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German Pages 258 Year 2014
Elsbeth Bösl, Anne Klein, Anne Waldschmidt (Hg.) Disability History
DISABILITY STUDIES • KÖRPER – MACHT – DIFFERENZ • BAND 6
Editorial Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht »Behinderung« als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven eröffnen, die auch den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit »Behinderung« korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert. Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. Die Reihe wird herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Universität zu Köln), in Zusammenarbeit mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, Humboldt-Universität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg) und Heike Zirden (Berlin).
Elsbeth Bösl, Anne Klein, Anne Waldschmidt (Hg.)
Disability History Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung
DISABILITY STUDIES
Gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Daniel Odenthal, Holzcollage (grün), 2006, 60x100, Collage aus Sperrholzstücken gebeizt auf Sperrholzplatte, Diakonie Verbund Eisenach gemGmbH, Kunstwerkstatt. Mit freundlicher Unterstützung der Online-Galerie für Insider-Art »Kunst kennt keine Behinderung«. Satz: Katharina Lang, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1361-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Disability History: Einleitung Elsbeth Bösl, Anne Klein und Anne Waldschmidt | 7
1. G RUNDL AGEN DER D ISABILIT Y H ISTORY Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen Anne Waldschmidt | 13
Was ist Disability History? Zur Geschichte und Historiografie von Behinderung Elsbeth Bösl | 29
Wie betreibt man Disability History? Methoden in Bewegung Anne Klein | 45
2. W ISSENSCHAFTLICHE K ONSTRUK TIONEN UND SUBJEK TIVE E RFAHRUNGEN Die Irren sind immer die Anderen. Selbstthematisierungen von psychischer Krankheit und Gesundheit in Umbruchzeiten von Psychiatrie und Gesellschaft (Deutschland 1900/1970) Cornelia Brink | 67
Diagnostisch-therapeutische Grenzziehungen. Die Zelltherapie bei Kindern mit Down-Syndrom im medizinischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland in den 1960/70er Jahren Susanne Pohl-Zucker | 85
»Sei doch dich selbst«. Krankenakten als historische Quellen von Subjektivität im Kontext der Disability History Petra Fuchs | 105
3. I NSTITUTIONEN UND P OLITIKEN Konstruktionen von ›Behinderung‹ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964 Gabriele Lingelbach | 127
Integration durch Arbeit: Behindertenpolitik und die Entwicklung des schweizerischen Sozialstaats 1900-1960 Urs Germann | 151
Das Ende der Anstalt? Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung in der Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik Wilfried Rudloff | 169
4. K ÖRPER , K UNST UND K ULTUR Behindertensportgeschichte: das Beispiel Nationalsozialismus Bernd Wedemeyer-Kolwe | 193
Die Gespielen der Infantin. Darstellungen kleinwüchsiger Menschen in der bildenden Kunst Maaike van Rijn | 211
Ist Behinderung komisch? Lachen über verkörperte Differenz im historischen Wandel Claudia Gottwald | 231
Autorinnen und Autoren | 253
Disability History: Einleitung Elsbeth Bösl, Anne Klein und Anne Waldschmidt
Warum Disability History? Wie muss eine Geschichte geschrieben sein, die ›Behinderung‹ kritisch thematisieren möchte? Aus Sicht der Disability Studies und somit auch der Disability History wird unter dem Begriff Behinderung zunächst ganz allgemein eine Vielzahl heterogener (auch unsichtbarer) Erscheinungsformen von gesundheitsrelevanter Differenz subsumiert. Wie die Zuordnung zu dieser Kategorie verläuft und welche Folgen sie für den Einzelnen und die Gesellschaft hat, hängt vom historischen Kontext ab. Materielle Tatbestände, Kräfte und Barrieren haben zweifellos Anteil an der Konstitution von Behinderung, jedoch stehen hinter jeder Form von Materialität immer auch wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse. Insofern vereint der Behinderungsbegriff stets eine diskursive und eine materielle Dimension. Er steht für historische, d.h. kontingente Annahmen über individuelle, medizinisch diagnostizierte ›Andersheit‹. Menschen werden aufgrund tatsächlicher oder angenommener körperlicher, psychischer oder mentaler Unterschiede in komplexen Benennungsprozessen der soziokulturellen Kategorie ›behindert‹ zugeordnet. Beeinträchtigungen und Benachteiligungen, die mit dieser Zuschreibung verknüpft sind, zeigen sich bei näherer, insbesondere quellengesättigter Sicht als Produkte kultureller Werte, Erwartungen und Praktiken wie auch als Ergebnis materieller Kräfte und Barrieren, deren Formationsregeln sich als Faktoren im historischen Prozess untersuchen lassen. Behinderung als Zuschreibung markiert eine gesellschaftlich marginalisierte Position und hat immer wieder, ähnlich wie das ›Fremde‹, das ›Schwache‹ oder das ›Andere‹, entweder soziale Ungleichheit begründet oder aber als Legitimation für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Hierarchien gedient. Indem Behinderung in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt und nach historisch wandelbaren Wahrnehmungs-, Thematisierungs- und Regulierungsmechanismen gefragt wird, eröffnet sich ein veränderter Blick auf den ›Gegenstand‹. Angestrebt wird nicht nur eine Relativierung bzw. Umdeutung scheinbar naturgegebener Kategorisierungen oder medizinischer Diagnosen, vielmehr besteht auch die
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berechtigte Hoffnung, eine neue Historiografie zu begründen. Die Geschichtsschreibung auf der Basis sozialer und kultureller Modelle von Behinderung bringt spezifische Forschungsfragen mit sich. Wie wird das ›Abweichende‹ vom ›Normalen‹ abgegrenzt? Welche wissenschaftlichen Diskurse, politischen und sozialstaatlichen Interventionen wie auch institutionellen Kontrollmechanismen bestimmen den historischen Prozess der Entstehung einer Kategorie wie Behinderung? Welche Rolle spielen Machtverhältnisse und das (human-)wissenschaftliche Wissen? Welche Einstellungsdeterminanten und Stigmatisierungsformen beeinflussen den Umgang mit behinderten Menschen? Wie werden subjektive und kollektive Identitäten – beispielsweise des ›Irren‹, des ›Trisomie-Kindes‹, des ›Kleinwüchsigen‹ oder des ›Contergangeschädigten‹ – hergestellt? Welche (widerständigen) Formen der Subjektkonstitution lassen sich feststellen? Welche Repräsentationen, Codierungen und Performanzen werden wirksam? Und wie konstruiert die Mehrheitsgesellschaft im und durch das Entwerfen einer bestimmten Ikonografie von Abweichungen ihre Normalität? Die Disability History untersucht historische Prozesse der Wahrnehmung von ›Andersheit‹ (bzw. ›Normalität‹), die auf physische, psychische und mentale Merkmale zurückgreifen, um Differenzierungsmerkmale konstruieren zu können. Des Weiteren erkundet sie, wie die Kategorie Behinderung im sozialen Raum auf weitere Kategorien trifft, die die sozialen Zugangs- und Geltungschancen von Subjekten bestimmen, ähnlich wie dies in den Diversity Studies und mithilfe von intersektionalen Ansätzen praktiziert wird. Beispielsweise lässt sich an historischen Beispielen erfragen, wie Klasse, Geschlecht, ›Rasse‹ und Behinderung als Begründungszusammenhänge sozialer Ungleichheiten zusammenwirken und Konkurrenzen und Hierarchien entstehen lassen. Möglicherweise finden sich auch verschiedene ›Ethiken des Miteinanders‹, die herkömmliche Zuschreibungen durchkreuzen und Auswirkungen auf das im Bereich der Sozialpolitik Mögliche und Machbare haben. Ein besonderes Augenmerk der Disability History liegt auf kulturgeschichtlichen Untersuchungen sowie biografischen und erfahrungsgeschichtlichen Zugängen, die die Konsequenzen sozialer Ungleichheit und die Alltagsstrategien der Betroffenen thematisieren. Konstruktivistisch und emanzipatorisch ausgerichtet bietet der Forschungsansatz Raum, sowohl wissenschaftliche Grundlagenforschung zu betreiben als auch Spezialstudien anzufertigen und mit politik-, sozial- und organisationsgeschichtlichen, wissenschaftsund kultur- sowie kunstgeschichtlichen Ansätzen die Produktionsweisen und Konsequenzen der Differenzierungskategorie Behinderung zu analysieren. Auf diese Weise wird ein Forschungsfeld sichtbar, das sich für die Anwendung neuerer geschichtswissenschaftlicher Zugänge wie der Geschichte des Körpers, des Alltags, der Emotionen, aber auch der Wissenschaften etc. ebenso gut eignet wie für die Anwendung innovativer Methodologien, etwa der Diskursanalyse oder postmoderner Perspektiven in Folge der verschiedenen Cultural Turns.
D ISABILIT Y H ISTORY : E INLEITUNG
Anknüpfend an die internationale Disability History verfolgt dieser Band folgende Anliegen: Zum einen stellen wir die neue geschichtswissenschaftliche Teildisziplin vor und führen in ihre grundlegenden konzeptionellen und methodischen Fragen ein; zum anderen wird eine Bestandsaufnahme aktueller Forschungsarbeiten aus dem deutschsprachigen Raum geboten. Neun exemplarische Fallstudien geben einen Einblick in verschiedene Facetten des neuen Forschungsfeldes. Sie befassen sich mit wissenschaftlichen Konstruktionen und subjektiven Erfahrungen, mit Institutionen und Politiken, Körper, Kunst und Kultur. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Im ersten Teil Grundlagen der Disability History stellt zunächst Anne Waldschmidt die Programmatik der Disability Studies vor und beleuchtet den Stellenwert geschichtswissenschaftlicher Arbeiten für diese Transdisziplin. Um den Zusammenhang von Gesellschaft und Behinderung zu verstehen und um nachzuvollziehen, warum bestimmte Konzepte wie etwa Vernunft, Autonomie, Menschenwürde etc. für die späte Moderne fundamental sind, kurz, um die (eigene) Gegenwart zu verstehen, braucht es die Erkenntnis der Vergangenheit. Diese Einsicht ist zentral für die Disability Studies, die im Kontext der sozialen Bewegung behinderter Menschen entstanden sind. Im zweiten Beitrag unternimmt Elsbeth Bösl eine erste Bestandsaufnahme des Forschungsstands und stellt Studien vor, die einer künftigen deutschsprachigen Disability History zur Orientierung dienen können. Im Mittelpunkt stehen Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert, die sich mit den soziokulturellen Konstitutionsvorgängen von Behinderung und Normalität beschäftigen, institutionelle Konkretisierungen des Behinderungsdiskurses aufzeigen und behinderten Menschen als handelnden Subjekten eine Stimme verleihen. Die methodischen Herausforderungen der neuen Forschungsrichtung diskutiert Anne Klein. Da mit der Disability History auch eine methodologische Erweiterung der bestehenden Forschungslandschaft beabsichtigt ist, stehen in diesem Beitrag erkenntnistheoretische, transdisziplinäre und forschungsethische Fragen im Mittelpunkt. Im zweiten Teil der Anthologie werden Wissenschaftliche Konstruktionen und subjektive Erfahrungen miteinander in Beziehung gesetzt. Cornelia Brink kontrastiert Selbstthematisierungen psychischer Krankheit in zwei Umbruchzeiten der Moderne (1900 und 1970). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Widerständigkeit der Subjekte je nach dem historisch relevanten Zusammenspiel von Diskursen, Institutionen, Öffentlichkeit und Subjektivierungsformen verschieden äußerte. Susanne Pohl-Zucker verdeutlicht auf der Folie eines Expertenstreits um die ›richtige‹ Therapieform bei Trisomie 21 den defizitorientierten Blick der Medizin in den 1960er und 1970er Jahren; sie zeigt, dass die Grenzen und Möglichkeiten der Förderung von Kindern mit Down-Syndrom von einem bestimmten medizinischen oder gesellschaftlichen Vorverständnis her definiert wurden. Petra Fuchs setzt sich in ihrem Beitrag mit Kranken- und Prozessakten, ihrer Quellenkritik und möglichen Lesarten auseinander. Dabei geht
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sie Hinweisen auf subjektive Verortungen und Identitätsstrategien nach. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus. Der dritte Teil fokussiert auf Institutionen und Politiken, somit auf sozial- und politikgeschichtlichen Forschungsfeldern. Gabriele Lingelbach untersucht, welche Entwicklung die Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind/Aktion Mensch seit ihrer Gründung 1964 bis in die 1990er Jahre durchlief und welchen Stellenwert diese für die Neuformierung gesellschaftlicher Bilder von Behinderung hatte. Am Beispiel des Schweizer Sozialstaats arbeitet Urs Germann den politischen Umgang mit Behinderung zwischen 1900 und 1960 heraus. Wilfried Rudloff setzt sich in seinem Beitrag mit Wohninstitutionen behinderter Menschen als zeitgebundene und insofern kulturell codierte Repräsentationen eines wandelbaren Begriffs von ›Behinderung‹ auseinander. Erst im Zuge der in den 1970er Jahren einsetzenden Kritik an den ›totalen Institutionen‹ wurde behinderten Menschen nicht mehr einseitig die Heimunterbringung zugemutet. Im vierten Teil Körper, Kunst und Kultur geht es darum, mögliche Erträge einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise auszuloten, und zwar im Überschreiten von Epochengrenzen und mit Blick auf historische Krisensituationen. Bernd Wedemeyer-Kolwe stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Sport und Behinderung im Nationalsozialismus. Maaike van Rijn analysiert und interpretiert in ihrem kunstgeschichtlichen Beitrag die Darstellung von kleinwüchsigen Menschen in der bildenden Kunst vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Seit dem 18. Jahrhundert scheint dieses Sujet immer mehr zu verschwinden, verbunden ist dieses Unsichtbar-Werden mit Abwertung und Bedeutungsverlust. Dieser Befund wird von Claudia Gottwald in ihrer ebenfalls epochenübergreifenden Studie zum Lachen über Behinderung bestätigt. Die Tabuisierung der Komik entfaltete sich parallel mit dem Aufkommen von Mitleid als vorherrschende, aus Humanismus und bürgerlicher Erziehung gespeiste Reaktionsweise. In ihrem konsequenten Fokus auf die Sozial- und Kulturwissenschaften bieten die international gut etablierten, seit einigen Jahren sich auch hierzulande konstituierenden Disability Studies gerade auch der Geschichtswissenschaft einen neuartigen Zugang, um Phänomene sozialer Abweichung und Ungleichheit zu untersuchen. Inzwischen liegen – wie dieser Band zeigt – konzeptionelle Überlegungen und quellenfundierte Studien zur Disability History vor. In allgemeiner Hinsicht ist der inhaltliche, theoretische und methodische Anspruch der Disability History weitgehend: Nichts weniger als eine radikale Kritik von Gesellschaft und Kultur soll geleistet werden. Ob es mit den in diesem Band versammelten Beiträgen gelungen ist, diesen Anspruch einzulösen, muss dem Urteil der Leserinnen und Leser überlassen bleiben. Uns Herausgeberinnen bleibt zum Schluss, der Hans-Böckler-Stiftung für die großzügige Förderung der Drucklegung zu danken.
1. Grundlagen der Disability History
Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen Anne Waldschmidt
Nicht von ungefähr lässt der Titel dieses Aufsatzes ein historisches Ereignis aufscheinen, das vor 221 Jahren stattfand: Als Friedrich Schiller (17591805) am 26. Mai 1789, eines Revolutionsjahres, wie sich wenige Wochen später mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli herausstellen sollte, seine Antrittsvorlesung an der Universität Jena zu halten hatte, ging er dieser Frage nach: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?«1 Diese Reminiszenz kann dazu dienen, auf ein Anliegen des Dichterfürsten und Geschichtsphilosophen aufmerksam zu machen: Geschichte zu studieren fordert, so hob Schiller hervor, den Einzelnen auf, sich nicht als »Brodgelehrten« zu verstehen, sondern einen »philosophischen Geist« auszubilden. Was hat das alles, so wird man vielleicht fragen, mit den Disability Studies, d.h. mit Behinderung zu tun? Warum und wozu braucht man die Geschichte, um Behinderung zu verstehen? Was heißt überhaupt ›Behinderung‹ und zu welchem Ende sollte man ihre Geschichte studieren? An dieser Stelle macht es Sinn, unvermittelt in das aktuelle Jahrhundert zu springen und sich auf den nordamerikanischen Literaturwissenschaftler Lennard Davis zu beziehen, der 2006 in seiner Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Disability Studies Reader folgende Bemerkung formuliert hat: »The first assumption that has to be countered in arguing for disability studies is that the ›normal‹ or ›able‹ person is already fully up to speed on the subject. My experience is that while most ›normals‹ think they understand the issue of 1 | Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, Jena 1789, http://de.wikisource. o r g /w i k i/ Wa s _ h e i% C 3% 9 F t _ u n d _ z u _ w e l c h e m _ E n d e _ s t u d i e r t _ m a n _ Universalgeschichte%3F (20.9.2009).
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A NNE W ALDSCHMIDT disability, they in fact do not. When it comes to disability, ›normal‹ people are quite willing to volunteer solutions, present anecdotes, recall from a vast array of films instances they take for fact. No one would dare to make such a leap into Heideggerian philosophy for example or the art of the Renaissance. But disability seems so obvious – a missing limb, blindness, deafness. What could be simpler to understand? One simply has to imagine the loss of the limb, the absent sense, and one is half-way there. Just the addition of a liberal dose of sympathy and pity along with a generous acceptance of ramps and voice-synthesized computers allows the average person to speak with knowledge on the subject.« 2
Tatsächlich, auch in Deutschland kann man diese Beobachtung nachvollziehen. Ob blind, gehörlos oder bewegungseingeschränkt, verhaltensauffällig, kognitiv beeinträchtigt oder psychisch krank: Wird das Phänomen Behinderung thematisiert, tauchen unweigerlich – faktisch oder im Geiste – ›unnormale‹, seltsam geformte, sich auffällig bewegende, sich merkwürdig artikulierende Körper auf, in anderen Worten: Menschen, denen man das Anderssein, die Zugehörigkeit zu ›den Behinderten‹ gleichsam auf den ersten Blick anzusehen meint. Behindert sein im alltagsweltlichen Sinne heißt, einen wahrnehmbaren Makel aufzuweisen; und zumeist wird denjenigen, die als ›behindert‹ (im Sinne sozialer Benachteiligung) gelten, unterstellt, dass sie tatsächlich auch ›behindert‹ sind (im Sinne einer Abweichung von Körper- oder Gesundheitsnormen). Offensichtlich scheint es dem common sense nichts auszumachen, Behinderung tautologisch zu denken; selbst in wissenschaftlichen Diskursen gehen gesundheitliche Auffälligkeiten, Naturalisierungsdiskurse und Marginalisierungsprozesse fast immer zusammen. Dagegen machen die internationalen Disability Studies darauf aufmerksam, dass die herrschende Sichtweise auf Behinderung reduktionistisch ist; sie betonen, dass es sich bei Behinderung nicht um eine eindeutige Kategorie handelt, sondern um einen höchst komplexen, eher unscharfen Oberbegriff, der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kognitiven Merkmalen bezieht, die nichts anderes gemeinsam haben, als dass sie mit negativen Zuschreibungen wie Einschränkung, Schwäche oder Unfähigkeit verknüpft werden.3 Behinderung erscheint aus dieser Sicht als ein kontingenter Typus von Abweichung, der zumeist auf die »Normalfelder«4 Gesundheit, Funktionsfähigkeit und Leistungsvermögen bezogen und im höchsten Maße ›verkörpert‹ ist. Mit dem Begriff ›verkörperte Differenz‹ 2 | Lennard J. Davis (Hg.): The Disability Studies Reader, 2. Auflage New York/ London 2006, XVI. 3 | Vgl. David T. Mitchell/Sharon L. Snyder: Introduction: Disability Studies and the Double Bind of Representation, in: Dies. (Hg.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability, Ann Arbor 1997, 1-34, hier 7. 4 | Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage Göttingen 2006, 51.
W ARUM UND WOZU BRAUCHEN DIE D ISABILIT Y S TUDIES DIE D ISABILIT Y H ISTORY ?
(Engl.: embodied difference) werden in den Disability Studies die vielfältigen Auffälligkeiten bezeichnet, die als ›Behinderung‹ figurieren: Alle werden mittels des Körpers ausgedrückt und können nur über diesen wahrgenommen werden. Bereits die HerausgeberInnen des Sammelbandes Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung haben diesen Punkt hervorgehoben: »Man muss sich dabei klarmachen, daß Behinderung oder Imperfektion stets von einem Körper her gedacht wird, auch wenn von ›psychischer‹ oder ›geistiger‹ Behinderung die Rede ist. Einzig an körperlichen Äußerungen, Körperformen, Bewegungen oder Lauten wird sie identifiziert.«5 Es handelt sich somit um ein Missverständnis, wenn den Disability Studies vorgeworfen wird, sie würden sich nur mit Körperbehinderung beschäftigen. Körperliche Differenz im engeren Sinne ist lediglich ein Aspekt einer komplexen Landschaft von gesundheitsrelevanten Abweichungen und Beeinträchtigungen. Selbstverständlich geht es darum, das gesamte Panorama der als verkörpert zu denkenden Kategorie Behinderung und damit auch als ›psychisch‹ oder ›mental‹ verstandene Attribuierungen in den Blick zu nehmen und kritisch zu beleuchten.
W AS HEISST ›D ISABILIT Y S TUDIES ‹? Ähnlich wie eine ganze Reihe anderer Querschnittsdisziplinen, etwa die Gender Studies, Queer Studies, Diversity Studies, Critical Whiteness Studies, Post Colonial Studies etc., die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, um die wirkmächtigen ›großen Erzählungen‹ der Moderne kritisch zu hinterfragen, handelt es sich auch bei den Disability Studies um den Versuch, die gesellschaftlichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen zu erkunden, die eine bestimmte soziale Randgruppe, nämlich Menschen, die als ›behindert‹ gelten, überhaupt erst haben entstehen lassen. Dabei müssen nicht nur der gesellschaftspolitische Hintergrund, sondern auch kulturelle Kontexte und historische Entwicklungspfade mit bedacht werden. Von Behindertenpädagogik und Rehabilitationswissenschaft unterscheiden sich die Disability Studies dadurch, dass ihnen der interventionistische Impuls fehlt. Statt individualisierende und praxisorientierte Sichtweisen, von denen etwa die Pädagogik geprägt ist, ist den Disability Studies eine sowohl grundlagentheoretische als auch Gesellschaft verändernde Orientierung eigen. Um einem weiteren Missverständnis zu begegnen: Sicherlich kann es nicht darum gehen, existierende Unterstützungssysteme für behinderte Menschen wie etwa medizinische Therapie, pädagogische Förderung, sozialpolitische Sicherung und soziale Partizipation in Frage zu stellen. 5 | Petra Lutz/Thomas Macho/Gisela Staupe/Heike Zirden (Hg. für die Aktion Mensch und die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003, 14.
