dort die Gefahr, potenzielle Kunden durch Werbeträger mit Behinderungen zu befremden oder gar abzuschrecken: “The average consumer was perceived by advertisers as not wanting to see someone with a disability trying to sell him or her toothpaste or even insurance. Advertisers may have

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Konkret verweisen die Autoren auf den US Americans with Disability Act (ADA) sowie den Work Incentives Improvement Act (WIIA). In Großbritannien steht demnach z.B. der Disability Discrimination Act (DDA) für vergleichbare Tendenzen.

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feared that being confronted with handicapped people might make consumers feel uncomfortable.” (Farnall 2000: 308)

Allerdings legen die Einschätzungen zu diversen Präzedenzfällen den Schluss nahe, dass sich verschiedene theoretische Bedenken – etwa die Angst vor negativen Reaktionen seitens Betroffener – in der Praxis zumindest relativieren ließen. So bescherte ein Werbespot, in dem ein junges Mädchen mit DownSyndrom gezeigt wurde, dem Unternehmen Target über 2000 Dankesbriefe. Ein hochrangiger Marketingvertreter wurde hierzu wie folgt zitiert: “That ad hit doorsteps at six A.M. Sunday and half an hour later my phone was ringing [...] It was the mother of a girl with down syndrome thanking me for having a kid with Down syndrome in our ad. ‘It's so important to my daughter's self-image’, she said.” (zit. nach Shapiro 1993: 36)

Ein Vertreter des besagten Unternehmens bekräftigt zudem, Menschen mit Behinderungen seien gerade stolz darauf, wenn sie im Rahmen der Werbung als Menschen wie alle andere auch gezeigt würden, und empfänden dies keineswegs pauschal als (moralisch problematische) Instrumentalisierung zu kommerziellen Zwecken (vgl. Haller/Ralph 2001; Abfrage: 24.08.2011). Zu Grunde liegt hierbei wohl u.a. der bereits zu Beginn dieser Arbeit angedeutete (und später, insbesondere in Kapitel 4.5, noch ausführlich zu diskutierende) Gedanke, die Ausblendung von Behinderung aus der Wirtschaftswerbung basiere auf der Wahrnehmung von Behinderung als Makel und trage zugleich dazu bei, diese Zuschreibungstendenzen weiter zu verstärken, während im Unkehrschluss eine erhöhte Sichtbarkeit einen wesentlichen Impuls für einen selbstverständlicheren Umgang mit Behinderungen im Alltag liefern könne und daher aus Sicht von Menschen mit Behinderungen wünschenswert sei (vgl. u.a. Thomas 2001; Abfrage: 24.08.2011). Gleichwohl können negative Reaktionen seitens Betroffener nicht ausgeschlossen werden. Als Beispiel hierzu nennen Haller/Ralph (2001; Abfrage: 24.08.2011) einen TV-Spot von Burger King, in dem sich ein (erwachsener) Mann – wiederum mit Down-Syndrom – nur mit Hilfe seiner Mutter an den Namen des beworbenen Unternehmens erinnern kann. Die Kritik zielte hierbei jedoch offenbar weniger auf den Umstand, sondern vielmehr auf die als stigmatisierend eingestufte Form der Darstellung. Anhand eines weiteren Beispiels belegen Haller und Ralph die – auch für das vorliegende Forschungsvorhaben – zentrale Einschätzung, dass die Reaktionen von Rezipienten mit und Rezipienten ohne Behinderung völlig unterschiedlich ausfallen können. So wurde die Wer-

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bung eines Putzmittelherstellers, in der ein Mädchen mit Down-Syndrom gemeinsam mit seiner Mutter zu sehen war, von einem Journalisten scharf kritisiert. Dem gegenüber standen allerdings 700 (und bis auf sieben Ausnahmen positive) telefonische Rückmeldungen sowie eine Auszeichnung vom National Down Syndrome Congress, der übrigens auch im Vorfeld die authentischen Darstellerinnen vermittelt hatte. Zusammenfassend lässt sich auf Basis der angloamerikanischen Literatur also festhalten: Negative Reaktionen auf Menschen mit Behinderungen als Werbeträger sind keineswegs vorprogrammiert; vielmehr hängt die Bewertung vom jeweiligen Einzelfall und somit einer Vielzahl von Faktoren ab. Die Argumentation im angloamerikanischen Raum zielt offenbar häufig darauf ab, eine verstärkte Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung explizit als wünschenswerte Entwicklung zu proklamieren und mögliche Bedenken durch den Hinweis auf die Chancen einer solchen Werbestrategie (sowohl für Werbetreibende als auch für Menschen mit Behinderungen selbst), häufig unter Bezugnahme auf konkrete Fallbeispiele, zu relativieren. Betont wird in diesem Kontext häufig, dass Menschen mit Behinderungen auf Grund günstigerer gesetzlicher Rahmenbedingungen sowie eigener Initiativen ohnehin zunehmend als potenzielle Zielgruppe in das Bewusstsein von Unternehmen gerückt sind. Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht eine kurze systematische Auseinandersetzung mit dem deutschsprachigen Literaturstand, geleitet von der Zielsetzung, die Forschungslücke und den daraus resultierenden Forschungsbedarf aufzuzeigen.

2.2 S TAND

UND

F ORSCHUNGSBEDARF

IN

D EUTSCHLAND

Im Jahre 1998 sorgte der vom damaligen Benetton-Werbefotografen Oliviero Toscani entworfene Sonnenblumen-Katalog für eine Kontroverse. Dargestellt wurden Kinder mit Trisomie 21 (Down-Syndrom), der Leittext aus dem Katalog enthält u.a. folgende Passage: „ ‚Ich glaube, dass die behinderten Kinder und Erwachsenen in Wirklichkeit Engel sind‘ sagt Paola, die Mutter von Stefano (und Marketing-Leiterin von Benetton), ‚denn sie kennen keine Bosheit, keine Lügen, keine Falschheit.‘ Das glaube ich auch. Nicht wir opfern uns für diese Kinder auf – wie eine bestimmte, angeblich menschenfreundliche Rhetorik behauptet – sondern sie opfern sich für uns. Mit strahlenden Augen kommen sie auf die Erde, um die Panzer um unsere Herzen zu sprengen und sie für das größte Geschenk zu

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öffnen, das am schwierigsten anzunehmen ist: die Unentgeltlichkeit der Liebe.“ (zitiert nach Schönwiese 2007: 55)

Letztlich würden diese Kinder, so ein weiteres Zitat aus dem Katalog, „zum Sonnenschein der Familie“ (zit. nach Mürner 2003: 151). Da es sich offenbar um die erste Gelegenheit handelte, bei der die Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel von Behinderung und Werbung als medien- und öffentlichkeitswirksam einzustufen ist, liegt es nahe, diese Debatte zunächst als Dreh- und Angelpunkt der deutschsprachigen Auseinandersetzung zur vorliegenden Thematik zu interpretieren und den Forschungsstand hierzulande unter Berücksichtigung der folgenden Leitfragen (im Folgenden auch vereinfacht als „Phasen“ bezeichnet) zu diskutieren: • • •

Inwieweit wurde das Zusammenspiel von Behinderung und Wirtschaftswerbung bereits vor den Sonnenblumen (also vor 1998) thematisiert? In welcher Form wurde die Thematik aus Anlass bzw. im (direkten) Anschluss an die Sonnenblumen diskutiert? Inwieweit hat sich der Diskussionsstand seit der Sonnenblumen-Kontroverse weiterentwickelt und inwieweit ergibt sich daraus der Anlass einer Neubetrachtung?

Die ersten beiden Fragestellungen beschränken sich hierbei primär auf die Wiedergabe des jeweils relevanten Literatur- und Forschungsstandes, während die dritte Fragestellung zunächst einer aktuellen Standortbestimmung (auf Basis der beiden vorangegangenen Phasen) und in einem zweiten Schritt (vgl. auch Kapitel 4.6) einer Ableitung relevanter Forschungsfragen dient. Wichtig ist hierbei, dass die hier angegeben zeitlichen Eckdaten zunächst einmal strikt vom Verlauf der angloamerikanischen Diskussion zu trennen sind. Für die vorliegende Kategorisierung relevant sind zudem ausschließlich Quellen, in denen das Zusammenspiel von Menschen mit Behinderungen und Werbung auch tatsächlich in nennenswertem Umfang thematisiert wurde. Zu beachten ist hierbei ferner die Schwerpunktsetzung „Wirtschaftswerbung“ (vgl. hierzu Kapitel 3.2.1). Für die erste Phase (vor 1998) findet sich selbst nach umfassenden Recherchen offenbar nur eine einzige Quelle, die diese Voraussetzungen erfüllt, nämlich ein Dokumentarfilm der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien e.V. (1990) mit dem Titel „Werbung und Behinderung – das Geschäft mit dem schönen Schein“. Erörtert wird die Thematik sowohl aus der Sicht von Rezipienten mit Behinderungen als auch aus dem Blickwinkel Werbetreibender und sonstiger

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Experten. Die Quintessenz der O-Töne lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen, die Grundüberlegungen sind bereits aus den vorangegangenen Kapiteln bekannt. Produkte, so das Kernargument der Werbeexperten, verkaufen sich durch die Verknüpfung mit Schönheit, Gesundheit, Erfolg oder Wohlstand bzw. mit Werbeträgern, die entsprechende Idealbilder repräsentieren. Insofern passe Behinderung nicht in die schöne, heile Werbewelt. Eine mögliche Ausnahme sei allenfalls dann denkbar, wenn Menschen mit Behinderungen explizit die Zielgruppe des Produktes darstellen (vgl. zur eingeschränkten Relevanz dieses Falls Kapitel 3.2.2). Die im Rahmen des Films befragten Betroffenen äußerten sich dagegen enttäuscht und kritisch über diese sehr einseitige Fokussierung der Werbung. Denn gerade in der Einbindung als Werbeträger bestünde für Menschen mit Behinderungen eine Chance, im Alltag sichtbarer zu werden; folglich könnten Berührungsängste seitens der so definierten Normalbevölkerung abgebaut werden. Es zeigt sich also, dass ein Großteil der mit der vorliegenden Thematik verbundenen Chancen und Risiken bereits anlässlich dieses Filmes (also vor gut 20 Jahren) erörtert wurden. Es wäre allerdings rein spekulativ, an dieser Stelle zu hinterfragen, inwieweit dieses Dokument tatsächlich eine hohe Breitenwirkung erzielt hat oder ob nicht primär jene Personen erreicht worden sind, die aktiv nach solchem Informationsmaterial gesucht haben und folglich nicht mehr notwendigerweise „überzeugt“ werden mussten. Die Sonnenblumen-Kontroverse (Phase 2) ist in diesem Sinne wohl als öffentlichkeitswirksamer einzustufen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen u.a. moralische Bedenken: „Wie aber ist es zu bewerten, wenn beispielsweise Modefirmen gezielt Behinderte vor ihre kommerziellen Absichten spannen? Ist das abartig oder einzigartig?“ (ZAW - Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft [Hrsg.] 1999: 51), formuliert etwa der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft im Zusammenhang mit dem Sonnenblumen und dem LaufstegAuftritt der (beinamputierten) Paralympics-Teilnehmerin Aimee Mullins für das Modehaus Givenchy (vgl. hierzu auch Kapitel 6.2.7 und ausführlich: Mürner 2003: 152f.). Dem entgegen steht u.a. eine Einschätzung von Peter Radtke, zu jenem Zeitpunkt u.a. Vorsitzender der soeben genannten Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien e.V., anlässlich eines Interviews mit der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahre 1998 (zit. nach Mürner 2003: 152): „»Nicht die Tatsache, Werbeträger zu sein, diskriminiert behinderte Menschen«, dies geschehe eher durch das Gegenteil, »durch den Ausschluss als Werbeträger in Frage zu kommen«“.Grundlage ist hierbei offenbar einmal mehr das wohlbekannte Argument, die Kombination der Aspekte Behinderung und Werbung (bzw. hier auch: Behinderung und Mode) könne dazu beitragen, Verdrängungstendenzen zu unter-

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laufen (vgl. u.a. Vitouch 2003). Zwar räumt auch Volker Schönwiese diese prinzipielle Möglichkeit ein, betont jedoch angesichts der durch Bild und Schrift im Falle der Sonnenblumen vermittelten Repräsentationsmuster: „[S]o wie die Darstellung erfolgt, bedient und verstärkt sie traditionelle Typisierungen. Die Herstellung einer Analogie zu Pflanzen, zu Sonnenblumen, ist die Naturmetapher, die zur Entmenschlichung von behinderten Personen führt. Dies hat seit Beginn des 19. Jahrhunderts Tradition als reale wissenschaftlich legitimierte Zuschreibung [...] und führte direkt in Richtung Eugenik.“ (Schönwiese 2007: 55)

In einer früheren kritischen Analyse bezieht sich Schönwiese u.a. ganz konkret auf ein Benetton-Plakat, das einen (lächelnden) 21jährigen Mann in einem kinderwagenähnlichen Gefährt in Begleitung seines (ebenfalls lächelnden) Helfers zeigt (zum Motiv vgl. Abb. 105 in: Pagnucco Salvemini 2002: 146f.): „Ein Rollstuhl würde die Chance der eigenen Fortbewegung geben, warum der Kinderwagen? Rollstühle sind allgemein negativ bewertet - dem entspricht das Bild ‚an den Rollstuhl gefesselt‘. Im Alltag emanzipierte Behinderte wie ich benutzen Rollstühle als Mittel zur Unabhängigkeit. Je mehr behinderte Personen im gesellschaftlichem [sic!] Alltag im Rollstuhl zu sehen sind, desto mehr verliert der Rollstuhl den Geruch des Elends. Kinderwägen für erwachsene Behinderte stellen die Perspektive der Abhängigkeit und Hilflosigkeit wieder her.“ (Schönwiese 2001, Stand: 18.08.05; Abfrage: 07.10.2011)

Bei der Auseinandersetzung mit den Sonnenblumen ist allerdings grundsätzlich zu beachten, dass das Unternehmen Benetton in der Vergangenheit auf Grund zahlreicher umstrittener Werbekampagnen ins Visier der Öffentlichkeit (bisweilen auch der Justiz) gelangt ist (vgl. u.a. Bohrmann 1997). Darüber hinaus stellten die Sonnenblumen einen relativ späten Fall in der Chronologie der BenettonKontroverse dar (vgl. hierzu etwa den Überblick von Imbusch 2007: 288ff.) Bedenkt man zudem, dass die von Oliviero Toscani selbst verfasste Verteidigungsschrift der damaligen Benetton-Werbestrategie (dt. Titel: „Die Werbung ist ein lächelndes Aas“) bereits 1995 (dt. Übersetzung: Toscani 1996) erschienen ist, liegt die Vermutung nahe, dass die Hochphase des Benetton-Skandals bereits einige Jahre vor den Sonnenblumen angesiedelt war; selbst, wenn der Prozess der juristischen Bewertung (zumindest hierzulande) einige Jahre mehr in Anspruch nahm (vgl. u.a. Zurstiege 2005: 18f.). Die hier aufgeführten Indizien deuten auf eine Asymmetrie hin: Die Thematik „Behinderung in der Wirtschaftswerbung“ führt offensichtlich fast unaus-

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weichlich und eher früher als später auch über die Sonnenblumen und somit zu Benetton; umgekehrt scheint es dagegen zumindest fraglich, ob eine Diskussion des Benetton-Skandals sich zwangsläufig auch auf die Sonnenblumen erstrecken muss10. Im Rahmen ihrer Auseinandersetzungen mit den Benetton-ToscaniKampagnen gibt Lorella Pagnucco Salvemini zu bedenken, dass im Falle der Sonnenblumen die Diskrepanzen zum Zeitgeist zu gering seien, um eine Einordnung als Tabu-Bruch zu rechtfertigen: „Angesichts der weit verbreiteten »wohlmeinenden« Akzeptanz der Menschen mit DownSyndrom schwamm der Fotograf damit wohl weniger gegen den Strom, als er behauptete. Die Plakatserie war lediglich genauso schockierend wie jeder Anblick des vermeintlich Anomalen und wirkte in keiner Weise anstößig. Die Rebellion gegen die von den Medien aufgezwungenen ästhetischen Modelle, die von dieser Werbekampagne aufgegriffen wurde, war längst weit verbreitet.“ (Pagnucco Salvemini 2002: 129)

Auffällig ist, dass die Gefahr möglicher Irritationen beim Anblick von Menschen mit sichtbaren Abweichungen von gängigen Normalitätsvorstellungen zwar thematisiert, jedoch mögliche Einflüsse des Präsentationskontextes Werbung als offenbar nicht explizit erwähnenswert erachtet werden. Dies dürfte jedoch nicht zuletzt daran liegen, dass Salvemini den Fokus auf eine kunstkritische (und nicht werbekritische11) Sicht legt12. Insofern sollte die hier vorgetragene Einschätzung

10 Andererseits wird in der Einleitung zu einem auf Welt-Online publizierten Interview mit Toscani aus dem Jahre 2009 auf Kampagnen „mit einer Magersüchtigen, einem Kind mit Down-Syndrom, ölverschmierten Tieren und HIV-Infizierten“ (Grabitz 2009, Stand: 11.09.2009; Abfrage: 30.09.2011) verwiesen. Anzumerken ist jedoch, dass die Kampagne mit der mittlerweile verstorbenen Magersüchtigen Isabelle Caro zeitlich erst nach Toscanis Zusammenarbeit mit Benetton anzusiedeln ist. 11 Die Diskussion um das Verhältnis zwischen Werbung und Kunst (vgl. einführend u.a. Schmidt/Spieß 1994a: 87f., Schmidt 1995) soll an dieser Stelle vernachlässigt werden. 12 Entscheidender als die Frage, ob sich die Bedeutung Toscanis für die Werbung zu Zeiten der von ihm mitgeprägten Ära eher durch die Rolle des letztlich doch auf kommerzielle Ziele bedachten Zynikers oder aber die Rolle des revolutionären Künstlers (oder beides) umschreiben ließe, scheint Pagnucco Salvemini (2002: 157) die Feststellung: „Auf jeden Fall hat Toscani bei seiner Arbeit für Benetton immer wieder eine Skrupellosigkeit an den Tag gelegt, wie sie in jedem Bereich – und besonders im künstlerischen – denjenigen auszeichnet, der etwas Neues schafft.“

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nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entrüstung über die Sonnenblumen zumindest teilweise sehr wohl auf Kontexteffekte als Resultat einer negativen Rahmung der zu jenem Zeitpunkt bereits hinlänglich bekannten Werbephilosophie des Unternehmens zurückzuführen sein mag13; eine Strategie, die offenbar darauf beruhte, durch bewusst inszenierte Provokationen und die daraus resultierende Anschlusskommunikation eine zusätzliche kostenlose Werbeplattform zu generieren, die sich allerdings im Nachhinein wohl eher als Bumerang erwiesen hat. Alleine in Deutschland kam es zur Schließung von 230 Filialen (vgl. ausführlich Schindelbeck 2003: 103ff.). Insofern waren die entsprechenden Kampagnen zwar offenbar „im Sinne der Erzielung von Aufmerksamkeit erfolgreich, nicht aber [...] hinsichtlich [...] der Weiterverarbeitung der Kommunikation“ (Vollbrecht 2002: 779f.) 14 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich – sei es in der deutschsprachigen, sei es in der angloamerikanischen – Diskussion zur vorliegenden Thematik einige zentrale Kernargumente bereits über einen längeren Zeitraum offenbar relativ regelmäßig wiederholen, so z.B. die Überlegungen zur möglichen Rolle der Werbung im Hinblick auf die Alltagswahrnehmung des Phänomens Behinderung. Ist es unter diesen Bedingungen also überhaupt realistisch, neue Erkenntnisse zu erwarten bzw. notwendig, den bereits bekannten Diskussionsstand einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen? Hier setzt die dritte Phase ein, für die an dieser Stelle zunächst der Zeitraum vor Beginn der hier diskutierten Studie und somit insbesondere ein Beitrag (Reinhardt/Gradinger 2007) relevant ist: Bereits zu Beginn ihrer Ausführungen verweisen die beiden Autoren auf die Ende 2006 von der Generalversammlung

13 Gemäß der Schwerpunktsetzung dieses Kapitels beschränken sich die hier skizzierten Überlegungen bis auf wenige Ausnahmen auf den deutschsprachigen Raum. Dass die Werbestrategie des Unternehmens auch international sehr kontrovers diskutiert wurde, belegt u.a Pasi Falk (1997) mit der Diskussion des so genannten Benetton-ToscaniEffekts. 14 Nach Einschätzung von Volker Nickel, dem Sprecher des Zentralverbandes der Deutschen Werbewirtschaft (ZAW), ist die Benetton-Affäre jedoch ohnehin als Ausnahmefall zu bewerten: Weil Werbung darauf abziele, alle Kunden anzusprechen, sei die aus einer provokanten Werbestrategie resultierende Spaltung der Kundschaft kontraproduktiv. Auch er betont, dass die medienwirksame Benetton-Kontroverse in erster Linie zu einem heute noch spürbaren Image-Verlust geführt habe (vgl. Nickel 2007: 14ff.).

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der United Nations verabschiedete (und mittlerweile auch in Deutschland in Kraft getretene) Convention on the Rights of Persons with Disabilities (UN 2006, Stand: 06.12.2006; Abfrage: 29.08.2011) bzw. insbesondere auf das in Artikel 8 (“Awareness-Raising”) formulierte und im Kontext der vorliegenden Thematik zentrale Nebenziel “[e]ncouraging all organs of the media to portray persons with disabilities in a manner consistent with the purpose of the present Convention”. Das Leitmotiv des Beitrages besteht in einer Neustrukturierung der Thematik „Behinderung in der Werbung“ unter dem Gesichtspunkt von Inklusion/Exklusion im Kontext des so genannten ICF-Rahmenmodells der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.1.1). Die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen Inklusionsgrad von Menschen mit Behinderungen in der Werbung bzw. sonstigen massenmedialen Kontexten und der daraus resultierenden Wahrnehmung der Behinderungsthematik im Alltag ist selbstverständlich auch in den Ausführungen von Reinhardt/Gradinger (2007) von hoher Relevanz; entscheidend ist jedoch, dass dieser Argumentationslinie durch die Bezüge zum ICF-Modell und der UN-Konvention möglicherweise etwas mehr Nachdruck verliehen wird, denn gerade die UNKonvention repräsentiert einen weltweiten Paradigmenwechsel von einem medizinischen Versorgungsmodell zu einem rechtsbasierten Politikansatz in den Bereichen Gesundheit (vgl. Daniels 2008) und Behinderung (vgl. Bickenbach 2009/vgl. auch die Ausführungen von Graumann 2008, Stand: März 2008; Abfrage: 29.08.2011)15. Mittelfristig mag sich also durchaus die Frage nach möglichen Einflüssen der UN-Behindertenrechtskonvention auf den Stellenwert von Behinderung in der Werbung auch hierzulande stellen, insbesondere, wenn man sich die vergleichbaren Argumentationslinien aus der angloamerikanischen Debatte (i.e. politische Rahmenbedingungen) vor Augen führt. Bei einer Verallgemeinerung dieser Überlegung wird also deutlich, dass es sehr wohl gute Gründe für eine Neubetrachtung der vorliegenden Thematik gibt, sofern man nicht ausschließlich von statisch-binnenlogischen Erwägungen ausgeht: Entscheidend ist vielmehr die Erkenntnis, dass sich auch im deutschsprachigen Raum in jüngerer Vergangenheit Tendenzen beobachten lassen, die selbst bei vorsichtiger Auslegung als Indiz für eine gestiegene Akzeptanz der Behinderungsthematik gewertet werden können – und insofern auch als Anlass, die Chancen und Risiken einer verstärkten Einbindung von Menschen mit Behinde-

15 Diese Einschätzung basiert auf einem Hinweis von Jan Reinhardt.

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rungenen als Werbeträger unter diesem Gesichtspunkt neu zu betrachten: Diese Einschätzung beginnt bei der – fast schon trivialen – Feststellung, dass Menschen mit Behinderungen heutzutage im Straßenbild offenbar deutlich sichtbarer sind als in der Vergangenheit, impliziert weitere Signale wie etwa die Unbenennung der Aktion Sorgenkind in Aktion Mensch – und den dahinter stehenden Lernprozess bzw. Wandel dieser Initiative (vgl. hierzu ausführlich Lingelbach 2010), findet im wissenschaftlichen Kontext ihre Entsprechung durch die auch hierzulande steigende Bedeutung der Disability Studies16, führt eben auch zu den bereits thematisierten gesetzlichen Rahmenbedingungen bzw. vergleichbaren Argumentationsgrundlagen für künftige Forderungen und ließe sich sicher um eine Reihe weiterer Punkte ergänzen (vgl. zum Wandel des Behinderungsdiskurses im deutschsprachigen Raum etwa Bruner 2005: 29). Selbst wenn also die bereits in Ansätzen skizzierten Überlegungen zu den möglichen positiven Auswirkungen einer erhöhten Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Werbung auf den Umgang mit der Thematik bzw. mit Betroffenen im Alltag keineswegs neu sind, so stellt sich vor dem Hintergrund aktueller bzw. gewandelter Rahmenbedingungen auch bei aller gebotenen Vorsicht die Frage, inwieweit auch hierzulande eine Auseinandersetzung mit der Thematik „Menschen mit Behinderungen als Werbeträger“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch eine möglicherweise weniger negative Rahmung geprägt sein dürfte als vor etwa 25 oder 20 (vielleicht auch nur 15 oder 10) Jahren. Die in diesem Kapitel besonders hervorgehobene Bedeutung der Rahmenbedingungen sollte allerdings nicht hinwegtäuschen über die – angesichts des weitgehenden

16 Erst 2009 wurde an der Universität Köln der – laut einer Kobinet-Meldung – im deutschsprachigen Raum erste Lehrstuhl für Disability Studies (Inhaberin: Anne Waldschmidt) eingerichtet durch eine entsprechende Umbenennung der bereits bestehenden Professur „Soziologie in der Heilpädagogik unter besonderer Berücksichtigung sozialpolitischer Aspekte und des Sozialmanagements“ (siehe hierzu Miles-Paul 2009, Stand: 01.07.2009; Abfrage: 05.10.2011) Zu beachten ist allerdings, dass zahlreiche wesentliche Fragestellungen, die dieser Forschungstradition zugeordnet werden, an sich keineswegs neu sind, sondern in der Vergangenheit bereits auf der Tagesordnung der Behindertenbewegung in Deutschland standen (vgl. Dederich 2007: 25). Einen fundierten Eindruck dieser Parallelen vermittelt ein Blick auf die im Zeitraum 1979 bis 1985 erschienenen 14 Ausgaben der bereits in einem früheren Zusammenhang genannten „Krüppelzeitung“ (vgl. hierzu die ausführliche Analyse von Mürner/Sierck 2009).

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Fehlens einschlägiger Literatur im deutschsprachigen Raum wenig überraschende – Erkenntnis, dass auch in der theoretischen Verortung des Untersuchungsgegenstandes selbst durchaus noch reichlich Potenzial vorhanden ist. Einer solchen Einordnung widmen sich weite Teile des folgenden Kapitels. Voraussetzung hierzu ist allerdings zunächst eine genauere Klärung und Eingrenzung des für die vorliegende Arbeit relevanten Verständnisses der Begriffe „Behinderung“ und „Werbung“.

3 Eingrenzung und Einordnung der relevanten Begriffe

3.1 E INE ANNÄHERUNG

AN DEN

B EHINDERUNGSBEGRIFF

3.1.1 Grundlegende Problemstellungen und ausgewählte Modelle Bereits im Jahre 1980 stellte Bintig fest: „An Begriffen von Behinderung, die alle Anspruch auf ‚Gültigkeit‘ erheben, gibt es keinen Mangel“ (Bintig 1980: 3) und ergänzt kurz darauf: „Eine allgemeinverbindliche wissenschaftliche Definition von Behinderung gibt es jedoch nicht“ (ebd.: 3). Lässt sich diese zweite Feststellung durch einen Verweis auf die (bereits erwähnte und weiter unten ausführlich thematisierte) ICF möglicherweise zumindest relativieren, so bedarf es zugleich wohl kaum einer Erläuterung, dass die Zahl mehr oder minder plausibler Definitionsversuche mittlerweile noch deutlich höher liegt als zum Zeitpunkt des obigen Zitates, der ersten Anmerkung Bintigs folglich mehr denn je zuzustimmen ist. Das Ziel, einen profunden Überblick über die bisherigen Versuche einer Begriffsbestimmung zu liefern, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sehr schnell sprengen. Der Anspruch der nachfolgenden Ausführungen kann demzufolge lediglich darin bestehen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige grundlegende Aspekte, die sich entweder allgemein oder im Zusammenhang mit konkreten Begriffsbestimmungen ergeben, kurz zu skizzieren. Zur Vertiefung kann jedoch an dieser Stelle nur auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen werden (stellvertretend z.B.: Dederich 2009, Kastl 2010: bes. Kap. 2 & 4). Einen prägnanten Einblick in die Problematik liefert Kai Felkendorf, der auf Basis einer Literatursichtung insgesamt neun Argumente aufzählt, die entweder gegen be-

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reits existierende Definitionsversuche und/oder gegen die prinzipielle Verwendung des Begriffs „Behinderung“ vorgebracht wurden (vgl. hierzu Felkendorff 2003: 25f. und ergänzend: Dederich 2009: 18f.). Aus den angeführten Einwänden lassen sich vereinfacht drei Problemgruppen ableiten, die im Anschluss ausführlich diskutiert werden: (i) (ii) (iii)

begriffliche Unschärfe/fehlende Trennschärfe Stigmatisierungspotenzial des Etiketts „behindert“ (samt Stigmatisierungsfolgen) Verkennung der gesellschaftlichen Komponente von Behinderung bzw. Überbetonung individueller Aspekte

Die erste Problemgruppe lässt sich anhand des folgenden Zitates illustrieren: „Wenn von Behinderten oder Behinderung gesprochen wird, weiß in der Regel jeder, wer oder was damit gemeint ist. Der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs Behinderung oder Behinderte ist im allgemeinen nicht mißverständlich, vielmehr scheint im Alltag eine große Übereinstimmung darüber zu bestehen, was als Behinderung und wer als Behinderter zu gelten hat. Bei einer näheren Betrachtung zeigt sich jedoch bald, daß der Begriff Behinderung eine sehr weitgehende Verallgemeinerung darstellt. Im Grunde gibt es die Behinderung gar nicht, allenfalls gibt es eine Vielzahl spezifischer Beeinträchtigungen, die mit dem Begriff Behinderung zusammengefaßt werden, wie Lernbehinderung, psychische Behinderung, geistige Behinderung.“ (Tröster 1990: 12, eigene Hervorhebung)

Behinderung ist also zunächst einmal als Sammelbegriff für eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Phänomene zu interpretieren. Insofern seien, so Felkendorf (2003: 25f.), zahlreiche Definitionsversuche als willkürlich und die Trennschärfe des Begriffs als fragwürdig einzustufen (Argument der Arbitrarität bzw. fehlenden Trennschärfe). Damit einher gehen das Argument der Überforderung sowie das Argument des potenziellen Missbrauchs durch Professionelle, die jedoch im Hinblick auf die vorliegende Arbeit vernachlässigt werden können17. Die aus

17 Das Argument der Überforderung besagt, dass die unklare Grenzziehung dazu verleiten könne, letztlich allzu viele und allzu unterschiedliche Phänomene (wie z.B. auch Rheumatismus) unter dem Behinderungsbegriff zusammenzufassen. Das Argument des potenziellen Missbrauchs durch Professionelle verweist auf die Gefahr, dass bestimmte Instanzen ihre Definitionshoheit unter Umständen primär zur Wahrung der

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obigem Zitat ebenfalls ersichtliche Einschätzung, wonach im Alltag ein offenbar eindeutiger Konsens über die Kategorie „behindert“ existiert, stellt nur bedingt einen Widerspruch zur Trennschärfeproblematik dar: Gewissermaßen spricht diese Erkenntnis gerade für die – allerdings tautologische – Vermutung, dass ein landläufiges Verständnis von Behinderung sich in der Regel auf einige bestimmte Behinderungsformen bezieht, deren Einordnung als Behinderung schlichtweg zu eindeutig ist, um die Frage nach der Trennschärfe ernsthaft in Betracht zu ziehen. Um mit Kastl zu sprechen: „Inbegriffe von Behinderung sind für den berühmten Mann und die berühmte Frau von der Straße beispielsweise die Querschnittslähmung, die zur Benutzung des Rollstuhls zwingt, der Verlust von Gliedmaßen, Blindheit und Gehörlosigkeit sowie geistige Behinderung, wenn sie – wie das Down-Syndrom – mit körperlichen Merkmalen einher geht oder das Verhalten in sehr auffälliger Weise prägt. Das ‚Master-Kriterium‘ des Alltags ist eine hohe Visibilität (Wahrnehmbarkeit) der Behinderung im Aussehen oder im (kommunikativen) Verhalten. [...] Dass auch der Verlust einer Brust, chronische Herz-Kreislauferkrankungen oder psychische Erkrankungen Behinderungen sind, dürfte aber eher gewöhnungsbedürftig sein.“ (Kastl 2010: 40)

Diese Überlegungen sind für die vorliegende Untersuchung alleine schon deshalb hochrelevant, da sich ein wesentlicher Bestandteil der Feldphase – namentlich eine Online-Befragung – an Teilnehmer richtet, bei denen nicht notwendigerweise von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Behinderungsthematik ausgegangen werden kann. Folglich sollte in diesem Kontext kein allzu breit angelegter Behinderungsbegriff als konsensfähig vorausgesetzt werden (vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.3). Die zweite Argumentgruppe umfasst etwa den Einwand, die Zuschreibung einer Behinderung könne deterministische Prognosen (z.B. seitens Pädagogen) bezüglich der (fehlenden!) Entwicklungsmöglichkeiten betreffender Personen fördern (Argument des Determinismus) oder institutionelle Aussonderung legitimieren (Argument der segregativen Wirkung). Außerdem sei bereits die Etikettierung „behindert“ selbst als Stigmatisierung zu werten (Argument der Stigmatisierung), zumal diese Zuschreibung nahezu zwangsläufig auf die Defizite eines Menschen abziele (Argument der Defizitarität). Gerade diese Argumente zielen

eigenen Interessenlage (z.B. Legitimation oder Ausweitung von Zuständigkeitsfeldern) einsetzten könnten.

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auf das bereits in Kapitel 1.2 thematisierte Dilemma, dass der Begriff „Behinderung“ zwar keineswegs unumstritten ist, jedoch zumindest im Falle einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung offenbar kein Weg an einer Verwendung – und folglich auch einer Definition und Eingrenzung – dieser Kategorie vorbei führt (vgl. hierzu auch Cloerkes 2007: 8). Die dritte Gruppe bezieht sich im Kern auf den Einwand, wonach die Kategorisierung als „behindert“ (Argument der Individualisierung) bzw. die mit bestimmten Definitionen einhergehende „Orientierung an objektiv bestimmbaren biologischen Merkmalen von Personen“ (Argument des ungerechtfertigten Essenzialismus/zit. nach Felkendorff 2003) ein eigentlich gesellschaftlich erzeugtes Problem unberechtigterweise auf der individuellen Ebene verorte. Überlegungen dieser Art legten u.a. den Grundstein für die Entwicklung des so genannten sozialen Modells von Behinderung als Gegengewicht zu einer auf individuelle bzw. medizinische Aspekte fokussierten Sichtweise. Zur Erläuterung dieser Argumentationslinie sollen nachfolgend die Ausführungen Anne Waldschmidts zitiert werden: „[Das] individuelle (präziser wäre wohl: individualistische) Modell18, das sich in medizinischen und psychiatrischen genauso wie in pädagogischen, psychologischen und soziologischen Diskursen findet und auch lebensweltlich die vorherrschende Perspektive ist, setzt Behinderung mit der körperlichen Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung gleich und deutet sie als schicksalhaftes, persönliches Unglück, das individuell zu bewältigen ist. Als geeigneter Lösungsansatz gilt die medizinisch-therapeutische Behandlung. Die Gesellschaft kommt bei diesem Modell nur insofern ins Spiel, als allgemein vorhandene Vorurteilsstrukturen als hinderlich für das individuelle Coping-Verhalten und die Annahme einer >behinderten Identität< betrachtet werden.“ (Waldschmidt 2005: 16f.)

Als wesentlicher Dreh- und Angelpunkt ist hierbei die von der Weltgesundheitsorganisation im Jahre 1980 entwickelte ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilties and Handicaps) zu konstatieren (vgl zu Überblicks-

18 In der Literatur findet sich auch häufig die Bezeichnung „medizinisches Modell“, die nach Kastl allerdings in die Irre führe, denn streng genommen existiere kein spezifisches medizinisches Modell. Er stuft diese Formulierung vielmehr ein als „(fach-)politischen Schachzug derer, die das ‚soziale Modell‘ der Behinderung durchsetzen wollen und zu diesem Zweck einen möglichst leicht besiegbaren Gegner aufbauen mussten“ (Kastl 2010: 48).

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zwecken: Cloerkes 2007: 5f.). Die ICIDH beruht auf der in Tabelle 1 skizzierten Unterscheidung zwischen impairment, disability und handicap. Tabelle 1: Impairment, Disability, Handicap Termninus

Übersetzung

Erläuterung

impairment

Schädigung

Störung auf der organischen Ebene (menschlicher Organismus allgemein)

disability

Beeinträchtigung

Störung auf der personalen Ebene (Bedeutung für einen konkreten Menschen)

handicap

Benachteiligung

Mögliche Konsequenzen auf der sozialen Ebene (Anm.: Diskriminierungen)

Quelle: im Wortlaut übernommen nach: Cloerkes 2007: 5

Wie Waldschmidt ausführt, entspringt die ICIDH somit einem rehabilitationsorientierten Blick auf Behinderung (also dem individuellen/individualistischen Modell), während das soziale Modell seinen Ursprung gerade in der Kritik an dieser ICIDH findet. Die Haupteinwände wurden implizit bereits in den vorangegangenen Ausführungen thematisiert (vgl. im Folgenden: Barnes et al. 1999: 24ff.; Waldschmidt 2005: 15). Moniert wurde z.B. die einseitig medizinische Prägung der zu Grunde liegenden Begrifflichkeiten sowie des Normalitätsbegriffs. Zudem lege die ICIDH nahe, dass die ausschließliche Ursache für Behinderungen sowie Benachteiligungen in individuellen Schädigungen, eine adäquate Lösungsstrategie folglich in geeigneten Rehabilitationsmaßnahmen zu suchen sei, während Gesellschaft und Umwelt als mögliche Einflussgrößen nicht weiter hinterfragt würden. Das Individuum verharre somit zum einen in einer Position der Abhängigkeit (z.B. gegenüber Therapeuten, Experten etc.) und sehe sich zum anderen konfrontiert mit der Erwartungshaltung, persönliche Anstrengungen mit dem Ziel einer Bewältigung der Situation und einer daraus resultierenden möglichst optimalen Anpassung an die Gesellschaft zu unternehmen. Für die Entwicklung des sozialen Modells wurden die ursprünglich drei ICIDH-Kategorien zusammengefasst zu der (bereits in Kapitel 1.2 kurz angedeuteten) Trennung von impairment (Funktionseinschränkungen im körperlichen, geistigen und seelischen Bereich) und disability (Beschränkung der gesellschaftlichen Teilhabechancen), die Kernaussage des sozialen Modells formuliert Waldschmidt wie folgt:

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„Behinderung ist kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation. Sie entsteht durch systematische Ausgrenzungsmuster, die dem sozialen Gefüge inhärent sind. Menschen werden nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigungen behindert, sondern durch das soziale System, das Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet. Während das individuelle Modell den Körperschaden oder die funktionale Beeinträchtigung als Ursachenfaktor ausmacht, geht das soziale Modell von der sozialen Benachteiligung als der allein entscheidenden Ebene aus. Entsprechend wird soziale Verantwortlichkeit postuliert und die Erwartung, dass nicht der einzelne, sondern die Gesellschaft sich ändern müsse.“ (Waldschmidt 2005: 18)

Waldschmidt selbst entwickelt darüber hinaus ein so genanntes kulturelles Modell von Behinderung. Hintergrund ist hierbei die Annahme, dass sowohl das individuelle als auch das soziale Modell Behinderungen jeweils als ungelöste Probleme einstufen, die beiden Modelle sich also vorwiegend unterscheiden in der Frage, welche Lösungsstrategien als sinnvoll erachtet werden. Wünschenswert sei demzufolge ein ergänzendes Paradigma, in dem unter Behinderung „eine spezifische Form der ‚Problematisierung‘ körperlicher Differenz“ (ebd.: 24) verstanden werde. „Der kulturwissenschaftliche Ansatz ist deshalb so spannend, weil mit ihm die Perspektive umgedreht wird: Nicht behinderte Menschen als Randgruppe, sondern die Mehrheitsgesellschaft wird zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Wagt man diesen Perspektivenwechsel, so kann man überraschend neue Einsichten gewinnen, zum Beispiel in der Art und Weise, wie Wissen über den Körper produziert wird, wie Normalitäten und Abweichungen konstruiert werden, wie exklusive und inklusive Praktiken gestaltet sind, wie Identitäten geformt und neue Subjektbegriffe geschaffen werden. Außerdem geht das kulturelle Modell davon aus, dass Sozialleistungen und Bürgerrechte allein nicht genügen, um Anerkennung und Teilhabe zu erreichen, vielmehr bedarf es auch der kulturellen Repräsentation.“ (ebd.: 26f.)

Allerdings geht es Waldschmidt nicht etwa um die Schaffung eines alternativen Ansatzes anstelle des sozialen Modells, sondern um die Etablierung einer ergänzenden Perspektive; nicht zuletzt, „um der Interdisziplinarität der Disability Studies gerecht zu werden, schließlich zeichnen sie sich durch die Kooperation von Kultur- und Sozialwissenschaften aus“ (ebd.: 28). Aus der hier skizzierten Entwicklung lässt sich ableiten, dass sich zumindest auf der theoretischen Ebene zunehmend jene Perspektiven etablieren, in denen Behinderung als perspektivenübergreifende Erfahrung verstanden und in denen

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folglich ein ganzheitlicher Blick auf Behinderung proklamiert wird. Einem solchen Anspruch folgt offenbar auch die seitens der Weltgesundheitsorganisation als Nachfolgemodell zur bereits diskutierten ICIDH entwickelte ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health), die an dieser Stelle allerdings nur in knappen Grundzügen skizziert werden kann (vgl. Originalquelle: WHO 2001, weiterführend u.a. Schuntermann 2007)19. Ein Verweis auf diese ICF darf in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Behinderungsthematik als nahezu obligatorisch angesehen werden, handelt es sich hierbei nach Einschätzung von Reinhardt/Gradinger (2007: 93) doch „um nicht mehr und nicht weniger das erste weltweit akzeptierte biopsychosoziale Rahmenmodell der Funktionsfähigkeit und Behinderung.“ Dass auch dieses Modell mittlerweile in Teilbereichen kritisiert wurde und nicht zuletzt die WHO selbst Schwächen eingeräumt hat (vgl. u.a. Hirschberg 2003), ist insofern lediglich ein weiteres Indiz für die bereits geschilderte Aussichtslosigkeit des Unterfangens, den einen perfekten Behinderungsbegriff zu finden. Konkret stellt sich das ICFRahmenmodell gemäß Abbildung 1 dar.

Abbildung 1: Das ICF-Rahmenmodell

Quelle: WHO 2001: 18, hier zit. nach: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm (Stand: 18.07.2012/Abfrage: 06.09.2012). Alle Rechte liegen bei der WHO. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der WHO im Sinne der Sonderregelung für wissenschaftliche Arbeiten.

Die ICF ist im Kontext eines universalistischen und ermächtigungsorientierten (Anm.: empowerment/enabling) Verständnisses von Behinderung zu betrachten und bildet insofern z.B. einen theoretischen Kontrast zu dem häufig kritisierten

19 Der Verfasser dankt außerdem Jan Reinhardt für seine wertvollen Hinweise und Formulierungsvorschläge im Zusammenhang mit diesem ICF-Kurzüberblick.

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Bild des hilflosen und von der Gesellschaft abhängigen Menschen mit Behinderungen. Basis hierfür ist insbesondere die Berücksichtigung von Umweltfaktoren, die Behinderung verursachen, verstärken, mildern oder beseitigen können. Das Verständnis der sozialen und geo-physischen Umwelt von Menschen mit Gesundheitsproblemen als potentielle Determinanten von Behinderung hat ebenfalls wesentlich zu dem durch die UN-Konvention symbolisierten Paradigmenwechsel hin zu einem rechtsbasierten gesundheitspolitischen Ansatz beigetragen. Die Ursachen für Behinderung werden nicht mehr ausschließlich im Körper von Betroffenen und persönlichen Lebensweisen, sondern in teilweise modifizierbaren Umweltgegebenheiten gesehen. Dies impliziert das Recht auf Veränderung dieser Umweltbedingungen (Reinhardt 2009). Ein zu diesem Modell gehörendes „1424 Codes umfassendes Klassifikationssystem kann zur international einheitlichen Erfassung von Funktionsfähigkeit und Behinderung in klinischen [...] und Public Health [...] Kontexten eingesetzt werden“ (Reinhardt/Gradinger 2007: 93). Gemäß des ICF-Rahmenmodells werden „Behinderung und Funktionsfähigkeit20 [...] also von objektiven Eigenschaften einer Person zu kontextabhängigen Erfahrungen, die vor dem Hintergrund eines Gesundheitsproblems die biologische, psychische sowie soziale Seite menschlicher Existenz gleichermaßen umfassen“ (Reinhardt/Stucki 2007: 22). Der Terminus Funktionsfähigkeit „umfasst [...] die Komponenten Körperfunktionen und -strukturen inkl. psychologischer Funktionen, Aktivitäten und Partizipation [...]. Vor dem Hintergrund eines Gesundheitsproblems liegt eine Behinderung dann vor, wenn eine, mehrere oder alle Komponenten der Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sind.“ (ebd.: 23)

Die personenbezogenen Faktoren verweisen darauf, dass Behinderung zudem im Kontext individuell unterschiedlicher Lebensumstände zu sehen ist, die Erfahrungen zweier Personen mit gleicher Behinderung also völlig unterschiedlich sein können (vgl. ebd.: 23). Zu den Umweltfaktoren zählen z.B. Infrastruktur, Gesetzesentwürfe, allgemeine Einstellungen, auch – und dies ist für die vorliegende Thematik von besonderer Relevanz – Mediendienste (vgl. Reinhardt/Gradinger 2007: 94f.). Zusammenfassend lässt sich nach Wansing aus dem ICF-Rahmenmodell folgende Kernaussage ableiten:

20 Der Terminus „Funktionsfähigkeit“ basiert auf einer Übersetzung von “functioning” bzw. “human functioning”.

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„Behinderung ist nach diesem Modell das Ergebnis der negativen Wechselwirkung einer Person, ihrem Gesundheitszustand und ihren Umweltfaktoren: Behinderung entsteht folglich immer dann, wenn eine unzureichende Passung zwischen einer Person und den Umweltfaktoren vorliegt.“ (Wansing 2006: 79)

Interessante Anknüpfungspunkte für die vorliegende Thematik liefert schließlich noch eine der gängigsten soziologischen Begriffsbestimmungen, die daher in einem gesonderten Kapitel diskutiert werden soll.

3.1.2 Der Definitionsvorschlag nach Cloerkes und seine Bedeutung für die Einordnung der vorliegenden Thematik Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Kapitel ist die u.a. im Standardwerk „Soziologie der Behinderten“ (Cloerkes 2007) aufgeführte (und ursprünglich gemeinsam mit Dieter Neubert entwickelte)21 interaktionistische Annäherung nach Günther Cloerkes (vgl. weiterführend auch Kastl 2010: bes. 121ff.)22 . „Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird. Dauerhaftigkeit unterscheidet Behinderung Krankheit. Sichtbarkeit ist im weitesten Sinne das Wissen anderer Menschen um die Abweichung.“ (Cloerkes 2007: 8, eigene Hervorhebung) „Ein Mensch ist behindert, wenn erstens eine unterwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist.“ (ebd.: 8)

21 Vgl. hierzu die weiterführenden Quellenverweise bei Cloerkes (2007: 7f.). 22 Kastl (2010: 108ff.) entwickelt in seinen Ausführungen einen eigenen Definitionsvorschlag, den er summa summarum „als eine Anknüpfung an und Differenzierung von Cloerkes Definition“ (ebd.: 122) einstuft. Da die für den weiteren Gang der vorliegenden Arbeit entscheidenden Aspekte jedoch durch die Ausführungen von Cloerkes hinreichend abgedeckt sind, kann und soll auf eine explizite Diskussion des von Kastl vorgebrachten Vorschlages verzichtet werden.

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Mit den unterschiedlichen Definitionen für „Behinderung“ und „behinderter Mensch“ verdeutlicht Cloerkes, dass eine „negative Bewertung einer Andersartigkeit als Behinderung […] durchaus nicht zwangsläufig verknüpft [ist] mit einer entsprechend negativen Reaktion auf einen Menschen mit dieser Andersartigkeit“ (ebd.: 8), hier also zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte vorliegen. Der Sichtbarkeitsaspekt beschränke sich ausdrücklich nicht auf die visuelle Ebene der Wahrnehmung, sondern erfasse „im weitesten Sinne den Tatbestand, daß das Merkmal Stimulusqualität haben muss“ (ebd.: 8). Als zentrales Kriterium seiner Begriffsbestimmung sieht Cloerkes die „negativ bewertete soziale Abweichung von sozialen Erwartungen“ (ebd.: 9). Die Frage, was mit „sozialen Erwartungen“ eigentlich gemeint sei, führt zu einem weiteren wesentlichen Aspekt, der implizit auch aus den Überlegungen des vorangegangenen Kapitel abgeleitet werden kann: „Behinderung ist nichts Absolutes, sondern erst als soziale Kategorie begreifbar. Nicht der Defekt, die Schädigung, ist ausschlaggebend, sondern die Folgen für das einzelne Individuum“ (ebd.: 9). So decke sich die subjektive Bedeutung einer Behinderung für den einzelnen nicht notwendigerweise mit dem (quasi-objektiv) erhobenen Behinderungsgrad, ebenso seien die Folgen einer Behinderung in der Regel nicht in allen Lebensbereichen (z.B. Arbeit vs. Freizeit) gleichermaßen spürbar23. Nicht zuletzt sei die kulturelle Bedingtheit der sozialen Reaktion zu berücksichtigen: „Was bei uns als Behinderung gilt, muß woanders durchaus nicht so gesehen werden und umgekehrt“ (ebd.: 10), wie sich etwa durch die Gegenüberstellung der in unseren Kulturkreisen bekannten Kategorie „Lernbehinderung“ mit dem weltweiten Ausmaß von Analphabetismus verdeutlichen ließe. Angesichts der Fokussierung auf die Reaktion eines Interaktionspartners auf ein negativ bewertetes Merkmal als entscheidendes Kriterium für eine Behinderung weist der Definitionsvorschlag von Cloerkes unverkennbare Parallelen zum (in den vergangenen Kapiteln übrigens bereits mehrfach verwendeten) StigmaBegriff im Sinne Goffmans auf:

23 So hat – in Anlehnung an das von Cloerkes (2007: 9f.) aufgeführte Beispiel – für einen passionierten Musiker z.B. die Amputation eines kleinen Fingers (Grad der Behinderung: 10%) wohl in der Regel eine andere (subjektiv empfundene) Bedeutung als für einen Telefonisten und möglicherweise sogar weit essentiellere Konsequenzen als manch andere Behinderung, der ein weit höherer amtlicher Schweregrad zugeschrieben würde.

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„Ein Individuum, das leicht in gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und bewirken kann, daß wir uns bei der Begegnung mit diesem Individuum von ihm abwenden, wodurch der Anspruch, den seine anderen Eigenschaften an uns stellen, gebrochen wird. Es hat ein Stigma, das heißt, es ist in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert haben.“ (Goffman 1970: 13)

Ein Stigma ist demnach „eine Eigenschaft [...], die zutiefst diskreditierend ist“ (ebd.: 11). Zu ergänzen ist allerdings, dass dieses diskreditierende Moment nicht im Sinne allgemeingültiger Aussagen, sondern lediglich relational erfasst werden könne: „Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend.“ (ebd.: 11)

In Anlehnung an diese Überlegung besagt z.B. der Vorwurf, die Werbung neige zu unrealistischen Idealbildern, nichts anderes, als dass auch Merkmale, die in alltäglichen Interaktionssituationen gerade als Zeichen der Normalität bewertet werden, aus Werbesicht bereits als (diskreditierende) Nichterfüllung eines Perfektionstypus aufgefasst werden können. Goffman unterscheidet drei Typen von Stigmata, die im Folgenden ebenfalls anhand des Originalwortlautes der damaligen deutschen Übersetzung wiedergegeben werden sollen24.

24 Außer Acht gelassen wird hierbei allerdings die Frage, inwieweit die damaligen Formulierungen heute noch zeitgemäß bzw. auch aus sonstigen Gründen problematisch sind. Man denke insbesondere an den Aufschrei, den die Einordnung bestimmter Phänomene (z.B. „Geistesverwirrungen“, Homosexualität) der zweiten Kategorie als „individuelle Charakterfehler“ spätestens aus heutiger Sicht ohne Zweifel hervorrufen wird. Zur „Ehrenrettung“ sei allerdings angeführt, dass es bei dieser Kategorisierung wohl vorwiegend darum geht, dass diese Phänomene von außen stehenden Interaktionspartnern wohl als individuelle Charakterfehler interpretiert werden können (bzw. dass gerade zum damaligen Zeitpunkt eine solche Interpretation wohl sehr wahrscheinlich war) – und nicht um die wissenschaftliche Triftigkeit einer solchen Einordnung.

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„Erstens gibt es Abscheulichkeiten des Körpers – die verschiedenen physischen Deformationen. Als nächstes gibt es individuelle Charakterfehler, wahrgenommen als Willensschwäche, beherrschende oder unnatürliche Leidenschaften, tückische und starre Meinungen und Unehrenhaftigkeit, welche alle hergeleitet werden aus einem bekannten Katalog, zum Beispiel von Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Sucht, Alkoholismus, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Selbstmordversuchen und radikalem politischen Verhalten. Schließlich gibt es die phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation und Religion.“ (ebd.: 12f.)

Das Phänomen Behinderung kommt hierbei in den ersten beiden Kategorien vor, doch wird zugleich deutlich, dass Goffmans Stigma-Begriff weit über den Behinderungskontext hinausgeht, somit aber auch jene Phänomene beinhaltet, deren Frage nach der Einordnung (oder ggf. Nicht-Einordnung) als Behinderung offensichtlich sehr eng mit den zu Beginn des Kapitels geschilderten Probleme der (fehlenden) Trennschärfe bzw. der Überforderung des Behinderungsbegriffs verknüpft sind. So plädiert Cloerkes – unter Berufung auf Heese (1995) – z.B. dafür, „»Entstellungen« auch ohne irgendwelche Funktionsbeeinträchtigungen“ (Cloerkes 2007: 108) als Behinderung einzuordnen; ähnliches gelte auch für „verbreitete »kosmetische« Auffälligkeiten wie Fettleibigkeit, Akne oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalte“ (ebd.: 108). Cloerkes begründet dies mit dem seiner Einschätzung nach zunehmenden Stellenwert eines makellosen Äußeren bzw. dem Umstand, dass Personen, die diesen (u.a. durch die Massenmedien proklamierten) Anforderungen nicht gerecht werden (können), mit entsprechenden Stigmatisierungstendenzen zu rechnen hätten (vgl. ebd.: 108): Vor diesem Hintergrund scheint die Einordnung solcher Phänomene als Behinderung also durchaus plausibel. Allerdings ist zugleich nicht davon auszugehen, dass Entstellungen – und noch weniger z.B. Fettleibigkeit – im Alltagsjargon mit diesem Etikett assoziiert werden und es demzufolge wohl nicht ratsam wäre, in der vorliegenden Arbeit ein derart breit gefasstes Behinderungsverständnis zu Grunde zu legen (vgl. hierzu die Ausführungen im nachfolgenden Kapitel). Gleichwohl liefern die hier skizzierten Überlegungen, wie zum Abschluss des vorangegangenen Kapitels bereits angedeutet wurde, hochinteressante Anknüpfungspunkte für die Einordnung der vorliegenden Thematik: So fügt sich der Definitionsvorschlag von Cloerkes nahtlos ein in die bereits zu Beginn der Arbeit aufgeführten Erklärungsversuche für die Fast-Unsichtbarkeit von Behinderung in der Werbung: Behinderung wird tendenziell als Negativmerkmal eingestuft und fällt demnach der durch die Ausblendungsregel unterstellten Omnipositivität der Werbung zum Opfer. Die Überlegungen zum Stigma-Begriff erinnern wiederum daran, dass der Wirkungskreis der Ausblendungsregel neben der

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Behinderungsthematik noch eine ganze Reihe weiterer Phänomene umfasst, die allerdings durch das Raster der thematischen Fokussierung dieser Arbeit (eben „Behinderung“) fallen: Abgesehen von den bereits genannten und mit der Behinderungsthematik je nach Standpunkt noch mehr oder weniger verwandten Themenfeldern „Entstellungen“ oder „Fettleibigkeit“ kann hier z.B. auch auf die deutliche Unterrepräsentanz von bestimmten Nationalitäten oder Homosexualität in der für eine möglichst breite Zielgruppenbasis bestimmten Werbung verwiesen werden (vgl. Schnierer 1999: 227)25. Nun dürfe die weitgehende Ausblendung bestimmter Phänomene nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbstverständlich auch Träger solcher Merkmale als Konsumenten von Alltagsprodukten in Erscheinung treten und damit implizit auch durch entsprechende Werbung erreicht werden sollen (vgl. ebd.: 227)26. Menschen mit Behinderungen sind demnach, ebenso wie Träger manch anderer weitgehend ausgeblendeter Merkmale, als potenzielle Adressaten von Werbebotschaften sicherlich deutlich relevanter, als es ihre gegenwärtige Präsenz in der

25 Menschen mit Behinderungen werden von Schnierer zwar ebenfalls erwähnt, spielen jedoch abgesehen von dieser bloßen Nennung in den anschließenden Erläuterungen keine Rolle. Der Vollständigkeit halber ist zu ergänzen, dass Schnierer sich im Originalzitat auf eine recht breite Merkmalspalette bezieht: „Behinderte, Alkoholiker, Obdachlose und Prostituierte findet man zum Beispiel zumindest in der auf breite Aufnahme abzielenden Werbung so gut wie überhaupt nicht. Übergewichtige, Alleinerziehende, Alte, ausländische Mitbürger aus bestimmten Herkunftsländern (zum Beispiel Türkei und Jugoslawien, aber nicht Italien und Frankreich) und Homosexuelle sind stark unterrepräsentiert“ (Schnierer 1999: 227). Auch wenn Schnierers Auffassung, dass die genannten Phänomene wohl allesamt als Stigma eingestuft werden können, zugestimmt werden kann, so bieten sich in manchen Fällen sicherlich näher liegende Erklärungsansätze zur Begründung empirisch feststellbarerer Ausblendungstendenzen an. So ist etwa das weitgehende Fehlen von Obdachlosigkeit wohl in erster Linie einem zweiten werbetypischen Ausblendungsmechanismus geschuldet: „Wer nicht zahlen kann, der zählt für die Werbung nicht“ (Schmidt 2001: 73). Insofern kann nach Schmidt von einer „doppelten Ausblendungsregel“ (ebd.: 73, eigene Hervorhebung) gesprochen werden. 26 Der angloamerikanischen Debatte ist bekanntlich (vgl. Kapitel 2.1) u.a. zu entnehmen, dass Werbende sich dieser Tatsache zunehmend bewusst sind und exakt dieses Bewusstsein wesentlich dazu beigetragen hat, Menschen mit Behinderungen verstärkt als potenzielle Zielgruppe in den Fokus von Unternehmen zu rücken.

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Werbung widerspiegelt. Zur Erklärung dieser Diskrepanz führt Schnierer zwei Begründungen auf, die sich nicht zuletzt auch anhand der Problematik einer Annäherung an den Behinderungsbegriff erläutern lassen. Der erste Grund: Die Träger solcher Merkmale sind als Personenkreis bereits in sich zu heterogen, um sie als eine einzige Zielgruppe aufzufassen und anzusprechen (vgl. ebd.: 227). Diese Einschätzung fügt sich nahtlos ein in die Erkenntnis, dass der Behinderungsbegriff in erster Linie eine (ja durchaus umstrittene) Sammelkategorie darstellt (vgl. Kapitel 3.1) und ein Werbetreibender sich insofern mit völlig unterschiedlichen, z.T. sogar gegensätzlichen, Bedürfnisstrukturen, konfrontiert sieht. Wer etwa für Barrierefreiheit wirbt, sollte sich z.B. bewusst sein, dass das Absenken von Bordsteinen für Rollstuhlfahrer zwar sicherlich eine mobilitätsfördernde Anpassung der Umweltbedingungen bedeutet, jedoch für blinde Menschen wohl eher in einen mobilitätshemmenden Verlust wesentlicher Orientierungspunkte mündet (vgl. zu dieser Überlegung auch Kastl 2010: 54)27. Der Werbetreibende kann sich hier also nur für eine der faktisch zwei Teilzielgruppen entscheiden und muss sich zugleich sehr genau überlegen, ob er es sich leisten kann, die andere ggf. zu verprellen. Und selbst wenn dieses Entscheidungsproblem gelöst wäre, bliebe nach wie vor das altbekannte und auch von Schnierer (1999: 227) angedeutete Risiko, dass wiederum völlig andere Zielgruppen – insbesondere, wenn sie sich aus Nicht-Trägern dieses Merkmals zusammensetzen – bereits die generelle Einbindung des betreffenden Stigmas in die Werbung als Akt der Provokation auffassen können. Vertieft wird die hier skizzierte Problematik allerdings noch durch einen zweiten Grund: Die Träger eines Stigmas neigen dazu, die eigentlich gegen sie gerichteten Vorurteile in ihre eigenen Vorstellungen von Identität einfließen zu lassen und sich somit an den gleichen Leitbildern zu orientieren wie die NichtTräger dieses Stigmas, wobei diese Effekte je nach Merkmal unterschiedlich stark zum Tragen kommen können (vgl. Schnierer 1999: 228; Goffman 1970: 15f.). Auch hier kann wiederum der Sammelbeckencharakter des Behinderungsbegriffs unter Umständen zu der Annahme verleiten, dass es gerade Menschen mit Behinderungen (etwa im direkten Vergleich mit ethnischen Minderheiten) nicht sonderlich leicht fällt, sich solchen Tendenzen zu entziehen:

27 Kastl beruft sich seinerseits auf eine mündliche Mitteilung von Günther Cloerkes. Der Dank des Verfassers gebührt wiederum in erster Linie einem Teilnehmer der Expertenbefragung.

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„Behinderte haben es besonders schwer, zu einem eigenen Bewußtsein zu finden. Sie sind keine eigene Minderheitengruppe28 wie Neger, Gastarbeiter oder Juden. Denn im Gegensatz zu diesen haben sie keine eigenen kulturellen Werte und Normen, keine eigenständige Tradition, die von Familie zu Familie vererbt wird. Sie haben keine Mythen, Sagen, Erzählungen, Tänze, Kulturtechniken, religiösen Bräuche, wie dies bei ethischen Minderheiten der Fall ist. Sie sind mit den Normen und Werten ihrer Umwelt aufgewachsen, streben danach, sich den Unbehinderten anzupassen. Und dem müssen sie meist unterliegen.“ (Klee 1980: 26)

Ergänzt man dann noch die (mit diesen Überlegungen ohnehin eng verwobene) Erkenntnis, dass die sprachliche oder sonstige Etikettierung „behindert“ als unerwünschte Reduktion des gesamten Menschen auf ein tendenziell negativ gerahmtes Merkmal aufgefasst werden kann, besteht durchaus Anlass zu der Vermutung, dass ein Teil der betreffenden Stigma-Träger möglicherweise keinen allzu großen Wert darauf legt, ausgerechnet über eine Bezugnahme auf das diskreditierende Merkmal angesprochen zu werden. Davon unberührt bleibt freilich die hinlänglich bekannte Gegenperspektive, dass die weitgehende Ausblendung solcher real existierender Phänomene wiederum als Bestätigung und ggf. Fortschreibung entsprechender Stigmatisierungstendenzen aufgefasst werden kann und somit ein (anderer) Teil der Betroffenen durchaus für eine verstärkte Präsenz entsprechender Merkmalsträger in der Werbung plädieren würde (siehe auch Schnierer 1999: 228). Im Übrigen verweist die weiter oben nach Goffman zitierte Erkenntnis, ein Merkmal könne nicht pauschal als kreditierend oder diskreditierend eingestuft werden, darüber hinaus auf den ebenfalls bereits angedeuteten Umstand, dass selbst Attribute, die in alltäglichen Interaktionssituationen gerade als untrügliches Normalitätsindiz aufgefasst werden, vom Standpunkt einer auf Idealisierung bedachten Werbenormalität als diskreditierender Makel gelten können, mitunter also auch wesentlich „neutralere“ Merkmale als Behinderung ausge-

28 Ob Menschen mit Behinderungen als Minorität eingestuft werden können oder nicht, wurde im Forschungsverlauf durchaus kritisch diskutiert (vgl. zusammenfassend Cloerkes 2007: 34ff.). Als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner lässt sich offenbar die nachfolgende Einschätzung auffassen: „Die Kategorie der behinderten Menschen bildet ungeachtet ihrer sozialen Differenzierung und der verschiedenen Formen ihrer Behinderungen eine Minderheit, deren gemeinsames Merkmal in der Beschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe liegt.“ (von Ferber 1972: 40)

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blendet werden (und sei es z.B. „nur“ durch nachträgliches Retuschieren einer Fotografie). Abschließend lassen sich aus dem Definitionsvorschlag von Cloerkes und den daran anknüpfenden Bezügen zur Stigmatheorie für den weiteren Gang der Arbeit (und nicht zuletzt die Begriffsbestimmungsproblematik) noch die folgenden beiden Aspekte ableiten: •



Wie ausführlich erläutert, folgt die weitgehende Unsichtbarkeit von Behinderung zwar letztlich einer recht ähnlichen Logik wie die Ausblendung einer Reihe weiterer Merkmale, die als Stigma im Sinne Goffmans interpretiert werden können. Diese Parallelität sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass Behinderung, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung etc. trotz alledem zunächst einmal völlig unterschiedliche Phänomene darstellen und auch als solche behandelt werden sollten: Ob z.B. ein Schüler nicht akzeptiert wird, weil er einer ethnischen Minderheit angehört und deswegen auf innere Barrieren in den Köpfen seiner Klassenkameraden stößt oder ob er auf einen Rollstuhl angewiesen ist und daher auf Grund äußerer Barrieren am Schulbesuch gehindert wird, macht eben durchaus einen wesentlichen Unterschied, auch wenn die damit einhergehenden Exklusionserfahrungen im Endeffekt sehr ähnlich ausfallen mögen29. Da die vorliegende Arbeit sich jedoch explizit mit dem Zusammenspiel von Behinderung und Werbung befasst, untermauert in diesem Sinne gerade die Tragweite der Ausblendungsregel einmal mehr die Notwendigkeit, den Behinderungsbegriff einzugrenzen und ggf. auch von anderen Phänomenen abzugrenzen. Wenn die Werbung gemäß der Ausblendungsregel zur Omnipositivität neigt, nach Cloerkes jedoch die Negativbewertung der jeweiligen Abweichung gerade das Wesen einer Behinderung ausmacht, mag der Ausblendung von Behinderung aus der Werbung auf den ersten Blick etwas Endgültiges anhaften. Zu dieser Schlussfolgerung kann man jedoch nur gelangen, wenn man einen zweiten Kernpunkt der Annäherung von Cloerkes außer Acht lässt, nämlich die Notwendigkeit einer strikten Trennung der Negativbewertung des Merkmals Behinderung von der Beurteilung eines von diesem Merkmal betroffenen Menschen. In diesem Zusammenhang kann etwa auf den Personalisierungseffekt verwiesen werden (vgl. weiterführend Tröster 1990: 154ff.; Clo-

29 Zu ergänzen ist, dass die Abschaffung der äußeren Barrieren in diesem Fall freilich keineswegs die Existenz innerer Barrieren ausschließt.