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Dennoch, und an dieser Stelle setzen die Disability Studies ein: Ein Perspektivenwechsel auf das Phänomen Behinderung ist notwendig. Als ersten Schritt sollte man sich vergegenwärtigen, dass der vorherrschende Blick auf gesundheitsrelevante Differenzen eindimensional ist. Etablierte Ansätze wie die Rehabilitation sind allzu sehr auf Problemlösung fixiert und können die Komplexität von Behinderung nicht hinreichend erfassen: Sonderpädagogische Förderung erhalten Kinder und Jugendliche dann, wenn sie ›Störungen‹ und ›Auffälligkeiten‹ zeigen; die Arbeitsmarktintegration offeriert Positionen je nach Arbeitskraft und Grad der Behinderung; Sozialleistungen sind erhältlich, wenn man sich als ›pflegeabhängig‹, ›leistungsgemindert‹ oder ›hilfsbedürftig‹ ausweisen kann. Letztlich werden Gruppenidentitäten geschaffen, die von Ambivalenz geprägt sind: einerseits Nachteilsausgleiche und ›Vergünstigungen‹, anderseits Exklusion und Benachteiligung. Ausgeblendet wird zumeist, dass verkörperte Differenz eine weit verbreitete Lebenserfahrung darstellt und der menschliche Körper keine reibungslos funktionierende Maschine ist, sondern höchst verletzlich. Im Grunde ist Behinderung nicht die Ausnahme, die es zu kurieren gilt, sondern die Regel, die in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen zunächst einfach zu akzeptieren wäre. Tatsächlich ist der verletzliche Körper in der Lebenspraxis allgegenwärtig. Es hat gesellschaftspolitische und kulturelle Gründe, dass ihm dennoch ein Ausnahmestatus zugeschrieben wird. Offensichtlich wird die Abgrenzungskategorie Behinderung in der Gegenwartsgesellschaft ›gebraucht‹, um kulturell vorgegebene Vorstellungen von Körperlichkeit, Subjektivität und Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten, damit im Kontrast so etwas wie ›Normalität‹ entstehen kann, kurz: zur Gewährleistung der sozialen Ordnung. Für eine reflexiv moderne, d.h. kritische Perspektive auf Behinderung braucht es einen grundlagentheoretischen Blickwinkel, und genau um diesen geht es den Disability Studies. Die Ausgangsfrage dieser interdisziplinären Forschungsrichtung lautet also nicht: Wie soll die Gesellschaft mit behinderten Menschen umgehen? Vielmehr tritt man in den Disability Studies gewissermaßen einen Schritt zurück und fragt grundsätzlicher: Wie und warum wird – historisch, sozial und kulturell – eine Randgruppe wie ›die Behinderten‹ überhaupt hergestellt? Zielsetzung der Disability Studies ist also nicht, ›Behindertenforschung‹ oder ›Behindertenwissenschaft‹ zu betreiben, auch wenn der Begriff manchmal so ins Deutsche übertragen wird. Besser ist an dieser Stelle die wortwörtliche Übersetzung: Es geht um Studien über oder zu (Nicht-)Behinderung. Hinter der englischen Bezeichnung, die auch im Deutschen benutzt wird, um den Anschluss an den internationalen Diskurs herzustellen, verbirgt sich ein deutlich konturiertes Forschungsprogramm, das mit einer Reihe von Grundannahmen operiert. Zum einen verstehen sich die Disability Studies als kritischer Kontrapunkt zum Rehabilitationsparadigma, das ihnen als die Operationalisierung eines sogenannten individuellen (besser: individualistischen) Mo-
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dells von Behinderung gilt. Dieses setzt Behinderung mit der Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung gleich und deutet sie als schicksalhaftes, persönliches Leid, das medizinisch-therapeutischer Behandlung oder sonderpädagogischer Förderung bedarf, bei der die Expertinnen und Experten das Sagen haben; Betroffene werden auf Sozialleistungen verwiesen, deren Verteilung an soziale Kontrolle und Disziplinierung gekoppelt ist. Zum anderen konzeptionalisieren die Disability Studies Behinderung als soziale Konstruktion;6 d.h. sie verstehen gesundheitsrelevante Differenz nicht als (natur-)gegeben, im Sinne einer vermeintlich objektiv vorhandenen, medizinisch-biologisch definierbaren Schädigung oder Beeinträchtigung, sondern als kulturelles und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal. Ausgangspunkt ist die These, dass Behinderung im Gesellschaftssystem hergestellt wird – produziert und konstruiert in wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskursen, politischen und bürokratischen Verfahren, subjektiven Sichtweisen und Identitäten. Somit gilt es, alle Ebenen des Gesellschaftlichen in den Blick zu nehmen, eben nicht nur die sozialen Interaktionen als Handlungsebene und das Identitätsmanagement der Menschen, die als behindert gelten, sondern auch die Inszenierungen von Normativität und Normalität, die Machtspiele in und durch Organisationen, die Wirklichkeit konstituierende Kraft von Wissensapparaten. Mit dem sogenannten sozialen Modell7 von Behinderung, als dessen Begründer der englische Sozialwissenschaftler Michael Oliver gilt, haben die Disability Studies seit Anfang der 1980er Jahre zunächst im angelsächsischen Sprachraum eine neue Heuristik entwickelt. Kerngedanke ist, dass die Ebene der Beeinträchtigung (Engl.: impairment) im Sinne klinisch relevanter Auffälligkeit von derjenigen der Behinderung (Engl.: disability) im Sinne sozialer Benachteiligung deutlich zu trennen ist. Dem sozialen Behinderungsmodell zufolge entsteht Behinderung (Engl.: disability) durch systematische Ausgrenzung und ist nicht einfach das Ergebnis medizinischer Pathologie. Menschen werden nicht aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen behindert, sondern durch das soziale System, das ihnen eine marginalisierte Position zuweist und Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet. Entsprechend wird Behinderung in den Kontext sozialer Unterdrückung und Diskriminierung gestellt und als soziales Problem thematisiert, das wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung und gemeinschaftlicher (Selbsthilfe-)Aktion bedarf. 6 | Vgl. Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007. 7 | Vgl. Colin Barnes/Geof Mercer (Hg.): Disability Policy and Practice: Applying the Social Model, Leeds 2005; Mark Priestley: Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise, in: Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 23-35.
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Das soziale Behinderungsmodell hat sich für die Disability Studies als entscheidender Impuls erwiesen. Gleichermaßen anschlussfähig an wissenschaftliche Diskurse wie auch an politische Interessenvertretung und persönliche Lebenspraxis bietet es ein allgemeines Raster, das mit unterschiedlichen Theorieansätzen ebenso gefüllt werden kann wie mit politischer Programmatik und Identitätsstrategien. So wie es sich für jeden wissenschaftlichen Diskurs gehört, werden jedoch auch innerhalb der Disability Studies die eigenen Grundannahmen immer wieder kritisch reflektiert. Zu dem sozialen Modell gibt es eine vielstimmige und kontroverse Debatte. Neben Kritikpunkten, die sich um seinen methodologischen Status drehen, schließlich handelt es sich nur um ein Modell und nicht um eine Theorie, wird vor allem der Stellenwert des Körpers kontrovers diskutiert.8 Offensichtlich – so postulieren insbesondere poststrukturalistische Ansätze9 – basiert das soziale Modell auf einer vereinfachten Dichotomie von Natur und Kultur. Indem nur Behinderung (disability) als soziale Konstruktion verstanden wird, wird gleichzeitig ausgeblendet, dass Schädigungen und Beeinträchtigungen (impairments) ebenfalls als kontingente, d.h. zu historisierende Phänomene begriffen werden müssen. Kurz gesagt, werfen Vertreterinnen und Vertreter der Disability Studies aus den USA und Kanada, aber auch aus anderen Teilen der Welt dem sozialen Modell auf der Ebene von impairment einen unkritischen Naturalismus vor. Behindertsein und Behindertwerden sind eben nicht trennscharfe Kategorien, sondern Dimensionen, die sich wechselseitig durchdringen und auf einander verweisen. Aus diesem Grund macht es Sinn, neben das soziale Behinderungsmodell eine weitere Heuristik, nämlich das kulturelle Modell zu stellen. Bei diesem Modell handelt es sich nicht etwa um eine neue ›Erfindung‹, deren Urheberschaft eine einzelne Person beanspruchen könnte. Vielmehr schlage ich dieses Label vor,10 um die bereits zahlreich vorhandenen Arbeiten in den Disability Studies zusammen zu fassen, die (Nicht-)Behinderung mit Hilfe des kulturwissenschaftlichen Handwerkszeugs analysieren. Das Etikett des kulturellen Behinderungsmodells dient also dazu, den Ansatz der Cultural Studies in den Disability Studies zu markieren und dessen produktives Potential deutlich werden zu lassen. Um das kulturelle Modell als sinnvolle und notwendige Forschungsperspektive zu konturieren, sollten beide Heuristiken nicht voreilig fusioniert werden. Auch wenn es vielfältige Bemühungen gibt, zwischen den Wissenschaftskulturen zu 8 | Vgl. Bill Hughes/Kevin Paterson: The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a Sociology of Impairment, in: Disability&Society 12 (1997), H. 3, 325-340. 9 | Vgl. Shelley Tremain (Hg.): Foucault and the Government of Disability, Ann Arbor 2005. 10 | Vgl. Anne Waldschmidt: Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, in: Psychologie&Gesellschaftskritik 29 (2005), H. 1, 9-31.
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vermitteln und die aktuelle Agenda von dem Anspruch der Transdisziplinarität dominiert wird, erscheint es aus fachlichen Gründen angezeigt, die Interdisziplinarität und die Unterschiede, ja, das Spannungsverhältnis der beiden Ansätze zu betonen. Das sozialwissenschaftlich geprägte soziale Behinderungsmodell verfolgt jedenfalls andere Fragestellungen als das geistes- und kulturwissenschaftlich orientierte kulturelle Modell; die Verschiedenheit der beiden Heuristiken auszuhalten und gerade nicht einzuebnen verspricht eine besondere Produktivität. Wie ich an anderer Stelle11 ausführlicher erläutert habe, ist mit dem kulturellen Behinderungsmodell eine nochmals veränderte Sichtweise verknüpft: Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive geht es um ein vertieftes Verständnis der Kategorisierungsprozesse selbst, um die Kritik des »klinischen Blicks«,12 d.h. um die Analyse ausgrenzender Wissensordnungen und der durch sie konstituierten Realität. Mit dem kulturellen Modell wird postuliert, dass Behinderung nicht nur als eine Form gesellschaftlicher Benachteiligung, sondern auch als eine Form kultureller »Problematisierung«13 zu denken ist, deren Analyse sich von dieser Frage leiten lässt: »Anhand welcher Wahrheitsspiele gibt sich der Mensch sein eigenes Sein zu denken, wenn er sich als Irren wahrnimmt, wenn er sich als Kranken betrachtet, wenn er sich als lebendes, sprechendes und arbeitendes Wesen reflektiert […]?«14 Dieser Ansatz stellt nicht nur Behinderung, sondern auch ›Nicht-Behinderung‹ (sprich: Normalität, Gesundheit, Funktionsfähigkeit etc.) in Frage; die beiden Pole erweisen sich als höchst kontingente, im Grunde arbiträre Kategorien, deren Konturen eben gerade nicht trennscharf sind. Entsprechend setzen die am kulturellen Modell orientierten Arbeiten an den Erfahrungen aller Gesellschaftsmitglieder an und benutzen »Behinderung« – »die Anführungszeichen haben ihre Bedeutung«15 – als Erkenntnis leitende und generierende Kategorie, deren Untersuchung kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Strukturen zum Vorschein bringt, die sonst unerkannt geblieben wären. Mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz wird die Perspektive umgedreht und zugleich erweitert: Nicht behinderte Menschen als Randgruppe, sondern die Mehrheitsgesellschaft wird zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Wie entsteht ›Normalität‹ als positiv bewertete Kontrastfolie zu ›Behinderung‹? Wer sind eigentlich ›wir Normalen‹?16 Welche allgemeinen Funktionen erfüllt ›Be11 | Ebd. 12 | Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1988, 129-136. 13 | Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989, 22ff. 14 | Ebd., 13. 15 | Ebd., 9. 16 | Vgl. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 1996.
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hinderung‹? Im Anschluss an die Kulturwissenschaften werden – streng genommen – aus den Disability Studies eigentlich ›Dis/ability Studies‹. Mit der Einführung des Schrägstrichs geht es nicht mehr allein um die Kategorie Behinderung als eine Form der sozialen Ausgrenzung, sondern um die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wechselspiel von ›normal‹ und ›behindert‹, kurz, um das Transversale und Intersektionale, das zum eigentlichen Forschungsgegenstand wird.
V ON DER G ESCHICHTE DER B EHINDERUNG ÜBER DIE D ISABILIT Y H ISTORY ZUR ›D IS/ABILIT Y H ISTORY‹ Die Ausgangsfrage der Disability Studies lautet also nicht: Wie soll die Gesellschaft mit behinderten Menschen umgehen? Vielmehr fragt die interdisziplinäre Forschungsrichtung grundsätzlicher: Wie und warum wird eine vermeintlich homogene Randgruppe wie ›die Behinderten‹ überhaupt hergestellt? Wie geht eine Gesellschaft mit Diversität, Fluidität und Nicht-Identität, Anderssein und Abweichung um? Vor allem der historische Vergleich lässt erkennen, dass (Nicht-)Behinderung keineswegs eine universelle kulturelle Kategorie und uniforme soziale Praxis darstellt. Vielmehr findet man über die Jahrhunderte und zwischen den Kulturen eine große Vielfalt in den Sicht- und Reaktionsweisen. Kein Wunder also, dass die Geschichtsschreibung in den Disability Studies von Beginn an einen bedeutenden Platz eingenommen hat. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist es ebenfalls kein Wunder, dass von den Protagonisten der deutschen Behindertenbewegung zuallererst die historische Erforschung von Eugenik, Rassenhygiene und Humangenetik in Angriff genommen wurde. Ausgehend von der erschreckenden Erkenntnis, dass allein der Zufall der späten Geburt die nach 1945 Geborenen davor bewahrt hatte, Opfer von Zwangssterilisation, eines Menschenversuchs oder gar der Euthanasie zu werden, fing man zu einer Zeit, als das Thema in der etablierten Geschichtswissenschaft noch weitgehend ignoriert wurde, nämlich bereits zu Beginn der 1980er Jahre an, in den Archiven zu stöbern und die Frage nach den Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Gegenwartsgesellschaft zu stellen. 1984, wenige Jahre nach der Protestphase der sich formierenden Behindertenbewegung veröffentlichten Udo Sierck und Nati Radtke, die beiden Mitbegründer der Hamburger Krüppelgruppe, ihr Buch Die WohlTÄTERMafia, in dem sie zeigten, dass sich die humangenetische Beratung in der Bundesrepublik auch nach 1945 weiter von Prämissen der Eugenik leiten ließ.17 Im Rückblick erweisen sich diese Aktivistinnen und Aktivisten, die selbst keine akademisch ausgebildeten Geschichtswissenschaftler/-innen 17 | Vgl. Christian Mürner/Udo Sierck: Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung, Neu-Ulm 2009, 89-97; Udo Sierck/Nati Radtke: Die WohlTÄTER-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Humangenetischen Beratung, Hamburg 1984.
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waren, als Pioniere eines heute längst anerkannten und etablierten Forschungsfeldes. Jedoch hatten sie gar nicht die Absicht, der historischen Forschung Impulse zu liefern; vielmehr ging es ihnen um die Suche nach der eigenen, verschütteten Geschichte. Um die (eigene) Gegenwart zu verstehen, braucht es die Erkenntnis der Vergangenheit: Diese Einsicht ist auch für die deutschsprachige Behindertenbewegung zentral. Überblickt man die letzten 25 Jahre, kann man eine erfreuliche Entwicklung festhalten: Mittlerweile hat sich, wie Elsbeth Bösl in diesem Band ausführlich erläutert, das Feld der Disability History nachhaltig akademisiert und in vielfältiger Weise – thematisch, epochal, geografisch, methodisch und theoretisch – ausdifferenziert.18 Um vorab einem Missverständnis zu begegnen: Bei der Disability History, wie ich sie verstehe, handelt es sich weder um eine Geschichte der Heilpädagogik19 wie die von Andreas Möckel oder um eine Geschichte der Sonderpädagogik,20 wie sie Sieglind Ellger-Rüttgardt unlängst publiziert hat. Diese Historiografien aus der Sicht der mit Behinderung befassten Professionellen kann man zusammenfassend als Wissenschafts- und Institutionengeschichte kennzeichnen; nicht selten bieten sie einen die ›Wohltäter‹ und ›Pioniere‹ verklärenden Fortschrittsoptimismus. Zu konzedieren ist, dass es auch in der Geschichte der Behinderung zuweilen Arbeiten aus gesellschaftskritischer oder neomarxistischer Sicht gibt, wie die Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens,21 die Wolfgang Jantzen bereits 1982 vorgelegt hat; gleichwohl erscheint die Abgrenzung von der Disability History angezeigt. Des Weiteren erweist sich die Distanzierung von der traditionellen Medizingeschichte22 als notwendig. Auch sie reduziert sich immer noch allzu häufig auf Erfolgsgeschichten ärztlichen Handelns und vernachlässigt die Sichtweisen der Patienten. Andere Bemühungen, das Thema Krankheit und Behinderung in der Epochengeschichte aufzugreifen, wie beispielsweise die Forschungen von Cordula Nolte23 und ihrer Arbeitsgruppe zur Gesellschaft des Mittelalters, versprechen einerseits spannende Erkenntnisse; andererseits können sie dann nicht zur Disability History gezählt werden, wenn sie Behinderung eher naturalistisch denn gesellschaftskritisch konzeptionalisieren. 18 | Um die Bedeutung der Teildisziplin einschätzen zu können, kann man auch das Internet bemühen: Gibt man bei Google das Stichwort ›Disability History‹ ein, wird man aktuell (6.12.2009) mit 69.400 Treffern konfrontiert. 19 | Andreas Möckel: Geschichte der Heilpädagogik, Stuttgart 1988. 20 | Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München 2008. 21 | Wolfgang Jantzen: Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens, München 1982. 22 | Vgl. etwa Wolfgang U. Eckart/Robert Jütte: Medizingeschichte. Eine Einführung, Stuttgart 2007. 23 | Cordula Nolte (Hg.): Homo debilis: Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters, Korb 2009.
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Wenn ich also von Disability History spreche, dann meine ich nicht eine traditionelle, dem Rehabilitationsmodell verhaftete Geschichte der Behinderung, die in essentialistischer Sicht davon ausgeht, dass es die Dichotomie ›behindert/nicht behindert‹ tatsächlich gibt, die Befunde und Diagnosen voraussetzt, anstatt sie zu hinterfragen, und die lediglich davon zu berichten weiß, wie die Gesellschaft mit behinderten und chronisch kranken Menschen umgeht, anstatt Gesellschaft und Kultur als konstitutiv für die Behinderungskategorie zu verstehen. Behinderung ist aber keine ontologische Tatsache, sondern eine soziale Konstruktion – von dieser Prämisse geht die internationale Disability History aus. Ihr geht es darum zu zeigen, dass nicht beeinträchtigungsspezifische Aspekte für unser Verständnis von Behinderung entscheidend sind, sondern die gesellschaftlichen Deutungs-, Thematisierungs- und Regulierungsweisen. Dass Behinderung im Laufe der Jahrhunderte vorzugsweise als ›soziales Problem‹ aufgefasst wurde und sich alternative Formen der Problematisierung wie die des frühneuzeitlichen »Wunders«24 nicht durchsetzen konnten, ergab sich nicht zwangsläufig, sondern vor dem Hintergrund von bürgerlicher Gesellschaft und Wohlfahrtstaatlichkeit. Ungeachtet des im Vergleich zur Geschichte der Behinderung ›radikaleren‹ Aufklärungsanspruchs finden sich jedoch auch in Studien der Disability History epistemologische Verkürzungen, die der Orientierung am erwähnten sozialen Behinderungsmodell geschuldet zu sein scheinen. Zum einen dominiert, worauf Petra Fuchs kritisch hinweist, oftmals eine »Ausgrenzungs- bzw. Aussonderungsgeschichte«,25 die darauf fokussiert, dass mit Beginn der Industrialisierung behinderte Menschen systematisch erfasst, institutionell verwahrt und als Teil der industriellen Reservearmee angesehen wurden. Erzählt wird eine mit der kapitalistischen Ausbeutung eng verwobene Geschichte der Repression und Exklusion, die im Nationalsozialismus in die eugenisch-rassistische Selektions- und Vernichtungspolitik mündete und auch nach 1945 – trotz aller Normalisierungsbemühungen – weiter von der Kontinuität der Aussonderung geprägt ist.26 Zu Recht haben Jean-François Ravaud und Henri-Jacques Stiker aus einem kulturalistischen Blickwinkel heraus diese ›Repressionsthese‹ als einseitig kritisiert, da sie die mächtige revolutionäre Bewegung für politische Gleichheit ignoriert, die neben der Exklusion die westlichen Gesellschaften seit Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls geprägt hat.27 24 | Ruth von Bernuth: Wunder, Spott und Prophetie: Natürliche Narrheit in den »Historien von Claus Narren«, Tübingen 2009. 25 | Petra Fuchs: »Körperbehinderte« zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation. Selbsthilfe – Integration – Aussonderung, Neuwied/Kriftel/Berlin 2001, 11. 26 | Kritisch hierzu: Anne Borsay: History, Power and Identity, in: Colin Barnes/ Mike Oliver/Len Barton (Hg.): Disability Studies Today, Cambridge 2002, 98119. 27 | Vgl. Jean-François Ravaud/Henri-Jacques Stiker: Inclusion/Exclusion: An Analysis of Historical and Cultural Meanings, in: Gary Albrecht/Katherine D. Seel-
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Um eine die gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchlichkeiten berücksichtigende Disability History zu schreiben, bedarf es nämlich nicht nur einer Thematisierung von Produktionsverhältnissen und Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern auch der Berücksichtigung gesellschaftlicher Felder jenseits und neben Staat und Ökonomie. Schließlich ist gerade das Feld des Sozialpolitischen auch durch privat organisierte Wohlfahrt gekennzeichnet, die Humanwissenschaften spielen bei der sozialen Kontrolle behinderter Menschen eine zentrale Rolle und die kulturellen Repräsentationen prägen wesentlich die Deutungsmuster von Behinderung. Zum anderen ist es der Disability History ein Anliegen, die als behindert klassifizierten Menschen nicht bloß als Opfer repressiver oder fürsorglicher Strategien wahrzunehmen; im Sinne einer emanzipatorischen Geschichtsschreibung gilt es vielmehr, gerade auch die Politiken des Widerstands zu untersuchen. Auch wenn die Quellenlage sich als schwierig erweist, kann davon ausgegangen werden, dass sich überall dort, wo Machtverhältnisse existieren, auch Widerstand formiert, selbst unter den schwierigen Bedingungen von restriktiv wirkenden, institutionellen Strukturen.28 Indes, so wertvoll sich die kritische Historiografie auch erweist, sowohl die Repressions- als auch die Widerstandsgeschichte laufen Gefahr, dem Behinderungsparadigma verhaftet zu bleiben. Beide Stränge der Disability History tendieren dazu, auf Behinderung als gesellschaftliche Benachteiligung zu fokussieren und dabei den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang aus dem Blick zu verlieren. Um ihr Erkenntnispotential zu entfalten, benötigt die Disability History deshalb eine weitere konzeptionelle Nuancierung: Sie muss sich als Dis/ability History verstehen. Im Wesentlichen ist damit Folgendes gemeint: Postuliert wird die Notwendigkeit, nicht nur eine Geschichte der Behinderung, sondern mit Behinderung die allgemeine Geschichte neu zu schreiben. Indem im Sinne des kulturellen Modells Behinderung nicht als universales Phänomen begriffen wird, sondern als zeitgebundene Kategorie, deren Konstruktion ein Charakteristikum (post-) moderner Gesellschaften darstellt, wird der Anspruch erhoben, einen Beitrag zur Erforschung der Moderne, ihrer Schattenseiten und noch unausgeleuchteten Räume zu leisten. Behinderung wird zum exemplarischen Gegenstand, mit dem sich ein allgemeines Phänomen aufweisen lässt, dass nämlich Differenz erst dann hergestellt werden kann, wenn es soziokulturelle Kontexte gibt, d.h. entsprechende Rahmungen, Strukturen und Bedingungen sowie auch konkrete Räume und Institutionen (wie etwa die Klinik oder die Anstalt). Um es mit Georges Canguilhem zu sagen:
man/Michael Bury (Hg.): Handbook of Disability Studies, Thousand Oaks 2001, 490-512, hier 494. 28 | Welche Implikationen dieses Postulat in methodologischer und methodischer Hinsicht für die Disability History hat, wird Anne Klein in ihrem Beitrag zu diesem Band klären.