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erkes 2007: u.a. 111f.): Demnach wird ein einzelner Merkmalsträger tendenziell günstiger wahrgenommen als das zu Grunde liegende Merkmal im Sinne einer unspezifischen Kategorie. Der entscheidende Effekt scheint hierbei, dass das eigentlich negativ bewertete Attribut „Behinderung“ durch andere Informationen über die dahinter stehende Person ergänzt und somit zu einem gewissen Grad überlagert wird. Diese Überlegung könnte sich dann allerdings auch die Werbung zunutze machen, indem sie versucht, durch eine geeignete Darstellung von der Angst vor Abweichungen abzulenken und stattdessen z.B. die Anerkennung der Vielfalt der Spezies Mensch als zentrale Botschaft zu vermitteln. Als theoretischer Bezugsrahmen für eine solche Umdeutung bietet sich das nicht zuletzt aus ökonomischer Sicht zunehmend relevante Diversitäts-Konzept an30. Ein daran anknüpfendes Verständnis von Behinderung würde einen theoretischen Gegenpol zur Ausblendungsregel darstellen und könnte sich somit einerseits in einer erhöhten Sichtbarkeit betroffener Merkmalsträger in der Werbung niederschlagen, jedoch andererseits erst durch die Werbung mit hervorgerufen werden – sofern die Werbenden einen entsprechenden Vorschuss an Mut zur Vielfalt aufbringen. Nach diesen Einblicken in grundlegende Problemstellungen und ausgewählte Definitionsvorschläge soll im folgenden Kapitel nun ein für den vorliegenden Forschungsgegenstand geeignetes Verständnis von Behinderung entwickelt werden.

30 Eine erste (unsystematische) Literaturrecherche erweckt den Eindruck, dass ein wesentlicher Schwerpunkt ökonomischer Arbeiten auf der Frage nach dem Umgang mit – und dem (betriebswirtschaftlichen) Potenzial von – Diversität (z.B. Multikulturalität, unterschiedliche sexuelle Orientierung, aber auch Behinderungen) in Organisationen liegt (vgl. Stellvertretend Becker/Seidel 2006). Einen Einblick in den Gegenstand Diversity-Marketing vermittelt z.B. Stuber (2003).

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3.1.3 Die (schwierige) Vereinbarkeit perspektivenübergreifender Überlegungen und themenspezifischer Fokussierungen Die Ausführungen speziell in Kapitel 3.1.1 führten u.a. zu der Erkenntnis, dass zumindest auf der wissenschaftstheoretischen Ebene ein perspektivenübergreifendes bzw. ganzheitliches Verständnis von Behinderung proklamiert wird. Ein Begriffsverständnis, das diesen Anspruch negiert, wird fast unausweichlich als überholt eingestuft und folglich mit entsprechender Kritik bedacht. Dem gegenüber steht allerdings eine zweite Erkenntnis: Den einen Behinderungsbegriff gibt es alleine schon deshalb nicht, da je nach Fragestellung völlig unterschiedliche Teilaspekte der Behinderungsthematik im Mittelpunkt stehen können und Definitionsversuche sich selbstverständlich am jeweiligen Erkenntnisinteresse orientieren müssen: „Der Gesetzgeber beispielsweise benötigt eine justitiable Definition der Behinderung, um die Anerkennung als Behinderter zu regeln und um den Anspruch auf Sozialleistungen des Staates bzw. der Sozialversicherungsträger [...] zu bemessen [...]. Unter pädagogischen Aspekten stehen die Möglichkeiten der erzieherischen Einflussnahme und Förderung im Vordergrund [...]. Die medizinische Definition betont die Abgrenzung von Krankheit und Behinderung, um den Erfordernissen der medizinischen Rehabilitation [...] Rechnung zu tragen. Eine für sozialpsychologische Fragestellungen fruchtbare Definition sollte die Möglichkeit bieten, die sozialen Konsequenzen, die sich für den Betroffenen aus seiner Behinderung ergeben sowie die Auswirkungen der Behinderung in der sozialen Interaktion miteinzubeziehen.“ (Tröster 1990: 13)

Diese Notwendigkeit einer Fokussierung steht auf den ersten Blick in einem deutlichen Kontrast zum Plädoyer für ein möglichst perspektivenübergreifendes Verständnis von Behinderung. Doch lässt sich dieser Widerspruch auflösen, zumindest aber relativieren, durch den Hinweis, dass auch derartige Ansätze zunächst einmal einem spezifischen Erkenntnisinteresse folgen – nämlich dem eines möglichst ganzheitlichen Blicks auf die Behinderungsthematik – und sie folglich ebenfalls nicht ohne Weiteres für beliebige andere Fragestellungen übernommen werden können. So muss eine Begriffsbestimmung im Zusammenhang mit dem vorliegenden Forschungsgegenstand zunächst einmal einem erkenntnistheoretischen Problem gerecht werden: Eine Reaktion auf eine Werbeanzeige kann selbstverständlich nur dann durch das Zusammenspiel von Behinderung und Werbung erklärt wer-

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den, eine Einbindung der Behinderungsthematik auch als solche erkannt wird, mithin also das Sichtbarkeitskriterium des Definitionsvorschlages von Cloerkes (2007: 8) – nämlich „im weitesten Sinne das Wissen anderer Menschen um die Abweichung“ (siehe ausführlich Kapitel 3.1.2) – als erfüllt betrachtet werden darf. Zumindest zur Klärung dieser erkenntnistheoretischen Teilproblematik können jedoch Überlegungen, inwieweit Behinderung eher als individuelles Schicksal, soziales Problem oder eigenständige kulturelle Repräsentationsform verstanden werden sollte und/oder welche Sphären (in Anlehnung an das ICFRahmenmodell) die Erfahrung einer Behinderung prägen bzw. durch die Erfahrung einer Behinderung beeinflusst werden, de facto keinen Beitrag leisten. Folglich können (und müssen) Erwägungen dieser Art – ungeachtet ihrer ansonsten unbestrittenen Relevanz für eine angemessene Annäherung an die Behinderungsthematik – an dieser Stelle zunächst zurückgestellt werden. Das Sichtbarkeitskriterium kann, soweit es Werbedarstellungen betrifft, prinzipiell auf zweierlei Art erfüllt werden: •



Darstellung: Die Behinderung erschließt sich entweder visuell oder situativ (z.B. durch die Interaktionssituation). Relevant für die visuelle Ebene ist allerdings weniger die Behinderung selbst, sondern vielmehr deren Visualisierbarkeit, ggf. durch leicht erkennbare Symbole: Entscheidend ist also z.B. der Rollstuhl, nicht jedoch die zu Grunde liegende Gesundheitsstörung, die den Gebrauch dieses Hilfsmittels notwendig macht. Zugleich bedeutet dies: Das Kriterium der Sichtbarkeit ist dann gegeben, sobald eine bestimmte Behinderung dargestellt wird – und zwar unabhängig davon, ob diese Behinderung (bzw. überhaupt eine Behinderung) tatsächlich vorliegt. Thematisierung: Die Behinderung wird im Rahmen der Werbeanzeige in Wort und/oder Schrift mindestens erwähnt – wobei auch hier die Möglichkeit, dass die betreffende Behinderung real nicht vorliegt, in Erwägung zu ziehen ist.

Wichtig ist, dass insbesondere das zweite Kriterium zunächst keine Behinderungsform per definitionem ausschließt, denn auch unsichtbare bzw. nur schwer zu visualisierende Behinderungsarten können rein theoretisch jederzeit in einer Werbeanzeige erwähnt werden. Ein Ansatz für weitere Eingrenzungen ergibt sich allerdings aus einer zweiten Fragestellung: Inwieweit kann plausibel davon ausgegangen werden, dass eine Anspielung auf Behinderung auch als solche wahrgenommen wird? Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass auch

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diese Frage wohl kaum generell beantwortet werden kann. In der vorliegenden Arbeit scheint insbesondere die Unterscheidung von zwei Konstellationen relevant. •



Führt der Forscher die Behinderungsthematik aktiv – etwa durch einen themenrelevanten Stimulus – in die Feldphase ein, muss er sich zweifelsfrei darauf verlassen können, dass möglichst jeder Untersuchungsteilnehmer – also insbesondere auch eine nicht einschlägig bewanderte Person – darin eine Darstellung bzw. Thematisierung von Behinderung erkennt. Nach dieser Perspektive wäre es also empfehlenswert, das prinzipiell sehr breite Spektrum möglicher Behinderungsarten auf ein relativ enges Repertoire zu begrenzen, wohl wissend, dass eine solche Eingrenzung als problematische Verengung des Behinderungsbegriffs kritisiert werden kann31. Wird der Forscher dagegen passiv (etwa durch den Hinweis eines Befragten) mit einem in Frage kommenden Phänomen konfrontiert, kann er seine Entscheidung für oder gegen eine Einordnung als Behinderung im Zweifelsfall anhand mehr oder weniger objektiv nachvollziehbarer Kriterien – etwa unter Bezugnahme auf das in Kapitel 3.1.1 angesprochene Klassifikationssystem der ICF – rechtfertigen.

Entscheidend ist hierbei, dass in dieser Studie – je nach Phase im Forschungsverlauf (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4.6) – mal der einen, mal der anderen Perspektive eine höhere Bedeutung beizumessen ist. So sollte sich die bereits mehrfach kurz erwähnte quantitative Online-Befragung eher an der ersten Variante orientieren, zumal die theoretische Alternative, das Behinderungsverständnis der einzelnen Befragungsteilnehmer zu erheben, in der Regel mehr Probleme schaffen als beheben würde32. Dagegen scheint es sinnvoll, für allgemeine for-

31 So kritisiert etwa Radtke (2003: 9) in seinen Ausführungen zum „Bild behinderter Menschen in den Medien“ auch die einseitige Fokussierung auf wenige Behinderungsarten und insbesondere die weitgehende Ausklammerung unsichtbarer Behinderungen. 32 Dies beginnt bereits mit der grundsätzlichen Entscheidung, ob in diesem Fall eine offene bzw. geschlossene Frage vorzuziehen ist (mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen), beinhaltet ferner Überlegungen zu möglichen negativen Auswirkungen einer solchen Fragestellung auf die Teilnahmebereitschaft (bei offenen Fragen z.B. angesichts des Zeitaufwandes für den Teilnehmer, bei geschlossenen Fragen z.B. auf Grund einer

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schungstheoretische Überlegungen sowie die als Leitfadeninterviews ausgerichteten Expertenbefragungen die zweite Variante vorzuziehen. Insofern scheint eine zweigleisige Annäherung an den Behinderungsbegriff angebracht: Im Rahmen der Online-Befragung (und damit implizit auch der zweiten Expertenbefragungswelle33) soll Behinderung verstanden werden als ein durch Visualisierung, Symbolisierung und/oder Thematisierung offensichtliches Auftreten eines der nachfolgend aufgeführten Phänomene: •

• • •

wesentliche und – offensichtlich – dauerhafte Einschränkungen im Bereich Mobilität (z.B. symbolisiert durch Rollstuhl oder Gehhilfe) bzw. im Gebrauch von Händen, Armen, Oberkörper; und/oder fehlende Körperteile, Gliedmaßen34. Gehörlosigkeit Blindheit Stummheit

Wie unschwer erkennbar, basiert diese Auflistung im Wesentlichen auf jenen Erscheinungsformen, die gemäß der in Kapitel 3.1.1 zitierten Ausführungen von Kastl (2010) als alltagstypische Assoziationen im Zusammenhang mit dem Schlagwort „Behinderung“ zu vermuten sind, bis auf zwei Ausnahmen: Im Hinblick auf ein konkretes Fallbeispiel (vgl. Kapitel 6.2.6) wird Stummheit als weitere Behinderung ergänzt, dagegen wird der gesamte Bereich der Bereich der so genannten „geistigen Behinderungen“ (und damit implizit auch „DownSyndrom“) von der Online-Befragung ausgenommen.

möglichen Einordnung als Wissenstest) und endet schließlich mit der Vermutung, dass der Erkenntnisgewinn – insbesondere unter Berücksichtigung der gerade geschilderten Probleme – zu gering wäre, um eine solche Frage ernsthaft in Betracht zu ziehen. 33 Das Ziel der zweiten Expertenbefragungswelle besteht darin, ergänzende Einschätzungen zu den in der Online-Befragung eingesetzten Stimuli zu erheben. Folglich ist die Begriffseingrenzung in beiden Untersuchungsphasen die gleiche. 34 Diese Formulierung entstammt einem Vorschlag von Jan Reinhardt.

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In Anlehnung an die zweite Perspektive (passive Konfrontation) können Behinderungsarten, die nicht explizit in der Online-Befragung eingeführt werden, für andere Phasen der vorliegenden Studie (z.B. theoretische Fundierung, erste Expertenbefragungswelle) unter bestimmten Umständen dennoch relevant sein, nämlich: • •

• •

als Bestandteil von Erläuterungen, die zur Veranschaulichung wesentlicher Sachverhalte von Bedeutung sind falls sie anlässlich der Expertenbefragungen auf eindeutige Initiative des Befragten hin thematisiert werden und ein Verweis auf die betreffenden Passagen sinnvoll scheint mit Einschränkungen (s.u.) auch im Zusammenhang mit der Erhebung, Beschreibung und Bewertung bereits vorhandener Werbeanzeigen und soweit es insbesondere die mit einer retrospektiven Bewertung der Sonnenblumen-Kampagne zumindest implizit einhergehende Thematisierung von „Trisomie 21“ bzw. „Down-Syndrom“ erfordert.

Gerade im Zusammenhang mit konkreten Fallbeispielen konkurriert die Flexibilitätsoption mit den eher engen Grenzen der erkenntnistheoretischen Perspektive, denn selbst wenn eine Gesundheitsstörung, die in einem bestimmten Fallbeispiel thematisiert wird, sich gemäß Experteneinschätzungen oder in Anlehnung an die ICF-Klassifikation als Behinderung einstufen ließe, sagt dies nichts darüber aus, ob dieses Phänomen seitens potenzieller Rezipienten auch tatsächlich als Behinderung aufgefasst wird oder welche andere Assoziationen sich möglicherweise ergäben. Ein bewusst breit angelegter Behinderungsbegriff könnte somit zwar rein theoretisch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Werbeanzeigen zu finden, die sich faktisch als themenrelevante Fallbeispiele einordnen ließen. Ob damit allerdings der Aussagekraft einer solchen Erhebung gedient wäre, sei dahingestellt. Darüber hinaus ergibt sich aus sachlogischen Überlegungen die Vermutung, dass ein Werbetreibender, sofern es ihm um die Darstellung bzw. Thematisierung des bloßen Phänomens „Behinderung“ geht, wohl wahrscheinlich eher eine am Alltagsverständnis orientierte und leicht visualisierbare Behinderungsform wählt, wohingegen mit der Thematisierung einer „exotischen“ Behinderung allenfalls

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im Falle zielgruppenspezifischer Werbung (vgl. hierzu auch Kapitel 3.2.2) oder in anderen begründeten Ausnahmefällen35 zu rechnen ist. Nach den ausführlichen Erläuterungen zur Eingrenzung relevanter Behinderungsarten stellt sich nun die Frage, auf welche Weise die Komplexität des Behinderungsbegriffs und insbesondere den in Kapitel 3.1.1 thematisierten Modellen in angemessener Form berücksichtigt werden kann. Ein generelles Problem besteht hierbei in der Tragweite solcher definitorischen Annäherungen: Erhebt ein Modell den Anspruch, möglichst viele Facetten einer Thematik zu integrieren, führt dies in der Regel zu einem Grad an Abstraktheit, der die Ableitung konkreter Aussagen – soweit sie über triviale Allgemeinschauplätze hinausgehen – erschwert. Erläutern lässt sich dies am Beispiel der Anwendbarkeit des sozialen Modells auf wissenschaftliche Fragestellungen: „Die Vielfalt der Ansätze und das Ausmaß der Ansprüche, die mit dem sozialen Modell von Behinderung in Verbindung gebracht werden, haben mit dazu beigetragen, dass aus den Überlegungen kein kohärentes Modell entwickelt wurde, das über die sehr allgemeine Aussage ‚Behinderung ist ein soziales Phänomen‘ hinausginge. Die Grundprämisse ist auch heute noch, dass die Gesellschaft verändert werden muss. Auf der Basis dieser These lassen sich allenfalls politische Manifeste aufbauen, aber keine Forschungsprogramme.“ (Hollenweger 2003: 144)

Faktisch handelt es sich bei der Anmerkung, Behinderung sei (auch) als soziales Phänomen einzustufen, um ein relativ vages (und gerade aus soziologischer Sicht selbstverständliches) Lippenbekenntnis, das der Tragweite des eigentlich hinter dem sozialen Modells stehenden Anspruchs wohl nicht einmal annähernd gerecht werden kann. Wenn es jedoch zugleich höchst fragwürdig scheint, ob

35 Ein Beispiel für eine solche Ausnahme wäre etwa die seitens der forschenden PharmaUnternehmen geschaltete Kampagne „Forschung ist die beste Medizin“ (vgl. hierzu: http://www.vfa.de/de/patienten/patienten-aus-forschung-ist-die-beste-medizin; Abfrage: 22.02.2012): In verschiedenen Werbespots berichteten offenbar authentische Patienten von ihren Gesundheitsstörungen, um die Notwendigkeit medizinischer Forschung zu untermauern. In Anlehnung an die im Rahmen der forschungslogischen Perspektive aufgeführten Überlegungen wäre jedoch zu hinterfragen, inwieweit die darin thematisierten Phänomene, selbst im Falle einer entsprechenden Klassifizierung seitens der ICF, von der breiten Masse ggf. tatsächlich als Behinderung oder eher als seltene bzw. chronische Krankheiten wahrgenommen werden.

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sich darüber hinaus konkret fassbare Aussagen ableiten lassen, heißt dies im Umkehrschluss, dass sich die Bedeutung des sozialen Modells (sowie von Modellen mit vergleichbarer Komplexität) weniger auf der explizit definitorischen, sondern vielmehr auf der implizit argumentativen Ebene erschließt. So ist die in Kapitel 3.1.1 skizzierte Gegenüberstellung von individuellem/sozialem/kulturellen Modell z.B. für die forschungstheoretische Einordnung durchaus von entscheidender Bedeutung: Würde man Behinderung als ausschließlich individuelles Problem mit vorrangig medizinischer Prägung ansehen, gäbe es de facto keinen Anlass, ausgerechnet die Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung näher zu untersuchen. Der Anlass einer solchen Fragestellung erschließt sich erst dann, wenn entweder das soziale Modell und/oder (möglicherweise noch mehr) das kulturelle Modell und/oder das ICF-Rahmenmodell und/oder das Verständnis nach Cloerkes (siehe Kapitel 3.1.2) als Orientierungsrahmen anerkannt werden und in diesem Sinne als latenter Argumentationshintergrund fungieren. Als direkte Konsequenz dieser Sichtweise ergibt sich z.B. die Notwendigkeit einer ausführlichen Diskussion der in der Online-Befragung eingesetzten Stimuli (vgl. hierzu Kapitel 6.2.1 bis 6.2.8). Die hier aufgezeigte Eingrenzung des Behinderungsbegriffs folgt zusammenfassend dem Anspruch, einerseits der Komplexität des Phänomens Behinderung gerecht zu werden, andererseits diese Komplexität (zumindest auf der Ebene der Behinderungsarten) weit genug zu reduzieren, um eine möglichst konsensfähige Operationalisierung für die Feldphase zu gewährleisten. Nach diesen sehr ausführlichen Überlegungen zur Behinderungsthematik widmen sich die nachfolgenden Kapitel der Eingrenzung des bislang weitgehend unkommentierten zweiten Bestandteils der Themenstellung, nämlich der „Wirtschaftswerbung“.

3.2 E INGRENZUNG RELEVANTER W ERBEFORMEN 3.2.1 Begriffsbestimmungen und Eingrenzungskriterium „Wirtschaftswerbung“ Die grundlegenden Begriffsbestimmungen des Forschungsgegenstandes Werbung können (und sollen) wesentlich knapper gehalten werden als die zuvor ausführlich diskutierte Annäherung an den Behinderungsbegriff. Nach Brosius und Fahr lässt sich der gemeinsame Nenner der zahlreichen Werbedefinitionen auf die folgenden fünf Bestandteile zurückführen:

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1. den Gegenstand: Produkte, Dienstleistungen, Unternehmen als Ganzes oder (politische, kulturelle, religiöse) Ideen 2. das Ziel: die Beeinflussung von Meinungen, Kognitionen, Emotionen, Motivationen oder Verhalten von Menschen 3. die Instrumente: Die strategische und systematische Anwendung von Gestaltungstechniken 4. die Art der Kommunikation: Der Versuch, das Werbeziel durch gezielte und offenkundige Beeinflussung zu erreichen. 5. den Kanal: Der Vorzug von bestimmten Verbreitungskanälen (Massenmedien in weitesten Sinne) (zit. nach Brosius/Fahr 1996: 12) Zu einer vergleichbaren Eingrenzung gelangen auch Gabriele Siegert und Dieter Brecheis, deren anschließende Definition allerdings etwas knapper ausfällt: „Werbung ist ein geplanter Kommunikationsprozess und will gezielt Wissen, Meinungen, Einstellungen und/oder Verhalten über und zu Produkten, Dienstleistungen, Unternehmen, Marken oder Ideen beeinflussen. Sie bedient sich spezieller Werbemittel und wird über Werbeträger wie z.B. Massenmedien und andere Kanäle verbreitet.“ (Siegert/Brecheis 2010: 26)

Ein erste, für die vorliegende Studie und insbesondere die Sammlung konkreter Fallbeispiele entscheidende Eingrenzung des Gegenstandes, wurde bereits in den bisherigen Ausführungen implizit angewandt: Soweit nicht ausdrücklich anders erläutert bzw. durch den jeweiligen Kontext eindeutig anders ersichtlich, ist mit Werbung „Wirtschaftswerbung“ gemeint, also „der geplante Versuch, die Meinung und das Verhalten von Menschen durch spezielle Kommunikationsmedien öffentlich zu beeinflussen, um ökonomische Ziele zu erreichen“ (Bohrmann 1997: 37). Andere Werbeformen – etwa Spenden- oder Aufklärungskampagnen – werden von der Fallbeispielsammlung ausgenommen, sind jedoch unter Umständen zumindest als Kontextwissen relevant: Wenn etwa die frühere Aktion Sorgenkind kritisiert wurde mit der Begründung, diese Aktion (und nicht zuletzt die Bezeichnung „Sorgenkind“) trage wesentlich zur Bewahrung des einseitigen Bildes von Menschen mit Behinderungen als mitleiderregende, hilflose und auf ständige Unterstützung der Gesellschaft angewiesene Geschöpfe bei (vgl. zu diesen und weiteren Kritikpunkten v.a. Heiler 1982, Klee 1980: 116ff, Christoph 1990: 104f.), kann dies auch für den Bereich der Wirtschaftswerbung durchaus

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als Indiz für den Grad der Erwünschtheit (bzw. Unerwünschtheit) bestimmter Darstellungsmuster bewertet werden, und wie bereits in früheren Zusammenhängen erwähnt, lassen sich auch aus der Geschichte der Initiative selbst (vgl. zu Überblickszwecken Lingelbach 2010)36 – nicht zuletzt ist hier die Umbenennung in Aktion Mensch hervorzuheben – durchaus auch allgemeine Rückschlüsse auf den allgemeinen Umgang mit der Behinderungsthematik hierzulande ableiten. Zur Veranschaulichung bestimmter Sachverhalte scheint es also durchaus legitim, auch solche Fallbeispiele heranzuziehen. Wirtschaftswerbung wiederum wird „im engeren Sinne [...] mit der Absatzwerbung gleichgesetzt“ (Seebohn 1999b: 244). Diesen Terminus definieren Gabriele Siegert und Dieter Brecheis durch eine entsprechende Spezifizierung ihrer zuvor präsentierten Definition von Werbung im Allgemeinen: „Absatzwerbung ist ein geplanter Kommunikationsprozess und will gezielt über die Beeinflussung von ökonomisch relevantem Wissen, Meinungen, Einstellungen und Verhalten den Absatz von Produkten oder Dienstleistungen steigern. Sie bedient sich spezieller Werbemittel und wird über Massenmedien und andere Kanäle verbreitet.“ (Siegert/ Brecheis 2010: 29)

Zu ergänzen ist allerdings, dass die Sonnenblumen-Kampagne – bzw. die damalige Benetton-Werbestrategie insgesamt – nicht mehr als Produktwerbung im klassischen Sinne einzustufen ist, sondern als „eine bis dahin eher unbekannte Art von Imagewerbung“ (Imbusch 2007: 271). Den Terminus „Imagewerbung“ erläutern Esch und Kroeber-Riel im Zusammenhang mit der Positionierung von Unternehmen: „Ein typisches Anwendungsfeld für die kombinierte – emotionale und informative – Beeinflussung ist die Imagewerbung von Unternehmen. Die mittels Imagewerbung angestrebte Positionierung des Unternehmens zielt im Allgemeinen darauf ab, dem Unternehmen in den Augen der Umworbenen (Abnehmer, Konsumenten, Öffentlichkeit) eine besondere Kompetenz zu geben, die das Unternehmen attraktiv macht und von der Konkurrenz abhebt.“ (Esch/Kroeber-Riel 2011: 102f.)

36 Zu einem weiteren historischen Überblick, der den Fokus allerdings auf die (finanzielle) Erfolgsgeschichte dieser Initiative (und nicht auf die kritische Wahrnehmung seitens Menschen mit Behinderung) legt, siehe Kreusel 2008: bes. 303ff.

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Zu unterscheiden sei hierbei zwischen Sach- und Erlebniskompetenzen. Eine ausführliche Literatursichtung vermittelt den Eindruck, dass der Terminus „Imagewerbung“ als offenbar mehr oder weniger selbsterklärend eingestuft wird. Begriffliche Erläuterungen beschränken sich nicht selten auf den an dieser Stelle allerdings auch völlig ausreichenden Hinweis, dass Imagewerbung – im Gegensatz zur so genannten klassischen Produktwerbung – „nicht ausdrücklich zum Kauf bestimmter Produkte auffordert, sondern darauf abzielt, die Wertschätzung des werbenden Unternehmens bzw. dessen Produkten positiv zu beeinflussen“ (Holtz 2008: 97). So prangte auf den Benetton-Plakaten lediglich das Unternehmenslogo bzw. der hinlänglich bekannte Slogan “United Colors of Benetton”, doch ließ sich aus der Visualisierung gesellschaftlich relevanter Problemfelder kein Bezug zu konkreten Verkaufsartikeln ableiten. Daraus ergibt sich die – zunächst neutrale – Einordnung als Imagewerbung. Die von Imbusch angeführte Ergänzung („besondere Form der Imagewerbung“) ist wiederum der in vorangegangenen Kapiteln hinreichend diskutierten – und durch die in diesem Kontext gängige Bezeichnung „Schockwerbung“37 (siehe u.a. Imbusch 2007: 272) prägnant auf den Punkt gebrachten – speziellen Handschrift der damaligen Benetton-Werbestrategie geschuldet. Abgesehen von der retrospektiven Benetton-Betrachtung spielt reine Image-Werbung in der vorliegenden Arbeit keine große Rolle38. Abschließend ist es erforderlich, noch kurz auf den Begriff des „Werbeträgers“ einzugehen: Üblicherweise bezieht sich dieser Terminus in der einschlägi-

37 Unter Mitberücksichtigung der Ausführungen in Kapitel 2.2 ließe sich jedoch kritisch hinterfragen, inwieweit das Prädikat „Schockwerbung“ zumindest für die Sonnenblumen als Einzelfall (d.h., losgelöst von möglichen Kontexteffekten, die sich aus vorangegangenen Kampagnen ergeben) nicht doch eher ungeeignet wäre. 38 Anzumerken ist allerdings auch, dass unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen gesättigter Märkte, zunehmender Marktdifferenzierung sowie weitgehend austauschbarer Produkte auch in den so genannten klassischen Werbeformen die Frage nach dem Markenimage bzw. einem emotionalen Zusatznutzen des beworbenen Produktes zunehmend in den Mittelpunkt langfristiger Positionierungsstrategien rückt, da die Erfüllung objektiver Qualitätskriterien als selbstverständliches Knock-Out-Kriterium vorausgesetzt wird, folglich also kaum noch als Alleinstellungsmerkmal kommunizierbar ist (vgl. u.a. Esch/Kroeber-Riel 2011: 111). Insofern mag sich die (an dieser Stelle jedoch nicht weiter zu vertiefende) Frage stellen, inwieweit eine strikte Trennung zwischen Absatz- und Imagewerbung diesen Rahmenbedingungen noch gerecht wird.

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gen Fachliteratur auf das Verbreitungs- bzw. Streumedium der Werbebotschaft, also z.B. Zeitung/Zeitschriften, Fernsehen, Internet etc. (vgl. ausführlich Seebohn 1999a). Aus dem in Kapitel 2.2 angeführten Radtke-Zitat (zit. nach Mürner 2003: 152; „Nicht die Tatsache, Werbeträger zu sein...“ usw.) wird allerdings eine andere Bedeutung ersichtlich: Der Begriff „Werbeträger“ meint dort offenbar Personen, die in Werbeanzeigen als Darsteller, Modell – ggf. auch als Testimonial – in Erscheinung treten. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bezieht sich der Terminus „Werbeträger“ auf dieses alternative Begriffsverständnis. Neben der Fokussierung auf „Wirtschaftswerbung“ ergibt sich die Notwendigkeit eines zweiten Eingrenzungskriteriums, das im folgenden Kapitel näher diskutiert und schließlich in Form einer Typologie zusammengefasst wird.

3.2.2 Behinderung und Wirtschaftswerbung – eine Typologie unter Mitberücksichtigung älterer Fallbeispiele “A distinction must be made between community specific advertising campaigns and general campaigns. For example, when the black community or the gay community advocates for better advertising representation they are hoping for more accurate images in advertising to the general public, rather than to specialty group representations. The same is true of disabled people. Most disability-related magazines and other media already have numerous images so the advocacy currently is for more inclusion in advertising to the general population. This is where the disabled community hopes attitudes will be changed through inclusion.” (Haller/Ralph 2001; Abfrage: 24.08.2011: 2)

In einem ersten Schritt verweist dieses Zitat auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Werbung, die sich exklusiv an Menschen mit Behinderungen richtet (im Folgenden: behinderungsexklusive Werbung) und Anzeigen für Alltagsprodukte ohne spezifischen Bezug zur Behinderungsthematik: Wenn etwa ein Rollstuhl beworben werden soll, versteht es sich von selbst, dass entsprechende Behinderungen auch in irgendeiner Form visualisiert oder thematisiert werden müssen – ganz einfach, weil die Behinderung in diesem Fall als Eingrenzung bzw. Abgrenzung der Zielgruppe fungiert. Es bedarf folglich keiner Erläuterung, dass eine Mitberücksichtigung behinderungsexklusiver Werbung den hinlänglich bekannten Befund einer allenfalls marginalen Sichtbarkeit von Men-

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schen mit Behinderungen als Werbeträger zumindest relativieren würde39, doch kann zugleich davon ausgegangen werden, dass sich die Schaltung entsprechender Werbung auch vorwiegend auf zielgruppenspezifische Medien beschränkt und folglich primär innerhalb dieser Zielgruppe wahrgenommen wird, während Außenstehende – sofern sie überhaupt mit entsprechenden Anzeigen in Kontakt kämen – derartige Werbung angesichts des fehlenden Zielgruppenbezugs wohl kaum nachhaltig in Erinnerung behalten würden. In diesem Sinne ist behinderungsexklusive Werbung einzustufen als Sonderfall, der für die weiteren Überlegungen allenfalls am Rande relevant ist und insbesondere bei der Erhebung konkreter Fallbeispiele nicht explizit berücksichtigt werden soll. Die Frage nach möglichen inklusiven Tendenzen durch eine verstärkte Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Werbung stellt sich, wie auch aus der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Einschätzung ersichtlich wird, erst dann, wenn Menschen mit Behinderungen für Alltagsprodukte werben. Für solche Fallbeispiele bietet sich daher die Bezeichnung behinderungsinklusive Werbung an. Eine solche Kategorisierung impliziert allerdings noch eine zweite Bedingung: Die Art der Einbindung sollte so beschaffen sein, dass die jeweiligen Menschen mit Behinderungen quasi stellvertretend für alle potenzielle Konsumenten in Erscheinung treten, in diesem Sinne also ein positiver Bezug zwischen den Werbeträgern und den beworbenen Produkten hergestellt wird. Beruht eine Darstellung dagegen explizit auf einer Abwertung von Behinderung, kann selbstverständlich nicht zugleich das Prädikat inklusiv in Anspruch genommen werden (vgl. zur abgrenzenden Illustration dieses Kriteriums die weiter unten diskutierte Kategorie behinderungskontrastierend). Eine Mischform aus behinderungsexklusiver und behinderungsinklusiver Werbung ergibt sich, wenn ein Alltagsprodukt auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit bestimmten Behinderungen angepasst wird. Das Paradebeispiel wäre hier der Automobilhersteller, der eine speziell für Rollstuhlfahrer um-

39 Allerdings bliebe im Einzelfall zu prüfen, ob die Rolle des Menschen mit Behinderung ggf. tatsächlich von einem authentischen oder aber einem selbst nicht behinderten Darsteller verkörpert wird. Eine empirische Untersuchung hierzu könnte als zukünftige Forschungsfrage durchaus interessant sein, ist jedoch nicht Bestandteil der vorliegenden Studie. Nach Einschätzung von Farnall (2006: 41) stellt der Einsatz nicht behinderter Darsteller in der Funktion von Menschen mit Behinderungen in entsprechender Werbung auch im angloamerikanischen Raum den mit am häufigsten kritisierten Kardinalsfehler dar.

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gerüstete Fahrzeugvariante anbietet und bewirbt. Entsprechende Anzeigen sollen im Folgenden als verhandelnde Werbung40 bezeichnet werden. Die Anpassung der betreffenden Produkte/Dienstleistungen ist – dies darf zumindest vermutet werden – im Regelfall geleitet von der (inklusiven) Zielsetzung, Menschen mit Behinderungen die Teilhabe an bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu vereinfachen oder erst zu ermöglichen. Folgt man dieser Annahme, könnten entsprechende Anzeigen – analog zu behinderungsinklusiver Werbung – interpretiert werden als Signal dafür, dass Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe wie jede andere auch anerkannt sind; als Stichwort bietet sich hier „Barrierefreiheit“ an. Andererseits richtet sich jedoch eine barrierefreie Produktvariante im Endeffekt wiederum vorwiegend, in der Regel sogar quasi exklusiv, an jene Zielgruppe, an deren Bedürfnisse das Ausgangsprodukt angepasst wurde. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Rezeption verhandelnder Werbung insgesamt eher der Logik behinderungsexklusiver als der behinderungsinklusiver Werbung folgt; unabhängig davon, ob der Rezipient von einer inklusiven Motivation des Unternehmens ausgeht oder nicht. Eine Gemeinsamkeit der Kategorien behinderungsinklusiv, verhandelnd und behinderungsexklusiv besteht darin, dass Menschen mit Behinderungen – sei es implizit, sei es ausschließlich – als Zielgruppe relevant sind. Darüber hinaus sind jedoch auch Einbindungsformen denkbar, in denen exakt diese Bedingung nicht erfüllt ist. Ein Beispiel für wurde bereits zu Beginn der Arbeit genannt, nämlich der blinde Autofahrer im Rahmen eines Renault-Werbespots: In diesem Falle wirbt ein behinderter Mensch für ein Produkt, von dessen Nutzung er wegen seiner Behinderung faktisch ausgeschlossen ist. Diese Variante soll im Folgenden als behinderungsdissonante Werbung bezeichnet werden. Eine weitere Form eines negativen Zielgruppenbezugs ergibt sich dann, wenn anstelle der in vielen Werbebotschaften zumindest implizit mitschwingenden Botschaft „Tue dies bzw. kaufe dieses Produkt, damit Du so schön/so glücklich etc. wirst wie die hier gezeigte Person“ der exakt gegenteilige Negativbezug hergestellt wird, nämlich: „Tue dies/kaufe dieses Produkt, wenn Du nicht so werden willst wie die bedauernswerte Person, die Du hier siehst.“ Im Falle der vorliegenden Thematik umfasst diese Kategorie also Anzeigen, in denen Behinderung – in welcher Form auch immer – als Negativkontrast dargestellt wird. Die Bezeichnung behinde-

40 Wie unschwer zu erkennen, beruht diese Formulierung auf der Terminologie des im Rahmen der Cultural Studies entwickelten Lesarten-Modells, das u.a. in den Kapiteln 4.1 und 6.1 (vgl. dortige Quellenverweise) kurz skizziert wird.

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rungskontrastierende Werbung liegt demzufolge auf der Hand. Der Prototyp dieser Variante besteht in der Verbindung von Behinderung mit Angstappellen. Ergänzt werden solche Botschaften dann in der Regel durch entsprechend Mitleid erregende Bilder von Menschen mit Behinderungen. Kurzum greift behinderungskontrastierende Werbung exakt jene Negativ-Stereotype auf, die aus Sicht Betroffener als stigmatisierend empfunden und daher tunlichst vermieden werden sollten (vgl. zur stereotypen Darstellung von Behinderung auch Kapitel 4.4). Die Erläuterungen zu behinderungskontrastierender Werbung werden im Vergleich zu den übrigen Kategorien deutlich ausführlicher gehalten – in erster Linie aus dem einfachen (und nach den bisherigen Ausführungen auch wenig überraschenden) Grund, dass sich gerade für diese Kategorie noch verhältnismäßig viele Fallbeispiele finden: So untermauerte 1978 ein Versicherungsverband die Aufforderung, beim Autofahren die Sicherheitsgurte anzulegen, mit dem Slogan „Verkrüppelt für den Rest des Lebens...ist ein schlimmer Tod!“ (siehe z.B. Christoph 1983: 25) und rief damit scharfe Kritik seitens Menschen mit Behinderungen hervor (vgl. ausführlich Klee 1980: 261ff.), auch der Deutsche Werberat (1985: 269) beanstandete die Anzeige. Die Logik behinderungskontrastierender Werbung findet sich auch in einer u.a. von Cloerkes (2007: 141) kritisch diskutierten Aufklärungskampagne41, deren Botschaft „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung grausam“ zur Gesundheitsvorsorge animieren sollte. Eine vergleichbare Anzeige geriet einige Jahre später ins Visier des Deutschen Werberates (und ist daher eindeutig der Wirtschaftswerbung zuzuordnen): Um zur Impfung gegen Pneumokokken bei Kleinkindern und Säuglingen zu animieren, warb ein Arzneimittelhersteller mit dem Slogan „Taub macht stumm“ – ergänzt um die Darstellung eines (traurig wirkenden) Kleinkindes. Darstellung und

41 Wie bereits erläutert, sind Aufklärungskampagnen für die vorliegende Studie nur bedingt (und für die Erhebung von Fallbeispielen überhaupt nicht) relevant. Festzuhalten ist allerdings, dass sich die Grenzziehung zwischen Wirtschaftswerbung und Aufklärungskampagnen bisweilen weniger durch die Ausgestaltung der Werbung, sondern lediglich durch die Einordnung des Werbetreibenden (als Wirtschaftsunternehmen oder eben z.B. als gemeinnützige Organisation) klären lässt. Gleichwohl mag sich auch im Falle von Nicht-Wirtschaftswerbung die Frage stellen, inwieweit die Motivation zur Aufklärung nicht zuletzt auf finanziellen Erwägungen beruht. In diesem Sinne ist behinderungskontrastierende Werbung häufig als Grenzfall zwischen Aufklärungskampagnen und Wirtschaftswerbung einzustufen.

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Slogan dieser Kampagne wurden schließlich geändert, nachdem der Deutsche Werberat eine Beschwerde weitergeleitet hatte: „Die Beschwerdeführer waren der Auffassung, diese Werbung diskriminiere Gehörlose: Es werde fälschlicherweise suggeriert, dass mit der Ertaubung immer auch eine Verstummung einhergehe. Gleichzeitig werde nahe gelegt, dass Taubheit ein vermeidbarer und abschreckender Zustand sei. Dadurch könnten Ängste und Vorbehalte gegenüber gehörlosen Menschen geschürt werden.“ (Deutscher Werberat 2003: 38)

In einem weiter gefassten Sinne stellt auch die – ebenfalls auf Grund von Protesten und einer Intervention des Deutschen Werberates zurückgezogene – Kampagne Tauchgebiete Behinderung als zumindest drohende Konsequenz einer Nichtbefolgung der durch die Werbebotschaft proklamierten Handlungsanweisung her. Diese Werbekampagne zeigt „drei in Liegestühlen sitzende Männer [...]. Diesen fehlten Arm- und Beingliedmaßen – offenbar wegen einer zuvor stattgefundenen Attacke durch Haie. Einer der Männer versucht überdies, mit seinem Armstumpf einen Moskito zu verscheuchen, der um sein Gesicht kreist.“ (Deutscher Werberat 2001: 33)

Die Gemeinsamkeit mit den obigen Fallbeispielen wird spätestens dann plausibel, wenn man berücksichtigt, dass diese Kampagne von einem Internetportal für Verbraucherberichte geschaltet wurde. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Botschaft durchaus dahingehend interpretieren, dass den abgebildeten Personen die dargestellten Behinderungen erspart geblieben wären, wenn sie sich – selbstverständlich mit Hilfe des beworbenen Internetangebotes – vorab genauer über den Urlaubsort informiert hätten. Behinderungskontrastierende Werbung muss nicht zwangsläufig mit mehr oder minder deutlichen Furchtappellen einhergehen: Wie aus der Definition bereits ersichtlich wurde, passt in diese Kategorie letztlich jede Anzeige, in der Behinderung als wie auch immer gearteter Negativkontrast zur Werbebotschaft dargestellt wird. Zu beachten ist hierbei, dass behinderungskontrastierende Elemente bzw. eine behinderungskontrastierende Tonalität prinzipiell auch in anderen Werbeformen denkbar ist: So kann rein theoretisch z.B. eine Anzeige, die den Kriterien verhandelnder Werbung gerecht wird, zugleich auch eine kontrastierende Botschaft enthalten. Dieser Umstand könnte zu einem potenziellen Abgrenzungsproblem führen, das sich jedoch wie folgt lösen lässt:

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Eine Anzeige enthält behinderungskontrastierende Elemente bzw. eine behinderungskontrastierende Tonalität, wenn Behinderung durch visuelle oder sprachliche Elemente im Extremfall als Negativkontrast dargestellt und/oder in allgemeiner Form mittels sonstiger Negativbezüge abgewertet wird. Dies impliziert die Annahme, dass solche Abwertungen in unterschiedlich drastischer (bzw. unterschiedlich subtiler) Form erfolgen können. Lässt sich eine Anzeige sowohl der Kategorie behinderungskontrastierend als auch einer zweiten Kategorie – z.B.: verhandelnd – zuordnen, bietet sich – um beim genannten Beispiel zu bleiben – eine Typisierung als verhandelnde Werbung mit behinderungskontrastierenden Elementen bzw. verhandelnde Werbung mit behinderungskontrastierender Tonalität oder schlicht: als verhandelnd-kontrastierende Werbung an. Die Kategorie behinderungskontrastierender Werbung umfasst demzufolge auch Anzeigen, in denen zum einen eine solche behinderungskontrastierende Tonalität festgestellt und zum anderen die Möglichkeit einer Zuordnung zu den übrigen Varianten wegen Nichterfüllung der Kriterien aus Plausibilitätserwägungen ausscheidet. Zu solchen Plausibilitätserwägungen zählt nicht zuletzt die weiter oben schon erwähnte Annahme, dass eine Anzeige mit hinreichend kontrastierender Tonalität wohl kaum als behinderungsinklusiv eingeordnet werden kann.

Zur Illustration dieses nunmehr recht breiten Verständnisses von behinderungskontrastierender Werbung bieten sich die nachfolgenden – ebenfalls seitens des Deutschen Werberates – thematisierten Fallbeispiele an: •







Die Werbung eines Radioveranstalters zeigte ein Kind mit Down-Syndrom, ergänzt um den Text: „Immer das gleiche macht dumm“ (Deutscher Werberat 1996: 38). Ein Software-Hersteller untermauerte die Frage „Warum sehen viele Unternehmen nicht, daß sie ein Problem mit illegaler Software haben?“ (Deutscher Werberat 1997: 63) durch die Abbildung eines Mannes mit Blindenbinde. Ein Modetext warb in Anzeigen mit der Abbildung eines Mannes in einer Zwangsjacke und dem Werbetext: ‚Fühlen Sie sich eingeengt? ‘“ (Deutscher Werberat 1998: 36f.) In einer Mobilfunk-Werbung animierte ein Mann – als Weihnachtsmann verkleidet – an einer roten Fußgängerampel eine blinde Frau durch Nachahmung der „Klopfgeräusche [...], die Sehbehinderten eine grüne Ampel signalisieren sollen“ (Deutscher Werberat 2005: 33) zum Betreten der Straße „Es

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sei unmoralisch, aus der Blindheit eines Menschen komisches Potenzial zu ziehen, um Verkaufserfolge zu erzielen“ (zit. nach Schmahl 2004, Stand: 12.12.2004; Abfrage: 01.09.2011), kritisierte der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV). In den ersten drei Beispielen unterstellen die Botschaften jeweils implizit, dass die Umworbenen sich bereitwillig von den jeweiligen (Menschen mit) Behinderungen abgrenzen. In den ersten drei Fällen fungieren die Behinderungen als Distanz schaffende (ergo: abwertende) Eye-Catcher. Das vierte Beispiel weist dem Menschen mit Behinderungen die (eindeutig abwertende) Rolle eines Opfers – konkreter: einer Zielscheibe für Spott (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4.4) – zu. In allen vier Fällen kann eine Zuordnung zu den anderen Kategorien unter Verweis auf die jeweils zu Grunde liegenden Kriterien ausgeschlossen werden. So breit die Kategorie behinderungskontrastierende Werbung auch gefasst sein mag: An ihrer generellen Einordnung als Negativanker bestehen keine Zweifel. Eine differenzierte Betrachtung erfordert dagegen die Einordnung behinderungsdissonanter Werbung: Die Tatsache, dass der Werbeträger mit Behinderung das beworbene Produkt selbst nicht nutzen kann, fokussiert den Blick nolens volens auf die Defizite der Behinderung. Es ist also zu vermuten, dass auch diese Form der Einbindung als diskriminierend und stigmatisierend eingestuft werden kann. Aus der bereits erwähnten Renault-Werbung ließe sich allerdings z.B. auch ableiten, dass der blinde Autofahrer dank der Assistenz seines Beifahrers die Strecke mit Erfolg absolviert hat. Folgt man diesem Gedanken, ließe sich die Botschaft in einem übertragenen Sinne dahingehend interpretieren, dass das Leistungspotenzial von Menschen mit Behinderungen seitens der Gesellschaft häufig unterschätzt wird und es nicht zuletzt eine Frage der Umweltbedingungen (z.B. Barrierefreiheit) bzw. der zur Verfügung stehenden Assistenz ist, inwieweit Menschen mit Behinderungen ihre Fähigkeiten entfalten können. Wie wahrscheinlich diese zweite Interpretationsmöglichkeit ist, sei zunächst einmal dahingestellt. Gleichwohl liegt es nicht zuletzt im Ermessen des Betrachters, ob eine solche Form der Einbindung als stigmatisierende (also kontrastierende) Abwertung oder aber als indirekt inklusives Plädoyer für eine fähigkeitsorientierte Sicht auf Menschen mit Behinderungen bewertet wird. Den bislang skizzierten Kategorien ist gemeinsam, dass Behinderungen direkt dargestellt und/oder thematisiert werden. Der Vollständigkeit halber sind an dieser Stelle zwei zusätzliche Werbeformen zu ergänzen, in denen dies nicht der Fall ist. Für den weiteren Gang der Arbeit spielen beide Kategorien somit zwar

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keine Rolle; im Zusammenhang mit der Ein- bzw. Abgrenzung des Forschungsgegenstandes sollten sie gleichwohl nicht unerwähnt bleiben. Die erste Zusatzform – behinderungsassoziative Werbung – umfasst Anzeigen, die trotz fehlender (direkter) Darstellung bzw. Thematisierung von Behinderungen als indirekte (meist negativ gerahmte) Anspielung auf die Behinderungsthematik aufgefasst werden können. So weckte vor einigen Jahren eine Kampagne, in der eine schwangere Frau eine laut Werbebotschaft für das ungeborene Kind völlig unbedenkliche Magenmedizin einnahm, ungute Erinnerungen an den Contergan-Skandal: „Die Pharma-Industrie scheint nichts dazu gelernt zu haben. Wie kann man eine schwangere Frau für ein Medikament werben lassen? Das ist der gleiche Fehler, der vor rund 45 Jahren schon einmal gemacht wurde. Ich finde das verwerflich und empfinde es als Verhöhnung der Thalidomidopfer von damals, die heute noch täglich die vermeintliche Ungefährlichkeit des Medikamentes am eigenen Leib spüren.“ (Puch 2004: 59)

In einem weiteren aktuellen Fallbeispiel führte wiederum die mit einer offenbar nicht hinreichend barrierefreien Gestaltung der Anzeige verbundene Gefahr diskriminierender Rückschlüsse zu negativen Assoziationen – und zu einer Beschwerde beim Deutschen Werberat: „So warb ein Unternehmen für Kommunikationstechnik im Internet mit der Frage ‚Was ist dein Intelligenzgrad?‘ und einem Testbild, auf dem eine Zahl erkannt werden sollte. Der Beschwerdeführer monierte, dass diese Zahl für Personen mit Rot-grün-Sehschwäche [sic!] nicht zu identifizieren sei. Dies habe aber nichts mit dem Intelligenzgrad der Personen zu tun, sondern mit genetisch bedingter Farbfehlsichtigkeit. Deshalb sei die Werbung diskriminierend.“ (Deutscher Werberat 2011: 24ff.)

Die Einordnung als behinderungsassoziativ ist hier auf den ersten Blick etwas weniger eindeutig als im vorangegangenen Fall. Entscheidend ist, dass die Kritik an der Gestaltung der Anzeige erst unter Mitberücksichtigung einer Zusatzbedingung auf der Rezeptionsebene, namentlich einer subjektiven Betroffenheit von Rot-Grün-Blindheit, nachvollziehbar wird. Die Vorwürfe beruhen also gerade auf der (im Übrigen wohl als unbeabsichtigtes Versäumnis einzustufenden) Nicht-Berücksichtigung dieser Behinderung. Die Einordnung als behinderungsassoziativ wäre erst dann hinfällig, wenn die Anzeige eine direkte verbale und/oder visuelle Anspielung auf Rot-Grün-Blindheit (ggf. auch Lernbehinde-

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rungen42) beinhalten würde. Das nachfolgende Gegenbeispiel soll dieses Abgrenzungskriterium verdeutlichen: „Ein Radiosender warb für sich selbst als Werbeträger mit der Abbildung eines auf der Radioantenne sitzenden Wellensittichs und dem Satz: ‚Lieber einen Vogel in der Anzeige als ein Tauber vor dem Radio‘.“ (zit. nach: Deutscher Werberat 1994: 46)43

Der in der Werbebotschaft gezogene Vergleich zwischen gehörlosen Menschen und Vögeln spiegelt sich offenkundig in der Wahl des Bildmotivs wider. Die aus dem Text abzuleitende Anspielung auf die (vermeintliche) Minderwertigkeit von gehörlosen Menschen mag wohl gerade durch die Nicht-Visualisierung dieser Behinderung verstärkt werden. Bliebe es alleine bei diesen Kriterien, wäre die Anzeige ebenfalls als behinderungsassoziativ einzustufen. Entscheidend für die endgültige Einordnung ist allerdings, dass Gehörlosigkeit als Behinderung durch die Formulierung „ein Tauber“ konkret genannt wurde und es folglich – im Gegensatz zum vorangegangenen Beispiel – keiner indirekten Schlussfolgerungen bedarf, um zu den gerade skizzierten Assoziationen zu gelangen44. Insofern wäre dieses Fallbeispiel als behinderungskontrastierende Werbung zu klassifizieren. Die zweite – für den weiteren Gang nicht relevante – Zusatzform ließe sich als behinderungssubstitutive oder behinderungssimulierende Werbung bezeichnen. In diese Kategorie fallen z.B. die aus vergangenen Zeiten bekannten Werbedarstellungen, in denen eine Person mit verbundenen Augen durch das Ertasten zweier Wäschestapel den Unterschied zwischen einem herkömmlichen

42 Prinzipiell kann ein IQ-Wert auch als Kriterium zur Identifikation von Lernbehinderungen herangezogen werden. Doch so lange die neutrale Formulierung „Intelligenzgrad“ gewählt wird, wäre auch eine solche Auslegung allenfalls das Resultat indirekter Assoziationen. 43 Der zitierten Quelle ist ferner zu entnehmen, dass der Werbetreibende eine durch den Deutschen Werberat übermittelte Beschwerde zum Anlass nahm, diese Anzeige nicht weiter zu schalten. 44 Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich nicht zuletzt, dass die Kategorie behinderungsassoziative Werbung als nicht sonderlich trennscharf zu charakterisieren ist, denn die Grenze zwischen mehr oder minder triftigen gedanklichen Verbindungen und beliebig wirkenden Assoziationen ist allenfalls ungefähr bestimmbar. Diese Problematik ist jedoch für die vorliegende Arbeit nicht weiter relevant.

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Waschmittel und dem beworbenen Weichspüler demonstrieren sollte. Allgemein umfasst dieser Typus Anzeigen, in denen auf eine bestimmte Behinderung angespielt wird, ohne sie allerdings direkt darzustellen. Simuliert wird also nicht die Behinderung selbst, sondern lediglich eine Situation, die vorübergehend einer bestimmten Behinderungserfahrung gleichkommt. Nicht in die Kategorie behinderungssubstitutiver Werbung fallen folglich Anzeigen, in denen ein NichtBehinderter zur Darstellung eines Menschen mit einer bestimmten Behinderung eingesetzt wird. Sobald also die Person aus obigem Waschmittel-Beispiel nicht mehr mit verbundenen Augen auftreten, sondern stattdessen durch Armbinde und Langstock die Behinderung „Blindheit“ direkt darstellen würde, wäre die Anzeige einer der fünf Hauptvarianten (hier ceteris paribus wohl am ehesten behinderungsinklusiver Werbung) zuzuordnen; unabhängig davon, ob die betreffende Person tatsächlich behindert ist oder diese Behinderung nur spielt. Bei behinderungssubstitutiver Werbung bleibt prinzipiell zunächst völlig offen, inwieweit die Simulationen von behinderungsähnlichen Erfahrungen tatsächlich als Anspielungen auf diese Behinderungen wahrgenommen werden. Interessant wird es jedoch offenbar gerade dann, wenn eine Anzeige gewissermaßen als Kombination behinderungssubstitutiver und behinderungsassoziativer Werbung eingestuft werden kann. Als konkretes Beispiel für eine solche Mischform ließe sich u.a. die seitens des ZDF initiierte Werbekampagne „Mit dem Zweiten sieht man besser“ einordnen: Visualisiert wurde dieser Slogan in diversen Spots durch verschiedene Prominente, die sich jeweils ein Auge mit zwei Fingern einer Hand verdeckten. Für die hier skizzierte Einordnung als behinderungssubstitutiv ist zunächst entscheidend, dass diese Kampagne eben keine Behinderung direkt darstellt oder thematisiert, sondern sich eben auf Simulationen und Anspielungen beschränkt. Spätestens unter Mitberücksichtigung der verbalen Ebene („Mit dem Zweiten sieht man besser“) scheint jedoch eine behinderungsassoziative Rezeption und der daraus resultierende Vorwurf, die Anzeige diskriminiere Menschen, die selbst nur noch ein Auge zur Verfügung hätten, nicht überraschend. Der Deutsche Werberat wies eine entsprechende Beschwerde allerdings zurück: „Es sei zwar nachvollziehbar, dass persönlich Betroffene auf diese Werbemaßnahme mit besonderer Sensibilität reagierten. Die Kampagne sei jedoch nicht geeignet, beim durchschnittlichen Betrachter den Eindruck zu erwecken, es würden sehbehinderte Menschen diskriminiert. Die Aussage ‚Mit dem Zweiten...‘ werde lediglich als Metapher für den Namen des Senders genutzt und enthalte keinen Bezug auf das Sehen mit zwei Augen.“ (Deutscher Werberat 2007: 19f.)

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Die hier erläuterten Kategorien verstehen sich zunächst als idealtypische Beschreibungen möglicher Einbindungsformen von Menschen mit Behinderungen aus Werbeträger. Grenzfälle und Mischformen sind hierbei nicht auszuschließen, wie insbesondere aus den Erläuterungen zu behinderungskontrastierender Werbung deutlich wurde und z.B. auch anhand des nachfolgenden (hypothetischen) Beispiels erläutert werden kann: Angenommen, ein Getränkehersteller versieht seine Produkte mit einem leichter zu öffnenden Verschluss, so könnte dieser Zusatznutzen u.a. hervorgehoben werden durch eine Werbekampagne, in der ein authentischer Darsteller von seinen (z.B. von einer Behinderung herrührenden) Schwierigkeiten mit dem herkömmlichen Verschluss berichtet und danach durch das Öffnen der Flasche demonstriert, dass dieses Problem durch die Neukonstruktion nun gelöst ist. Auf den ersten Blick weist dieses fiktive Fallbeispiel Parallelen auf zu dem als Paradebeispiel für verhandelnde Werbung aufgeführten Anzeigentypus, in dem ein Rollstuhlfahrer ein speziell auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Auto bewirbt: In beiden Fällen scheint zunächst offensichtlich, dass Menschen mit der jeweils durch den jeweiligen Werbeträger stellvertretend repräsentierten Behinderung von der beworbenen Produktmodifikation profitieren. Diese Überlegungen würden also durchaus für eine Einordnung als verhandelnde Werbung sprechen. Der wesentliche Unterschied beider Beispiele besteht jedoch darin, dass das modifizierte Kraftfahrzeug sich letztlich doch exklusiv an Rollstuhlfahrer richtet, während von einem leichter handhabbaren Getränkeverschluss letztlich alle Kunden profitieren, insbesondere also nicht nur Personen mit der gleichen Behinderung wie der ggf. eingesetzte Werbeträger. Im Übrigen kann in diesem Getränkeverschluss-Beispiel davon ausgegangen werden, dass die Neukonstruktion mittelfristig den alten Verschluss ablösen wird, während die rollstuhlgerechte Version im Kraftfahrzeug-Beispiel die Existenz des Basismodells für die so genannte Normalbevölkerung sicherlich nicht in Frage stellt. Unter Mitberücksichtigung dieser Argumente wäre die Einordnung als verhandelnde Werbung hinfällig und stattdessen die Kategorie behinderungsinklusiv zu präferieren. Es kann nicht Ziel dieser Ausführungen sein, jeden erdenklichen Grenzfall bereits auf der theoretischen Ebene vorwegzunehmen. Die hier diskutierte Typologie erfüllt zweifellos ihren Zweck als erste Orientierungshilfe, auch wenn die endgültige Zuordnung bestimmter Anzeigen zu einem (oder ggf. auch mehreren) Typen erst nach einer detaillierten Sichtung des Einzelfalls möglich ist.

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Abschließend hervorzuheben ist noch einmal die in den bisherigen Ausführungen immer wieder implizit angedeute, gleichwohl entscheidende, Erkenntnis, dass eine bestimmte Anzeige durchaus vielfältige Interpretationen erfahren kann: So kann z.B. ein seitens des Werbenden positiv (und insbesondere inklusiv) gemeinter Zielgruppenbezug seitens potenzieller Rezipienten durchaus auch als negativer (und insbesondere kontrastierender) Bezug auslegt werden – und umgekehrt. Eine Vertiefung und Systematisierung dieses Aspektes unter Bezugnahme auf die Lesarten-Problematik (vgl. ein- und weiterführend auch Kapitel 4.1) erfolgt im Kapitel 6.1 und den darauf folgenden ausführlichen Erläuterungen zu den eingesetzten Werbebeispielen. Tabelle 2 (S. 82 dieser Arbeit) präsentiert noch einmal jene fünf Kategorien, in denen tatsächlich von einer Darstellung und/oder Thematisierung von Behinderung die Rede sein kann (also sämtliche Formen außer behinderungssubstitutiv und behinderungsassoziativ) und die insofern die eigentliche Diskussionsbasis für diese Studie liefern. Daran anknüpfend fasst Tabelle 3 noch einmal zusammen, wie es um die konkrete Relevanz der einzelnen Kategorien bestellt ist. Wie bereits zu Beginn des Kapitels erläutert wurde, steht behinderungsinklusive Werbung im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, denn nur dieser Werbetypus kombiniert die Intention eines positiven Bezug zur Behinderungsthematik mit dem Ziel einer möglichst breiten (also nicht nur auf behinderte Menschen beschränkten) Rezeptionsbasis. Die übrigen Typen erfüllen jeweils nur eine dieser beiden Bedingungen: Behinderungskontrastierende und behinderungsdissonante Werbung verknüpfen einen negativen Bezug zur Behinderungsthematik mit der Intention, möglichst weite Teile der so genannten Normalbevölkerung anzusprechen. Behinderungskontrastierende Werbung ist in diesem Zusammenhang explizit als Negativanker von Belang, behinderungsdissonante Werbung wiederum angesichts ihrer weiter oben geschilderten Ambivalenz durchaus interessant. Verhandelnde und behinderungsexklusive Werbung sind angesichts ihrer speziellen Zielgruppenausrichtung als Sonderfälle für die Suche nach Fallbeispielen nicht relevant. Gleichwohl scheint es im Zusammenhang mit der Erhebung von Befragtenurteilen zu Werbeanzeigen geboten, zwecks Einordnung der übrigen Einschätzungen auch eine dieser Varianten zu berücksichtigen. Im direkten Vergleich liegt es nahe, die Bedeutung von verhandelnder Werbung als etwas höher einzustufen. da die zu diesem Typus gehörenden Produktkategorien (im Gegensatz zu behinderungsexklusiven Produkten) zumindest dann für die so genannte Normalbevölkerung interessant sein könnten, wenn man sich die behindertenspezifischen Modifikationen wegdenken würde.

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Tabelle 2:

Behinderung und Wirtschaftswerbung – eine Typologie

Kategorie

Beschreibung

Bezug zwischen Behinderung (bzw. Werbeträger) und Botschaft

positiver Zielgruppenbezug behinderungsexklusiv

Produkte speziell für Menschen mit Behinderungen (z.B. Reha-Mittel)

durch das Produkt gegeben

verhandelnd

Anpassungen von Alltagsprodukten an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen (z.B. umgerüstete Autos). Die Abgrenzung von (a) und (c) ergibt sich bisweilen erst durch den Gesamtkontext.

durch die Spezifikation des Produktes gegeben bzw. plausibel herstellbar

behinderungsinklusiv

Das beworbene Produkt richtet sich so, wie es ist, sowohl an behinderte als auch nicht behinderte Menschen.

nicht durch das Produkt gegeben, Menschen mit Behinderungen treten als Zielgruppe wie jede andere in Erscheinung

negativer Zielgruppenbezug behinderungsdissonant

Ein Mensch mit Behinderung wirbt für ein Produkt, zu dessen Zielgruppe er auf Grund seiner Behinderung nicht zählt (z.B. blinde Autofahrer).

Gerade die Dissonanz zum behinderten Werbeträger untermauert die Produkteigenschaften.

behinderungskontrastierend

Der Prototyp dieser Variante verbindet Behinderung mit Angstappellen. Allgemein umfasst diese Kategorie Anzeigen, in denen ein wie auch immer gearteter Negativkontrast zu Behinderung hergestellt wird. Insofern kann dieser Typus auch in Verbindung mit anderen Varianten (in Form behinderungskontrastierender Elemente bzw. Tonalität) auftreten.

Die Aufwertung des Produktes geht mit einer Abwertung von Behinderung auf der sprachlichen (z.B. Angstappelle) und/oder visuellen Ebene (z.B. behinderter Werbeträger als Distanz schaffender Eye-Catcher) einher.

Quelle: eigene Erstellung

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Tabelle 3:

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Eingrenzung relevanter Werbeformen in Anlehnung an Tabelle 2

Typus

Rezeptionsbasis

Bezug zu Behinderung

Relevanz für die vorliegende Studie

behinderungsinklusiv

Allgemeinbevölkerung

positiv

zentraler Forschungsgegenstand

verhandelnd

zielgruppenspezifisch

positiv

Fallbeispielerhebung: nein. Rezipientenurteile: ja.

behinderungsexklusiv

zielgruppenspezifisch

positiv

Als Sonderfall zu betrachten, also quasi nicht relevant

behinderungsdissonant

Allgemeinbevölkerung

ambivalent

auf Grund ihrer Ambivalenz interessant

behinderungskontrastierend

Allgemeinbevölkerung

negativ, abwertend

Negativanker

Quelle: eigene Erstellung

Nach Abschluss dieser begrifflichen Klärungen steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels nun die theoretische Fundierung des Untersuchungsgegenstandes.

4 Forschungstheoretische Einordnung und Leitgedanken

4.1 M ASSENMEDIEN , R EALITÄT , W IRKUNGSMODELLE : EINFÜHRENDE ANMERKUNGEN ZUM AUSGANGSPROBLEM „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ (Luhmann 1996: 9) Dieser Gedanke wird – wenn auch bisweilen in leicht abgewandelter Form und nicht immer unter expliziter Bezugnahme auf den hier zitierten Auftakt der Ausführungen Niklas Luhmanns zur „Realität der Massenmedien“ – recht häufig herangezogen, um die Relevanz einer Fragestellung zum Forschungsgegenstand „Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien“ zu begründen. An dieser Stelle werden zunächst vier Beispiele vorgestellt, in denen diese Argumentationslinie aufgegriffen wird und die in diesem Sinne eine erste Orientierung für die anschließende theoretische Verortung des eigentlichen Forschungsgegenstandes „Behinderung und Wirtschaftswerbung“ liefern. Das erste Beispiel bezieht sich auf die in anderen Kapiteln bereits erwähnten Ausführungen von Peter Radtke zum „Bild behinderter Menschen in den Medien“. Seine Überlegungen beginnt Radtke (ohne Verweis auf Luhmann) mit dem Hinweis: „Es ist eine Binsenweisheit: Was nicht im Hörfunk, in der Zeitung oder im Fernsehen erscheint, hat nie stattgefunden. Unsere Gesellschaft ist eine Mediengesellschaft. Keiner kann sich dem Einfluss der Medien völlig entziehen. Was wir denken, wie wir handeln, wird zu einem Großteil von den Massenmedien bestimmt. Dies ist selbst dort der Fall, wo wir uns frei von derartigen Bevormundungen glauben.“ (Radtke 2003: 7)

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Besonders stark sei dieser Effekt, so Radtke, wenn entweder die Möglichkeit und/oder die Bereitschaft einer objektiven Gegenprüfung der medial vermittelten Informationen nicht gegeben sei. So stehe einem Rezipienten in der Regel wohl kaum die Möglichkeit offen, sich vor Ort ein Bild über die Lage in einem geographisch weit entfernten Krisenherd zu machen. Im Falle von Menschen mit Behinderungen sei dagegen zwar prinzipiell die Chance gegeben, einen auf persönliche Erfahrungen beruhenden eigenen Eindruck zu bilden, „doch in der Praxis verhindern Berührungsängste und andere Umstände zumeist eine solche Überprüfung“ (ebd.: 7). Radtkes Überlegungen führen zunächst zu folgendem Zwischenfazit: „Was so genannte Nichtbehinderte über Menschen mit einer Behinderung wissen, erfahren sie in der Regel aus den Medien. Unter diesen Umständen ist es entscheidend, welches Menschenbild ihnen dort vermittelt wird.“ (Radtke 2003. 7)

Das zweite Beispiel ist in Grundzügen ebenfalls schon aus vorangegangenen Kapiteln bekannt: Reinhardt/Gradinger bewerten – unter (indirekter) Berufung auf Luhmann – den zu Beginn ihrer Ausführung stehenden Artikel 8 der UNKonvention (siehe Kapitel 2.2) als Indiz für die implizite Anerkennung von Massenmedien als „zentrale Vermittlungsinstanzen von Realitäts- und Normalitätsvorstellungen, die über den in Interaktionen erlebbaren sozialen Nahraum hinausweisen, diesen aber zugleich mit (neuen) Bedeutungen anreichern“ (Reinhardt/Gradinger 2007: 91). Der hohe Einfluss der Massenmedien ergebe sich aus der (auch u.a. von Radtke thematisierten) Quasi-Unmöglichkeit, sich der Omnipräsenz massenmedialer Botschaften zu entziehen. In ihren daran anknüpfenden Einschätzungen zur Bedeutung der Massenmedien für die Bildung von Realitätsvorstellungen im Allgemeinen heben Reinhardt/Gradinger auch die Bedeutung der Werbung im Speziellen hervor: „Die Realität der Massenmedien stellt damit nolens volens einen bedeutsamen Hintergrund für Identitäts- und Differenzerfahrungen im Hinblick auf das eigene Selbst und andere Personen dar [...]. In diesem Zusammenhang liefert die Werbung nicht nur Orientierungspunkte für Geschmacksbildung und Konsum. Sie (re-)produziert Idealvorstellungen von Normalität in Form von funktionalen und ästhetischen Identitätswerten.“ (ebd.: 91f.)

Das dritte Beispiel entstammt einer relativ neuen Studie zum Thema „Presse und Behinderung“ (vgl. im Folgenden insbes. Scholz 2010: 40). Im Rahmen seiner theoretischen Vorüberlegungen wertet Scholz das obige Luhmann-Zitat zunächst

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als klares Indiz für einen offenbar sehr großen Einfluss der Massenmedien, ergänzt jedoch eine weitere Passage, um zu belegen, dass auch Luhmann selbst die betreffende Aussage kurz darauf zumindest ansatzweise relativiert: „Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht vertrauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt.“ (Luhmann 1996: 9.)

Auch der nachfolgende, von Scholz allerdings nicht mehr zitierte, Satz scheint in diesem Zusammenhang relevant: „Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf bauen, daran anschließen müssen.“ (ebd.: 9f.) Anders formuliert: Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass Rezipienten die Realität der Massenmedien bisweilen (und wohl auch nicht ganz zu Unrecht) mit einer gewissen Vorsicht bewerten, führt – wiederum angesichts der Omnipräsenz massenmedialer Botschaften – offenbar dennoch kein Weg daran vorbei, sich auf ebendiese Quellen zu berufen. Das vierte und letzte Zitat stammt erneut von Peter Radtke, allerdings aus einem früheren Beitrag (und alleine deshalb schon ohne Bezugnahme auf Luhmann): „Was das Gros der Bevölkerung über Menschen mit einer Behinderung weiß, weiß es in der Regel über die Medien. Dabei vermischen sich jahrhundertelang durch Dichtung und mündliche Überlieferung vorgeprägte Klischees, eigene tiefenpsychologische Ängste und mehr oder minder gut aufbereitete journalistische Informationen.“ (Radtke 1993: 12)

Radtke spielt in diesen Ausführungen auf einen weiteren, für die weitere theoretische Fundierung ebenfalls hochrelevanten, Aspekt an: Die ggf. anzuprangernden Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen sind gewiss nicht über Nacht entstanden, sondern spiegeln sich im Laufe der Jahrhunderte in den verschiedensten Quellen wider – wie z.B. auch Christian Mürner (2003) anhand unzähliger Beispiele demonstriert – und spielen sich teilweise auch im Unterbewusstsein ab. Wie außerdem aus dem Untertitel „Plädoyer für eine Berichterstattung in eigener Sache“ deutlich wird, geht es Radtke in seinem Beitrag darum, speziell Betroffenenorganisationen für die Problematik einer verzerrten – seiner Einschätzung nach meist entweder auf unangemessenen Idealisierungen oder aber

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Quasi-Entmündigungen beruhenden – Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren und sie in einem weiteren Schritt dazu zu animieren, das durch diese „gefährliche Verkürzung der Gesamtperspektive“ (Radtke 1993: 17) entstehende schiefe Bild von behinderten Menschen durch verstärkte Eigeninitiative wieder gerade zu rücken, denn: „Welcher Stellenwert künftig behinderten Menschen in der Gesellschaft eingeräumt werden wird, hängt zum nicht unbeträchtlichen Teil vom Bild ab, das sich die Umwelt von ihnen macht, womit wir wieder beim Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt wären.“ (ebd.: 16)

Und dieser „Ausgangspunkt“ impliziert wiederum den altbekannten Hinweis auf die – nach Radtke gerade im Bereich der Behinderungsthematik – zentrale Funktion der Massenmedien als Realitätsvermittler. Die Quintessenz der vier Beispiele führt also letztlich zu den bereits seit Beginn der Arbeit bekannten Argumentationslinien, in denen ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien auf der einen sowie der Wahrnehmung des Phänomens Behinderung bzw. dem Umgang mit so genannten Betroffenen im Alltag unterstellt wird. Aus den damit verbundenen Überlegungen ließe sich also ein auf den ersten Blick völlig einleuchtendes Patentrezept ableiten: Man binde einfach mehr Menschen mit Behinderungen in die Wirtschaftswerbung (bzw. allgemein: in die Massenmedien) ein – und schon werden die so genannten Nicht-Behinderten ihre Vorurteile verwerfen, zu positiveren Einstellungen gelangen und im Alltag offener auf Menschen mit Behinderungen zugehen. Selbstverständlich gibt dieser letzte Satz die vorangegangenen Überlegungen in einer bewusst überspitzten Form wieder, doch verdeutlicht gerade diese Zuspitzung ein entscheidendes Problem: Aus Sicht der Medienwirkungsforschung bergen entsprechende Überlegungen speziell bei oberflächlicher Auslegung stets die latente Gefahr, in ein monokausales, idealtypisches und in dieser Form längst überholtes (vgl. hierzu auch Fußnote 48) Stimulus Response-Modell zu verfallen, das der Komplexität möglicher Zusammenhänge zwischen Medienwirkungen und Einstellungen nicht einmal annähernd gerecht wird. In seiner ursprünglichen Form unterstellt das Stimulus-Response-Modell, dass massenmediale Inhalte bei allen Rezipienten grundsätzlich die gleiche Wirkung auslösen und der Rezipient diesen Botschaften nahezu hilflos ausgeliefert ist (vgl. zu diesen und den nachfolgenden Erläuterungen weiterführend insbesondere Jäckel 2011: 76ff.). Schon bald sah sich dieses Modell konfrontiert mit dem Einwand, dass

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eine solch idealtypische Darstellung des Massenkommunikationsprozesses eine unbestimmte Zahl an Störfaktoren außer Acht ließe, so z.B. die Prädispositionen des Publikums bzw. die Möglichkeit widerspenstiger, überraschender und nicht intendierter Wirkungen. Joseph T. Klapper weist z.B. unter Bezugnahme auf verschiedene Experimente auf diverse “mediating factors” hin, von denen an dieser Stelle zwei näher erläutert werden sollen (vgl. im Folgenden: Klapper 1960: 21ff.; Jäckel 2011: 84f.) •



selektive Zuwendung (selective exposure): Dieser Störfaktor umschreibt Tendenzen, Kommunikation mit unsympathischen – im Sinne von z.B. einstellungsdiskrepanten – Inhalten zu vermeiden: Verdeutlicht wird dies von Klapper anhand eines experimentellen Befundes, wonach Kommunikationsinhalte, in denen Zusammenhänge zwischen Rauchen und Krebserkrankungen hergestellt werden, von Nichtrauchern weitaus häufiger zur Kenntnis genommen werden als von Rauchern, im Umkehrschluss also von Rauchern verstärkt ignoriert werden. selektive Wahrnehmung (selective perception): Selbst wenn Rezipienten sich einem Medienangebot zuwenden, besteht die Möglichkeit, dass schon a priori nur Teile der Botschaft (etwa die einstellungskonsonanten Elemente) aufgenommen oder aber die Inhalte im Nachhinein so lange umgedeutet werden, bis sie schließlich doch mit den eigenen Werthaltungen im Einklang stehen. Zu den von Klapper erwähnten Beispielen zählt hier wiederum eine Studie, in der die Probanden mit Medienberichten über Rauchen als mögliche Ursache von Krebs konfrontiert wurden. Es zeigte sich, dass 54% der Nichtraucher, jedoch nur 28% der Raucher den unterstellten Zusammenhängen zugestimmt, demnach also die intendierte Botschaft wahrgenommen, hatten.

Während es Klapper darum ging, mit Hilfe dieser intervenierenden Variablen das Stimulus Response-Modell zu relativieren, sehen andere Ansätze in einem aktiven Publikum den entscheidenden Ausgangspunkt. Die bis dato stillschweigend vorausgesetzte Frage “What do media with the people?” wurde also umgewandelt in “What do people with the media?” (siehe u.a. Katz/Foulkes 1962: 378)45. Als Paradebeispiel für einen Ansatz, der den Fokus auf die (Deutungs-)-

45 Es handelt sich hierbei um die Pionierarbeit zum Nutzen- und Belohnungsansatz, der insofern als klassisches Paradebeispiel für diesen Paradigmenwechsel aufgeführt werden kann.

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Macht des Rezipienten legt, ist das aus den Cultural Studies bekannte (und auch in späteren Kapiteln dieser Arbeit immer wieder aufgegriffene) Lesarten-Modell zu nennen. In Anlehnung an dieses Modell lassen sich im Zusammenhang mit der Decodierung eines Textes (also eines Medienerzeugnisses46) drei Lesarten unterschieden (vgl. zusammenfassend u.a. Jäckel/Peter 1997: bes.: 53ff.): • • •

dominant: Die Decodierung (Rezeption) entspricht den durch die Encodierung (Produktion) vorgegebenen Deutungsmustern. hegemonial bzw. verhandelt: Die dominante Lesart wird anerkannt, jedoch wird in Teilbereichen oppositionell decodiert. oppositionell: Die Deutungsmuster der Decodierung stehen im Gegensatz zu der dominanten Position; die Deutungsmuster der Encodierung werden als konstruiert verworfen.

Nach Einschätzung von Schnierer (1999: 243f.) dominieren spätestens seit den 1980er Jahren die Tendenzen zur Annahme enger Medienwirkungen bzw. das Bild souveräner Rezipienten, die aus dem massenmedialen Gesamtangebot ihre eigene Auswahl nach persönlichen Präferenzen treffen. Während bei Ansätzen, die der Logik oder zumindest der Richtung eines klassischen Stimulus Response-Modells folgen, insbesondere auf die Gefahr einer Überschätzung der Macht der Medien bzw. einer Unterschätzung der Macht des Publikums verwiesen wird, bergen nutzerorientierte Ansätze, die den Fokus auf ein aktives Publikum legen, die wiederum exakt gegenteilige Gefahr einer Überbetonung der Rezipientenfreiheit47 bzw. einer allzu starken Bagatellisierung potenzieller und ggf. auch nicht intendierter Medienwirkungen. Auf diese Gefahr verweist auch Schnierer, gibt jedoch zu bedenken, dass der erkennbare Langzeittrend hin zu schwächeren Wirkungen bzw. aktiveren Mediennutzern wiederum selbst „das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit [ist], die darauf hinausläuft, daß diese

46 Die Cultural Studies verwenden für „Medienerzeugnis“ und „Rezipient“ die Begriffe „Text“ bzw. „Leser“. 47 Im Kontext des soeben skizzierten Lesarten-Modells wird im Rahmen der Diskussion entsprechender Kritik z.B. betont, dass auch der Deutungsspielraum des Rezipienten sich lediglich innerhalb eines durch den jeweiligen Text vorgegebenen Rahmens bewege, die aus den unterschiedlichen Lesarten resultierende Decodierungsfreiheit also nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden sollte (vgl. weiterführend u.a. Jäckel/Peter 1997).

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Macht früher eindeutig überschätzt wurde“ (Schnierer 1999: 243). Jäckel hält in diesem Kontext fest: „Die Geschichte der Medienwirkungsforschung kann als eine allmähliche Zurückweisung starker Medieneffekte gelesen werden. Dennoch konkurrieren verschiedene Varianten einer medienzentrierten und publikumszentrierten Sichtweise nach wie vor um eine zutreffende Bestimmung der Bedeutung der Medien in modernen Gesellschaften.“ (Jäckel 2011: 101)

In Anlehnung an eine Formulierung Morleys lässt sich die Geschichte der Medienwirkungsforschung (bzw. der Medienrezeptionsforschung) interpretieren als fortwährende Pendelbewegungen zwischen Ansätzen, in denen die Macht der Medien über die Rezipienten betont wird auf der einen Seite sowie Gegenpositionen, in denen Faktoren thematisiert werden, die den Rezipienten vor der massenmedialen Beeinflussung schützen auf der anderen Seite (vgl. Morley 1995: 297; zusammenfassend: Schnierer 1999: 242f.). Zusammenfassend betrachtet lässt sich die Frage, welcher Zugang den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Massenmedien und Rezipienten am ehesten gerecht wird, offenbar nicht pauschal – und schon gar nicht mit wenigen Worten – beantworten. Die eingangs aufgeführte Argumentationslinie zur Omnipräsenz massenmedialer Botschaften48 und der daraus resultierenden Einord-

48 Hierzu eine Anmerkung: Die Hinweise auf die Funktion der Massenmedien als zentrale Realitätsvermittler basieren streng genommen eher auf der Kultivierungshypothese (vgl. weiterführend u.a. Gerbner 1994) als auf dem klassischen Stimulus-ResponseModell. Nicht zuletzt bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten: Ob das idealtypische Stimulus-Response-Modell jemals eine nennenswerte Zahl von Verfechtern fand oder gar, wie häufig behauptet, die Frühphase der Medienwirkungsforschung dominierte, darf als höchst umstritten eingestuft werden (vgl. zu dieser Diskussion ausführlich Brosius/Esser 1998). Diese Debatte kann jedoch insofern vernachlässigt werden, da es im Rahmen der hier vorliegenden (knappen) Ausführungen nicht um eine differenzierte Gegenüberstellung verschiedensten Medienwirkungsmodelle, sondern lediglich um eine Skizzierung der Grundproblematik (Medien- vs. Publikumsmacht) gehen kann. Dieser Zielsetzung wird das Stimulus-Response-Modell eher gerecht, zumal an der Relevanz dieses Modells zumindest in seiner Funktion als (ggf. hypothetischer) argumentativer Abgrenzungspunkt für spätere Medienwirkungsforschungsmodelle wiederum kaum Zweifel bestehen (vgl. auch Jäckel 2011: u.a. 80).

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nung von Massenmedien als zentrale Realitätsvermittler bietet sich durchaus als hilfreicher Orientierungspunkt für die forschungstheoretische Einordnung der Leitfrage nach den weitreichenden Konsequenzen einer erhöhten Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung (bzw. in den Massenmedien) an, sofern entsprechende Rückschlüsse den Prädispositionen des Publikums angemessen Rechnung tragen. Zunächst ergibt sich in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, auf welche vorherrschenden Einstellungsmuster eine themenrelevante Werbeanzeige (bzw. Mediendarstellung) bei potenziellen Rezipienten voraussichtlich treffen wird.

4.2 D IE SOZIALE R EAKTION GEGENÜBER M ENSCHEN B EHINDERUNGEN NACH G ÜNTHER C LOERKES

MIT

Nach Einschätzung des bereits mehrfach zitierten Günther Cloerkes, der sicherlich zu den führenden deutschsprachigen Soziologen mit dem Forschungsschwerpunkt „Behinderung“ gezählt werden darf, ist „[d]ie Erforschung von Einstellung und Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderungen [...] der zentrale Arbeitsbereich der Behindertensoziologie“ (Cloerkes 2007: 102). Cloerkes widmete sich diesem Themengebiet bereits im Rahmen seiner Dissertationsschrift (vgl. ausführlich Cloerkes 1979) und liefert auch in seinem (mittlerweile in der 3. Auflage erschienenen) Standardwerk „Soziologie der Behinderten“ einen fundierten Überblick über zentrale Forschungsergebnisse aus diesem Bereich (vgl. ausführlich Cloerkes 2007: Kap. 5). Es liegt also nahe, sich im Zusammenhang mit der Beschaffenheit und den Aussichten auf Beeinflussbarkeit der sozialen Reaktion auf Menschen mit Behinderungen vornehmlich an diesen Ausführungen zu orientieren49. Zur Einordnung dieser Argumentationslinie ist zunächst eine Betrachtung jener Begriffe, auf die Cloerkes sich selbst bezieht, notwendig. Zum Einstellungsbegriff referiert Cloerkes zunächst eine Definition von Krecht, Crutchfield und

49 Dass Cloerkes (2007: 102) selbst diese Erläuterungen einschränkend als überblicksartige Einführung bewertet, kann alleine deshalb schon vernachlässigt werden, da sich auch die vorliegende Arbeit auf eine in der Regel recht knappe Diskussion einiger wesentlicher Kernaspekte beschränken muss und dieser Anspruch durch eine schwerpunktmäßige Bezugnahme auf Cloerkes’ Überblick als (über-)erfüllt betrachtet werden darf.

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Ballachey, in der Einstellung als „stabiles System von positiven oder negativen Bewertungen, gefühlsmäßigen Haltungen und Handlungstendenzen in bezug auf ein soziales Objekt“ (zit. nach Cloerkes 2007: 104) bezeichnet wird und verweist im Anschluss daran auf das weit verbreitete und ursprünglich von Rosenberg und Hovland entwickelte Drei-Komponenten-Modell, das an dieser Stelle unter Bezugnahme auf Fischer und Wiswede erläutert werden soll: „Einstellungen werden als komplexe intervenierende Variable verstanden, die zwischen situativen Reizen (Personen, Situationen, soziale Sachverhalte etc.) einerseits und den meßbaren abhängigen Variablen (verbale Äußerungen über Affekte/Gefühle bzw. Reaktionen des autonomen Nervensystems, Wahrnehmungsurteile über verbal geäußerte Überzeugungen und schließlich offen zutage tretendes bzw. beobachtbares Verhalten) andererseits vermitteln. Dabei wird davon ausgegangen, daß alle drei Komponenten in einem mehr oder minder hohen Maße miteinander korrespondieren.“ (Fischer/Wiswede 2002: 221)

Wie bereits implizit aus obigem Zitat ersichtlich, werden gemäß diesem Modell die folgenden drei Komponenten einer Einstellung unterschieden (vgl. ebd.: 222; Cloerkes 2007: 104). • • •

die affektive (bzw. Gefühls-)Komponente die kognitive (bzw. Wissens-)Komponente die konative (bzw. Handlungs-)Komponente

Die höchste Bedeutung kommt nach Cloerkes – insbesondere auch in Bezug auf Menschen mit Behinderungen – der affektiven Komponente zu; eine Einschätzung, die in den späteren Überlegungen einen zentralen Stellenwert einnehmen wird. Vorurteile definiert Cloerkes als „extrem starre, irrationale und negative Einstellungen, die sich weitgehend einer Beeinflussung widersetzen“ (ebd: 104), betont allerdings, dass er selbst im Behinderungskontext den Einstellungsbegriff vorziehe: zum einen, da „die durchgängige Existenz von Vorurteilen gegenüber Behinderten nicht als bewiesen gelten kann“ (ebd.: 104); zum anderen, da der Vorurteilsbegriff nach seinem Verständnis stets etwas Negatives ausdrücke50 –

50 Den in der einschlägigen Literatur bisweilen verwendeten Begriff des positiven Vorurteils lehnt Cloerkes explizit ab.

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im Gegensatz zum neutralen Einstellungsbegriff. Diese terminologische Trennung zwischen Einstellung und Vorurteil wird im Übrigen auch im Rahmen dieser Arbeit vollzogen, wie bereits aus einschlägigen Formulierungen in vorangegangenen Kapiteln (etwa: Abbau von Vorurteilen, positivere Einstellungen) ersichtlich geworden sein sollte. Unter sozialer Reaktion versteht Cloerkes „neben formalen Definitionsvorgängen, z.B. durch Diagnostik, insbesondere die Gesamtheit der Einstellungen und Verhaltensweisen auf der informellen Ebene der zwischenmenschlichen Interaktionen“ (ebd.: 103).51 In Bezug auf die Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen hält Cloerkes unter Berufung auf zahlreiche Studien zusammenfassend fest, „daß wir es offensichtlich mit einer bemerkenswert starren und sehr grundlegenden Haltung zu tun haben“ (Cloerkes 2007: 106), zumal sich lediglich die Art der Behinderung als wesentliche Einflussgröße erweise, „insbesondere aber das Ausmaß ihrer Sichtbarkeit sowie das Ausmaß, in dem sie gesellschaftlich hochbewertete Funktionsleistungen (Mobilität, Flexibilität, Intelligenz, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit) beeinträchtigt [...], ebenso eine eventuell angenommene Bedrohlichkeit für andere“ (ebd.: 106). Eine hohe Bedeutung, die allerdings eine differenzierte Diskussion erfordere, sei ferner der Variable Kontakt zuzuschreiben (vgl. auch Kapitel 4.3). Eine Betrachtung von sozio-ökonomischen und demographischen Variablen sowie Persönlichkeitsmerkmalen offenbart dagegen summa summarum vergleichsweise geringe Einflüsse, z.T. auch widersprüchliche Ergebnisse (z.B. in den Bereichen

51 Hierzu eine wichtige Anmerkung: Wenn an dieser (und auch an anderen Stellen der vorliegenden Arbeit) „Einstellung“ und „Verhalten“ mehr oder weniger im gleichen Atemzug genannt werden, sollte dies keineswegs als Gleichsetzung dieser beiden Konstrukte missverstanden werden: Dass von Einstellungen allenfalls sehr bedingt auf Verhaltensweisen zurückgeschlossen werden kann, da in beiden Fällen mitunter völlig verschiedene Handlungslogiken zu Grunde liegen, ist spätestens seit der klassischen Studie von LaPiere (1934) bekannt. Eine weitere Vertiefung dieser Diskussion ist an dieser Stelle jedoch nicht erforderlich, da die Ebene des tatsächlichen Verhaltens gegenüber Menschen mit Behinderungen im Alltag nicht Gegenstand der empirischen Erhebungen der vorliegenden Arbeit sein kann. Tendenziell ist nach Cloerkes allerdings davon auszugehen, dass „die realen Einstellungen gegenüber behinderten Menschen ungünstiger sind als das, was der Einstellungsforscher mißt, und sich auch in einem sehr ungünstigen realen Verhalten niederschlagen würden, wenn gesellschaftliche Vorschriften dem nicht entgegenstehen würden“ (Cloerkes 2007: 113).

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Bildung, Faktenwissen, Schichtzugehörigkeit). „Nennenswerte Zusammenhänge lassen sich nur für die Variablen Geschlechtszugehörigkeit und Lebensalter feststellen. Frauen scheinen Behinderte danach eher zu akzeptieren als Männer [...]. Ältere Personen sind etwas negativer eingestellt als jüngere“ (ebd.: 105), wobei diese altersbedingten Effekte nicht als linear einzustufen seien, sondern offenbar ab dem 50. Lebensjahr abnähmen. Cloerkes betont darüber hinaus, dass die zentralen Grundsteine der Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen bereits in der frühkindlichen Sozialisationsphase gelegt werden und demzufolge auch Beeinflussungsversuche in diesem Zeitraum mit weit höheren Erfolgschancen verbunden seien als entsprechende Bemühungen in späteren Jahren (vgl. ebd.: 137). Dies impliziert eine hohe Bedeutung der jeweils zu Grunde liegenden Sozialisationspraktiken und -inhalte (vgl. ebd.: 113ff.). Auf der Verhaltensebene ist als Dreh- und Angelpunkt wiederum die – angesichts der bisherigen Ausführungen in dieser Arbeit wohl wenig überraschende – Erkenntnis festzuhalten, dass Interaktionen mit so definierten behinderten Menschen aus Sicht so genannter Nicht-Behinderter auf Grund widersprüchlicher Normen durch ein hohes Maß an Unsicherheit gekennzeichnet sind: „Die Normen sind widersprüchlich, und das führt zu Formen der sozialen Reaktion, die vordergründig akzeptabel sind und Entlastung von Unsicherheit versprechen, letztlich aber Ablehnung und soziale Isolation bewirken.“ (ebd.: 118)

Cloerkes erläutert dies unter Bezugnahme auf drei verschiedene Reaktionstypen gegenüber Menschen mit Behinderungen (vgl. im Folgenden: ebd.: 118ff. und insbes.: 120, Abb. 5.2): Die originären Reaktionen finden ihren Ursprung in affektiven (also letztlich auch nicht steuerbaren) Regungen wie Angst, Ekel oder auch Neugier52 und drücken sich durch überwiegend als negativ und taktlos bewertete Verhaltensweisen aus (z.B. Spott, Aggressivität, Anstarren, Ansprechen usw.). Dem gegenüber stehen die offiziell erwünschten Reaktionen, die sich aus dem jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Normsystem (z.B. Gleichbehandlungsprinzip in Demokratien) ableiten lassen.

52 Dass gerade Neugier in diesem Kontext als ambivalent (also nicht notwendigerweise als einseitig negativ) einzustufen ist, wird in Kapitel 6.2.8 diskutiert.

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Tabelle 4: Erklärungsansätze für die soziale Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen nach Cloerkes Forschungsgebiet bzw. Gegenstand Art der Behinderung

Erläuterung bzw. Quellenverweis in Anlehnung an Tröster (1988)

soziologische Ansätze

Fokus: Rollenerwartungen

Psychologische Ansätze

Fokus: Angst vor Behinderung

Fremdheit

Behinderungsspezifische Interaktionsstörungen als Spezialfall des Erlebens von Fremdheit unter Berufung auf: Tröster 1988: 54ff.

weitere Ansätze

Erklärungsansätze Auffälligkeit, ästhetische und/oder funktionale Beeinträchtigungen, zugeschriebene Verantwortlichkeit Irrelevanzregel, Interessenkonflikt, uneindeutige Verhaltensregeln auf Grund fehlender Interaktionserfahrungen, widersprüchliche Normen Schuldangst, Bedrohung der eigenen physischen Integrität, kognitive Dissonanz z.B.: das Fremde als: das Fremdartige, als das noch (!) Unbekannte, als das letztlich Unerkennbare, als das Unheimliche53 Just-World-Hypothese, KomplexitätsPolarisierungs-Hypothese, NovelStimulus-Hypothese, AmbivalenceAmpflification-Hypothese

Quelle: eigene Erstellung in Anlehnung an Cloerkes (2007: 107ff.)

53 Cloerkes beruft sich hierbei auf die von Ortfried Schäffter thematisierten „Modi des Fremderlebens“ (vgl. ausführlich Schäffter 1991). Bezogen auf die Originaldarstellung wäre ferner noch der Modus des Fremden als „das Auswärtige, das Ausländische“ (zit. nach Cloerkes 2007: 109) zu ergänzen, wobei dieser Aspekt im Kontext der Behinderungsthematik vernachlässigt werden kann. Folgt man der Überlegung, dass die Wahrnehmung von (Menschen mit) Behinderungen als Spezialfall des Fremderlebens eingestuft werden kann, lassen sich nach Cloerkes (ebd.: 109f.) gerade aus diesen Ansätzen zentrale Querverweise für eine Reihe weiterer wesentlicher Fragestellungen (u.a. bzgl. der Aussicht auf Änderungen von Einstellungen gegenüber behinderten Menschen) ableiten. Die Plausibilität dieser Überlegung wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn man sich den Unterschied zwischen den beiden Modi des Fremden als das noch Unbekannte sowie des Fremden als das letztlich Unerkennbare vor Augen führt: Während der erstgenannte Modus anspielt „auf die Möglichkeiten des Kennenlernens und des sich gegenseitig Vertrautmachens von Erfahrungsbereichen, die prinzipiell erreichbar sind“ (Schäffter 1991: 14), schließt der letztgenannte Modus eben jene Variante des Kennenlernens – und damit implizit auch jede Chance auf einer Revidierung von Vorurteilen – bereits im Vorfeld aus.

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Im Falle einer Interaktionssituation mit behinderten Menschen steht der NichtBehinderte also unter einem moralischen Zugzwang, seine (sozial unerwünschten) affektiven Regungen zu unterdrücken bzw. sie in erwünschte oder zumindest tolerierte Reaktionen umzuwandeln. Diese innere Diskrepanz – und insbesondere wohl die mit der Notwendigkeit einer solchen Verdrängung verbundenen Schuldgefühle – führen in der Realität häufig zu überformten Reaktionen, deren Konsequenzen bereits im obigen Zitat treffend charakterisiert wurden. Zu einem früheren Zeitpunkt betont Cloerkes jedoch ausdrücklich, dass „derartige Stigmatisierungseffekte relativ unabhängig von der Intention des einzelnen Nichtbehinderten auftreten; sie entziehen sich überwiegend seiner rationalen Kontrolle“ (ebd.: 107). Bei der Suche nach den eigentlichen Ursachen für die oben beschriebenen Verhaltenstendenzen und -konsequenzen für Menschen mit Behinderungen nennt und diskutiert Cloerkes (unter Berufung auf andere Autoren) die in Tabelle 4 angeführten Erklärungsansätze (vgl. ebd.: 107ff.): Auch diese Vielfalt an Erklärungsansätzen stützt die auch insgesamt aus diesen Ausführungen abzuleitende Vermutung, dass die soziale Reaktion auf Menschen mit Behinderungen als Resultat hochkomplexer Wechselwirkungen zahlreicher Widersprüche eingestuft werden kann und insbesondere auf der affektiven Ebene mit einer eher negativen Rahmung gerechnet werden muss. Nach diesen ersten Überlegungen zur sozialen Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen soll im folgenden Kapitel die eigentlich relevante Frage nach der Veränderbarkeit der tendenziell ungünstigen Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen aufgegriffen werden. Angesichts der thematischen Ausrichtung der vorliegenden Arbeit liegt der Betrachtungsschwerpunkt hierbei auf Massenmedien als potenzielle Einflussgröße.

4.3 B EHINDERUNG , E INSTELLUNGSÄNDERUNG , M ASSENMEDIEN Unter Mitberücksichtigung der beiden vorangegangenen Kapitel lässt sich das Ausgangsproblem vereinfacht noch einmal wie folgt zusammenfassen: Die Wahrnehmung der Behinderungsthematik bzw. die soziale Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen ist durch eine tendenziell ungünstige Struktur geprägt. Die Plädoyers für eine erhöhte Sichtbarkeit und/oder angemessene Repräsentationsformen von Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien beruhen auf der Einschätzung, dass die Massenmedien in ihrer Eigenschaft als omnipräsente Realitätsvermittler in diesem Punkt Abhilfe schaffen, also zu positive-

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ren Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen beitragen könnten. Andererseits sind es wiederum gerade die bei potenziellen Rezipienten bereits vorhandenen Einstellungen – und damit eben auch die gemäß des obigen Plädoyers eigentlich zu beeinflussenden Einstellungsmuster – die zunächst einmal mit darüber entscheiden, wie die betreffende Botschaft interpretiert bzw. ob sie überhaupt wahrgenommen oder aber gänzlich ignoriert wird. Auch hier bietet sich zunächst eine Bezugnahme auf Cloerkes und seine Überlegungen zur Wirksamkeit von Informations- und Aufklärungsprogrammen an54. Aus der im vergangenen Kapitel diskutierten Beschaffenheit der sozialen Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen leitet Cloerkes sieben zusammenfassende Thesen ab, von denen die ersten beiden noch einmal explizit hervorgehoben werden sollten: 1.

Angesichts einer sehr stabilen und starren Grundhaltung gegenüber behinderten Menschen ist der verfügbare Spielraum für Veränderungen relativ gering.

2.

Die soziale Reaktion auf Behinderte ist weitgehend irrational und affektiv bestimmt, was eine hohe Änderungsresistenz zur Folge hat, Modifikationen werden daher kaum dadurch zu bewirken sein, daß primär die kognitive Ebene angesprochen wird.

wörtl. zit. nach: Cloerkes 2007: 137 Die beiden Thesen können gewissermaßen als Zusammenführung des DreiKomponenten-Modells der Einstellungen (vgl. Kapitel 4.2) mit dem – für Cloerkes als Ausgangsproblem entscheidenden – Phänomen der selektiven Wahrnehmung (vgl. Kapitel 4.1) verstanden werden (vgl. im Folgenden auch: ebd.: 139ff.). Die dem Drei-Komponenten-Modell zu Grunde liegende Annahme, wonach affektive, kognitive und konative Komponente einer Einstellung in mehr oder minder starkem Einklang stehen und sich eine erfolgreiche Beeinflussung einer dieser Komponenten auch entsprechend in den beiden anderen Komponen-

54 Anzumerken ist hierbei, dass die im Standardwerk „Soziologie der Behinderten“ angeführten Überlegungen zur Effektivität von Informationsstrategien (Cloerkes 2007: 138ff.) in weiten Teilen eine aktualisierte Version eines Beitrages anlässlich der Bilanzziehung zum „UNO-Jahr der Behinderten 1981“ (Cloerkes 1982) darstellt.

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ten niederschlage, sei gerade im Behinderungskontext höchst fragwürdig. Konkret richtet sich Cloerkes damit gegen die seiner Einschätzung nach weit verbreitete Annahme, dass Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen häufig vor allem auf Unwissenheit beruhen und demzufolge durch Informationsprogramme, Aufklärungskampagnen und vergleichbare Beeinflussungsversuche der kognitiven Ebene leicht zu korrigieren seien (vgl. zur Kritik auch: Tröster 1990: 115f.). Diese Sichtweise verkenne allerdings, dass solche Maßnahmen mitunter sehr schnell ins Leere laufen können, wenn der Rezipient partout nicht gewillt ist, seine Einstellung zu überdenken. Und im Falle der Behinderungsthematik sei wohl kaum damit zu rechnen, „daß bei den Nichtbehinderten eine breite Motivation besteht, sich belehren zu lassen“ (Cloerkes 2007: 139). Die daraus resultierende Problematik wird durch ein klassisches Zitat von Allport, auf das sich auch Cloerkes (ebd.: 139) bezieht, prägnant auf den Punkt gebracht: „[...] Propaganda für Toleranz wird selektiv wahrgenommen. Jene, die sie nicht in ihr Inneres aufnehmen wollen, haben keine Schwierigkeiten, das zu vermeiden. Jene aber, die sie aufnehmen, haben es meistens nicht nötig.“ (Allport 1971: 489f.)

Doch bestehe neben der Möglichkeit, dass einstellungsdiskrepante Kommunikationsinhalte schlichtweg wirkungslos abprallen, auch die Gefahr von Bumerangeffekten: In diesem Falle würden nicht die Einstellungen gemäß der Intentionen der Botschaft modifiziert, sondern gerade im Gegenteil – ganz im Sinne einer selektiven Wahrnehmung – die Botschaft an die bereits vorhandenen Einstellungsmustern angepasst, wodurch dann „bereits existierende Haltungen eine Stabilisierung erfahren; eine ernstzunehmende Gefahr angesichts überwiegend ungünstiger Einstellungen gegenüber Behinderten“ (Cloerkes 2007: 140). Höchst problematisch seien in diesem Kontext insbesondere Kommunikationsstrategien, die auf Instrumentalisierung der Angst vor Behinderung (vgl. etwa die Ausführungen zu behinderungskontrastierender Werbung in Kapitel 3.2.2) bzw. der aus den widersprüchlichen Normen resultierenden Schuldgefühlen (vgl. Kapitel 4.2 dieser Arbeit) zielen. Ein für die Effektivität entscheidender positiver Bezug könne z.B. hergestellt werden, indem einzelne Menschen mit Behinderungen auf Grund besonderer Leistungen und/oder ihres Bekanntheitsgrades als Identifikationsfiguren präsentiert würden (vgl. hierzu kritisch Kapitel 4.4 & 6.2.5) oder indem eine Behinderung möglichst neutral als nur ein einziges Attribut unter vielen präsentiert werde. Die Glaubwürdigkeit entsprechender Botschaften könne – nicht zuletzt in Anlehnung an den Personalisierungseffekt (vgl. Kapitel 3.1.2) – durch die Ein-

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bindung von Betroffenen als Experten in eigener Sache gesteigert werden (vgl. hierzu ebd.: 140ff.). Entsprechende Forderungen werden bekanntermaßen (vgl. u.a. die vierte Einschätzung in Kapitel 4.1) in Kreisen behinderter Menschen bereits seit geraumer Zeit erhoben (vgl. weiterführend auch: Sandfort 1982b); die Parole „Nichts über uns ohne uns“ darf mittlerweile wohl als einer der am häufigsten zitierten Leitgedanken eingestuft werden (stellvertretend sei auf den betreffenden Titel des Sammelbandes von Hermes 2006 verwiesen). Ein Blick auf empirische Befunde oder vergleichbare Erfahrungswerte zur Effektivität massenmedialer Überzeugungsversuche scheint die aus den Vorüberlegungen ersichtliche Skepsis dann auch zunächst einmal zu bestätigen, exemplarisch kann in diesem Zusammenhang auf die Erkenntnisse aus dem UNOJahr der Behinderten 1981 verwiesen werden: Aus besagtem Anlass war zu jener Zeit eine deutliche Zunahme massenmedialer Erzeugnisse zur Behinderungsthematik zu verzeichnen. Dies führte u.a. dazu, dass z.B. am Ende des Jahres nur noch 11% statt ursprünglich 31% der Befragten die Zahl der in Deutschland lebenden Behinderungen die Frage nach der Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderungen mit „weiß nicht“ beantworteten; auch sei die Zahl derer, die nach eigenen Angaben keinerlei Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hätten, gesunken. Bewertete der damalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Behinderten dies auch als „spürbare Verstärkung in dem Bewußtsein der Bevölkerung für die Probleme des behinderten Menschen“ (Buschfort 1982: 59f.) und gelang es nach Auffassung des für die damalige Datenerhebung und -auswertung zuständigen IMV-Forschungsinstituts auch, ein „verstärktes Problembewußtsein zu wecken, Nachdenken und neue Initiativen anzuregen“ (IMV 1982: 207), so ist nach Cloerkes eher Skepsis angebracht: „Einen ‚grundlegenden Einstellungswandel‘ konnten die IMV-Forscher ebensowenig feststellen wie einen Zuwachs an ‚differenzierten Kenntnissen zu den konkreten Problemen behinderter Menschen‘, bestenfalls eine ‚verstärkte Sensibilisierung‘, die daraus abgeleitet wird, daß mehr Personen bei Selbstauskünften bekundeten, ihr Interesse und Wissen habe zugenommen. [...] Immerhin 39% gaben trotz des Druckes in Richtung sozial erwünschter Selbstdarstellung zu, die Informationen seien bei ihnen ‚wirkungslos abgeprallt‘.“ (Cloerkes 1982: 217)

Als zentraler Befund ist ferner hervorzuheben, dass immerhin 24% der Befragten angesichts der zahlreichen Informationsangebote ein fraglos kontraproduktives Gefühl der „Übersättigung“ kommunizierten (ebd.: 217). Eine Sichtung des (sei-

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nerzeit aktuellen) Forschungsstandes veranlasste auch Tröster zu einem eher skeptischen Fazit: „Vorliegende Übersichten lassen denn auch keine optimistischen Erwartungen hinsichtlich der Wirksamkeit derartiger Informations- und Aufklärungsprogramme aufkommen [...]. Vor allem langfristig stabile Einstellungsänderungen werden nur selten berichtet. [...] Viele der in der Literatur berichteten Untersuchungsergebnisse sagen nicht mehr aus als daß ein spezifisches Programm bei einer bestimmten Zielgruppe unter speziellen Bedingungen erfolgreich war.“ (Tröster 1990: 116)

Gerade der letzte Satz enthält unverkennbare Parallelen zu einer häufig zitierten Einschätzung Berelsons, die auch aus heutiger Sicht noch als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner zur Illustration der Komplexität von Medienwirkungszusammenhängen eingestuft werden kann: “Some kinds of communication on some kinds of issues, brought to the attention to some kinds of people under some kinds of conditions, have some kinds of effects.” (Berelson 1960: 531)

Die bisher skeptischen Ausführungen in diesem Kapitel mögen unter Umständen erste Zweifel an der Relevanz der Forschungsthematik aufkommen lassen, so dass an dieser Stelle zunächst einige Aspekte in Erinnerung gerufen und näher diskutiert werden sollen: Die erste Anmerkung versteht sich als eine prinzipiell bereits bekannte Relativierung einer Relativierung: Es mag zwar durchaus triftige Gründe geben, die Aussichten auf grundlegende Einstellungsänderungen gegenüber Menschen mit Behinderungen allenfalls mit gedämpftem Optimismus zu bewerten. Ebenso unbestritten ist jedoch der in Kapitel 4.1 diskutierte Umstand, dass Massenmedien in modernen Gesellschaften nun einmal eine zentrale Stellung einnehmen und alleine deshalb schon als hochrelevante Einflussgröße in Betracht zu ziehen sind. Streng genommen besagen die Existenz intervenierender Variablen, die Möglichkeit nicht intendierter Wirkungen oder die Hinweise auf ein souveränes und gegen bestimmte Botschaften nahezu immunes Publikum nicht mehr und nicht weniger, als dass die mit massenmedialen Überzeugungsversuchen verbundenen Überlegungen der aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren resultierenden Komplexität gerecht werden müssen, insbesondere, da die Bereitschaft, vorhandene Einstellungen gegenüber behinderte Menschen zu überdenken, als tendenziell eher gering einzustufen ist.

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An diesen letzten Satz knüpft die zweite Anmerkung an: Wenn die bisherigen Erkenntnisse eher zur Skepsis mahnen, sagt dies unter Umständen weniger über das fehlende Wirkungspotenzial der Massenmedien aus als vielmehr über die Robustheit der vorhandenen Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen. Die in Wissenschaft und Praxis allgegenwärtigen Überlegungen, auf welche Weise Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen abgebaut werden können, beschränken sich längst nicht nur auf den Bereich Massenmedien, sondern umfassen eine Vielzahl weiterer Strategien. Exemplarisch hervorgehoben werden soll an dieser Stelle die so genannte Kontakthypothese (vgl. im Folgenden weiterführend: Cloerkes 2007: 146ff.; Tröster 1990: 121ff.), die, wie die Bezeichnung bereits nahe legt, einen Zusammenhang zwischen persönlichem Kontakt mit behinderten Menschen und den Einstellungen ihnen gegenüber herstellt. In ihrer Grundform entspricht die Kontakthypothese einer Art Stimulus-Response-Modell mit Kontakt als unabhängiger und den Einstellungen als abhängiger Variable. Insofern überrascht es kaum, dass die Grundlogik der Diskussion dieser Hypothese prinzipiell bereits aus den Überlegungen zur Wirksamkeit von Massenmedien bekannt ist: Die Bedeutung intervenierender Variablen als förderliche (z.B. Freiwilligkeit, Gemeinsamkeit der Interessenlage) bzw. hinderliche Faktoren (z.B. Machtasymmetrien zwischen den Interaktionspartnern) wurde hierbei ebenso erörtert wie die Gefahr einer Verstärkung bereits vorhandener (und im Falle von Behinderung wohl tendenziell negativer) Einstellungen, womit implizit auch die Möglichkeit selektiver Wahrnehmungen von Interaktionssituationen angedeutet wird55. Im Hinblick auf die Kausalitätsrichtung wurde zudem betont, dass die Annahme, wonach Kontakt zu positiveren Einstellungen beitragen könne, nicht mehr und nicht weniger plausibel sei als die Gegenhypothese, wonach die Motivation, Kontakte zu behinderten Menschen zu knüpfen und zu pflegen, durch bereits existierende günstige Einstellungen erhöht oder erst hervorgerufen werde. Letztendlich gelangte Harold E. Yuker anlässlich einer Analyse von 274 Studien zur Kontakthypothese56 zu einer Feststellung, deren eher unverbindlicher Charakter durchaus mit der

55 Es versteht sich allerdings von selbst, dass eine ungünstige Bewertung einer Interaktionssituation nicht zwangsläufig auf fragwürdige Umdeutungen zurückzuführen sein muss. 56 In 51% der Fälle waren nach Yuker positive, in 10% negative Effekte erkennbar. In immerhin 39% der Untersuchungen wurden dagegen überhaupt keine nennenswerte

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weiter oben zitierten Einschätzung Berelsons zur Komplexität von Medienwirkungszusammenhängen vergleichbar ist: “Positive attitudes can result from mainstreaming disabled children, teaching disabled children, caring for or rehabilitating disabled persons, interacting socially with disabled persons, working with disabled persons, and so forth; but so can negative ones.” (Yuker 1988: 262)

Zusammenfassend führt also auch die zweite Anmerkung zu einem ganz ähnlichen Fazit wie die erste: Selbst wenn die theoretischen Überlegungen und empirischen Erfahrungen Anlass zu eher vorsichtigen Wirkungsprognosen geben, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl Massenmedien (siehe erste Anmerkung) als auch persönlicher Kontakt (vgl. u.a. die Einschätzung von Cloerkes 2007: 151) dennoch als potenziell hochrelevante Einflussgrößen in Bezug auf Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen anzusehen sind. Ein weiterer Aspekt erfordert eine ausführlichere und differenzierte Erläuterung: Die in diesem Kapitel referierten Überlegungen betrafen bislang schwerpunktmäßig massenmediale Informations- und Aufklärungsprogramme57. Bei einer Verallgemeinerung dieser Befunde ist z.B. zu bedenken, dass gerade bei diesen Kommunikationsformen die Intention einer Beeinflussung der Einstellungen zu behinderten Menschen kaum zu verhehlen ist. Tendenziell kann davon ausgegangen werden, dass solche explizit offensichtlichen Überzeugungsversuche auf (noch) stärkeren Widerstand stoßen und somit leichter und bewusster zurückgewiesen werden können als Präsentationsformen, deren Funktionsweise sich z.B. durch die stellvertretende Erfahrungsmethode im Sinne Allports charakterisieren lassen: Demnach seien „Filme, Erzählungen und Schauspiele wirksam [...], weil sie eine Identifikation mit dem Mitglied einer Minderheit herbeiführen können“ (Allport 1971: 484f.). Eine solche „sanfte Einladung zur Identifikation“ (ebd.: 485) sei verglichen etwa mit direkten Diskussionen weniger „bedrohlich“ (ebd.: 484) und somit zumindest als Einstieg in die Materie geeigneter.

Zusammenhänge zwischen dem Kontakt zu Menschen mit Behinderungen und den Einstellungen ihnen gegenüber festgestellt. 57 Tröster (1990: 118f.) bezieht sich zumindest am Rande auch auf nicht-massenmedial vermittelte Informationsprogramme (z.B. Vorträge, Lehrveranstaltungen).

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Allgemeiner formuliert bedeutet dies: Es macht fraglos durchaus einen Unterschied, ob die Behinderungsthematik in Form einer Aufklärungskampagne, eines Spielfilms, eines Zeitungsberichtes, eines Comics oder eben eines Produktwerbespots etc. präsentiert wird. Wichtig ist hierbei, die mit den jeweiligen Kommunikationsarten bzw. medialen Plattformen verbundenen spezifischen Anspruchshaltungen und Rezipientenerwartungen auch bei kritischen Auseinandersetzungen mit den betreffenden Kommunikationsinhalten angemessen zu berücksichtigen. Erläutern lässt sich diese Problematik etwa anhand der häufig zum zentralen Bewertungskriterium erhobenen Frage nach dem Realitäts- und Authentizitätsgehalt einer gegebenen Darstellung von Behinderung (vgl. Mürner 2003: 157f.) und konkret anhand des nachfolgenden Beispiels (vgl. Hilgers 1999: 106f.): Wenn in einer Action-Filmszene ein blinder Protagonist rein nach seinem – demzufolge übermächtigen – Gehör gleich fünf Gegenspieler erschießt, so sollte man eigentlich davon ausgehen können, dass (sicher nicht nur!) ein Anhänger dieses Genres einen solchen Film insgesamt „als Produkt einer Unterhaltungsindustrie und nicht als eine Folge des Telekollegs Behindertenpädagogik“ (ebd.: 107, eigene Hervorhebung) zu nehmen weiß und dem Rezipienten wahrscheinlich auch sonnenklar ist, dass eine entsprechende Filmszene das Resultat einer genrespezifischen Übertreibung (und nicht das einer fundierten Auseinandersetzung mit der Lebensrealität Blinder) darstellt. Bei einer Kritik am fehlenden Realismusgehalt dieser Darstellung ist also zu bedenken, dass eine solche fiktive Filmsituation von vorne herein keinen Anspruch auf eine realgetreue Abbildung von Blindheit erhebt, eine entsprechende Erwartungshaltung also zumindest unter diesem Gesichtspunkt fehl am Platze wäre. Ginge es nur um solche und vergleichbare Einzelfälle, wäre die Sorge um negative Auswirkungen unrealistischer Darstellungen von Behinderung wohl relativ problemlos zu entkräften. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass der eigentliche Problemkern wohl eher in der tendenziellen Beschaffenheit des Bildes behinderter Menschen in den Massenmedien verortet wird. Spätestens bei einer genaueren Betrachtung der Problematik wird deutlich, dass die Frage nach dem Realismusgehalt lediglich die berühmte Spitze des Eisbergs darstellt. So deutet nach Cloerkes die empirische Datenlage darauf hin, dass Menschen mit Behinderungen „wenn überhaupt [...] mehr in negativen als in positiven Zusammenhängen gezeigt werden, was bestehende Vorurteile eher manifestieren als

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abbauen dürfte“ (Cloerkes 2007: 140). Auch Colin Barnes et al. (1999: 197) äußern sich zunächst eher skeptisch:58 “It has been the general conclusion that the preponderance of media imagery is disabling and has a consequential effect on its audience. With so little exposure to contrary messages, this reinforces a straightforward ‘hypodermic syringe’ model in which the ‘naturalness’ of disability is seen to be confirmed by the media.”

Die aus dieser Einschätzung ableitbare Anspielung auf das Stimulus-ResponseModell (hypodermic syringe) sollte auch an dieser Stelle nicht zu dem Missverständnis verleiten, dass hier ein Automatismus vorliege: Gerade die hier diskutierte Kritik am Bild von Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien ist das beste Beispiel dafür, dass sich die Rezeption negativer Medieninhalte zur Behinderungsthematik zunächst einmal anhand der gleichen Logik wie die bereits hinreichend diskutierte Rezeption positiver Botschaften erläutern lässt59: •



Bei einer Diskrepanz der jeweiligen Botschaft mit den vorhandenen Einstellungen ist die Möglichkeit widerspenstiger Reaktionen (die das ursprüngliche Stimulus Response-Modell bekanntlich nicht vorsieht) in Betracht zu ziehen, unabhängig davon, ob die Botschaft als positiv oder negativ einzustufen ist60. Bei einer Konsonanz der jeweiligen Botschaft mit den vorhandenen Einstellungen ist der Anlass zu einer solchen aktiven Umdeutung per definitionem nicht gegeben. Folglich überrascht es nicht, wenn einstellungskonsonante Medieninhalte (wiederum unabhängig davon, ob sie als positiv oder negativ

58 Ähnlich wie aus den Ausführungen in Kapitel 4.1 ersichtlich, relativieren auch Barnes et al. (1999) diese Feststellung zunächst durch den Hinweis auf Ansätze, in denen die Prädispositionen des Publikums in den Mittelpunkt gerückt werden, räumen jedoch zugleich wiederum ein: “To suggest that audiences can be active, and negotiate their own meaning, does not leave the media without any impact.” (ebd.: 197) 59 Zum Zwecke der Vereinfachung soll an dieser Stelle außer Acht gelassen werden, dass schon die bloße Einstufung einer bestimmten Darstellung von Behinderung als eher positiv bzw. eher negativ in der Regel einen gewissen Interpretationsspielraum impliziert, den die hypodermic syringe-Metapher ja gerade nicht vorsieht. 60 Dies schließt allerdings nicht aus, dass die konkreten Reaktionsmuster je nach Botschaft recht unterschiedlich ausfallen können.

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einzustufen sind61) tendenziell vergleichsweise widerstandslos aufgenommen werden. Zugleich wird jedoch offensichtlich, dass eine unter diesen speziellen Bedingungen (und demnach in vielen Fällen nur vermeintlich) passive Kenntnisnahme solcher Botschaften gerade nicht mit einer durch das Stimulus Response-Modell generell unterstellten Rezipientenohnmacht verwechselt werden sollte. Folglich sind Anspielungen auf die hypodermic syringeMetapher auch in diesem Fall mit Vorsicht zu bewerten. Trotz dieser Einwände steht die Relevanz der Einschätzung nach Barnes et al. (1999) außer Frage, denn die eigentlich im Mittelpunkt stehende Sorge um eine affirmativ verstärkende Wirkung des als tendenziell negativ eingestuften Bildes von Behinderung in den Medien lässt sich z.B. unter Bezugnahme auf Verfügbarkeitsheuristiken (vgl. weiterführend Tversky/Kahneman 1974) sehr wohl plausibel erläutern: Wenn Rezipienten vor allem Negativbilder direkt kognitiv abrufen bzw. aus unmittelbar verfügbaren Quellen (z.B. Massenmedien) ableiten können, erhöht alleine dies schon die Wahrscheinlichkeit, dass entsprechende Darstellungen auch als zutreffend empfunden werden. Ein weitgehendes Fehlen der Gegenposition könnte somit gerade angesichts der mutmaßlich ohnehin eher ungünstigen Rezipientengrundhaltungen darüber hinaus den Eindruck bestätigen, dass es schlichtweg nichts Positives über Behinderung zu sagen gebe, mithin also auch kein Anlass bestehe, sich mit einer solchen negativen Rahmung der Behinderungsthematik kritisch auseinanderzusetzen. Der Umstand, dass die Massenmedien zu einer Verstärkung bestehender Einstellungen beitragen können, sollte demnach nicht als Gradmesser für die Erfolgsaussichten eines Einstellungswandels durch Massenmedien interpretiert werden. Das Zustandekommen des hier diskutierten Teufelskreises der Negativkonsonanz lässt sich u.a. begründen durch den (nur scheinbar trivialen) Hinweis,

61 Die oben zitierte Einschätzung (nach Barnes et al. 1999) bezieht sich auf eine negative Konsonanz. Der Fall einer positiven Konsonanz wird z.B. von Allport (1971: 489f.) im zweiten Teil seiner zu Beginn des Kapitels zitierten Ausführungen beschrieben, d.h.: Auch die Einschätzung, dass Propaganda für Toleranz vorwiegend aufgenommen wird von Personen, die eigentlich gar nicht (mehr) überzeugt werden müssen, lässt sich in diesem Sinne als passiv-zustimmende Rezeption einer bereits per se einstellungskonsonanten Medienbotschaft interpretieren.

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dass auch die Produzenten massenmedialer Botschaften im Regelfall62 mit dem gleichen gesellschaftlichen Wertesystem konfrontiert werden wie ihre Konsumenten. Die in Kapitel 4.2 geschilderten Ambivalenzen der sozialen Reaktion auf Menschen mit Behinderungen gelten folgerichtig für Medienschaffende (insbesondere, wenn sie nicht aus der Erfahrung eines selbst Betroffenen sprechen können63) ebenso wie für (ebenfalls insbesondere nichtbehinderte) Rezipienten. Hinzu kommt: Auch die besten Absichten in Tateinheit mit intensivster Recherche und gewissenhaftesten Reflexionen sind noch kein Garant dafür, dass der betreffende Journalist, Filmemacher, Werbetreibende etc. früher oder später nicht doch einen der gerade bei hochsensiblen Themen allgegenwärtigen Fallstricke erwischt bzw. dass er selbst bei einer nach bestem Wissen und Gewissen gut gemeinten Darstellung dann doch mit einer aus seiner Sicht unerwartet kritischen Lesart konfrontiert wird (vgl. zu dieser Überlegung u.a. Sandfort 1982b:

62 Die Variante, dass sich Rezipienten selbstverständlich auch Medieninhalten aus anderen Kulturen zuwenden können und dann ggf. auch interkulturelle Unterschiede in der sozialen Reaktion auf Menschen mit Behinderungen bzw. in der Bewertung der Behinderungsthematik in Betracht zu ziehen sind, soll an dieser Stelle vernachlässigt werden. 63 Diese Einschätzung führt wiederum zu der bereits in vergangenen Kapiteln mehrfach angedeuteten Forderung, Menschen mit Behinderungen als Experten in eigener Sache zu Wort kommen zu lassen (weiterführend Radtke 1993) bzw. allgemein: ihnen den Zugang zu Medienberufen zu erleichtern. Einen Einblick in diese Materie liefern u.a. die – allerdings bereits mehr als 15 Jahre zurückliegenden – Befunde Franz-Joseph Huaniggs, der im Rahmen seiner Untersuchung zu den Darstellungsmustern von Menschen mit Behinderungen im ORF-Programm auch Vertreter zahlreicher internationaler TV-Anstalten dazu befragte, in welchem Umfang Menschen mit Behinderungen in die Sendegestaltung und in relevante Gremien eingebunden seien. Die damaligen Daten gaben bis auf wenige Ausnahmen (z.B. bei der BBC oder in Australien) zu einem eher skeptischen Fazit Anlass: Zwar verwiesen, so Huainigg, viele Anstalten auf eine zu erfüllende Behindertenquote, doch in Schlüsselpositionen seien Menschen mit Behinderungen kaum vertreten (vgl. ausführlich Huainigg 1996: 120ff.; zusammenfassend: Reinhardt/Gradinger 2007: 97). Angesichts der Schwerpunktsetzungen der vorliegenden Studie (Beschränkung auf Werbung anstelle von z.B. Journalismus, Fokussierung auf die Bewertung konkreter Fallbeispiele sowie der Werbestrategie selbst) und der damit einhergehenden methodischen Umsetzung können diese Überlegungen allerdings vernachlässigt werden.

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210f.)64. Ein in diesem Zusammenhang häufig thematisiertes und daher in einem eigenständigen Kapitel ausführlich diskutiertes Problemfeld ist hier die Gefahr stereotyper Darstellungsformen von Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien.

4.4 B LICKE , B ILDER , S TEREOTYPE “Stereotype assumptions about disabled people are based on superstition, myths and beliefs from earlier less enlightened times. They are inherent to our culture and persist partly because they are constantly reproduced through the communications media. We learn about disability through the media and in the same way that racist or sexist attitudes, whether implicit or explicit, are acquired through the ‘normal’ learning process, so too are negative assumptions about disabled people.” (Barnes 1992; Abfrage: 04.10.2012: 5f.)65

Die Parallelen zu den Ausführungen in den vorangegangenen Kapiteln sind offensichtlich: Da Stereotype gewiss nicht erst durch die Massenmedien hervorgerufen wurden, darf ihre Existenz in massenmedialen Darstellungen zunächst einmal als Indikator für die – teils explizit, teils implizit – vorherrschenden Werthaltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen eingestuft werden. Auf der Rezipientenebene können massenmedial vermittelte Stereotype (ggf. in Konkurrenz mit anderen Quellen) zum einen affirmativ verstärkend auf bereits bestehende Einstellungen wirken, zum anderen unter bestimmten Bedingungen – 66 z.B. bei Rezipienten in der frühkindlichen Sozialisationsphase – zur Generierung negativer Grundhaltungen beitragen.

64 Dass ein solches Problem bisweilen auch für Wissenschaftler gilt, die sich mit der Behinderungsthematik auseinandersetzen, gilt, sei nur am Rande bemerkt. Anzumerken ist hier nicht zuletzt, dass gerade auch ein allzu krampfhaftes Bemühen, möglichst jedes Fettnäpfchen zu vermeiden, bestimmte Missverständnisse unter Umständen erst herausfordert. 65 Die Seitenangaben dieser Quelle basieren auf dem online verfügbaren PDF-Dokument. 66 Dies bezieht sich auf die in Kapitel 4.2 kurz angedeutete Überlegung, dass der Grundstein für Vorurteile in der frühkindlichen Sozialisationsphase gelegt wird und folglich Versuche einer Einflussnahme auf die Einstellungen gegenüber Menschen mit Behin-

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In Anlehnung an Douglas Biklen und Robert Bogdan bzw. – knapp 15 Jahre später und deutlich ausführlicher – Colin Barnes lassen sich zunächst folgende stereotype Darstellungsformen von Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien identifizieren (vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen: Biklen/Bogdan 1978, Barnes 1992; Abfrage: 04.10.2012: 7ff., Nelson 1994: 4ff., deutschsprachig: Scholz 2010: bes. 121ff.; Reinhardt/Gradinger 2007: 102 sowie ggf. die jeweils ergänzend genannten Quellen): •





Beim Stereotyp bedauernswert und pathetisch (pitiable and pathetic) liegt insbesondere die Assoziation „Spendenkampagnen“ auf der Hand, jedoch ist diese Repräsentationsform auch in anderen Kontexten weit verbreitet: Ein nicht unübliches Strickmuster bestimmter fiktionaler Formate beinhaltet z.B. einen behinderten Menschen, der angesichts seiner offensichtlichen Hilflosigkeit an die Gutmütigkeit seiner Mitmenschen appelliert. Im Kern zielen diese Darstellungen auf die Mitleidsempfindungen des Betrachters. Um gewissermaßen völlig sicher zu gehen, impliziert dieses Stereotyp dann auch häufig die Hervorhebung ganz besonders edler Eigenschaften und Charakterzüge (z.B. ein großes Herz). Die Darstellung als Gewaltopfer (object of violence) kann ebenfalls zur Fortschreibung des Bildes vom völlig abhängigen und hilflosen Menschen mit Behinderung beitragen, zumal die Gleichsetzung von Behinderung und Wehrlosigkeit häufig zur Betonung einer besonders ausgeprägten Skrupellosigkeit des Täters eingesetzt wird. In diesem Sinne wird dem behinderten Menschen eine doppelte Opferrolle (als Opfer der Behinderung und als Opfer von Gewalt) zugewiesen. Kritische Anmerkungen zu dieser Darstellungsweise sollten jedoch nicht außer Acht lassen, dass Menschen mit Behinderungen auch in der Realität überdurchschnittlich häufig zum Opfer verschiedenster Facetten von Gewalt werden, das Stereotyp also insofern auf einem durchaus wahren Kern und ernsten Hintergrund beruht. Bei der Darstellung als hinterhältig und/oder bösartig (sinister and/or evil) fungiert die Behinderung als Symbol für die Niederträchtigkeit bestimmter Charaktere. Beispiele finden sich u.a. in bestimmten Comics (vgl. hierzu

derungen zu jenem Zeitpunkt vielversprechender sind als zu späteren Zeitpunkten (vgl. auch Cloerkes 2007: u.a. 137).

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auch Zimmermann/Kagelmann 1982)67 oder auch in Märchen (vgl. z.B. Mürner/Sierck 2009), wobei Behinderung dort häufig nicht nur als Symbol, sondern auch als Bestrafung für bösartige Figuren vorkommt (vgl. hierzu Mürner 2003: 98ff.). Auf dem Stereotyp Atmosphäre oder Kuriosität (atmosphere or curio) basieren u.a. die in vergangenen Zeiten üblichen Freak Shows, in denen Menschen mit Behinderungen als besondere Attraktion zur Publikumsunterhaltung vorgeführt wurden Seine Fortsetzung findet dieses Stereotyp in bestimmten Filmen, in denen Menschen mit Behinderungen zur Schaffung einer bestimmten, meist bedrohlich und/oder mysteriösen Atmosphäre (z.B. Frankenstein) oder schlicht als willkommene Farbtupfer68 eingesetzt werden. Die offensiv-provokante Formulierung Superkrüppel (Supercrip bzw. Super Cripple) bezieht sich auf Darstellungen, in denen Menschen mit Behinderungen auf Grund nahezu übermenschlicher Fähigkeiten oder dank – meist nach den Maßstäben der so genannten Normalbevölkerung – als außergewöhnlich beurteilten Leistungen im Mittelpunkt stehen. Die grundsätzliche Logik des Supercrip-Stereotyps ist prinzipiell auch im Kontext medialer Repräsentationsformen anderer Minderheiten bekannt, wie etwa im Falle pauschaler Einordnungen von so genannten schwarzen Menschen als besonders musikalisch bzw. als außergewöhnliche Athleten. Zu den Paradebeispielen des Supercrip-Stereotyps zählen etwa der Mythos des Blinden, der seine fehlende Sehfähigkeit durch einen schier übernatürlichen Gehörsinn ausgleicht oder das Bild des Menschen, der „es“ trotz seiner Behinderung geschafft hat, wobei sich dieses „es“ gerade bei Kindern auch in Form einer Überanerkennung relativ belangloser Leistungen äußern kann. Relativ nahe liegt zudem die Vermutung, dass die Gefahr, in dieses Stereotyp zu verfallen, insbesondere im Behindertensportkontext recht ausgeprägt ist. Die Darstellungsform als lächerlich bzw. als Zielscheibe für Spott (laughable bzw. object of ridicule) darf als zunächst hinreichend selbsterklärend eingestuft werden. Das Spannungsfeld „Behinderung und Humor“ wird später

67 Anzumerken ist allerdings, dass sich auch ein Großteil der ansonsten hier erläuterten Stereotype in besagter Studie wiederfindet. 68 Als Beispiel verweisen Biklen/Bogdan (1978: 34) auf die häufig vorkommenden Figuren des blinden Musikers bzw. Zeitungsverkäufers sowie des “Blind man with a cup”.