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Wenn »das Anormale logisch ein Zweites, tatsächlich ein Erstes ist«,29 dann sollte die Erforschung des Nicht-Normalen darüber Aufschluss geben können, wie es um das Normale bestellt ist. In diesem Sinne erweisen sich sowohl die Dis/ability Studies als auch die Dis/ability History als innovativ: Mit Hilfe der Fokussierung auf Behinderung, einem Phänomen, das als das Nicht-Normale par excellence gilt, können Selbstverständlichkeiten, ›Normalitäten‹ sichtbar gemacht und kritisch reflektiert werden: Das fraglos Geltende wird selbst fragwürdig, ›Gewissheiten‹ zerbröseln, Eindeutigkeiten offenbaren ihre Ambivalenz. Der so verstandenen Disability History dient also Behinderung als analytische Kategorie, um grundlegende gesellschaftliche Ordnungsprinzipien zu erkunden.30 Folgt man diesem Ansatz, geht es darum, nicht nur die Kontingenz des Behinderungsgeschehens zu beleuchten, sondern insbesondere die Grenzziehungen zwischen ›normal‹ und ›abweichend‹ zu hinterfragen, die in jeder Gesellschaft und Kultur immer wieder neu hergestellt werden. Dabei wird höchstwahrscheinlich nicht Behinderung, sondern der menschliche Körper31 in den Vordergrund treten, als Feld der Macht und als Medium sozialer Ungleichheit ebenso wie als Ort der Inszenierung und symbolischen Repräsentation: Die Differenzierungen gehen gewissermaßen durch den Körper hindurch; sie finden in Körpern, durch Körper und mit ihnen statt. Zugleich ist der Körper immer mehr als nur ein Ort; er ist auch ein eigensinniger Akteur und Quelle subjektiver Erfahrung. Mit dem Körper als Ausgangspunkt und Gegenstand könnte die Disability History letztendlich zu einer sich als kritisch verstehenden Körpergeschichte werden, die breit angelegt, somit auch Institutionen-, Sozial-, Politik-, Kultur-, Wissen(schaft)s- und Technikgeschichte einbeziehend, am Beispiel von Behinderung zu zeigen vermag, dass sich Körper als widerspenstig, widerständig und eigensinnig erweisen und es ihnen immer wieder gelingt, sich der Kontrollierbarkeit zu entziehen, auch wenn stetig aufs Neue versucht wird, sie zu disziplinieren und zu normalisieren. Dieser Variante der Körpergeschichte würde es – in den Worten Foucaults – darum gehen, »[…] zu zeigen, wie sich Machtdispositive direkt an den Körper schalten – an Körper, Funktionen, physiologische Prozesse, Empfindungen, Lüste. Weit entfernt 29 | Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München 1974, 167. 30 | Vgl. Susan Burch/Ian Sutherland: Who’s Not Yet Here? American Disability History, in: Teresa Meade/David Serlin (Hg.): Disability and History. Radical History Review Nr. 94, Durham, NC 2006, 127-147, hier 130. 31 | Vgl. Robert Gugutzer/Werner Schneider: Der »behinderte« Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung, in: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, 3153.
W ARUM UND WOZU BRAUCHEN DIE D ISABILIT Y S TUDIES DIE D ISABILIT Y H ISTORY ? von jeder Ausradierung des Körpers geht es darum, ihn in einer Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische nicht wie im Evolutionismus der alten Soziologen aufeinander folgen, sondern sich in einer Komplexität verschränken, die im gleichen Maße wächst, wie sich die modernen LebensMacht-Technologien entwickeln. Also nicht eine ›Geschichte der Mentalitäten‹, die an den Körpern nur die Art und Weise in Rechnung stellt, in der man sie wahrgenommen und ihnen Sinn und Wert verliehen hat. Sondern eine ›Geschichte der Körper‹ und der Art und Weise, in der man das Materiellste und Lebendigste an ihnen eingesetzt und besetzt hat.« 32
F A ZIT Hat ›Behinderung‹ eine Geschichte? Diese Frage lässt sich eindeutig mit Ja beantworten. In einem Jahrhunderte währenden, mit der Entwicklung der Moderne parallel verlaufenden Prozess und in Abhängigkeit von allgemein gesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch mit eigener Dynamik ist allmählich eine Differenzierungskategorie entstanden, die wir im deutschsprachigen Raum heute Behinderung (disability) nennen. Zugleich, sozusagen als Schattenseite – oder wäre der Ausdruck ›Sonnenseite‹ angemessener? – haben sich Vorstellungen von Gesundheit, Funktionsfähigkeit und Normalität formiert, die sich tief in die allgemeine »Erfahrung« eingegraben haben, wenn man an dieser Stelle mit Foucault unter »Erfahrung« die »Korrelation« versteht, »die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht«.33 Diese Erfahrung zu historisieren, das hat sich die Disability History vorgenommen, eine Querschnittsdisziplin der internationalen Disability Studies, die im Kontext der sozialen Bewegung behinderter Menschen und beeinflusst durch postmoderne Sozial- und Kulturtheorien entstanden sind. Das wissenschaftliche Programm sowohl der Disability Studies als auch der Disability History zielt auf die Kritik des in den Rehabilitationswissenschaften vorherrschenden individuellen Behinderungsmodells. Das sozial- und kulturwissenschaftlich aufgestellte Forschungsfeld hat zwei eigene Heuristiken entwickelt, zum einen ein soziales Modell, zum anderen ein kulturelles Modell von Behinderung. Dem sozialen Modell geht es darum, den Zusammenhang von Gesellschaft und Behinderung zu verstehen; das kulturelle Modell zielt auf einen allgemeinen Erkenntnisgewinn. Es nimmt mit Hilfe des (nicht-)behinderten Körpers Konzepte in den analytischen Blick, die für die späte Moderne fundamental sind: Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, Normalität und Abweichung, Individualität und Subjektstatus, Identität und Autonomie, Vernunft und 32 | Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983, 180f. 33 | Foucault (1989), 10.
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Menschenwürde, Gleichheit und Solidarität – all diese Begriffe lassen sich exemplarisch anhand der verkörperten Differenz reflektieren. Begreift man in diesem Sinne Behinderung als eine Leitkategorie moderner Gesellschaften, bietet sich die Chance, nicht nur eine Geschichte der Behinderung, sondern auch die allgemeine Geschichte neu zu schreiben.
L ITER ATUR Barnes, Colin/Mercer, Geof (Hg.): Disability Policy and Practice: Applying the Social Model, Leeds 2005. Bernuth, Ruth von: Wunder, Spott und Prophetie: Natürliche Narrheit in den »Historien von Claus Narren«, Tübingen 2009. Borsay, Anne: History, Power and Identity, in: Colin Barnes/Michael Oliver/Len Barton (Hg.): Disability Studies Today, Cambridge 2002, 98-119. Burch, Susan/Sutherland, Ian: Who’s Not Yet Here? American Disability History, in: Teresa Meade/David Serlin (Hg.): Disability and History. Radical History Review 94, Durham, NC 2006, 127-147. Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische, München 1974. Davis, Lennard J. (Hg.): The Disability Studies Reader, 2. Auflage New York/London 2006. Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007. Eckart, Wolfgang U./Jütte, Robert: Medizingeschichte. Eine Einführung, Stuttgart 2007. Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München 2008. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983. Ders.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1988. Ders.: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989. Fuchs, Petra: »Körperbehinderte« zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation. Selbsthilfe – Integration – Aussonderung, Neuwied/Kriftel/ Berlin 2001. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 1996. Gugutzer, Robert/Schneider, Werner: Der »behinderte« Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, 31-53. Hughes, Bill/Paterson, Kevin: The Social Model of Disability and the
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Was ist Disability History? Zur Geschichte und Historiografie von Behinderung Elsbeth Bösl
Z IELSE T ZUNG UND E RKENNTNISINTERESSE DER D ISABILIT Y H ISTORY Zwei Ziele haben sich Historikerinnen und Historiker der Disability History gesteckt. Erstens geht es darum, Behinderung zu historisieren, in den Mittelpunkt von Analyse und Narration zu rücken und neue Geschichten von Behinderung zu schreiben. Statt wie bisher überwiegend aus der ›Normalität‹ heraus über Behinderung zu urteilen, wird nun explizit aus der dezentralen Perspektive von Behinderung über die Gesellschaft geforscht. Zweitens soll Behinderung als allgemeine Analysekategorie der Geschichtswissenschaft etabliert werden, ähnlich wie Geschlecht oder Ethnizität.1 Die US-amerikanischen Wegbereiter der Disziplin, Paul K.
1 | Zur Programmatik vgl. Paul K. Longmore/Lauri Umansky: Disability History: From the Margins to the Mainstream, in: Dies. (Hg.): The New Disability History: American Perspectives, New York/London 2001, 1-29; Susan Burch/Ian Sutherland: Who’s Not Yet Here? American Disability History, in: Disability and History. Radical History Review Nr. 94, Durham, NC 2006, 127-147; Rosemarie Garland-Thomson: Andere Geschichten, in: Petra Lutz/Thomas Macho/Gisela Staupe/Heike Zirden (Hg. für die Aktion Mensch und die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003, 418-424; Wilfried Rudloff: Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform 49 (2003), H. 6, 863-886; Anne Waldschmidt: Soziales Problem oder kulturelle Differenz? Zur Geschichte von ›Behinderung‹ aus der Sicht der ›Disability Studies‹, in: Traverse 13 (2006), H. 3, 31-46; Catherine Kudlick: Disability History: Why We Need Another »Other«, in: American Historical Review 108 (2003), H. 3, 763-793; Elizabeth Bredberg: Writing Disability History: Problems, Perspectives and Solutions, in: Disability&Society 14 (1999), H. 2, 189-201; Douglas C. Baynton: Disability in History, in: Perspectives 44 (2006), H. 8, 5-7.
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Longmore und Lauri Umansky, leiteten 2001 den ersten englischsprachigen Sammelband der Disability History entsprechend ein: »Like gender, like race, disability must become a standard analytical tool in the historian’s tool chest. That is the goal of the new disability history: to join the social-constructionist insights and interdisciplinarity of cultural studies with solid empirical research as we analyze disability’s past.« 2
Disability History versteht sich als Möglichkeit, Geschichte auf eine spezifische Weise zu schreiben. Im angelsächsischen Bereich wurde sie bereits als neue Subdisziplin der Geschichtswissenschaft etabliert. Dagegen handelt es sich im deutschsprachigen Kontext um ein junges Unterfangen.3 Diesem Umstand trägt die folgende Bestandsaufnahme Rechnung, indem sie zwar auf die deutschsprachige Forschung fokussiert, jedoch Beispiele aus dem angelsächsischen Raum mit einbezieht, um möglichst breit zu verdeutlichen, wie Historikerinnen und Historiker Behinderung als Analyseinstrument aufgreifen. Wenngleich die Disability History zu allen Epochen forscht, stehen in diesem Beitrag Erkenntnisinteressen und Forschungsfragen zum 19. und 20. Jahrhundert im Mittelpunkt. Nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Disability Studies konzentriert sich der Forschungsbericht thematisch zunächst auf Studien über die soziokulturellen Konstitutionsvorgänge von Behinderung und Normalität als Differenzierungskategorien der gesellschaftlichen Ordnung. Daran anschließend werden Arbeiten präsentiert, die Menschen mit Behinderungen explizit als handelnde Subjekte auffassen – auch diese Perspektive trennt die Disability History von konventionellen Arbeiten, in denen behinderte Menschen lediglich als Behandelte, Opfer oder Hilfsempfänger/ -innen beschrieben werden. Der Bericht mündet in die Präsentation von historischen Forschungen, die sich mit den institutionellen Konkretisierungen des Behinderungsdiskurses befassen.
Z UR G ESCHICHTE DER D ISABILIT Y S TUDIES Die Disability Studies, deren Programmatik Anne Waldschmidt in diesem Sammelband erläutert, haben inzwischen ihre eigene Disziplinengeschichte. Um zu verstehen, wie befreiend die Ansätze früherer Protagonisten aus dem angelsächsischen Raum, wie etwa der Soziologen Michael Oliver und Irving Kenneth Zola,4 waren, müssen diese in ihren 2 | Longmore/Umansky (2001), 15. 3 | Die methodischen Ansprüche an solche Untersuchungen diskutiert Anne Klein in ihrem Beitrag zu diesem Sammelband. 4 | Michael Oliver ist seit den Anfängen ein Protagonist der britischen Disability Studies. Er hatte an der University of Greenwich eine der ersten Professuren für Disability Studies inne. Irving Kenneth Zola (1935-1994) war Medizinsoziologe
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Entstehungskontext eingeordnet werden. Im Rahmen der seit den 1970er Jahren sich international formierenden Emanzipationsbewegung behinderter Menschen suchten Forscherinnen und Forscher, die mehrheitlich selbst mit Behinderungen lebten, nach einem Weg, diese Lebenslagen auch wissenschaftlich zu reflektieren. Sie distanzierten sich vom traditionellen Erklärungsmodell von Behinderung, das seit dem 19. Jahrhundert vom medizinischen Fachdiskurs gespeist war und Behinderung als individuelles körperliches, intellektuelles oder seelisches Defizit festschrieb; Andersheiten wurden vor allem biologistisch verstanden. Im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft hatten sich aufgrund dieses medizinisch-individuellen Modells allmählich die modernen Herangehensweisen des Staats und der Professionen ausgebildet: Therapie, Rehabilitation, Prävention und Integration auf der einen, Isolation und Ausgrenzung auf der anderen Seite. Menschen, die als abweichend und defizitär aufgefasst wurden, sollten an die jeweiligen funktionalen Erwartungen und Normsetzungen ihrer Umwelt angepasst werden.5 Da die Unfähigkeit zu produktiver Erwerbsarbeit im Mittelpunkt der Defizitorientierung stand, zielte die Normalisierung insbesondere auf das Berufs- und Erwerbsleben ab.6 Von der Defizitzuschreibung und den damit verknüpften gesellschaftlichen und institutionellen Praktiken – Therapeutisierung, Institutionalisierung, Separierung – suchten sich die Mitglieder der Emanzipationsbewegung zu befreien. Sie entwickelten das sogenannte soziale Modell, demzufolge Behinderung sozial hergestellt ist. Am Anfang stand die These, dass Behinderung im ökonomischen und politischen System, in (sozial-)bürokratischen Praktiken und im Alltagshandeln hergestellt wird. Vor allem britische Studien führten die Entstehung von Behinderung
und engagierte sich in der US-amerikanischen Behindertenbewegung. 1982 gründete er die Society for the Study of Chronic Illness: Impairment and Disability, seit 1986 Society for Disability Studies (SDS). 5 | Vgl. zum medizinischen Modell und zur Kritik daran Mark Priestley: Worum geht es bei den Disability Studies. Eine britische Sichtweise, in: Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 23-35, hier 25; Anne Waldschmidt: ›Behinderung‹ neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, in: Dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 11-22, hier 15-17; Gudrun Hopf: Berührungsängste mit Behinderung? Konstruktionen des Andersseins als Forschungsthema, in: Historische Anthropologie 10 (2002), H. 1, 107-114, hier 109; Theresia Degener: Behinderung als rechtliche Konstruktion, in: Petra Lutz/Thomas Macho/Gisela Staupe/Heike Zirden (Hg. für die Aktion Mensch und die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003, 448-466, hier 457. 6 | Vgl. Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009, 31-40.
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vorrangig auf das kapitalistische Wirtschafts- und Sozialsystem zurück.7 Diese bis in die 1990er Jahre in der Literatur anzutreffende Sichtweise erweiterte den Blick auf Behinderung um die Konsequenzen materieller Barrieren und Exklusionsmechanismen. Allerdings konzentrierte sie sich stark auf die Sphäre der Erwerbsarbeit. Häufig argumentierten die Autoren und Autorinnen dieser frühen Arbeiten historisch – ohne jedoch einen explizit historischen Ansatz zu verfolgen. Diese Studien bedürfen also einerseits der Überprüfung durch neuere geschichtswissenschaftliche Studien, andererseits verdienen sie es, als Dokumente eines emanzipatorischen Diskurses historisiert zu werden. In den USA erhielt das soziale Modell früh eine kulturalistische Prägung. Es wurde um Aspekte der Repräsentation, Erfahrung und Identität erweitert. Behinderung galt hier als von kulturellen Ideen und/oder diskursiven Praktiken durchzogen und hervorgebracht.8 Aus kulturalistischer Perspektive rückte zudem das Körperliche wieder in den Fokus – wenn auch in ganz anderer Weise, als es im medizinischen Modell der Fall war. Erforscht wird nun vielmehr, wie bestimmte, sinnlich wahrnehmbare oder kognitiv vermittelte Merkmale – verkörperte Andersheiten9 – in sich wandelnden historischen und kulturellen Kontexten bewertet werden und wie daraus in komplexen Benennungsprozessen die Zuschreibung Behinderung entsteht. Materielle Barrieren, namentlich auch Produktionsfaktoren spielen, so die Überlegung, durchaus eine Rolle; sie können Menschen mit Andersheiten tatsächlich in ihren Lebensvollzügen 7 | Vgl. Michael Oliver: The Politics of Disablement. A Sociological Approach, New York 1990, vor allem das Kapitel ›Disability and the Rise of Capitalism‹ und 69-70; Ders.: Understanding Disability. From Theory to Practice, London 1996; Paul Abberley: Work, Utopia and Impairment, in: Len Barton (Hg.): Disability and Society: Emerging Issues and Insights, London 1996, 61-79, hier 63, 76; Brendan J. Gleeson: Disability Studies: A Historical Materialist View, in: Disability and Society 12 (1997), H. 2, 179-202, vor allem 194-196. Kritisch äußern sich dazu z.B. Carol Thomas: Theorien der Behinderung. Schlüsselkonzepte, Themen und Personen, in: Jan Weisser/Cornelia Renggli (Hg.): Disability Studies. Ein Lesebuch, Luzern 2004, 31-55, hier 33-34, sowie Colin Barnes/Geof Mercer/ Tom Shakespeare: Exploring Disability. A Sociological Introduction, Cambridge 1999, vor allem 30. 8 | Lennard J. Davis: Bodies of Difference: Politics, Disability, and Representation, in: Brenda Jo Brueggemann/Sharon L. Snyder/Rosemarie Garland-Thomson (Hg.): Disability Studies: Enabling the Humanities, New York 2002, 100-106; Anja Tervooren: Differenz anders gesehen: Studien zu Behinderung, in: Vierteljahrsschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 69 (2000), H. 3, 316-319, hier 317; vgl. exemplarisch David T. Mitchell/Sharon L. Snyder: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Ann Arbor, 2000; Rosemarie Garland-Thomson: Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997. 9 | Vgl. zu diesem Begriff den Beitrag von Anne Waldschmidt in diesem Band.
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beschränken.10 Zu Menschen, die als ›behindert‹ gelten, werden diese jedoch erst in den skizzierten Zuschreibungen. Indem sie Kategorisierungs- und Benennungsprozesse kritisch hinterfragen, machen kulturalistisch orientierte Forscherinnen und Forscher Andersheit als Faktor im historischen Prozess greifbar.
K ONSTRUK TIONEN VON B EHINDERUNG UND N ORMALITÄT : D ISABILIT Y H ISTORY ALS W ISSEN (SCHAF T) S - UND K ULTURGESCHICHTE Ein grundlegendes Erkenntnisinteresse der Disability History gilt der Frage, wie die soziokulturelle Differenzierungskategorie Behinderung im jeweils historischen Kontext gebildet wird und auf welche Weise Menschen ihr zugeordnet werden. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf dem menschlichen Körper als einem wichtigen Träger der für Wahrnehmungs- und Konstitutionsvorgänge nötigen Informationen liegen. Der Frage, wie und warum in wissenschaftlichen Diskursen auf physische, psychische und mentale Merkmale zurückgegriffen wurde, um das ›Abweichende‹ vom ›Normalen‹ abzugrenzen, widmet sich Urs Zürcher in seiner Studie zur Entstehung der Teratologie Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914. Er zeigt auf, wie der medizinische Blick auf Andersheiten, Klassifikationen und Typenbildungen und damit wesentliche Teile des Behinderungskonzepts der bürgerlichen Moderne entstanden.11 Deutlich wird, dass Behinderung und Normalität als kulturelle Konzepte einander bedürfen, um überhaupt Erklärungswert zu erlangen. Zürcher demonstriert zudem, wie die Kategorisierungen und Bilder von körperlicher Behinderung – damals als »Missbildung« bezeichnet – visualisiert, popularisiert und in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist wurden. Mit der Entstehung des professionellen verobjektivierenden Blicks auf Behinderung, der Vermessung von Andersheiten und deren Visualisierung befasst sich auch der von Michael Hagner herausgegebene Sammelband Der falsche Körper.