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unter Bezugnahme auf konkrete Werbebeispiele (vgl. Kapitel 6.2.2 & 6.2.3) noch genauer thematisiert. Die Botschaft der Darstellungsform des Menschen mit Behinderung als sein eigener größter und vor allem: einziger Feind (as their worst and only enemy) lautet sinngemäß: Auch Menschen mit Behinderungen können all ihre Ziele erreichen, wenn sie nur wollen bzw. endlich aufhören würden, sich selbst zu bemitleiden. Die auch aus anderen Stereotypen bekannte Auffassung, dass Menschen mit Behinderungen völlig abhängig und auf die Hilfe Nichtbehinderter angewiesen sind, führt beim Bild des Menschen mit Behinderung als Last (as burden) zu der Schlussfolgerung, dass behinderte Menschen am besten gar nicht erst geboren werden sollten bzw. der Tod einer Behinderung vorzuziehen sei. Insofern bietet sich für diese Darstellungsform auch die Formulierung “better dead than disabled” (Nelson 1994: 7) an. Das Stereotyp asexuell bzw. sexuell anormal (non-sexual/sexually abnormal) bezieht sich auf die Erfahrung, dass Menschen mit Behinderungen häufig entweder Sexualität völlig abgesprochen (vgl. Kapitel 6.2.8) oder ihnen ein Hang zu sexueller Devianz unterstellt wird. Das Bild des zur vollen Teilhabe am Alltagsleben unfähigen Menschen mit Behinderung (as incapable of participating fully in community life) lässt sich weniger durch das Vorliegen bestimmter Darstellungsformen charakterisieren als vielmehr durch das weitgehende Fehlen von Beispielen, die dem durch dieses Stereotyp formulierten Gesamteindruck widersprechen (vgl. hierzu die Überlegungen zu Verfügbarkeitsheuristiken in Kapitel 4.3): So lange Menschen mit Behinderungen in medialen Formaten kaum als produktive Gesellschaftsmitglieder (z.B. als Studenten, Lehrer, Arbeitnehmer, Eltern etc.) in Erscheinung träten oder z.B. auch kaum in Werbeanzeigen für Alltagsprodukte zu sehen seien, sondern vor allem dann auftauchen, wenn es explizit um Behindertenthemen (z.B. Rechtsfragen) gehe, könne dies den Eindruck stützen, dass Menschen mit Behinderungen gewissermaßen eine minderwertige Spezies repräsentieren und man sie daher getrost in Sondereinrichtungen verfrachten könne. Colin Barnes (1992; Abfrage: 04.10.2012)69 ergänzt die Auflistung von Biklen/Bogdan (1978) noch um eine weitere Darstellungsform, die er als eine zum damaligen Zeitpunkt neuartige und insbesondere in zahlreichen anglo-

69 Thematisiert wird diese Repräsentationsform auch bei Scholz (2010: 130f.).

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amerikanischen (darüber hinaus auch diversen britischen) Medienerzeugnissen erkennbare Entwicklung einstufte: Der Mensch mit Behinderung als normal (as normal): Die betreffenden Personen werden in völlig alltäglichen Situationen gezeigt, die Behinderung wird dadurch nicht mehr zum primär hervorstechenden, sondern zu einem unter vielen Merkmalen. Barnes wertete dies durchaus als hilfreichen Schritt im Hinblick auf weitere Integrationstendenzen, betonte jedoch zugleich, dass es angesichts der (damals zu konstatierenden) Beschaffenheit der Darstellungen wohl noch eine geraume Zeit dauern würde, bis von einer Normalisierung die Rede sein könne. Die Erläuterung dieser Stereotype bildet bei Barnes (1992; Abfrage: 04.10.2012) einen wesentlichen Ausgangspunkt für weitere Empfehlungen, wie geeignete Darstellungen von Menschen mit Behinderungen in den Massenmedien aussehen sollten; insofern schließt sich Barnes implizit jener Auffassung an, wonach Massenmedien angesichts ihres Potenzials nicht nur (im Sinne eines affirmativen Indikators) die gängigen Negativstereotype weitertragen und bestätigen können, sondern einen solchen Teufelskreis durch geeignete Positivbilder auch durchbrechen können. Bereits in seinen einführenden Überlegungen greift Barnes auch den (ebenfalls bereits bekannten) Gedanken auf, wonach Massenmedien nicht als einzig entscheidende, jedoch alleine schon auf Grund ihrer Omnipräsenz als durchaus einflussreiche Quellen zur Vermittlung von Stereotypen einzustufen seien (vgl. ebd.: 7)70. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht somit vorwiegend die Wirkungsrichtung vom Sender zum Empfänger. Einige Jahre später wurde anlässlich der Ausstellung „Der [im]-perfekte Mensch“ (bzw. anlässlich einer damit einhergehenden Publikation) eine so genannte Typologie der Blicke entwickelt. In ihren Grundüberlegungen ist diese Kategorisierung mit den soeben diskutierten Stereotypen durchaus vergleichbar, jedoch findet hier ein entscheidender Perspektivenwechsel statt: Die Typologie versetzt sich in die Lage des Betrachters (also des Empfängers) der in dieser Ausstellung präsentierten Exponate, die Ausgangslage wird wie folgt beschrieben:

70 Barnes verweist dabei auf Daten, wonach (nach damaligem Stand) 98% der britischen Bevölkerung über einen Fernseher (wöchentliche Mindestnutzungsdauer: 24 3/4 Stunden) verfügten und 65% eine Tageszeitung (72% ein Sonntagsblatt) konsumierten.

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„Zunächst aber findet sich der Besucher beim Betreten des Raumes vor einer Backsteinmauer. Durch kleine Sehschlitze in der Mauer – einer Camera obscura oder Peepshow gleich – können Blicke auf das historisch wie gegenwärtig »Abweichende« geworfen werden. Die zeitlich und kulturell determinierte Wahrnehmung des Nichtnormalen ist mit bestimmten Haltungen, Bewertungen und Umgangs- sowie Reaktionsformen verbunden.“ (Judith et al. 2001: 169)

Lässt man die spezifischen Gegebenheiten einer solchen Ausstellung außer Acht, so ist die grundsätzliche Logik dieser Typologie also auch auf rezipientenfokussierte Ansätze aus der Medienwirkungsforschung übertragbar. Kategorisiert wurden u.a. die folgenden Blicke: •









Der staunende Blick hat seinen Ursprung im Mittelalter: „»Wundersame Wesen«, so genannte Prodigen mit zeichenhaftem Charakter, lösten [...] die naturalistischen, mythologischen oder kosmografischen Vorstellungen der Antike vom missgestalteten Menschen ab.“ (ebd.: 186) Diese Sichtweise bildete den Ausgangspunkt für eine systematische Sammlung, Beschreibung und Klassifizierung dieser „Monstren“. Auf ebendiesen Blick zielten ebenfalls die bereits erwähnten Freak-Shows. Der im 18. Jahrhundert einsetzende medizinische Blick ist gekennzeichnet durch das Bestreben, die „menschlichen »Deformationen«“ (ebd.: 188) wissenschaftlich-nüchtern zu analysieren und Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten. Der vernichtende Blick korrespondiert mit dem Stereotyp des Menschen mit Behinderung als (hier: finanzielle) Last und findet seine Entsprechung in nationalsozialistischer Propaganda zu lebensunwertem Leben, etwa: „Jeden Tag kostet ein Idiot in einer Anstalt etwa 4 Reichsmark. Wie viel Geld kostet es, wenn der Betreffende 40 Jahre lang dort gepflegt werden muss?“ (zit. nach ebd.: 189) Der mitleidige Blick findet seine Entsprechung im Stereotyp des bedauernswerten Menschen mit Behinderung und ist u.a. aus zahlreichen traditionellen Spendenaktionen wohlbekannt. „Der mitleidige Blick schafft Distanz, [denn] teilen will man das Los der Bemitleideten auf keinen Fall.“ (ebd.: 191) Der bewundernde – häufig: kompensierende – Blick zielt wiederum auf das Supercrip-Stereotyp. Anzumerken sei allerdings, dass es bisweilen Menschen mit Behinderungen selbst seien, die – auf Grund ihres Strebens nach bemerkenswerten Rekordleistungen – diesen Blick nahezu herausfordern.

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Der instrumentalisierende Blick bezeichnet jene Darstellungsweisen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit bereits anhand des Prototyps behinderungskontrastierender Werbung (Kapitel 3.2.2) diskutiert wurden, beruht also auf dem strategischen Einsatz abschreckender Bilder von Behinderung. Der ausschließende Blick folgt der gleichen Logik wie die bereits zu Beginn der Arbeit thematisierten Ausblendungsregel, bezieht sich also auf die „negative Aufmerksamkeit“ (ebd.: 194), die der Behinderungsthematik im Medienalltag zuteil wird. „Auch heute sind in den üblichen Ratgebern und Zeitschriften für werdende Eltern Kinder, die nicht den Wünschen nach »Normalität«, entsprechen, abwesend.“ (ebd.: 194) Auch die Parallelen zum Stereotyp des zur vollen Teilhabe am sozialen Leben unfähigen Menschen mit Behinderung sind insofern unübersehbar. Der fremde Blick beruht auf dem Hintergrund, dass bestimmte „körperliche und geistige Besonderheiten [...] in anderen Kulturen nicht als Mängel gedeutet [wurden], sondern [...] einen herausragenden gesellschaftlichen Stellenwert [erhielten], in der Regel auf Grundlage mythologischer oder religiöser Interpretationen“ (ebd.: 195). Insofern greift dieser Blick die bereits in Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit angedeutete kulturelle Bedingtheit der sozialen Reaktion gegenüber Menschen mit Behinderungen auf.

Die Typologie umfasst ferner noch das Porträt und den Eigenblick, auf deren Erläuterung an dieser Stelle allerdings verzichtet werden kann (vgl. ebd.: 195ff.). In einem vereinfachten Sinne kann eine Darstellung von Behinderung also entweder aufwertend (z.B. Supercrip), abwertend (z.B. Mitleid, Last), uneindeutig oder explizit auf gleicher Augenhöhe angesiedelt – also normal – sein, zugleich kann die Behinderung entweder als bemerkenswerte Abweichung (z.B. Kuriosität) in den Mittelpunkt gerückt oder aber als ein – somit wiederum normales – Merkmal unter vielen angesprochen werden. Auf ebendieser Logik basieren die von Rosemarie Garland Thomson im Zusammenhang mit der Visualisierung von Behinderung in Fotografien entwickelten vier Repräsentationsweisen (vgl. ausführlich Garland Thomson 2001 und zur dt. Terminologie: Renggli 2006: 99ff.; Schönwiese 2007: 44f.), die sich – unter Bezugnahme auf die zuvor bereits skizzierten Stereotype bzw. Blicke – wie folgt beschreiben lassen: •

Die außerordentliche (wondrous) Repräsentationsweise von Behinderung kombiniert – speziell in traditionellen Darstellungen – Komponenten des staunenden („wundersame Wesen“) sowie des fremden Blicks (religiöse Interpretationen) und spiegelt sich speziell in jüngerer Vergangenheit auch

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im Supercrip-Image bzw. dem bewundernden Blick wider. In Anlehnung an die gerade aufgeführten Überlegungen handelt es sich also um eindeutig aufwertende Darstellungsformen. Den Gegenpol hierzu bildet die sentimentale bzw. rührselige (sentimental) Sichtweise, die den Menschen mit Behinderung unterhalb (statt jenseits) der Augenhöhe des Betrachters ansiedelt, also den sprichwörtlichen Blick von oben herab herausfordert. Kennzeichnend sind Bilder wie das des verständnisvollen Opfers (sympathetic victim) oder des hilflosen und schutzbedürftigen Dulders (helpless sufferer needing protection or succor/siehe Garland Thomson 2001: 341). Die Analogien zum Stereotyp bedauernswert und pathetisch sowie dem mitleidigen Blick sind offenkundig. In diese Sparte ordnet Garland Thomson u.a. die Sonneblumen-Kampagne von Benetton ein (vgl. ebd.: 156f.). Die exotische (exotic) Repräsentationsweise degradiert Menschen auf Grund ihrer Andersartigkeit zu Unterhaltungsobjekten, um die Neugier und Sensationslust des Betrachters zu befriedigen; ein erneuter Verweis auf FreakShows liegt daher auf der Hand. Folglich knüpft diese Darstellungsform an das Stereotyp Kuriosität an und zielt auf den staunenden Blick (jedoch auf neuzeitlichere Formen dieses Blicks als es bei der außerordentlichen Repräsentationsweise der Fall ist). Ein entscheidender Unterschied zu den beiden erstgenannten Repräsentationsformen besteht nach Garland Thomson darin, dass die exotische Darstellungsweise zwar ebenfalls vorwiegend Distanz, jedoch nicht notwendigerweise ein eindeutig hierarchisches Verhältnis zwischen der Augenhöhe des Betrachters und der des Betrachteten schaffe (vgl. Garland Thomson 2001: 342f.). Die – noch relativ seltene, aber aus politischer Sicht umso bedeutsamere (vgl. Renggli 2004, Stand: 23.11.2004; Abfrage: 15.09.2011) – realistische bzw. alltagsnahe (realistic) Repräsentationsweise „zeigt das gewöhnliche an Behinderung, schafft normalisierte Nähe; Distanz wird reduziert“ (Schönwiese 2007: 45). Als Beispiel verweist Renggli auf die Repräsentationsform eines Kindes mit Down-Syndrom sowie einer spastisch gelähmten Person im Rollstuhl in der ARD-Fernsehserie Lindenstraße: Beide Figuren würden „weder verklärt noch diskriminierend dargestellt. Vielmehr stehen die alltägliche Gedanken- und Lebenswelt dieser Menschen im Vordergrund“ (Renggli 2004: 2, Stand: 23.11.2004; Abfrage: 15.09.2011). Wie Garland Thomson betont, sollte die Formulierung realistic jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass diese Repräsentationsform bereits per se als wahrhaftiger oder realistischer einzustufen sei als die übrigen drei: “Realism’s function is to create the

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illusion of reality, not to reproduce or capture its elusive and complex substance.” (Garland Thomson 2001: 344) Die Relevanz des hier aufgeführten Problemfeldes speziell für den Forschungsgegenstand Werbung71 ergibt sich u.a. aus einer in vergleichbarer Form immer wieder aufgeführten Standardweisheit: Eine Werbeanzeige sollte so ausgerichtet sein, dass die Botschaft von den (meist desinteressierten) Rezipienten möglichst auf den ersten Blick verstanden werden kann. Eine solche Zielsetzung erfüllen Stereotype als „durch Übergeneralisationen entstandene kognitive Simplifizierungen, durch die [...] allen Angehörigen einer Außengruppe [...] mehr oder minder dieselben Merkmale zugeschrieben werden“ (Fischer/Wiswede 2002: 272) quasi schon per definitionem72. Das Dilemma ist abzusehen: Einerseits überrascht es angesichts des soeben geschilderten Simplifizierungsanspruchs kaum, wenn die Werbung keineswegs selten zu stereotypen Darstellungsformen tendiert, sie bisweilen sogar ganz bewusst als Stilmittel einsetzt73. Andererseits ergibt sich aus den bisherigen Überlegungen, dass Stereotypisierungen von den betreffenden Merkmalsträgern häufig als unangemessen pauschalisierende, verkürzende, bisweilen stigmatisierende oder aus anderen Gründen fragwürdige Annäherung an ihre Lebensrealität empfunden und somit tendenziell wohl nicht sonderlich gerne gesehen werden. Zu einem solchen Fazit gelangt Farnall auch konkret im Zusammenhang mit der Darstellung von Behinderung in der Wer-

71 Die hier gewählte Fokussierung auf den Gegenstand „Werbung“ ist der Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit geschuldet und sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass stereotype Realitätsvorstellungen und -vermittlungen, wie u.a. die Vielfalt der speziell von Garland Thomson (2001) und Barnes (1992) aufgeführten Beispiele nahe legt, prinzipiell in allen möglichen Massenkommunikationsformen (und sicherlich auch unabhängig von diesem Bereich) als diskussionswürdiges Feld einzustufen sind. 72 Der Vorwurf stereotyper und in diesem Sinne diskriminierender Darstellungsformen in der Werbung ist insofern auch kein behindertenspezifisches Problem, wie etwa die auch heute noch allgegenwärtige Diskussion um „Frauenbilder in der Werbung“ (vgl. als einführenden Problemaufriss: Holtz-Bacha 2011 ) zeigt. 73 Wie spätestens seit Goffmans Ausführungen zu Geschlecht und Werbung (Goffman 1981) bekannt sein dürfte, neigt die Werbung bisweilen sogar zu „Stereotypisierungen von Stereotypen, sozusagen Super-Redundanz“ (Willems 2003: 29) bzw. – um bei Goffmans Formulierung zu bleiben – zu „Hyper-Ritualisierungen“ (weiterführend: Goffman 1981: 327f.)

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bung: Anzeigen funktionieren demnach erfahrungsgemäß vornehmlich dann, wenn ein positiver Bezug durch die Einbettung des Werbeträgers in einen möglichst alltagsnahen Kontext hergestellt werde, doch sei dies mitunter leichter gesagt als getan: Die Gefahr, trotz bester Absichten in das Supercrip-Stereotyp oder das Gegenextrem des ewig abhängigen Menschen mit Behinderungen zu verfallen, sei hier allgegenwärtig (vgl. Farnall 2006). Gerade angesichts des hohen Ambivalenzpotenzial idealisierender Darstellungen, wie sie eben durch das Supercrip-Stereotyp bzw. den bewundernden Blick repräsentiert werden, wandeln Werbetreibende hier auf einem sehr schmalen Grat, denn ob eine Darstellung entweder eingestuft wird als wünschenswert fähigkeitsorientierte Sicht auf Behinderung – im Sinne eines willkommenen Fortschritts gegenüber defizitorientierten Mitleidsbildern – oder aber als unangemessene Heroisierung, die von einer normalisierenden und realistischen Annäherung an die Lebensumstände des durchschnittlichen Menschen mit Behinderung nicht minder weit entfernt ist wie die aus Negativextremen häufig abzuleitenden Pauschalentmündigungen, liegt zu einem nicht unerheblichen Teil im Ermessen des jeweiligen Betrachters. In Anlehnung an die Überlegungen aus Kapitel 4.3 sollten in diesem Zusammenhang auch die spezifischen Anspruchshaltungen der Kommunikationsform Werbung berücksichtigt werden: Wer z.B. den Realismusgehalt einer Darstellung von Behinderung zum zentralen Gütekriterium erhebt, sollte sich bewusst sein, dass der primäre Anspruch der Werbung eben nicht in einer realgetreuen, repräsentativen Abbildung bestimmter Merkmalsträger besteht, sondern darin, potenzielle Konsumenten für das beworbene Produkt zu erwärmen. Gerade weil Werbung zu diesem Zweck üblicherweise auf die (angeblich durch das Produkt überbrückbare) Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit anspielt, liegt es allerdings auf der Hand, dass sich bisweilen auch die Repräsentationsformen der betreffenden Zielgruppen zu einem gewissen Grade ganz bewusst von einer bloßen Wiedergabe der jeweiligen Lebensrealitäten abheben. Allgemein formuliert führt die Diskussion um Stereotypisierungen von Behinderung also zu der Gretchenfrage nach der Vereinbarkeit der Selektions- und Präsentationsmechanismen der Werbung mit den tendenziellen Vorstellungen nach der Erwünschtheit (bzw. Unerwünschtheit) bestimmter Darstellungsformen von Behinderung. Der Werbetreibende, der einen positiven Zielgruppenbezug zu Menschen mit Behinderungen möglichst auf den ersten Blick vermitteln möchte, benötigt u.a. offenbar ein feines Gespür für das hohe Missverständnispotenzial werbespezifischer Simplifizierungen, wohl wissend, dass die Grenze zwischen akzeptierter Komplexitätsreduktion und dem Vorwurf der Stereotypisierung letztlich als Ermessenssache einzustufen ist. Wer wiederum für eine erhöhte

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Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Werbung plädiert, sollte sich dagegen bewusst sein, dass Werbung sich bei einer solchen Einbindung zunächst einmal an einer ganzen Reihe kommunikationsformspezifischer Faustregeln bzw. Selbstansprüchen orientiert und bestimmte Tendenzen – wie die Neigung zu Stereotypisierungen und/oder sonstigen Simplifizierungen – zu einem gewissen Grade wohl schlicht in Kauf genommen werden müssen.

4.5 G ENERATOR , I NDIKATOR , K ATALYSATOR ? D AS Z USAMMENSPIEL VON B EHINDERUNG UND W ERBUNG ALS D ESENSIBILISIERUNGSDILEMMA Je offensichtlicher die Intention einer Beeinflussung für den Rezipienten erkennbar ist, desto leichter fällt es ihm tendenziell, Gegenstrategien zu entwickeln oder sich diesem Versuch weitgehend zu entziehen. Diese Überlegung wurde in Kapitel 4.3 herangezogen, um die eher skeptische Sicht auf die Erfolgsaussichten von Aufklärungskampagnen zu Behinderung (ggf. auch anderen Themen) zu begründen. Auf den ersten Blick liegt es also nahe, ähnliche Zweifel auch an die Wirtschaftswerbung zu richten, doch gibt es im direkten Vergleich mit Aufklärungskampagnen einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied zu beachten: In Aufklärungskampagnen ist das mutmaßlich defizitäre Toleranzpotenzial gegenüber Menschen mit Behinderungen expliziter Gegenstand der intendierten Einstellungsänderung, bei einer Einbindung in die Wirtschaftswerbung fungieren Menschen mit Behinderungen dagegen „nur“ als Mittel zum eigentlichen Zweck, den Rezipienten zum Kauf des beworbenen Produktes (bzw. der Dienstleistungen) zu animieren. Die Einstellungen der Umworbenen gegenüber Menschen mit Behinderungen sind somit zwar sehr wohl als mögliche Determinanten für den Erfolg entsprechender Kampagnen relevant, doch orientiert sich die Erfolgsbewertung einer solchen Werbemaßnahme wohl vorwiegend an Fragen der kommerziellen Wirksamkeit. Eventuelle positive Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen sind im Falle von Wirtschaftswerbung folglich primär als willkommene (da zumindest indirekt wohl eher noch verkaufsfördernde) Nebeneffekte einzustufen. Zumindest vor diesem Hintergrund mag eine positive Darstellung von Behinderung in der Wirtschaftswerbung einen für mögliche Einstellungsänderungen zunächst günstigeren Zugang zur Behinderungsthematik eröffnen als Kommunikationsformen, in denen die Wünschbarkeit

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(bzw. Nicht-Wünschbarkeit) bestimmter Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen ausdrücklich zum Gegenstand erhoben wird74. Gleichwohl sollte selbstverständlich auch diese Feststellung nicht zu vorschnellen Wirksamkeitsprognosen verleiten. Die eigentlich primär relevanten Überlegungen zu den weitreichenden Konsequenzen einer erhöhten Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung führen bei allgemeiner Betrachtung zu der gerade in werbesoziologischen Arbeiten immer wieder thematisierten Frage nach dem Verhältnis zwischen Werbung und Gesellschaft: Inwieweit ist die Werbung überhaupt in der Lage, neue Trends zu schaffen? Fungiert Werbung eher als Indikator für bestehende Wertvorstellungen oder eher bzw. darüber hinaus auch als Generator für neue Trends?75 Nach Einschätzung von Siegfried J. Schmidt besteht weitgehender Konsens darüber, „dass Werbung aufgrund ihres Zwangs zur engen Synchronisation mit sozio-kulturellen Entwicklungen notwendigerweise eine selektive Indikatorfunktion für solche Wandlungsprozesse übernimmt und deshalb eine interessante Beobachtungsplattform abgibt für zeitgleiche Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen.“ (Schmidt/Zurstiege 2003: 230)76

Dass der Werbung in diesem Zusammenhang auch das darüber hinausgehende Potenzial einer Verstärkung der von ihr aufgegriffenen Trends zugestanden wird

74 Die Einschränkung „zumindest vor diesem Hintergrund“ beruht auf der Erkenntnis, dass eine Reihe weiterer Faktoren – etwa die Frage nach der moralischen Bewertung des Zusammenspiels von Behinderung und Wirtschaftswerbung – diesen potenziell „günstigeren Zugang“ wiederum relativieren kann. 75 Die zu Grunde liegende Überlegung wurde bereits in Kapitel 4.3 (allerdings ohne Bezugnahme auf Werbung) angedeutet. 76 Die Betonung liegt hierbei auf selektiv, d.h.: Wer sich aus dieser Indikatorfunktion weiterführende Rückschlüsse erhofft, sollte sich bewusst sein, „dass Werbung ihre gesellschaftliche Umwelt unter einer werbespezifischen Selektionsperspektive und Sinngebungsmaxime (Stichworte: Ausblendungsregel und affirmative Parteilichkeit) beobachtet, die dann in Medienangeboten nach den Zielvorgaben der Aktanten im Werbesystem verkörpert werden“ (Schmidt/Zurstiege 2003: 230). Angesichts dieser Selektivität ist z.B. die weit verbreite Metapher der Werbung als „Spiegel der Gesellschaft“ als durchaus problematisch einzustufen (vgl. Schnierer 1999: Kapitel 5).

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(vgl. u.a. Schmidt 1995: 43), kann angesichts der aus Kapitel 4.3 bekannten Überlegungen zur Wirkungslogik einstellungskonsonanter Medieninhalte kaum überraschen. Wesentlich strittiger als die Indikatorfunktion wird dagegen die – für den vorliegenden Kontext jedoch umso relevantere – Frage einer möglichen Generatorfunktion der Werbung diskutiert. Unter Berufung auf Werbeexperten hält Schmidt fest: „Werbung kann von ihrer ganzen Anlage her keine Trends setzen, weil sie dem harten Zwang zur totalen Verbrauchernähe und Akzeptanz ausgesetzt ist.“ (Schmidt/Zurstiege 2003: 231, Fußnote 6) In einem früheren Beitrag hält er einer vergleichbaren Einschätzung jedoch den bereits aus Kapitel 4.1 bekannten Hinweis auf die zentrale Bedeutung von Massenmedien für die Vermittlung und Konstruktion von Realität entgegen: „Sozialisation ist heute Mediensozialisation. Und damit wird nicht nur die Sprache, damit werden alle Medien zu wichtigen Instrumenten der Wirklichkeitskonstruktion wie der Veränderung von Modi der Wirklichkeitskonstruktion. Über die nicht zu übersehende Präsenz in den Medien aber geht auch Werbung in die Mediensozialisation ein.“ (Schmidt 1995: 43)77

Mit anderen Worten: Gerade in der heutigen (Medien-)Gesellschaft gehört demnach – auch – Werbung unausweichlich zu jener Kraft, aus der sozialer Wandel entstehen kann. Sie stellt hierbei zwar nur eine unter vielen – jedoch gewiss bei weitem nicht die unwichtigste – Quelle für entsprechende Anregungen dar. Diese Sichtweise wird umso plausibler, wenn man bedenkt, dass ein – im Hinblick auf die für Werbetreibende so zentrale Notwendigkeit der Aufmerksamkeitserzeugung durchaus vielversprechender – Weg gerade darin bestehen könnte, dem Zeitgeist einen kleinen, aber entscheidenden Schritt vorauszueilen. Insofern kann Werbung, falls diese Rechnung aufgeht, eben implizit auch zu einem Wandel der entsprechenden Wertvorstellungen beitragen, zumindest aber wichtige Impulse hierzu liefern. Eine Zusammenführung beider Sichtweisen führt letztlich zu einer ganz ähnlichen Logik, wie sie bereits in den vorangegangenen Kapiteln für Medienwirkungszusammenhänge erläutert wurde: Werbung kann sozialen Wandel offenbar

77 Schmidt argumentiert hier auf Basis einer konstruktivistischen Perspektive und geht somit implizit auch von einem aktiven Rezipienten aus: „Nicht die (Werbe-)Medienangebote also bestimmen, was wir mit ihnen machen: sondern wir als wirklichkeitskonstruierende Instanzen bestimmen, was wir mit solchen Angeboten machen.“

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mitgestalten, allerdings nicht im luftleeren Raum erzeugen (i.e. generieren). Darüber hinaus ist ihre Macht, neuen Trends den Weg zu bereiten, eng verknüpft mit der Bereitschaft der Umworbenen, diesem Weg zu folgen. Zur Klassifizierung dieses Potenzials scheint die Generator-Metapher also tatsächlich etwas hoch gegriffen, im Zusammenhang mit der vorliegenden Thematik soll daher von einer Katalysator-Funktion die Rede sein. Unter Mitberücksichtigung dieser Überlegungen lässt sich die Argumentationslinie zu möglichen Zusammenhängen zwischen dem Niveau der (Un-)Sichtbarkeit von behinderten Werbeträgern und dem Grad der (De-)Sensibilisierung der Behinderungsthematik im Alltag untergliedern in vier Teilgedanken, die auf den ersten Blick nicht unähnlich klingen, de facto jedoch von unterschiedlichen Ausgangslagen und Schlussfolgerungen ausgehen. •







Argument der Ausblendungsbegründung: Die (Fast-)Unsichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung ist als Konsequenz bestehender Werthaltungen, Vorurteile etc. gegenüber Menschen mit Behinderungen zu verstehen. Argument der Ausblendungsfolgen: Die (Fast-)Unsichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung trägt zu einer Fortschreibung der Wahrnehmung von Behinderung als Negativmerkmal bzw. entsprechenden Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen bei. Katalysator-Argument: Eine zunehmende Einbindung von Menschen mit Behinderungen könnte zu einer Enttabuisierung der Behinderungsthematik bzw. einem Abbau von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen im Alltag beitragen. Argument der Einblendungsbegründung bzw. Sichtbarkeitsbegründung: Wenn Menschen mit Behinderungen verstärkt in der Wirtschaftswerbung sichtbar wären, wäre dies ein Indiz dafür, dass sie in der viel zitierten Mitte der Gesellschaft angekommen sind bzw. dass sie von Werbenden auch außerhalb behindertenspezifischer Produkte zunehmend als Zielgruppe wie jede andere anerkannt werden.

Die im Folgenden ausführlich diskutierten Zusammenhänge zwischen diesen Teilargumenten werden in Abbildung 2 (S. 122 dieser Arbeit) dargestellt: Die reine Indikator-Funktion der Werbung wird durch das oben genannte Argument der Ausblendungsbegründung beschrieben, das Argument der Ausblendungsfolgen verweist auf die ergänzend angeführte Gefahr einer affirmativ verstärkenden Wirkung dieser Fast-Unsichtbarkeit auf den – gemäß dem Argument der Aus-

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blendungsbegründung – bereits bestehenden Eindruck, dass Behinderung als nicht kompatibel mit den gesellschaftlichen Idealbildern angesehen wird: Ähnlich wie die Prädominanz von Negativbildern kann auch die NichtThematisierung von Behinderung suggerieren, dass es letztlich keinen Anlass gebe, den hier geschilderten Status quo in Frage zu stellen. Abbildung 2: Behinderung und Werbung: vier Argumentationslinien und ihre gedanklichen Verbindungen Ausblendungsbegründung

Ausblendungsfolgen

Katalysator-Argument

Sichtbarkeitsbegründung

Quelle: eigene Erstellung

In diesem Sinne münden die beiden Argumente – analog zum Teufelskreis der Negativkonsonanz (vgl. Kapitel 4.3) – in eine Art Teufelskreis der Ausblendung, dessen Grundstruktur prinzipiell bereits thematisiert wurde: Behinderung wird als Negativmerkmal eingestuft und daher aus der Werbung ausgeblendet, diese Ausblendung bestätigt wiederum die Einordnung von Behinderung als Negativmerkmal, die Gefahr einer spiralförmigen Verstärkung dieser Tendenzen ist hierbei nicht auszuschließen. Diese beiden Teilargumente beschreiben die offenbar auch aktuell noch zu konstatierende Ausgangslage, die anderen beiden (unterhalb der gestrichelten Linie) beziehen sich auf bislang hypothetische Schlussfolgerungen. Das Argument der Sichtbarkeitsbegründung stellt hierbei einen gedanklichen Gegenpol zum Argument der Ausblendungsbegründung dar, das Katalysator-Argument wiederum einen (später noch zu diskutierenden) Umkehrschluss zum Argument der Ausblendungsfolgen.

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Da angesichts der aktuell zu konstatierenden Ausblendung von Behinderung dem Argument der Sichtbarkeitsbegründung bislang jeglicher Nährboden fehlt, erweist sich offenbar zunächst einmal das Katalysator-Argument als entscheidender Ausgangspunkt für eine Neubetrachtung; daher auch die in diesem Fall bewusst abweichende Bezeichnung als Katalysator-Argument (und nicht – analog zu den übrigen Formulierungen – z.B. als Argument der Einbindungsfolgen). Die zentrale Stellung dieses Argumentes erschließt sich, wenn man sich noch einmal die aus dem Forschungsüberblick (vgl. Kapitel 1 bis 2.2) bekannte Betroffenenperspektive vor Augen führt: Aus Sicht von Menschen mit Behinderungen ist demnach der Teufelskreis der Ausblendung78 – insbesondere auf Grund der dahinter stehenden Negativrahmung der Behinderungsthematik – als stigmatisierend einzustufen. Das Interesse, diesen Teufelskreis zu durchbrechen (also eine erhöhte Sichtbarkeit in der Werbung zu erzielen), gründet demnach vornehmlich in der Hoffnung, dem eigentlichen Kernziel einer Normalisierung, Desensibilisierung, Enttabuisierung etc. der Behinderungsthematik näher zu kommen. Im Umkehrschluss ist also zu vermuten, dass die Relevanz der vorliegenden Thematik für Menschen mit Behinderungen insbesondere mit zwei Fragen verknüpft ist: Inwieweit kann überhaupt von einer Katalysator-Wirkung der Werbung ausgegangen werden? Und wie stark ist ein solcher Effekt ggf. einzustufen – insbesondere im direkten Vergleich mit anderen Desensibilisierungsbzw. Normalisierungsstrategien (z.B. Kontakthypothese, vgl. Kapitel 4.3)? Für Werbetreibende wiederum ist die Frage nach einer erhöhten Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen bekanntlich nur im Zusammenhang mit ihren letztlich kommerziellen Kernzielen und ggf. den vorgelagerten Etappenzielen wie Aufmerksamkeitserzeugung etc. von Belang: Bei einer hinreichend deutlichen Negativrahmung der Behinderungsthematik ist eine Einbindung von Menschen mit Behinderungen in die Werbung wohl vorwiegend in Ausnahmefällen denkbar, z.B., wenn der Werbende das Risiko von Bumerangeffekten zu Gunsten einer möglichst breiten Aufmerksamkeitserzeugung79 billigend in Kauf nimmt oder, wie es offenbar u.a. bei Benetton der Fall war (vgl. ausführlich Ka-

78 Anm.: Die in den Schaubildern gewählten Formulierungen werden in diesem Kapitel (nicht jedoch in den folgenden Kapiteln) kursiv hervorgehoben. 79 Eine solcher, für die vorliegende Arbeit jedoch nur am Rande relevanter, Sonderfall wäre freilich auch gegeben, wenn es um sehr spezifische Marktsegmentierung geht und die Reaktionen von Konsumenten außerhalb der angesprochenen Zielgruppe als mehr oder weniger irrelevant verworfen werden können (vgl. u.a. Schnierer 1999: 36).

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pitel 2.2), ganz bewusst auf Empörung als Aufmerksamkeitsmultiplikator spekuliert. Darüber hinaus wird jedoch die Ausblendungsregel als werbelogisch dominante Strategie im Umgang mit Behinderung wahrscheinlich erst dann in Frage gestellt, wenn eine deutliche Entwicklung hin zur Normalisierung der Behinderungsthematik erkennbar ist: Da Werbetreibende bekanntlich (s.o.) gut beraten sind, aktuelle Trends möglichst unverzüglich aufzugreifen, könnten solche Desensibilisierungstendenzen früher oder später in eine erhöhte Sichtbarkeit in der Werbung münden. Eine Gegenüberstellung beider Perspektiven führt zusammenfassend zu einem Desensibilisierungsdilemma: Aus Sicht von Menschen mit Behinderungen wird eine Desensibilisierung der Behinderungsthematik als erhoffte Konsequenz einer erhöhten Repräsentanz, seitens Werbetreibender jedoch als notwendige Voraussetzung für eine verstärkte Einbindung von Menschen mit Behinderungen als Werbeträger eingestuft. Abbildung 3 fasst diese Überlegungen noch einmal zusammen. Abbildung 3: Das Desensibilisierungsdilemma

Teufelskreis der

Negativrahmung der

Ausblendung (Status quo)

Behinderungsthematik

?

? Werbesicht

erhöhte Sichtbarkeit in der

Normalisierung der

Werbung (hypothetisch)

Behinderungsthematik Betroffenensicht

Quelle: eigene Erstellung

Zur Überschreitung der – wiederum durch eine gestrichelte Linie markierten – Grenze zwischen dem Ist-Zustand (obere Bildhälfte) und den hypothetischen Szenarien (untere Bildhälfte) sind also zwei (durch entsprechende Pfeile markierte) Wege denkbar, die sich unter Bezugnahme auf die in Abbildung 4 (siehe nächste Seite) ersichtliche Verknüpfung mit den vorangegangenen Argumentationslinien wie folgt umschreiben lassen:

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Abbildung 4: Das Katalysator-Argument als entscheidendes Bindeglied?

Ausblendungsbegründung

Ausblendungsfolgen Teufelskreis der Ausblen-

Negativrahmung der

dung (Status quo)

Behinderungsthematik

?

?

erhöhte Sichtbarkeit in der

Normalisierung der

Werbung (hypothetisch)

Behinderungsthematik

Katalysator-Argument

Sichtbarkeitsbegründung

Quelle: eigene Erstellung

Durchbricht man, wie durch den linken Pfeil symbolisiert, den Teufelskreis der Ausblendung, kann die daraus resultierende erhöhte Sichtbarkeit in der Werbung gemäß dem Katalysator-Argument zu einer Normalisierung der Behinderungsthematik führen. Gelingt, wie durch den rechten Pfeil symbolisiert, auf welche Weise auch immer der Übergang von einer Negativrahmung zu einer Normalisierung der Behinderungsthematik, kann dies zu einer erhöhten Sichtbarkeit – und somit dann zu einer Einbindungs- bzw. Sichtbarkeitsbegründung – führen. Die Möglichkeit wechselseitiger Verstärkungen dieser Tendenzen ist auch hier keineswegs auszuschließen. Die Fragezeichen innerhalb der beiden Pfeile symbolisieren, dass gegenwärtig wohl nur darüber spekuliert werden kann, ob und

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ggf. wann mit einem Übergang vom status quo (oberhalb der gestrichelten Linie) zum hypothetischen Szenario (unterhalb der gestrichelten Linie) gerechnet werden darf. Wie allerdings spätestens an dieser Stelle deutlich werden sollte, verkennt die Frage, ob eine erhöhte Sichtbarkeit eher über Katalysator-Argument oder das Argument der Sichtbarkeitsbegründung erzielt werden kann, zunächst einmal, dass die beiden Wege zur Auflösung des Desensibilisierungsdilemmas allenfalls auf den ersten Blick zwei Alternativen repräsentieren, faktisch jedoch eine kaum zu trennende Einheit darstellen: Der nahe liegende Einwand, dass das Katalysator-Argument als Schlussfolgerung aus dem Argument der Ausblendungsfolgen keineswegs unproblematisch ist – da das Argument der Ausblendungsfolgen von einer Konsonanz, das Katalysator-Argument jedoch von einer Dissonanz zwischen dem Grad der medialen Repräsentanz und den (mutmaßlich) vorherrschenden Einstellungen gegenüber Behinderung ausgeht (vgl. Kapitel 4.3) – lässt sich tendenziell um so stärker relativieren, je geringer die Dissonanz zwischen dem werblichen und alltäglichen Umgang mit Behinderung ausfällt. Insofern ist die Plausibilität des Katalysator-Argumentes untrennbar mit dem bereits erreichten Normalisierungsgrad verknüpft. Ebenso ist es durchaus wahrscheinlich, dass der für Einbindungsbegründungen (bzw. im Endeffekt: Sichtbarkeitsbegründungen) notwendige Normalisierungsgrad ggf. bereits selbst als Resultat vorangegangener KatalysatorWirkungen eingestuft werden kann. Gestützt wird diese Überlegung insbesondere durch einen zweiten Aspekt: So lange die Ausblendung als dominante Strategie Bestand hat, ändert sich wahrscheinlich auch wenig an der Unsicherheit, die mit dem Zusammenspiel von Behinderung und Werbung verbunden ist. Erst wenn der Teufelskreis der Ausblendung durchbrochen worden sein sollte und die betreffenden Unternehmen mit der Einbindung von behinderten Werbeträgern konkrete Erfahrungswerte sammeln, wird (bzw. würde) sich zeigen, ob die Zeit für eine solche Werbestrategie reif ist oder aber (noch?) nicht. In Anlehnung an eine Argumentation von Schnierer (1999: 34f.) zur Problematik, bei Positionierungsstrategien die Anforderung nach Einzigartigkeit mit möglichst gesicherter Zielgruppenakzeptanz zu vereinen80, lässt sich die zu Grunde liegende Problema-

80 Das Originalzitat bezieht sich auf die nach Schnierer schier untrennbare Kombination von „Erotik“ und Parfum bzw. auf die Frage, inwieweit es im Hinblick auf die Aufmerksamkeitserzeugung Sinn haben könnte, auf andere Eigenschaften bzw. Assoziationen zu setzen: „Wer als erster etwas neues in den Vordergrund stellt, der trägt zum

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tik wie folgt beschreiben: Die ersten, die auf eine neue Strategie – hier: die Einbindung von Menschen mit Behinderungen – setzen, sehen sich in besonderem Maße mit der Gefahr eines Reinfalls konfrontiert. Doch sollte die Strategie aufgehen, können sie sich ebenso fest darauf verlassen, dass andere Unternehmen auf diesen Zug aufspringen und sich nicht zuletzt den Erfahrungsschatz der Innovatoren zunutze machen. Da gerade die Auseinandersetzung mit sensiblen Themen meist verbunden ist mit dem Gefühl, es eigentlich niemandem wirklich recht machen zu können81, scheint es gerade im Falle der Behinderungsthematik also nicht einmal unwahrscheinlich, dass (entgegen der weiter oben diskutierten Annahmen) selbst deutliche Anzeichen einer Normalisierung seitens der Werbung erst (wenn überhaupt) mit einer gewissen Verzögerung aufgegriffen würden. Rein theoretisch wäre eine Dominanz einer Strategie der Ausblendung also noch denkbar zu einem Zeitpunkt, an dem die Unsichtbarkeit von Behinderung in der Werbung längst nicht mehr als angemessener Indikator für den Ist-Zustand eingestuft werden könnte. Im Umkehrschluss heißt dies allerdings: Selbst wenn die Voraussetzungen für eine Einblendungs- bzw. Sichtbarkeitsbegründung bereits übererfüllt wären, bedarf es wahrscheinlich dennoch einer KatalysatorWirkung früher Kampagnen, um eine merkliche Zahl an Werbenden zu einer weniger risikofokussierten Sicht auf das Zusammenspiel von Behinderung und Werbung zu ermutigen. Aus der engen Verwobenheit beider Argumentationslinien ergibt sich schließlich eine letzte Überlegung: Spätestens, wenn das in der Sichtbarkeitsbegründung beschriebene Szenario einer hinreichenden Normalisierung der Behinderungsthematik in Tateinheit mit einer erhöhten Sichtbarkeit von Menschen mit

einen das Risiko eines Fehlschlages und er kann sich zum anderen darauf verlassen, daß im Falle eines Erfolges einige Konkurrenten sofort mit auf den Zug aufspringen. Da kann sich alles in allem eher der Versuch lohnen, die im Grunde genommen identische Werbebotschaft besser ‚rüberzubringen‘ als die Konkurrenz. Die Wirkungschancen sind hier zwar geringer einzuschätzen als bei thematisch originellen Werbebotschaften, mit ihnen aber auch die Risiken.“ (Schnierer 1999: 35) 81 Bezogen auf die Einbindung der Behinderungsthematik halten z.B. Ganahl und Arbuckle fest: “The challenge for advertisers to include persons with disabilities may appear to be a no-win situation. If advertisers include a person with a disability, they open themselves up to criticism created by hurt and sensitive feelings. If advertisers do not include a person with a disability, they are criticized for their lack of inclusivity.” (Ganahl/Arbuckle 2001; Abfrage: 24.08.2011: 6)

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Behinderungen in der Werbung einmal eingetreten sein sollte, erübrigt sich eigentlich auch eine – dann retrospektive – Analyse, inwieweit die Werbung in diesem Fall eher als Katalysator oder Indikator fungierte82. So lange es allerdings, wie es gegenwärtig der Fall ist, quasi keine Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Werbung zu begründen gibt, hat eine über den Teufelskreis der Ausblendung hinausgehende Auseinandersetzung mit der Thematik letztlich nur Sinn, wenn man die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Katalysator-Wirkung in Betracht zieht. Doch beruht, in Anlehnung an die aus Kapitel 2.2 bekannten Überlegungen, der eigentliche Anlass für eine Neubetrachtung auf Basis des Katalysator-Argumentes eben nicht auf der ja seit geraumer Zeit bekannten Binnenlogik dieser Argumentationslinie, sondern auf der Vermutung, dass die aktuellen Rahmenbedingungen inklusive der an betreffender Stelle angedeuteten behindertenpolitischen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit (z.B. UN-Konvention) einen wesentlich fruchtbareren Nährboden für eine solche Katalysator-Wirkung der Werbung bieten als z.B. die Situation vor 30 oder auch nur 20 Jahren.

4.6 L EITGEDANKEN , F ORSCHUNGSPROGRAMM B EGRÜNDUNG DER METHODISCHEN V ORGEHENSWEISE

UND

Die Erkenntnis, dass es sich bei der vorliegenden Thematik um ein hochkomplexes Feld voller Widersprüche handelt, zieht sich wie ein roter Faden durch die bisherigen Ausführungen. Verstärkt wird dieser vorab ohnehin schon zu vermutende Eindruck durch den Umstand, dass die Komplexität der verschiedenen Teilfragestellungen (z.B. Medienwirkung, Einstellung, Behinderungsbegriff) im Rahmen der vorliegenden Ausführungen allenfalls angedeutet werden konnte. Die dazugehörigen Überlegungen ließen sich also in nahezu beliebigem Ausmaß weiter vertiefen, doch würde dies wohl unausweichlich zu einer Steigerung der bereits per se vorhandenen Konfusionen führen. Für den weiteren Gang der vor-

82 Zu einer vergleichbaren Schlussfolgerung gelangt auch Schmidt im Anschluss an die weiter oben zitierte Passage des früheren Beitrages: „Werbung ist Teil unserer Kultur und zugleich Faktor der Enkulturation [...]. Ob die Werbung die Yuppies oder Yuppies die Yuppie-Werbung gemacht haben, wird so gesehen zum Henne-Ei-Problem.“ (Schmidt 1995: 43)

F ORSCHUNGSTHEORETISCHE E INORDNUNG

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liegenden Arbeit ist es jedoch vielmehr angebracht, die bereits existierenden Fäden zu entwirren, also einige der zentralen Gedanken aus den vorangegangenen Kapiteln wieder aufzugreifen und weiterzuführen mit dem Ziel, sich auf einige konkrete Schlussfolgerungen und Leitgedanken festzulegen und diese zusammenfassend zu erläutern. L1: Im Zusammenhang mit einer Neubewertung der vorliegenden Thematik scheint es unabdingbar, zu klären, inwieweit Menschen mit Behinderungen hierzulande bereits als Werbeträger (also in Gestalt konkreter Fallbeispiele) sichtbar sind.

In der angloamerikanischen Literatur geht die Hervorhebung möglicher Chancen bzw. die Relativierung der Bedenken häufig mit dem Hinweis auf konkrete Fallbeispiele einher. Dies setzt selbstverständlich zunächst einmal die Existenz einer hinreichenden Zahl geeigneter Präzedenzfälle voraus, auf die ggf. Bezug genommen werden kann. Wie umgekehrt – etwa in Anlehnung an den Teufelskreis der Negativkonsonanz (Kapitel 4.3) bzw. den Teufelskreis der Ausblendung (Kapitel 4.5) – zu vermuten ist, kann das weitgehende Fehlen real existierender Fallbeispiele nicht nur als Resultat einer negativen Rahmung der Thematik gesehen werden, sondern zum Fortbestand und einer affirmativen Verstärkung der Ausblendung beitragen. Analog zu dieser Überlegung könnte auch das weitgehende Fehlen themenrelevanter Literatur hierzulande den Eindruck vermitteln, dass es offenbar schlichtweg keinen Grund gebe, sich über den bereits vorhandenen Erkenntnisstand hinaus mit der Thematik zu beschäftigen oder gar ernsthaft die Ausblendung des Phänomens selbst zu hinterfragen. Dass eine solche Schlussfolgerung voreilig wäre, legt der Blick auf den tendenziell stärker an Chancen orientierten angloamerikanischen Forschungsstand nahe. Dies führt zu einem zweiten Leitgedanken: L2: Ein geeigneter Einstieg in die Neubetrachtung sollte darin bestehen, den bislang eher rudimentären Literaturstand auf anderem Wege zu kompensieren mit dem Kernziel, bereits erste Rückschlüsse über die aktuelle Relevanz der Thematik bzw. einer solchen Neubetrachtung zu erhalten.

Aus den bisherigen Überlegungen – und insbesondere als Schlussfolgerung aus L1 – ergibt sich außerdem ein dritter Leitgedanke, dem für die Konzeption der Online-Befragung noch eine entscheidende Bedeutung zukommen wird:

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L3: Die Bewertung konkreter Fallbeispiele auf möglichst breiter Basis erweist sich als offenbar zentraler Eckpfeiler einer Neubetrachtung der vorliegenden Thematik. Dies setzt wiederum ein gewisses Mindestmaß an Sichtbarkeit des Zusammenspiels von Behinderung und Werbung – zumindest für die Dauer des betreffenden Teils der Feldphase – voraus.

Ein vierter Leitgedanke ergibt sich aus der bereits in Kapitel 2.1 thematisierten Einschätzung, dass die Interpretation von Fallbeispielen nolens volens auf der persönlichen Lebensrealität des Betrachters basiert und somit Menschen mit Behinderungen unter Umständen zu völlig anderen Urteilen gelangen können als Menschen ohne Behinderungen. Zu beachten ist allerdings, dass das Konstrukt Erfahrungshorizont prinzipiell weit komplexer ist als diese – im Anlehnung an die Trennschärfeproblematik (vgl. Kapitel 3.1.1) ohnehin nicht unproblematische – Dichotomie „behindert vs. nicht behindert“. So macht es z.B. auch bei den so genannten nicht behinderten Personen in Anlehnung an die Kontakthypothese (vgl. Kapitel 4.3) wohl durchaus einen Unterschied, inwieweit sie selbst mit der Behinderungsthematik konfrontiert werden bzw. in Kontakt zu behinderten Menschen stehen: Ist dies ggf. nahezu täglich oder nur gelegentlich der Fall? Handelt es sich um familiäre und/oder berufliche Kontakte? Oder sind die betreffenden Personen bislang noch überhaupt nicht mit Behinderung in Berührung gekommen bzw. sich einer solchen Tatsache zumindest nicht bewusst? Andererseits muss zugleich damit gerechnet werden, dass die Auswertung sich möglicherweise doch primär an der Dichotomie „behindert vs. nicht behindert“ orientieren muss, da die aus einer allzu feingliedrigen Operationalisierung des Konstruktes Erfahrungshorizont resultierenden Zellbesetzungen im Hinblick auf eine sinnvolle Interpretation der Daten möglicherweise zu niedrig sind83. Zusammenfassend lässt sich also festhalten:

83 Es darf an dieser Stelle vorweggenommen werden, dass – nicht zuletzt unter Mitberücksichtigung dieser Zellbesetzungsproblematik – von einer über die Dichotomie „behindert/nicht behindert“ hinausgehenden Auswertung des Konstruktes Erfahrungshorizont abgesehen wurde. Im Rahmen der Konzeptionsphase wog jedoch das Risiko, sich durch eine unzureichende Aufgliederung dieses Konstruktes bereits vorab um interessante Interpretationsperspektiven zu bringen, selbstverständlich deutlich schwerer.

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L4: Bei der Datenauswertung ist der Blick insbesondere auf Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen den Einschätzungen von Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen zu richten. Diese Vereinfachung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Konstrukt Erfahrungshorizont prinzipiell über die Dichotomie „behindert vs. nicht behindert“ hinausgeht.

Bezogen sich die bisherigen Überlegungen auf Teilaspekte, die in die Konzeption der vorliegenden Studie einfließen sollten, so befasst sich der nächste Leitgedanke mit der Frage, welchen Anspruch die vorliegende Studie insgesamt verfolgen kann (und welche Ansprüche sie nicht erheben kann). Angesichts des bislang allenfalls rudimentären Forschungs- und Literaturstandes hierzulande kann (und muss) die vorliegende Arbeit als quasi-exploratives Vorhaben eingeordnet werden. Ein Kernziel besteht demnach in einer grundlegenden Strukturierung des Forschungsfeldes entlang der verschiedenen Argumentationsperspektiven, die bei der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand „Menschen mit Behinderungen als Werbeträger“ zu beachten sind (z.B. Werbesicht, Betroffenensicht, sog. Normalbevölkerung). Ergänzend hierzu sollen bereits erste empirische Daten erhoben werden. Wie zu Beginn der Arbeit bereits erwähnt, existiert hierzulande offenbar kein konkretes Datenmaterial, auf dem die vorliegende Arbeit bereits aufbauen kann. Folglich muss diese Grundstruktur im Rahmen der vorliegenden Arbeit erst einmal geschaffen werden. Das bedeutet zugleich, dass die Anwendung hochkomplexer multivariater Verfahren zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht wäre bzw. erst in einem nächsten Schritt Sinn hätte – nämlich dann, wenn sich ausgehend von den hier erhobenen Basisbefunden wiederum weiterführende Hypothesen für nachfolgende Forschungsvorhaben ableiten lassen. Zusammenfassend heißt dies: L5: Der Anspruch der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung durchgeführten quantitativen Analyse besteht in der Klärung einiger grundlegender Fragestellungen und Hypothesen, die bereits in der Frühphase einer forschungstheoretischen Standortbestimmung sinnvoll operationalisiert werden können. Dies impliziert, dass von allzu komplexen Fragestellungen (die ihrerseits eine Bezugnahme auf solche Basishypothesen erfordern würden) sowie im Zusammenhang mit der quantitativen Analyse von allzu komplexen Datenauswertungsverfahren abgesehen werden sollte.

Aus den in dieser Arbeit bislang vorgetragenen Überlegungen lassen sich zunächst die folgenden Forschungsfragen ableiten:

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i.

Welche Chancen und Risiken sind grundsätzlich mit der vorliegenden Thematik verbunden? Wie verhält es sich insbesondere mit der moralischen Bewertung einer solchen Werbestrategie? ii. Welche Kriterien sind bei der Einbindung von Menschen mit Behinderungen als Werbeträger zu beachten? Welche Darstellungsformen sind also z.B. zu fördern, welche zu vermeiden? Inwieweit sind die (mutmaßlichen) Präferenzen von Menschen mit Behinderungen tendenziell vereinbar mit den Selektionsmechanismen der Wirtschaftswerbung (z.B. Omnipositivität) und den Erwartungshaltungen der so genannten Normalbevölkerung? iii. Inwieweit ist das Zusammenspiel von Behinderung und Wirtschaftswerbung bereits in Gestalt konkreter (und möglichst aktueller) Fallbeispiele sichtbar? Welche Erfahrungswerte lassen sich ggf. aus der Bewertung dieser Fallbeispiele ableiten? iv. Existieren Indizien (z.B. in Bezug auf grundlegende Rahmenbedingungen), wonach der vorliegenden Thematik in Zukunft auch hierzulande eine zunehmende Bedeutung zukommen könnte? Inwieweit ermöglichen die Tendenzen im angloamerikanischen Raum entsprechende Rückschlüsse? v. Wie ist das Meinungsspektrum zu „Wirtschaftswerbung mit behinderten Menschen“ tendenziell beschaffen? Ergeben sich Unterschiede zwischen Rezipienten mit und ohne Behinderung? Inwieweit ist die Hoffnung auf eine Katalysator-Wirkung der Werbung als realistisch einzustufen? Die Frage nach der Umsetzbarkeit dieser Leitfragen führt zunächst zu einigen Problemen, die im Zusammenhang mit der Konzeption der in dieser Arbeit vorgesehenen quantitativen Erhebung zu bedenken sind: •

Einige der soeben genannten Kernfragen erfordern eigentlich eine Betrachtung über einen längeren Zeitraum. Eine in dieser Arbeit durchgeführte Erhebung kann dagegen lediglich als einmalige Befragung zu einem bestimmten Zeitpunkt, also quasi als empirische Momentaufnahme, konzipiert sein. Erläutern lässt sich diese Problematik z.B. anhand des Desensibilisierungsdilemmas (vgl. Kapitel 4.5): So würde etwa die Überprüfung des KatalysatorArgumentes den (folglich zu mehreren Befragungszeitpunkten zu erbringenden) Nachweis erfordern, dass die Konfrontation mit themenrelevanten Fall-

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beispielen einen längerfristigen Einstellungswandel 84 zu Gunsten behinderter Menschen hervorgerufen hat, während die in dieser Studie durchgeführte quantitative Erhebung lediglich auf die Erhebung kurzfristiger Akzeptanzbekundungen (zu einem Messzeitpunkt X) abzielen oder ggf. spekulative Prognosen zur Triftigkeit dieser Argumentationslinie erfassen kann. Dass ein solches Stimmungsbild dennoch einen fundierten Einblick in das Meinungsspektrum der Befragten liefert (und somit sicherlich auch gewisse Anknüpfungspunkte für weiterführende Überlegungen im Zusammenhang mit dem Katalysator-Argument eröffnen kann), steht selbstverständlich außer Zweifel. Andere unbestreitbar relevante Fragestellungen sind angesichts ihrer Komplexität schlichtweg zu sperrig für eine angemessene Umsetzung im Rahmen einer quantitativen Befragung, die sich ja darüber hinaus auch noch an eine möglichst breite Teilnehmerbasis richtet. Dies gilt z.B. für die Frage, inwieweit die aus dem angloamerikanischen Raum bekannten Tendenzen Rückschlüsse auf eine möglicherweise steigende Bedeutung der Thematik auch hierzulande zulassen könnten. Eine nähere Betrachtung dieses Teilaspektes erfordert eine Ausführlichkeit, die in einer quantitativen Erhebung nicht geleistet werden kann und eine thematische Involviertheit, die zumindest von einem Durchschnittsbefragten realistisch gesehen nicht erwartet werden sollte. Eine goldene Regel der Methodenlehre besagt, dass der Zeitbedarf für eine quantitative Erhebung nicht allzu hoch angesetzt werden sollte, um die Geduld (und damit die Teilnahmebereitschaft) der Untersuchungsteilnehmer nicht unnötig auf die Probe zu stellen. Es liegt nahe, dieser prinzipiell allgemeingültigen Problematik eine umso höhere Beachtung zu schenken, wenn die Befragung sich mit einem hochsensiblen – und angesichts der bisher nur marginalen Sichtbarkeit wohl auch gewissermaßen exotisch anmutenden – Thema wie „Behinderung in der Wirtschaftswerbung“ befasst.

Als gemeinsamer Nenner dieser drei Probleme und unter Mitberücksichtigung von L5 lässt sich also festhalten: Die Tragweite der in dieser Arbeit zu klärenden Fragen geht deutlich hinaus über den Anspruch, den eine empirische Erhebung insbesondere zu einem so frühen Zeitpunkt einer forschungstheoretischen Stand-

84 Einen Überblick über die Problematik und ausgewählte Ansätze zur Messung langfristiger Einstellungsänderungen vermittelt u.a. Schenk (Schenk 2002: 179ff.).

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ortbestimmung erfüllen kann. Wie L2 verdeutlicht, scheint zudem bei vielen Aspekten, die für eine Einbindung in die quantitative Befragung ungeeignet scheinen, dennoch eine über den bloßen Literaturstand hinausgehende Analyse angebracht. Für eine solche quasi-explorative Strukturierung des Forschungsfeldes bieten sich offenbar Leitfadeninterviews mit ausgewählten Experten als Methode erster Wahl an. Die daher in dieser Studie durchgeführten Experteninterviews richten sich sowohl an Personen, die sich beruflich oder in vergleichbarer Weise mit Werbung beschäftigen als auch an speziell ausgewählte Menschen mit Behinderung, die sich in irgendeiner Form (z.B. Wissenschaft, Online-Magazin etc.) mit dem Medien- bzw. Werbesektor befassen, und/oder aus vergleichbaren Erwägungen interessant sein könnten (vgl. ausführlich Kapitel 5.1). Das Wesen von Leitfadeninterviews lässt sich zusammenfassend wie folgt beschreiben: „Ein Interviewleitfaden enthält die Fragen, die in jedem Interview beantwortet werden müssen. Allerdings sind weder die Frageformulierungen noch die Reihenfolge der Fragen verbindlich. Um das Interview so weit wie möglich an einen natürlichen Gesprächsverlauf anzunähern, können Fragen aus dem Interviewleitfaden auch außerhalb der Reihe gestellt werden, wenn es sich ergibt.“ (Gläser/Laudel 2006: 39)

Idealtypisch gesehen handelt es sich bei dem Leitfaden also um eine „Richtschnur, die die unbedingt zu stellenden Fragen enthält“ (ebd.: 40). In der vorliegenden Studie ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Auswahl der Experten nicht zuletzt der Vielfalt möglicher Betrachtungsperspektiven auf den Untersuchungsgegenstand geschuldet ist und folglich die unterschiedlichen Teilspezialisierungen der Experten bei der Konzeption und Durchführung der Interviews auch ganz bewusst mitberücksichtigt werden sollten. Es bietet sich konkret also an, ein für alle Befragten gleiches Leitfadenfundament zu entwickeln, dieses aber in Abhängigkeit von der jeweiligen Funktion des Experten um weitere Aspekte (die demnach in anderen Interviews nicht notwendigerweise abgearbeitet werden müssen) zu ergänzen. Ebenso scheint es – sowohl im Hinblick auf die Teilnahmemotivation der Befragten als auch aus Zeitgründen – in bestimmten Fällen ratsam, von bestimmten Teilfragen völlig abzusehen, wenn der Experte z.B. bereits an anderer Stelle signalisiert hat, dass er sich zumindest in jenem Punkt nicht als geeigneter Ansprechpartner betrachte (und er ohnehin auf Grund einer Spezialisierung auf einen völlig anderen Teilaspekt als Experte konsultiert wurde). Konkret ergibt

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sich aus den Forschungsfragen und den damit verbundenen Zielsetzungen des Projektes somit das folgende Set einzusetzender Forschungsmethoden: •





Expertenbefragung, erste Welle: Telefonische Expertenbefragungen mit jeweils ca. 10 Interviews sind im Rahmen dieses Projektes an zwei Stellen (konkret: als erster und letzter Schritt der Feldphase) vorgesehen. Die erste Welle verfolgt vorwiegend drei Ziele: Das erste Ziel besteht darin, einen umfassenden Überblick über aktuelles themenrelevantes Werbematerial zu erhalten (vgl. Kapitel 5.4). Das zweite Ziel entspricht der in L2 formulierten Notwendigkeit, den im deutschsprachigen Raum nur rudimentären Literaturstand zu kompensieren. Hintergrund ist die Annahme, dass Experteneinschätzungen zwar nicht mit verallgemeinerbaren empirischen Aussagen verwechselt werden sollten, jedoch speziell im Falle eines explorativen Verständnisses als wichtige Diskussionsbasis interpretiert werden dürfen. Daraus ergibt sich das dritte Ziel: Die zentralen Erkenntnisse aus den Experteninterviews dienen nicht zuletzt (im Verbund mit den theoretischen Vorüberlegungen) der Generierung und/oder Feinjustierung von Hypothesen für die anschließende Online-Befragung, also in einem allgemeinen Sinne als wertvolle Anknüpfungspunkte für weiterführende Überlegungen. Die Interviewleitfäden basieren auf einem für alle Befragten gleichen Fundament, das – in Abhängigkeit der Funktion des jeweiligen Gesprächspartners – durch weitere, individuell verschiedene Aspekte ergänzt wird. standardisierte (Online-)Befragung: Unter Mitberücksichtigung zentraler Erkenntnisse der Expertenbefragung soll im Anschluss daran das Meinungsspektrum zur vorliegenden Thematik auf möglichst breiter Basis mittels einer Online-Befragung (unter Verwendung von Global Park) erhoben werden. Diese Befragung richtet sich an Personen, die (im Unterschied zum vorangegangenen Teil der Feldphase) nicht notwendigerweise über Expertenwissen im Sinne dieser Studie verfügen (sieht man einmal davon ab, dass Menschen mit Behinderungen auf Grund ihres persönlichen Erfahrungshorizontes wohl zu einem gewissen Grad grundsätzlich über behindertenspezifisches Expertenwissen verfügen, dass den so genannten Nichtbehinderten verschlossen bleibt). Die TeilnehmerInnen werden u.a. gebeten, Werbekampagnen zur vorliegenden Thematik zu bewerten. Des Weiteren werden allgemeine Einstellungen zur (Nicht-)Präsenz von Menschen mit Behinderung in Werbedarstellungen gemessen. Expertenbefragung, zweite Welle: Im Anschluss an die Online-Befragung wird eine zweite Expertenbefragung durchgeführt mit dem Ziel, einen Teil

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der bereits konsultierten Experten mit ausgewählten Ergebnissen der vorangegangenen Schritte zu konfrontieren. Diese zweite Welle ist weit weniger umfangreich als die erste. Die Durchführung erfolgt zudem nicht telefonisch, sondern – wie die standardisierte Befragung – online unter Verwendung von Global Park. Nach der bisher ausschließlich theoriegeleiteten Fokussierung der vorliegenden Arbeit liegt der Schwerpunkt der nachfolgenden Kapitel nun auf der Auswertung der soeben skizzierten Feldphase und der weiterführenden Interpretation ausgewählter Ergebnisse. Im Mittelpunkt von Kapitel 5 stehen hierbei zunächst ausgewählte Befunde der ersten Expertenbefragungswelle.

5 Kernbefunde der ersten Expertenbefragungswelle

5.1 D IE K ONZEPTION UND AUSWERTUNG DER E XPERTENINTERVIEWS : METHODISCHE V ORBEMERKUNGEN Das angestrebte Ziel, 10 ExpertInnen zu befragen, konnte – trotz einiger (und z.T. unvorhergesehener) Absagen im Vorfeld – problemlos erfüllt werden: Konsultiert wurden sogar insgesamt 16 ExpertInnen (teils mit, teils ohne Behinderungen) in Form von zehn Einzelinterviews, einem Gruppeninterview und drei schriftlichen Befragungen. Die Telefoninterviews und die Face-to-FaceBefragungen wurden im Zeitraum vom 05.08.2009 bis 30.09.2009 durchgeführt; die schriftlichen Fragebögen trafen z.T. etwas später ein. Weiterführende Informationen zu den Experten – unter Mitberücksichtung der forschungsethischen Prämissen der Anonymisierung (bzw. Pseudonymisierung) – sind der auf der folgenden Seite abgebildeten und im Anschluss erläuterten Tabelle 5 zu entnehmen. In einem allgemeinen Sinne kann ein Experte verstanden werden als Person, die „über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse verfügt“ (Meuser/Nagel 1991: 443). Prinzipiell kommt für den Expertenstatus jeder in Frage, der vom Forscher als geeigneter Kandidat für eine solche Einstufung befunden wird (vgl. ebd.: 443). Dies ist selbstverständlich keine Einladung für eine willkürliche Ausdehnung des Exper-

138 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

tenbegriffs85, mahnt aber die Notwendigkeit einer fundierten Erklärung der zu Grunde liegenden Selektionskriterien an. Die beiden linken Spalten von Tabelle 5 beziehen sich auf die Nummer des Interviews (Int-Nr./insgesamt 14) sowie die (anonymisierte) Benennung der einzelnen Experten (insgesamt 16, da Interview 7 mit drei ExpertInnen geführt wurde). Die Umschreibung des Expertentums ist wiederum von den genannten forschungsethischen Postulaten geleitet: Je präziser die Angaben von Funktion und ggf. Organisation/Einrichtung etc. gestaltet sind, desto größer wäre die Gefahr möglicher Rückschlüsse auf die Identität der Befragten. Um dieses Risiko zu minimieren, sind die Umschreibungen möglichst allgemein gehalten – somit aber in einigen Fällen möglicherweise missverständlich: Die Umschreibung Behinderung umfasst z.B. (überwiegend selbst von einer Behinderung betroffene) Personen, die sich mit der Behinderungsthematik oder bestimmten Teilaspekten auseinandersetzen. Dieses Schlagwort sollte allerdings nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffenden Befragten ggf. auf ihre Behinderung reduziert werden. Die Beschreibung Organisation drückt aus, dass der betreffende Interviewpartner als Vertreter einer im Behinderungskontext anzusiedelnden Organisation konsultiert wurde – von detaillierteren Angaben wird aus den bekannten Gründen abgesehen. Die Kategorien Erhebungsform und Geschlecht sind selbsterklärend. Im Falle der letzten Spalte ist zu beachten, dass die Angabe lediglich Aufschluss darüber gibt, inwieweit aus sicheren Quellen bekannt ist, ob der jeweilige Befragte selbst eine Behinderung erfährt. Ein „ja“ lässt sich letztlich zurückführen auf eine zumindest im weitesten Sinne freiwillige Selbstauskunft, die entweder (und meistens) im Rahmen der Vorrecherchen oder (in Einzelfällen) während der Befragung auf Eigeninitiative der betreffenden Person bekannt wurde86.

85 Um mit Meuser/Nagel (1991: 443) zu sprechen: „Das will nicht sagen, daß es lediglich ‚ExpertInnen von soziologischen Gnaden‘ gibt. Auch ohne die entsprechende Zuschreibung ist eine Managerin eine Expertin für Personalführung, für Marketing, für MitarbeiterInnenschulung usw. Das kann jedoch für das konkrete Forschungsinteresse ohne Belang sein.“ 86 Ein „nein“ ergibt sich also z.B. auch dann, wenn eine Information Dritter nicht durch eine solche - in diesem Sinne zweifelsfreie – Selbstauskunft gedeckt ist. Von entsprechenden Nachfragen bei den Experten wurde selbstverständlich abgesehen.

E RSTE E XPERTENBEFRAGUNGSWELLE

Tabelle 5:

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Anonymisierte und pseudonymisierte Umschreibung der Experten

Interview

Befragter

Expertentum

Erhebungsform

Geschlecht

Behinderung (soweit bekannt)

1

Experte_1

Werbung

Telefonisch

m

Nein

2

Experte_2

Behinderung

Telefonisch

m

Ja

3

Experte_3

Behinderung

Telefonisch

m

Ja

4

Experte_4

Werbung

Telefonisch

m

Nein

5

Experte_5

Behinderung

Telefonisch

m

Ja

6

Experte_6

Organisation

Telefonisch

m

Nein

7

Experte_7

Organisation

Face-to-Face

m

Ja

w

Nein

w

Nein

(Gruppe) 7

Experte_8

Organisation

Face-to-Face (Gruppe)

7

Experte_9

PR

Face-to-Face (Gruppe)

8

Experte_10

Organisation

Telefonisch

m

Nein

9

Experte_11

Wissenschaft

Telefonisch

m

Ja

10

Experte_12

Medien,

Telefonisch

m

Nein Ja

Ja

Werbung 11

Experte_13

Wissenschaft

Face-to-Face

12

Experte_14

Wissenschaft

Schriftlich

13

Experte_15

Behinderung,

Schriftlich

m m m

Schriftlich

w

Nein Nein

Medien 14

Experte_16

Behinderung, Medien

Quelle: eigene Erstellung

Die Konzeption des Leitfadens orientierte sich – wie eigentlich auch zu erwarten – an Fragestellungen bzw. weiterführenden Überlegungen, die sich aus wesentlichen Befunden der theoretischen Vorüberlegungen ergeben hatten. Die Wahl einer Auswertungsstrategie für Leitfadeninterviews hängt generell ab „von der Zielsetzung, den Fragestellungen und dem methodischen Ansatz [...] – und nicht zuletzt davon, wie viel Zeit, Forschungsmittel und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen“ (Schmidt 2007: 447). Die Grundprämisse besteht in diesem Sinne darin, ein möglichst günstiges Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag zu generieren. Diese eigentlich triviale Erkenntnis hat im Zusammenhang mit

140 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Expertenbefragungen einen durchaus ernsten Hintergrund: So lautet ein aus der Methodendebatte dieser Erhebungsform allgegenwärtiger Vorwurf, dass Experteninterviews bisweilen – irrtümlich – als weitgehend unproblematische Vorgehensweise zur schnellen und objektiven Informationsgewinnung aufgefasst werden können und der forschungsmethodische Klärungsbedarf nur allzu leicht übersehen werde (vgl. hierzu u.a. Bogner/Menz 2009: bes. 8ff.; Meuser/Nagel 2009: 35f.). Mit diesen Einwänden soll jedoch lediglich auf potenzielle methodische Fallstricke bei der Umsetzung hingewiesen, nicht aber die generelle Legitimität bestimmter Zielsetzungen von Expertenbefragungen in Frage gestellt werden. Ganz im Gegenteil sei „die Durchführung von Experteninterviews zu Informationszwecken – gewissermaßen die pragmatische Anwendungsvariante – nicht nur weit verbreitet, sondern für bestimmte Forschungszwecke auch ganz und gar methodisch legitim“ (Bogner/Menz 2009), sofern man sich bewusst sei, dass der gedankliche und methodische Klärungsbedarf auch bei dieser vergleichsweise niedrig gehaltenen Zielsetzung nicht unterschätzt werden sollte. Dass dieser Reflexionsaufwand mit der Komplexität des Erkenntnisinteresses steigt, versteht sich ohnehin von selbst: Vor einer näheren Erläuterung und Begründung der in dieser Arbeit konkret angewandten Vorgehensweise scheint zunächst ein kurzer Blick auf zwei bereits etablierte Ansätze (Schmidt 2007 und Meuser/Nagel 1991) hilfreich. Christiane Schmidt hat für die Auswertung von Leitfadeninterviews eine fünfstufige Vorgehensweise entwickelt, die sich zusammenfassend wie folgt beschreiben lässt: „Zuerst werden – in Auseinandersetzung mit dem Material – Kategorien für die Auswertung gebildet. Diese werden – in einem zweiten Schritt – zu einem Auswertungsleitfaden zusammengestellt, erprobt und überarbeitet. Mit Hilfe dieses Auswertungs- oder Codierleitfadens geht es – drittens – darum, alle Interviews zu codieren, d.h., unter den Auswertungskategorien zu verschlüsseln. Auf der Basis der Verschlüsselungen lassen sich dann – viertens – Fallübersichten erstellen; diese bilden im letzten […] Auswertungsschritt eine Grundlage zur Auswahl vertiefender Fallanalysen.“ (Schmidt 2007: 448)

In ihrem fast schon klassischen Beitrag zu Expertenbefragungen entwickelten Meuser/Nagel (1991; vgl. zusammenfassend auch Meuser/Nagel 2009: 56f.) wiederum einen Leitfaden, der die Auswertung von Experteninterviews in insgesamt sechs Phasen unterteilt: Transkription, Paraphrase, Überschriften (bzw. in späteren Beiträgen: Kodieren), thematischer Vergleich, soziologische Konzeptionalisierung, theoretische Generalisierung. Auffällig ist zunächst, dass beide Ansätze nahezu konträre Endziele verfolgen: Während der Auswertungsprozess

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bei Schmidt schlussendlich in vertiefende Einzelfallanalysen mündet, geht es Meuser und Nagel letztlich darum, aus den Experteneinschätzungen „das Überindividuell-Gemeinsame herauszuarbeiten, Aussagen über Repräsentatives, über gemeinsam geteilte Wissensbestände, Relevanzstrukturen, Wirklichkeitskonstruktionen, Interpretationen und Deutungsmuster zu treffen“ (Meuser/Nagel 1991: 452). Der Blick auf den Einzelfall wird hier spätestens ab dem vierten Schritt, dem thematischen Vergleich, zunehmend irrelevant. Offensichtlich schlagen sich diese unterschiedlichen Zielsetzungen erst im fortgeschrittenen Verlauf nieder. In den frühen Phasen basieren beide Verfahren auf einem relativ ähnlichen Grundprinzip, das sich demzufolge wohl auch als Orientierung für den Umgang mit den Experteninterviews in dieser Arbeit eignet. In teilweiser Anlehnung an die Terminologie nach Meuser und Nagel – und ergänzt um ausgewählte Überlegungen nach Schmidt – lässt sich die in dieser Arbeit eingesetzte Auswertungsstrategie zunächst folgendermaßen umschreiben: •

Am Anfang steht die Transkription der Interviews (vgl. Meuser/Nagel 1991: 455f.)87. Nach Meuser und Nagel ist der Anspruch auf Vollständigkeit hierbei eng mit dem Erkenntnisinteresse sowie dem Grad des Gelingens der jeweiligen Interviews abhängig (vgl. Meuser/Nagel 1991: 455f.). Um unangenehmen Überraschungen vorzubeugen, werden die hier durchgeführten Interviews – abgesehen von informellen Vorklärungen und Nachbesprechungen – zunächst nahezu vollständig transkribiert, der Wortlauf der Befragten soll hierbei möglichst originalgetreu übernommen werden. Auch unvollständige Sätze werden meist zunächst einmal als solche beibehalten und erst im Falle einer späteren Übernahme in diese Arbeit (nach einem zu gegebener Zeit näher erläuterten Schema) korrigiert. Wortwiederholungen, „Äh“-Laute und dergleichen sind nicht expliziter Gegenstand der Transkription, werden allerdings, falls sie – quasi en passant – doch für das Originaltranskript übernommen wurden, auch nicht mehr bewusst entfernt. Für den späteren Umgang mit den Transkripten kann jedoch schon jetzt festgehalten werden, dass „Pausen, Stimmlagen sowie sonstige parasprachliche Elemente [...] nicht zum Gegenstand der Interpretation gemacht werden“ (ebd.: 455). Ferner sind die Transkripte im weiteren Verlauf regelmäßig darauf hin zu prüfen, ob be-

87 Dieser Schritt wird bei Schmidt (2007: 448f.) nicht näher beschrieben, sondern als bereits erfüllt vorausgesetzt.

142 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG





stimmte Passagen – z.B. zur Gewährleistung der Anonymität der Befragten – gekürzt werden müssen. Im Anschluss daran folgt die Paraphrase (weiterführend Meuser/Nagel 1991: 456f.) Die – mit dem „studierenden Lesen wissenschaftlicher Texte“ (zit. nach Schmidt 2007: 449) vergleichbare – mehrmalige und intensive Lektüre der Transkripte dient zunächst einem ersten fundierten Überblick über die einzelnen Interviews. Es geht also z.B. darum, wiederkehrende Leitmotive des jeweiligen Experten zu erkennen, die Antworten auf die einzelnen Frageblöcke herauszufiltern und ggf. einen Eindruck von der Quintessenz des Gesamtinterviews zu gewinnen. Die einzelnen Textpassagen werden hier zunächst „in der Manier des Alltagsverstandes“ (Meuser/Nagel 1991.: 456) mit ersten Kommentaren, Anmerkungen, ggf. auch bereits ersten Querbezügen zu anderen Interviews88 etc. – versehen. Die Formulierungen sollten hierbei noch weitgehend dem Wortlaut der jeweiligen Befragten entsprechen. Bei diesem Schritt sei insbesondere darauf zu achten, dass Aspekte, nur weil sich ihre Relevanz oder ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Frageblöcken möglicherweise erst auf den zweiten Blick erschließt, nicht allzu früh unter den Tisch fallen: „Nicht Redundanz ist das Problem des Paraphrasierens, sondern Reduktion von Komplexität.“ (ebd.: 457) Nach dem bislang (fast) ausschließlich einzelfallorientierten Blick auf die Interviews sollen in den nächsten Arbeitsschritten die Voraussetzungen für thematische Vergleiche zwischen den Interviews geschaffen werden: Zunächst folgt die Phase des Kodierens (Meuser/Nagel 2009: 56 bzw. Meuser/Nagel 1991: 457f.), d.h., es sollen zusammenfassende Überschriften für die paraphrasierten Passagen gefunden werden. Falls mehrere Themen angesprochen werden, sind für die betreffenden Passagen auch mehrere Überschriften zu wählen. „Dabei ist textnah vorzugehen, d.h., die Terminologie der Interviewten wird aufgegriffen. In günstigen Fällen kann ein Begriff oder eine Redewendung direkt übernommen werden.“ (Meuser/Nagel 2009: 56) Thematisch ähnliche Passagen werden auf geeignete Weise als solche ge-

88 Schmidt hält zu diesen frühen Lektürephasen fest: „Ziel ist es nicht, für alle Interviewtexte die gleichen Themen zu finden; die Interviews sollen bei diesem ersten Zugang zum Material noch nicht vergleichend betrachtet werden. Es ist jedoch nützlich für die weiteren Auswertungsschritte, die bemerkten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Interviews zu notieren; meist fällt es danach auch leichter, sich dann wieder auf den einzelnen Fall zu konzentrieren.“ (Schmidt 2007: 449)

E RSTE E XPERTENBEFRAGUNGSWELLE





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kennzeichnet – auch in diesem Schritt richten sich die Formulierungen noch eher nach dem Wortlaut der Befragten als nach theoretischen Verallgemeinerungen. Spätestens ab dieser Phase des Kodierens – je nach Fragestellung und sonstigen Gegebenheiten unter Umständen auch schon früher – werden parallel zur Bearbeitung der Transkripte nun Kodierleitfäden zu den einzelnen Fragestellungen auf Basis der aus den Interviewleitfäden bekannten Themenblöcke und unter Hinzuziehung der ergänzenden Notizen aus der vorangegangenen Stufe entwickelt. Die Terminologie richtet sich hierbei nach den theoretischen Vorannahmen bzw. den Formulierungen im Leitfaden. Antwortkategorien beziehen sich – je nach Fragestellung – entweder auf die Beschaffenheit der Einschätzung (z.B. positiv, kritisch) oder auf bestimmte Schlagwörter, die in den jeweiligen Einschätzungen zu erwarten sind (z.B. Moral). Diese Kodierleitfäden werden durch fortwährendes Gegenprüfen an den Interviews ergänzt, präzisiert, ggf. auch um bestimmte Kategorien gekürzt. Die fortgeschrittene Bearbeitung der Transkripte dient wiederum zunehmend dem Zweck, die ursprünglich stark am Originalwortlaut der Befragten orientierten Kommentare, Überschriften etc. zu den einzelnen Passagen zunehmend an die Terminologie bzw. die Kategorien aus den Kodierleitfäden anzupassen und auf diese Weise auch themengleiche Interviewpassagen durch die aus den Kodierbögen abzuleitende gemeinsame (und somit auch zwischen den Interviews vergleichbare) Kennzahlen, Schlagwörter etc. auffindbar zu machen. Insbesondere diese Phase lässt sich also durch ständiges Hin- und Herwechseln zwischen Transkript und Kodierbogen kennzeichnen, ggf. sind auch Rückgriffe auf vorangegangene Arbeitsstufen in Betracht zu ziehen. Sodann werden zu ausgewählten Fragestellungen neue Dokumente erstellt, in denen relevante Passagen mit gleichen Kennzahlen (bzw. gleichen Schlagwörtern) zusammengefasst werden. Ähnliche Einschätzungen werden mit den Kategorien aus den jeweiligen Kodierbögen zusammengeführt und entsprechend umsortiert, auch die Erstellung zusammenfassender Tabellen, in Einzelfällen möglicherweise auch von quantitativen Fallübersichten (vgl. Schmidt 2007: 454f.), kann hier unter Umständen hilfreich sein. Damit sind die Voraussetzungen für eine Gegenüberstellung der auf diese Weise extrahierten Befunde mit den theoretischen Vorüberlegungen geschaffen.

Die beiden letzten Punkte lehnen sich an den thematischen Vergleich und die soziologische Konzeptionalisierung nach Meuser/Nagel (1991: 459ff.) an, auf die letzte Stufe der theoretischen Generalisierung wurde bislang allenfalls indirekt

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(„Gegenüberstellung [...] mit den theoretischen Vorüberlegungen“) kurz angespielt. Gerade in diesen drei Phasen werden also zunehmend die Unterschiede zwischen dem theoretischen Ansatz und der konkreten Umsetzung in dieser Arbeit deutlich und diese Abweichungen lassen sich – in Anlehnung an die weiter oben skizzierten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Auswertungsaufwand und Ertrag – wiederum durch das jeweils zu Grunde liegende Erkenntnisinteresse begründen. Zur Erläuterung scheint hier eine Unterscheidung zwischen zwei idealtypischen Szenarien angebracht: „Dort, wo sich das Forschungsinteresse auf die ExpertInnen als Zielgruppe und nicht als Kontextgröße richtet, wird es in der Auswertung darum gehen, die entsprechenden Wissens- und Handlungsstrukturen, Einstellungen und Prinzipien theoretisch zu generalisieren, Aussagen über Eigenschaften, Konzepte und Kategorien zu treffen, die den Anspruch auf Geltung auch für homologe Handlungssysteme behaupten können bzw. einen solchen theoretisch behaupteten Anspruch bestätigen oder falsifizieren. Im Unterschied wird man dort, wo ExpertInneninterviews lediglich einen Meilenstein auf dem Wege zur Hauptuntersuchung bilden, die Auswertung der Interviews stoppen, wenn ihr Zweck erfüllt ist [...]. Man wird in diesen Fällen die Texte partiell auswerten, die Auswertung im Stadium der empirischen Generalisierung abbrechen und Aussagen über Repräsentatives, aber auch Unerwartetes formulieren, jedenfalls über Evidentes.“ (Meuser/Nagel 1991: 447f.)

Bekanntermaßen fungiert die hier diskutierte erste Expertenbefragungswelle89 vorwiegend als Bindeglied zwischen den theoretischen Vorüberlegungen und der Online-Befragung. Ihre Stellung im Forschungsprozess und die daraus abzuleitende Anspruchshaltung ist also durch die „Meilenstein“-Variante wohl recht treffend beschrieben. Die hier erhobenen Experteneinschätzungen verstehen sich in diesem Sinne als wesentliche Orientierungspunkte für weiterführende Überlegungen, sollen (und können) jedoch nicht den Anspruch erheben, ein repräsentatives oder gar generalisierbares Stimmungsbild wiederzugeben. Zugleich sollte der Einzelfall hierbei nicht völlig außer Acht gelassen werden, da die Befragung ganz bewusst darauf angelegt ist, einen über die theoretischen Vorüberlegungen hinausgehenden Eindruck über die verschiedensten Betrachtungsperspektiven auf die vorliegende Thematik zu vermitteln. Folglich kann es – ähnlich wie z.B. auch bei der Lektüre wissenschaftlicher oder journalistischer Texte – von Fall zu Fall durchaus hilfreich sein, sich noch einmal den Entstehungskontext bestimm-

89 Zur zweiten Welle folgen an gegebener Stelle noch einige ergänzende Erläuterungen.

E RSTE E XPERTENBEFRAGUNGSWELLE

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ter Aussagen bzw. den zu Grunde liegenden Blickwinkel vor Augen zu führen. Von einer wirklich vertiefenden Einzelfallanalyse im Sinne von Schmidt (2007) kann und soll jedoch hier nicht die Rede sein. Aus den Kernzielen und dem Erkenntnisinteresse der Expertenbefragungen in dieser Arbeit ergibt sich also: •

• • •

dass der mit einzelnen Auswertungsphasen verbundene Aufwand eine Nummer kleiner ausfallen darf, als es die Theorie nach Meuser/Nagel (1991) vorsieht dass insbesondere die letzten Schritte der beiden skizzierten Verfahren allenfalls andeutungsweise relevant sind dass mit fortschreitender Dauer des Auswertungsprozesses zunehmend Fragen aussortiert (also nicht mehr weiter ausgewertet) werden und dass es im Hinblick auf ein möglichst günstiges Verhältnis zwischen Auswertungsaufwand und Erkenntnisziel durchaus legitim ist, bei diesem Selektionsprozess auch schon in früheren Phasen (z.B. der Paraphrase) anstelle eines Anspruchs auf Vollständigkeit bisweilen eher pragmatische Erwägungen anzulegen90.

Abschließend sollen an dieser Stelle noch die Regeln für eine Übertragung bestimmter Interviewpassagen aus den Transkripten in diese Arbeit erläutert werden: •

„Äh-Laute“ und dergleichen werden (falls überhaupt vorhanden) kommentarlos entfernt. Auch einfache grammatikalische Anpassungen (z.B. die Umwandlung von „da hab’ ich drüber...“ in „darüber habe ich“) erfolgen ebenfalls kommentarlos, sofern Änderungen im Sinngehalt der Aussage auszuschließen sind. Ein ggf. zu ergänzendes Verb ist dagegen durch eckige Klammern hervorzuheben, da eine solche Änderung lediglich auf (wenngleich meist plausiblen) Vermutungen beruhen kann.

90 Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa ersichtlich wird, dass von einer Thematisierung bestimmter Frageblöcke in der vorliegenden Arbeit abgesehen werden kann (z.B., weil die Experteneinschätzungen letztlich bereits aus den theoretischen Vorüberlegungen bekannt sind), führt dies in der Regel zu einem baldigen Abbruch des Auswertungsprozesses dieser Teilfragen. Selbst unter Berücksichtigung dieser Einschränkung sollte jedoch der insbesondere mit den frühen Phasen verbundene Auswertungsaufwand nicht unterschätzt werden.

146 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG





Dialektbegriffe oder umgangssprachliche Formulierungen werden (sofern noch nicht bei der Transkription erfolgt) in möglichst gleichartige hochdeutsche Begriffe umgewandelt – nicht zuletzt, um auch auf dieser Ebene die Identifizierbarkeit der Befragten zu erschweren. Diese Änderungen werden ggf. durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Für Zitate aus den Experteninterviews gilt: Längere Passagen (die Grenze wurde – je nach Wortlänge – bei ca. 25 Wörtern angesiedelt) werden gesondert hervorgehoben und – um sie von Literaturzitaten abzugrenzen – mit einem „E“ für Experte bzw. einem „I“ für Interviewer versehen. Kurze Passagen (meist Nebensätze) werden nach den gängigen Richtlinien für direkte Zitation (Anführungszeichen, Quellenverweis) bzw. für indirekte Verweise kenntlich gemacht.

Die in den folgenden Kapiteln verwendete Kategorisierung der einzelnen Fragestellungen orientiert sich an dem im Anhang aufgeführten Musterleitfaden, der allerdings – angesichts der Prämisse, den Leitfaden jeweils möglichst flexibel an den Gesprächsverlauf anzupassen – logischerweise nur in sehr wenigen Fällen Rückschlüsse auf die tatsächliche Anordnung der Fragen in den einzelnen Interviews zulässt. Zu diesen wenigen Ausnahmen zählen die beiden Einstiegsfragen, die (wie aus der Bezeichnung ersichtlich ist) entweder zu Beginn oder überhaupt nicht thematisiert wurden und im Mittelpunkt des nun folgenden Kapitels stehen.

5.2 R ELEVANZ UND ANLÄSSE N EUBETRACHTUNG

FÜR EINE

5.2.1 Die „ersten Gedanken“ und Leitmotive der Experten Zu Beginn des Leitfadens standen die folgenden beiden Fragestellungen: Frage 1: Was war eigentlich Ihr erster Gedanke, als Sie von unserem Projekt gehört haben? Frage 2: Überrascht es Sie, dass Sie ausgerechnet jetzt mit diesem Thema konfrontiert werden?

E RSTE E XPERTENBEFRAGUNGSWELLE

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Diese beiden Fragen scheinen nicht nur allgemein als Gesprächseinstieg (Stichwort: „Aufwärmphase“) geeignet, sondern können darüber hinaus bereits einen ersten Eindruck vermitteln, welche Teilaspekte bzw. Schlagworte (z.B. im Hinblick auf mögliche Chancen und Risiken) der jeweilige Befragte quasi ungestützt91 für besonders wichtig erachtet, welche Relevanz er der Thematik zuschreiben würde oder inwieweit – in Anlehnung an das Desensibilisierungsdilemma (Kapitel 4.5) – die Zeit für eine solche Werbestrategie als reif erachtet wird. Eine solche Einordnung dieser beiden Fragen hat auch Bestand, wenn man bedenkt, dass sowohl der (tatsächliche) erste Gedanke als auch ein möglicher Überraschungseffekt ggf. bereits zu einem vorherigen Zeitpunkt – nämlich beim Erhalt des Anschreibens – aufgetreten sind und die Experten seitdem hinreichend Gelegenheit hatten, ihre ersten Überlegungen zu vertiefen. Bis auf die folgenden Ausnahmen kamen jeweils beide Fragen zum Einsatz: • •



Bei den Experten 3, 10 und 12 war es entweder nicht mehr notwendig oder nicht mehr sinnvoll, auf die zweite Frage einzugehen. Im Rahmen der Gruppendiskussion (hier: 7, 8, 9) genügte (u.a. aus Zeitgründen) eine der beiden Einstiegsfragen: Die zweite schien hier zweckdienlicher. In der schriftlichen Befragung kam keine der beiden Fragen zum Einsatz.

Anlässlich der ersten Frage wurden in den meisten Fällen überwiegend jene Aspekte thematisiert, die auf Grund der Vorarbeiten auch erwartet werden konnten. Ein Paradebeispiel liefert hierbei die Antwort von Experte_5:

91 Der Zusatz „quasi“ ergibt sich aus dem Umstand, dass die jeweiligen Anschreiben (selbstverständlich) bereits einige grundsätzliche Erläuterungen zum Gegenstand der Befragung enthielten, wobei diese Informationen nicht durchweg standardisiert, sondern zumindest in Teilen auf den jeweiligen Befragten zugeschnitten waren. Völlig ungestützt erfolgte die Antwort in diesem Sinne also nicht. Zudem baten vereinzelte Experten zwecks Vorbereitung um einen Vorab-Leitfaden und konnten sich folglich ebenfalls bereits ein Bild vom ungefähren Befragungsverlauf machen.

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E:

Erst hab ich gesagt: Wie? Gibt es das? In der Wirtschaftswerbung? Wo tauchen da Menschen mit Behinderung auf? Denn jahrelang haben mehr oder weniger die Menschen mit Behinderung darum gekämpft, in den Medien vorzukommen. Vermutlich der Gedanke: Wenn man es in die Werbung geschafft hat, dann hat man es auch gesellschaftlich geschafft. Und davon, glaub ich, sind wir noch ein Stück entfernt.

I:

Also sozusagen: Werbung als Katalysator für die normale Wahrnehmung [seitens] der Gesellschaft.

E:

Ja genau, weil Werbung braucht ja sozusagen sehr positiv besetzte Bilder, man nimmt Stars, man zeigt Produkte in schönen Farben und das Phänomen Behinderung ist in den Köpfen der Menschen eher negativ besetzt, so dass ich glaube, dass viele Werbetreibende darin eher einen Widerspruch sehen.

Die hier zitierte Passage zielt also bereits auf die für diese Arbeit zentrale Diskussion um mögliche Zusammenhänge zwischen Sichtbarkeits- und Desensibilisierungsgrad der Behinderungsthematik. In Anlehnung an die Ausführungen in Kapitel 4.5 greift der Befragte zunächst die Überlegungen zur IndikatorFunktion der Werbung auf, indem er zum einen auf die empirisch feststellbare Inkompatibilität von Behinderung mit den gängigen Werbeidealen sowie auf das Fehlen einschlägiger Beispiele (und somit implizit auf das Argument der Ausblendungsbegründung) verweist und zum anderen auch den durch das Argument der Einbindungsbegründung formulierten Umkehrschluss („Wenn man es in der Werbung geschafft hat, dann hat man es auch gesellschaftlich geschafft.“) hervorhebt. Zugleich zieht der Experte – auf Nachfrage – die Aussicht auf einen Katalysator-Effekt der Werbung in Betracht. Der Grad seiner Zustimmung wird konkretisiert durch eine spätere Passage, in der der Befragte die Möglichkeit einer solchen Wirkung u.a. mit den Überlegungen zu etwaigen Personalisierungseffekten (vgl. Kapitel 3.1.2) sowie zur Kontakthypothese (vgl. Kapitel 4.3) verknüpft. E:

Die Mehr-Sichtbarkeit wird zu einer Normalität von Behinderung führen. Und das ist, finde ich, vermutlich, das wichtige. Natürlich hat das Phänomen Behinderung auch negative Seiten und natürlich können die auch manchmal beschrieben werden. Aber überhaupt, wenn Menschen vorkommen, dann spricht sich das rum, also [...] das pauschale Wort „Behinderte“ bekommt plötzlich ein konkretes Gesicht und das ist eben plötzlich nicht mehr „der Behinderte“, sondern der Athlet, der Mensch oder der Theaterkünstler oder, oder, oder... Ich glaube, das wird die Wirkung sein. Dass sich Werbung erst mal um eine positive Besetzungen bemüht, wäre natürlich ein Extra-Bonbon, aber ich glaube, der Schwachpunkt in unserer Gesellschaft ist tatsäch-

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lich, dass Menschen, die als behindert definiert werden, oft noch in Spezialwelten – in Sonderschulen, in Sondereinrichtungen – leben und die Begegnung gar nicht stattfindet – oft genug. Und je häufiger diese Begegnung stattfindet, desto normaler wird das werden. Auch in Fernsehsendungen, wo Menschen mit Behinderung plötzlich mitspielen. Ja, dann wird irgendwann Kleinwuchs zu einem völlig normalen Verhältnis. Man kennt ja diese Kommissare. Zack! Hat man’s gesehen und dann ist es nicht mehr so aufregend. Und das ist der erste Effekt!

Ebenso wie Experte_5 betont auch Experte_13 bereits eingangs, ihm fiele auf Anhieb kein einziges Fallbeispiel für den Bereich Wirtschaftswerbung ein (wohl aber für den Bereich Spendenwerbung). Dass zumindest ein Befragter (Experte_3) dagegen sofort auf ein ihm bekanntes Fallbeispiel verweist, scheint zunächst überraschend, wird jedoch sogleich relativiert durch den Umstand, dass das genannte Beispiel der für die vorliegende Studie nur am Rande relevanten Sonderkategorie behinderungsexklusiver Werbung zuzuordnen ist (vgl. zu dieser Einschätzung Kapitel 5.4). Das Schlagwort „Moral“ fiel im Zusammenhang mit dem ersten Gedanken kein einziges Mal direkt; es sei denn, man interpretiert die vereinzelten Nennungen von Benetton und den Hinweis auf die damit verbundenen „zwei, drei [...] Skandälchen“ (Experte_1) als pars pro toto. Indirekt spielt zumindest noch Experte_10 auf diese Ebene an, indem er die Charakterisierung „verwerflich“ als Negativabgrenzung zu seiner eigenen Einschätzung („keine Berührungsängste“) verwendet: E:

[Mein erster Gedanke war], dass die Idee [...] zum einen nicht verwerflich, zum anderen gar nicht so neu ist. Weil wir uns schon mit ähnlichen Dingen auch beschäftigt haben, über ein paar Jahre hinweg. Also: Kampagnen mit und für Menschen mit Behinderung zu machen – wie kann das aussehen? Wo kann man da auch Tabus vielleicht mal brechen? Von daher: keine Berührungsängste!

Bei einigen Befragten lassen sich aus dem kommunizierten ersten Gedanken bereits Rückschlüsse auf die grundlegende Einordnung der Thematik ziehen; in diesen Fällen bietet es sich an, die betreffenden Antworten im Kontext der nun anstehenden Frage 2 zu betrachten. Lediglich zwei Experten beantworteten diese Frage („Überrascht es Sie…“) mit einem relativ eindeutigen „nein“. So sieht Experte_8 die Relevanz und Aktualität der Thematik als logische Folge einer bestimmten Entwicklungsrichtung.

150 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

E:

So wahnsinnig hat es mich jetzt nicht überrascht, weil ich einfach denke, durch dieses Antidiskriminierungsgesetz oder Gleichstellungsgesetz sind Behinderte jetzt ein Thema. Und dass die Wirtschaft das aufgreift, weil sie Geld verdienen will, wundert mich nicht so wahnsinnig.

Experte_4 betont, er sei „überhaupt nicht“ überrascht, denn der Forschungsgegenstand habe in seinem Tätigkeitsfeld immer wieder einmal eine Rolle gespielt, zumal die zu Grunde liegende Fragestellung und die damit verbundene Unsicherheit Werbetreibender auch ähnliche Gebiete (z.B. Homosexualität in der Werbung) umfasse – der Befragte spielt damit also an auf den in Kapitel 3.1.2 thematisierten Wirkungskreis der Ausblendungsregel, der sich ja längst nicht nur auf die Behinderungsthematik erstreckt, bzw. auf die in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnte Diversity-Thematik. Auf ein mehr oder minder klares „ja“ (es überrasche sie) legten sich zwei Befragte aus der Gruppendiskussion fest: Experte_7 und Experte_9 erklärten, ihnen sei zumindest spontan keine Erklärung eingefallen. Fünf weitere Antworten lassen sich letztlich als – mal eher zustimmendes, mal eher ablehnendes – „jein“ interpretieren. Ähnlich wie Experte_4 bewertet auch Experte_1 verschiedene Teilaspekte der vorliegenden Thematik (wie z.B. Schönheitsideale, normative Vorgaben, Analogie zu Altersdarstellungen in der Werbung) als „virulent aktuell“, betont jedoch (im Gegensatz zu Experte_4), er habe zumindest Menschen mit Behinderungen bislang nicht als „richtig brennendes Thema in der Werbediskussion [...] vor Augen.“ Die Quintessenz von Experte_2 und Experte_5 lautet: Sie seien zwar einerseits überrascht; andererseits habe die Behinderungsthematik erkennbar an Akzeptanz bzw. Bedeutung gewonnen. Experte_13 gibt an, er sei zwar nicht direkt überrascht, assoziiere den Kontext Behinderung jedoch vorwiegend mit einer Reihe weiterer Themen (und weniger mit Werbung): E:

Also ich würde nicht sagen, das war eine komplette Verwunderung, aber: Ich hätte bisher nicht an diese thematische Kombination „Werbung und Behinderung“ gedacht: Wenn man nämlich über Behinderung, über Behinderte nachdenkt oder damit konfrontiert wird, dann habe ich eher andere Themen im Kopf, wo es um Mobilität geht, wo es um Bewusstsein geht gegenüber den Behinderten, den alltäglichen Umgang mit Behinderten, mit dem öffentlichen Verkehr, [der] zum Teil nicht immer behindertengerecht [...] [ist. Oder:] [...] Warum haben die angelsächsischen Länder einen so bemerkenswert anderen Umgang mit Behinderten zum Beispiel als Kontinentaleuropa. Was wirklich auffällig ist, wenn man als Mensch mit Behinderung,

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mit einer körperlichen Behinderung, durch diese Länder reist, wo die Art der Hilfe einfach eine ganz andere ist. Das sind halt die Themen, mit denen ich dann mehr oder weniger Behinderung assoziiere. Und nicht Werbung.

Auffällig ist, dass ein Teil der hier aufgeführten Aspekte (z.B. Bewusstsein, alltäglicher Umgang, angelsächsischer Raum) auch durchaus für die vorliegende thematische Verbindung von Behinderung und Werbung relevant ist. Eine gewisse Verwunderung bzgl. der Fragestellung bekundet auch Experte_6, bereits anlässlich der ersten Frage: E:

Mein erster Gedanke war, dass ich die Fragestellung sehr merkwürdig fand, weil Behinderung im Grunde genommen ein gesellschaftliches Querschnittsthema ist. Und warum jetzt ausgerechnet Behinderung in der Wirtschaftswerbung? Es fragt ja auch keiner nach [...] anderen Querschnittsgruppen, [z.B.] Autofahrern in der Wirtschaftswerbung92.

Führt man sich die (mittlerweile wohl hinlänglich bekannten) Überlegungen zum Wirkungskreis der Ausblendungsregel vor Augen, scheint diese Einschätzung insofern überraschend, da Autofahrer im Gegensatz zu Menschen mit Behinderungen wohl kaum als Träger eines Stigmas im Sinne Goffmans einzustufen sind und es insofern schon triftige Gründe gibt, dem Themenbereich „Behinderung und Werbung“ eine andere Selektionslogik beizumessen als der Repräsentanz von Autofahrern in der Werbung. Aus dem weiteren Gesprächsverlauf wird allerdings deutlich, dass diese erste Einschätzung eng im Kontext mit einer zweiten Aussage betrachtet werden sollte, die seitens des Befragten mehrfach angeführt und insofern wohl als Leitmotiv dieses Experten anzusehen ist: „Behinderung ist kein konstitutives Merkmal eines Menschen.“ Dem Experten ging es also offenbar weniger um die Infragestellung der Relevanz des Forschungsgegenstandes, sondern vielmehr darum, die Bedeutung des Phänomens Behinderung zu relativieren, Behinderung also als ein Merkmal unter vielen einzuordnen. Die Plausibilität dieser Interpretation wird durch die Antwort des Experten auf Frage 2 untermauert, denn hier wundert sich der Befragte keineswegs über den Umstand, sehr wohl allerdings über den seiner Einschätzung nach sehr späten Zeitpunkt der Thematisierung:

92 Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass der Experte den letztgenannten Einwand sogleich wieder zurückzog („Doch, wird wahrscheinlich schon gefragt...“).

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E:

Nein [...], ausgerechnet jetzt nicht. Es überrascht mich, dass es erst jetzt kommt, weil, so weit ich das beurteilen kann – aber eigentlich auch nur als aufmerksamer Zeitungsleser: Im englischsprachigen Raum ist das Thema schon viel länger da [...]. Es überrascht mich, dass es in Deutschland jetzt erst so spät kommt und in Deutschland jetzt auch erst [...] einen wissenschaftlichen Background erfährt bzw. dass erst der wissenschaftliche Background kommen muss, ehe augenscheinlich Werbetreibende das Tabu im eigenen Kopf brechen, um mit Menschen mit Behinderung ganz normal wie mit anderen Querschnittsgruppen in Deutschland auch Werbung zu machen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Aus Sicht der befragten Experten existiert zwar offenbar kein konkreter Anlass, die vorliegende Thematik „ausgerechnet jetzt“ aufzugreifen; jedoch zeigen die zahlreichen Bezugspunkte, die bereits im Rahmen dieser Auftaktphase genannt wurden, dass an der grundlegenden Relevanz des Forschungsgegenstandes kaum Zweifel bestehen. Ganz im Gegenteil wird der Thematik eine schon länger anhaltende – und zumindest virulente – Aktualität zugeschrieben: Experte_12 etwa formulierte dies (im Kontext der ersten Frage) mit den Worten: „Interessant! Müsste schon seit 10 Jahren laufen!“

5.2.2 Die angloamerikanische Diskussion und ihre Übertragbarkeit auf Deutschland Bis auf zwei Ausnahmen (Experte_2 und Experte_5) wurde der offenbar höhere Stellenwert von Menschen mit Behinderungen als Werbeträger in den USA im Vergleich zu Deutschland in allen (mündlichen und schriftlichen) Expertenbefragungen thematisiert. Die Fragestellung lautete sinngemäß: Frage 11a: Ein Blick in die USA: Menschen mit Behinderung sind dort in der Wirtschaftswerbung zwar nach wie vor unterrepräsentiert, aber deutlich sichtbarer als hierzulande; entsprechende Trends begannen vor rund 20, 25 Jahren. Haben Sie eine Erklärung für diese Unterschiede? Das Gros der Erklärungsansätze lässt sich anhand der folgenden Faktoren und den damit verbundenen wechselseitigen Einflüssen zueinander zusammenfassen und erläutern:

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• • • • • •

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Betroffeneninitiativen gesetzliche Rahmenbedingungen Kriegsveteranen in den USA höhere Bedeutung von diversity in den USA Mentalitätsunterschiede, z.B. auf Grund unterschiedlicher geschichtlicher Traditionen zeitlicher Vorsprung der USA

Lediglich ein einziger Befragter – Experte_7 – thematisiert keinen der hier genannten Punkte, sondern sieht die unterschiedlichen Zielgruppengrößen als entscheidenden Erklärungsansatz: E:

Die Zielgruppe ist [in den USA] auch wesentlich größer als bei uns. Also wenn die Zahl der Menschen mit Behinderung [...] 10 Mal so groß ist wie bei uns in Deutschland, dann ist auch klar, dass ich da auch einen anderen Markt habe und dann lohnt es sich auch schon eher wieder, dafür zu werben. Und das dürfte auch einfach von der Masse her ein Argument sein.

Diese Einschätzung liefert möglicherweise eine Erklärung, warum dem Argument der hohen kollektiven Kaufkraft von Menschen mit Behinderungen gerade in der angloamerikanischen Literatur eine so hohe Bedeutung zukommt. Zu bedenken ist allerdings, dass behinderte Menschen auch in den USA erst seit Mitte der 1980er Jahre allmählich in der Werbung sichtbar wurden (vgl. auch Kapitel 2.1), der Hinweis auf die deutlich höhere absolute Zahl von Menschen mit Behinderungen jedoch sicher bereits deutlich früher gültig gewesen wäre. Insofern sollte dieser – zumindest im Kontext der hier diskutierten Fragestellung übrigens von keinem weiteren Experten angeführte93 – Erklärungsansatz nicht überbewertet (wenn auch nicht völlig außer Acht gelassen) werden. Die Bedeutung von Betroffeneninitiativen und gesetzlichen Rahmenbedingungen auf die allgemeinen Wahrnehmungsmuster von Menschen mit Behinderungen in den USA wurde ebenfalls bereits in Kapitel 2.1 angedeutet, die (nahe liegenden) Zusammenhänge zwischen beiden Aspekten werden von Experte_14 als mögliche Begründung aufgeführt.

93 Bei großzügiger Auslegung könnte die Einschätzung von Experte_15 zumindest noch Anknüpfungspunkte bieten: „Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit der Stärke der Repräsentation/Lobby für oder von Menschen mit Behinderung.“

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E:

In den USA haben Menschen mit Behinderung viel eher als in Deutschland angefangen, ihre Interessen offensiv zu vertreten und Antidiskriminierungs-Gesetze durchzusetzen. Entsprechend eher wurden sie überhaupt öffentlich wahrgenommen.

Als mögliche Begründung für diese unterschiedlichen Entwicklungen verweisen mehrere Experten94 auf das Schlagwort Kriegsveteranen: Demnach habe die Erfahrung mit Heimkehrern aus dem Vietnam-Krieg wohl wesentlich dazu beigetragen, das Bewusstsein für die Behinderungsthematik zu schärfen und infolgedessen auch den Weg für bestimmte Gesetze zu ebnen. Entscheidend ist zudem, dass nach Einschätzung von Experte_11 die Veteranen aus dem Vietnam-Krieg nicht nur als Kriegshelden, sondern auch als „Träger von Menschenrechtsfragen“ eingestuft werden könnten, während hierzulande etwa die Wahrnehmung der Kriegsversehrten aus dem Zweiten Weltkrieg eine völlig andere sei. Experte_3 verweist zudem auf die ständige (und somit im direkten Vergleich zu Deutschland weit höhere) Aktualität der Kriegsveteranen-Thematik in den USA95. Die Haupterklärung für die unterschiedlichen Rahmungen der zu Grunde liegenden Diskussion sieht er jedoch in der im angloamerikanischen Raum weitaus positiveren Bewertung der Vielfalt des Menschen – das Stichwort lautet hier diversity: E:

In den USA sind die Abweichung, das Individuelle, schon positiv bewertet, in den USA gibt es eine stärkere und schon länger sich organisierende Behindertenbewegung. In den USA gibt es immer wieder Nachschub auch, vor allem durch die vielen Kriege, auch an jungen Behinderten, die selbstbewusst sind. Dieses Auftreten von Behinderten in der Öffentlichkeit ist ein ganz anderes. Hier versuchen die Behinderten, sich möglichst anzupassen und in den USA sagen sie: „Ich bin gut, weil ich anders bin.“

Allgemein deuten die bisherigen Aussagen darauf hin, dass der Umgang mit Behinderung bzw. mit behinderten Menschen ein völlig anderer ist als in Deutschland, hier also grundlegende Mentalitätsunterschiede zu verorten sind, die sich

94 Experte_9 und Experte_13 ergänzten, dass ihnen dieses Argument ihrerseits durch Drittquellen bekannt sei, nannten allerdings keine konkreten Quellen. 95 Diese Aktualitätsdiskrepanzen wurden auch im Rahmen der Gruppendiskussion betont.

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nach Experteneinschätzungen auch durch die unterschiedlichen geschichtlichen und politischen Traditionen erklären lassen. So betont z.B. Experte_8: E:

Die USA hat kein so gewachsenes Fürsorge-System wie wir. Bei uns in den Köpfen ist wirklich drin: „Um Behinderte muss man sich kümmern, da muss man Mitleid haben.“ Die USA hat einfach diese Geschichte gar nicht. Die haben einfach ein Gleichstellungsgesetz und Menschen sind gleich. Und man verkauft auch an Behinderte genau so wie an Nicht-Behinderte. Die machen es sich [...] sehr viel einfacher als wir.

Zu einer ähnlichen Vermutung gelangt auch Experte_13: Demnach herrsche in den USA – seiner Einschätzung nach wohl begründet durch das mit dem „Anker des Liberalismus“ einhergehende „Konzept der Autonomie des Individuums“ in Tateinheit mit der „protestantischen Ethik“ (siehe hierzu z.B. Weber 2000) – ein offenbar völlig anderes Verständnis von Hilfe vor als im europäischen Raum: E:

[Im angloamerikanischen Raum existiert ein] gewisses karitatives Selbstverständnis [...], das weniger institutionalisiert, sondern individualisiert daher kommt [und] Teil einer Lebenshaltung ist, spontan zu helfen, wenn es Hilfe bedarf, ohne in die Autonomie [...] [des Hilfeempfängers] einzudringen. Das macht vielleicht einen wesentlichen Unterschied [aus]. In unserem mitteleuropäischen Verständnis ist Hilfe staatlich-kirchlich institutionalisiert. Nicht der Einzelne ist Träger der Hilfe, sondern es gibt Institutionen, die helfen und insofern werden die, denen geholfen werden muss, in Institutionen abgedrängt.

Aus deutschsprachiger Sicht wird als historisch begründete Erklärung für die Mentalitätsunterschiede im Umgang mit Behinderung wiederum auf den Zweiten Weltkrieg verwiesen, wie etwa das folgende Zitat von Experte_4 illustriert: E:

Wir haben eine gesellschaftliche Entwicklung, die ja auch vor dem historischen Hintergrund der unmittelbaren Vergangenheit mitbetrachtet werden muss. Die Sensibilität ist bei uns in vielen solcher Dinge, nicht nur bei Behinderten, viel stärker. Die political correctness ist bei uns viel, viel ausgeprägter aufgrund der historischen zurückliegenden Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit: Hitler und Co., die Nazis. Das steckt in den Deutschen drin, die Sensibilität ist ausgeprägt, der Hang, politisch korrekte Dinge zu machen ist so stark, dass sie eben einen längeren Prozess brauchen.

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Die Formulierung „längerer Prozess“ legt nahe, dass nach Einschätzung von Experte_4 verschiedene Entwicklungen im deutschsprachigen Raum möglicherweise schlichtweg noch (!) nicht eingetreten sind, jedoch früher oder später wohl eintreten werden. Auch Experte_6 und der im Folgenden zitierte Experte_10 sehen einen zeitlichen Vorsprung der USA in einigen Bereichen als wesentlichen Erklärungsansatz: E:

Was mediale Darstellungsweisen betrifft, ist es häufig so, dass [...] die USA [...] schneller [...] [ist] und [...] die europäische oder die deutsche Sichtweise dann manchmal ein paar Jahre später ähnlich kommt. Ich glaube, grundsätzlich wird es so sein – vielleicht noch nicht heute und morgen, aber bald – dass – entsprechend der prozentualen Anteile der Bevölkerung von Menschen mit Behinderung – sicherlich auch solche Bilder in die Werbung eingehen werden. Ich glaube das ist eine sehr natürliche Entwicklung, wahrscheinlich ist das eben in den USA schon ein bisschen weiter, aber da werden wir auch hinkommen.

In Anlehnung an diesen letzten Gedanken lässt sich die im Anschluss an Frage 11a ursprünglich vorgesehene Zusatzfrage („Sind ähnliche Tendenzen Ihrer Einschätzung nach auch in Deutschland möglich?“) wie folgt umformulieren: Inwieweit lassen sich die hier skizzierten Unterschiede auf einen rein zeitlichen Vorsprung der USA zurückführen bzw. bei welchen Aspekten ist eine Übertragbarkeit auf Deutschland angesichts grundlegender (und z.T. geschichtlich determinierter) Mentalitätsgegensätze auch im Zeitverlauf nahezu ausgeschlossen? Gestellt wurde eine Frage dieser Art nur in Ausnahmefällen: So fiel die Antwort von Experte_3 eher skeptisch aus: E:

Diese Tendenzen (Anm.: siehe obige Antwort von Experte_3 zum Stichwort diversity) gab es schon, die gab es in der Behindertenbewegung in den siebziger/achtziger Jahren. Das hat auch enorm positive Auswirkungen gehabt, das Bild von Behinderung ist ein ganz anderes, aber das ist wieder zurückgegangen, weil die Behinderten selber sich nicht mehr miteinander solidarisieren, sondern sich eher ausweichen.

I:

Also quasi Rivalität zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen mit Behinderung? Wenn ich Sie richtig verstehe?

E:

Zwischen einzelnen Individuen!

I:

Ach so!

E:

Man geht sich aus dem Weg. Man versucht, sein Plätzchen in der NichtBehinderten-Welt zu kriegen. Und Behinderte selber untereinander kommen nur noch ganz selten zusammen. Jedenfalls diese stärkeren, aktiven, die in die Öffent-

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lichkeit hinein gehen könnten, die selbstbewusst sagen könnten „Ich bin behindert, das gehört zu mir und das ist gut!“, das gibt es nicht. Das gibt es in den USA, aber hier nicht.

In anderen Fällen ergab sich die Antwort auf die Anschlussfrage bereits implizit aus Frage 11a: So bedarf es wohl keiner weiteren Diskussion, dass die Hinweise auf die (höhere) Zielgruppengröße und das Kriegsveteranen-Argument kaum auf Deutschland übertragbar sind. Im Kontext gesetzlicher Rahmenbedingungen wurde in anderen Zusammenhängen bereits auf die Bedeutung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzten verwiesen. In Anlehnung an die Ausführungen von Reinhardt/Gradinger (2007) wurde in den Leitfaden zudem folgende Fragestellung eingefügt: Frage 13b: Inwieweit wäre die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ (und nicht zuletzt Artikel 8, wonach alle Medienorgane ermutigt werden sollen, Menschen mit Behinderung gemäß den Zielen dieser Konvention darzustellen) als Argumentationsgrundlage für eine verstärkte Einbindung von Menschen mit Behinderung als Werbeträger geeignet? Die Quintessenz der Aussagen ließe sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: Mit Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Situation von Menschen mit Behinderungen (etwa in Gestalt künftiger Gesetze) ist durchaus zu rechnen, jedoch sollte die Bedeutung im Hinblick auf die vorliegende Thematik (und speziell auf kurze Sicht) nicht überbewertet werden: So sieht Experte_5 die Konvention zwar – im Hinblick auf ihre Zielsetzungen („die Unterscheidung von Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen zu überwinden“, und dies in allen Bereichen) – zunächst als gute Argumentationsgrundlage, ergänzt jedoch (anlässlich einer Rückfrage), dass Werbetreibende sich wohl kaum durch diese Konvention überzeugen ließen, sondern ausschließlich durch den Erfolg ihrer Kampagne. Der Leitfaden enthielt zudem noch einige weitere allgemeine Fragestellungen, in denen die Einschätzung der Behinderungsthematik allgemein und mögliche Tendenzen eines Wandels (z.B. die Wahrnehmung von Behinderung im Laufe der Zeit) im Mittelpunkt standen; es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass es sich hierbei um eher vage Fragestellungen handelte und demzufolge auch die Antworten allenfalls einige grundlegende Denkanstöße liefern konnten. Wenig Zweifel bestehen (erwartungemäß!) an der zu Beginn der Arbeit thematisier-

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ten Auffassung, dass sich durchaus positive Tendenzen hinsichtlich der Wahrnehmung der Behinderungsthematik bzw. von Menschen mit Behinderungen erkennen ließen, die ihren Niederschlag etwa in der Umbenennung der Aktion Sorgenkind in Aktion Mensch wiederfinden oder auch in der zunehmenden Bedeutung der Paralympics, die sich wiederum aus dem steigenden Umfang der Berichterstattung – und nicht zuletzt den attraktiveren Sendezeiten – ableiten lassse. Zugleich bestehe jedoch offenbar nach wie vor in vielen Fällen eine merkliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

5.3 B EHINDERUNG

UND W ERBUNG IM S PIEGEL WIDERSPRÜCHLICHER E RWARTUNGEN

5.3.1 Zwischen moralischer Legitimität und normativer Forderung Die bisherigen Ausführungen legen nahe, dass eine Analyse der Chancen und Risiken einer Einbindung von Menschen mit Behinderungen in die Wirtschaftswerbung letztlich auf die Frage nach der Vereinbarkeit dreier Perspektiven (Werbende, Rezipienten mit Behinderung, Rezipienten ohne Behinderung) hinausläuft. Folgende Fragestellungen stehen im Mittelpunkt: Frage 4: Ist es moralisch vertretbar, Menschen mit Behinderung in die Wirtschaftswerbung einzubinden? Frage 5: Von Menschen mit Behinderungen hört man häufig sinngemäß das Argument (Anm.: siehe – inklusive Quellenangabe – Kapitel 2.2): „»Nicht die Tatsache, Werbeträger zu sein, diskriminiert behinderte Menschen«, dies geschehe eher durch das Gegenteil, »durch den Ausschluss als Werbeträger in Frage zu kommen«.“ Wie würden Sie diese Aussage (Anm.: im Folgenden nun vereinfacht als „Radtke-Zitat“96 bezeichnet) bewerten?

96 Selbstverständlich wurde die Aussage im Rahmen der Befragung anonymisiert vorgetragen, also nicht mit einem konkreten Namen verbunden.

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Frage 20 (vgl. im Anhang die dortigen Anmerkungen): Von Menschen mit Behinderung ist häufig zu hören: „Wenn wir erst einmal in der Werbung stärker präsent sind, dann haben wir es auch in der Gesellschaft geschafft.“ Wie bewerten Sie diese Aussage? Da die wesentlichen Grundpositionen bereits aus vorangegangenen Kapiteln bekannt sind, beschränkt sich dieser Abschnitt auf eine (jeweils knapp kommentierte) Gegenüberstellung zentraler Experteneinschätzungen. Frage 4 erfuhr in nahezu allen Fällen – eine Ausnahme (Experte_11) wird später gesondert diskutiert – eine klare Zustimmung. •

• •

Deutliche Parallelen zum (in Frage 5 thematisierten) Radtke-Zitat weist die Einschätzung von Experte_13 auf: „Ich kann das Argument umdrehen! Der prinzipielle Ausschluss des Behinderten aus der Werbung ist [...] eine Bevormundung des Behinderten!“ Experte_8 vertritt die Auffassung: „Ja klar! Natürlich darf man das! Behinderte gehören zur Gesellschaft und gehören damit auch in die Werbung.“ Einen Schritt weiter geht sogar Experte_5: „Ja, ich finde, das muss sie eigentlich“. Zwar sei darauf zu achten, welche Bilder von Behinderung vermittelt würden, jedoch sei es für ihn eher „eine Form der Anerkennung“, wenn ein Unternehmen ihn als Werbeträger für ein Produkt engagieren würde. Bereits vor diesen ergänzenden Überlegungen betont er erneut: „Also, was in der Gesellschaft vorhanden ist, darf auch gezeigt werden. Muss auch gezeigt werden. Alles andere ist Tabuisierung.“

Auf ein potenzielles – und nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Eingrenzung des Behinderungsbegriffs (vgl. Kapitel 3.1.3) relevantes – Problemfeld verweist allerdings Experte_10: I:

[...] Darf die [Wirtschaftswerbung] überhaupt Menschen mit Behinderung [einbinden]?

E:

Ja, sicher! Also, damit habe ich überhaupt kein Problem, grundsätzlich. Natürlich ist ein ganz wichtiger Aspekt dabei der Respekt. Und wenn wir davon ausgehen – das ist ja sozusagen in der Behindertenhilfe ein Paradigma, was heute, hoffentlich zumindest, fast immer verfolgt wird [...], nämlich Menschen ernst zu nehmen und Menschen Verantwortung auch zuzubilligen, die sie für sich selber haben – dann ist in dem Moment, in dem jemand sich dafür entscheidet, zum Beispiel auch zu modeln oder was auch immer zu tun, in Verbindung mit Werbung [...], das zu respektie-

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ren – völlig klar. Es muss natürlich vorausgesetzt sein, dass nicht jemand sozusagen gegen seine Überzeugung oder gegen seinen Willen instrumentalisiert wird. Also das ist natürlich die Sache bei Menschen mit geistiger Behinderung, sicherlich – und auch da ist es häufig möglich, dass Menschen Entscheidungen für sich treffen – aber da muss man schon genauer hingucken, dass da nicht gegen den – bei Patientenverfügungen heißt das immer so schön: „mutmaßlichen Willen“ – [...] irgendwas passiert [...]. Aber ansonsten grundsätzlich [...]: Ich kann mich dafür entscheiden, Werbung zu machen oder nicht [...], dann kann das mit Menschen mit Behinderung genau so sein – klar!

Argumentiert man konsequent aus der Betroffenenperspektive (also unter Ausblendung der übrigen Aspekte, z.B. der Angst Werbender vor negativen Publikumsreaktionen), hätte die Frage, ob die Wirtschaftswerbung auf Menschen mit Behinderungen als Werbeträger zurückgreifen „darf“, eigentlich nur dann ihre Berechtigung, wenn man unterstellt, dass Menschen mit Behinderungen (im Unterschied zu Nichtbehinderten) grundsätzlich gegen ihren Willen zu Werbezwecken instrumentalisiert werden. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich, dass nun einmal (wie auch der soeben zitierte Experte angedeutet hat) tatsächlich bestimmte Behinderungsformen existieren, bei denen die Erhebung einer hinreichend eindeutigen Willensbekundung als mindestens problematisch einzustufen ist. Beschränkt man sich allerdings auf Behinderungsformen, in denen Bedenken dieser Art völlig unbegründet sind, gibt es schlichtweg keinen Anlass zur Infragestellung der eigentlich selbstverständlichen Prämisse, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, selbst zu entscheiden, ob er als Werbeträger in Erscheinung treten möchte oder nicht. In Anlehnung an diese Argumentationslinie könnte somit eine generell negative Antwort auf die Frage nach der moralischen Legitimität des Zusammenspiels von Behinderung und Wirtschaftswerbung als – ihrerseits wiederum moralisch höchst fragwürdige – Pauschalentmündigung Betroffener aufgefasst werden. Folgt man dem Katalysator-Argument, lassen sich die moralischen Bedenken, wonach die Verquickung der Behinderungsthematik und Werbeabsichten verwerflich sei, sogar möglicherweise relativieren durch die Frage, ob eine verstärkte Visualisierung von Menschen mit Behinderungen nicht ganz im Gegenteil zutiefst moralisch wäre, wenn dadurch die Chance bestünde, moralisch unerwünschten Tendenzen wie Verdrängung oder Tabuisierung entgegenzuwirken bzw. moralisch erwünschte Inklusionstendenzen zu fördern. Wäre es also nicht geradezu bestechend, die Einbindung von Menschen mit Behinderungen als normative Forderung an die Werbewirtschaft zu richten? Diese Überlegung ist

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zunächst eng verbunden mit einer Sichtweise, die gemäß Experte_4 auf einem „eklatanten Missverständnis der Funktion von Werbung“ basiert: E:

Sich vorzustellen, Werbung für Marmelade, für Zahnpasta, für Autos, für Waschmittel, eignet sich als Instrument der Sozialpolitik, das war immer schon falsch. Denn, Werbung kann ja nicht politische Funktionen übernehmen, sondern hat ja eine wirtschaftliche, eine betriebswirtschaftliche Aufgabe.

Erwartungsgemäß fällt die Antwort dieses Befragten auf Frage 5 sehr ähnlich aus – das Radtke-Zitat wurde bei der Gelegenheit in recht vager Form vorgestellt als Einschätzung, die man von Betroffenen auch höre. E:

Ja nun, Sie hören von Behinderten dies und das. Das ist keine einhellige Meinung. [...] Die Frage für den Werbenden [ist aber]: Die Werbung hat eine betriebswirtschaftliche Funktion zu erfüllen. Er [Anm.: Der Werbende] darf nicht in die Situation verfallen, nun [...] Sozialpolitik betreiben zu wollen. Das ist nicht seine Aufgabe und wenn die Behinderten sagen: „Ja, wir wollen aber in der Öffentlichkeit mehr auftauchen“: [...] [Nun ja], wir haben die Medien, wir haben die redaktionellen Teile und es wird ja auch schon wesentlich mehr gemacht.

Als Gegenpol zu diesen Ausführungen lässt sich eine Einschätzung von Experte_12 interpretieren: Es gibt zu bedenken, dass die Werbung von heute andere Wege finden müsse als etwa vor 50 Jahren: E:

Wir leben halt in anderen Zeiten und heute muss Werbung was anderes machen als nur das Produkt zu preisen. Weil alle das gleiche Produkt anbieten. Diejenigen, die das sagen, haben vollkommen recht: Werbung ist keine Sozialpolitik. Aber die Frage ist: Kann heute Werbung erfolgreich sein ohne Sozialpolitik zu sein?

Diese Gegenfrage führt wiederum zu der immer wieder aufkeimenden Debatte um die „Moralisierung der Märkte“ (Stehr 2007) bzw. um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen97 (vgl. zu Überblickszwecken u.a. Schranz 2007). In diesen Kontext fügen sich auch die Überlegungen von Experte_1 zu Frage 4 ein: Seine Zustimmung zu der Fragestellung, ob man Menschen mit Be-

97 Weithin bekannte Schlagwörter lauten u.a.: Corporate Citizenship oder Corporate Social Responsibility.

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hinderungen in die Werbung einbinden dürfe, ergänzt er um die Bedingung: „Wenn man es vernünftig macht.“ Hintergrund ist der Gedanke, dass Unternehmen, wenn sie mit sozialen Themen werben, sich in einen Legitimierungszwang begeben bzw. unter besonderer Beobachtung stehen98. E:

Insofern ist es für jeden, der in diesem Bereich wirbt, ein absolutes Muss, vorher sich selbst zu prüfen, wie er, wie lange er, wie konstruktiv er mit dem Thema insgesamt selber umgeht, damit es nicht als vordergründiges Aufgreifen von sozial erwünschten Themen gedeutet wird.

Die bislang bekannten Ausführungen könnten unter Umständen den Eindruck erwecken, dass an dem durch das Katalysator-Argument proklamierten (positiven) Zusammenhang zwischen erhöhter Sichtbarkeit in der Werbung und Enttabuisierung der Behinderungsthematik wenig Zweifel bestehen und dass folglich speziell seitens so definierter Betroffener die Ausblendung des Merkmals Behinderung als unerwünschte Diskriminierung, eine Zunahme entsprechender Werbung dagegen als erstrebenswertes Ziel betrachtet wird. Doch legt u.a. die folgende Einschätzung von Experte_11 (zu Frage 20) nahe, solche pauschalen Schlussfolgerungen mit Vorsicht zu bewerten:

98 Auch dieser Aspekt wird von Experte_12 angesprochen. Ausgangspunkt ist in seinem Falle allerdings nicht die Diskussion der moralischen Ebene, sondern die Frage, welche Erklärungen ihm für die Seltenheit des Phänomen einfielen: „Also das ist, denke ich, immer noch innerhalb der Werbung ein Tabu, das zu tun. Das trauen sich ja auch nur Firmen die dann dezidiert die auch damit einhergehende Verantwortung übernehmen wollen.“ So sei z.B. der Einsatz von Repräsentationsformen, die auf dem Kuriositäten-Stereotyp (vgl. Kapitel 4.4) basieren bzw. entsprechende Assoziationen wecken, als „katastrophale Strategie“ einzustufen. „Also muss man, wenn man damit werben will, sich in gewisser Weise zum Anwalt der Betroffenen [...] machen und das geht nur, wenn man das ernst meint. Man kann das jetzt vortäuschen und sagen: ‚Wir machen das jetzt mal und spenden denen von jedem Plakat [...] einen Cent für Ihre Bewegung.’ Dann weiß jeder: Hier wird zu Marketingzwecken ein Thema, das sehr sensibel ist, besetzt. Und es geht um Ausbeutung, es geht um Kauf und [...] dann geht der Schuss nach hinten los. Und da viele Firmen das wissen, trauen Sie sich nur daran, wenn Sie in der Lage und bereit sind [...], das damit einhergehende soziale Engagement tatsächlich aufzubringen.“

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E:

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Die Frage [zielt] eben [auf] diese Ambivalenz, ob ich in diese Normalität hinein integriert werden will. Klarerweise ist der Ausschluss aus einem ganzen Segment diskriminierend, aber: Eingeschlossen werden oder hinein genommen werden in ein Element, in einen gesellschaftlich Sektor, [in dem] alle quasi auch ein Stück verwendet werden [...] im Sinne der Mythenbildung des Tauschwertes – und wir sind dann genauso Opfer dieser Tendenz und dann sind wir integriert – das hat auch was Affirmatives an sich. Ich kann da nichts Deutliches sagen, das ist wieder so eine doppelbödige Geschichte. Ich will nicht ausgeschlossen werden, ich will aber auch nicht hinein gezogen werden in etwas, das prinzipiell meine Existenz [...] [gewissermaßen] reduziert auf ein Tauschwertverhältnis.