10 | Vgl. Garland-Thomson (2003), 421; Thomas (2004), 46; Waldschmidt (2003), 13, 20. Ein Teil der kulturalistisch orientierten Studien ist explizit diskurstheoretisch ausgerichtet. Vgl. Walburga Freitag: Contergan. Eine genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biografischer Erfahrungen, Münster/New York/München/Berlin 2005; Elizabeth C. Hamilton: From Social Welfare to Civil Rights. The Representation of Disability in TwentiethCentury German Literature, in: David T. Mitchell/Sharon L. Snyder (Hg.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability, Ann Arbor 1997, 223-239. 11 | Urs Zürcher: Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914, Frankfurt a.M./New York 2004.
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Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten.12 Beide Publikationen tragen nicht nur zu den Forschungsdebatten um die Visualisierung wissenschaftlichen Wissens und die Wissenschaftspopularisierung bei, sondern konstituieren die Geschichte von Behinderung auch als Wissen(schaft)sgeschichte. Gerade die Disability History ist damit konfrontiert, dass auch sie an der Produktion und Verbreitung von Wissen über Behinderungen, mithin an deren Konstitution beteiligt ist. Plakativ lässt sich dies an den Kontroversen um die sogenannte Deaf History in den USA zeigen. Gehörlose Menschen, die sich der Deaf Community zugehörig fühlen, verstehen Deafness – im Gegensatz zu deafness13 – nicht als Behinderung und nehmen sich als sprachliche und kulturelle Gruppe mit einer eigenen Geschichte, der Deaf History, wahr. In einer Geschichte von Behinderung können sie sich nicht wieder finden. Demgegenüber sehen einige Vertreterinnen und Vertreter der Disability History die Deaf History als deren Subgenre an und behandeln Deafness sehr wohl als Behinderung.14 Der neueren Kulturgeschichte geht es um Repräsentationen, Dar- und Vorstellungen aller Art, um Sprechweisen und Praktiken. Maren Möhring legt in ihrem Aufsatz Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung am Beispiel der deutschen FKK-Bewegung dar, welche Bedeutung Blicke und Sichtbarkeit für die Konstitution des ›behinderten Körpers‹ von kriegsbeschädigten Männern hatten. Mit einer an Michel Foucault anschließenden Orientierung auf Biopolitik trägt sie zu einem tieferen Verständnis der historischen Normierungs- und Disziplinierungsvorgänge bei, die am Körper sichtbar werden.15 Mit der Visualisierung und 12 | Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995. 13 | Deafness wird nicht als Behinderung, sondern als kulturelle Erfahrung, die Deaf Community als sprachliche Einheit verstanden. Überwiegend Menschen, die in Gebärdensprachen kommunizieren und in der Deaf Culture sozialisiert wurden, bezeichnen sich als Deaf. Hingegen nehmen sich Menschen, die in einer Kultur der Hörenden aufgewachsen sind, häufig erst später im Leben gehörlos wurden und (noch) nicht in Gebärdensprachen kommunizieren, eher als ›behindert‹ und mithin deaf wahr. Vgl. zur Konstruktion und Trennung von Deaf/deaf z.B. Jan Branson/Don Miller: Damned for their Difference: The Cultural Construction of Deaf People as Disabled, Washington 2002. 14 | Vgl. Günther List: Arbeitsfeld und Begriff der ›Deaf History‹ – ein Klärungsversuch, in: Das Zeichen 7 (1993), Nr. 25, 287-294; Harlan Lane: The Mask of Benevolence. Disabling the Deaf Community, New York 1992; Jack Gannon: Deaf Heritage. A Narrative History of Deaf America, Silver Spring 1981; John V. van Cleve (Hg.): Deaf History Unveiled. Interpretations from the New Scolarship, Washington 1993. 15 | Maren Möhring: Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, 175-197.
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populären Inszenierung von körperlichen Andersheiten beschäftigt sich Anja Tervooren in Freak-Shows und Körperinszenierungen. Kulturelle Konstruktionen von Behinderung. Ihre Arbeit reiht sich in einen Forschungsbereich ein, den Rosemarie Garland-Thomson mit der Anthologie Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body und Rachel Adams mit ihrer an den Queer und Postcolonial Studies orientierten literaturwissenschaftlichen Studie Sideshow USA: Freaks and the American Cultural Imagination abgesteckt haben.16 Es sollte der Kulturgeschichte allerdings nicht damit getan sein, den kulturellen Repräsentationen von Behinderung auf die Spur zu kommen, wenngleich dies sowohl Carol Poore in der Studie Disability in TwentiethCentury German Culture am Beispiel der Hochkultur als auch Claudia Gottwald in ihrer Arbeit zum Diskurs über das Lachen über Behinderungen hervorragend gelingt.17 Behinderung könnte auch als Analyseinstrument eingesetzt werden, wenn es darum geht, beispielsweise den soziokulturellen Bedeutungsgehalt von Konsum-, Kunst- und Kulturtechniken und -produkten wie Mode, Design, Wohnen oder Ernährungsweisen zu untersuchen. Einen Beitrag zur neueren Kulturgeschichte leistet die Disability History auch dann, wenn sie – vom Cultural Turn gespeist – Behinderung systematisch entnaturalisiert und durch die Historisierung des vermeintlich Natürlichen den Blick auf die Dichotomie von Natur und Kultur als Projekt der Moderne schärfen hilft.
M ENSCHEN MIT B EHINDERUNGEN ALS HANDELNDE S UBJEK TE In den Anfangsjahren der Disability Studies entstanden Narrative der allgegenwärtigen Ausgrenzung und Unterdrückung passiver Opfer durch
16 | Anja Tervooren: Freak-Shows und Körperinszenierungen. Kulturelle Konstruktionen von Behinderung, in: Behindertenpädagogik 41 (2002), 173-184; Rosemarie Garland-Thomson (Hg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, New York/London 1996; Rachel Adams: Sideshow U.S.A. Freaks and the American Cultural Imagination, Chicago/London 2001. 17 | Carol Poore: Disability in Twentieth-Century German Culture, Ann Arbor 2007; Claudia Gottwald: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung, Bielefeld 2009; Christian Mürner: Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen. Sensationslust und Selbstbestimmung, Weinheim/Basel/Berlin 2003. Beispiele aus der angelsächsischen Forschung: John Schuchman: Hollywood Speaks: Deafness and the Film Entertainment Industry, Urbana 1988; Martin F. Norden: The Cinema of Isolation: A History of Physical Disability in the Movies, New Brunswick 1994; Martin S. Pernick: The Black Stork: Eugenics and the Death of »Defective« Babies in American Medicine and Motion Pictures since 1915, New York 1996.
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eine übermächtige Gesellschaft von ›Normalen‹.18 Ein typisches, sowohl in der angelsächsischen als auch in der deutschsprachigen Forschung vertretenes Beispiel ist die aus der damaligen Frauenforschung und den Race&Ethnicity Studies adaptierte Theorie der Doppelten Benachteiligung.19 Sie besagt, dass Behinderung als zweite Devianzkategorie neben dem weiblichen Geschlecht die allgemeine strukturelle Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft verstärke – mit dem Effekt einer doppelten Abwertung und Diskriminierung. Seit dem Ende der 1990er Jahre geriet diese Sichtweise aufgrund ihrer einfachen, additiven Aneinanderreihung von Ungleichheitskategorien in die Kritik, da sie Binnendifferenzierungen missachtet.20 Unvermindertes Interesse gilt aber der Frage, was passiert, wenn Kategorien wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Ethnizität oder Klasse aufeinandertreffen. Gegenwärtig wird hier auf die Verwobenheit solcher Differenzkategorien als diskursiv hergestellte Konstrukte der Moderne hingewiesen.21 Die Schweizer Historikerin Mariama Kaba 18 | Vgl. Für die USA z.B. Joseph P. Shapiro: No Pity: People with Disabilities Forging a New Civil Rights Movement, New York 1994; Frances A. Koestler: Unseen Minority. A Social History of Blindness in the United States, New York 1976; Jack Gannon: Deaf Heritage. A Narrative History of Deaf America, Silver Springs 1981. Für Deutschland z.B. Wolfgang Jantzen: Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens, München 1982; Walter Fandrey: Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland, Stuttgart 1990; Udo Sierck: Arbeit ist die beste Medizin. Zur Geschichte der Rehabilitationspolitik, Hamburg 1992; Ders./Nati Radtke: Die WohlTÄTER-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur Humangenetischen Beratung, Hamburg 1984; Erwin Reichmann-Rohr: Geschichte und Formen der Aussonderung behinderter Menschen, in: Behindertenpädagogik 25 (1986), H. 2, 114-122. 19 | Vgl. Silke Boll/Theresia Degener/Carola Ewinkel/Gisela Hermes et al. (Hg.): Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau. Ein Buch von behinderten Frauen, München 1985, vor allem 8; Vera Moser: Geschlecht: behindert? Geschlechterdifferenz aus sonderpädagogischer Perspektive, in: Behindertenpädagogik 36 (1997), H. 2, 138-149, vor allem 142-143, 145 20 | Vgl. zu dieser Kritik z.B. Claudia Franziska Bruner: KörperSpuren. Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen, Bielefeld 2005. 21 | Erprobt wird beispielsweise der bereits 1989 von Crenshaw für die Diversity Studies vorgeschlagene Ansatz der Intersektionalität: Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, in: The University of Chicago Legal Forum 4 (1989), 139167; Heike Raab: Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht, in: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, 127148; Jenny Morris: Gender and Disability, in: John Swain/Vic Finkelstein/Sally
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hat diese Herausforderung mit Blick auf Geschlecht und Behinderung in ihrem Beitrag Quelle place pour une perspective genre dans la ›Disability History‹? beschrieben. Ihr geht es darum, unter anderem an Beispielen aus der kulturellen und künstlerischen Produktion zu untersuchen, wie sich die körperlichen Dimensionen von Behinderung mit den sexualisierten Dimensionen von Körpern kreuzen oder überlagern.22 Natalia Molina bringt hingegen die Kategorien Ethnizität und Behinderung in einer Analyse der US-amerikanischen Einwanderungsverwaltung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen.23 Die Disability History grenzt sich nicht nur von der Geschichte unterdrückter Opfer ab; sie weigert sich ebenso, Menschen mit Behinderungen nur als bedürftige Hilfsempfänger zu beschreiben. Mit der Abkehr von diesen klassischen Erzählungen geht seit einigen Jahren ein tiefgreifender Perspektivenwechsel einher. Historikerinnen und Historiker sind zunehmend bereit, behinderte Menschen als Handelnde und als Subjekte der Geschichte zu betrachten, anstatt sie nur als Behandelte zu untersuchen. An dieser Stelle sind vor allem zwei Studien zum Nationalsozialismus zu nennen: Petra Fuchs’ Dissertation ›Körperbehinderte‹ zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation: Selbsthilfe – Integration – Aussonderung und Malin Büttners Buch ›nicht minderwertig, sondern mindersinnig …‹ Der Bann G für Gehörgeschädigte in der Hitler-Jugend.24 Die Autorinnen begnügen sich nicht damit, Menschen mit Behinderungen als Opfer eines verbrecherischen Regimes zu behandeln, das Politiken der Vernichtung und Ausgrenzung mit denen des Nutzbarmachens verzahnte. Vielmehr zeigen Fuchs und Büttner handelnde Subjekte, die unter dem Dach ihrer gleichgeschalteten Interessenvertretungen an der für das NS-Regime typischen Dialektik von partieller Integration der ›Nützlichen‹ und Auslieferung der als ›wertlos‹ Definierten teilhatten. Beide Studien illustrieren, dass gerade die Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus danach verlangt, intensiver und ergebnisoffener nach den Handlungs(spiel)räumen und Selbstbildern von Menschen mit Behinderungen zu suchen. Wie lohFrench/Michael Oliver (Hg.): Disabling Barriers – Enabling Environments, London 1993, 85-92. Vgl. hierzu auch Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hg.): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010. 22 | Mariama Kaba: Quelle place pour une perspective genre dans la ›Disability History‹? Histoire du corps des femmes et des hommes à travers le handicap, in: Traverse 13 (2006), H. 3, 47-60, hier 54. 23 | Natalia Molina: Medicalizing the Mexican: Immigration, Race, and Disability in the Early-Twentieth-Century United States, in: Radical History Review, Nr. 94, Durham, NC 2006, 22-37. 24 | Petra Fuchs: »Körperbehinderte« zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation: Selbsthilfe – Integration – Aussonderung, Neuwied/Kriftel/Berlin 2001; Malin Büttner: »Nicht minderwertig, sondern mindersinnig …« Der Bann G für Gehörgeschädigte in der Hitler-Jugend, Frankfurt a.M. 2005.
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nenswert dieser Blick auch im Hinblick auf andere Epochen sein kann, verdeutlicht Cornelia Brink. Sie sucht in den Selbstthematisierungen von Psychiatriepatientinnen und -patienten um 1900 und in den 1970er Jahren nach kollektiven Erfahrungen und zeigt Argumentations- und Handlungsvermögen in konkreten historischen Situationen auf.25 Von aktiv handelnden Subjekten erzählt auch die Geschichte der Eltern-, Selbsthilfe- und Emanzipationsbewegung nach 1945, die in den USA einen eigenen Forschungsschwerpunkt bildet.26 Hingegen sind die Kenntnisse über Interessenorganisationen im deutschsprachigen Raum noch gering.27 Derartige Untersuchungen könnten einen wesentlichen Beitrag zur bundesdeutschen Protestgeschichte, zur Geschichte der sozialen Bewegungen in der Demokratie und zur Politisierung der bundesdeutschen Öffentlichkeit leisten – insbesondere dann, wenn sie dem Verhältnis von Behindertenbewegung und anderen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre nachgehen.28 Darüber hinaus böte gerade die Geschichte der Emanzipationsbewegungen einen guten Ansatzpunkt, die bisher weitgehend am Nationalstaat ausgerichtete deutschsprachige Disability History um transnationale Perspektiven etwa in Form einer Beziehungsgeschichte emanzipativer Bewegungen oder sogar eines historischen Vergleichs zu erweitern. 25 | Cornelia Brink: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980, Göttingen 2010; Dies: »Anti-Vernunft« und »geistige Gesundheit«. Eine Fallgeschichte über Norm, Normalität und Selbstnormalisierung im deutschen Kaiserreich, in: Sibylle Brändli Blumenbach/Barbara Lüthi/ Gregor Spuhler (Hg.): Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2009, 121-141; dies.: »Keine Angst vor Psychiatern«. Psychiatrie, Psychiatriekritik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik (1960-1980), in: Heiner Fangerau/Karin Nolte (Hg.): »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert. Legitimation und Kritik, Stuttgart 2005, 341-360. Vgl. dazu auch den Beitrag von Cornelia Brink im vorliegenden Band. 26 | Jane Campbell/Michael Oliver: Disability Politics. Understanding our Past, Changing our Future, London 1996; Duane F. Stroman: The Disability Rights Movement. From Deinstitutionalization to Self-determination, Lanham 2003; James I. Charlton: Nothing about Us Without Us. Disability Oppression and Empowerment, Berkeley 1998; Doris Zames Fleischer/Frieda Zames: The Disability Rights Movement. From Charity to Confrontation, Philadelphia 2001; Richard K. Scotch: From Good Will to Civil Rights. Transforming Federal Disability Policy, Philadelphia 2001; Sharon Barnatt/Richard K. Scotch: Disability Protests: Contentious Politics 1970-1999, Washington, 2001; Susan Burch: Signs of Resistance. American Deaf Cultural History, 1900 to World War II, New York 2002. 27 | Vgl. ansatzweise Christian Hannen: Von der Fürsorge zur Barrierefreiheit. Die Hamburger Gehörlosenbewegung 1875-2005, Seedorf/Hamburg 2006. 28 | Die bisherigen Anthologien zur Protestgeschichte und zu den sozialen Bewegungen berücksichtigen die Behindertenbewegung nicht.
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Menschen mit Behinderungen als Akteure und Akteurinnen ernst zu nehmen, bedeutet auch, über den Bereich des Politischen hinaus zu blicken und sie als Konsumentinnen und Konsumenten, Kulturschaffende und -rezipierende, sexuelle und expressive Wesen etc. zu sehen. Wer behinderten Menschen eine Pluralität von Rollen, Funktionen und Positionen in der Gesellschaft zugesteht, vermeidet die Homogenitätsannahme bisheriger geschichtswissenschaftlicher Gesellschaftsanalysen, in denen Menschen mit Behinderungen – wenn überhaupt – den Randgruppen und dem ›Randständigen‹ zugeordnet werden. Es muss zukünftig vielmehr darum gehen zu demonstrieren, wie Menschen vermittels verschiedenster, auch gegensätzlicher kategorialer Fremd- und Selbstzuschreibungen in soziokulturellen Ordnungen handeln und innerhalb derart strukturierter Räume um Teilhabe und den Zugriff auf Ressourcen ökonomischer, sozialer oder kultureller Art kämpfen. Die Disability History muss zeigen, dass die Vorstellung, Menschen mit Behinderungen bildeten qua Biologie eine homogene Gruppe, keine Ontologie, sondern ein Produkt der Moderne ist.29 Mediävistische und althistorische Studien sind hier besonders instruktiv, denn sie zeigen, dass in früheren Epochen Menschen mit sehr vielfältigen Formen verkörperter Andersheit lebten, die jeweils höchst unterschiedliche Konsequenzen für das Leben von Individuen und Kollektiven haben konnten. Ebenso vielfältig und dem historischen Wandel unterworfen waren die gesellschaftlichen Funktionen, die ihnen zugewiesen wurden, sowie die Bandbreite familiärer und gesellschaftlicher Reaktionen auf Andersheit oder Beeinträchtigung.30 Im angelsächsischen Raum führte der neue Akteursfokus der Disability History bereits zu einer Konjunktur biografischer Zugänge, die sich in einen entsprechenden Trend der Geschichtswissenschaft einordnen, der seit den 1980er Jahren – wohl als Reaktion auf die zuvorige Konzentration der Disziplin auf die Analyse von menschenlosen Strukturen – zu beobachten ist. Mit Hilfe der Biografieforschung gelingt es zunehmend, die Wechselwirkungen zwischen einer historischen Person oder Gruppe und überindividuellen Strukturen, Prozessen und Kräften ihrer Zeit zu erfassen – gleichgültig, ob es sich dabei um eine herausragende historische 29 | Vgl. Garland-Thomson (2003), 421; David T. Mitchell/Sharon L. Snyder: Introduction. Disability Studies and the Double Bind of Representation, in: Dies. (Hg.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability, Ann Arbor 1997, 1-31, hier 7. 30 | Vgl. z.B. Martha Lynn Edwards: Constructions of Physical Disability in the Ancient Greek World: The Community Concept, in: David T. Mitchell/Sharon L. Snyder (Hg.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability, Ann Arbor 1997, 35-50; Robert Garland: The Eye of the Beholder. Deformity and Disability in the Graeco-Roman World, Ithaca 1995; Irina Meltzer: Disability in Medieval Europe: Physical Impairment in the High Middle Ages, c1100-c1400, London 2006; Ruth von Bernuth: Wunder, Spott und Prophetie: Natürliche Narrheit in den »Historien von Claus Narren«, Tübingen 2009.
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Persönlichkeit handelt oder nicht. Kim Nielsens Buch über Helen Keller oder Hugh Gallaghers moderne Version der Erzählung über Franklin D. Roosevelt sind gute Beispiele für diesen Forschungsansatz; sie lösen sich erfolgreich von den vielfach anzutreffenden heroisierenden Persönlichkeitsdarstellungen.31 Penny Richards, Katherine Castles und Janice Brockley zeigen in dem Sammelband Mental Retardation in America. A Historical Reader auf, welchen Erkenntnisgewinn Familienbiografien bringen.32 Sie untersuchen die familiären Kontexte, in denen Menschen mit Behinderungen verortet waren. Zudem analysieren sie die Entstehungsphasen von Elternorganisationen und beleuchten exemplarisch, wie und unter welchen Bedingungen behinderte Menschen und ihre nächsten Angehörigen für sich selbst zu sprechen begannen.
I NSTITUTIONELLE UND SOZIALSTA ATLICHE K ONKRE TISIERUNGEN DES B EHINDERUNGSDISKURSES Nicht zuletzt stellt sich die Disability History diesen Fragen: Wie ist die Entstehung von Behinderung in den Kontext von Moderne, bürgerlicher Gesellschaft und Wohlfahrtsstaatlichkeit einzuordnen? Welche wissenschaftlichen Diskurse, welche politischen und sozialstaatlichen Interventionen und welche institutionellen Kontrollmechanismen bestimmen diesen Prozess? Institutionelle Perspektiven auf Behinderung werden durch das Vorhandensein von gut zugänglichem und umfangreichem Quellenmaterial begünstigt, die die institutionelle Praxis hervorgebracht hat. Wer dekonstruierend und dem sozialen Modell folgend die Entstehung von Behinderung in der Gesellschaft und damit auch in deren Institutionen untersucht, reduziert das Risiko, die traditionellen Erfolgsgeschichten über die wohltätigen Interventionen von Medizin und Sozialstaat zu re31 | Nielsen porträtiert Helen Keller nicht nur als Jugendliche, sondern als erwachsene Frau, als Suffragette und Sozialistin. Sie demonstriert, wie diese von Interessenorganisationen instrumentalisiert wurde. Vgl. Kim Nielsen: The Radical Lives of Helen Keller, New York 2004. Gallagher thematisiert die schwierige Rolle Roosevelts als Identifikationsfigur für Menschen mit Behinderungen. Roosevelt gilt als die personifizierte ›Überwindung‹ von Behinderung, als Zeichen des Erfolgs ›trotz‹ Beeinträchtigung. Gallagher zeigt, dass Roosevelts Erfolg darauf beruhte, dass er die Behinderung mithilfe geschickter Medienkoalitionen verbarg. Vgl. Hugh Gallagher: FDR’s Splendid Deception, Arlington 1994. 32 | Penny Richards: »Beside Her Sat Her Idiot Child«: Families and Developmental Disability in Mid-Nineteenth-Century America, in: Steven Noll/James W. Trent (Hg.): Mental Retardation in America: A Historical Reader, New York 2004, 6586; Katherine Castles: »Nice, Average Americans«. Postwar Parents’ Groups and the Defense of the Normal Family, in: ebd., 351-370; Janice Brockley: Rearing the Child who Never Grew: Ideologies of Parenting and Intellectual Disability in American History, in: ebd., 130-164.
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produzieren.33 Allerdings geht mit dem institutionellen Zugang die Herausforderung einher, Menschen in System und Praxis sichtbar werden zu lassen, also dort, wo die Quellenlage die Institution hervortreten lässt. Wilfried Rudloff stellt sich dieser Herausforderung am Beispiel der bundesdeutschen Sozialpolitik. Seine Arbeiten tragen wesentlich zum Verständnis des modernen Wohlfahrtstaats einschließlich seiner Heilungs- und Kompensationslogiken bei.34 Den Fragen, wie die Kategorie Behinderung im wissenschaftlichen und politischen Diskurs der Bundesrepublik konstituiert wurde und sich in der Behindertenpolitik konkretisierte, widmet sich die Studie der Verfasserin, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland.35 Aus der Feder von Marcel Boldorf stammen instruktive Beiträge zur Geschichte der Rehabilitation in der DDR.36 Urs Germann nimmt sich in einem Forschungsprojekt dem Rehabilitationsparadigma und der sozia33 | Dem Fürsorgediskurs der Moderne folgend entstanden solche Studien vor allem in der herkömmlichen Medizin- und Sozialstaatsgeschichte sowie in der Pädagogikgeschichte. Häufig gehörten die Autorinnen und Autoren dieser Studien den Institutionen und Professionen, über die sie schrieben, selbst an und hatten keine Qualifizierung für historisches Arbeiten. Wie Elizabeth Bredberg richtig anmerkt, ist der Nutzen solcher Studien für die Disability History in der Regel gering. Jedoch lassen sich diese selbst wiederum als Quelle heranziehen, wenn es darum geht, Denkweisen über Behinderung aufzuspüren. Vgl. Bredberg (1999), 190-191. 34 | Vgl. z.B. Wilfried Rudloff: Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform 49 (2003), H. 6, 863886; ders.: Sozialstaat, Randgruppen und bundesrepublikanische Gesellschaft. Umbrüche und Entwicklungen in den sechziger und frühen siebziger Jahren, in: Franz-Werner Kersting (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003, 181-219; vgl. auch die Querschnittsbeiträge Rehabilitation und Hilfen für Behinderte im Reihenwerk: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/ Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bde. 3-5, Baden-Baden 2005-2003. Siehe auch den Aufsatz von Wilfried Rudloff in diesem Band. 35 | Bösl (2009). 36 | Marcel Boldorf: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Bandverantw.): Deutsche Demokratische Republik 1949-1961: Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus, Baden-Baden 2004, 453-474; Ders.: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/ Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9: Christoph Kleßmann (Bandverantw.): Deutsche Demokratische Republik 19611971: Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung, Baden-Baden 2006, 450-469.
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len Sicherung bei Behinderung am Beispiel der Schweiz an.37 Diese Forschungsarbeiten bieten Überblicke über Systeme und Strukturen. Am Gegenstand einer Einzelinstitution, dem Oskar-Helene-Heim in Berlin, analysiert Philipp Osten die Anfänge der ›Krüppelfürsorge‹ und historisiert in seiner Monografie Die Modellanstalt deren Protagonisten. Er zeigt unter anderem auf, wie zwischen der Jahrhundertwende und den 1930er Jahren wissenschaftliche, vor allem orthopädische und heilpädagogische Diskurse in sozialpolitischen Agenden konkretisiert und in einer Spezialeinrichtung umgesetzt wurden.38 Des Weiteren können Medizintechnik, Prothetik aber auch Mobilitätsund Kommunikationstechnologien zu den Praktiken der medizinischtechnischen Normalisierung von Körpern befragt werden. Intensiver, als dies bisher geschehen ist, sollten wiederum medizinisch-naturwissenschaftliche Messverfahren, aber auch die Fotografie auf ihre Funktion bei der Definition von Behinderung als Normabweichung hin untersucht werden. Hierfür bietet sich ein technikhistorischer Ansatz an, der die soziale Konstruktion von Technik in den Mittelpunkt rückt und das wechselseitige Verhältnis von Techniken und Kategoriebildungen in den Blick nimmt. Arbeiten zur Implantationstechnologie und ästhetischen Chirurgie gehen bereits der soziokulturellen Dimensionen der Verknüpfung von menschlichem Körper und Technologie nach, konkreter, den Wegen, auf denen Technik zur Bedeutung und zur Erfahrung von Körpern mit Behinderungen beiträgt.39 Aus der bereits angesprochenen körpergeschichtlichen Perspektive wird ersichtlich, dass körperliche Abweichung, definiert als soziales Problem, keineswegs an Gewicht verlor, wenn sie mit Normalisierungsinstrumenten der Therapie, Rehabilitation oder Prothetik behandelt wurde. Derartige Normalisierungs- und Integrationsprojekte hatten vielmehr den gegenteiligen Effekt: Sie leisteten idealisierten Körpervorstellungen und der Überzeugung Vorschub, dass Abweichendes angeglichen werden 37 | Urs Germann: »Eingliederung vor Rente«. Behindertenpolitische Weichenstellungen und die Einführung der schweizerischen Invalidenversicherung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 58 (2008), H. 2, 178-197. Vgl. auch den Aufsatz des Autors in diesem Sammelband. 38 | Philipp Osten: Die Modellanstalt. Über den Aufbau einer »modernen Krüppelfürsorge« 1905 bis 1933, Frankfurt a.M. 2004. 39 | Katherine Ott/David Serlin/Stephen Mihm (Hg.): Artificial Parts, Practical Lives. Modern Histories of Prosthetics, New York/London 2002; Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper – lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich 2005; Eva Horn: Prothesen. Der Mensch im Lichte des Maschinenbaus, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, 193-209, 441-446; Matt Price: Lives and Limbs, in: Stanford Electronic Humanities Review, Bd. 5/Supplement: Cultural and Technological Incubations of Fascism, www. stanford.edu/group/SHR/5-supp/text/price.html (19.1.2010).
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müsse. An dieser Stelle wird das Dilemma des Rehabilitationsparadigmas besonders sichtbar. Demonstriert haben dies beispielsweise Sabine Kienitz und Eva Horn in ihren Studien über Kriegsbeschädigte während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik.40
F A ZIT Als neues, sich gerade etablierendes Forschungsfeld bietet die deutschsprachige Disability History vielfältige Potentiale. Dabei kann sie von methodischen und inhaltlichen Anregungen aus dem angelsächsischen Kontext zehren. Bereits jetzt beeindrucken Breite und Vielfalt der Disability History. Das Interesse an soziokulturellen Konstruktionen und Repräsentationen von Behinderung legt es nahe, verstärkt auch jüngere geschichtswissenschaftliche Zugänge zu erproben, also beispielsweise dem Spatial oder Iconic Turn zu folgen. Für ›große Erzählungen‹ ist ebenso Raum wie für Spezialstudien: aus subjekt- oder institutionengeschichtlicher Perspektive, unter kultur- oder sozialgeschichtlicher Methode oder aus der Sicht der Technik- oder Wissensgeschichte. Um sich als relevanter und nutzbringender Forschungszugang zu beweisen, steht die Disability History vor einer wichtigen Herausforderung: Sie muss demonstrieren, dass mit ihr die Geschichtswissenschaft einen wesentlichen Gewinn aus der Analysekategorie Behinderung ziehen und ihren Blick auf gesellschaftliche Diversität maßgeblich erweitern kann.
40 | Sabine Kienitz: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923, Paderborn 2008; Eva Horn: Der Krüppel. Maßnahme und Medien zur Wiederherstellung des versehrten Leibes in der Weimarer Republik, in: Dietmar Schmidt (Hg.): KörperTopoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, Weimar 2002, 109-136.
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Wie betreibt man Disability History? Methoden in Bewegung Anne Klein
Will man die Methoden der Disability History kennenlernen, so muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass es sich dabei nicht um ein festgelegtes Programm handelt, das pragmatisch erlernt und angewendet werden kann. Angesichts der spezifischen Anforderungen, die das Thema ›Behinderung‹ an interessierte Forscherinnen und Forscher stellt, ist vielmehr eine theoretische Fundierung des Methodendesigns unerlässlich. Vor allem auf diese an wissenschaftstheoretische Fragestellungen anschließenden Prämissen, die es im Rahmen eines Forschungsvorhabens zu bedenken gilt, möchte ich im Folgenden näher eingehen.1 Studien zu ›Behinderung‹ sind – wie wissenschaftliche Arbeiten zu anderen Themen auch – voraussetzungsvoll. Forschung zur Geschichte von ›Behinderung‹ ist es allemal. Wenn man ›Behinderung‹ im Sinne der Disability Studies2 als eine durch politische Interessen, gesellschaftliche Problemstellungen und historische Wissensbestände erzeugte Konstruktion versteht, ist zur Untersuchung dieser Konstruktion ein möglichst unvoreingenommener, kontextsensitiver und interdisziplinärer Wahrnehmungshorizont erforderlich. Wird die Herangehensweise zu schnell auf einen eindimensionalen methodischen Zugriff reduziert, entsteht eine hohe Anfälligkeit für Vorurteils- und Stereotypbildungen sowie unreflektierte Zuschreibungsmuster. Eine geschichtswissenschaftliche Perspektive einzunehmen scheint insofern hilfreich zu sein, als sie zum einen ermöglicht, das historische Gewordensein von Behinderungskonstruktionen zu erkennen.3 Zum anderen wird die enge Kopplung von ›Behinderung‹ an das Projekt der Moderne deutlich. 1 | Ich danke Miriam Haller für kritisches Gegenlesen und Anregungen zu diesem Beitrag. 2 | Vgl. zu den Disability Studies den Beitrag von Anne Waldschmidt in diesem Band. 3 | Einen guten Überblick geben Herbert C. Covey: The Changing Social Contexts of Disabilities, in: Ders. (Hg.): Social Perceptions of People with Disabilities in
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Der Frage nach den Methoden der Disability History werde ich mich im Folgenden in fünf Schritten annähern: Erstens werde ich das kritische Erkenntnisinteresse der Disability Studies umreißen, zweitens die generelle Funktion von Forschungsmethoden beleuchten. Drittens werde ich die methodischen Besonderheiten der Geschichtswissenschaft aufzeigen, viertens die geschichtswissenschaftlichen Implikationen der Disability History. Im fünften Kapitel werden beispielhaft drei deutschsprachige Forschungen vorgestellt, die sich um eine Perspektivenverschiebung bemühen. Abschließen werde ich den Beitrag mit einem kleinen Methodenwegweiser für Studien im Bereich der Disability History.
E RKENNTNIS , I NTERESSE UND K RITIK Im Unterschied zu herkömmlicher Forschung gehört es zu den Prämissen der Disability Studies, von einem epistemologischen Bruch auszugehen: Die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen, deren institutionelle Rahmung und die wissenschaftlichen Beschreibungen von Beeinträchtigungen werden in den Disability Studies konstruktivistisch verstanden. An den vielfältigen Bedeutungen und sozialen Praktiken, zwischen ›Fähigkeit‹ (ability) und ›Unfähigkeit‹ (disability) zu differenzieren, setzen die Disability Studies an. Ihre Vertreterinnen und Vertreter gehen davon aus, dass es eines bestimmten Diskursfeldes bedarf, damit das, was allgemein als ›Behinderung‹ bezeichnet wird, überhaupt erst hervorgebracht werden kann. Der Begriff ›Behinderung‹ selbst ist ein Signifikant (ein Bezeichnendes), dessen Beziehung zum Signifikat (dem Bezeichneten, dem Vorstellungsbild) zunächst als arbiträr angesehen werden muss.4 Kritisch zu hinterfragen ist, warum dieser Signifikant in der sozialen Praxis mit Marginalisierung und Exklusion verbunden ist. Beim Nachzeichnen dieser methodologischen Herausforderung stößt man auf den Kern dessen, was wissenschaftliche Methoden zu sein beanspruchen. Methoden in der Forschungspraxis einzusetzen meint, sich eines bestimmten Handwerkszeugs zu bedienen. Bei der Erstellung des Methodendesigns und dessen Anwendung geht es aber nicht nur um Handwerkliches, vielmehr handelt es sich vor allem um eine Kunst, die ›beherrscht‹ sein will. Um nicht-ideologische Erkenntnisse, d.h. tatsächlich eine Erkenntniserweiterung zu ermöglichen, muss der Forschungsprozess prinzipiell ergebnisoffen angelegt sein. Methoden geben den History, Springfield Ill. 1998, insbesondere 3-44, hier 30ff. und Walter Fandrey: Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland, Stuttgart 1990. 4 | Vgl. zur geschichtswissenschaftlichen Rezeption dieser im Wechselspiel von Sprachwissenschaften, Kultur- und Psychoanalyse entstandenen Konzeption Peter Schöttler: Wer hat Angst vor dem ›linguistic turn‹?, in: Geschichte und Gesellschaft, 23 (1997), H. 1, 134-151.
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Forschenden Halt, sie sind notwendige und hilfreiche Begleiter auf dem spannenden Weg ins wissenschaftlich Unbekannte.
D IE P RODUK TION WISSENSCHAF TLICHEN W ISSENS ›Methode‹ leitet sich ab vom griechischen méthodos. Meta hodós bedeutet so viel wie Nachgehen, Verfolgen, einen Weg einschlagen, eine Technik anwenden und auch darüber reflektieren. Im wissenschaftlichen Kontext sind damit die mehr oder weniger planmäßigen Schritte hin zu einer Erkenntnis gemeint, die transparent und damit nachvollziehbar sein müssen. Einen angemessenen und zielführenden Erkenntnisweg zu finden, ist Sinn und Zweck einer Beschäftigung mit Methoden. Bei einem Untersuchungsvorhaben helfen sie, zunächst aus der Stofffülle eine Auswahl zu treffen und die Fundstücke entsprechend einer übergeordneten Theorie (deduktiv) oder inspiriert durch die Funde selbst (induktiv) zu ordnen. Forschungsfragen werden gestellt, Hypothesen formuliert und mögliche Ergebnisse antizipiert. Forschungsmethoden zeigen auf und machen transparent, wie Forscherinnen und Forscher zu ihren Aussagen gelangen. Die Herstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse wird so ver›objektiviert‹. Durch die Bereitschaft, das eigene Vorgehen immer wieder kritisch zu hinterfragen, durch Offenheit, Transparenz und intersubjektive Nachprüfbarkeit kann, so das wissenschaftliche Credo, auch das Ergebnis der Untersuchung den Anspruch auf Objektivität erheben. Die auf dieser Grundlage getroffenen Aussagen genießen Glaubwürdigkeit. Methoden funktionieren einerseits, indem sie die richtige Passung zwischen Theorie und Empirie herstellen, andererseits erzeugen sie produktive Verschiebungen. Der Einsatz von Methoden ist immer auch kreativ, mit ihrer Hilfe wird etwas Neues – im Sinne neuer Erkenntnisse – hervorgebracht. Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Methoden hat ihre eigene Geschichte. Blickt man auf das 20. Jahrhundert zurück, lassen sich für die Geistes- und Sozialwissenschaften des deutschsprachigen Raums drei zentrale Zäsuren feststellen. Erstens entbrannte der sogenannte Methodenstreit mit der Etablierung der Soziologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwischen den Vertretern eines naturwissenschaftlichen Methodenideals und deren Gegnern, die für die Sozialwissenschaften eine eigene wissenschaftliche Logik beanspruchten. Als Gegenstand des sogenannten Werturteilsstreits spielte dabei das Postulat der Wertfreiheit eine besondere Rolle. Für Max Weber (1864-1920), der – als Inhaber von Lehrstühlen für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft – Geschichte, Soziologie und »Kulturphilosophie« als die ihm »nächstliegenden Disziplinen«5 bezeichnete, war 5 | Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann, 3. Auflage Tübingen 1968, 582-613, hier 600.
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Wissenschaft ohne subjektive Bedeutungsbeimessung und eigene Wertmaßstäbe nicht möglich. Im Vordergrund stand für ihn das Bemühen um deutendes Verstehen und ursächliches Erklären sozialen Handelns. Empirie und Bewertung sollten aber, so Webers Forderung, strikt auseinandergehalten werden.6 Die Diskussion über das ›richtige‹ Methodenverständnis spitzte sich zweitens in den 1960er Jahren im sogenannten Positivismusstreit erneut zu, als Karl Popper (1902-1994) und Theodor W. Adorno (1903-1969) auf einer Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Oktober 1961 in Tübingen ihre Referate zur Logik der Sozialwissenschaften vortrugen. Vertreter des Kritischen Rationalismus befürworteten die Begrenzung der Soziologie auf eine empirisch-analytisch verfahrende Einzelwissenschaft nach dem Vorbild der Naturwissenschaften, während die Vertreter der dialektischen Theorie angesichts der nationalsozialistischen Erfahrung eine kritisch-reflexive Gesellschaftsanalyse für notwendig erachteten. Ihrer Meinung nach durfte die Wissenschaft in der Betrachtung der von Menschen hervorgebrachten Welt keinesfalls indifferent verfahren.7 In der Folgezeit reduzierte sich die Auseinandersetzung vor allem auf die Gegenüberstellung von quantitativen und qualitativen Verfahren. Reliabilität (Zuverlässigkeit), Validität (Gültigkeit, Glaubwürdigkeit) und Objektivität (die Beschreibung des Sachverhalts unabhängig vom Beobachter) blieben jedoch die drei wichtigsten Gütekriterien empirischer Forschung, gleichgültig, ob quantitativer oder qualitativer Art. Drittens erfahren seit den 1980er Jahren die qualitativen Verfahrensweisen in der Sozialforschung zunehmend Beachtung.8 Ethnologische Ansätze, partizipative Strategien und biografische Fragestellungen beeinflussen seitdem das methodische Repertoire. Verbunden mit dieser Neuorientierung war auch ein erweitertes Verständnis des Gütekriteriums der Objektivität. Forschungsergebnisse galten nun als objektiv, wenn sie intersubjektiv überprüfbar waren; zudem wurde Forschung grundsätzlich als standortgebunden und perspektivengeleitet verstanden. Der Zugang zum Feld, spezifische Blickweisen von Betroffenen und eine Parteilichkeit für marginalisierte gesellschaftliche Gruppen waren Streitfragen einer Forschungspraxis, die sich als gesellschaftskritisch verstand und zunehmend geschichtsbewusst agierte. Eine zu große Distanz verhinderte demnach den Zugang zu marginalisierten Forschungsfeldern und verstellte auch bei der Analyse historischer Quellen den Blick auf interessante, unbekannte 6 | Vgl. Ders.: Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ebd., 489-540, insbes. 499ff. 7 | Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2., durchgesehene Auflage Neuwied am Rhein 1965, 292. 8 | Siehe Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage Reinbek b. Hamburg 2007 und die NetzWerkstatt Qualitativen Arbeitens: www.qualitative-forschung.de/ (4.2.2010).
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Lesarten. Selbstkritisch wurde die Begrenztheit einer forschenden Beobachtung wahrgenommen, die zum Beispiel bei behinderten Menschen die durch den ›klinischen Blick‹9 hervorgerufene Entmündigung im Grunde nur verlängerte. Mit der zunehmenden Kritik an eindimensionalen Konzepten der Moderne gewann die historische Forschung an Überzeugungskraft. Die geschichtliche Analyse zielte nunmehr darauf ab, die scheinbare Normalität von Gegenwartskonstruktionen zu hinterfragen, indem die Kontingenz von Ordnungsmustern sichtbar gemacht wurde.
M E THODEN DER G ESCHICHTSWISSENSCHAF T In geschichtswissenschaftlichen Studien kommen vielfältige Methoden zur Anwendung.10 Die Geschichtswissenschaft selbst gilt als methodenarme Disziplin; sie übernimmt vielfach Modelle und Arbeitsweisen aus den Nachbardisziplinen Soziologie, Literatur-, Politik- und Medienwissenschaften. Je nach Frage, Gegenstand, Erkenntnisinteresse und Gesellschaftstheorie werden ausgewählte Quellenbestände analysiert, um gezielt Informationen über die Vergangenheit zu erhalten. Selbst wenn, wie in der Politik- oder Sozialgeschichtsschreibung üblich, Bevölkerungsstatistiken oder die Entwicklung von Preis- und Lohnstrukturen herangezogen werden, handelt es sich im Wesentlichen um qualitative und texterschließende Verfahren.11 Im Unterschied zur klassischen Hermeneutik wird jedoch nicht nur textauslegend gearbeitet, vielmehr ist der Entstehungszusammenhang von Dokumenten von entscheidender Bedeutung für deren Interpretation. Quellenkritik und -interpretation stellen unverzichtbare und äußerst bedeutsame Teilschritte der historischen Analyse dar. Die Politik- oder Sozialgeschichtsschreibung, die sich in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren als Kritik an der geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der traditionellen Historiografie herausbildete, erhob den Anspruch, bislang vernachlässigte Akteurinnen und Akteure – seien es Frauen, Unangepasste, Kriminelle oder Arme – in die Darstellung von Geschichte zu integrieren. Hatte sich die historische Darstellung bis dato vor allem zwischen Struktur und Ereignis bewegt, interessierte man sich nun für die Prozesshaftigkeit von Geschichte. Damit ging die Erkenntnis einher, dass die Aussagekraft der in den offiziellen Archiven aufbewahrten Dokumente begrenzt war. Das Leben marginalisierter Gruppen wurde 9 | Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973 (französische Originalausgabe Paris 1963). 10 | Vgl. Norbert Furrer: Was ist Geschichte? Einführung in die historische Methode, Zürich 2003. 11 | Vgl. Thomas Sokoll/Rolf Gehrmann: Historische Demographie und quantitative Methoden, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, 152-229.
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durch die Akten des Staates, der Verwaltung und der Justiz nur selten und wenn doch, dann nur aus der Perspektive der Institutionen oder Instanzen sozialer Kontrolle repräsentiert. Gegen anfängliche Blockaden gelang es Forscherinnen und Forschern, die Methode der Oral History zu etablieren und mit Hilfe einer »Geschichte von unten« das Handlungspotential von Menschen zu dokumentieren.12 Diese neue Perspektive historischer Forschung ließ sich auf die Analyse verschiedener gesellschaftlicher Differenzierungskategorien übertragen. Klasse, Geschlecht, rassistische Konstruktionen und die sogenannte Dritte Welt, aber auch die sich in den Subjekten überlagernden multiplen Kategorisierungen konnten sichtbar gemacht werden. Der gesellschaftstheoretische Bezug und somit auch der Standpunkt der Forschenden spielte nun eine ungleich größere Rolle als zuvor: Betroffenheit, Parteilichkeit und Solidarität wurden zu methodischen Postulaten nicht nur der Frauenforschung.13 Was zunächst wie eine Provokation für das etablierte Wissenschaftsverständnis wirkte, sollte längerfristig die Kriterien wissenschaftlicher Forschung verändern.14 Auch die Aussagekraft von Forschungsergebnissen beanspruchte eine größere Reichweite. So stellte beispielsweise das Geschlecht als historische Analysekategorie bislang geltende geschichtswissenschaftliche Prämissen wie die Epocheneinteilung in Frage.15 Für die unterschiedlichen Formen der Kritik am Einheitscharakter, unterschwelligen Mythos und an der Ambivalenz des Vernunftprojekts ist ›Postmoderne‹ der Sammelbegriff.16 Die Gedächtnisforschung, die auf das »Noch-nicht-Bewusste«17 verweist, fokussiert daher auf die »fragwürdige[n] Traditionsbestände«18 des westlichen Selbst- und Weltbezugs, 12 | Lutz Niethammer (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »oral history«, Frankfurt a.M. 1980. 13 | Vgl. Maria Mies: Frauenbewegung und 15 Jahre »Methodische Postulate zur Frauenforschung«, in: Angelika Diezinger/Hedwig Kitzer/Ingrid Anker et al. (Hg.): Erfahrung mit Methode. Wege sozialwissenschaftlicher Frauenforschung, Freiburg 1994, 105-128. 14 | Vgl. Anne Conrad, Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, 230-293. 15 | Siehe Joan Scott: Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), H. 5, 1053-1075; Joan Kelly-Gadol: Did Women Have a Renaissance?, in: Renate Bridenthal/Claudia Koonz (Hg.): Becoming Visible: Women in European History, Boston 1977, 137-164. 16 | Vgl. Lutz Niethammer: Die postmoderne Herausforderung. Geschichte als Gedächtnis im Zeitalter der Wissenschaften, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/ Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M. 1993, 31-49, hier 32. 17 | Ebd., 43. 18 | Hannah Arendt: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays, Frankfurt a.M. 1957.