Den gleichen Gedanken führt Experte_11 an im Kontext der Einschätzung, wonach der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen aus der Werbung speziell von Betroffenen als (unerwünschte) Bestätigung der Andersartigkeit bzw. ästhetischen Minderwertigkeit von Behinderung aufgefasst werden könne: E:

Da ist wohl was dran, da würde ich auch zustimmen. Aber: [Die Frage ist, ob ich in dem] immer schnelleren Zyklus von Moden, von Stilen, von Kulturen, Subkulturen und wirtschaftlich geprägten neuen Vermarktungsformen [...] unbedingt dabei sein soll? Wenn ich draußen bin, bin ich natürlich diskriminiert, aber wenn ich ganz affirmativ gleichberechtigt drin bin, dann bin ich in dem Wahnsinn genauso drin! Ich würde eher hoffen auf etwas Drittes: Ich will präsent sein in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und dann bin ich auch akzeptiert, wenn ich im Bus mit dabei bin, wenn ich im Kino bin, wenn ich in der gleichen Schule bin usw. [...]. Ich weiß nicht, ob wirklich mir oder der Gesellschaft [etwas fehlt, wenn] ich in der Werbung nicht vorkomme. Andere Bereiche scheinen mir da wichtiger.

Weitere Interviewpassagen führen zu der Schlussfolgerung, dass Experte_11 insbesondere der übergeordneten Thematik, nämlich „massenmediale Repräsentationsformen von Behinderung“, durchaus eine gewisse Bedeutung zuschreibt. Wenig Hoffnung setzt er jedoch offenbar in die Katalysatorwirkung der Werbung, zumal er diese spezielle Kommunikationsform eher kritisch bewertet. Die Quintessenz der von ihm zitierten Aussagen lässt sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: Aus dem Umstand, dass der Ausschluss aus der Werbung eine Diskriminierung darstellt, ergibt sich nicht notwendigerweise die Schlussfolgerung, dass eine Einbindung in die Werbung als wünschenswertere (oder gar ausdrücklich wünschenswerte) Alternative einzustufen (und somit zwangsläufig als normative Forderung anzustreben) ist.

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Insgesamt bleibt allerdings festzuhalten, dass die grundlegende moralische Legitimität des Zusammenspiels von Behinderung und Werbung nur in Ausnahmefällen (siehe v.a. Experte_10) in Frage zu stellen ist99; allerdings müsse gewährleistet sein, dass der Werbende – im Übrigen nicht zuletzt auch im eigenen Interesse an einem möglichst großen Kampagnenerfolg – eine solche Strategie mit dem gebotenen Bedacht bzw. Engagement verfolgt. Im nächsten Kapitel geht es nun um die Frage, ob bestimmte – und ggf. welche – Kriterien bei der Einbindung von Menschen mit Behinderungen in die Werbung zu beachten sind.

5.3.2 Darstellungsmuster von Menschen mit Behinderungen zwischen Wünschbarkeit und Umsetzbarkeit Die Umsetzung des Zusammenspiels von Behinderung und Werbung ist geleitet von der Notwendigkeit, die Erwartungshaltungen potenzieller Rezipienten und die Regeln der Werbung (die sich ja wiederum nicht zuletzt aus den Vermutungen Werbender über die Wirksamkeit bestimmter Werbestrategien, Stilmittel und dergleichen ergeben) auf den sprichwörtlichen gemeinsamen Nenner zu bringen. Relevant sind hierbei also die folgenden Fragestellungen: Frage 17: Welche Darstellungsmuster von Behinderung sind zu fördern, welche zu vermeiden?

99 Im Falle von Experte_11 führte Frage 5 (Wortlaut in diesem Fall: „Darf man das überhaupt?“) zunächst zu einer Gegenfrage – „Darf man Menschen überhaupt in der Werbung missbrauchen?“ – die sich seiner Einschätzung nach auch in anderen Kontexten (etwa: Frauendarstellungen in der Werbung) regelmäßig stellt. Im Hinblick auf die vorliegende Thematik ergänzt er zudem, vom Standpunkt der UN-Konvention aus betrachtet müsse man seiner Einschätzung nach „darum kämpfen, dass dieser Mythos ‚Behinderung‘ eher zurückgedrängt wird in solchen Darstellungsweisen.“ Offen bliebe allerdings die Ausgangsfrage, was man dürfe und was nicht, aber: „‚Dürfen‘ [...] klingt nach gesetzlichen Maßnahmen [und danach] würde ich nicht [...] rufen.“

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Frage 18: Inwieweit ist die Art und Weise, in der Menschen mit Behinderung gerne dargestellt werden möchten, vereinbar a) b) c)

mit den Erwartungen bzw. Einstellungen potenzieller Rezipienten ohne Behinderung? mit den von der Werbung üblicherweise eingesetzten Techniken bzw. Darstellungsmustern? mit der Notwendigkeit, dass eine Werbebotschaft möglichst „auf den ersten Blick“ verständlich sein sollte?

Aus zahlreichen Antworten, die sich teils unmittelbar, teils mittelbar auf Frage 17 beziehen, ging hervor, was im Vorfeld bereits vermutet wurde: Demnach seien aktive, fähigkeitsorientierte Darstellungen zu fördern, mitleiderregende und defizitorientierte Darstellungsmuster zu vermeiden. Wichtig sei auch eine Sensibilität für angemessene Sprache (vgl. hierzu weiterführend Kapitel 1.2), wie Experte_5 anhand der Begriffe „Hilfe“ und „Unterstützung“ erläutert: „Menschen mit Behinderung brauchen Unterstützung, aber Hilfe hört sich nach Hilflosigkeit an und suggeriert [...] ein Beziehungsgefälle.“ Der Begriff Unterstützung erkenne dagegen die Souveränität des anderen an. Experte_7 sieht zudem Provokation als legitimes Stilmittel, solange sie maßvoll erfolgt: Der Rollstuhlfahrer, der sich mit einer zu schmalen Tür konfrontiert sieht und für ein Unternehmen wirbt, das zu ebendiesem Problem eine Lösung anbietet, sei durchaus „in Ordnung“, aber: E:

Man sollte [Menschen mit Behinderung] [...] auch nicht [veralbern]. Das sollte auch nicht rüberkommen! Also z.B.: Eine Sehbehinderte vor einen Fernseher zu setzen, finde ich albern. Das sollte man nicht machen!

Die Fragen 18a bis 18c kamen speziell in der hier vorgestellten Kombination vorwiegend im Rahmen der schriftlichen Befragung zum Einsatz, während in den übrigen Interviews allenfalls Teilaspekte abgedeckt wurden100. An dieser

100 Frage 18c bezog sich z.B. häufig auf die Vereinbarkeit der (komplexen) Behinderungsthematik mit der Notwendigkeit, dass die Botschaft einer Werbung auf den ersten Blick erkennbar sein müsse. Hintergrund ist hierbei z.B. die Überlegung, dass solche Vereinfachungen möglicherweise einhergehen mit bestimmten Stereotypen,

166 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Stelle soll es folglich genügen, zwei Antworten aus den schriftlichen Befragungen gegenüberzustellen, zunächst Experte_16: E:

(Anm.: Frage 18a) Ich denke, dass Menschen mit Behinderungen gerne als selbstbestimmte Personen, die wie andere Leute auch leben, handeln, denken und fühlen dargestellt werden möchten. [Arme Kreaturen] oder Helden sind da eher nicht am Plan. (Anm.: Frage 18b) RezipientInnen von Werbung haben sicher teilweise ein anderes Bild von Behinderung und denken manchmal, dass sich behinderte Menschen durch z.B. lustige Spots gekränkt fühlen. Was aber für viele behinderte Personen nicht zutrifft. Durch mehr Menschen mit Behinderung in den Medien und in der Werbung bzw. durch ein selbstverständlicheres Bild von diesen könnte sich das ändern. (Anm.: Frage 18c) Ein Problem ist sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht immer als HeldInnen und SpitzensportlerInnen vorkommen wollen. Die Werbung arbeitet aber mit Bildern der Schönheit und Wunschvorstellungen. Ich denke, dass man sich hier wahrscheinlich gewissen Regeln unterwerfen muss, damit Behinderung Teil der Werbung sein kann. Ein solches Beispiel ist der Spot von Visa (Anm.: vgl. Kapitel 5.4). Er transportiert ein positives Bild von Behinderung und ist aber auch für ganz wenige Menschen in dieser Form Realität. Dass Mann oder Frau mit Behinderung gut leben können, ist aber für viele Realität.

Die Ausführungen von Experte_14 umfassen lediglich die Fragen 18a und 18b (da Frage 18c in diesem Fall nicht gestellt wurde). E:

Meines Wissens ist nicht genau bekannt, wie Menschen mit Behinderung gerne dargestellt werden möchten. Ich vermute, dass sie möglichst ehrlich dargestellt werden möchten. Dies dürfte den Erwartungen der allermeisten potentiellen Rezipienten widersprechen. Hier wären entsprechende empirische Untersuchungen notwendig, die allerdings mit erheblichen Verfälschungstendenzen (social desirability) zu rechnen hätten.

Die widersprüchlichen Erwartungshaltungen von Menschen mit und ohne Behinderungen werden von beiden Experten als wesentliches Problem hervorgehoben. Während nach Einschätzung von Experte_16 diese Widersprüche keineswegs unüberbrückbar sind, scheint für Experte_14 allerdings fraglich, inwieweit

die speziell aus Sicht Betroffener als stigmatisierend bewertet werden könnten (vgl. insbesondere Kapitel 4.4).

E RSTE E XPERTENBEFRAGUNGSWELLE

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es unter dem Aspekt der sozialen Erwünschtheit überhaupt realistisch ist, die tatsächlichen Erwartungshaltungen potenzieller Rezipienten zu identifizieren. Die Einschätzung von Experte_16 mag man – in Anlehnung an L1 (vgl. Kapitel 4.6) – wiederum dahingehend interpretieren, dass eine über grundlegende (und somit recht vage) Kriterien hinausgehende Beantwortung dieser Frage eigentlich nur dann möglich ist, wenn zur Erläuterung auch konkrete Fallbeispiele herangezogen werden können. Die Erhebung themenrelevanter Werbeanzeigen steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels.

5.4 D IE SCHWIERIGE S UCHE F ALLBEISPIELEN

NACH AKTUELLEN

Selbst weiterführende Recherchen bestätigen die bereits eingangs angeführte Vermutung, dass Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung offenbar kaum in Erscheinung treten. Abgesehen von der SonnenblumenKampagne finden sich, wie in Kapitel 3.2.2 ersichtlich wurde, einige ältere Fallbeispiele in den Jahrbüchern des Deutschen Werberates. Das Ziel dieser Dokumentationen besteht jedoch nicht etwa in einem repräsentativen oder gar vollständigen Überblick über das jeweils vorhandene Werbematerial, sondern in einer Präsentation und Diskussion ausgewählter Beispielfälle, die auf Grund (mindestens) einer Beschwerde vom Deutschen Werberat behandelt wurden. Trotz dieser Einschränkung bleibt festzuhalten, dass auch hier eine nahezu verschwindend geringe Zahl an Fallbeispielen einem relativ breiten Zeitintervall gegenüber steht. Völlig unsichtbar sind Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung also nicht, jedoch legen die bisherigen Erkenntnisse den Schluss nahe, dass die Durchführung einer Inhaltsanalyse zur systematischen Erhebung aktueller Werbeanzeigen zur vorliegenden Thematik wohl – überspitzt formuliert – der sprichwörtlichen Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleichkäme. Zielführender schien es daher, der Suche nach Fallbeispielen jüngeren Datums – ergänzend zu eigenen Recherchen – in die erste Expertenbefragungswelle einzugliedern. Im Mittelpunkt der betreffenden Frage stehen Werbedarstellungen vorzugsweise aus den letzten beiden Jahren101 und vorzugsweise aus Deutschland – verbunden allerdings mit der Option, diese Vorgaben bei Be-

101 Als Referenzpunkt ist hierbei der Beginn der Feldphase (August 2009) zu berücksichtigen.

168 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

darf auf die letzten fünf Jahre und den deutschsprachigen Raum zu erweitern. Erfasst werden sollten jedoch ohnehin alle Nennungen und es zeigte sich schnell, dass selbst bei großzügiger Auslegung dieser Kriterien allenfalls vereinzelte Beispiele genannt werden konnten. Bei der Auswertung ist zudem die in Kapitel 3.2.2 präsentierte Eingrenzung bzgl. der verschiedenen Werbetypen zu berücksichtigen. Folgende Werbeanzeigen wurden u.a. erhoben: •







VISA-Karte (“Life flows better with VISA”): Der Aktionskünstler Bill Shannon tänzelt mit Hilfe von Krücken durch die Straßen einer Stadt, verschwindet schließlich in einem Kaufhaus und fährt kurz darauf kunstvoll mit einem Skateboard davon. Nach Experteninformationen wurde diese Kampagne 2009 in Deutschland geschaltet. Experte_16 betont, der Spot vermittele „ein unheimlich positives Lebensgefühl mit und durch Behinderung“ und fügt einen weiteren interessanten Aspekt hinzu: „Kritisiert wurde, dass viele Menschen nicht glauben, dass der Darsteller behindert ist. Das finde ich positiv, weil es zum Nachdenken anregt.“ Orange („Zusammen sind wir mehr“): Der österreichische Rollstuhlrennfahrer Thomas Geierspichler erzählt über sein Leben. Gemäß Expertenangaben wurde diese Kampagne Ende 2008 im TV geschaltet; unklar ist jedoch, ob dies auch in Deutschland der Fall war. Levi's (“Feel”): Eine blinde Frau erkennt eine Levi's-Jeans durch Abtasten. Nicht mit Bestimmtheit geklärt werden konnte im Rahmen der Expertenbefragung allerdings, inwieweit dieses Beispiel noch in den bevorzugten Erhebungszeitraum fällt. Auf eine weitere Levi’s-Kampagne „mit einem kleinwüchsigen Mann und einem (dem Augenschein nach) nicht behinderten Model“ verweist Experte_15. Es gehe in dieser Werbung „eindeutig um ein Produkt, ein Kleidungsstück, eine Ware, obwohl die Werbung ein progressives Beziehungsangebot suggeriert (‚auf gleicher Augenhöhe‘).“ Auch hier bleibt zunächst völlig offen, inwieweit dieses Beispiel in den bevorzugten Erhebungszeitraum fällt.

Weitere Expertennennungen umfassen: •

Fallbeispiele, die auf Basis der angegebenen Erinnerungen nicht genau zugeordnet werden konnten, jedoch in einigen Fällen möglicherweise relevant sind: So verweist Experte_8 z.B. auf die Werbeanzeige eines Baumarktes, in der eine Frau mit Rollstuhl auftauchte – allerdings „so versteckt, dass man

E RSTE E XPERTENBEFRAGUNGSWELLE

• • • •

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eigentlich schon die Thematik kennen muss, um zu erkennen: Das war eine Rollstuhlfahrerin.“ Benetton sowie weitere Fallbeispiele, die eindeutig zu lange zurückliegen, um für die vorliegende Erhebung relevant zu sein. die Aktion Mensch, wobei einigen Experten durchaus bewusst war, dass diese Fallbeispiele nicht Gegenstand der Erhebung sind. vereinzelte internationale Fallbeispiele102 vereinzelte Beispiele für behinderungsexklusive und verhandelnde Werbung.

Interessant ist in diesem Kontext die Einschätzung von Experte_3 zu der in Kapitel 5.2.1 thematisierten Frage nach dem ersten Gedanken zu dieser Studie: Er verwies sogleich auf die Plakate eines Reha-Mittel-Herstellers, die er selbst an einem bestimmten stark frequentierten Ort entdeckt habe und die seiner Einschätzung nach auch allgemein „sehr, sehr häufig gesehen“ werden. Seine Bewertung dieser Kampagne fällt durchaus positiv aus: E:

Das ist gute Werbung, ja. Menschen werden mit Behinderung ganz offen konfrontiert und reagieren gut darauf, wenn ich das so richtig einschätze.

I:

Also die Reaktionen, die Ihnen bekannt sind, wenn ich Sie richtig verstehe, auch

E:

Ja, also wenn Menschen sehen, dass Behinderte sich selber helfen, dass sie selber

eher positiv? nicht verantwortlich sind, nicht? Menschen haben ja [...] oft ein schlechtes Gewissen uns gegenüber und wenn sie dann sehen, Behinderte sind aktiv, helfen sich selber; das tut ihnen gut.

Der Ausschluss von behinderungsexklusiver Werbung aus der Fallbeispielsammlung der vorliegenden Studie basiert bekanntlich auf zwei Annahmen (vgl. auch Kapitel 3.2.2): Zum einen ist davon auszugehen, dass sich zielgruppenspezifische Werbung in der Regel vorwiegend in Special Interest-Magazinen findet, also außerhalb der Zielgruppe kaum auf Resonanz stößt. Doch selbst wenn sich diese Unterstellung im vorliegenden Fall – gemäß der Experteneinschätzung – widerlegen ließe, so bliebe doch fraglich, inwieweit die von Experte_3 vermuteten gedanklichen Transfers auch realistisch sind bei Rezipienten, die mit der dargestellten Lebensrealität nicht vertraut sind bzw. mit welchem Aufmerksam-

102 So zog insbesondere Experte_6 zur Illustration seiner Überlegungen mehrmals ein Fallbeispiel aus dem internationalen Raum heran.

170 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

keitsniveau ein solches Plakat – selbst wenn es kaum zu übersehen ist – seitens Adressaten außerhalb der (behinderungsexklusiven) Zielgruppe überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Insgesamt konnten, wie bereits angedeutet, selbst die Experten nur eine sehr geringe Zahl an einschlägigen und im Sinne der vorgestellten Eingrenzung relevanten Werbedarstellungen beisteuern. Hier offenbart sich ein Dilemma: Eine wesentliche Zielsetzung einer Neubetrachtung der Thematik besteht darin, Rezipientenurteile zu konkreten themenrelevanten Werbeanzeigen zu erheben. Allerdings deuten alle bisherigen Erkenntnisse darauf hin, dass dies angesichts der sehr geringen Zahl realer Fallbeispiele problematisch ist. Um die Bandbreite der Thematik hinreichend abzudecken, war es daher zunächst notwendig, dieses unsichtbare Phänomen empirisch sichtbar zu machen, also eigene (fiktive) Werbeanzeigen zu entwerfen. Die Vorstellung dieser Anzeigen und der zu Grunde liegenden Kriterien steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels.

6 Ein nahezu unsichtbares Phänomen wird sichtbar: Fiktive Fallbeispiele für die Online-Befragung

6.1 V ORBEMERKUNGEN Tabelle 6 (S. 173 dieser Arbeit) liefert zunächst (in alphabetischer Reihenfolge) eine kurze Beschreibung der für die Online-Befragung entwickelten und in den nachfolgenden Kapiteln ausführlich diskutierten fiktiven Werbeanzeigen (in eigener Sache ist an dieser Stelle Frau Berit Schütte für die hervorragende gestalterische Umsetzung der Werbeideen zu danken). Dem Ziel, ein möglichst breites Spektrum an Werbeanzeigen zu erhalten, soll durch Variation u.a. der folgenden Faktoren Rechnung getragen werden. •



Bezug zwischen Werbeträger und Produkt: Welcher Kategorie der in Kapitel 3.2.2 ausführlich vorgestellten Typologie ist die jeweilige Anzeige zuzuordnen? Wie sich zeigen wird, gestaltet sich die Zuordnung mancher Werbebeispiele doch schwieriger als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Bild/Stereotyp (vgl. Kapitel 4.4): Die Frage, wie Menschen mit Behinderungen gerne selbst dargestellt werden, ist in einem pauschalen Sinne kaum zu beantworten. Gemäß den Experteneinschätzungen in Kapitel 5.3.2 ist allerdings zu vermuten, dass tendenziell möglichst normale und ehrliche Darstellungen bevorzugt, dagegen das Positivextrem des Superhelden ebenso wie das Negativextrem des armen Mitleidsobjekts eher kritisch bewertet werden. Die beiden Extreme werden durch die Stimuli Energy Drink (Superheld) und Ausgeträumt (Mitleid) vermittelt; die Anzeigen Einrichtung, Mode und Parfum zielen dagegen auf (möglichst normale) Alltagsdarstellungen.

172 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG





Interaktionsrahmen: Tritt der Mensch mit Behinderung alleine in Erscheinung103 (z.B. Auto, Energy Drink), im Zusammenhang mit mehreren anderen Personen (z.B. Mode, Parfum) oder gemeinsam mit einer einzigen weiteren Person, etwa als Liebespaar (z.B. Einrichtung)? Wie lässt sich ggf. das Verhältnis des Menschen mit Behinderung zu den übrigen Personen charakterisieren?104 Stil (z.B. Gestaltungstechniken, Tonalität105): Zu den gängigen Stilmitteln der Werbung zählen u.a. Emotionalität (hier: Energy Drink) oder auch die Einbindung von Humor bzw. Doppeldeutigkeiten und Wortspielen (hier: Blind Date, Parfum, Auto). Wesentliche Unterschiede ergeben sich darüber hinaus in der Tonalität. Wirkt die Anzeige z.B. eher gewagt bis frech (z.B. Flatrate) oder eher neutral bis seriös (z.B. Einrichtung)?

Im Mittelpunkt der nachfolgenden Kapitel steht die Frage, wie aus den jeweiligen theoretischen Vorüberlegungen die fiktiven Fallbeispiele entstanden sind. Bei dieser Vorstellung der Stimuli weitgehend vernachlässigt werden Aspekte, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der vorliegenden Thematik „Behinderung und Wirtschaftswerbung“ stehen, so z.B. die Vermutungen, dass die Stimuli Mode oder Parfum bei der weiblichen Bevölkerung ein generell höheres Interesse hervorrufen als bei Männern bzw. dass die im Stimulus Flatrate beworbene Produktkategorie wohl vorwiegend den Präferenzen jüngerer Altersgruppen entgegenkommt. Effekte dieser Art sind bei der späteren Dateninterpretation zwar durchaus in Betracht zu ziehen, werden jedoch in den folgenden Kapiteln nur in begründeten Ausnahmefällen angesprochen.

103 Insbesondere die Fokussierung auf Einzelpersonen könnte z.B. Personalisierungseffekte (vgl. auch Kapitel 3.1.2) begünstigen. 104 Die Querverbindungen zur vorangegangenen Stereotypen-Thematik sind unverkennbar: Eine neutrale Einbindung in eine Gruppe könnte z.B. als Normalitätsindiz aufgefasst werden, eine hierarchische Ordnung zu Lasten des Werbeträgers mit Behinderung führt dagegen wohl auch zu jenen Assoziationen, die aus einschlägigen Negativstereotypen (z.B. Abhängigkeit) wohlbekannt sind. 105 Eine Vertiefung dieser Fragestellung würde sehr schnell in das viel zitierte „Fass ohne Boden“ münden. Als einführender Überblick sei an dieser Stelle auf Becker (1999) verwiesen.

F IKTIVE F ALLBEISPIELE

Tabelle 6:

| 173

Zusammenfassende Beschreibung der fiktiven Fallbeispiele

Bezeichnung

Slogan (z.T. Ausschnitte)

Werbeträger

Kap.

Ausgeträumt (Anm.: Vorsorge)

„An den Rollstuhl gefesselt – das kann auch Ihnen jederzeit passieren. Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war“. „Sichern Sie sich finanziell ab“/“damit Ihr Leben weitergeht“

ein deprimiert und elend wirkender Mann im Rollstuhl (von hinten zu sehen) in trister Atmosphäre

6.2.1

Auto

„Diesem Auto können Sie blind vertrauen!“ [...] „in jeder Hinsicht perfekt“

blinder Autofahrer, der Blick fällt von schräg vorne in das geöffnete Seitenfenster

6.2.2

Blind-Date

„Die seriöse Partnerbörse ...auch für schwierige Fälle.“

ein männliches und ein weibliches Beinpaar und zwei sich aufeinander zu tastende Blindenstöcke

6.2.3

Einrichtung

„Ich weiß am besten, was gut für mich ist!“ […] “Wir richten Ihr Zuhause nach Ihren Vorstellungen ein“

Mann im Rollstuhl gemeinsam mit Freundin (nicht behindert)

6.2.4

Energy Drink

„Auch Du kannst ein Sieger sein – wenn Du an Dich glaubst!“

Athletin mit Beinprothese

6.2.5

Flatrate (Anm.: Movie-MusicPhone-Flatrate)

„Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen? Nicht bei uns!“

Drei Skizzen des gleichen Gesichts symbolisieren die entsprechenden Behinderungen.

6.2.6

Mode

„Passt es Ihnen – passt es uns!“ […] „denn Mode ist für alle da“

eine bunt gemischte Personengruppe, darunter u.a. eine Rollstuhlfahrerin

6.2.7

Parfum

„Was hat die denn?“ […] „Das Parfum mit der Duft-Note 1“

Eine Café-Besucherin im Rollstuhl (sowie weitere Gäste)

6.2.8

Quelle: eigene Erstellung

174 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Prinzipiell scheint es sinnvoll, neben wissenschaftstheoretischen Überlegungen (die sich teils aus der Anwendung der genannten Kriterien, teils aus anderen Aspekten der jeweiligen Anzeige ergeben) und interessanten Fallbeispielen (nicht notwendigerweise aus dem Bereich „Werbung“) auch journalistische Beiträge, Pressemeldungen etc. in die Diskussion der einzelnen Stimuli mit einfließen zu lassen. Gerade die Hinzuziehung solcher nicht-wissenschaftlicher Quellen kann durchaus einen interessanten Überblick über aktuelle Rahmenbedingungen bzw. neue Trends zu bestimmten Teilaspekten der Behinderungsthematik – und damit durchaus hilfreiches Kontextwissen für die Einordnung der jeweiligen Anzeige – vermitteln106. Eine wertvolle Möglichkeit zur Gegenprüfung und bisweilen auch Ergänzung der Vorüberlegungen liefern schließlich auch die im Rahmen der zweiten Expertenbefragungswelle in Form einer offenen Frage („Wie bewerten Sie diese Anzeige?“/Details siehe Anhang) erhobenen Einschätzungen zu den einzelnen Anzeigen. Diese zweite Welle ist insgesamt zwar zeitlich erst nach der OnlineBefragung angesiedelt. Einer Verwendung der Expertenmeinungen zu den Anzeigen bereits an dieser Stelle steht dennoch nichts im Wege, da die Bewertungen – selbstverständlich – vor Bekanntgabe der Kernbefunde aus der OnlineBefragung (und den wiederum damit einhergehenden Fragen) erhoben wurden. An der zweiten Expertenbefragung nahmen die bereits aus der ersten Welle bekannten Experten 5, 7, 8, 9, 11, 13, 14 und 16 teil (vgl. hierzu die Informationen in Kapitel 5.1); neu hinzu kam ein weiterer Befragter (Experte_17: männlich, mit Behinderungen, Expertentum: u.a. Behinderung und Sport), der anlässlich der Online-Befragung weiterführendes Interesse an den Fragestellungen dieser Arbeit bekundet hat. Aus der anschließenden Korrespondenz wurde deutlich, dass besagte Person durchaus ebenfalls als Experte für diese Studie prädestiniert wäre. Bei idealtypischer Betrachtung können die Experten bei der Begutachtung der jeweiligen Anzeige zu einem positiven bzw. (seitens des Werbenden) intendierten, einem neutralen (bzw. teils positiven, teils negativen) oder einem kritischen (also seitens der Werbenden nicht intendierten) Urteil gelangen. Die Produktion einer Werbebotschaft kann insofern – vereinfacht formuliert – aufgefasst werden als Versuch, mittels geeigneter Darstellungsformen bei der vorgesehenen Zielgruppe erwünschte Reaktionen hervorzurufen und zugleich widerspenstige

106 Welche Betrachtungsperspektive (wissenschaftliche Beiträge, journalistische Artikel, Fallbeispiele etc.) dominiert, muss selbstverständlich von Fall zu Fall entschieden werden.

F IKTIVE F ALLBEISPIELE

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Reaktionen möglichst zu vermeiden. In Anlehnung an die Terminologie der Cultural Studies (vgl. Kapitel 4.1) kann demnach – soweit es die Decodierung des durch die Encodierung vorgegebenen Bezugsrahmens (hier also die Intentionen des Werbenden) betrifft – von einer dominanten (intendierten), einer ausgehandelten (teilweise intendierten) sowie einer oppositionellen (nicht intendierten) Lesart die Rede sein (vgl. weiterführend auch Jäckel/Peter 1997: 53ff.). Aus den bisherigen Ausführungen wird zugleich deutlich, dass solche nicht intendierte (also oppositionelle) Reaktionen insbesondere dann erwartet werden können, wenn Werbung sich sozialer und/oder moralisch hoch geladener Themen – wie etwa Behinderung – bedient. Unter Mitberücksichtigung dieser Überlegungen bietet sich somit als weiterer terminologischer Bezugsrahmen für die Kategorisierung der Anzeigenbewertungen aus der zweiten Expertenbefragungswelle auch das folgende, von Kim Christian Schrøder zur Einordnung von Rezipienteneinschätzungen über Corporate Responsibility-Werbekampagnen entwickelte, Analyseraster an: Nach diesem – unverkennbar an das LesartenModell der Cultural Studies angelehnten – Kategoriensystem kann unterschieden werden zwischen einer wohlwollenden (empathetic), einer zweifelnden (agnostic) sowie einer zynischen (cynical) Lesart (vgl. ausführlich Schrøder 1997; dt. Terminologie: Schnierer 1999: 248). Tabelle 7:

Lesarten-Modelle am Beispiel behinderungsinklusiver Werbung

Einordnung der Lesart aus Sicht des Werbenden

Bezeichnungen der Lesart

idealtypische Lesarten am Beispiel behinderungsinklusiver Werbung

intendierte Lesarten

Dominant bzw. wohlwollend bzw. positiv

Die Einbindung dieser bislang vernachlässigten Zielgruppe wird als ökonomisch sinnvoll und moralisch wünschenswert, die inklusive Intention der Botschaft als glaubwürdig bewertet.

Die Lesart enthält teils intendierte, teils nicht intendierte Elemente.

Verhandelt bzw. ausgehandelt (ggf. auch: unentschlossen, neutral usw.)

Die Einbindung dieser bislang vernachlässigten Zielgruppe wird z.B. als ökonomisch sinnvoll und prinzipiell auch moralisch wünschenswert anerkannt, jedoch wird die inklusive Intention der Botschaft zumindest in Frage gestellt.

nicht intendierte Lesarten bzw. widerspenstige Reaktionen

oppositionell bzw. kritisch bzw. zynisch

Die inklusive Intention wird angesichts der kommerziellen Ziele der Werbung als unglaubwürdig eingestuft, die Einbindung von Menschen mit Behinderungen folglich als moralisch verwerflich (und ggf. auch ökonomisch kontraproduktiv) bewertet.

Quelle: eigene Erstellung

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Für die Einordnung der in den nachfolgenden Kapiteln zitierten Anzeigenbewertungen weisen sämtliche der hier vorgestellten Kategorisierungen spezifische Vor- und Nachteile auf. Es scheint daher sinnvoll (und angesichts der Querverbindungen zwischen diesen terminologischen Orientierungshilfen auch völlig legitim), bei der Klassifizierung dieser Experteneinschätzungen von Fallbeispiel zu Fallbeispiel zu entscheiden, welcher Formulierungsvorschlag für die jeweilige Kategorie am besten geeignet scheint. Tabelle 7 (S. 175 dieser Arbeit) zeigt diese Zusammenhänge auf und veranschaulicht die dahinter stehenden Überlegungen am Beispiel idealtypischer Lesarten von behinderungsinklusiver Werbung. Für die Einordnung der Einschätzungen aus den Experteninterviews können ferner folgende Hinweise hilfreich sein: •





Experte_17 formuliert seine Bewertungen insgesamt in einem sehr positiven Tonfall, d.h., auch kritische Äußerungen fallen unter Umständen erst auf den zweiten Blick auf. Am kritischsten äußert er sich zu Ausgeträumt (vgl. Kapitel 6.2.1), wobei selbst diese Kritik im Vergleich zu den Einschätzungen der meisten übrigen Experten noch relativ moderat ausfällt. Dagegen ist z.B. bei Experte_14 eine deutliche Dominanz kritischer Einschätzungen zu konstatieren. Experte_11 orientiert sich bei seinen Bewertungen durchweg an den aus Kapitel 4.4 bekannten vier Repräsentationsformen nach Garland Thomson (2001), der (ebenfalls in Kapitel 4.4 erläuterten) Typologie der Blicke (Judith et al. 2001) sowie an vergleichbaren Überlegungen von Lothar Sandfort (1982b: 209), der seinerzeit insgesamt vier Darstellungsformen identifiziert hat, mit deren Hilfe der aus Sicht von Medienschaffenden prinzipiell nur schwer vermittelbaren Behinderungsthematik schlussendlich doch eine gewisse Medientauglichkeit verliehen werden könne: Elend der Behinderten/bedauerlich, aber nicht hoffnungslos/dynamische Elitebehinderte sowie Kopplung mit einem Skandal. Daneben greift Experte_11 die ursprünglich auf Marx zurückzuführende Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert (vgl. stellvertretend Marx 1969: 15ff.) auf und lehnt sich – wie dann jeweils an gegebener Stelle zu ergänzen sein wird – bisweilen auch an andere wissenschaftliche Theorien an. Experte_9 neigt generell dazu, positive und negative Elemente der Anzeigen hervorzuheben und ihre kritischen Anmerkungen mit Verbesserungsvorschlägen zu verknüpfen. Bei der insbesondere von ihr häufig gewählten Anmerkung „ebenfalls“ (und ggf. vergleichbaren Formulierungen) ist ferner zu

F IKTIVE F ALLBEISPIELE

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beachten, dass die Anzeigenpräsentation in der Befragung – im Gegensatz zu den Ausführungen im folgenden Kapiteln – nicht alphabetisch erfolgte. Angesichts dieser sehr unterschiedlichen Herangehensweisen an die Anzeigenbeurteilungen und der damit verbundenen Kontextabhängigkeit der jeweiligen Bewertungen wurde auf eine abschließende Auszählung, wie viele wohlwollende/ambivalente/kritische Bewertungen auf die jeweiligen Anzeigen/die jeweiligen Experten entfallen, bewusst verzichtet. Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert, dass die in den folgenden Kapiteln zitierten Experteneinschätzungen ohnehin nicht als repräsentatives Stimmungsbild interpretiert werden sollten, sondern lediglich als Möglichkeit einer Gegenprüfung der – prinzipiell bereits zu einem vorherigen Zeitpunkt abgeschlossen (vgl. hierzu auch die Anmerkungen in Kapitel 6.3) – Vorüberlegungen.

6.2 V ORSTELLUNG DER

EINGESETZTEN

S TIMULI

6.2.1 Ausgeträumt Die Anzeige wird eingeleitet mit den Worten „Ausgeträumt! An den Rollstuhl gefesselt – das kann auch Ihnen jederzeit passieren! Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war!“ Beworben wird, wie die Botschaft unterhalb des Motivs nahelegt, eine Zusatzversorgung, die dem Kunden im Falle einer Behinderung finanzielle Absicherung verspricht – „damit Ihr Leben weiter geht.“ Die Abbildung selbst zeigt – schräg von hinten – einen Rollstuhlfahrer in einem Krankenhauszimmer und vermittelt eine sehr triste Stimmung; sowohl auf Grund der Körperhaltung des Protagonisten als auch auf Grund der Farbgebung: Das Zimmer ist komplett in Schwarzweiß (bzw. Grau in Grau) gehalten; beim Protagonisten und dem Rollstuhl dominieren dunkle Farben, während das Gesicht des Werbeträgers blass und fahl wirkt. Lediglich das Rot des Pullovers bildet einen Farbkontrast. Die Botschaft beinhaltet die – im vorliegenden Falle konkret von Experte_11 und Experte_13 monierte – Formulierung „an den Rollstuhl gefesselt“; eine Umschreibung, die z.B. von Peter Radtke als Paradebeispiel für die sprachliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen (vgl. ausführlich Kapitel 1.2) aufgeführt wird. Die Beschreibung verkenne zunächst, „dass für viele Gelähmte der Rollstuhl überhaupt erst Mobilität bedeutet, dass sie ohne ihn viel stärker behindert wären“ (Radtke 2003: 8) und führe mitunter schnell zu ebenso verräterischen wie unzutreffenden Assoziationen („Gefängnis“) und

178 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Schlussfolgerungen, die umso problematischer sind, da sie in der Regel nicht auf generalisierbaren Erfahrungen von Betroffenen, sondern lediglich auf fragwürdigen Projektionen nicht behinderter Außenstehender, beruhen: „Der Hintergrund solcher Ausdrucksweise ist unschwer zu erraten: ‚Wenn ich so wäre wie dieser Mensch, würde ich so und so empfinden.‘ Tatsächlich aber steckt der nichtbehinderte Journalist nicht in der Haut des Menschen mit Behinderung. Folglich trifft auch seine Schlussfolgerung nur in den seltensten Fällen zu. Nachdem auch die Leser, Radiohörer oder Fernsehteilnehmer in der Regel nichtbehindert sind, halten sie die Projektion des Außenstehenden für durchaus nachvollziehbar und machen sie sich für ihr Menschenbild von Personen mit Behinderung zu Eigen. Hieraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass die Berichterstattung zu Behindertenthemen mitunter eher der Vorstellung der Nichtbetroffenen vom Alltag behinderter Menschen entspricht als der tatsächlichen Situation.“ (ebd.: 8)

Bei der Einordnung des Stimulus Ausgeträumt ist zunächst die implizit behinderungsdissonante Ausrichtung zu konstatieren, denn ganz offensichtlich richtet sich die beworbene Vorsorge ausschließlich an Personen, die selbst (noch) nicht von einer Behinderung betroffen sind; folglich ist z.B. der auf dem Motiv sichtbare Rollstuhlfahrer von diesem Dienstleistungspaket de facto ausgeschlossen. Im Vordergrund stand allerdings die Überlegung, diesen Stimulus als einen Prototypen behinderungskontrastierender Werbung – und somit als klaren Negativanker – zu konzipieren. Da gerade dieser Werbetypus in Kapitel 3.2.2 ausführlich diskutiert wurde, genügt an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die in diesem Fallbeispiel (wenig überraschend) durchweg kritische Sicht der Experten. Das Stichwort „Angst“ bzw. „Angsterzeugung“ wurde hierbei von vier Befragten direkt genannt: •

• •

Experte_7 sieht Bilder, die auf dem Klischee der „Angst vor dem Rollstuhl“ beruhen, als eindeutig inklusionshemmend und ist daher ein klarer Gegner solcher Motive. Experte_14 betont: „Angsterzeugende Inhalte bewirken das Gegenteil Alle Stereotypen sind drin. Schlimm.“ Experte_13 moniert neben dem Versuch, „mit der Angst vor der Behinderung Kapital zu schlagen“ auch (wie schon erwähnt) die Formulierung „an den Rollstuhl gefesselt“. Ausgangspunkt seiner Kritik bildet jedoch interessanterweise ein formal-stilistischer Hinweis auf die seiner Einschätzung nach schlechte Lesbarkeit der roten Schrift.

F IKTIVE F ALLBEISPIELE



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Experte_17 ergänzt seine Einschätzung „macht Angst. Wahrscheinlich zu aggressiv“ um die Vermutung: „Nur für besondere Werbekunden [...], die gerne schockieren.“

Die Kategorie „Angst“ bzw. „Abschreckung“ bildet auch einen wesentlichen Ausgangspunkt der Einschätzung von Experte_11. E:

Verbindet private Unfallversicherung (?)107 mit „Das Elend der Behinderten“ und Klischees „an den Rollstuhl gefesselt“. Negativ-Werbung, die nicht nur unwirksam sein dürfte (wie Anti-Raucher-Werbung mit rauchendem Skelett) sondern auch behindertenfeindliche Bilder verstärkt, abschreckt. Noch dazu: Behinderte Personen sind von privaten Versicherern meist ausgeschlossen. Kein Gebrauchswert mit dieser Werbung verbunden.

Experte_11 verweist damit auf die häufig angeführte Erkenntnis, wonach starke Angstappelle in der Regel auf innere Abwehrreaktionen treffen und insofern häufig wirkungslos bleiben (vgl. u.a. Becker 1999: 29); zumindest, soweit es die im Sinne des Appells erwünschte Handlung betrifft, in diesem Falle also die Inanspruchnahme der Vorsorge. Dem gegenüber steht jedoch sehr wohl die – ebenfalls seitens des Experten thematisierte – Gefahr nicht intendierter und insbesondere kontraproduktiver Nebenwirkungen, die sich im vorliegenden Beispiel etwa in einer Verstärkung bereits bestehender Negativhaltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen niederschlagen könnten (vgl. hierzu auch Kapitel 4.3), zumal die mit solchen Angstappellen üblicherweise – und eben auch in diesem Fall – einhergehenden Negativbilder („Elend der Behinderten“/„An den Rollstuhl gefesselt“) bereits per se als stigmatisierend einzustufen sind. Es liegt nahe, dass aus Sicht von Menschen mit Behinderungen (und nicht zuletzt aus Sicht des hier zitierten Experten) diese letztgenannten Befürchtungen deutlich schwerer wiegen als die Frage nach der kommerziellen Wirksamkeit, während aus Sicht des Unternehmens mit entgegen gesetzten Prioritäten zu rechnen ist: Im Mittelpunkt steht der (kommerzielle) Erfolg der Kampagne. Die abschreckende bzw. kontrastierende Form der Darstellung von Behinderung lässt den Schluss zu, dass die damit verbundene Gefahr der Verstärkung behindertenfeindlicher Bilder offenbar nicht nur billigend in Kauf genommen wird, sondern als geeigneter Weg zur Erreichung dieser kommerziellen Zielsetzungen angese-

107 Das in Klammern gesetzte Fragezeichen entstammt dem Originalzitat.

180 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

hen wird. Experte_11 verdeutlicht durch seine Ausführungen jedoch, dass der aus beiden Perspektiven (Werbende vs. Menschen mit Behinderungen) abzuleitende Interessengegensatz seiner Einschätzung nach nur scheinbar existiert: Durch den Hinweis auf die zu vermutende (kommerzielle) Wirkungslosigkeit in Tateinheit mit unerwünschten Nebenwirkungen führt der Befragte die dahinter stehende Werbestrategie ad absurdum und gibt damit zu verstehen, dass aus seiner Sicht eine solche Kampagne eben nicht nur den Interessen behinderter Menschen, sondern zusätzlich auch den Intentionen des Werbetreibenden eher schadet als nutzt. Auch die Einschätzungen von Experte_5 und Experte_16 fügen sich in den durchweg kritischen Tenor ein: • •

Experte_5 meint: „Schlecht! Hier wird das Klischee verwendet, ein Leben im Rollstuhl sei [das] Ende. Die Anzeige strahlt Trostlosigkeit aus.“ Experte_16 äußert sich wie folgt: „Ich denke, dass diese Anzeige, trotz ihres Wahrheitsgehaltes zu drastisch ist. Werbung wird nicht so arbeiten. Daneben stellt sie das Leben von RollstuhlfahrerInnen ohne Zusatzversicherung unglücklich und extrem mühsam dar.“

Die abschließend zitierten Einschätzungen von Experte_8 und Experte_9 erfordern im Anschluss allerdings eine differenzierte Betrachtung: •



Experte_8 betont, sie würde die Anzeige zwar unter Umständen durchaus zum Anlass nehmen, über die Konsequenzen eines Unfalls nachdenken; jedoch ausschließlich unter der Voraussetzung, dass der Text sich beschränke auf die Aussage „Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war“ sowie den – hier leicht modifizierten – Slogan: „Die [...]-Vorsorge: damit ihr Leben finanziell abgesichert weiter geht.“ Durch eine solche Komprimierung der Botschaft sei zudem die Verbindung zu einer Versicherung gewährleistet. Der alternative Formulierungsvorschlag von Experte_9 lautet: „Auf einmal ist alles anders – wir lassen Sie nicht allein.“ Denn die auf dem Stimulus sichtbare Botschaft sei als Missbrauch von Menschen mit Behinderung zu kommerziellen Zwecken zu werten und außerdem „abgeschmackt“. Darüber hinaus sei die Anzeige zu textlastig.

Zunächst bleibt festzuhalten: Auch diese beiden Experten äußern sich recht kritisch und dies offenbar aus den bereits hinreichend bekannten Gründen. Im Gegensatz zu den zuvor zitierten Bewertungen wird die Kritik in diesen beiden Einschätzungen mit konkreten Verbesserungsvorschlägen verknüpft. Daraus

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lässt sich ableiten, dass die beiden Expertinnen das Hauptproblem in der konkret vorliegenden Tonalität dieser Anzeige, jedoch nicht notwendigerweise in den dahinter stehenden Grundgedanken sehen. Lässt man das Stigmatisierungspotenzial der in diesem Stimulus aufgeführten Formulierungen einmal außer Acht, sind im Zusammenhang mit der Werbebotschaft eben auch die folgenden (hier möglichst neutral formulierten) Überlegungen anzuführen: • •

Das Eintreten einer Behinderung stellt zunächst einmal einen wesentlichen Einschnitt im Leben eines Menschen dar. Jeder Angehörige der (noch?) nicht behinderten Bevölkerung kann diesen Einschnitt jederzeit am eigenen Leib erfahren. Im Zusammenhang mit dieser Erkenntnis wird regelmäßig eine Aussage des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zitiert: „Nicht behindert zu sein, ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, dass jedem jederzeit genommen werden kann.“ (von Weizsäcker 1987; Abfrage: 11.09.2012)

Auf dieser zweiten Argumentationslinie basierte u.a. eine vom Club Aktiv e.V. Trier im Hinblick auf den am 05.05.2008 terminierten Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen entwickelte Aufklärungsund Fundraising-Kampagne. Der Leitgedanke „Es kann jeden treffen“ wurde visualisiert durch Guildo Horn, der auf den Plakaten mal als Rollstuhlfahrer und in einer anderen Variante wiederum samt Langstock und Blindenhund abgebildet wurde. Der dazu gehörigen Pressemitteilung ist u.a. zu entnehmen: „Mit 8,6 Millionen behinderten Menschen in Deutschland sei Behinderung kein Randthema mehr, sondern ein Problem, das alle angehe. Diese Tatsache wolle der Club Aktiv in die Öffentlichkeit bringen und Wege aufzeigen, wie ein gleichberechtigtes Miteinander funktionieren könne [...].“ (Club Aktiv Trier - Selbsthilfe Behinderter und Nichtbehinderter 2008, Stand: 17.04.2008; Abfrage: 13.12.2011)

Gerade diese Ausführungen zeigen, dass eine auf der zweiten Argumentationslinie basierende Kommunikationsstrategie mit einem grundlegenden Dilemma verbunden ist: Einerseits konfrontiert jegliche Aussage mit der Quintessenz „Es kann jeden treffen“ einen Rezipienten nun einmal unausweichlich mit der Angst, selbst einmal von einer Behinderung betroffen zu sein. Andererseits scheint es gerade auch angesichts der weit verbreiteten Negativbilder von Behinderung durchaus legitim, die Angehörigen der so genannten Normalbevölkerung daran zu erinnern, dass auch sie von einer Sekunde auf die andere selbst zu einem Trä-

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ger solch stigmatisierender Stereotype werden können und es nicht zuletzt vor diesem Hintergrund durchaus sinnvoll sei, die eigene Werthaltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen zu überdenken. Unter Mitberücksichtigung dieser Ausführungen lässt sich aus den Einschätzungen von Experte_8 und Experte_9 zum Stimulus Ausgeträumt also ableiten, dass beide einer Kommunikationsstrategie, die diesen soeben skizzierten Denkprozess in Gang setzt, wohl prinzipiell offen gegenüber stünden. Die alternativen Formulierungsvorschläge der Befragten beruhen demnach offensichtlich auf dem Bestreben, eine für diese Lesart geeignete Formulierung zu finden bzw. – wie man angesichts der durchweg kritischen Rezeption dieser Anzeige überspitzt formulieren mag – zu retten, was zu retten ist. Zusammenfassend deutet die Gegenprüfung der Vorüberlegungen anhand der Experteneinschätzungen darauf hin, dass Ausgeträumt offenbar primär jene Negativreaktionen berücksichtigt, die im Vorfeld auch zu erwarten waren. Somit eignet sich der Stimulus, wie geplant, wohl in der Tat als Paradebeispiel dafür, wie die Einbindung von Menschen mit Behinderungen als Werbeträger gerade nicht erfolgen sollte.

6.2.2 Auto Der Blick dieser nahezu ausschließlich in Schwarzweiß gehaltenen Anzeige zielt auf ein etwa halb geöffnetes Autofenster und zeigt einen hinter dem Steuer sitzenden, gleichermaßen entspannt wie konzentriert wirkenden und durchaus seriös gekleideten Mann, in etwa mittleren Alters. Wie mittels einer Armbinde symbolisiert und durch eine dunkle Brille als ergänzendes Indiz untermauert wird, handelt es sich hierbei um einen blinden Autofahrer. Der Slogan verspricht: „Diesem Auto können Sie blind vertrauen!“ und kennzeichnet das beworbene Produkt als „in jeder Hinsicht perfekt“. Da der Fahrer – aus einer seitlich schrägen Perspektive – in Nahaufnahme gezeigt wird, ist vom Fahrzeug selbst lediglich die Silhouette partiell ersichtlich. Wie bereits im eingangs thematisierten Renault-Werbespot beruht auch diese Anzeige auf dem Zusammenspiel der offenbar widersprüchlichen Aspekte „Blindheit“ und „Autofahren“; eine Konstellation, die allenfalls in speziellen Ausnahmesituationen108 denkbar ist.

108 Der Vollständigkeit halber sollte allerdings erwähnt werden, dass auch im realen Straßenverkehr bereits entsprechende Einzelfälle aufgetreten sind: So wurde im Jah-

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Hierzu zählen etwa bewusst initiierte Aktionstage, an denen blinde bzw. sehbehinderte Menschen auf abgesperrtem Gelände und unter Aufsicht von Fahrlehrern selbst einmal die Möglichkeit erhalten, ins Steuer zu greifen. Ein solches Autofahren für Blinde und Sehbehinderte wird auf Initiative des ABSV (Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin) und in Kooperation u.a. mit den Fahrlehrerverbänden von Berlin und Brandenburg seit 1993 in einem ZweiJahres-Turnus angeboten und trifft offenbar auch auf breite Resonanz: 2007 waren z.B. über 400 Teilnehmer gemeldet (vgl. hierzu stellvertretend Schmahl 2009, Stand: 04.02.2009; Abfrage: 15.11.2011)109. Ein vor einigen Jahren in den USA ausgerufener Wettbewerb – die so genannte Blind Driver Challenge110 – verfolgte sogar eine Vision, die über den engen Fokus solcher Aktionstage hinausgeht: Konkret ging es bei diesem Wettbewerb um die Entwicklung einer technischen Vorrichtung, mit deren Hilfe die jeweils relevanten Informationen einer Fahrtstrecke ohne Zeitverzug so umgewandelt werden können, dass auch blinden Menschen eine selbständige und sichere Führung eines Kraftfahrzeuges ermöglicht wird111. Ein vorläufiges Endresultat dieser Challenge wurde Anfang

re 2006 in Großbritannien ein blinder Autofahrer in Begleitung eines Beifahrers von der Polizei gestoppt und zu einer Freiheitsstrafe von 12 Wochen verurteilt. Neben „gefährlichen Fahrens“ wurden ihm „Fahren ohne MOT (Anm.: Ministry of Transport), ohne Führerschein und ohne Versicherungsnachweis“ zur Last gelegt. Interessanterweise implizierte das Urteil nach Medienberichten ferner ein Fahrverbot für drei Jahre sowie die Aufforderung, sich einer erweiterten Fahrprüfung zu unterziehen für den Fall, dass er irgendwann den Erwerb eines Führerscheins plane (siehe hierzu:

http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/england/west_midlands/5335802.stm

[Stand: 11.09.2006; Abfrage: 12.08.2011]). 109 Ein weiterer Zusatznutzen für alle Beteiligten wird zudem darin gesehen, dass Fahrlehrer im Rahmen solcher Veranstaltungen die Möglichkeit erhalten, sich aus erster Hand über die spezifischen Probleme blinder Menschen im Straßenverkehr (hier selbstverständlich als Fußgänger!) zu informieren und diese Erkenntnisse dann an die Fahrschüler weiterzutragen. 110 http://www.blinddriverchallenge.org (Stand & Abfrage: 15.11.2011). Anm.: Die nachfolgenden Erläuterungen im Fließtext werden auf Basis der Informationen aus der FAQ-Sektion dieses Internetangebotes wiedergegeben. 111 Aus vergleichbaren Gründen erlangte vor einigen Jahren der an einem Tumor erblindete Dan Kish Bekanntheit: Konkret gelingt es ihm, durch Zungenschnalzen potenzielle Hindernisse zu orten und aus der Art des Echos Informationen über Be-

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2011 auf der Rennstrecke von Daytona Beach (im Rahmenprogramm des dortigen 24-Stunden-Rennens) präsentiert: Der blinde Mark Anthony Riccobono meisterte mit Hilfe der Technik nicht nur den Kurvenverlauf eines Teils der Strecke, sondern schaffte es darüber hinaus, auch zusätzlichen (z.T. aus einem vorausfahrenden Auto geworfenen) Hindernissen auszuweichen. Eine der eher seltenen deutschsprachigen Meldungen gelangt zu dem Fazit: „Wann allerdings der erste Blinde am öffentlichen Straßenbetrieb teilnehmen wird, ist unklar. Zu sehr steckt die Technik noch in den Kinderschuhen. Die Technik allerdings zeigt schon jetzt, dass Krankheiten nicht gleich Stillstand bedeuten. Grund genug, die Forschung an solchen Technologien zu fördern.“ (Henkel o. Jahr; Abfrage: 16.11.2011)

Trotz des soeben skizzierten technischen Fortschritts bestehen wohl keine Zweifel daran, dass blinde Menschen – auf Grund der vorliegenden Behinderung – als potenzielle Zielgruppe des hier werbenden Autoherstellers ausgeschlossen werden können, der hier geschilderte Stimulus demzufolge der Kategorie behinderungsdissonanter Werbung zuzuordnen ist. Das Ziel der Darstellung besteht demnach offenbar darin, durch eine Kombination zweier eigentlich nicht zusammenpassender Elemente Aufmerksamkeit zu erzielen. Sowohl Experte_5 als auch Experte_16 verweisen auf diesen Aspekt, gelangen allerdings zu gegenläufigen Bewertungen. Durchweg positiv äußert sich Experte_16: „Eine spannende Idee, die durch ihre Absurdität Aufmerksamkeit erregt und Blindheit einsetzt, um das absolute Vertrauen ins Auto zu zeigen. Macht Spaß und ist positiv.“ Experte_5 moniert neben dem Foto selbst („nicht ansprechend“) das Unrealistische der dargestellten Situation. Sein Fazit: „Ich vertraue weder der Anzeige noch dem Auto.“ Dass anscheinend, wie auch im Vorfeld zu vermuten war, die Meinungen zu speziell dieser Anzeige besonders weit auseinander gehen, untermauert zudem

schaffenheit und Entfernung dieser Gegenstände abzuleiten. Auf diese Weise gelingt es dem häufig als „Fledermausmann“ titulierten Kish u.a., sich sicher auf einem Fahrrad fortzubewegen. Die Reichweite dieser von ihm selbst weiterentwickelten Ortungstechnik ist der eines Blindenstocks weit überlegen: So schafft Kish es z.B., Autos aus einer Entfernung von fünf, größere Gebäude bereits aus hundert Metern Entfernung zu orten. Der nächste logische Schritt bestand bzw. besteht in der Zielsetzung, dieses Echo mit Hilfe von Computertechnik weiter zu verfeinern (vgl. ausführlich Dworschak 2004).

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eine Gegenüberstellung der jeweils sehr knappen Kommentare von Experte_8 („Die Anzeige ist einfach nur klasse“), Experte_9 („[...] zu abgedroschen und langweilig“) sowie Experte_14 („Geschmacklos“). Speziell dieser letzte Kommentar schlägt die Brücke zu einem zweiten relevanten Aspekt, der eine vertiefende Betrachtung erfordert: Die in dieser Anzeige thematisierte Dissonanz war im Laufe der Zeit immer wieder einmal Gegenstand humoristisch konnotierter Darstellungsformen. So verweist Röhrich im Rahmen seiner Ausführungen zur Gebrestenkomik auf das in angloamerikanischen Witzen häufig wiederkehrende Motiv des blinden Autofahrers, der fortwährend in Unfälle verwickelt ist (vgl. Röhrich 1977: 175). Das Wesen der Gebrestenkomik an sich erläutert Röhrich wie folgt: „Die komischen Auseinandersetzungen mit menschlichen Schwächen bieten für den Witz ein weites Feld. Auch hier wird das Normalabweichende belacht. Schon Aristoteles war der Ansicht, das Wesen des Komischen bestünde in einem Defekt. Gedacht wird dabei zunächst an körperliche Defekte, wie sie in der Komödie aller Zeiten und im Schwank vorkommen. Man lacht über den Zwerg, über den Hinkenden, den Buckligen, den Stotterer, den Betrunkenen, den Dicken, den Dünnen, den Eunuchen, den Altersschwachen, über das häßliche Weib oder über eine abnorme Nase. [...] Jeder einzelne Fall von Krankheit, Leiden oder Entstellung ist beklagenswert, tragisch für den Leidenden, über den gelacht wird; und wir werden uns zu fragen haben, warum Spott und Schadenfreude überwiegen können in Fällen, in denen Mitleid112 und stillschweigende tätige Hilfe viel angebrachter wären, weil einem das Lachen sonst im Halse stecken bleiben könnte.“ (Röhrich 1977: 174)

Es handelt sich also um eine Form der Komik, die Sigmund Freud in seinen weithin bekannten Ausführungen zum „Witz und seine Beziehung zum Unterbewussten“ als feindseligen Witz – „der zur Aggression, Satire, Abwehr dient“ (Freud 1975: 78) – charakterisiert hat, in der einschlägigen Literatur ist in diesem Kontext häufig von der Ventilfunktion des Witzes die Rede:

112 Dass auch ständige Mitleidsbekundungen aus Sicht so genannter Betroffener wohl kaum als wünschenswerte Alltagserfahrungen einzustufen sind, ist aus früheren Kapiteln dieser Arbeit mittlerweile bekannt und soll daher an dieser Stelle vernachlässigt werden.

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„Witze haben Ventilfunktionen, die dafür sorgen, daß Aggressionen lediglich verbal bleiben. Gerade weil sie Spannungen konkretisieren, tragen sie auch zur Entspannung von gesellschaftlichen Verhältnissen bei: Lachen befreit.“ (Röhrich 1977: 21f.)

Feindselige Witze beruhen auf der Strategie, sozial unerwünschte (und z.T. auch unbewusste) Haltungen in eine seitens der Gesellschaft dann doch akzeptierte Ausdrucksform – eben die des Witzes – zu kleiden. Die hier diskutierten Überlegungen überträgt Cloerkes wie folgt auf die Behinderungsthematik: „[Somit] dient der Witz einerseits als Abwehrmechanismus gegenüber dem Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch das physisch Andersartige, andererseits kanalisiert er gegen den Behinderten gerichtete offene Aggressionen in sozial akzeptabler Weise. So gesehen ist er also durchaus funktional als gesellschaftlich toleriertes Ventil für unerwünschte Bestrebungen. Am Stigmatisierungseffekt für die Betroffenen ändert sich dadurch allerdings wenig. Wenn das Leid des einen zum Lustgewinn des anderen herhalten muß, dann ist dies mit Sicherheit eine besonders erniedrigende Erfahrung. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Witze außerordentlich aufschlußreich sein können, was die Einstellung einer Gesellschaft zu ihren Behinderten betrifft.“ (Cloerkes 1979: 448)

Vor diesem Hintergrund scheinen kritische Lesarten des Auto-Stimulus – nicht zuletzt unter Mitberücksichtigung der dort verwendeten Wortspiele („Diesem Auto können Sie blind vertrauen“/„In jeder Hinsicht perfekt“) – keineswegs unwahrscheinlich. Insbesondere Experte_11 knüpft in seiner Einschätzung (übrigens unter direkter Berufung auf Freud) auf die soeben skizzierten Überlegungen an. E:

Hat die Struktur von Behindertenwitzen, Ventilfunktion des Witzes (‚befreiendes‘ Lachen über Blindheit), repräsentiert u.a. Rollendistanz. Der Witz dominiert, das Produkt ist nachgereiht und wird in seiner Qualität durch den Witz weder beworben noch abgewertet. Die Marke kann evtl. Aufmerksamkeit gewinnen, das ist aber nicht sicher. Keine Information über den Gebrauchswert des Produktes. Instrumentalisiert behinderte Menschen, es ist nicht sicher, welche Bilder behinderter Menschen verstärkt werden.

Nach Einschätzung von Experte_13 hält der Stimulus Auto einem direkten Vergleich mit der im nachfolgenden Kapitel diskutierten Blind Date-Anzeige nur bedingt stand: Das Konzept sei zwar beide Male das gleiche, jedoch im Falle der Auto-Kampagne „etwas zu plakativ. Hat einfach nicht denselben Effekt.“ Exper-

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te_7 bewertet die Anzeige zwar durchweg positiv („hat Pep [...]. Ich finde sie gut“), vermutet jedoch auch: „Die Zeit dürfte aber noch nicht reif dafür sein.“ Auf einen weiteren interessanten Aspekt – die prinzipiell nicht auszuschließende Gefahr einer bewusst missverständlichen (und insofern zynischen) Lesart der Anzeige – verweist Experte_17: „Extrem provokativ, aber originell. Der Autohersteller könnte wörtlich genommen werden und dann sind Probleme mit der Produkthaftung zu erwarten.“ In den hier zitierten Experteneinschätzungen haben sich offenbar insbesondere zwei Aspekte als mal explizit, mal eher implizit relevante Argumentationsgrundlagen für die Bewertung der Anzeige herauskristallisiert, nämlich zum einen der Gegensatz zwischen der Behinderung des Werbeträgers und dem Produkt (de facto also die Einordnung als behinderungsdissonante Werbung), zum anderen die damit verbundenen Wortspiele. Angesichts der in allen Fällen vorgegebenen Rahmung „Produktwerbung“ darf zudem mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorausgesetzt werden, dass der Slogan selbstverständlich auf das beworbene Fahrzeug bezogen wird. Bezieht man jedoch stattdessen das Wortspiel „in jeder Hinsicht perfekt“ auf den Werbeträger, könnte die Botschaft in einem übertragenen Sinne z.B. lauten: Menschen sind grundsätzlich perfekt, so wie sie sind, und eine Behinderung ist kein Anlass, dies in Frage zu stellen. Folgt man dieser Überlegung, ist es letztlich nur ein kleiner Schritt zu dem – insbesondere im Zuge der Bioethik-Debatte – vorgetragenen „Plädoyer gegen die Perfektion“ (Sandel 2008). Die hier aufgeführten Experteneinschätzungen lassen jedoch vermuten, dass dieser im Rahmen der Vorüberlegungen zu diesem Stimulus durchaus relevante Gedankengang – zumindest, soweit es ungestützte Reaktionen betrifft – als Lesart wohl nicht gerade auf der Hand liegt.

6.2.3 Blind Date Das Schwarzweiß-Bildmotiv der Anzeige zeigt ein männliches und ein weibliches Beinpaar sowie zwei Langstöcke, die sich auf einem Kopfsteinpflaster aufeinander zu tasten. Die Frau erscheint in einem offenbar bewusst femininen Kleidungsstil, wie sich aus dem beinfreien Kleid und den Stöckelschuhen ableiten lässt. Die Hosenbeine und das Schuhwerk des Mannes wirken auf angemessene Weise locker. Oberhalb des Motivs lockt die Anzeige mit der in weißer Schrift auf rotem Hintergrund gebannten Aufforderung: „Suchen Sie nicht länger nach Ihrem Schatz. FINDEN Sie ihn einfach.“ Das Motiv selbst wird ergänzt um die jeweils in weißer Schrift auf dunklem Hintergrund gehaltenen Hinweise

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„Blind-Date...“ (links oben) sowie „...auch für schwierige Fälle“ (rechts unten). Beworben wird eine „seriöse Partnerbörse“. Zunächst ist festzuhalten, dass die Kombination von „Blind Date“ mit der Behinderung „Blindheit“ keineswegs als völlig neue Idee einzustufen ist, sondern ganz im Gegenteil bereits eine ganze Reihe vergleichbarer Beispiele bekannt sind. Zu nennen ist hier z.B. ein Cartoon aus der Reihe Nicht Lustig von Joscha Sauer: Das Motiv zeigt drei Maulwürfe in einem Restaurant. Zwei davon, die zudem mit einer deutlich sichtbaren Armbinde ausgestattet sind, haben sich offensichtlich zu einem Blind Date verabredet. Der Versuch einer akkustischen Verständigung scheitert allerdings, da die beiden an verschiedenen Tischen Platz genommen haben. Der dritte Maulwurf – der Kellner – beabsichtigt offenbar, die leeren Gläser der beiden Gäste aufzufüllen; der Wein fließt allerdings – an einem wiederum völlig anderen Tisch – auf die Tischdecke.113 Auch Phil Hubbe – ein selbst von Multipler Sklerose betroffener Karikaturist, der insbesondere mit seinen Cartoons zum Thema Behinderung einen speziell in Kreisen behinderter Menschen durchaus hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat – verarbeitete das „Blind Date“-Wortspiel bereits: Gezeigt wurden in diesem Falle zwei (durch Armbinden als blind symbolisierte) Personen, die sich offenbar ursprünglich in die Arme laufen wollten, de facto jedoch soeben aneinander vorbeigelaufen waren.114 Die während ihres Studiums erblindete Sozialpädagogin Jennifer Sonntag befasst sich in einem 2008 erschienen Werk auf über 400 Seiten mit zahlreichen Fragen, Missverständnissen, Vorurteilen und sonstigen Quellen potenzieller Verunsicherungen, mit denen sich blinde Menschen (insbesondere auch in Interaktionssituationen mit Sehenden) im Alltag immer wieder konfrontiert sehen. Der Titel dieses bisweilen auch in einem durchaus selbstironischen Tonfall geschriebenen Buches lautet: „Verführung zu einem Blind Date“ (Sonntag 2008). Eine nähere Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Stimulus erfordert zunächst einige ergänzende Anmerkungen zum Zusammenspiel von Behinderung und Humor: Die eher negativ konnotierte Schwerpunktsetzung der Ausführungen zu diesem Thema im vorangegangenen Kapitel sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Humor im Behinderungskontext nicht notwendigerweise als sozial akzeptierte Tarnung einer ablehnenden Haltung, sondern prinzipiell auch als Zeichen einer Normalisierung des Umgangs mit behinderten Menschen aufgefasst werden kann. Grundsätzlich, so formuliert es die Sprachwissenschaftlerin

113 http://nichtlustig.de/toondb/021023.html (Abfrage: 26.10.2011). 114 Bildquelle: http://www.hubbe-cartoons.de/cartoons02.html (Abfrage: 26.10.2011).