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wie sie beispielsweise in der Konstruktion des autonomen Subjekts, im Fortschrittsdenken, in der technischen Rationalität, im Rassismus und im nationalsozialistischen Völkermord zum Ausdruck kommen.19 Die damit verbundenen methodischen Suchbewegungen eröffnen wiederum neue Möglichkeiten, auch ›Behinderung‹ in kritisch-historischer Perspektive zu erforschen. Beispielsweise werden Texte nun als Elemente einer sehr viel umfassenderen historischen Überlieferung verstanden. Die Bindung von Geschichte an Schriftkultur wird in Frage gestellt und unterdrückte beziehungsweise zerstörte Wissensformen geraten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.20 Es werden alternative Geschichten weitergegeben, die es ermöglichen, den vielfach sprachlosen Ausdruck von Schmerz und Ohnmacht, Eigensinn und Verweigerung zu rekonstruieren. Die Zeit der ›großen Erzählungen‹ (Jean-François Lyotard) ist vorbei und eine Rückkehr zum Narrativ ist zu beobachten; dies erinnert an das Benjaminsche Geschichtsverständnis, aber auch an die Bricolage der Nouvelle Histoire21 der 1920/30er Jahre: Der Blick wird auf das Vergangene als Fremdes22 gerichtet; Ereignis, Zufall und agency erhalten größeres Gewicht und die Relevanzstrukturen des privaten Lebens, der Populärkultur und der Mentalitäten werden in ihrer wirklichkeitsprägenden Bedeutung wahrgenommen. Untersucht wird nun die Geschichte der Menschen »ohne Geschichte«,23 das Unbewusste, das Klima, die Moral, der Körper, die Speisen, das Fest und der Film24 ebenso wie das Lachen, die Gefühle und die Träume. Auch die neuen Medien wirken sich aus auf Archivierungspraxis und Quellenbestände, Geschichtsschreibung und Geschichtsvermittlung.25 Insbesondere das Handwerkszeug der Cultural Studies scheint geeignet, um Ereignisse an virtuellen Orten, Subjekte mit erfundenen Identitäten und Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen, anthropologischen
19 | Vgl. Ernst Schulin: Nach der Postmoderne, in: Küttler/Rüsen/Schulin (1993), 365-369. 20 | Vgl. James E. Young: Hayden White, Postmoderne Geschichte und der Holocaust, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, 139-168. 21 | Vgl. Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, 161ff.; Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der ›Annales‹, Berlin 1991. 22 | Vgl. Michael Maurer: Historische Anthropologie, in: Ders. (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, 294-380, hier 316ff. 23 | Kritik an der westlichen Geschichtskonstruktion üben die Postcolonial und Subaltern Studies. Vgl. auch Eric Wolf: Die Völker ohne Geschichte: Europa und die andere Welt seit 1400, Frankfurt a.M. 1986 (amerikanische Erstausgabe 1982). 24 | Vgl. Jacques Le Goff/Pierre Nora (Hg.): Faire de l’histoire, 3 vol., Paris 1974. 25 | Einen guten Überblick geben Angelika Epple/Peter Haberer (Hg.): Vom Nutzen und Nachteil des Internet für die historische Erkenntnis, Zürich 2005.
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und naturwissenschaftlichen Fragestellungen zu erforschen.26 Geschichte selbst wird dabei als Konstruktion verstanden, die sich in verschiedenen Modi des Erzählens äußern kann.27 Den Status von Quellen erhalten alle Materialien, aus denen Bedeutungen rekonstruiert werden können. Anders ausgedrückt: »Eine Quelle ist ein Objekt aus der Vergangenheit oder ein Zeugnis, das die Vergangenheit betrifft, auf das Historiker sich stützen, wenn sie ihre Beschreibung der Vergangenheit schaffen.«28
Ü BUNGEN IM HISTORISCHEN D ENKEN : I MPLIK ATIONEN DER D ISABILIT Y H ISTORY Die Etablierung der Disability Studies als akademische Disziplin war eng verbunden mit der Emanzipationsbewegung behinderter Menschen und daher gekoppelt an die Wahrnehmung von gesellschaftlicher Wirksamkeit und Veränderung, also Geschichtlichkeit. In den Vereinigten Staaten, wo universitäres Forschen, Lehren und Lernen über ›Behinderung‹ zuerst Fuß fasste, war der Kontext staatlicher Antidiskriminierungspolitik ein wichtiger Impuls.29 Hingegen war in Deutschland das politische und auch wissenschaftliche Engagement von Menschen mit Behinderung eng geknüpft an die Aufarbeitung der Eugenik und Euthanasieverbrechen im Nationalsozialismus; motiviert war diese thematische Fokussierung damit, die marginalisierte Situation behinderter Menschen in der Nachkriegszeit verstehen zu wollen. Der »Pannwitzblick«30 – so der von Primo Levi geprägte Name für die entwürdigende und selektierend-vernichtende Betrachtung der Auschwitz-Häftlinge durch den Arzt und Leiter der chemischen Abteilung Pannwitz, – finde, so argumentierten die Aktivistinnen und Aktivisten der Krüppelbewegung, in den gegenwärtigen Erfahrungen von Betroffenen seine Fortsetzung. In die Kritik gerieten die helfenden Bemühungen der medizinischen und heilpädagogischen Beförderung.31 Den Mitgliedern der Behindertenbewegung erschien die von der Mehrheitsgesellschaft proklamierte ›Humanität‹ als Heuchelei. Sie 26 | Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 2006. 27 | Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991 (englische Erstausgabe 1973). 28 | Martha Howell/Walter Prevenier: Werkstatt des Historikers. Eine Einführung in die historischen Methoden, Köln 2004, 26. 29 | Vgl. beispielsweise Jacqueline Vaughn Switzer: Disabled Rights. American Disability Policy and the Fight for Equality, Washington D.C. 2002. 30 | Udo Sierck/Didi Danquart: Der Pannwitzblick. Wie Gewalt gegen Behinderte entsteht, Berlin 1993; vgl. auch Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, Frankfurt a.M. 1979. 31 | Vgl. Monika Aly/Götz Aly/Morlind Tumler: Kopfkorrektur oder der Zwang, gesund zu sein: Ein behindertes Kind zwischen Therapie und Alltag, Berlin 1987.
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begannen, die Konstruktionsweisen des Phänomens in einem geschichtlichen Kontext zu reflektieren.32 Das Buch Die WohlTÄTER-Mafia von Udo Sierck und Nati Radtke kann insofern im Rückblick als eine der ersten Publikationen deutschsprachiger Disability History gelten.33 Die historische Bewusstwerdung, die sich innerhalb der Behindertenbewegung entwickelte, ging einher mit Sozialstudien, die die miserablen Lebensbedingungen in den Heimen der Bundesrepublik dokumentierten. Der Journalist Ernst Klee sammelte beispielsweise in seinen Reportagen für den Hessischen Rundfunk die Stimmen von Patienten und Patientinnen und überlieferte damit ein in sich nicht unproblematisches, aber nichts desto weniger wertvolles Quellenmaterial.34 Klees Recherchen entsprachen den Ansätzen der Disability History in Großbritannien, wo man insbesondere die institutionellen Mechanismen von Exklusion und deren Folgen für die Betroffenen in den Blick nahm. Auch wenn sich zunächst die historischen Forschungen zu ›Behinderung‹ in Großbritannien am Paradigma sozialer Ungleichheit, in den Vereinigten Staaten an Antidiskriminierungsansätzen und in Deutschland an der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus orientierten, lassen sich international im Grunde ähnliche Tendenzen feststellen.35 Dass die Konstruktion von ›Behinderung‹ in der Geschichte funktional war für die normative und strategische Ausrichtung der westlichen Moderne, darin sind sich – trotz national spezifischer Wissenschaftskulturen – die internationalen Disability Studies einig.
D ISKURSIVE U M/ORDNUNG UND P ARTIZIPATION : D ISABILIT Y H ISTORY BE TREIBEN Wie betreibt man nun aber – forschungspragmatisch betrachtet – Disability History? Inzwischen haben zahlreiche Studien insbesondere im angloamerikanischen, aber auch im französischen und deutschen Sprachraum gezeigt, dass es möglich ist, eine Geschichte der Behinderung zu rekonstruieren, die nicht dem Rehabilitationsparadigma verhaftet bleibt.36 Dabei 32 | Siehe www.sonderpaedagoge.de/geschichte/deutschland/brdnachkrieg/ quellen.htm (3.2.2010); Udo Sierck: Die Entwicklung der Krüppelgruppen, in: Michael Wunder/Udo Sierck (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand, Berlin 1982. 33 | Udo Sierck/Nati Radtke: Die WohlTÄTER-Mafia: Vom Erbgesundheitsgericht zur humangenetischen Beratung, Frankfurt a.M. Hamburg 1984. 34 | Ernst Klee: Behinderten-Report, Frankfurt a.M. 1974. 35 | Vgl. hierzu den Forschungsüberblick zur Disability History von Elsbeth Bösl in diesem Band. 36 | Siehe Anne Waldschmidt: Soziales Problem oder kulturelle Differenz? Zur Geschichte von »Behinderung« aus der Sicht der »disability studies«, in: Traverse 13 (2006), H. 3, 31-46.
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geht es darum, die unhinterfragten Vorstellungen von Normalität – eben auch die Praktiken der Normalisierung – zu erkennen und zu dekonstruieren. Historisch nachholend und angelehnt an die kämpferischen Forderungen der Französischen Revolution nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit37 beanspruchen behinderte Menschen Bürgerrechte, Selbstbestimmung und Teilhabe, auch in der Wissenschaft. Die Kritik richtet sich auch, ähnlich wie bei den Critical Whiteness Studies, gegen das herkömmliche Selbstverständnis von Forscherinnen und Forschern, und deren Praxis als machtreproduzierend.38 Historische Forschung soll, so die Forderung, denjenigen Menschen gehören, die auch in der Geschichtsschreibung ihrer Subjektivität immer wieder beraubt wurden. Um zu zeigen, wie dieses Anliegen in der Disability History praktisch umgesetzt werden kann, werde ich im Folgenden drei Studien vorstellen. Ein gutes Beispiel für die neue Wissenschaftsethik bietet das von Volker Schönwiese initiierte und begleitete, partizipativ angelegte Forschungsprojekt zum Bildnis eines behinderten Mannes, das seit dem 16. Jahrhundert in der Kunst- und Wunderkammer von Schloss Ambras bei Innsbruck, einer Abteilung des Kunsthistorischen Museums Wien, hängt und bislang wissenschaftlich keine nähere Beachtung gefunden hat.39 Das Forschungsvorhaben war an der Schnittstelle von Visual Literacy, Translational Turn, Subaltern Studies und Geschichte angesiedelt. Im Sinne der Disability History beschäftigte sich eine transdisziplinäre Arbeitsgruppe bestehend aus Kunsthistorikern, Erziehungswissenschaftlern und Personen mit Behinderungen mit diesem Bild und erarbeitete verschiedene Lesarten.40 Zum einen leistet die Thematisierung dieses Fundstücks einen Beitrag zur Geschichte von Behinderung, zum anderen wird die Geschichte durch die Brille von Menschen mit Behinderung betrachtet und somit für inklusive Interpretationen geöffnet. Geschichtsforschung und Geschichtspädagogik sind auch im zweiten Beispiel eng miteinander verbunden. Die Erforschung des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms war lange Zeit ein eher vernachlässigter Bereich der Geschichtswissenschaften; behinderte oder als ›asozial‹ abgestempelte Menschen, die im Rahmen des sogenannten T4-Pro37 | Vgl. beispielsweise die um 1750 verfassten Schriften von Denis Diderot: Lettre sur les aveugles. Letter sur les sourds et muets, présentation par Marian Hobson et Simon Harvey, Paris 2000. 38 | Vgl. Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005. 39 | Christian Mürner/Volker Schönwiese (Hg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Ausstellungskatalog und Wörterbuch, Neu Ulm 2006. 40 | Neben dem erwähnten Ölgemälde wurden noch zwei weitere Quellen herangezogen: Das Porträt einer geistig behinderten Frau, die am Hof in Ambras gelebt hat, und ein Flugblatt von 1620 aus Innsbruck.
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gramms ermordet wurden, gehörten zu den »vergessenen Opfern«.41 In der ehemaligen nationalsozialistischen Euthanasiezentrale und heutigen Gedenkstätte Hadamar wurde die Geschichte des Hauses in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk People First erforscht und für die pädagogische Arbeit erschlossen.42 Auf der Grundlage von Archivdokumenten rekonstruierten und interpretierten Menschen mit Lernschwierigkeiten das historische Geschehen. Die »Aneignung«43 der eigenen Geschichte war eingebettet in ein von den Disability Studies geprägtes Konzept des Lernens und der Sozialisation.44 Interviews mit den Forscherinnen und Forschern über die Wahrnehmung der Quellenbestände und deren Interpretation gewährleisteten die intersubjektive Überprüfung des Forschungsprozesses und boten ein emanzipatives Geschichtswissen.45 Das dritte Beispiel veranschaulicht die bereits erwähnte Methode der Oral History. Walburga Freitag führte mit von Contergan betroffenen Menschen lebensgeschichtliche Interviews und setzte die so dokumentierten »Subjektivierungsweisen« in Beziehung zum medizinischen Diskurs.46 In der erzählenden Rekonstruktion ihrer Biografien schreiben die Befragten den ›Contergan-Skandal‹ neu: Sie äußern Kritik an der Mehrheitsgesellschaft, die Differenz wenig wertschätzt, erzählen Emanzipationsgeschichten und leisten so einen Beitrag zur Analyse normativ gerichteter Veränderungsprozesse.47 Kultur als »Textur des Sozialen«, als »Transfervorgang […], der das Soziale ins Symbolische ›übersetzt‹«,48 spielt in den drei genannten Beispielen eine zentrale Rolle. Hier kann man beobach41 | Einen Überblick geben Franz Aigner/Reinhard Moos/Rolf Steininger/Eva Pfanzelter/Florian Freund (Hg.): Vergessene Opfer des Nationalsozialismus, Wien 2000. Lebensgeschichten von ›Euthanasie‹-Opfern finden sich im Begleitbuch zur Ausstellung des Jüdischen Museums in Berlin: Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen 2009. 42 | Vgl. Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des nationalsozialistischen Behinderten- und Krankenmordes in Hadamar. Eine erinnerungssoziologische Studie, Bad Heilbrunn 2008; dies./Stefan Göthling (Hg.): Was geschah in Hadamar in der Nazizeit? Ein Katalog in Leichter Sprache, 2. Auflage Kassel 2008; Website der Gedenkstätte Hadamar: Menschen mit Lernschwierigkeiten als Besuchergruppe, http://hada mar.lwv-hessen.de/webcom/show_article.php/_c-627/i.html (4.12.2009). 43 | Marian Füssel: Die Kunst des Schwachen. Zum Begriff der ›Aneignung‹ in der Geschichtswissenschaft, in: Sozial.Geschichte 21 (2006), H. 3, 7-28. 44 | Vgl. George (2008), 94ff. 45 | Ebd., 119ff. 46 | Walburga Freitag: Contergan. Eine genealogische Studie des Zusammenhangs wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen, Münster/ New York/München/Berlin 2005, hier 165. 47 |Vgl. ebd., 424ff. 48 | Lutz Musner: Kultur als Textur des Sozialen. Essays zur Kulturwissenschaft, Wien 2004, 82.
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ten, wie sich Erinnerungsarbeit mit der Gedächtnisforschung zu einer neuen Form kulturwissenschaftlicher Geschichtsschreibung verbindet.
J ENSEITS DER M E THODENFR AGE : S CHLUSSFOLGERUNGEN Wie wir gesehen haben, sind die Entstehungsbedingungen von Geschichtswissenschaft und Disability Studies recht unterschiedlich, ebenso wie auch die mit den beiden Disziplinen verbundenen Methoden. Während es sich bei der Geschichtswissenschaft um eine traditionsreiche Disziplin handelt, die vor allem durch ihren Quellenbezug besticht,49 sind die Disability Studies durch Vielfalt, Beweglichkeit und neue Blickweisen gekennzeichnet. Sie verkörpern den »Erfahrungsgewinn«50 der wissenschaftlichen Suchbewegungen des 20. Jahrhunderts, der insbesondere in einer Methodenvielfalt zum Ausdruck kommt.51 Um ›Behinderung‹ in historischer Perspektive studieren zu können, benötigt man folglich einen großen Werkzeugkasten mit sehr unterschiedlichem Handwerkszeug.52 Durch eine Kombination von Methoden erweitert sich der Untersuchungshorizont und die Forschungsergebnisse werden durch die verschiedenen Überprüfungsebenen besser abgesichert.53 Zudem könne, daran erinnert Eric Hobsbawm, ein Praktiker der Geschichte ›von unten‹ kein Positivist sein; Modelle und Theorien bzw. eine kritische Gesellschaftstheorie seien unbedingt vonnöten.54 In diesem Sinne sollen abschließend drei Merkmale genannt werden, die es bei der Wahl der eigenen Methodik zu bedenken gilt: Erstens geht es darum, Machtanalysen in die Disability History einzubringen. Schaut man durch die Brille von ›Behinderung‹ auf die Geschichte, so argumentiert Catherine Kudlick, müsse jedes Konzept, Ereignis, Wissen, eben all das, was bislang als eher selbstverständlich gegolten 49 | Vgl. Gabriele Metzler: Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn 2004, 202ff. 50 | Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Methode. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 5, München 1988, 13-61, hier 19ff. 51 | Die Strenge, die im Sprachgebrauch von ›Paradigmen‹ und ihren Wechseln zum Ausdruck kam, hat sich verändert zugunsten der weniger förmlichen Rede von wissenschaftlichen ›Denkstilen‹. Vgl. Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, 111. 52 | Siehe Udo Göttlich (Hg.): Die Werkzeugkiste der Cultural Studies: Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen, Bielefeld 2001. 53 | Vgl. Uwe Flick: Triangulation. Eine Einführung, 2. Auflage Wiesbaden 2007. 54 | Vgl. Eric Hobsbawm: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft, München 1998 (englische Erstausgabe London 1997), 266.
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habe, einer grundlegenden Revision unterzogen werden.55 Dass dieser Vorgang immer auch Identitätsfragen tangiert, betonen Anne Borsay, Sharon L. Snyder und David T. Mitchell.56 Permanent finden an gesellschaftlichen Knotenpunkten Kämpfe und Bewegungen statt: Unangepasstheiten zeigen sich im Widerstreit mit Kontroll- und Steuerungsversuchen. Die »Ordnung der Dinge«57 ist nicht statisch und die historische Entwicklung nicht als eindimensionaler Fortschritt zu denken. Vielmehr, so führt Reinhard Koselleck aus, zehrt »der geschichtliche Wandel […] von den Besiegten«.58 Einen wichtigen Referenzrahmen stellen zweitens poststrukturalistische Theorieansätze dar. Nach Carol Thomas gehört die Diskurstheorie zu den theoretischen Schlüsselkonzepten der Disability Studies.59 In einem genealogisch-archäologischen Verfahren hat beispielsweise Michel Foucault die Geschichte von Wahnsinn, Biopolitik, Sexualität, Körper und Medizin erforscht.60 Der französische Historiker Henri-Jacques Stiker fragt etwa nach den gesellschaftspolitischen Implikationen von Inklusionsdiskursen – und kann erklären, warum Inklusion eben gerade nicht stattfindet.61 Bei der Betrachtung der Blindheit fällt auf, dass die hegemoniale Fixierung auf Sichtbarkeit die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit auf einen ›Hauptsinn‹ reduziert. Durch ihre expressive Gebärdensprache irritieren zum Beispiel Gehörlose eine Öffentlichkeit, die auf der Disziplinierung von Körpern und Emotionen basiert.62 In der Disability 55 | Vgl. Catherine Kudlick: Disability History: Why We Need Another »Other«, in: American Historical Review 108 (2003), H. 3, 763-793. 56 | Vgl. Anne Borsay: History, Power and Identity, in: Colin Barnes/Mike Oliver/ Len Barton (Hg.): Disability Studies Today, Cambridge 2002, 98-119; Sharon L. Snyder/David T. Mitchell: Cultural Locations of Disability, Chicago 2006. 57 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971 (französische Erstausgabe 1966). 58 | Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Methode. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 5, München 1988, 13-61. 59 | Vgl. Carol Thomas: Disability Theory: Key Ideas, Issues and Thinkers, in: Colin Barnes/Mike Oliver/Len Barton (Hg.): Disability Studies Today, Cambridge 2002, 38-57, hier besonders 41ff. 60 | Siehe beispielsweise Michel Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt a.M. 1968 (französische Erstausgabe 1954); ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1993 (französische Erstausgabe Paris 1961) oder die drei Bde. von Sexualität und Wahrheit: Der Wille zum Wissen (1), Frankfurt a.M. 1983; Der Gebrauch der Lüste (2), Frankfurt a.M. 1989; Die Sorge um sich (3), Frankfurt a.M. 1989. 61 | Vgl. Stiker (1982). 62 | Besprechungen von historischen Studien zu diesen beiden ›Behinderungen‹ stehen im Mittelpunkt der Rezension von Kudlick (2003).