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und Humorforscherin Helga Kotthoff in einem Interview, „leistet Humor beides, Inklusion – Exklusion“ (Bussenius 2007a: 13). Sie betont jedoch zugleich, dass der Grat zwischen integrativen und desintegrativen Formen des Humors sehr schmal sei. Damit spielt sie implizit auf jene Grenze an, die im alltäglichen Sprachgebrauch als mitunter nur schwer zu fassender Unterschied zwischen „Lachen mit“ und „Lachen über“ bekannt ist. Von diesem Standpunkt aus gilt für das Zusammenspiel von Behinderung und Humor also zunächst einmal jene triviale Erkenntnis, die sich prinzipiell auch für jedes andere Anwendungsgebiet von Humor festhalten lässt: Wie eine humoristische Botschaft bei einem Empfänger ankommt, hängt davon ab, welcher Kommunikator diese Botschaft zu welchem Zeitpunkt unter welchen Begleitumständen in welcher Art verbreitet bzw. wie der Rezipient die durch diese (und sicherlich auch weitere) Faktoren zustande gekommene Gesamtsituation bewertet (vgl. hierzu auch die abschließende Einschätzung von Kotthoff in: ebd.: 13 und die Ausführungen von Sonntag 2008: 71ff.). Im Kontext von Behindertenwitzen besteht ein entscheidender Unterschied z.B. darin, ob eine solche Bemerkung aus dem Munde eines Außenstehenden oder einer selbst von dieser Behinderung betroffenen Person stammt. Die bereits erwähnte Jennifer Sonntag umschreibt dies wie folgt: „Jeder, der einen Scherz über sich selbst macht, kann eigenständig bestimmen, wie ‚dumm‘ und damit eigentlich wie überlegen er sich darstellen möchte. Das ist der Unterschied zwischen selbstbestimmten und fremdbestimmten Späßen. Es tut auch weniger weh, sich selbst zu dissen, als wenn es jemand anderes tut.“ (Sonntag 2008: 83)

Insofern sei es problematisch, wenn diese Form der bisweilen auch in Galgenhumor ausartenden Selbstironie von Außenstehenden missverstanden würde als Pauschaleinladung, jegliche Witze über Menschen mit Behinderungen als unbedenklich einzustufen. Das Schlagwort „selbstbestimmter Humor“ führt zu dem vor einigen Jahren auf dem Spartensender Comedy Central ausgestrahlten Sendeformat Para Comedy, in dem Menschen mit Behinderungen nach dem Prinzip der versteckten Kamera nichtbehinderte Passanten hinters Licht führen. Als Beispiel zu nennen wäre eine Szene, in der ein Blinder in Begleitung seines Führhundes einen (sehenden) Passanten bittet, dem Blindenhund den Weg zu einem Kaufhaus zu beschreiben (vgl. hierzu weiterführend Bussenius 2007b). Es liegt nahe, dass ein solches Konzept durchaus dazu beitragen kann, mit unerwünschten Negativstereotypen (vgl. Kapitel 4.4) zu brechen. So wird etwa das Bild des armen, bedauernswerten und hilflosen Menschen mit Behinderung gleich in

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zweierlei Weise relativiert: Zum einen treten die an einem solchen Format beteiligten Menschen mit Behinderungen gerade nicht als Ziel von Spott (also in der Opferrolle), sondern als souverän agierende Subjekte (also in der Täterrolle) in Erscheinung. Zum anderen bildet der Umstand, dass Menschen mit Behinderungen humoristisches Potenzial überhaupt erst zugestanden wird, einen Gegenpol zu der aus dem genannten Negativstereotyp abzuleitenden – und wohl auch heutzutage noch nicht völlig überwundenen (vgl. zu dieser Einschätzung Gottwald 2010: 245) – Gleichsetzung von Behinderung mit Leiden. Ebenso liegt es angesichts der bisherigen Ausführungen jedoch auf der Hand, dass die in einem solchen Sendeformat visualisierten Interaktionssituationen nicht nur Negativstereotype abbauen, sondern zugleich neue Missverständnisse schaffen können. So bewertet etwa Jennifer Sonntag die oben erwähnte Beispielszene als „bedenklich, denn hier wurde Hilfsbereitschaft bestraft, in dem [sic!] man sich über die Unwissenheit der Sehenden lustig machte. Natürlich kann ein Hund keine Skizzen erkennen, Fahrpläne interpretieren oder Erklärungsversuche nachvollziehen. Seit Jahren versuche ich in meinen Veranstaltungen diesen Irrglauben auszuräumen, aber anstatt aufzuklären, sorgen solche Sendungen für noch mehr Irritationen und machen es dem wahren115 Blinden noch schwerer, ernst genommen zu werden.“ (Sonntag 2008: 89)

Auch abgesehen davon, ob die erste Befürchtung – dass nämlich die Absurdität einer solchen Bitte nicht notwendigerweise von jedem erkannt wird – ihre Berechtigung hat: Die grundsätzliche Sorge, dass der aus einer solchen Szene gewonnene Eindruck sich nicht unbedingt förderlich auf die zukünftige Hilfsbereitschaft so genannter Nicht-Behinderter in vergleichbaren realen Interaktionssituationen auswirkt, ist zumindest nicht von der Hand zu weisen. Selbst eine weitere Vertiefung der hier allenfalls einführend thematisierten Diskussion wird voraussichtlich primär zur Bestätigung der folgenden Daumenregeln führen: Die Erkenntnis, dass Humor grundsätzlich positive wie negative Reaktionen hervorrufen kann, gilt, wie bereits erwähnt, im Behinderungskontext ebenso wie in allen anderen Anwendungsgebieten. Dem gegenüber steht aller-

115 Jennifer Sonntag geht in ihren Schilderungen aus von einem Sehenden, der sich als Blinder verkleidet hat. Dennoch ist zu vermuten, dass ihre Einschätzung zu dieser Szene auch unabhängig von der Frage nach der Authentizität des Akteurs Bestand hätte bzw. dass die Formulierung „wahr“ auch ohne Weiteres durch „tatsächlich hilfsbedürftig“ ersetzt werden könnte.

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dings die Erfahrung, dass (idealtypisch formuliert) mit dem Grad der mit einem gegebenen Anwendungsgebiet verbundenen moralischen Ladung sowie der Widersprüchlichkeit der Normen auch die Zahl der Fettnäpfchen steigt – und dass insofern das Zusammenspiel von Humor und solchen Bereichen (wie Behinderung) mit einem besonders hohen Maß an Verunsicherung einhergeht, zumal der prinzipielle Einwand, dass das humoristische Aufgreifen der Behinderungsthematik nicht notwendigerweise auf Ablehnung treffen muss, per se zunächst einmal als relativ vage einzustufen ist. Es überrascht daher wenig, wenn der bereits erwähnte Karikaturist Phil Hubbe im Rahmen von Ausstellungen seiner Werke immer wieder die Erfahrung macht, dass nicht behinderte Besucher sich häufig erst dann trauen, zu lachen, „wenn anwesende Behinderte lachen oder dazu auffordern“ (zit. nach Gottwald 2010: 247). Die Diskussion um Behinderung und Humor ist für das hier diskutierte Zusammenspiel von Behinderung und Wirtschaftswerbung alleine schon deshalb relevant, da Humor – trotz durchaus ambivalenter Einschätzungen zur Werbewirksamkeit – aus der kommerziellen Kommunikation wohl kaum mehr wegzudenken ist (vgl. Willems 2003, weiterführend Erbeldinger/Kochhan 1998 und kritisch: Felser 2001: 317f.). Die entscheidende Frage lautet im Falle der vorliegenden Thematik also, ob und unter welchen Bedingungen Humor als Aktivierungstechnik eine entscheidende Brücke hin zu einer Normalisierung im Sinne des Katalysator-Argumentes bauen oder nicht vielmehr zu einer Steigerung des bereits per se durch die Kombination von Behinderung und Werbung gegebenen Provokationspotenzials beitragen könnte. Die Formulierung „auch für schwierige Fälle“ findet in der Forschung und nicht zuletzt in Erfahrungsberichten von Betroffenen ihre Entsprechung in der immer wieder aufgeführten Einschätzung, wonach eine Behinderung gerade für Nicht-Behinderte bei der Partnerwahl häufig eine Art Ausschlusskriterium darstelle und Menschen mit Behinderungen im Extremfall bisweilen sogar jegliches Sexualleben abgesprochen werde. Auch Einschätzungen aus jüngerer Vergangenheit deuten darauf hin, dass sich die sowohl in den Bereichen Sexualität als auch Behinderung erkennbaren Enttabuisierungstendenzen bisher allenfalls bedingt auf die Kombination beider Aspekte erstrecken: „Der nackte Körper ist schon lange kein Tabu mehr, auch Homosexualität nicht, Behinderung nicht, Sexualität nicht. Wenn da das Wörtchen »und« nicht wäre. Denn wenn es um das Thema »Sexualität und Behinderung« geht, stoßen wir immer noch auf viele innere wie äußere Schranken.“ (Vom Hofe 2001: 71)

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Das nachfolgende Zitat stammt zwar bereits aus dem Jahre 1977. Es spricht jedoch Einiges dafür, der dahinter stehenden Aussage auch heute noch eine gewisse Gültigkeit zu unterstellen: „Die Umwelt tut wenig, um das Bild vom Behinderten als ‚zweite Wahl‘ zu entkräften. Ihre oft negative Einstellung kann nicht ohne Rückwirkung auf den Behinderten und seinen eventuellen Partner bleiben, weil Behinderte durch eine unverhüllte Ablehnung systematisch abgewertet werden und selber Minderwertigkeitskomplexe erhalten. Wenn dem Behinderten von der Öffentlichkeit stets soziales Ansehen versagt wird, ist auch jeder mögliche Ehepartner vom Ansehensverlust bedroht.“ (Saal 1977)

Eine Zusammenführung dieser Überlegungen führt letztlich zu dem Schluss, dass die aus dem Stimulus Blind Date ableitbare Pauschalkategorisierung von Menschen mit Behinderungen als „schwierige Fälle“ zumindest als ambivalent zu bewerten ist: So bedarf es wohl kaum einer Erläuterung, dass eine solche Formulierung als äußerst stigmatisierend und im Sinne der Typologie relevanter Werbeformen als behinderungskontrastierendes Element empfunden werden kann. Eine idealtypisch kritische Lesart des Blind Date-Stimulus könnte darüber hinaus anspielen auf den Umstand, dass – in Anlehnung an die im vorangegangenen Kapitel diskutierte Ventilfunktion des Witzes – eine auf diesem Wortspiel basierende Darstellung bereits per se als subtile Form der Abwertung von blinden Menschen interpretiert werden könne und dass der Zusatz „auch für schwierige Fälle“ den dadurch ohnehin schon bestehenden Eindruck einer behinderungskontrastierenden Intention des Werbungstreibenden weiter untermauere. Als Beispiel für eine eindeutig kritische Lesart bietet sich etwa die Einschätzung von Experte_14 an: „Geschmacklos, insbesondere die vorurteilsvolle Einordnung als schwieriger Fall.“ Eine ausgehandelte Lesart könnte – in Anlehnung an die obigen Ausführungen zum Thema „Behinderung, Sexualität und Partnerwahl“ – z.B. darauf anspielen, dass die Einbindung von Menschen mit Behinderungen als Werbeträger für eine Partnerbörse zwar als Fortschritt gegenüber dem im Alltag offenbar immer noch weit verbreiteten Stereotyp „Menschen mit Behinderungen als asexuelle Wesen“ (vgl. Kapitel 4.4) zu bewerten sei, jedoch die auf diese Weise möglicherweise aufkeimenden Normalisierungstendenzen durch die stigmatisierende Kategorisierung als „schwierige Fälle“ sogleich wieder relativiert werden. Als Beispiel für eine solche Lesart lässt sich offenbar die Einschätzung von Experte_11 einordnen:

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E:

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Mischung aus exotischer und normalisierender Repräsentationsweise mit konservativem Flair – Gebrauchswert auf Subkultur bezogen, allgemein eher Distanz zu der angebotenen Dienstleistung erzeugend? Wer will schon ein „schwieriger Fall“ wie blinde Personen sein?

Eine idealtypisch wohlwollende Lesart könnte – wiederum gemäß der obigen Überlegungen zu „Behinderung und Partnerwahl“ – auf eine Verteidigung der umstrittenen Einordnung als schwieriger Fall hinauslaufen, also z.B. betonen, dass sich die Partnersuche für Menschen mit Behinderungen nun einmal auch nach aktuellen Erfahrungswerten tendenziell schwieriger gestalte als für Menschen ohne Behinderung. Der Zusatz „auch für schwierige Fälle“ könnte dann ausgelegt werden als Versuch, unangemessene Beschönigungen dieser Situation bzw. leere Versprechungen zu vermeiden, folglich also interpretiert werden als Bestreben, sich auf die besonderen Bedürfnisse von so definierten Menschen mit Behinderungen einzustellen. Zumindest bei den Experteneinschätzungen zu diesem Stimulus findet sich jedoch keine einzige Aussage, in der diese Überlegung aufgegriffen wird. Dennoch sind zwei Einschätzungen als uneingeschränkt wohlwollend zu charakterisieren. Experte_17 stuft die Anzeige ein als „sehr ansprechend mit einem intelligenten Wortspiel“, Experte_16 bewertet die Anzeige als „wirklich gelungen, da Bild und Slogan witzig sind und das Thema der Blindheit nutzen, um für ihr Angebot auf humorvolle und passende Weise zu werben.“ Vier weitere Experten verbinden eine prinzipiell wohlwollende Einschätzung mit gewissen Einschränkungen: •





Experte_5 etwa ergänzt seine positive Bewertung („Eine humorvolle Anzeige“) um den Einwand: „Dazu passt jedoch nicht der Satz ‚die seriöse Partnerbörse‘.“ Experte_9 beginnt zunächst mit kritischen Optimierungsvorschlägen, stuft jedoch zumindest die Grundidee als gut ein: „Ein etwas abgedroschener Slogan, der gar nicht nötig wäre. Ohne die Überschrift wäre die Anzeige viel spannender und genau das muss sie sein, damit der Betrachter den entscheidenden Moment lang hängen bleibt. Ansonsten eine gute Idee!“ Experte_13 gelangt – auch wenn man seiner Einschätzung nach das Wortspiel möglicherweise erst beim zweiten Hinsehen versteht – zu einem positiven Individualurteil („Finde ich echt witzig – tolle Ironie“), gibt jedoch zu bedenken, dass „die meisten wahrscheinlich irritiert wären und man hier wahrscheinlich Proteste erwarten kann.“

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Experte_8 betont zunächst: „Das Plakat an sich ist witzig gemacht“ und verweist danach auf einen Aspekt, der einer näheren Thematisierung bedarf: „Die Stöckelschuhe sind einfach albern, weil eine blinde Frau nie Stöckelschuhe tragen würde.“

Dieser zuletzt vorgetragene Einwand führt wiederum zu der wohlbekannten Problematik (vgl. u.a. Kapitel 4.4), dass die Realität des Alltages und die Realität der Werbung bisweilen – im wahrsten Sinne des Wortes – zwei Paar Schuhe darstellen: Der Umstand, dass im Alltag eine Begegnung mit einer blinden Frau in Stöckelschuhen wohl in der Tat als unwahrscheinlich eingestuft werden darf, schließt keineswegs aus, dass die Werbung im Falle einer blinden Protagonistin dennoch auf Stöckelschuhe zurückgreifen würde, etwa als ergänzendes Symbol für die feminine Ausstrahlung der Werbeträgerin. Hier ergeben sich also mindestens zwei idealtypische Lesarten: Die erste Lesart verweist – gemäß der oben zitierten Einschätzung – auf den fehlenden Realismusgehalt der Kombination „Blindheit“/„Stöckelschuhe“ und könnte dieses Zusammenspiel als Indiz für eine fehlende Auseinandersetzung mit der Lebensrealität Betroffener werten. Die zweite Lesart würde dagegen diese Form der Darstellung möglicherweise gerade als gutes Zeichen in Richtung Normalisierung anerkennen, die Stöckelschuhe also als Indiz dafür werten, dass in dieser Anzeige das Kriterium „Weiblichkeit“ (und eben nicht die Behinderung) im Vordergrund steht und der blinden Frau somit die gleiche „Werbenormalität“ zugestanden wird, die auch eine so genannte nicht behinderte Frau in Anspruch nehmen dürfte. Folgt man dieser Lesart, ließe sich diese eigentlich unrealistische Form der Visualisierung also einmal mehr auffassen als Plädoyer gegen das stigmatisierende Stereotyp des asexuellen bzw. geschlechtslosen Menschen mit Behinderung, insbesondere, wenn die Betrachtung um einige aus der Literatur bekannten Erkenntnisse zum Themenkomplex „Behinderung und Frausein“ ergänzt würde (vgl. hierzu die Ausführungen zum Stimulus Parfum, Kapitel 6.2.8) Auch Experte_7 verweist auf den fragwürdigen Realismusgehalt der Stöckelschuhe, sieht hierin jedoch keineswegs den entscheidenden Anlass für die insgesamt kritische Bewertung:116

116 Das Originalzitat schließt mit einem (hier nicht aufgeführten) Smiley. Dies deutet darauf hin, dass der Experte die Stöckelschuhe eben eher mit einem gewissen Lächeln anstatt einer explizit negativen Haltung zur Kenntnis genommen hat.

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E:

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[Diese Anzeige] ist nicht okay, da zwei Menschen mit Behinderung aufeinander zu gehen. Wenn ein Mensch ohne Behinderung beteiligt wäre, wäre die Anzeige okay. Randbemerkung: Ich möchte mal die sehbehinderte Frau sehen, die mit den Absätzen über Pflastersteine läuft.

Dies führt zu der bislang vernachlässigten Frage nach der typologischen Einordnung dieser Anzeige. Würde man sich beschränken auf das Bildmotiv sowie die beiden Aussagenteile „Blind Date“ und „die seriöse Partnerbörse“, ließe sich zunächst schlussfolgern, dass Menschen mit Behinderungen (wie jede andere Zielgruppe auch) willkommen sind und die Anzeige demzufolge als behinderungsinklusiv einzuordnen wäre. Die Plausibilität einer solchen Einstufung wird jedoch durch den hinreichend diskutierten Zusatz „auch für schwierige Fälle“ – selbst bei wohlwollender Auslegung dieser Formulierung – deutlich relativiert. Gegen die Einstufung als behinderungsinklusiv spricht außerdem der von Experte_7 thematisierte Umstand, dass beide auf dem Motiv abgebildeten Personen als behindert symbolisiert werden. Dies könnte gerade nicht behinderten Betrachtern suggerieren, dass es sich bei dem beworbenen Produkt um eine speziell auf die Bedürfnisse behinderter (oder auch speziell blinder) Menschen zugeschnittene Partnerbörse handelt. Diesen Eindruck dürfte die Formulierung „auch für schwierige Fälle“ im Zweifelsfall wohl eher (wenn auch nicht unbedingt auf wünschenswerte Weise) verstärken als widerlegen. Insofern ist der Stimulus Blind Date am ehesten als verhandelnde Werbung mit behinderungskontrastierender Tonalität einzuordnen. Sieht man von rein stilistischen Präferenzen potenzieller Rezipienten ab, liefert diese Anzeige zusammenfassend wohl vorrangig zwei Anlässe für ggf. weit auseinander gehende Meinungen potenzieller Rezipienten: Der eine bezieht sich auf den Zusatz „auch für schwierige Fälle“. Entscheidend scheint hierbei die Frage, inwieweit diese Formulierung eher als Indiz für eine bewusst behinderungskontrastierende Intention des Werbetreibenden interpretiert wird oder eher als – zumindest gut gemeinter, wenn auch nicht unbedingt gut gemachter – Versuch, die spezifischen Schwierigkeiten von Menschen mit Behinderungen bei der Partnersuche ohne falsche Beschönigungen als solche anzuerkennen. Der zweite (umfassendere) Anlass betrifft das verbale Leitmotiv der Anzeige bzw. das damit einhergehende Spannungsfeld „Behinderung und Humor“. An der Frage, ob das „Blind Date“-Wortspiel als eher originell oder eher geschmacklos einzustufen ist, scheiden sich wahrscheinlich die sprichwörtlichen Geister. Zu ergänzen ist allerdings ein letzter Gedanke: Angesichts der eingangs erwähnten Beispiele (Cartoons, Buchtitel) – und es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese

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Liste noch erweitern ließe – ist zu vermuten, dass ein nicht unerheblicher Teil der Befragten in der Vergangenheit bereits in vergleichbarer Form und möglicherweise sogar mehrfach mit dem „Blind Date“-Wortspiel konfrontiert worden ist. In Anlehnung an den mere-exposure-Effekt (vgl. zu Überblickszwecken Felser 2001: 212ff.) könnte sich alleine schon die mit einer grundlegenden Kenntnis dieser humoristischen Anspielung einhergehende Vertrautheit durchaus positiv auf die Bewertung des hier diskutierten Stimulus auswirken. Ebenso ist (in Anlehnung z.B. an Berlyne/Mauderli 1974, bes.: 38ff.) jedoch in Betracht zu ziehen, dass Überraschungs- und Neuartigkeitseffekte bei den betreffenden Befragten ggf. bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorweggenommen wurden. Dies könnte dazu führen, dass bei der Rezeption der Blind Date-Anzeige bereits erste Ansätze einer Gewöhnung bzw. Entemotionalisierung zu verzeichnen sind, dass also die bei früheren Konfrontationen mit anderen Umsetzungen dieses Wortspiels möglicherweise noch extrem negativen (oder auch extrem positiven) Reaktionen mittlerweile in moderatere Bahnen gelenkt wurden. Inwieweit diese Effekte bei den betreffenden Teilnehmern tatsächlich auftreten, kann (und soll) anhand der zu erhebenden Daten nicht beantwortet werden. Gleichwohl sind diese Überlegungen hochinteressant, wenn man bedenkt, dass bei sensiblen Themen wie Behinderung der Druck zu sozial erwünschtem Antwortverhalten als besonders stark einzustufen ist und das mit der Behinderungsthematik bereits per se verbundene Missverständnispotenzial durch die Miteinbeziehung einer humoristischen Komponente wohl eher noch intensiviert wird. Denn unter Mitberücksichtigung der soeben angeführten Effekte kann zumindest theoretisch darüber spekuliert werden, inwieweit sich die bei manchen Befragten ggf. vorhandene Vertrautheit mit dem Blind Date-Wortspiel möglicherweise moralisch entlastend auswirkt, ob also die bloße Kenntnis vergleichbarer Beispiele das mit dem Lachen über humoristische Anspielungen auf Behinderung verbundene schlechte Gewissen reduzieren und demzufolge die Bereitschaft, sich zu einer positiveren Bewertung dieser Anzeige auch zu bekennen, erhöhen könnte. Interessant wäre hier (rein theoretisch) insbesondere der direkte Vergleich mit dem Stimulus Auto (vgl. Kapitel 6.2.2), der sich zwar ebenfalls durch einen humoristischen Grundton, jedoch alleine schon angesichts der behinderungsdissonanten Ausrichtung wahrscheinlich auch durch eine weit geringere Vertrautheit charakterisieren lässt.

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6.2.4 Einrichtung Das Motiv dieser Anzeige zeigt einen Rollstuhlfahrer (Alter: ca. Mitte bis Ende 20) gemeinsam mit seiner Freundin in einer offenbar gemeinsam eingerichteten Wohnung. Die Aussage oberhalb des Bildmotivs – „Ich weiß am besten, was gut für mich ist!“ – wird ergänzt durch das unterhalb der visuellen Darstellung aufgeführte Versprechen: „Und deshalb richten wir Ihre Wohnung nach Ihren Wünschen ein!“ Die Formulierungen „ich“, „Ihre Wohnung“ sowie „Ihren Wünschen“ werden hierbei durch fett gedruckte Kapitälchen hervorgehoben. Formal handelt es sich bei diesem Stimulus um ein nahezu idealtypisches Beispiel für verhandelnde Werbung, da es in dieser Anzeige um die Anpassung einer allgemein relevanten Produktkategorie (Einrichtung) an die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit bestimmten Behinderungen – hier stellvertretend repräsentiert durch den Rollstuhlfahrer – geht: Die Frage nach der passenden Einrichtung stellt sich letztlich für jeden Menschen, der in eine neue Wohnung einzieht – unabhängig davon, ob diese Person eine Behinderung erfährt oder nicht. Allerdings bedarf es wohl keiner vertiefenden Erläuterung, dass ein nicht behinderter Aspirant hierbei andere Selektionskriterien zu Grunde legen kann als der hier dargestellte Rollstuhlfahrer, für den zunächst einmal die barrierefreie Gestaltung als Knock-Out-Kriterium einzustufen ist. Die Notwendigkeit einer solchen Fokussierung birgt jedoch die Gefahr, dass aus Sicht potenzieller Konsumenten mit Behinderungen die stilistisch-ästhetischen Aspekte solcher Produkte bisweilen zu kurz kommen. Genau hier setzt die Botschaft der Einrichtungs-Anzeige an. In einem weiter gefassten Sinne liefert die Kampagne auch Anknüpfungspunkte an Losungen wie „Daheim statt Heim“117 oder „Selbstbestimmt Leben“ (siehe u.a. Vieweg 2011; Miles-Paul 2006). Entsprechende Interessenvertretungen fordern – unter Berufung auf die UN-Behindertenrechtskonvention – u.a. eine Abkehr von der auch heutzutage noch nicht überwundenen Praxis, Menschen mit erhöhtem Pflegebedarf in Heimen unterzubringen. Das Ziel müsse darin bestehen, durch geeignete Maßnahmen wie z.B. den Ausbau ambulanter (anstelle stationärer) Pflegeleistungen und das Recht auf ein frei verfügbares Persönliches Budget (vgl. zu dieser Thematik u.a. Wacker et al. 2006; Rothenburg 2009; Westecker 1999) die freie Wählbarkeit des Wohnumfeldes für den einzel-

117 Die Homepage der Bundesinitiative Daheim Statt Heim e.V. findet sich unter: http://www.bi-daheim.de (Abfrage: 16.11.2011).

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nen sicherzustellen Als zusammenfassender Oberbegriff bietet sich „Selbstbestimmung“ (als Kontrast zur „Fremdbestimmung“) an. Die nachfolgende Definition verdeutlicht, dass dieses Konzept zwar weit über den hier diskutierten Wohnkontext hinausgeht, jedoch zugleich als zentrale Argumentationsgrundlage in diesem Bereich zu verorten ist: „Selbstbestimmung bedeutet die Möglichkeit, einen Lebensplan zu entwickeln, dabei individuelle und selbstgewählte Lebenswege zu gehen und Entscheidungen im Alltag wie auch im Lebenslauf zu treffen, die den eigenen Vorstellungen und Zielen entsprechen: Wie man wohnen möchte, welchen Beruf man erlernen und ausüben möchte, welche Beziehungen man eingehen will und was man in seiner Freizeit unternimmt sind Teile dieses Lebensplans.“ (Wacker et al. 2006: 17)

Querverbindungen zum Selbstbestimmungsaspekt lassen sich aus der nachfolgend zitierten Einschätzung von Experte_13 zumindest indirekt ableiten: E:

Sehr gut - fühlt sich angenehm und sympathisch an. Was hier ausgedrückt wird, wünscht man sich als Behinderter: das Eingehen auf die eigenen Erfahrungen und Wünsche.

Experte_16 verweist zum Abschluss ihrer ansonsten durchweg wohlwollenden Einschätzung ebenfalls (und dies sogar explizit) auf die Selbstbestimmungsthematik – allerdings vor dem Hintergrund möglicher negativer Assoziationen. E:

Der Slogan wirkt positiv und lenkt die Aufmerksamkeit auf das glückliche Paar. Der Darsteller mit Behinderung wird völlig selbstverständlich in einer alltäglichen Lebenssituation dargestellt. Was bei mir einen kleinen negativen Beigeschmack hervorruft ist der Satz „was gut für mich ist“. Dieser Satz ruft bei Menschen mit Behinderung möglicherweise Assoziationen hervor, die sich um das Thema „Selbstbestimmung und Fremdbestimmung“ ranken.

Im Hinblick auf den Selbstbestimmungsaspekt ist zu vermuten, dass das werbende Unternehmen die Einschätzung von Experte_13 nicht nur als intendierte, sondern vor allem auch als primär zu erwartende Lesart einstufen, würde, während die von Experte_16 ins Feld geführten Bedenken möglicherweise sogar mit einem gewissen Erstaunen zur Kenntnis genommen werden könnten. Zur Einordnung dieser aus Werbesicht sicherlich nicht intendierten Assoziationen ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass speziell Menschen mit Behinderungen

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sich im Alltag auch heutzutage häufig konfrontiert sehen mit Situationen, in denen ihnen das Recht auf Selbstbestimmung eben nicht in einem aus ihrer Sicht selbstverständlichen Maße zugestanden wird. Folglich scheint es plausibel, dass dieser Themenkomplex gerade bei Betroffenen bereits per se mit negativen Konnotationen verbunden ist. Zu vermuten ist außerdem, dass Menschen mit Behinderungen ein besonders ausgeprägtes Gespür entwickeln für Situationen, in denen etwaige Fremdbestimmung in einer so subtilen Form auftritt, dass sie von Außenstehenden mitunter gar nicht als solche erkannt wird. Exakt mit dieser Problemstellung befasst sich ein kommentierter VideoBeitrag von SL-TV (vgl. ausführlich SL-TV 2010, Stand: 17.08.2010; Abfrage: 21.09.2011)118: Der Beitrag selbst zeigt einen Menschen mit (einer nicht explizit genannten) Behinderung, der sich – offenbar, um jemanden zu überraschen, den er gleich treffen wird – eine Krawatte umbindet, dann jedoch – sehr zu seiner Enttäuschung – von seinem Betreuer dazu überredet wird, auf diesen Schlips zu verzichten. Konkret sah sich der Protagonist zunächst konfrontiert mit der suggestiven (und insofern rhetorischen) Frage, ob er die Krawatte nicht selbst als übertrieben einstufe; danach folgte der (selbstverständlich nur scheinbar) wohlmeinende Hinweis, es sei heute viel zu heiß für einen Schlips. Die daraus resultierende Entscheidung, auf eine Krawatte zu verzichten, traf der Betreuer allerdings nicht nur für sich selbst, sondern zugleich auch stellvertretend für den daraufhin sehr enttäuscht wirkenden Protagonisten. Für den Betreuer – so die Quintessenz des darauffolgenden Kommentars – sei es offenbar nicht nur selbstverständlich, „dass er einem erwachsenen Mann solche Vorschriften machen kann, nur weil dieser behindert ist und er selbst eben nicht“ (ebd.); erschwerend hinzu käme, dass der Betreuer dem Protagonisten zwar offenkundig die Krawatte verbieten möchte, er dieses Verbot jedoch hinter einer suggestiven Nachfrage und der Fassade falscher Freundlichkeit verbirgt, anstatt es direkt auszusprechen. Wichtig ist zudem, dass der Kommentator diese Szene keineswegs als Ausnah-

118 Der Vollständigkeit halber sollte jedoch ergänzt werden, dass es dem Autoren – wie er im Rahmen der Anschlussdiskussion (siehe: http://www.zslschweiz.ch/news/ detail.php?iid=421&aid=1, Stand: 20.08.2010; Abfrage: 21.09.2011) dieses Beitrages betonte – ausdrücklich „nicht darum ging, diesen Pfleger für diese eine Sache an den Pranger zu stellen“ sondern darum, einen (stellvertretenden) Beispielfall zu liefern „für den in Institutionen üblichen, zum Teil vorgegebenen Umgang mit behinderten Menschen.“

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me, sondern ganz im Gegenteil als „typisches Beispiel für alltägliche, institutionelle Gewalt“ (ebd.) klassifiziert. Es ist durchaus vorstellbar, dass diese Analyse von Personen ohne einschlägigen Erfahrungshorizont allenfalls bedingt nachvollzogen werden kann. Gerade deshalb illustriert dieses Beispiel jedoch sehr deutlich, warum ein seitens des Unternehmens offenkundig gut gemeinter Satz wie „Ich weiß am besten, was gut für mich ist“ sehr schnell zum Bumerang werden kann – und dies insbesondere bei Menschen, die auf Grund persönlicher Erfahrungen für den Themenkomplex „Selbstbestimmung/Fremdbestimmung“ ohnehin schon besonders stark sensibilisiert sind. Die Gefahr einer oppositionellen Auslegung des Stimulus Einrichtung ergibt sich zudem unter einem weiteren Gesichtspunkt: Wenn das Unternehmen es offenbar als notwendig erachtet, die Botschaft „Wir richten ihre Wohnung nach ihren Wünschen ein!“ in den Mittelpunkt zu stellen, könnte dies suggerieren, dass die eigentlich selbstverständliche Prämisse, den Kunden als König zu betrachten, im Falle von Menschen mit Behinderungen als offenbar explizit kommunikationswürdiges Entgegenkommen betrachtet wird, d.h.: Die Tatsache der Kommunikation einer solchen Selbstverständlichkeit könnte also als Widerspruch zum Kommunikationsinhalt aufgefasst werden. Zu beachten ist allerdings, dass eine solch kritische Lesart als Resultat einer konsequent fortgeschrittenen Zuspitzung eingeordnet und in diesem Sinne nicht überbewertet sollte. Der erste Teil der weiter oben zitierten Einschätzung von Experte_16 weist wiederum deutliche Parallelen zu der Bewertung von Experte_11 auf: Demnach verbinde die Anzeige „‚alltagsnahe Repräsentationsweise‘ und normalisierte Darstellung mit direktem Gebrauchswert“. Zwei weitere Befragte verbinden eine zunächst wohlwollende Einstufung mit kritischen Anmerkungen: •

Experte_5 ergänzt seine positive Bewertung („Ansprechend. Das Paar sieht verliebt aus.“) um die Frage: „Aber wofür wird geworben? Barrierefreie Immobilien? Belastungsfähige Parkettböden?“



Experte_14 ergänzt seine positive Einstufung („Gelungen“) um die Empfehlung: „Das Wohnumfeld sollte allerdings variabel sein. Die gezeigte Kombination wirkt recht steril und wenig wohnlich-einladend im Vergleich zur Nähe, die das Paar demonstriert.“

Auf den letztlich gleichen Aspekt zielt zudem die kritische Einschätzung von Experte_9:

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E:

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Slogan und Bild passen für mich nicht zusammen. Das Bild sagt nicht aus bzw. weckt in mir keinerlei Emotionen oder Assoziationen. Der Paar wirkt eher wie ein Fremdkörper in dem Raum, man kann sich nicht vorstellen, dass das ihr Zuhause ist (oder ist das gerade der Sinn der Sache?!).

Dem Eindruck, „die Aussagen passen […] nicht zusammen“, stimmt auch Experte_8 zu und ergänzt: „An der Einrichtung ist nichts behindertengerecht.“ Experte_7 verknüpft seine – insofern eher moderate – Kritik mit einem Verbesserungsvorschlag: Die Anzeige wäre seiner Einschätzung nach „[okay], wenn […] Körperhaltung und Gesichtsausdruck der Frau realistischer wären.“ Zusammenfassend führen die bislang zitierten Experteneinschätzungen einen bislang vernachlässigten, gleichwohl jedoch durchaus wichtigen Aspekt vor Augen: Der Umstand, dass gemäß des aktuellen Forschungsstandes gerade die Angst vor negativen Reaktionen als Grund für die bislang nur marginale Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Wirtschaftswerbung aufgeführt wird, sollte nicht verkennen, dass eine kritische Rezeption der jeweiligen Anzeige nicht notwendigerweise auf eine als unpassend empfundene Einbindung des Teilaspekts „Behinderung“: zurückzuführen sein muss. Letztlich sind, wie bei allen anderen Anzeigen auch, eine ganze Reihe weiterer Faktoren als potenzieller Anlass für Kritik in Betracht zu ziehen: Wenn etwa Experte_8 die fehlende Barrierefreiheit der Wohnungseinrichtung moniert, kritisiert sie damit nicht etwa die Darstellung des Rollstuhlfahrers als unpassend, sondern betont lediglich, dass das betreffende Unternehmen ihrer Einschätzung nach der durch die Werbebotschaft angestrebten Positionierung – nämlich als Ansprechpartner für die Einrichtung auch barrierefreier Wohnungen – augenscheinlich nicht gerecht wird und folglich kein Bezug zwischen Werbeträger und Produkt ersichtlich wird. Analog versteht sich die von Experte_5 angeführte Nachfrage, wofür denn eigentlich geworben werde, lediglich als Empfehlung, diese Verbindung ggf. noch eindeutiger hervorzuheben. Und dass der auf die Selbstbestimmungsproblematik zielende Einwand von Experte_16 lediglich als Warnung vor dem Risiko nicht intendierter Decodierungen der Werbebotschaft einzustufen ist, wurde bereits ausführlich diskutiert. In zwei weiteren Einschätzungen spielt der Teilaspekt Behinderung offenbar überhaupt keine Rolle: So kritisieren Experte_9 und Experte_14 in erster Linie die Gestaltung des Wohnraums bzw. den damit ihrer Einschätzung nach einhergehenden Kontrast zu dem abgebildeten Paar. Dieser Einwand wäre ohne Weiteres auch dann denkbar, wenn im gleichen Wohnumfeld anstelle des Rollstuhlfahrers ein Mann ohne sichtbare Behinderung abgebildet wäre bzw. wäre umgekehrt möglicherweise

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hinfällig, wenn das gleiche Paar in einem anderen, also aus Sicht beider Befragten ansprechender gestalteten, Wohnraum präsentiert würde. Insgesamt entsteht also der Eindruck, dass die Experten das in dieser Anzeige vermittelte Bild des Rollstuhlfahrers entweder als explizit positive Repräsentationsweise einstufen oder aber zumindest keinen Anlass sehen, diese Form der Einbindung explizit zu beanstanden119 oder gar als provokant zu bewerten. Einen Schritt weiter geht sogar noch Experte_17: E:

Ansprechend. Allerdings ist der Rollstuhl auf den ersten Blick gar nicht als solcher erkennbar, weil sowohl der Rollstuhl als auch der Parkettboden bzw. die Beine der Frau dunkel sind. Diese Werbung würde wahrscheinlich gar nicht im Sinne einer „Werbung mit Behinderten“ auffallen, sondern als herkömmliche Werbung gesehen werden.

6.2.5 Energy Drink Speziell in jüngerer Vergangenheit wird im Zusammenhang mit den Paralympics von einer stetig zunehmenden Medienpräsenz120 und Zuschauerakzeptanz berich-

119 Im Rahmen eines als mündliche Gruppendiskussion durchgeführten Pre-Tests gab eine Teilnehmerin jedoch zu bedenken, dass die Aussage „Ich weiß am besten, was gut für mich ist“ prinzipiell auch auf die Freundin (und nicht den Rollstuhlfahrer) bezogen werden könnte. Eine daraus resultierende (missverständliche) Interpretation der Botschaft könne dann lauten: „Mein Freund sitzt zwar im Rollstuhl, aber dennoch weiß ich, was gut für mich ist.“ Dass eine solche Auslegung die Intentionen des Werbenden geradezu konterkarieren würde, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. 120 Diese Erkenntnis findet sich – häufig in Nebensätzen und weitgehend unkommentiert – in verschiedensten Bilanzziehungen vergangener bzw. Einstimmungen auf kommende Paralympics (vgl. aktuell und stellvertretend Bambey 2012; Abfrage: 02.04.2012 sowie Hinterberg 2012; Abfrage: 20.09.2012). Bei der Einordnung solcher Befunde ist allerdings bedenken, dass vor nicht allzu langer Zeit – etwa anlässlich der Spiele 2000 in Sidney sowie 2002 in Salt Lake City – die Medienpräsenz sowohl in qualitativer als auch als quantitativer Hinsicht noch als recht dürftig eingestuft wurde (vgl. Schierl 2008: 84ff.), mithin also alleine schon die damalige Ausgangsbasis wohl reichlich Spielraum für eine solche Steigerung zuließ.

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tet. Fast schon als alter Hut zu betrachten ist zudem die Erkenntnis, dass die Werbung sich von erfolgreichen Sportlern angesichts ihrer Prominenz in einem leistungsorientierten Bereich ein hohes Identifikationspotenzial verspricht (vgl. stellvertretend: Willems 2003: 516, Fußnote 67). Insofern liegt es geradezu auf der Hand, sich der Verbindung zwischen Sport und Werbung auch im Falle der Behinderungsthematik zu bedienen und einen entsprechenden Stimulus in die Untersuchung mit einzubeziehen. Das Motiv der betreffenden Anzeige zeigt eine Athletin, die rechts eine Beinprothese trägt. Oberhalb der Abbildung wird die rhetorische Frage „Behindert – na und?“ ergänzt durch das Versprechen „Auch Du kannst ein Sieger sein – wenn Du an Dich glaubst.“ Unterhalb des Bildmotivs heißt es: „Der Sport hat mir viel gegeben. Ich weiß nun, dass auch ein Leben mit Behinderung lebenswert ist. Nach jahrelanger Disziplin und harter Arbeit habe ich es geschafft: Ich trainiere für die Paralympics – gemeinsam mit“ dem beworbenen Getränkehersteller. Der abschließende Appell „Trinken Sie mit uns – auf den Sport“ wird begleitet durch den Hinweis, mit jedem Kauf eines Kastens dieses Getränks werde der Behindertensport aktiv unterstützt. Dieser letzte Hinweis repräsentiert eine Werbestrategie, die sich nahtlos in die – u.a. auch in den Expertenbefragungen angedeutete – Diskussion um eine zunehmende Bedeutung politischer und moralischer Motive für Kaufentscheidungen einfügt, nämlich das so genannte Cause-Related Marketing. Gemeint sind damit Werbekampagnen, in denen pro Kauf eines bestimmten Produktes seitens des Unternehmens eine Spende für einen wohltätigen Zweck abgeführt wird121. Zu den bekanntesten Kampagnen (vgl. zu dieser Einschätzung Kienzle/Rennhak 2009; Abfrage: 25.01.2012: 19 mit dortigem Quellenverweis) sind hierzulande etwa die Krombacher-Regenwald-Kampagne sowie die Initiative „1 Liter für 10 Liter“ des Getränkeherstellers Volvic zu nennen. Abgesehen von der bereits per se mit dieser Werbestrategie verbundenen Kritik122 ergibt sich im Fal-

121 Cause-Related Marketing ist insbesondere in den USA seit geraumer Zeit – spätestens seit der auch heute noch häufig zitierten Studie von Varandajan/Menon (1988) – regelmäßig Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Im deutschsprachigen Raum nimmt die Debatte erst in den letzten Jahren zunehmend an Fahrt auf (vgl. zu Überblickszwecken: Dresewski/Koch 2006; Kienzle/Rennhak 2009; Abfrage: 25.01.2012). 122 Neben den mit der Kombination von Werbung und sozialen Themen grundsätzlich verbundenen (und analog auch aus der vorliegenden Thematik wohlbekannten) mo-

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le einer Anwendung auf die Behinderungsthematik insbesondere ein Problem: Kampagnen dieser Art weisen Menschen mit Behinderungen zwangsläufig die Rolle eines Spendenempfängers zu und könnten daher, in Anlehnung an die Kritik an der früheren Aktion Sorgenkind, aus Sicht Betroffener als Wiederbelebung unerwünschter Abhängigkeitsstereotype aufgefasst und mit dementsprechend negativen Konnotationen („Almosenempfänger“) versehen werden123. Auf diese Problematik bezieht sich hier jedoch lediglich ein einziger Befragter, nämlich Experte_11: E:

Verbindet Energy Drink mit „Dynamischen Elitebehinderten“ und „trotz Behinderung lebenswertes Leben“ an Leistung und karitative Aktion („Unterstützen sie…“). Verbindet einen populären Sportleistungs-Mythos mit Behinderung. Entwertet ihn aber wieder, indem er ihn an Spendensammlung („bedauerlich aber nicht hoffnungslos“ und sich von Schuld loskaufen) koppelt. Die Koppelung Getränk und Sport ist dominant. Bedient vor allem das Bild von dynamischen Elitebehinderten [...]. Aufdringliche Werbung für ein Produkt, das (behinderte) SportlerInnen nicht benötigen, starker Zusammenhang zu gebrauchswert-unabhängiger Warenästhetik.

Mit dieser sehr umfangreichen Stellungnahme spielt der Experte zudem auf zwei weitere wesentliche Aspekte an. Der erste bezieht sich auf die Frage nach der Einordnung: Da sich das Produkt offenbar allgemein an Sportler – ob mit oder

ralischen Bedenken wäre hier etwa der Vorwurf zu nennen, dass die Höhe der durch eine Cause-Related-Marketing-Kampagne generierten Spende nicht bzw. erst unter der Bedingung einer völlig unrealistischen Absatzsteigerung des betreffenden Produktes überhaupt der Rede wert wäre (vgl. stellvertretend Berglind/Nakata 2005). Eine grobe Sichtung einschlägiger Literatur vermittelt jedoch den Eindruck, dass gerade im angloamerikanischen Raum ein tendenziell eher positiver und chancenorientierter Grundtenor bei der Beurteilung dieser Werbestrategie vorherrscht. 123 Andererseits könne, wie Riley im Rahmen seiner sonst vorwiegend kritischen Ausführungen einräumt, ein nächster (positiver) Schritt darin bestehen, Menschen mit Behinderungen eben nicht nur ausschließlich als Kunden, sondern auch als potenzielle Arbeitskräfte in den Fokus entsprechender Unternehmen zu rücken. Zumindest in diesem Punkt hebt Riley eine entsprechende Kampagne der Fast-Food-Kette McDonalds positiv hervor: Im Jahre 1999 wurde demnach (im angloamerikanischen Raum) bei immerhin 70% aller Franchise-Nehmer mindestens ein behinderter Arbeitnehmer beschäftigt (vgl. Riley 2005: 115).

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ohne Behinderungen – richtet, ließe sich zunächst eine behinderungsinklusive Ausrichtung ableiten (und diese Sichtweise würde sich mit den Vorüberlegungen bzw. den mit diesem Stimulus verbundenen Intentionen decken). Folgt man allerdings der Einschätzung, dass gerade behinderte Sportler einen solchen Energy Drink eigentlich nicht benötigen, wären zumindest behinderungsdissonante Ansätze erkennbar. Zu entgegnen wäre hier allerdings, dass diese unter Umständen fehlende Produktrelevanz nicht gleichgesetzt werden sollte mit der auf Grund einer Behinderung fehlenden Möglichkeit zur Produktnutzung. Eine Einstufung als behinderungsdissonant würde folglich in die Irre führen, folgerichtig würde die Kategorie behinderungsinklusiv diesem Stimulus eben doch noch am ehesten gerecht. Der zweite Aspekt betrifft die ursprünglich von Lothar Sandfort proklamierte Formulierung „dynamische Elite-Behinderte“ (vgl. Kapitel 6.1) und bezieht sich damit auf ein ganz bestimmtes Bild von Menschen mit Behinderungen, das sich alternativ auch durch das Stereotyp des Supercrip in Tateinheit mit dem Bild von Menschen mit Behinderung als eigener größer Feind (vgl. hierzu Kapitel 4.4) umschreiben ließe. Die von Sandfort seinerzeit aufgeführte Beschreibung dieser Darstellungsform kann zugleich als treffendes Beispiel für eine oppositionelle Lesart des Energy Drink-Stimulus eingestuft werden. „Die dritte Art der ‚Verkaufsförderung‘ ist die Darstellung dynamischer Elitebehinderter, die ‚ihr schweres Schicksal gemeistert‘ haben. Medien-Produkte, die den Eindruck hinterlassen, der Behinderte müsse nur wollen, müsse nur schön fleißig sein und trainieren, dann wäre alles halb so schlimm, entlasten den Rezipienten und werfen die Verantwortung allein auf den Behinderten zurück. Überanpassung wird positiv dargestellt und damit auch von allen Behinderten gefordert, sie wird zur Norm erhoben.“ (Sandfort 1982b: 209).

In diesem Sinne folgt der Energy Drink-Stimulus der Logik des individuellen Modells von Behinderung und öffnet damit auch der aus dieser Diskussion wohlbekannten Kritik (vgl. hierzu Kapitel 3.1.1) Tür und Tor. Ein – im Übrigen längst nicht nur auf die Behinderungsthematik übertragbarer – Einwand zu dieser Kampagne könnte folgerichtig lauten: Selbst großer Fleiß, enorme Ausdauer oder ein eiserner Wille helfen nur bedingt weiter, wenn der Weg an einer faktisch unüberwindbaren Hürde endet, die sich – abgesehen von dem im Behinderungskontext entscheidenden Aspekt fehlender Barrierefreiheit – nicht zuletzt in Form mangelnder Anerkennung dieser Bemühungen äußern kann. Erschwerend kommt im Falle des vorliegenden Stimulus wohl auch hinzu, dass die Allgemeingültigkeit dieser Botschaft („Auch Du kannst ein Sieger sein – wenn Du an

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Dich glaubst!“) selbst unter völliger Ausblendung des sozialen Modells von Behinderung in Frage zu stellen wäre, da die hier visualisierte Behinderung aus medizinischer Sicht (bei aller gebotenen Vorsicht vor nicht intendierten Negativkonnotationen solcher Vergleiche) als verhältnismäßig leicht eingestuft werden kann. Die Empfindung „Sieger sein“ hat etwa für eine vom Hals abwärts gelähmte Person wahrscheinlich eine subjektiv völlig andere Bedeutung als für eine Person mit Beinprothese (vgl. hierzu die Anmerkungen zur Relativität von Behinderung in Kapitel 3.1.2). Allgemein zu ergänzen ist hier schließlich noch die Binsenweisheit, dass Menschen (ob behindert oder nicht) nun einmal unterschiedliche Begabungen und Grenzen haben (vgl. zu diesem Gedanken etwa Schmidt 2008a: 59ff.), also selbst bei noch so großem Trainingsfleiß längst nicht alle Personen überhaupt das Zeug dazu hätten, sportliche Höchstleistungen zu vollbringen oder gar in die Elite der Olympia-Teilnehmer vorzustoßen124. Die soeben skizzierten Überlegungen bilden den Kern der eher kritischen Ausführungen von Experte_14: E:

Zwiespältig. „Behindert - na und“ ist o.k. Aber der Leistungsaspekt wird zu sehr betont. Was ist mit den Menschen, die eine derartige sportliche Leistung auch bei größter Anstrengung und auch, wenn sie an sich glauben, niemals schaffen würden? Sie werden nicht Sieger sein können. Der Glaube kann Berge versetzen? Ich habe große Zweifel.

Auch die Einschätzung von Experte_5 lässt sich offenbar125 als Beispiel für die soeben geschilderte Argumentationslinie interpretieren:

124 Diese Einschätzung hat auch Bestand, wenn man berücksichtigt, dass die unterschiedlichen Schweregrade von Behinderung durch verschiedene Schadensklassen abgefangen werden (sollen). 125 Die Einschränkung „offenbar“ beruht auf dem Umstand, dass der erste Teil des Zitats („Macht der Glaube an mich selbst oder das Getränk mich zum Sieger?“) streng genommen zwei Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Die erste lautet: Beide der hier genannten Faktoren (Getränk und Glaube) bringen für sich genommen noch keine Sieger hervor. Diese Auslegung würde sich in den oben geschilderten Kontext einfügen. Nicht ausgeschlossen ist allerdings eine zweite Interpretation, die den Schwerpunkt auf die Konjunktion „oder“ legt. Die Frage würde dann sinngemäß lauten: „Ist es der Drink oder nicht vielmehr der Glaube an mich selbst, der mich

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E:

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Ein ziemlich platter Slogan. Macht der Glaube an mich selbst oder das Getränk mich zum Sieger? Ich würde den Satz „behindert - na und?“ weglassen.

Als neutral – mit moderat negativen Anklängen – lässt sich die Einschätzung von Experte_13 einordnen: E:

Dieses Appellieren an eine Siegermentalität ist nicht so mein Ding. Finde ich aber relativ neutral oder konventionell. Haut mich [...] nicht vom Hocker.

Experte_9 verknüpft eine prinzipiell positive Bewertung mit einigen kritischen Anmerkungen zu dem ihrer Einschätzung nach nicht ersichtlichen Bezug zwischen Werbung und Produkt: E:

Grundsätzlich gut, aber für was soll geworben werden? In jedem Fall muss eine gedankliche Verbindung zum Produkt hergestellt werden können oder es geht bewusst um zwei völlig verschiedene Dinge - was ich mir hier aber nicht vorstellen kann.

Die übrigen Einschätzungen sind als nahezu durchweg positiv einzustufen, wobei sich die nachfolgend zitierten Experte_7, Experte_8 und Experte_17 relativ ähnlich äußern: Experte_7: [Die Anzeige] ist [...] okay, da Behinderung als etwas Selbstverständliches vermittelt wird. Auch hier steht die Leistungsfähigkeit im Vordergrund. Experte_8: Das Plakat spricht mich an, die Behinderung steht nicht im Vordergrund, sondern Sport, Bewegung und das Produkt. Experte_17: Ansprechend. Der behinderte Mensch als Leistungsträger. In der Leistungsgesellschaft ist so etwas immer gut.

zum Sieger macht?“ Angesichts der zuvor geäußerten Einschätzung („Ein ziemlich platter Slogan“) scheint die erste Interpretationsvariante jedoch wahrscheinlicher.

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Experte_16 bewertet die Anzeige prinzipiell positiv, allerdings mit einer Einschränkung, die – und damit schließt sich der Kreis – sich auf die bereits von Experte_11 angesprochene Repräsentationsform bezieht. E:

Grundsätzlich eine positive Werbeschaltung. Passt ins gängige Schema. Schade ist natürlich, dass meist Spitzensportler = Helden in der Werbung vorkommen.

Zusammenfassend soll der Energy Drink-Stimulus insbesondere die in vergangenen Kapiteln bereits mehrfach angesprochene Frage nach der generellen Wünschbarkeit bestimmter Repräsentationsformen von Menschen mit Behinderungen bzw. nach der Vereinbarkeit der (mutmaßlichen) Präferenzen Betroffener mit den Erwartungshaltungen der so genannten Normalbevölkerung und den Selektionsmechanismen der Werbung aufgreifen. Im Sinne einer idealtypisch wohlwollenden Lesart ließe sich demnach argumentieren, dass die aus dieser Darstellung ersichtliche Zuweisung einer explizit leistungsbetonten Rolle durchaus – speziell im Vergleich mit traditionellen Mitleidsbildern – als inklusives Signal interpretiert werden könnte. Doch könnte eine solche Anzeige wiederum – im Sinne einer kritischen Lesart – auch aufgefasst werden als (stigmatisierende) Bestätigung dafür, dass die Behinderungsthematik in der Werbung nur dann eine Chance hat, wenn es um idealisierte Teilausschnitte geht, deren Einbindung insgesamt noch relativ mühelos mit den Omnipositivätsvorstellungen der Werbung vereinbar ist und somit keineswegs die generelle Inkompatibilität von Behinderung mit den gängigen Werbeidealen in Zweifel zieht.

6.2.6 Flatrate Den Ausgangspunkt dieses im Pop Art-Stil konzipierten Stimulus bildet das aus dem Motiv der „Drei Affen“ stammende Wort „Nichts sehen. Nichts hören. Nichts sagen“ (vgl. zu den Ursprüngen und Deutungen dieses Sprichwortes: Mieder 2005: bes. 11ff.), das im vorliegenden Falle allerdings als Frage formuliert und ergänzt wird um das Versprechen: „Nicht bei uns!“ Denn für die Käufer, denen durch die beworbene Music-Movie-Phone-Flatrate eine bestimmte Anzahl von Filmen, Musiktiteln und (telefonischen) Freiminuten für einen festen Betrag garantiert wird, gilt das Motto: „Sehen. Hören. Reden.“ Der Bildteil der Anzeige umfasst drei verschiedene Abbildungen des gleichen Gesichtes, in denen die aus dem Ausgangszitat ableitbaren Behinderungen visualisiert werden: Blindheit („nichts sehen“), Gehörlosigkeit („nichts hören“), Stummheit

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(„nichts sagen“). Bereits an dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass diese Form der visuellen Umsetzung von den gegenwärtig üblichen Anwendungsbereichen dieses Zitates abweicht: Wenn im alltäglichen und nicht zuletzt im massenmedialen Gebrauch die Drei Affen zitiert werden, wird damit in der Regel auf mangelnde Zivilcourage, auf Gleichgültigkeit oder vergleichbare Verweigerungshaltungen angespielt (vgl. u.a. ebd.: 217ff.). Gemeint ist also das bewusste Wegsehen, Weghören oder Schweigen. Das Motiv der Flatrate-Anzeige verweist jedoch auf Personen, denen auf Grund ihrer Behinderung die Fähigkeit fehlt, den Akt des Sehens, des Hörens bzw. des Sprechens zu vollziehen. Umgangssprachlich formuliert bezieht sich das Zitat im Alltagsgebrauch also üblicherweise auf Personen, die nicht wollen, obgleich sie könnten; in der vorliegenden Werbedarstellung dagegen auf Personen, die nicht können, selbst wenn sie wollten. Es ist durchaus damit zu rechnen, dass gerade diese Vermengung von Wollen und Können einen Anlass zu kritischen Deutungsmustern der Anzeige eröffnet. Als Beispiel für eine zynische Lesart wäre etwa die folgende (in der Expertenbefragung jedoch nicht genannte) Aussage denkbar: Die Anzeige suggeriere, dass die dargestellten Behinderungen durch den Kauf einer Flatrate heilbar seien; auf Grund der objektiven Widerlegbarkeit dieser Botschaft sei diese Werbung folglich als irreführend, zumindest jedoch als sinnleer, einzustufen. Auch die typologische Einordnung dieses Stimulus erfordert einige differenzierte Erläuterungen: Zunächst ist festzuhalten, dass Rezipienten mit mindestens einer der hier dargestellten Behinderungen jeweils von Teilaspekten der Flatrate faktisch ausgeschlossen sind: Blinden Menschen bleibt z.B. bei audiovisuellen Angeboten zumindest der visuelle Aspekt verschlossen, gehörlose Menschen würde man nicht als Kunden einer Musik-Flatrate vermuten und das Führen von Telefonaten setzt zunächst einmal die Fähigkeit des Sprechens voraus. In diesem Sinne enthält der Stimulus also behinderungsdissonante Elemente. Entscheidend ist allerdings, dass einige der hier ersichtlichen Dissonanzen zumindest zu einem gewissen Grade überbrückt werden können: Bei audiovisuellen Angeboten besteht z.B. die Möglichkeit einer Untertitelung für Gehörlose bzw. einer Bildbeschreibung für Menschen mit Sehbehinderungen. Die Forderung nach einer möglichst barrierefreien Gestaltung von TV-Angeboten zählt zu den in Kreisen behinderter Menschen hochaktuellen und insofern auch immer wieder aufgegriffenen Themen: Gemäß einer kürzlich publizierten Pressemeldung126

126 Siehe: http://www.ard.de/intern/presseservice/-/id=8058/nid=8058/did=2158760/ t9t67f/index.html (Stand: 14.09.2011; Abfrage: 06.12.2011)

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plant z.B. die ARD, bis zum Jahre 2013 in sämtlichen Erstsendungen Untertitel für gehörlose und schwerhörige Zuschauer einzubinden; zudem sollen künftig im Hauptabendprogramm auch sämtliche fiktionale Angebote sowie „Tier- und Naturfilme“ auch mit Bildbeschreibungen für Menschen mit Sehbehinderungen verfügbar sein; eine Ankündigung, die von einschlägigen Betroffenenorganisationen erwartungsgemäß durchaus begrüßt wurde (vgl. hierzu: Schmahl 2011, Stand: 21.10.2011; Abfrage: 06.12.2011). In besagter Pressemeldung wird der Anteil von ARD-Sendeangeboten mit Untertiteln mit gegenwärtig etwa 37% beziffert. Ein ähnlicher Trend lässt sich auch für das ZDF festhalten: Der Anteil untertitelter Sendungen sei seit 2004 von 14% auf 37% (Ende 2011) gestiegen; ein weiterer Ausbau von Angeboten für Menschen mit Seh- und/oder Hörbehinderung sei bereits im Jahre 2012 geplant (vgl. Hinterberg 2011, Stand: 13.12.2011; Abfrage: 22.12.2011). In Österreich wurde durch eine – u.a. im Internetangebot von BIZEPS-Online diskutierte – juristische Auseinandersetzung erst kürzlich ein möglicherweise Richtung weisender Präzedenzfall geschaffen: Die Feststellung, dass die vom ORF produzierte Dokumentation „100 Jahre Sturm Graz“ keine Untertitel enthielt, veranlasste einen gehörlosen Käufer dieser DVD zu einer (erfolgreichen) Schadensersatzklage unter Berufung auf das seit 1. Januar 2006 in Österreich gültige Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG). Den mittlerweile rechtskräftigen Zuspruch von 1000 Euro Schadensersatz bewertet der Kläger als „klares Signal in Richtung der österreichischen Medienbranche, dass eine Produktion von digitalen Medienträgern wie DVDs ohne Berücksichtigung der Barrierefreiheit eine Rechtsverletzung darstellen kann“ (Klagsverband 2011, Stand: 05.10.2011; Abfrage: 06.12.2011, vgl. auch die dortigen Quellenangaben)127.

127 Zur Untertitelungsproblematik eine wichtige (allerdings an dieser Stelle nicht weiter zu vertiefende) Anmerkung: Der Einwand, dass im Falle von Film-Veröffentlichungen auf DVD und vergleichbaren Medien Untertitel in verschiedenen Landessprachen zunehmend als Standard vorausgesetzt werden dürfen und damit die hier geschilderte Problematik möglicherweise zu relativieren sei, liegt möglicherweise auf der Hand. Zu bedenken ist allerdings, dass diese Untertitelungen sich meist auf die Wiedergabe des Gesprochenen beschränken und insofern einem anderen Anspruch folgen als originär auf Gehörlose zugeschnittene Untertitel, die nicht zuletzt auch Hinweise auf Hintergrundgeräusche, Hintergrundmusik etc. enthalten sollten.

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Bereits diese einführenden Überlegungen verdeutlichen, dass dem Thema Barrierefreiheit auch in Bereichen, auf die u.a. der Stimulus Flatrate anspielt, eine zunehmende Bedeutung zukommt. Daraus ergibt sich eine für die weitere Bewertung dieser fiktiven Anzeige möglicherweise zentrale Vermutung: Schaltet ein Werbetreibender tatsächlich eine solche Kampagne, sieht er sich speziell von so genannten Betroffenen wahrscheinlich konfrontiert mit der Erwartungshaltung, die Verbindung zwischen Blindheit, Gehörlosigkeit und/oder Stummheit mit dem Slogan „Sehen/Hören/Reden“ durch eine entsprechende Hervorhebung barrierefreier Angebote zu rechtfertigen. Dies impliziert selbstverständlich die Erwartung, dass eine solche Ausrichtung auch direkt aus der Kampagne ersichtlich wird. Im Umkehrschluss kann wiederum das Fehlen jeglicher Hinweise, die für eine Einordnung als verhandelnde Werbung sprächen, den Eindruck erwecken, dass die Behinderungen eben nicht in einer inklusiven (und damit legitimen) Absicht, sondern lediglich als Blickfang eingesetzt werden. Im Falle einer solchen Lesart läge es zudem nahe, eine behinderungskontrastierende Absicht zu unterstellen und insbesondere den Ausruf „Nicht bei uns!“ als klare Distanzierung von den zuvor thematisierten Behinderungsarten („Nichts sehen. Nichts hören. Nichts sagen?“) zu interpretieren. Die Einschätzung, dass der Stimulus Flatrate theoretisch als verhandelnde Werbung konzipiert sein sollte, die vorliegende Umsetzung jedoch faktisch als behinderungskontrastierend einzustufen sei, wird explizit von Experte_8 und Experte_9 vorgetragen: Experte_8: Kommt nicht an. Wenn die verschiedenen Behinderungen so in den Vordergrund gerückt werden, erwarte ich dann auch ein Lösung in Form von Untertiteln und Gebärdensprache. Experte_9: Ebenfalls zu abgedroschen und langweilig. Und wenn der Anbieter nicht auch etwas für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung bietet, ist es wieder ein geschmackloses Ausnutzen dieser Gruppen.

Experte_14 äußert sich ähnlich, beschränkt sich allerdings auf eine Kritik an der behinderungskontrastierenden Tonalität ohne Bezugnahme auf die Alternative einer verhandelnden Darstellung:

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E.

Schlecht!! Der Gedanke ist ja wohl, dass die Adressaten sich von Attributen behinderter Menschen positiv abheben sollen. Damit werden Menschen mit den genannten Behinderungen abgewertet.

Experte_7 kritisiert: „[Die Anzeige] zielt wieder nur auf Menschen mit Behinderung. Besser wäre es, wenn auch nicht behinderte Köpfe dabei wären.“ Hierzu ist anzumerken: Prinzipiell wäre es durchaus möglich, die Textelemente auch auf anderem Wege zu visualisieren, also z.B. unter Beibehaltung der bereits bekannten Darstellung von Blindheit etwa Gehörlosigkeit zu ersetzen durch eine Person, die sich bewusst die Ohren zuhält und Stummheit z.B. durch ein Pflaster auf dem Mund. Dies würde zwar den Einwand von Experte_7 entkräften, allerdings zu dem bereits diskutierten Problem der Vermengung völlig unterschiedlicher Aussageebenen (Nicht sehen können/nicht hören wollen/nicht reden dürfen) führen. Davon abgesehen wäre es jedoch durchaus interessant, zu erfahren, inwieweit Experte_7 die Beschränkung auf „behinderte Köpfe“ auch im Falle einer verhandelnden Ausrichtung als gleichermaßen störend empfunden hätte. Kritisch äußern sich auch Experte_13 („mittelmäßig – weiß auch nicht“) und Experte_16 („Empfinde ich als ziemlich extrem wegen der Bildgestaltung“) sowie Experte_11, der z.B. auf den seiner Einschätzung nach unklaren Gebrauchswert des Produktes und die verwirrende Verbindung zwischen Anzeige und der beworbenen Flatrate abzielt: E:

Versuch modisch-dynamisch Behinderung und Hilfsmittel/Kommunikationsmittel einzusetzen. Verbindung zum Produkt komplex bis verwirrend. Verbindung von Sinnes-Behinderung und Normalisierung über Enhancement. Produkt wird eher aufgedrängt, Gebrauchswert unklar, eher auf Status in Jugendkulturen bezogen.