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History werden die historischen Erzählungen von Opfern zu Geschichten von Subjekten. In diesem Sinne interessieren sich die Queer Studies, Postkolonialen und Subalternen Studien ebenso wie die Aging Studies63 ebenfalls für die Machtfrage und auch diese Studien gehen vorzugsweise poststrukturalistisch-konstruktivistisch vor. Ergänzend fragen intersektionale Analysen nach den überlappenden Kategorien in Geschichte und Gegenwart.64 In der Verbindung dieser verschiedenen Ansätze liegen höchst spannende und anregende Forschungsperspektiven. Der geforderte Blickwechsel auf ›Behinderung‹ macht drittens eine permanente Selbstreflexion des eigenen Standpunktes zur Bedingung jeglicher Forschung. Wissenschaftliche Arbeit benötigt, will sie sich im 21. Jahrhundert legitimieren, die Partizipation derjenigen, deren Lebensbedingungen – auch in historischer Perspektive – untersucht werden. Sie sollte, wenn sie nicht von Betroffenen selbst durchgeführt wird, zumindest in kooperativen Netzwerken erfolgen; den vom öffentlichen Diskurs ausgeblendeten Stimmen sollte ein Forum verliehen und ihre gesellschaftliche Anerkennung befördert werden. Zwar erweist es sich möglicherweise als schwierig, diesem Anspruch gerecht zu werden, dennoch gilt: In der Geschichtsschreibung geht es auch darum, die Welt zu verändern. Die historische Aussage verbindet sich mit dem gegenwärtigen Interesse an nachhaltigen Weichenstellungen. Angesichts spezifischer Konfigurationen von Politik, Kultur, Ökonomie und Technologie sind neue Archive,65 das Verständnis von Geschichte als Zukunftswissenschaft66 und ein kritisch-reflexiver Theoriebezug unentbehrlich. Die Ergebnisse einer derart transdisziplinär gestalteten Disability History können in die Gesellschaft hinein ihre Wirkung entfalten.
63 | Vgl. Miriam Haller/Thomas Küpper: Kulturwissenschaftliche Alternsstudien, in: Kirsten Aner/Ute Karl (Hg.): Handbuch: Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, 439-444; Dies.: Aging Studies und Cultural Studies. Inter- und Transdisziplinarität in kulturwissenschaftlichen Alternsstudien, in: Ines Maria Breinbauer/ Dieter Ferring/Miriam Haller/Hartmut Meyer-Wolters (Hg.): Transdisziplinäre Alternsstudien. Gegenstände und Methoden, Würzburg im Druck [voraussichtlich 231-255]. 64 | Vgl. Gabriele Winkler/Nina Dengele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit, Bielefeld 2009. 65 | Siehe Hanna Hacker: Archivescapes. Diskurse zum Archiv im Postkolonialen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16 (2005), H. 1, 36-58. 66 | Vgl. Christopher Lloyd: Past, Present, and Future in the Global Expansion of Capitalism: Learning from the Deep and Surface Times of Societal Evolution and the Conjunctures of History, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16 (2005), H. 2, 79-103.
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2. Wissenschaftliche Konstruktionen und subjektive Erfahrungen
Die Irren sind immer die Anderen Selbstthematisierungen von psychischer Krankheit und Gesundheit in Umbruchzeiten von Psychiatrie und Gesellschaft (Deutschland 1900/1970) Cornelia Brink
Um 1900 und in den 1960er und 1970er Jahren wurden in Deutschland heftige öffentliche Kontroversen um die Psychiatrie geführt. Sie erschütterten die Profession in Zeiten, als sich die Versorgung psychisch Kranker zu verändern begann und sich auch die Gesellschaft im Umbruch befand. Die Irrenreform um 1900 fiel in die Phase, als sich im Wilhelminischen Kaiserreich die hochindustrielle Gesellschaft durchsetzte; in den 1960er und 1970er Jahren traf die Psychiatriereform mit einem breiten gesellschaftlichen Liberalisierungsprozess zusammen. Neben Ärzten, Juristen, Verwaltungsfachleuten und zahlreichen Laien haben auch Patienten und Patientinnen die Psychiatrie öffentlich kritisiert. Als »cracks in the walls of silence« bezeichnen die Medizin- und Sozialhistoriker Jonathan Andrews und Ann Digby deren Texte treffend.1 In medizin- oder gesellschaftsgeschichtlichen Darstellungen haben sie bisher kaum eine Rolle gespielt bzw. sind – wie schon von den beteiligten Ärzten – meist als Krankheitssymptome interpretiert worden. Wie zu zeigen sein wird, riefen diese Selbstthematisierungen um 1900 und in den 1970er Jahren sehr wohl auch andere Reaktionen hervor. Ausgehend von Patientenäußerungen – sogenannten Irrenbroschüren aus der Zeit um 1900 und einem Radiobeitrag von 1976 – frage ich danach, was in den Debatten um die Psychiatrie jeweils als gesund und krank, was als normal und anormal bestimmt wurde und wie die Grenzen zwischen Gesundheit und psychischer Krankheit gezogen wurden. 1 | Jonathan Andrews/Anne Digby: Introduction. Gender and Class in the Historiography of British and Irish Psychiatry, in: Dies. (Hg.): Sex and Seclusion, Class and Custody. Perspectives on Gender and Class in the History of British and Irish Psychiatry, Amsterdam/New York 2004, 7-44, hier 18.
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Dabei soll es nicht allein darum gehen, den Psychiatriepatientinnen und -patienten nachträglich Gehör zu verschaffen oder ihr je spezifisches Handlungsvermögen in konkreten historischen Situationen sichtbar zu machen. Art und Weise ihrer Äußerungen und Handlungsmöglichkeiten sind vielmehr historisch zu verorten; im Individuellen ist nach kollektiven Erfahrungen zu suchen. Wie lassen sich die Selbstthematisierungen von Psychiatriepatienten, das medizinische Wissen der Zeit und der gesellschaftliche Kontext jeweils miteinander in Bezug setzen? Was hatte sich 1970 gegenüber 1900 verändert, was blieb konstant?
I RRENBROSCHÜREN UM 1900 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhoben mehrere Dutzend Männer und Frauen, die als geisteskrank diagnostiziert, entmündigt und/oder in eine Irrenanstalt eingewiesen worden waren, gegen die ärztliche Zuschreibung öffentlich Einspruch. Unter den Erfahrungsberichten sind noch heute bekannte wie Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken.2 Doch die meisten Schriften – Antivernunft, Künstlicher Irrsinn, Meine Erlebnisse in einer Irrenanstalt, Dem Irrenhaus entsprungen – sind in Vergessenheit geraten. Die Mehrzahl der Broschüren erschien zwischen 1885 und 1910; einige wurden auch früher publiziert.3 Die Verfasser waren überwiegend, aber nicht ausschließlich männlich und Angehörige vor allem bürgerlicher Schichten. Sie waren in der Lage, sich schriftlich auszudrücken, und verfügten über die finanziellen Mittel oder die notwendigen Kontakte, um ihre Texte drucken und veröffentlichen zu lassen. Die amerikanische Historikerin Ann Goldberg bezeichnet die Irrenbroschüren als hybride Gattung, die verschiedene Genres – Novelle, 2 | Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden? Leipzig 1903. 3 | Die Texte werden heute, verstreut über die gesamte Bundesrepublik, in Bibliotheken aufbewahrt. Ausgehend von einer Bibliografie des Würzburger Psychiaters Bernhard Beyer (Die Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens. Material zu einem Reichs-Irrengesetz. Für Laien und Ärzte, Halle a.S. 1912) ließen sich rund 200 Schriften sogenannter Irrer bzw. ihrer Unterstützer recherchieren. Die Analyse dieser Irrenbroschüren ist Teil eines kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojektes. Vgl. Cornelia Brink: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980, Göttingen 2010; außerdem dies.: »Anti-Vernunft« und »geistige Gesundheit«. Eine Fallgeschichte über Norm, Normalität und Selbstnormalisierung im deutschen Kaiserreich, in: Sibylle Brändli Blumenbach/Barbara Lüthi/Gregor Spuhler (Hg.): Ein schwieriger Fall. Historische Fallrekonstruktionen zu Medizin, Psychiatrie und Psychologie in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 2008, 121141.
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Theaterstück, Memoiren, juristischer Schriftsatz, politische Polemik, philosophisches Traktat – zu etwas Neuem formte. Es existierten zahllose Variationen dieser »novel-legal-brief-documentary sourcebook form«.4 Durch die Irrenbroschüren ziehen sich familiäre und im weiteren Sinne soziale Konflikte, die durch eine Anstaltseinweisung gelöst werden sollten. Einem Zeitgenossen, dem Psychiater Friedrich Jolly zufolge, waren dies zum Beispiel »eheliche Untreue, Uebervortheilung im Geschäft, Zurücksetzung im Amt, unschuldige Verurtheilung vor Gericht u. dgl.«.5 In den Broschüren findet sich Biografisches über Herkunft, Familie und Beruf neben ärztlichen Gutachten, die wiederum kommentiert werden. Leser/-innen erfahren Details über das Familien- oder Arbeitsleben des oder der (vermeintlich) Kranken, Zeitungsberichte informieren über andere Fälle unrechtmäßiger Entmündigungen und Einweisungen, häufig sind auch Gedichte, Leitsprüche und Zitate bekannter Zeitgenossen zu lesen. Die Broschüren berichten von erlittenen Verfolgungen, ohne dass man jedoch eine zusammenhängende Darstellung der Angelegenheit rekonstruieren könnte. Ihr Ziel war es nachzuweisen, dass der Autor oder die Autorin geistig normal war. Über den Kreis der unmittelbar Beteiligten und der angegriffenen Ärzte hinaus, die für die unrechtmäßige Internierung verantwortlich gemacht wurden, stießen die Broschüren auf ein immenses öffentliches Interesse, das in Parlamentsdebatten der Länder und des Reiches, in der medizinischen Fachliteratur, in Zeitungen und populären Zeitschriften, auf Theaterbühnen und in der Belletristik zum Ausdruck kam. Als öffentlich präsentierte Nachweise individueller geistiger Normalität mussten die Broschüren anschlussfähig an allgemeine Glaubens- und Denkmuster, an verbreitete Vorstellungen von Normalität und Normativität sein. Wie bewies man um 1900, dass man – entgegen ärztlicher Diagnose und juristischer Bestätigung – normal war? Welches Verhalten, Denken, Fühlen, welche Einstellungen galten als normal? In welchem Bezug stand der Nachweis psychischer Normalität zu normativen Vorstellungen der Psychiater oder – allgemeiner – jener Zeit? Das sind Fragen, auf welche die Broschüren wie auch die Reaktionen, die sie bei Psychiatern, Juristen und Politikern auslösten, der Historikerin eine Antwort geben. Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg gelten als take-off-Phase der naturwissenschaftlichen Psychiatrie, in der zahlreiche Anstalten, Kliniken und Lehrstühle gegründet wurden. Zudem begannen Psychiater, den Begriff psychischer Krankheit über Formen des offenkundigen sogenannten 4 | Ann Goldberg: A Reinvented Public. ›Lunatics’ Rights‹ and Bourgeois Populism in the Kaiserreich, in: German Studies 21 (2003), H. 2, 156-182, hier 167. Die amerikanische Historikerin hat die Rolle der Patientenbroschüren im Kontext von bürgerlicher Politik und bürgerlichem Populismus um die Jahrhundertwende analysiert. 5 | Friedrich Jolly: Über Irrtum und Irrsinn. Rede, gehalten am 2. August 1893, Berlin 1893, 27.
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Wahn- oder Blödsinns hinaus zu erweitern.6 Während sich die Disziplin professionalisierte, sah sie sich heftigster Angriffe von außen ausgesetzt.7 Träger der Psychiatriekritik im Kaiserreich waren neben (ehemaligen) Patienten vor allem Juristen und einige Parlamentarier. Wie die Verfasser der Irrenbroschüren vertraten ihre Unterstützer ein auffallend breites politisches Spektrum, das vom rechtskonservativen, antisemitischen Lager über die Sozialdemokratie bis hin zu anarchistischen Kreisen reichte.8 Im Kern – und über die Motive im je individuellen Fall hinaus – ging es den Irrenreformern darum, eine reichseinheitliche Irrengesetzgebung durchzusetzen, Einweisung, Entmündigung, Entlassung neu zu regeln sowie eine verstärkte Kontrolle der Anstalten und der behandelnden Ärzte zu institutionalisieren.9 Tatsächlich herrschten in den Ländern des Deutschen Reiches ausgesprochen heterogene Regelungen. Gesetzesreformen, die auf Einheitlichkeit und Rechtssicherheit, auf transparente Zuständigkeiten und auf eine Kontrolle der Anstalten zielten, schienen nicht zuletzt auch deshalb geboten, weil die Zahl der sogenannten Geisteskranken in den Irrenanstalten mit der Gründung neuer Anstalten und der Neuregelung der Kosten für einen Aufenthalt rasant zugenommen hatte.10
6 | Einen Überblick über Psychiatrie und Psychiatriereform im Kaiserreich geben Dirk Blasius: »Einfache Seelenstörung«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945, Frankfurt a.M. 1994, hier 61-115; Bernd Walter: Fürsorgepflicht und Heilungsanspruch. Die Überforderung der Anstalt? (1870-1930), in: FranzWerner Kersting/Karl Teppe/Bernd Walter (Hg.): Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993, 66-98; Eric J. Engstrom: Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca 2003. 7 | Die sogenannte Irrenreformbewegung ist in den letzten Jahren wiederholt zum Gegenstand historischen Interesses geworden. Den Anfang machten Gabi Feger/Hans Schneider: »Antipsychiatrische« Bewegung und Sozialpsychiatrische Ansätze von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, in: Stefan Lundt (Hg.): Rebellion gegen das Valiumzeitalter. Überlegungen zur Gesundheitsbewegung, Berlin 1981, 191-211; Heinz-Peter Schmiedebach: Eine »antipsychiatrische Bewegung« um die Jahrhundertwende, in: Martin Dinges (Hg.): Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870-1933), Stuttgart 1996, 127-159. An der Universität Hamburg läuft zurzeit ein DFG-Forschungsprojekt zur Irrenreformbewegung »Psychiatriekritik und Öffentlichkeit, 1880-1920« (Heinz-Peter Schmiedebach, Rebecca Schwoch). Die Kritik, die Ende des 19. Jahrhunderts die Psychiatrie im Deutschen Reich traf, hatte ihre Vorläufer in Westeuropa, den USA und Kanada. Eine vergleichende Untersuchung der Reformbestrebungen steht noch aus. 8 | Zur sozialen Zusammensetzung der Bewegung vgl. Schmiedebach (1996). 9 | Vgl. dazu Brink (2010), vor allem Kapitel 4.2. 10 | Ebd., Kapitel 4.1.
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Die Irrenreformer kritisierten – mit ganz wenigen Ausnahmen11 – die Psychiatrie nicht grundsätzlich. Im Gegenteil: Mit der Forderung nach Gesetzesreformen verband sich regelmäßig der Ruf nach einer professionelleren, naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie: »Wir sind also durchaus nicht etwa der Ansicht«, schrieb etwa der anonyme Autor einer Broschüre von 1899, »daß es wenige Geisteskranke giebt [sic!]12 oder daß die Irrenärzte überflüssig wären. Im Gegenteil glauben wir, daß eine beträchtliche Anzahl hochgradig nervöser und geistig erkrankter Menschen, welche in ihrem eigenen Interesse und häufig zum Besten ihrer Familie und der menschlichen Gesellschaft rechtzeitiger zeitweiliger Anstaltsbehandlung zugeführt werden sollten, unbefugt so lange in Freiheit leben, bis sie sich selbst oder Andere zu Grunde gerichtet haben […].«13 Dass eine Grenze zwischen Gesundheit und Geisteskrankheit gezogen werden konnte und auch gezogen werden musste, setzten auch die Verfasser(innen) der Irrenbroschüren voraus; nur zogen sie diese Grenze anders als die Ärzte. Sie unterschieden strikt zwischen in ihren Augen richtig Kranken und eigentlich Gesunden: Die Irren, das waren für sie die Anderen. In der wissenschaftlichen Psychiatrie waren hingegen die starren Kategorien inzwischen zugunsten flexiblerer Grenzziehungen aufgelöst worden. Mit der Einführung des Begriffs der Entartung war ein neues Konzept psychischer Krankheit, ihrer Ursachen und ihrer Folgen erdacht worden. Der Begriff der Entartung habe es möglich gemacht, schrieb der Psychiater Paul J. Möbius 1900, die »Grenzzustände zwischen Geisteskrankheit und Gesundheit« in allen Übergangsformen zu erfassen.14 Wie zahlreiche seiner Kollegen beschrieb Möbius ein Normalfeld geistiger Gesundheit mit anormalen Anschlusszonen.15 Die Norm, wie sie hier verstanden wurde, gestattete es, immer feinere Abstände zu markieren. Damit war das Anormale von keiner anderen Natur als das Normale. Eine Scheidewand zwischen Geistesgesundheit und -krankheit lasse sich nicht aufrichten, meinte der Arzt Ludwig Scholz in einem Beitrag zum Thema Was weiß das Publikum von den Geisteskrankheiten?, und er fuhr fort, »vielmehr giebt es zahlreiche Seelenzustände, die sich gleichsam auf der 11 | Zu den Ausnahmen gehörte Oskar Panizza, von dem noch die Rede sein wird. 12 | In den folgenden Zitaten werden die Besonderheiten älterer Formen der Rechtschreibung nicht mehr eigens hervorgehoben. 13 | Anonym: Entspricht das Irrenwesen der deutschen Bundesstaaten dem Kultur- und Rechtszustand des deutschen Reiches und warum ist ein Reichs-Irrengesetz dringendes Bedürfnis? Ein Wort zur Irrenfrage an Laien, Ärzte und Juristen, Leipzig 1899, 72f. 14 | Paul J. Möbius: Ueber Entartung, Wiesbaden 1900, 102. 15 | Hier und im Folgenden orientiere ich mich am Modell des Normalismus von Jürgen Link. Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997. Link selbst geht auf die Irrenreformbewegung, ihren sozialen und medizinischen Kontext nicht ein.
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Grenzlinie bewegen und deren Beurteilung deshalb große Schwierigkeiten macht. Im Volksmunde bezeichnet man diese Halbkranken als verdreht, verschroben, excentrisch, übergeschnappt, splienig.«16 Wenn geistige Gesundheit und Krankheit als Kontinuum gedacht wurden, so bedeutete das nicht, dass die Differenz zwischen beiden Zuständen bedeutungslos geworden war. Der viel zitierte Begriff des Psychiaters Carl Pelman vom »heiligen Mittelmaß« brachte die Argumentationsstrategie auf den Punkt.17 Viele der Broschürenschreiber galten laut ärztlicher Diagnose als »Psychopathen«. Das entsprechende Definitionskriterium, – »die Unfähigkeit sich der Umwelt anzupassen«18 –, band die statistische Normalität in radikaler Weise zurück an Normativität. Wer aus dem »heiligen Mittelmaß« heraus fiel, dem drohten mit Irrsinnserklärungen und Einweisungen in eine Irrenanstalt harte Interventions- und Exklusionsformen, also genau das, wogegen sich die Autoren der Broschüren zur Wehr setzten. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Broschüren als Ausdruck einer Übergangszeit. Eine naturwissenschaftliche, dem Anspruch nach nichtnormative Psychiatrie hatte begonnen, fließende Übergänge zwischen Normalität und Anormalität zu konzipieren – aber ohne damit zugleich den radikalen gesellschaftlichen Ausschluss derer aufzugeben, die ›über die Grenze‹ gegangen waren. Weil der Grat zwischen dem Normalen und dem Pathologischen schmaler geworden war, bedurfte es der überwachenden Anstrengung aller, der Experten wie der (potenziell) Kranken, die Grenze zwischen beiden Zuständen zu schützen. Im Kern ist die damit einhergehende Verunsicherung das Thema der Patientenbroschüren, auch Motiv ihrer Entstehung sowie der Grund für die öffentliche Resonanz. Die Schriften dokumentieren das individuelle Ringen um Gleichgewicht in einem Normalfeld von Denken, Fühlen und Handeln. Eine solche Selbstadjustierung an Normalwerte erweist sich als Kehrseite der psychiatrischen Rede von der ›Instabilität‹ der ›Entarteten‹ und dies in einer Zeit gesellschaftlichen Umbruchs, als bislang stabile Rollenmuster ihre Verbindlichkeit zu verlieren begannen.
D IE P SYCHIATRIEREFORM 1970 ER J AHRE Als in den späten 1960er und dann vor allem in den 1970er Jahren Antipsychiatrie und Psychiatriekritik in der Bundesrepublik große öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren, waren die Irrenbroschüren wie überhaupt die 16 | Ludwig Scholz: Was weiß das Publikum von den Geisteskrankheiten?, in: Die Irrenpflege. Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege 7 (1903/04), H. 1, 3-10, hier: 3f. 17 | Carl Wilhelm Pelman: Psychische Grenzzustände, Bonn 1909, 3. 18 | Carl Birnbaum: Über psychopathische Persönlichkeiten. Eine psychopathologische Studie, Wiesbaden 1909, 79.
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ältere Reformbewegung weitgehend in Vergessenheit geraten. Gelegentlich klagten Ärzte, ihr Berufsstand werde immer wieder zu Unrecht angegriffen, und erinnerten an die Reformbewegung um 1900. Aber weder die Psychiatriereformer unter den Ärzten und unter den anderen mit dem Thema professionell befassten Akteuren, weder engagierte Patienten noch die politische Öffentlichkeit bezogen sich positiv oder abgrenzend darauf – ein erster Hinweis also, dass sich der Gegenstand der Psychiatriekritik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verändert hatte. Tatsächlich hatte die Auseinandersetzung mit Rechtsfragen, die um 1900 im Zentrum gestanden hatte, an Relevanz verloren; diese waren mit der seit 1969 laufenden Verabschiedung von neuen Gesetzen der Bundesländer, die die Unterbringung psychisch kranker Menschen regelten, vorläufig beantwortet.19 Auch in den alten Irrenbroschüren, welche die geistige Normalität ihrer Verfasser nachweisen sollten, erkannte sich 1970 niemand wieder, der sich psychiatriepolitisch engagierte. Mit Verspätung gegenüber anderen europäischen Ländern und den USA wurden seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auch in der Bundesrepublik die therapeutische Praxis der traditionellen Anstaltspsychiatrie sowie die etablierte Psychosentheorie zum öffentlich heiß diskutierten Thema.20 In der Presse erschienen Undercover-Recherchen und Erfahrungsberichte aus psychiatrischen Kliniken, Ärzte und Kritiker organisierten Tagungen, die Themen ›Wahnsinn‹ bzw. ›Wahnsinn und Gesellschaft‹ boomten in literarischen Texten, in linken politischen Zeitschriften und grauer Literatur, in Filmen und in der populären Musik. 1973/75 wurde die gewichtige, im Auftrag der Bundesregierung entstandene Materialsammlung der Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht.21 Mehrheitlich von Medizinern verfasst, dokumentierte der Enquêtebericht den katastrophalen Zustand der psychiatrischen Versorgung und stellte Vorschläge für Verbesserungen vor. Die Lösungsvorschläge für eine moderne psychiatrische Versorgung, die im Enquêtebericht, aber auch an anderen Orten publiziert wurden, unterschieden sich in ihrer Radikalität: Sollte man die Anstalten ganz auflösen oder die therapeutische Hilfe in Anstalten um Angebote extramuraler Versorgung erweitern? Sollten Spezialkliniken erhalten bleiben oder besser psychiatrische Abteilungen in allgemeinen Krankenhäusern 19 | Vgl. dazu Brink (2010), Kapitel 11. Dieser Gesetzgebungsprozess fand parallel zur Reformbewegung statt, ohne in einem ursächlichen Verhältnis zur öffentlichen Psychiatriekritik zu stehen. 20 | Einen ersten internationalen Vergleich der Reformbewegungen bietet: Marijke Gijswijt-Hofstra/Roy Porter (Hg.): Cultures of Psychiatry and Mental Health Care in Postwar Britain and the Netherlands, Amsterdam/Atlanta 1998. 21 | Deutscher Bundestag: Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht der Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Drucksachen, 7. Wahlperiode, Drucksachen 4200 u. 4201, 2 Bde., Bonn 1975.