Damit stimmt Experte_11 auch implizit der in Kapitel 6.1 angedeuteten Einschätzung zu, dass der Stimulus Flatrate vermutlich vorwiegend jüngere Altersgruppen anspreche. Eindeutig positiv äußert sich neben Experte_17 („Provokativ, originell und humorvoll. Fällt positiv auf.“) nur noch ein weiterer Befragter, nämlich Experte_5: „Die Anzeige wirkt wie ein Kunstwerk. Sie lockt zum näheren Hinsehen“. Beide Experten schreiben der Anzeige also einen durchaus hohen und positiv gerichteten Aufmerksamkeitswert zu. Inwieweit diese wohlwollende Einschätzung konkret auf das hier vorliegende Zusammenspiel von Behinderung und Werbung oder eher auf die allgemeinen Gestaltungsmerkmale der Anzeige (etwa den Pop Art-Stil) zurückzuführen sind, wird aus den Einschätzungen nicht eindeutig er-

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sichtlich. Es bleibt also offen, ob auch alternative Darstellungsformen des Ausgangszitates, z.B. behinderungssimulierende Darstellungsformen (vgl. Kapitel 3.2.2) wie das Zuhalten von Augen/Ohren/Mund, zu einer ähnlichen Einschätzung geführt hätten. Zugleich lässt sich diesen Aussagen jedoch entnehmen, dass zumindest diese beiden Befragten dem Fehlen verhandelnder Elemente offenbar keine Bedeutung für die Beurteilung der Anzeige beigemessen und sie somit die Darstellung wohl auch nicht als Abwertung der dargestellten Behinderungen empfunden haben. Auf Basis der theoretischen Vorüberlegungen und unter Mitberücksichtigung der übrigen Experteneinschätzungen scheint jedoch eine gewisse Skepsis geboten, inwieweit solche positiven Lesarten des Stimulus Flatrate auf breiter Basis erwartet werden dürfen.

6.2.7 Mode Entgegen der Gepflogenheiten aus den meisten vorangegangenen Kapiteln bietet es sich an, die konkrete Beschreibung des Mode-Stimulus ein wenig zurückzustellen und zunächst auf einige allgemeine Vorüberlegungen zu verweisen. Wenn von der Ausblendungsregel, werblichen Schönheitsidealen und dergleichen die Rede ist, impliziert dies gewöhnlich den bereits auch in den ersten Grundüberlegungen dieser Arbeit thematisierten Vorwurf, die Werbung könne angesichts ihrer spezifischen Selektionsmechanismen bei Menschen, die von diesen Idealbildern abweichen, ein Gefühl der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper suggerieren. Abgesehen von der Behinderungsthematik findet diese Überlegung ihre Entsprechung u.a. in der häufig vorgetragenen Befürchtung, der Trend zu immer dürreren und immer jüngeren Models (vgl. zum Befund des Schlankheitstrends kritisch Koch/Hofer 2011) könne gerade so genannte Durchschnittsfrauen dazu anstacheln, diesem (vermeintlichen!) Ideal notfalls auch auf Kosten der eigenen Gesundheit – etwa durch Fasten bis hin zur Magersucht und/oder Schönheitsoperationen – nachzueifern (vgl. ausführlich z.B. Posch 1999). Nun ließe sich gewiss trefflich darüber streiten, inwieweit die befürchteten Zusammenhänge zwischen Werbeidealen und Schlankheitswahn wissenschaftlich haltbar sind bzw. aus den verschiedensten Gründen relativiert werden können (vgl. kritisch z.B. Schnierer 1999: 258ff.; Häfner/Stapel 2007). Entscheidend für die Überlegungen im vorliegenden diesem Kapitel ist jedoch die weitgehend unbestrittene Erkenntnis, dass die Werbung sich fortwährend mit entsprechender Kritik konfrontiert sieht und dass offenbar dem Modesektor ein solch zweifel-

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hafter Ruf in besonderem Maße vorauseilt – insbesondere, wenn neben klassischer Werbung auch Laufstegpräsentationen in die Überlegungen miteinbezogen werden (vgl. ausführlich Posch 1999: bes. 60ff.). Im Umkehrschluss scheint somit jedoch der Modesektor geradezu prädestiniert, um mit den durch die Ausblendungsregel unterstellten Erwartungshaltungen zu brechen. Es überrascht daher nur wenig, dass mit Benetton ausgerechnet ein Bekleidungsunternehmen als Extrembeispiel für einen längerfristig angelegten Widerspruch zur allenthalben vorausgesetzten Omnipositivität der Werbung angeführt werden kann (vgl. Kapitel 2.2). Interessant ist zudem, dass ein nicht minder themenrelevanter, jedoch in dieser Arbeit bislang nur am Rande erwähnter, Erwartungsbruch im Modesektor zeitlich in etwa mit der Sonnenblumen-Kontroverse zusammenfiel: Im Rahmen der Londoner Modewoche wurde die Präsentation der von Alexander McQueen entworfenen Frühjahrskollektion 1999 durch die beinamputierte Aimee Mullins eröffnet. Während der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft unter Bezugnahme auf die Sonnenblumen und ebendiesen Laufsteg-Auftritt die Frage nach der (moralischen) Bewertung einer Verbindung von Behinderung mit kommerziellen Zielen in den Vordergrund stellte (vgl. ZAW - Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft [Hrsg.] 1999: 51/Originalzitat in Kapitel 2.2), legten die Beteiligten großen Wert auf die Feststellung, dass sie das Merkmal Behinderung nicht als allein entscheidendes Kriterium, sondern lediglich als einen Aspekt unter vielen verstanden wissen möchten. So betonte McQueen in einem Interview: „Die Idee war zu zeigen, dass die Schönheit von innen kommt.“ (zit. nach Mürner 2003: 152) Oder an anderer Stelle: „Wir haben nicht nach Menschen mit ausgeprägten Behinderungen gesucht, sondern nach behinderten Menschen, die ein ausgeprägtes Gefühl für sich selbst haben.“ (zit. nach ebd.: 152) Aimee Mullins selbst wurde wiederum zitiert mit den Worten: „Ich will nicht, dass die Leute denken, ich sei schön trotz meiner Behinderung, sondern wegen meiner Behinderung. Es ist für mich eine Herausforderung, die herrschende Meinung darüber, was schön ist und was nicht, in Frage zu stellen.“ (zit. nach ebd.: 153)

Im deutschsprachigen Raum sorgte in jüngerer Vergangenheit Mario Galla durch seinen Auftritt in kurzen Hosen – und damit deutlich sichtbarer Beinprothese – bei der Berliner Modewoche für Schlagzeilen. Die Anspielungen auf die üblichen Gepflogenheiten der Modebranche und die daraus resultierende Einordnung dieser Präsentation als potenzieller Tabu-Bruch ließen erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten (vgl. z.B. Mäurer 2010, Stand: 10.10.2010; Abfrage:

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04.07.2012). Galla selbst ist wiederum bemüht, das (aus seiner Sicht eben nur vermeintlich) Außergewöhnliche an seinem Auftritt herunterzuspielen, wie etwa die nachfolgend zitierte Interviewpassage zeigt: „Mir war nicht bewusst, dass mein Auftritt bei Michalsky solche Wellen schlagen könnte. Ich gelte jetzt ganz offiziell als ‚das Schockmodel‘. Dabei war das gar nicht als Provokation gedacht. Ich trage auch privat kurze Hosen. Ob ich das nun auf dem Laufsteg tue oder zuhause, ist für mich kein Unterschied. Es gab Shows, bei denen ich lange Hosen anhatte und aufgeregter war.“ (Barut 2010, Stand: 26.07.2010; Abfrage: 04.07.2012)

Christian Mürner begründet seine Skepsis, inwieweit die Hoffnung auf einen Katalysator-Effekt128 der Werbung (vgl. Kapitel 4.5) überhaupt realistisch ist, unter Bezugnahme auf einige Paradoxien, die sich seiner Einschätzung nach im Zusammenhang mit solchen Laufstegauftritten ergeben: „Ich frage mich, ob die so offensichtliche Präsentation im Modekontext die Behinderung banalisiert? Die Aussagen der behinderten Models versuchen[,] die Situation zu normalisieren, in der Absicht der Selbstbestimmung, aber gehört die Behinderung zur Abgrenzung vom Normalen oder zur Identitätsbildung und führt darüber hinaus zum Selbstbewusstsein, das sich die Reduzierung auf die Behinderung verbittet. Die Paradoxie wird durch die Werbung mit behinderten Menschen vertieft: Sie fordert das Hinsehen heraus, es ist ihr Auftrag, das Anstarren von Menschen mit Behinderungen aber wird moralisch sanktioniert.“ (Mürner 2003:154)129

128 Die Formulierung „Katalysator-Argument“ fällt in diesem Zusammenhang zwar nicht wörtlich. Ausgangspunkt der Überlegungen Mürners ist jedoch die Quintessenz eines Beitrages aus dem Jugendmagazin Jetzt, in dem de facto eine KatalysatorWirkung der Werbung unterstellt wird: „Werbung schafft ein [sic!] illusionäre Welt. Eine Welt, wie wir sie gerne hätten. Erst wenn Behinderte aus dieser Welt nicht länger ausgeschlossen sind, gehören sie irgendwann auch zum Alltag. Dann werde ich den Rollstuhlfahrer in der U-Bahn vielleicht weniger verschämt anschauen. Vielleicht werde ich mich dann nicht mehr bloß fragen, was mit seinen Beinen passiert ist, sondern wo er seine tolle Jacke gekauft hat.“ (zit. nach Mürner 2003: 154) 129 Anm.: Das Problemfeld „Anstarren“ wird im Rahmen der Diskussion des ParfumStimulus im nachfolgenden Kapitel ausführlicher aufgegriffen.

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Die hier angeführten Überlegungen deuten also darauf hin, dass das Zusammenspiel von Behinderung und Werbung zwar auch im Modebereich nicht unbedingt en vogue, zumindest aber die die Idee einer Verknüpfung von Behinderung und Mode keineswegs neu ist – und dies offenbar auch gerade wegen der mit den zahlreichen Paradoxien einer solchen Kombination verbundenen Hoffnung auf Aufmerksamkeit. Wie in Kapitel 3.1.2 ausführlich erläutert, existieren neben Behinderungen eine Reihe von Merkmalen, deren Präsenz man in der auf breite Akzeptanz zielenden Werbung – insbesondere in Anlehnung an die Überlegungen von Schnierer (1999: 227) – nicht ohne Weiteres erwarten würde. Genau hier setzt nun die Grundidee des Stimulus Mode an: Der Slogan „Passt es Ihnen – passt es uns! denn Mode ist für alle da“ wird visualisiert durch eine Gruppe von acht sehr heterogenen Personentypen, deren einzige Gemeinsamkeit quasi darin besteht, dass sie als Träger bestimmter Merkmale in der Werbung erfahrungsgemäß deutlich unterrepräsentiert sind, obgleich sie als potenzielle Konsumenten für das beworbene Produkt sehr wohl in Betracht zu ziehen wären. Neben zwei Personen in einem (speziell nach den Maßstäben der Werbung) bereits recht fortgeschrittenen Alter beinhaltet die Abbildung eine bunte Mischung verschiedener Nationalitäten und nicht zuletzt eine jüngere blonde Frau, die – wiederum nach den Maßstäben werblicher Selektionsmechanismen formuliert – den gängigen Schönheitsidealen wohl zweifellos gerecht würde, wenn sie nicht in einem Rollstuhl säße. In Anlehnung an die Ausführungen in Kapitel 3.1.2 folgt diese Anzeige somit der Strategie, nicht etwa – in Anlehnung an die Stigma-Theorie – das potenziell Diskreditierende bestimmter Abweichungen zu thematisieren, sondern – in Anlehnung an die Diversity-Debatte – gerade die Verschiedenheit des Menschen als Bereicherung anzuerkennen und als Unternehmen offensiv aufzugreifen. Von der Mehrheit der Experten wird diese Anzeige offenbar auch gemäß dieser Intention interpretiert. Insgesamt vier Einschätzungen fallen uneingeschränkt positiv aus: Experte_5: Eine gute Überschrift. Die Vielfalt der Menschen ist sympathisch. Hier wirbt eine Firma, die sich auf jeden einstellt. Experte_7: gefällt mir, vermittelt Normalität für große Bevölkerungsgruppen.

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Experte_8: Die Anzeige ist schön und überzeugend gemacht. Sie spricht alle an, Kleidung braucht jeder. Experte_17: Originell und humorvoll. Gute Produktwerbung mit einer Prise Lebensrealität.

Drei weitere Experten heben den Diversitäts-Aspekt zwar ebenfalls positiv hervor, ergänzen jedoch einige kritische Anmerkungen bzw. Verbesserungsvorschläge. Dies gilt z.B. für Experte_9: E:

An der Qualität der Gestaltung müsste noch gearbeitet werden, ansonsten sehr gut, auch im Sinne der Inklusion; die Behinderung steht nicht im Vordergrund, sondern der Betroffene ist als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft dargestellt. Einzige Frage: Um welche Art der Kleidung geht es? Und statt „Mode“ würde ich den Firmennamen nennen.

Experte_14 gelangt zu dem Fazit: „Gute Idee, aber verbesserungswürdig“, die Einschränkung bezieht sich auf die formale Gestaltung der Anzeige: „Die Schriftzeichen sind unübersichtlich, der Hintergrund lenkt zu sehr von den Menschen ab.“ Experte_16 meint: „Ist eine nette Idee, allerdings wirkt es nicht wirklich nach ‚Mode‘.“ Zu einem sehr differenzierten Fazit gelangt Experte_11: E:

Normalisierung und Vielfalt. Zentriert aber den Blick auf junge hübsche Rollstuhlfahrerin – Anklänge an „Dynamischen Elitebehinderten“ und gleichzeitig „bedauerlich aber nicht hoffnungslos“130. Kontrastiert stark mit der älteren Frau und dem fülligen Mann (steht zwischen ihnen) – relativiert damit den normalisierenden Blick, lässt etwas Eindruck von Fremdheit entstehen, die Vielfalt wirkt künstlich. Starker Bezug zu Gebrauchswert.

Nach Auffassung dieses Experten ist die Intention, „Normalisierung und Vielfalt“ in den Vordergrund zu rücken, zwar offensichtlich; zweifelhaft scheint aus seiner Sicht jedoch, inwieweit die hier vorliegende Umsetzung einem solchen Anspruch auch tatsächlich gerecht werden kann. Dem durch die Formulierung „die Vielfalt wirkt künstlich“ angedeuteten Eindruck schließt sich offenkundig

130 Der Experte spielt also erneut auf die in Kapitel 6.1 vorgestellte Kategorisierung typischer Darstellungsmodi von Behinderung (nach Sandfort 1982b) an.

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auch Experte_13 in Form der einzigen eindeutig kritischen Bewertung dieser Anzeige an: „Da fehlt mir der Aha-Effekt und finde ich nicht gut umgesetzt – die Collage ist einfach zu offensichtlich.“ Damit verweisen beide Experten implizit auf ein grundlegendes (und im Rahmen der Vorüberlegungen durchaus ebenfalls hochrelevantes) Dilemma bei der Umsetzbarkeit einer solchen Anzeige: Wer sich auf einen Slogan wie „Mode ist für alle da“ festlegt, sollte diesem verbalen Bekenntnis zur Diversität auch auf der visuellen Ebene gerecht werden und auf ein möglichst breit gefächertes Personenspektrum zurückgreifen131. Zu beachten ist allerdings, dass eine allzu starke Ausuferung des Vielfalt-Gedanken wiederum als künstliches Zusammenwürfeln einer eigentlich recht unrealistischen Personenansammlung und im Extremfall sogar als Stigmatisierung durch die Hintertür, empfunden werden könnte. Denn wenn, so ließe sich daran anknüpfend eine nicht intendierte (also oppositionelle) Lesart des Mode-Stimulus formulieren, eine durch Diversität gekennzeichnete Gruppe als bewusster Kontrast zur Ausblendungsregel abgebildet wird, suggeriert man den betreffenden Personentypen letztlich erst recht, dass sie nach den normalerweise üblichen Selektionsmechanismen der Werbung eigentlich als Träger diskreditierender Merkmale wahrgenommen würden. In diesem Sinne könnte der Mode-Stimulus also interpretiert werden als jene sprichwörtliche Ausnahme, die letztlich nur die (Ausblendungs-)Regel bestätigt, frei nach der Lesart: Heute ist die Reihe ausnahmsweise mal an denen, die von der Werbung üblicherweise nicht beachtet werden, doch schon morgen geht es weiter im altbekannten Trott werblicher Omnipositivität. Zusammenfassend ist dennoch zu vermuten, dass die durch den ModeStimulus vermittelte Botschaft auf tendenziell recht breite Zustimmung treffen wird, da nun einmal gerade der Modesektor vielfältige Anknüpfungspunkte für die (zumindest latent) stets aktuelle Diskussion um Beschaffenheit und weitreichende Konsequenzen werblicher Schönheitsideale liefert – und dies in einem weit über die Behinderungsthematik hinausgehenden Kontext.

131 Eine alternative (für die vorliegende Untersuchung freilich nicht in Frage kommende) Umsetzungsform bestünde darin, den Slogan „Mode ist für alle da“ nicht durch ein einziges Gruppenbild zu präsentieren, sondern die unterschiedlichen Merkmalsträger auf mehrere visuelle Variationen mit jeweils nur einer oder zwei Personen zu verteilen.

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6.2.8 Parfum Diese letzte Anzeige ist in einem Café angesiedelt. Im Mittelpunkt: eine jüngere, durchaus attraktiv wirkende Frau, die, wie allerdings erst auf den zweiten Blick deutlich werden soll, im Rollstuhl sitzt. Neben ihr: ein etwa gleichaltriger Mann, der sie anlächelt. Die Protagonistin blickt den Betrachter des Plakates direkt an. Sie wirkt unnahbar; so, als sei ihr ihre (positive) Ausstrahlung einerseits bewusst, jedoch andererseits gleichgültig. Im Hintergrund tuscheln zwei weibliche Gäste miteinander. Der bewusst doppeldeutige Satz „Was hat die denn?“ (oberhalb der Abbildung) lässt zunächst vermuten, dass von der Behinderung der Protagonistin die Rede ist. Tatsächlich zielt die Antwort jedoch auf das beworbene Produkt, ein „Parfum mit der Duft-Note 1“. Dieser Slogan und ein Parfumfläschchen sind unterhalb der Darstellung abgebildet. Experte_17 bewertet diese Anzeige wie folgt: E:

„Ansprechend. Innovativ und provokativ. Nach lesen der Überschrift begibt man sich auf Fehlersuche wie bei einem Bildrätsel. Der Mann im Vordergrund und die Frau im Rollstuhl sind ästhetisch ansprechend, ideal für ein Parfum. Dieses Parfum ist sogar so gut, daß nicht einmal ein Rollstuhl ein Hindernis darstellt, um mit einen attraktiven Mann Kaffee zu trinken.“

Speziell die Passage „[...] begibt man sich auf Fehlersuche wie bei einem Bilderrätsel“ hebt bereits ein wesentliches Merkmal dieses Stimulus hervor: Die Entwicklung speziell dieser Anzeige war geleitet von der Intention, eine bewusst komplexe Interaktionssituation mit einer mehrdeutigen Werbebotschaft zu verbinden und auf diese Weise möglichst vielfältige Anknüpfungspunkte und Interpretationsansätze anzuschneiden. Während sich etwa die Mode-Anzeige wohl relativ problemlos auf den ersten Blick erschließt, erfordert die Parfum-Anzeige also zum einen eine offenbar deutlich höhere Motivation, sich aktiv mit dieser Botschaft auseinanderzusetzen, zum anderen wohl auch einen gewissen Erfahrungshorizont, um die Komplexität der Botschaft dementsprechend einzuordnen. Einen entscheidenden Dreh- und Angelpunkt aus den Vorüberlegungen greift Experte_17 zudem im zweiten Teil seiner Einschätzung auf: Der Hinweis, dass angesichts der Wirksamkeit des Parfums „nicht einmal ein Rollstuhl ein Hindernis darstellt, um mit einem attraktiven Mann Kaffee zu trinken“, spielt auf den u.a. bereits anlässlich des Blind Date-Stimulus (Kapitel 6.2.3) thematisierten Umstand an, dass Menschen mit Behinderungen aus Sicht der so genannten Normalbevölkerung oftmals immer noch als geschlechtslose bzw. asexuelle We-

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sen angesehen werden (vgl. weiterführend auch Kapitel 4.4). Diese Erkenntnis wird häufig ergänzt durch die Feststellung, dass behinderte Frauen es tendenziell noch schwerer hätten, den Idealvorstellungen der Gesellschaft gerecht zu werden und insofern noch stärker von entsprechenden Stigmatisierungstendenzen betroffen seien als behinderte Männer. „Der gesellschaftliche Wert einer Frau wird nach wie vor über ihre Anerkennung durch Männer bemessen. Frauen müssen schön sein, Kinder gebären, sie versorgen, den Haushalt im Griff haben und dürfen ein bißchen berufstätig sein. [...] Wenn 75,3% der behinderten Männer, aber nur 38,2% der behinderten Frauen verheiratet sind [...], machen diese Zahlen schon deutlich, daß es für Frauen mit Beeinträchtigungen schwieriger ist, einen Partner zu finden, und daß Männer die Eigenschaft ‚behindert‘ bei Frauen häufiger als Makel empfinden als umgekehrt.“ (Schatz 1996: 17)

Es ist vor diesem Hintergrund sicher kein Zufall, dass das bereits 1985 erstmals erschienene Werk „Geschlecht: behindert - besonderes Merkmal Frau“ (Ewinkel et al. 1985) bzw. dieser Buchtitel auch in neueren Beiträgen bisweilen immer noch als recht treffende Charakterisierung der Situation behinderter Frauen herangezogen wird (z.B. Kösbell 2010: 20f.). Die in diesem Kontext viel zitierte „doppelte Diskriminierung“ – wonach behinderte Frauen sowohl als Frau, wie auch als Behinderte diskriminiert seien – führt nach Einschätzung von Swantje Kösbell zu einer interessanten Beobachtung: „Einerseits wird behinderten Mädchen im Hinblick auf Reproduktion von Sexualität das Geschlecht abgesprochen132, andererseits ist eine verstärkte Wirkung von geschlechtsspezifischen Rollen und Normen festzustellen“ (Kösbell 2007: 33). Als Beleg für den zweiten Teil der Einschätzung verweist Kösbell auf die Bereiche Bildung und Beruf, d.h.: Realistisch gesehen stehe Frauen mit Behinderungen lediglich ein sehr begrenztes und an klassischen Geschlechterstereotypen orientiertes Spektrum an Ausbildungsmöglichkeiten offen. Im Berufsleben seien behinderte Frauen – wenn überhaupt – in Tätigkeiten mit den niedrigsten Löhnen und den ungünstigsten Aufstiegsmöglichkeiten anzutreffen.

132 Der Vollständigkeit halber ist zu ergänzen, dass sich in (u.a. auch den hier aufgeführten) Beiträgen zum Themenkomplex „Geschlecht und Behinderung“ zumeist auch der Hinweis findet, dass Frauen mit Behinderungen zugleich auch besonders häufig Opfer sexueller Gewalt seien.

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Ein weiterer Ausgangspunkt mit hohem Ambivalenzpotenzial wurde bereits in der Beschreibung der Anzeige kurz angedeutet: Der in diesem Motiv dargestellte Interaktionsrahmen – und insbesondere die doppeldeutige Frage „Was hat die denn?“ – ließe sich speziell aus Sicht Betroffener durchaus interpretieren als eine im negativen Sinne typische Alltagssituation, in der Nicht-Behinderte eine unerwünschte Mischung aus Neugier und Scham zum Ausdruck bringen. Die Protagonistin im Rollstuhl befindet sich offenbar im Mittelpunkt des Interesses. Gerade aus Betroffenensicht könnte dies allerdings die eher negativ gerahmte Assoziation des berühmt-berüchtigten Präsentiertellers wecken: So zählt das Anstarren zu jenen alltagstypischen Reaktionsmustern Nicht-Behinderter, die von Menschen mit Behinderungen als besonders unangenehm empfunden werden. Um mit Ernst Klee zu sprechen: „Nichts haßt der Behinderte mehr als dieses Spießrutenlaufen neugieriger Augenpaare, viele werden ihr Leben lang damit nicht fertig, resignieren, ziehen sich in die Stube zurück.“ (Klee 1974: 175) Auf Basis dieser und weiterer (z.T. von ihm selbst erhobenen) Einschätzungen gelangt Cloerkes sogar zu dem Schluss, dass selbst taktloses Ansprechen tendenziell „nicht ganz so verletzend sein dürfte wie Anstarren, da ja immerhin eine Kommunikationschance eröffnet wird“ (Cloerkes 1979: 143). Die beiden Frauen im Hintergrund des Bildmotivs fügen sich zunächst nahtlos in diese Überlegungen ein, da auch sie letztlich nur aus sicherer Entfernung über die Rollstuhlfahrerin tuscheln, anstatt sie direkt in die Kommunikation einzubinden. Die Wahrscheinlichkeit entsprechend kritischer Lesarten wird wohl nicht zuletzt durch die abwertende Formulierung der Fragestellung – „Was hat die (statt: ‚sie‘) denn?“ – untermauert. Aus dem Bezug zwischen dieser Frage und dem Produkt lässt sich jedoch wiederum ableiten, dass die hier dargestellten Reaktionsmuster nicht notwendigerweise als taktloses Anstarren einer Behinderten interpretiert werden müssen, sondern möglicherweise auch als Resultat der Wirkung des Parfums und somit als Ausdruck eines eher positiv gemeinten Interesses, das der Rollstuhlfahrerin in ihrer Eigenschaft als Frau entgegen gebracht wird. Damit bieten sich wiederum die vorangegangenen Ausführungen zu „Geschlecht und Behinderung“ als ergänzender Bezugsrahmen an. Mit den fließenden Grenzen zwischen negativ und positiv konnotierten Formen der Neugier im Zusammenhang mit Behinderung und Geschlecht spielte – wenn auch in deutlich provokanterer Form und mit anderer Intention (Aufklärungskampagne) – in jüngerer Vergangenheit z.B. eine von der Initiative Cap 48 geschaltete Kampagne für die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen (siehe – inkl. Abbildung – u.a. Maier 2010, Stand: 31.10.2010; Abfrage: 08.03.2012). Das Bildmotiv zeigt die mit nur einem schwarzen BH bekleidete

222 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Tanja Kiewitz. Der dazu gehörige Slogan lautet: «Regardez-moi dans les yeux... j’ai dit dans les yeux» („Schauen Sie mir in die Augen... ich sagte, in die Augen!“). Die Idee entstammt offensichtlich einem Werbeplakat, auf dem seinerzeit Eva Herzigova den Wonderbra-BH präsentierte. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Kampagnen: Tanja Kiewitz fehlt der linke Unterarm. Der Ausgangsgedanke der ursprünglichen Werbeidee ist klar: Männliche Blicke auf das Dekolleté werden von Frauen in der Regel als unerwünschte Reduktion ihrer Person auf ein bestimmtes Attribut bzw. auf die Funktion eines Sexobjekts empfunden und daher moralisch eindeutig negativ bewertet, während der Blick in die Augen („Spiegel der Seele“) als Signal für ganzheitliches Interesse und ein dementsprechendes Kommunikationsangebot aufgefasst werden kann. Die Intention des Original-Werbespots bestand offenbar darin, zunächst durch die freizügige Präsentation der Darstellerin und damit eben auch durch den Wonderbra-BH einen Vampireffekt (vgl. Weller et al. 1979)133 auszulösen und den BH dann durch die – wenn man so will: augenzwinkernde – Zurechtweisung des Betrachters erneut in den Blickpunkt zu rücken. Die Cap 48-Kampagne liefert gleich zwei Quellen für einen solchen Vampireffekt: Im Unterschied zum Originalplakat wird jedoch offenbar erwartet, dass in diesem Falle der Armstumpf die gesamte Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht und das Dekolleté wohl frühestens an zweiter Stelle, möglicherweise sogar überhaupt nicht oder erst nach Kenntnisnahme des Slogans, zur Geltung kommt. Folgt man allerdings den weiter oben angeführten Überlegungen, hätte der Blick auf das Dekolleté gegenüber dem Blick auf den Armstumpf zumindest noch den einen Vorzug, dass anstelle der Behinderung das Geschlecht als primäres Merkmal vom (zweifellos nach wie vor eindeutig erwünschten) Blick in die Augen ablenken würde und dass eine solche Blickrichtung im Zweifelsfall wohl immerhin noch als eher normalisierendes Signal interpretiert wer-

133 Wie die Bezeichnung eigentlich nahe legt, spielt der Vampireffekt darauf an, dass bestimmte – gerade auf Erotik und Sex-Appeal beruhende – Darstellungsformen in der Werbung die gesamte Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich lenken (also gewissermaßen „aufsaugen“) können. Einschlägige Diskussionen beruhen meist auf der Annahme, dass ein solcher Vampireffekt sich kontraproduktiv auf das Interesse am beworbenen Produkt bzw. auf die Erinnerbarkeit der Werbebotschaft auswirke. Diese Implikation kann im vorliegenden Beispiel wohl vernachlässigt werden, da der Vampireffekt hier offenbar ganz bewusst eingesetzt wurde bzw. in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Slogan und Produkt steht.

F IKTIVE F ALLBEISPIELE

| 223

den könnte. Offen bliebe zunächst freilich, ob solche Signale aus Sicht Betroffener auch tatsächlich als gewinnbringende Normalisierungstendenzen oder eher als Ablösung traditioneller Diskriminierungen durch neue Stigmatisierungsmechanismen zu bewerten wären. Eine Übertragung dieser Überlegungen auf die Parfum-Anzeige führt zu der Frage nach der geeigneten Kategorie dieses Stimulus. Aus der eingangs aufgeführten Beschreibung sollte die behinderungsinklusive Intention der Anzeige offensichtlich geworden sein. Doch ob sich potenzielle Rezipienten dieser beabsichtigten (also dominanten) Lesart anschließen, hängt jedoch zu einem offenbar nicht unerheblichen Teil von der Interpretation der Frage „Was hat die denn?“ ab. Die dominante Lesart sieht bekanntlich einen Bezug zum beworbenen Parfum vor. In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass die Frage entweder als ergänzendes humoristisches Indiz für eine ohnehin schon als inklusiv empfundene Darstellung empfunden wird, zumindest aber keinen Anlass liefert, den positiven Gesamteindruck in Frage zu stellen. Die Einschätzungen von Experte_11 und Experte_13 lassen sich offensichtlich dieser Position zuordnen, wobei die Formulierung „Was hat die denn?“ in beiden Fällen (zumindest nicht explizit) erwähnt wird:134 Experte_11: Koppelt witzig Produkt mit Normalisierung135. Eher alltagsnahe Repräsentationsweise von Behinderung. Hebt traditionelle geschlechtliche Identitäten in Verbindung mit Behinderung hervor. Verbindet sozialen Status mit Produkt (sekundärer Gebrauchswert). Experte_13: finde ich witzig - spielt positiv mit Ironie

Andererseits kann die Frage „Was hat die denn?“ gerade auch angesichts ihres Untertons bekanntermaßen als stigmatisierend (und insofern eher kontrastierend als inklusiv) empfunden werden und somit entweder den zentralen Anlass für eine negative Gesamtbeurteilung der Anzeige darstellen oder zumindest eine an-

134 Auch Experte_7 bewertet die Anzeige – allerdings ohne weitere Erläuterungen – als „vollkommen okay“, folglich ist auch seine Einschätzung als wohlwollend zu charakterisieren. 135 Der Experte beruft sich hierbei auf die Ausführungen Jürgen Links zum flexiblen Normalismus (vgl. u.a. Link 2006: 51ff.).

224 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

sonsten positive Bewertung relativieren. Das Urteil von Experte_9 entspricht dieser zuletzt genannten Variante: E:

Die Überschrift ist zu abgedroschen und im Empfinden eines Behinderten vielleicht auch diskriminierend. Sie sollte eher positiv formuliert sein. Das Bild wirkt ansonsten harmonisch.

Auch Experte_16 betont zunächst: „Slogan ist für mich negativ belegt“ und ergänzt: „Hätte eher an Kaffee-Werbung gedacht“. Damit spielt sie auf einen Kritikpunkt an, der in vergleichbarer Form auch von den übrigen Experten thematisiert wurde: die aus Sicht dieser Befragten unklare Verbindung zwischen Botschaft und Produkt. •





Experte_5 meint: „Die Gesichter sehen sehr künstlich aus. Die Überschrift ist mehrdeutig. Ist der Mann beleidigt? Fällt ihm der Rollstuhl oder das Parfüm auf?“ Experte_8 meint: „Bei der Frage ‚Was hat die denn?‘ [denkt man eher an] einen Kaffee oder Rollstuhl, die Verbindung zum Parfum ist nicht nachvollziehbar.“ Sehr knapp fällt die Einschätzung von Experte_14 aus: „Unklare Aussage“.

Tendenziell darf bei Personen, die zur Teilnahme an einer Expertenbefragung eingewilligt haben, ein deutlich höheres Interesse an dieser Anzeige und wahrscheinlich auch eine merklich längere Zuwendungszeit vorausgesetzt werden als bei Personen, die ein solches Plakat in einer Alltagssituation rein zufällig entdecken würden. Wenn also selbst ein beträchtlicher Teil der hier konsultierten Experten den Zusammenhang zwischen Slogan und Parfum als nicht oder allenfalls bedingt nachvollziehbar einstuft, ist dies auch unabhängig von der Frage nach der Repräsentativität eines solchen Stimmungsbildes als nicht gerade ermutigende Erfolgsprognose für eine solche Werbeidee zu bewerten, zumindest, soweit es kurzfristige Wirkungen betrifft. Angesichts der Komplexität dieses Stimulus wäre es jedoch speziell in diesem Falle durchaus interessant, zu erfahren, inwieweit ein gewisser zeitlicher Abstand oder wiederholte Kontakte mit dieser Anzeige dazu beitragen könnten, diese auf den ersten Blick möglicherweise nur schwer zugängliche Interaktionssituation nach und nach doch noch zu entschlüsseln und inwieweit dies wiederum dazu führen könnte, dass die betreffenden Rezipienten ein anfänglich möglicherweise negatives Urteil zu einem späteren Zeitpunkt revidieren. Da sich die vorliegende Studie bekanntlich auf unmittelbare Akzep-

F IKTIVE F ALLBEISPIELE

| 225

tanzbekundungen beschränken muss, kann zumindest die letztgenannte Frage leider nicht abschließend beantwortet werden.

6.3 Z USAMMENFASSENDE K ERNGEDANKEN DEN A NZEIGEN

ZU

Der Umstand, dass die erst nach der Online-Befragung (also folglich auch nach der Entwicklung der Stimuli) erhobenen Expertenmeinungen bisweilen durchaus wertvolle ergänzende und vertiefende Gesichtspunkte zur Einordnung der fiktiven Fallbeispiele lieferten, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Teil der zweiten Expertenbefragungswelle vorwiegend einer ersten Gegenprüfung der Plausibilität der – selbstverständlich bereits vor der Konzeption der Stimuli abgeschlossenen – Vorüberlegungen zu den einzelnen Anzeigen diente. Die zentralen Kernannahmen zu den Anzeigen lassen sich noch einmal wie folgt zusammenfassen: •





Der Stimulus Ausgeträumt war geleitet von dem Vorhaben, einen mit klassischen und vielfach kritisierten Mitleidsbildern gespickten Negativanker zu konzipieren, der eigentlich nicht „gefallen“ kann, dessen Grundton jedoch aus zahlreichen Präzedenzfällen bekannt sein dürfte. Der Energy Drink-Stimulus ist gewissermaßen als Gegenpol zu Ausgeträumt angelegt: Hier geht es um die fließenden Grenzen zwischen wünschenswert fähigkeitsorientierten und kontraproduktiv heroisierenden Darstellungen bzw. um die mitunter nur schwere Vereinbarkeit der Betroffenensicht mit den Erwartungshaltungen so genannter nicht behinderter Rezipienten (und damit implizit auch der Sichtweise Werbender). Der gemäß L4 (vgl. Kapitel 4.6) ohnehin zentrale Vergleich zwischen den Beurteilungen von Befragten mit vs. ohne Behinderungen scheint hier also in besonderem Maße interessant. Diese letzte Bemerkung gilt auch für den Parfum-Stimulus: Das Ziel bestand hier in der Schaffung einer (bewusst) komplexen und mehrdeutigen Interaktionssituation, zu der Menschen mit Behinderungen auf Grund eigener Erfahrungen einen wahrscheinlich völlig anderen Zugang haben als Menschen ohne einschlägigen Erfahrungshorizont. Als interessanter Ausgangspunkt für weiterführende Bewertungen ist hierbei die Doppeldeutigkeit des – eigent-

226 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG





lich als inklusiv encodierten, möglicherweise jedoch als kontrastierend decodierten – Slogans „Was hat die denn?“ zu vermuten. Ebenso wie bei Parfum wird auch In den Anzeigen Auto, Blind Date und Flatrate die Behinderungsthematik mit einem Wortspiel verknüpft. Spätestens unter Mitberücksichtigung der jeweiligen Kategorisierung wird deutlich, dass in allen drei Fällen ein mehr oder weniger hohes Provokationspotenzial zu konstatieren ist: Bei Flatrate dominiert – im Wesentlichen auch auf Grund des Wortspiels – eine behinderungskontrastierende Tonalität. Auch der Blind Date-Stimulus enthält kontrastierende Elemente, die jedoch nicht (bzw. zumindest nicht ausschließlich) vom eigentlichen Wortspiel herrühren. Die Gesamteinordnung fällt somit im Vergleich zum Flatrate-Stimulus deutlich moderater (am ehesten: verhandelnd mit kontrastierenden Elementen) aus, insofern darf im direkten Vergleich wohl mit einer tendenziell günstigeren Bewertung des Blind Date-Stimulus gerechnet werden. Als behinderungsdissonante Werbung (vgl. hierzu die Überlegungen in Kapitel 3.2.2) könnte Auto zwar durchaus für positive Überraschungen gut sein; wahrscheinlicher scheint jedoch, dass die Einbindung von Humor gerade bei diesem Werbetypus als geschmackloser Scherz auf Kosten von Menschen mit der dargestellten Behinderung aufgefasst wird. Die Stimuli Mode und Einrichtung verbinden einen relativ nüchternen Slogan mit einem positiven Zielgruppenbezug (Einrichtung: am ehesten verhandelnd, Mode: inklusiv). Somit bieten zwar beide Anzeigen – speziell im direkten Vergleich mit den zuvor diskutierten Stimuli Auto, Blind Date, Flatrate – keine erkennbaren Angriffsflächen für Provokationen. Die jeweils recht konventionelle Machart birgt jedoch die Gefahr, dass gerade diese Anzeigen (wiederum speziell im Vergleich mit den zuvor genannten, eher frech gestalteten, Beispielen) als eine Nuance zu unauffällig, zu langweilig bzw. als nicht sonderlich originell eingestuft werden könnten.

Zusammenfassend zeigen die Ausführungen in den vorangegangenen Kapiteln, dass sich konkrete Vorhersagen, inwieweit diese oder jene Anzeige voraussichtlich auf breite oder weniger breite Zustimmung trifft, als schwierig erweisen. In diesem Sinne darf man also gespannt sein, welche Überraschungen die im Rahmen der Online-Befragung erhobenen Anzeigenbewertungen bereithalten.

7 Die Bewertung der fiktiven Werbeanzeigen im Rahmen der Online-Befragung

7.1 S TICHPROBE

UND

AUSWAHLVERFAHREN

Wie in den vorangegangenen Abschnitten erläutert, bestand das Hauptziel der Online-Befragung darin, auf möglichst breiter Basis das Meinungsspektrum zur vorliegenden Thematik zu erfassen – und dies u.a. unter Bezugnahme auf konkrete (bzw. letztlich: fiktive) Fallbeispiele. Der Gesamtfragebogen wurde im Zeitraum vom 01.07. bis 22.08.2010 von insgesamt 567 Personen ausgefüllt136. Die Stichprobenauswahl basiert auf einer Mischung aus Klumpen- und Schneeballverfahren, d.h.: Die Kontaktaufnahme erfolgte zur Rekrutierung von Menschen mit Behinderungen sowie von Personen, die – in Anlehnung an L4 (vgl. Kapitel 4.6) – z.B. als Familienangehörige etc. indirekt mit dem Phänomen Behinderung konfrontiert werden137, über bewusst ausgewählte und möglichst hoch frequentierte themenspezifische Internetangebote. Als „Gegengewicht“ – also zur Rekrutierung von Befragten, bei denen eine wie auch immer geartete Betroffenheit keineswegs vorausgesetzt werden darf – wurde als Startpunkt auf soziale Netzwerke etc. ohne spezifischen Themenbezug zurückgegriffen. Die zur Teilnahme bereiten Personen wurden gebeten, den Fragebogen (bzw. den Link) auch

136 Allerdings wurden nur die wenigsten Fragen auch von allen 567 Personen beantwortet. 137 An dieser Stelle sei jedoch erneut daran erinnert, dass – vorwiegend auf Grund der letztlich zur Verfügung stehenden Fallzahl – von einer differenzierten (nach verschiedenen Kontaktquantitäten und -qualitäten getrennten) Auswertung des Konstruktes „Erfahrungshorizont“ abgesehen wurde.

228 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

an Freunde und Bekannte weiterzuleiten. Dieses Vorgehen war notwendig, da Menschen mit Behinderungen zu den mittels gängiger Verfahren nur schwer rekrutierbaren Populationen zählen, jedoch im Hinblick auf die angestrebte Gegenüberstellung der Einschätzungen von Befragten mit und Befragten ohne Behinderung insbesondere auch eine hinreichende Fallzahl von Menschen mit Behinderungen garantiert werden musste. Da immerhin 213 Teilnehmer (37,6% der Gesamtzahl) angaben, sie seien selbst behindert, darf diese Zielsetzung als erfüllt betrachtet werden. Zu beachten ist allerdings, dass ein solches Auswahlverfahren fast unausweichlich einhergeht mit Stichprobenverzerrungen auf anderer Ebene. Diese sind zwar im Hinblick auf die Einordnung der Befunde durchaus zu berücksichtigen, müssen jedoch zugunsten der soeben skizzierten Notwendigkeit (ausreichende Fallzahl von Befragten mit Behinderungen) schlicht in Kauf genommen werden. Die Verteilung der Variablen Geschlecht, Alter und Bildung – Gesamt sowie getrennt nach Menschen mit Behinderungen (im Folgenden auch: MmB) und Menschen ohne Behinderungen (im Folgenden auch: MoB) – lässt sich aus den im Anschluss aufgeführten Tabellen ersehen138. Tabelle 8: Geschlecht Geschlecht

MmB

MoB

Gesamt

Männlich

40,8% (87)

30,8% (109)

34,6% (196)

Weiblich

59,2% (126)

69,2% (245)

65,4% (371)

213

354

567

Gesamt (n)

138 Die Auswertung erfolgte mit Hilfe von SPSS für Windows unter Verwendung einschlägiger Fachliteratur (z.B. Backhaus et al. 2011; Brosius 2011; Bühl 2008).

A NZEIGENBEWERTUNG

| 229

Tabelle 9: Altersklassen (sechs Kategorien) Altersklassen

MmB

MoB

Gesamt

18 bis 29

10,0% (21)

54,2% (192)

37,7% (213)

30 bis 39

14,7% (31)

15,3% (54)

15,0% (85)

40 bis 49

39,3% (83)

12,7% (45)

22,7% (128)

50 bis 59

24,6% (52)

10,7% (38)

15,9% (90)

60 und älter

11,4% (24)

7,1% (25)

8,7% (49)

211

354

565

Gesamt (n)

Tabelle 10: Bildung höchster Bildungsstand

MmB

MoB

Gesamt

Fachhochschulreife/Abitur

62,5% (133)

87,3% (309)

77,9% (442)

Mittlere Reife

25,4% (54)

9,0% (32)

15,2% (86)

Hauptschulabschluss

12,2% (26)

2,5% (9)

6,2% (35)

0

1,1% (4)

0,7% (4)

213

354

567

kein Abschluss Gesamt

230 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Für die weiterführenden Auswertungsschritte ist demnach zunächst festzuhalten: •





Zwei Drittel der Befragten sind weiblich, wobei das Verhältnis bei den Befragten mit Behinderung etwa 60:40, bei den Befragten ohne Behinderung dagegen 70:30 zugunsten der weiblichen Teilnehmer beträgt (vgl. Tabelle 8). Aus Tabelle 9 geht hervor, dass mehr als die Hälfte der nicht behinderten Befragten in die Altersklasse der 18- bis 29jährigen fallen, jedoch gerade mal 10% der Befragten mit Behinderungen (die in der Kategorie der 40- bis 49jährigen mit 39,3% am stärksten vertreten sind). Eine getrennte Analyse zwischen MmB und MoB ist also in den niedrigen Altersklassen problematisch. Anzumerken ist allerdings, dass die hier aufgeführte Altersverteilung der Befragten auch in ähnlicher Form zu erwarten war: So ist einerseits in höheren Altersklassen auch tendenziell ein (deutlich) höherer Anteil von Menschen mit Behinderungen als in niedrigen Altersklassen zu konstatieren – nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren im Jahre 2007 rund zwei Drittel der schwerbehinderten Menschen in Deutschland 60 Jahre und älter; lediglich rund 4% entfielen in die Altersklasse 18 bis 35 (vgl. ausführlich: Pfaff 2010). Andererseits erklärt sich der dennoch (und nicht nur bei MmB) relativ geringe Anteil der über 60-Jährigen wohl durch den Umstand, dass gerade diese Altersgruppe – zumindest noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt – nach wie vor verhältnismäßig schwer online erreichbar ist. Gemäß der ARD/ZDF-Offliner-Studie aus dem Jahre 2009 – vor Beginn der Feldphase die aktuellste verfügbare Datenbasis139 – waren nach wie vor knapp drei Viertel (72,9%) der Offliner 60 Jahre und älter bzw. bestand die Gesamtheit aller Nicht-Nutzer zu fast exakt zwei Dritteln (66,2%) aus über 60-Jährigen (vgl. ausführlich Gerhards/Mende 2009). Aus Tabelle 9 wird ferner ersichtlich, dass sich für weiterführende Analysen eine Reduktion von sechs auf drei Altersklassen (18 bis 29, 30 bis 49, 50 und älter) empfiehlt. Rund drei Viertel der Befragten verfügen über Allgemeine bzw. Fachhochschulreife (vgl. Tabelle 10). Aus diesem Grund wird von differenzierten Betrachtungen der Bildungsvariablen abgesehen.

139 Anzumerken ist hierbei, dass die “Offliner” in den ARD/ZDF-Online-Studien der Jahrgänge 2010 und 2011 nicht mehr in Form eines eigenen Beitrages thematisiert wurden.

A NZEIGENBEWERTUNG

7.2 W ERBEANZEIGEN UND R EZIPIENTENURTEILE – G EMEINSAMKEITEN ALS U NTERSCHIEDE ?

| 231

MEHR

„Sie sehen im Folgenden acht Werbeanzeigen, die bislang noch nicht veröffentlicht wurden. Uns interessiert, wie Sie diese Werbeideen beurteilen. Ihre persönliche Meinung ist uns daher wichtig [...]. Anm.: Da die Werbeanzeigen noch nicht offiziell existieren, wurden die Produktnamen mit einem Schwarzbalken versehen.“

Im Anschluss an diese Beschreibung wurden die acht Stimuli140 in zufälliger Reihenfolge und im Zusammenhang mit den folgenden beiden Fragen 141 präsentiert: • •

Wie gefällt Ihnen persönlich diese Werbeanzeige? (Gefallen) Können Sie sich vorstellen, dass diese Anzeige einmal geschaltet wird? (Realismus)

Die Bewertungen wurden auf Basis einer 5-poligen Likert-Skala (1 = „gefällt mir sehr gut“ bzw. „kann ich mir sehr gut vorstellen“) erhoben. Die Einstufung der Stimuli als noch (!) nicht existierende, also vermeintlich real geplante, Anzeigen war wichtig, da im Falle einer Kenntnis des fiktiven Charakters der Anzeigen seitens der Teilnehmer negative Folgen für die Aussagekraft der Befragung zu vermuten wären. Für die Auswertung ergeben sich zunächst die folgenden Leitfragen: • •



Existieren Anzeigen, die insgesamt besonders positiv oder besonders negativ bewertet werden? Existieren Anzeigen, die von Menschen mit Behinderungen tendenziell besonders positiv und zugleich von Menschen ohne Behinderungen tendenziell besonders negativ – bzw. vice versa – bewertet werden? Existieren Anzeigen, deren Umsetzung seitens der Befragten zwar als wünschenswert (Gefallen), aber wenig wahrscheinlich (Realismus) – bzw. vice versa – eingestuft wird?

140 Die Stimuli kamen auch in weiteren Befragungsteilen zum Einsatz. Allerdings wurden bei diesen Gelegenheiten nicht mehr sämtliche acht, sondern vier jeweils zufällig ausgewählte Anzeigen präsentiert. 141 Der komplette Fragebogen befindet sich im Anhang.

232 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Wie wurden die fiktiven Werbeanzeigen also nun insgesamt bewertet? Bei absteigender Sortierung der Anzeigen nach dem prozentualen Anteil positiver Bewertungen („1“ oder „2“ auf der jeweiligen Likert-Skala) ergibt sich das in Tabelle 11 (Gefallen) und Tabelle 12 (Realismus) aufgeführte Bild. Tabelle 11: Gesamtauswertung: Gefallen Anzeige

Positiv (in %)

Häufigkeit

Mittelwert

Streuung

Einrichtung

69,5

560

2,18

1,10

Energy Drink

66,1

560

2,27

1,22

Mode

57,1

559

2,47

1,28

Blind Date

42,5

557

3,00

1,43

Parfum

35,9

560

3,13

1,37

Flatrate

29,6

561

3,34

1,34

Ausgeträumt

26,7

561

3,40

1,26

Auto

18,6

560

3,79

1,25

Tabelle 12: Gesamtauswertung: Realismus Anzeige

Positiv (in %)

Häufigkeit

Mittelwert

Streuung

Einrichtung

70,6

557

2,13

1,16

Energy Drink

68,7

556

2,17

1,17

Mode

56,8

558

2,50

1,30

Ausgeträumt

48,8

561

2,77

1,36

Blind Date

42,4

556

2,96

1,38

Flatrate

38,8

556

3,06

1,35

Parfum

33,6

559

3,23

1,38

Auto

20,8

557

3,68

1,26

A NZEIGENBEWERTUNG

| 233

Eine gemeinsame Betrachtung beider Tabellen zeigt in erster Linie einen augenfälligen Unterschied auf: Der Stimulus Ausgeträumt erzielt in der Gefallen-Frage nur 26,7% Zustimmung (Platz 7), in der Realismus-Frage dagegen 48,8% (Platz 4). Auf Grundlage der bisherigen Erkenntnisse war diese Diskrepanz allerdings zu erwarten (vgl. auch Kapitel 6.2.1 & 6.3): Die Anzeige erinnert NichtBehinderte an ihre latenten Ängste, selbst einmal betroffen zu sein. Zugleich ist aus Sicht Betroffener das hier vermittelte Bild des bedauernswerten und hilflosen Menschen mit Behinderung wohl als höchst stigmatisierend zu bewerten. Da Ausgeträumt jedoch als Prototyp behinderungskontrastierender Werbung eingestuft werden kann, ist der Grundtenor dieser fiktiven Anzeige prinzipiell auch aus realen Fallbeispielen bekannt (vgl. ausführlich Kapitel 3.2.2). Es überrascht folglich kaum, wenn der Stimulus Ausgeträumt zwar auf eine tendenziell negative Resonanz trifft, jedoch die Umsetzung einer solchen Kampagne als sehr wohl vorstellbar eingestuft wird. Abgesehen von dieser Diskrepanz und den damit unausweichlich einhergehenden Rangverschiebungen ergibt sich lediglich ein weiterer geringfügiger Unterschied: In Tabelle 11 liegt Parfum unmittelbar vor Flatrate, in Tabelle 12 direkt dahinter. Auf Basis dieses Stimmungsbildes lassen sich die acht Anzeigen also zunächst in vier Gruppen einteilen: • • • •

Spitzengruppe: Energy Drink, Einrichtung, Mode Mittelfeld: Blind Date, Flatrate, Parfum Schlusslicht: Auto Ausreißer: Ausgeträumt

Tabelle 13 und Tabelle 14 (S. 234 dieser Arbeit) zeigen, dass sich diese Kategorien auch dann ergeben, wenn die Fragen Gefallen und Realismus – analog zu den Kriterien der in Tabelle 11 und Tabelle 12 wiedergegebenen Gesamtbetrachtung – getrennt nach den Teilnehmern mit bzw. ohne Behinderung ausgewertet werden. Abgesehen von der bekannten Ausnahme Ausgeträumt, die in Tabelle 13 (Gefallen) jeweils hinter, in Tabelle 14 (Realismus) jeweils vor dem Mittelfeld platziert ist, ergeben sich Rangverschiebungen lediglich innerhalb der Gruppen: So liegt z.B. der Stimulus Mode in Tabelle 13 bei Menschen mit Behinderungen auf Platz 1 und erzielt auch in Tabelle 14 von Menschen mit Behinderungen deutlich höhere Zustimmung als von Menschen ohne Behinderungen. Dennoch ist die Anzeige in allen Fällen in der Spitzengruppe vertreten, wenngleich bei Menschen ohne Behinderung der Rückstand auf den nächsthöheren Rang jeweils deutlich größer ist als der (speziell in Tabelle 14 sehr knappe) Vorsprung auf die nächstniedrigere Kategorie.

234 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Tabelle 13: Gefallen: Vergleich zwischen Gesamtbetrachtung, Menschen mit Behinderungen (MmB) und Menschen ohne Behinderungen (MoB) Gesamt Anzeige

MmB positiv (in %)

Anzeige

MoB positiv (in %)

Anzeige

positiv (in %)

Einrichtung Energy Drink

69,5 66,1

Mode Einrichtung

73,3 72,5

Einrichtung Energy Drink

67,6 64,5

Mode Blind Date

57,1 42,5

Energy Drink Parfum

68,7 48,8

Mode Blind Date

47,3 40,6

Parfum Flatrate

35,9 29,6

Blind Date Flatrate

45,7 39,3

Parfum Flatrate

28,1 23,7

Ausgeträumt Auto

26,7 18,6

Ausgeträumt Auto

34,1 23,7

Ausgeträumt Auto

22,3 15,5

Tabelle 14: Realismus: Vergleich zwischen Gesamtbetrachtung, Menschen mit Behinderungen (MmB) und Menschen ohne Behinderungen (MoB)

Gesamt Anzeige positiv (in %) Einrichtung 70,6 Energy 68,7 Drink Mode 56,8 Ausgeträumt 48,8 Blind Date 42,4 Flatrate 38,8 Parfum 33,6 Auto 20,8

MmB Anzeige

MoB

Einrichtung Energy Drink

positiv (in %) 69,1 66,0

Anzeige Einrichtung Energy Drink

positiv (in %) 71,4 70,3

Mode Ausgeträumt Parfum Blind Date Flatrate Auto

65,2 48,3 44,3 44,2 39,0 21,5

Mode Ausgeträumt Blind Date Flatrate Parfum Auto

51,7 49,1 41,4 38,7 27,2 20,4

Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei der Anzeige Parfum: Der Anteil positiver Bewertungen ist bei Menschen mit Behinderungen deutlich höher als bei Menschen ohne Behinderungen; Rangverschiebungen beschränken sich allerdings auf die Reihenfolge innerhalb des Mittelfeldes. Inwieweit bestätigt sich das hier skizzierte Stimmungsbild, wenn beide Fragestellungen (Gefallen und Realismus) getrennt nach Geschlecht ausgewertet werden?

A NZEIGENBEWERTUNG

| 235

Die entsprechenden und im Anschluss näher analysierten Befunde sind in Tabelle 15 bis einschließlich Tabelle 20 aufgeführt. Tabelle 15: Auswertung Gesamt: Gefallen nach Geschlecht Stimulus Einrichtung Energy Drink Mode Blind Date Parfum Ausgeträumt Flatrate Auto

männlich (positiv in %) 61,7 56,5 51,0 43,5 31,6 24,4 23,3 19,2

Stimulus Einrichtung Energy Drink Mode Blind Date Parfum Flatrate Ausgeträumt Auto

weiblich (positiv in %) 73,6 71,1 60,2 42,1 38,1 32,9 28,0 18,3

Tabelle 16: Auswertung MmB: Gefallen nach Geschlecht Stimulus Mode Einrichtung Energy Drink Blind Date Parfum Ausgeträumt Flatrate Auto

männlich (positiv in %) 72,1 64,0 62,8 45,9 39,5 34,9 32,6 20,9

Stimulus Einrichtung Mode Energy Drink Parfum Blind Date Flatrate Ausgeträumt Auto

weiblich (positiv in %) 78,4 74,2 72,8 55,2 45,6 44,0 33,6 25,6

236 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Tabelle 17: Auswertung MoB: Gefallen nach Geschlecht Stimulus Einrichtung Energy Drink Blind Date Mode Parfum Auto Flatrate Ausgeträumt

männlich (positiv in %) 59,8 51,4 41,5 34,0 25,2 17,8 15,9 15,9

Stimulus Einrichtung Energy Drink Mode Blind Date Parfum Flatrate Ausgeträumt Auto

weiblich (positiv in %) 71,1 70,2 53,1 40,2 29,3 27,2 25,1 14,5

Tabelle 18: Auswertung Gesamt: Realismus nach Geschlecht Stimulus Einrichtung Energy Drink Mode Ausgeträumt Blind Date Flatrate Parfum Auto

männlich (positiv in %) 67,5 64,1 50,8 43,0 41,9 38,5 36,3 20,3

Stimulus Einrichtung Energy Drink Mode Ausgeträumt Blind Date Flatrate Parfum Auto

weiblich (positiv in %) 72,1 71,2 59,9 51,9 42,7 39,0 32,2 21,1

A NZEIGENBEWERTUNG

| 237

Tabelle 19: Auswertung MmB: Realismus nach Geschlecht Stimulus Einrichtung Mode Energy Drink Blind Date Ausgeträumt Parfum Flatrate Auto

männlich (positiv in %) 64,3 60,0 58,8 47,6 40,7 40,7 37,2 20,0

Stimulus Einrichtung Energy Drink Mode Ausgeträumt Parfum Blind Date Flatrate Auto

weiblich (positiv in %) 72,4 71,0 68,8 53,6 46,8 41,9 40,3 22,6

Tabelle 20: Auswertung MoB: Realismus nach Geschlecht Stimulus Einrichtung Energy Drink Ausgeträumt Mode Flatrate Blind Date Parfum Auto

männlich (positiv in %) 70,1 68,2 44,9 43,4 39,6 37,4 32,7 20,6

Stimulus Einrichtung Energy Drink Mode Ausgeträumt Blind Date Flatrate Parfum Auto

Weiblich (positiv in %) 72,0 71,3 55,4 51,0 43,2 38,3 24,8 20,3

Auch im Falle einer geschlechtsspezifischen Betrachtung ergeben sich kaum Abweichungen zu dem bereits hinreichend bekannten Stimmungsbild; lediglich in der Teilgruppe männlich/ohne Behinderungen finden sich einige wenige Ausnahmen. Die auffälligste betrifft den Stimulus Mode, der in Tabelle 17 und Tabelle 20 bei den männlichen Befragten nicht mehr in der Spitzengruppe, sondern nur noch auf Platz 4 rangiert. Jedoch erzielten nicht etwa die in diesen Fällen auf Platz 3 liegenden Anzeigen Blind Date (vgl. Tabelle 17) und Ausgeträumt (Tabelle 20) eine nennenswert höhere Zustimmung zur jeweils relevanten Dimension Gefallen (Blind Date) bzw. Realismus (Ausgeträumt), sondern der Stimulus Mode eine deutlich niedrigere. Als wesentliche Erklärungsansätze bieten

238 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

sich die folgenden (in Grundzügen meist aus früheren Kapiteln bekannten) Vermutungen an: •





Die Produktkategorie Mode bzw. damit verbundene Werbung stößt, wie z.B. in Kapitel 6.1 schon angedeutet, bei Frauen wohl auf prinzipiell mehr Anklang und mehr Aufmerksamkeit als bei Männern. Die Diskussion um Schönheitsideale in der Werbung zielt traditionell vorwiegend auf weibliche Schönheitsideale bzw. Frauenbilder. Eine Ausweitung der Debatte auch auf „Männlichkeit“ bzw. „Mannsbilder“ ist in jüngerer Vergangenheit zwar erkennbar142; gleichwohl darf bei Frauen eine tendenziell höhere kognitive Verfügbarkeit dieser Thematik vermutet werden – und infolgedessen auch ein höheres Zustimmungspotenzial zu einem Slogan wie „Mode ist für alle da.“ Hinzu kommt der aus den vorangegangenen Tabellen bekannte Umstand, dass der Stimulus Mode bei MmB deutlich höhere Zustimmungswerte erzielte als bei MoB. Dies ist in Anbetracht des als sehr weit angenommenen Wirkungskreises eines Slogans wie „Mode ist für alle da“ zwar etwas überraschend, legt jedoch – analog zum zuvor aufgeführten Erklärungsansatz – nahe, dass die Debatte um Schönheitsideale in der Werbung bei Menschen mit Behinderungen offenbar stärker kognitiv verfügbar ist als bei Menschen ohne Behinderungen.

Als weiterer Unterschied ist zu ergänzen, dass der Stimulus Auto – ebenfalls bei den männlichen Befragten ohne Behinderung (vgl. Tabelle 17) – ausnahmsweise nicht auf dem letzten, sondern auf dem sechsten Platz liegt, da die Anzeigen Flatrate und Ausgeträumt in Tabelle 17 ein deutlich niedrigeres Maß an Zustimmung erfahren als in Tabelle 16. Überhaupt vermitteln die hier aufgeführten Tabellen (wie auch vorab zu vermuten war) den Eindruck, dass bei den Befragten mit Behinderungen eine deutliche Tendenz zu positiveren Bewertungen als bei Befragten ohne Behinderungen vorliegt. Präzise formuliert liegt zumindest in der Dimension Gefallen der Anteil positiver Anzeigenbewertungen bei Menschen mit Behinderungen ausnahmslos höher als in den jeweils relevanten Vergleichgruppen von Menschen ohne Behinderungen, im Falle der RealismusFrage ist aus den Tabellen zumindest die eine oder andere Ausnahme zu ent-

142 Zu nennen wären hier beispielsweise das Forschungsprojekt „Männlich und weiblich im Spiegel der Werbung“ (vgl. hierzu Jäckel et al. 2009).

A NZEIGENBEWERTUNG

| 239

nehmen. Zum Abschluss werden in den beiden folgenden Tabellen die Anteile positiver Bewertungen innerhalb der jeweiligen Altersklassen aufgeführt; zu Übersichtszwecken werden die ursprünglich sechs Altersklassen auf drei reduziert: Tabelle 21: Gefallen nach Altersklassen (in %) Stimulus

18-29

Stimulus

30-49

Stimulus

Energy Drink Einrichtung Mode Blind Date Flatrate Parfum Ausgeträumt Auto

67,6 65,7 45,1 39,6 31,0 26,4 24,9 19,3

Einrichtung Energy Drink Mode Blind Date Parfum Flatrate Ausgeträumt Auto

68,2 66,4 61,7 50,2 42,2 36,0 29,9 22,7

Einrichtung Mode Energy Drink Parfum Blind Date Ausgeträumt Flatrate Auto

50 & mehr 78,4 68,9 64,2 41,5 35,8 25,2 17,8 11,1

Tabelle 22: Realismus nach Altersklassen (in %) Stimulus

18-29

Stimulus

30-49

Stimulus

Energy Drink Einrichtung Ausgeträumt Mode Flatrate Blind Date Parfum Auto

71,7 70,9 49,3 47,4 44,5 40,1 24,5 24,2

Energy Drink Einrichtung Mode Ausgeträumt Blind Date Flatrate Parfum Auto

68,6 67,3 60,8 50,2 46,7 40,0 36,2 20,5

Einrichtung Mode Energy Drink Ausgeträumt Parfum Blind Date Flatrate Auto

50 & mehr 76,1 66,4 65,2 46,7 44,4 40,2 28,6 16,4

240 | W ERBUNG MIT B EHINDERUNG

Auch hier spiegelt sich in nahezu allen Fällen die obige Gruppenbildung (Spitzengruppe, Mittelfeld, Ausreißer, Schlusslicht) wider. Lediglich die Anzeige Ausgeträumt liegt in Tabelle 22 bei den 18- bis 29jährigen Befragten auf Platz 3 und verdrängt den Stimulus Mode aus der Spitzengruppe. Da die betreffende Altersklasse zu 90% aus Menschen ohne Behinderungen besteht und sich Tabelle 22 auf die Realismus-Dimension bezieht, ist den bereits bekannten Erklärungsansätzen (zu Ausgeträumt und Mode) an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Insgesamt erweist sich das aus den Anzeigenbewertungen resultierende Stimmungsbild in den jeweiligen Teilgruppen als relativ – und bezogen auf die Vorannahmen doch überraschend – homogen. Zugleich wird jedoch deutlich, dass der Anteil positiver Bewertungen zumindest, was die Dimension Gefallen betrifft, bei Befragten mit Behinderungen zum Teil doch deutlich höher liegt als bei den Befragten ohne Behinderung. Doch wie hoch ist der gemäß L4 unterstellte Einfluss des dichotomisierten Konstruktes Erfahrungshorizont tatsächlich anzusiedeln? Zur Beantwortung dieser Frage wurden für die einzelnen Stimuli zunächst Chi-Quadrat-Tests durchgeführt (siehe Spalte „Sign.“ in den folgenden Tabellen) und im Anschluss daran die jeweiligen Eta-Koeffizienten für das anhand der Ausprägungen MmB und MoB dichotomisierte Konstrukt Erfahrungshorizont als unabhängige sowie die zu den einzelnen Stimuli gehörenden Dimensionen Gefallen bzw. Realismus als abhängige Variable errechnet. Die Ergebnisse dieser Analysen – und der zu Kontrollzwecken ebenfalls durchgeführten analogen Analysen für Alter und Geschlecht (anstelle von MmB/MoB) – werden in den nachfolgenden Tabellen aufgeführt143.

143 Wie bereits erwähnt, wurden zu Geschlecht und Alter keine konkreten Hypothesen aufgestellt. Die Überlegungen beschränken sich primär auf die bereits bekannte (und letztlich auch ohne großen Reflexionsbedarf abzuleitende) Vermutung, dass bei der grundsätzlichen Affinität zu bestimmten Produktkategorien geschlechts- und altersbedingte Unterschiede in Betracht zu ziehen sind. Im Falle der Altersvariablen ist möglicherweise noch zu ergänzen, dass lediglich eine einzige Anzeige – nämlich Mode – explizit (auch) höhere Altersklassen deutlich erkennbar abbildet. Dieser Umstand könnte folgerichtig dazu führen, dass sich ältere Befragungsteilnehmer generell weniger von den hier eingesetzten Fallbeispielen angesprochen fühlen als jüngere.

A NZEIGENBEWERTUNG

| 241

Tabelle 23: Einfluss des Erfahrungshorizontes (dichotomisiert in MmB/MoB), Alter und Geschlecht auf die Dimension Gefallen MmB/MoB Stimulus

Sign.

Eta144

(²-Test)

Ausgeträumt Auto Blind Date Einrichtung Energy Drink Flatrate Mode Parfum

0,001 0,002 0,053 0,203 0,524 0,002