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eingerichtet werden? Psychiatriekritik war nie allein Sache linker politischer Bewegungen, sondern immer ein »kaleidoskopic movement«.22 Das galt 1970 wie 1900: Hier engagierten sich Professionelle, also Ärzte, Pflegende, auch Angehörige anderer Berufsgruppen wie Psychologen, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter; das politische Spektrum reichte von Mitgliedern der Außerparlamentarischen Opposition bis zu CDUAbgeordneten im Bundestag. Seit Anfang der 1970er Jahre trat auch die Scientology Church als psychiatriekritische Akteurin auf. Wie schon im Kaiserreich meldeten sich erneut Patient/-innen zu Wort. Auch unter ihnen war das politische Spektrum weit: Zu den prominenteren Beispielen gehörte das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg, das später weniger durch die therapeutische Praxis, mit der die Gruppe begonnen hatte, bekannt wurde als durch den Beitritt einzelner Mitglieder zur Roten Armee Fraktion (RAF).23 Zudem existierten Initiativen wie die Sozialistische Selbsthilfe Köln (SSK), die seit 1969 aus Heimen geflüchtete Jugendliche und in den 1970er Jahren zunehmend auch Menschen, die aus psychiatrischen Landeskrankenhäusern kamen, unterstützte sowie eine reformorientierte Patientengruppe um Ernst Klee in Frankfurt a.M., die 1976 mit einer Radiosendung öffentlich auftrat. In Berlin gründete sich 1980 die Irrenoffensive, die antipsychiatrische Positionen vertrat (und auch heute noch vertritt). Über die soziale Zusammensetzung der genannten Gruppen ist wenig bekannt; in Heidelberg haben sich vor allem Studierende, Männer und Frauen aus dem akademischen Umfeld engagiert. Im Folgenden soll der Radiobeitrag, der 1976 den sogenannten Frankfurter Psychiatriestreit auslöste, für einen Vergleich mit den Irrenbroschüren des Kaiserreichs benutzt werden. Wie sahen sich Patienten in den 1970er Jahren als Subjekte, wie setzten sie sich in Beziehung zur Institution Psychiatrie und zur Gesellschaft? Vorab zum Kontext: Ernst Klee, sozialkritischer Journalist und Theologe, produzierte nach Absprache mit den verantwortlichen Ärzten im Herbst 1976 mit Patienten der Frankfurter Universitäts-Nervenklinik einen Beitrag für die Sendereihe Die kranke Seele des Hessischen Rundfunks.24 Klee und der Psychiater Wolfgang Pittrich trafen sich im Oktober und November in der Frankfurter Klinik zu Gesprächen mit Patienten, 22 | Dazu genauer Gijswijt-Hofstra et al. (1998). 23 | Vgl. zum SPK mit weiterführenden Literaturhinweisen Cornelia Brink: Radikale Psychiatriekritik in der Bundesrepublik. Das sozialistische Patientenkollektiv in Heidelberg, in: Franz-Werner Kersting (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003, 165-180. 24 | Klinikinsassen machen eine Sendung, Hessischer Rundfunk, 3.12.1976. Bereits Anfang des Jahres, am 6. Februar 1976, hatte Klee gemeinsam mit dem Arzt Wolfgang Pittrich eine erste Sendung für den Hessischen Rundfunk produziert. Dazu aus Sicht der Psychiater auch: Hans J. Bochnik/Carlo Nässig/Wolfgang Pittrich: Psychiatrie und öffentliche Medien. Anstöße zu einer notwendigen Zusam-
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insgesamt sollen etwa 30 Personen mitgearbeitet haben. Drei Gespräche wurden auf Band aufgezeichnet, den Schnitt übernahm Klee gemeinsam mit Patienten im Funkhaus des Hessischen Rundfunks. Der Beitrag wurde am 3. Dezember 1976 gesendet. Im Radio erklärten die Betroffenen, die weder in der Sendung noch in einer späteren Buchpublikation mit Namen auftraten, nach außen erscheine die Frankfurter Klinik als gut und fortschrittlich. Ihr Wunsch als Patienten dagegen sei es, »die Hörer hinter die Kulissen blicken [zu] lassen und Laien einmal die Psychiatrie aus der Sicht des laienhaften Patienten sehen [zu] lassen. Wir wollen das so aussprechen, wie die Psychiatrie von uns allen, also vom normalen Menschen empfunden wird.«25 Nicht normal, das waren in ihren Augen die Experten, also die Ärzte. Die Patienten, von denen einige versucht hatten, sich das Leben zu nehmen, beklagten vor allem, dass die Ärzte keine Zeit für sie hätten und keine Gesprächstherapien stattfänden oder verschrieben würden. Medikamente seien zeitweise zwar nötig, befanden die Männer und Frauen; sie forderten jedoch, über deren Nebenwirkungen informiert zu werden. Medikamente, so der Tenor, ersetzten keine Therapie. Die Patienten berichteten, wie sie ihre Zwangseinweisung erlebt hatten, über Entwürdigungen und Beeinträchtigungen durch die Krankenhausordnung, die erzwungene Unselbstständigkeit auf den Stationen, Stigmatisierung und die schwierige Arbeitssuche nach der Entlassung. Der Stress draußen, im Arbeitsleben, mache krank und könne jeden treffen: »Wir sind ja nur das Ende vom Lied, die in der Klinik […]. Die ›draußen‹, mit ihren Schwierigkeiten, haben den Stempel ›geisteskrank‹ noch nicht. Die haben aber auch ihre Schwierigkeiten und fressen Tabletten, damit sie in der Arbeit noch klar kommen.« Am Ende der Sendung sprachen die Patienten über ihre Angst vor möglichen Repressalien durch die behandelnden Ärzte – Medikamentenentzug, Höherdosierung oder auch Entlassungen –, die einige wegen dieses öffentlichen Auftritts fürchteten.26 Die Sendung fand große Resonanz: Die Frankfurter Neue Presse hatte bereits vorab berichtet,27 die Programmzeitschrift Hörzu für die Sendung geworben.28 Klees Berichte über das Projekt wurden unter anderem in der Wochenzeitung Die Zeit abgedruckt.29 Mehr als 1.000 Interessierte erschienen am 15. Februar 1977 zu einer Veranstaltung im Hörsaal der menarbeit, in: Manfred Bergener (Hg.): Psychiatrie und Rechtsstaat, Neuwied 1981, 216-241. 25 | Ernst Klee: Psychiatrie-Report, Frankfurt a.M. 1978, 20; siehe auch Ders.: »… wie ein Hammer auf den Kopf.« Behandlung mit Elektroschocks führt in Frankfurt zu einem Psychiatrie-Streit, in: Die Zeit, 18.2.1977, 53. 26 | Zitiert nach Klee (1978), 20-32. 27 | Vgl. Protest gegen ›Pillenkeule‹. Diskussion mit psychisch Kranken in der Uniklinik, in: Frankfurter Neue Presse, 20.11.1976. 28 | Laut Klee (1978), 19. 29 | Ernst Klee: Sie hauen uns mit Tabletten voll – Patienten machen eine Sendung. Wurden sie für ihre Kritik bestraft?, in: Die Zeit, 31.12.1976, 42f.
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Universitätsklinik; einige Mitglieder aus dem Ensemble des Frankfurter Schauspielhauses veranstalteten Abende unter dem Titel Die verwaltete Seele. Geschichten aus dem alltäglichen Wahnsinn und dem wahnsinnigen Alltag.30 Doch schon nachdem die Frankfurter Neue Presse den Radiobeitrag unter der Schlagzeile »Protest gegen Pillenkeule« angekündigt hatte, distanzierten sich jene Ärzte massiv von Klee, die das Projekt anfangs unterstützt und in anderen Zusammenhängen selbst strukturelle Probleme der Psychiatrie – ihre Unterfinanzierung, Personal- und Zeitnot, die Stigmatisierung der Kranken – wiederholt öffentlich gemacht hatten. Nun warfen sie dem Journalisten vor, Patienten für seine »antipsychiatrischen« Angriffe missbraucht und das öffentliche Misstrauen gegenüber der psychiatrischen Klinik geschürt zu haben. Sie drohten mit juristischer Klage und erklärten das Projekt einer gemeinsamen Radiosendung insgesamt für gescheitert.31 Vergleicht man die Anliegen der Patienten, die Anfang des 20. Jahrhunderts über ihre Erfahrungen in den damaligen Heil- und Pflegeanstalten berichteten, mit den Themen, die Patienten siebzig Jahre später vorbrachten, zeigen sich erkennbare Unterschiede. 1976 meldeten sich im Radio keine Individuen zu Wort, um ihre wie auch immer bestimmte eigene Normalität zu beweisen. Diesmal traten die Patienten als Gruppe mit gemeinsamen Interessen und ausdrücklich als psychisch Kranke auf. Sie sprachen über ihre Leiden und klagten die – von Ärzten oft behauptete, in der Praxis aber vielfach mangelhafte – therapeutische Unterstützung ein bzw. forderten andere Therapien, mehr ärztliche Zuwendung und Aufklärung. Ihre Forderungen trafen sich mit denen des Sozialistischen Patientenkollektivs, dessen Mitglieder anfangs ebenfalls Therapien, Rezepte und Räume gefordert hatten. Die britische Historikerin Kerrie Davies hat diese ›Rahmung‹ der Erfahrung psychischer Krankheit als »narrative of the self as patient« bezeichnet und dabei auch auf die Selbstthematisierungen der Jahrhundertwende verwiesen: »The widening definitions of what constitutes the legitimate concerns and legitimate spheres of service users encompassing occupational status, consumer rights, group identity, and social exclusion, may be contrasted with the pre-twentieth century preoccupation with issues of false confinement.«32 30 | Von einem ähnlich großen Interesse an einer öffentlichen Veranstaltung zur Lage der Psychiatrie berichtete der Düsseldorfer Psychiater Kurt Heinrich: Psychiatrie auf der Anklagebank. Eine Fallstudie, in: Hanns Hippius/Hans Lauter (Hg.): Standorte der Psychiatrie. Zum Selbstverständnis einer angefochtenen Wissenschaft, München 1976, 49-60. 31 | Hans J. Bochnik/Wolfgang Pittrich: Psychiater und Journalisten (II). Zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker, in: Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3 (1980), H. 3, 126-130. 32 | Kerry Davies: »Silent and Censured Travellers«? Patients’ Narratives and Patients’ Voices: Perspectives on the History of Mental Illness since 1948, in: Social History of Medicine 14 (2001), H. 2, 267-292, hier 289.
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Gemeinsam waren der radikalen Forderung des Sozialistischen Patientenkollektivs nach ›Patientenkontrolle‹ und der reformorientierten Variante, für welche die Radiosendung steht, dass soziale Rollen in den 1970er Jahren als einschnürend, einengend, gewaltförmig erfahren wurden. Diese waren den Patienten um 1900 noch als positiv besetzt und erstrebenswert erschienen. Mit der neuen Akzentuierung kehrte sich auch das Verständnis von normal und verrückt um. Verrücktheit konnte nun als angemessene oder zumindest verständliche Reaktion auf gesellschaftliche (Gewalt-)Verhältnisse oder das engere soziale Umfeld wie beispielsweise die Familie verstanden werden. In der Radiosendung stand dafür vor allem der »Arbeitsstress«; beim SPK waren es grundsätzlicher die Gesellschaft und die Politik der Bundesrepublik. Diese Selbstpositionierung – ›Ich bin krank, das ist normal in einer Gesellschaft, deren Anforderungen krank machen‹ – markierte auch eine Schnittstelle zwischen den Frankfurter Patienten und jenen gesellschaftskritischen Akteuren, die in den 1970er Jahren über Wahnsinn und Psychiatrie redeten, ohne sich dabei notwendigerweise auf die aktuelle Lage der Anstaltspsychiatrie oder auf Krankheitskonzepte zu beziehen. Einen guten Eindruck von der Vielfalt der Themen und Assoziationen, mit denen in jenen Jahren die Frage von Normalität und Abweichung verknüpft wurde, liefert der Sammelband Alltag des Wahnsinns, der 1980 im Berliner Wagenbach Verlag erschien. »Was ist normal? Was zeichnet die oder den Normalen aus vor den anderen? Einige Hauptunterschiede: Sie befinden sich in Freiheit; sie können tun und lassen was sie wollen; sie können ihren Beruf frei wählen; sie brauchen ihre Kinder nicht zu schlagen; sie haben das gute Recht, mit 50.000 anderen Normalen vierzehn Tage auf Mallorca zu verbringen etc. Ist das normal?«33 fragten die Herausgeber. Pathologisch, das legten sie nahe, war die Mehrheitsgesellschaft, waren Anpassungsbereitschaft und Konformität. Wagenbachs Buch versammelte Texte psychisch kranker Menschen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, Auszüge aus psychiatrischen Fallgeschichten, literarische Auseinandersetzungen mit dem Wahnsinn, Zitate vom Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud, von den Psychiatriekritikern Ronald Laing und Thomas Szasz und von dem amerikanischen Psychologen Timothy Leary, den Drogenexperimente berühmt gemacht hatten, dazu Expertendiskussionen über die Sprache und die Kunst Schizophrener – eine Anthologie, so konnte man auf der Umschlagrückseite lesen, zum Verhältnis von »Schizophrenie, Produktivität und Normalität«. Als Motto hatten die Herausgeber unter anderem einen Auszug aus Ernst Klees Bericht über die Radiosendung gewählt. Referenzen auf den aktuellen Zustand der Anstaltspsychiatrie und Projektionen von Gesunden über den Wahnsinn verbanden sich miteinander. Der Wahnsinn, der in den 1970er Jahren zum öffentlich verhandelten Gegenstand wurde, war nicht notwendig 33 | Hans-Jürgen Heinrichs/Michael Krüger/Klaus Wagenbach (Hg.): Alltag des Wahnsinns, Berlin 1978, [nicht paginiert].
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identisch mit den Themen psychischer Krankheit und Behandlung, die Patienten und Ärzte umtrieben. Im genannten Sammelband findet sich auch ein Nachdruck aus der Autobiografie Oskar Panizzas – womit sich der Bogen noch einmal zur Irrenreformbewegung im Kaiserreich zurückschlagen lässt. Oskar Panizza, selbst ausgebildeter Psychiater und zeitweise der Skandalautor des Wilhelminischen Kaiserreichs, hatte in seiner Schrift Psichopathia criminalis. Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkanten Geisteskrankheiten psichatrisch zu eruieren und wissenschaftlich festzustellen. Für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc. aus dem Jahr 1898 die Psychiatrie mit ihren eigenen Mitteln angegriffen.34 Auf ironische, ja sarkastische Weise behandelte er politisch oder moralisch abweichendes Verhalten als durch drastische Maßnahmen zu behandelnde und auszumerzende psychische Abnormität. Seine Schriften tauchten im Kontext der um 1900 öffentlich erörterten Irrenfrage weder in ärztlichen Beiträgen noch in Irrenbroschüren auf. 1978 indes, als die Irrenbroschüren derjenigen, die ihre Normalität verteidigt hatten, längst in Vergessenheit geraten waren, fand der scharfe Kritiker von Staat, Kirche und Gesellschaft ein Publikum unter den Psychiatriekritikern. Vergleichbares gilt für Otto Gross, wie Panizza ein Arzt und Psychiatriepatient, vor allem aber der erste Psychoanalytiker, der Jahrzehnte vor dem Psychiater und Psychoanalytiker Wilhelm Reich und dem Soziologen und Philosophen Herbert Marcuse die Psychoanalyse in einer dezidiert gesellschaftsbezogenen Version vertrat und nach der pathogenen Wirkung sozialer Normen fragte. Psychiatriekritik als Gesellschaftskritik hat in der Bundesrepublik ihr Publikum erst seit Ende der 1960er Jahre gefunden.
F A ZIT Man kann die öffentliche Psychiatriekritik um 1900 und 1970 als medizinisch-soziale Reformbewegungen historisch rekonstruieren, wie es seit einigen Jahren in der Neueren und Neuesten Geschichte und der Medizingeschichte geschieht.35 Bezieht man zeitgenössische Patientenäußerungen in die Untersuchung mit ein, geraten die Reformphasen der Psychiatrie darüber hinaus auch als Elemente einer Geschichte der Subjektivitäten, der Rekonstruktion von Subjektformen und Subjektivierungsweisen in den Blick. Diese lassen sich methodisch nicht auf Bewusstsein, Interes34 | Eine Neuauflage von Panizzas Buch erschien 1978 unter dem Titel Die kriminelle Psychose, genannt Psichopathia criminalis. Hilfsbuch für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc. zur Diagnose der politischen Gehirnerkrankung, München 1978, 2., veränderte Auflage 1987. 35 | Dazu Schmiedebach (1998), Goldberg (2003), Brink (2010) mit weiterführenden Literaturhinweisen.
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sen oder Absichten der historischen Akteure zurückführen; sie sind auch nicht mit deren ›Eigensinn‹ zu verwechseln. Vielmehr sind Subjektformen und Subjektivierungsweisen im Zusammenspiel, im Gegen- und Miteinander innerhalb diskursiver Formationen aufzufinden: ein Horizont von Möglichkeiten, in denen sich Konzeptionen vom psychischen Selbst – vom gesunden oder psychisch kranken Subjekt – manifestierten. Immer, wenn die Psychiatrie sich zu transformieren begann, wie dies in Deutschland um 1900 und um 1970 der Fall war, ging es auch um eine historische Praxis, ›Ich‹ bzw. ›Ich als Patient‹ zu denken. Für 1900 wie für die 1970er Jahre gilt: Das Sich-Zeigen und das öffentliche Reden hatte für die Patienten einen Wert an sich. Zum Psychiatriepatienten zu werden, bedeutete weitgehend ohne Rechte und passiv zu sein. Man wurde zum Objekt der Entscheidungen anderer. Aus dieser Rolle traten die Patienten und Patientinnen heraus, indem sie öffentlich das Wort ergriffen. Sie nahmen sozusagen das Heft wieder in die Hand, »man wird initiativ, man ist wieder ›wer‹, man bestimmt – wenigstens das kommunikative Geschehen.«36 Gleichzeitig aber, und das war die Dialektik dieses Vorgangs, legte der öffentliche Auftritt die Akteure erneut auf die Rolle des Patienten fest. In der Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung dieser Gruppe von Kranken liegt eine offensichtliche Gemeinsamkeit zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. In der je spezifischen Art und Weise, sich in Bezug zu sich selbst, zu Normalität und Abweichung zu setzen, erweisen sich die Patienten im Rückblick als ›Kinder ihrer Zeit‹. Um 1900 war ›Ich‹ als psychisch Kranker öffentlich und im politischen Kontext kaum zu denken.37 Stattdessen ging es den Patienten, denen es möglich war, sich Gehör zu verschaffen, um Rollenkonformität, um das ›Ich‹ als bürgerliches Rechtssubjekt, als Mann oder als Frau: ›Ich bin normal, die Irren sind die anderen, für die braucht es Anstalten.‹ Dagegen war um 1970 ›Ich‹ als psychisch krankes und therapiebedürftiges Subjekt denk- und äußerbar. In den exemplarisch vorgestellten Äußerungen der Patienten scheint etwas Neues auf, das bis in unsere Gegenwart reicht: Das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rollen zugewiesen hatte, verlor an Bedeutung. Rollen 36 | Hier folge und modifiziere ich Jan Philipp Reemtsma: Gewaltopfer – Kann man Abstinenz von der Öffentlichkeit fordern?, in: Mittelweg 36 (2008), H. 4, 3044, hier 39f. 37 | Es gab Ausnahmen. Sie finden sich in Beiträgen von Psychiatriepatienten, die über ihre Genesung berichteten, außerdem in Äußerungen von Patienten mit der Diagnose ›Neurasthenie‹. Aber diese Diagnose, die mit ›Nervosität‹, ›Nervenschwäche‹, ›Reizbarkeit‹, vor allem aber mit ›Modernität‹ konnotiert war, erlaubte den Betroffenen auch, sich von den ›wirklichen Irren‹ zu distanzieren. Vgl. dazu Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998.
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erschienen nun als Zumutungen. Diese Auflösung des stabilen ›Ich‹ war verbunden mit dem Recht, anders – und das hieß unter Umständen auch psychisch krank –, zu sein. Die neue Norm forderte jeden zu persönlicher Initiative auf, sie zwang ihn, er selbst zu werden. Zur Selbstvergewisserung konnte dann auch gehören, in Krisenzeiten therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder zu fordern – was später mit dem ›Psychoboom‹ der 1980er Jahre über die Grenzen der Psychiatrie hinaus Eingang in den Alltag vieler finden sollte.38 Damit war die ältere Variante, von sich zu sprechen, nicht ganz verschwunden; der Topos von der unrechtmäßigen Internierung psychisch Gesunder ist bis heute virulent.39 Dass umgekehrt auch das Neue nicht ganz neu war, zeigte die Rezeption der Texte von Panizza und Gross. Unübersehbar bleibt jedoch, dass der jeweils hegemoniale Diskurs und damit die Probleme, die sich denjenigen stellten, die als (vermeintliche) Patienten öffentlich das Wort ergriffen, andere geworden waren. »Jeder Krankheitsfall«, lautete eine These des Psychiaters Maurice Dorès im genannten Sammelband des Wagenbach Verlags, »ist die Begegnung zweier geschichtlicher Abläufe: der Geschichte der Persönlichkeit und der Geschichte der Gesellschaft, in der die betreffende Person lebt.«40 Als dritter Ablauf ist die Geschichte der Psychiatrie zu ergänzen, jene Wissenschaft und Praxis, die sich seit dem 18. Jahrhundert als Spezialistin für psychische Abweichungen etablierte und bis heute gemeinsam mit anderen Humanwissenschaften Grenzziehungen zwischen Gesundheit und Krankheit produziert und überwacht. Psychiatrie, später Psychoanalyse und andere Psychotherapien, außerdem die Pädagogik blieben die Felder, in denen sich neue Entwürfe des Selbst, des Subjekts etablieren. Wenn die Autoren und einige Autorinnen von Irrenbroschüren für kurze Zeit prominent wurden, wenn psychisch Kranke in einer Radiosendung Therapien forderten, so ist das auch als Indikator für Veränderungen in der klinischen Praxis zu werten. Um 1900: Eine Psychiatrie, die das Krank38 | Dazu zuerst Françoise Castel/Robert Castel/Anne Lovell: Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA, Frankfurt a.M. 1982 sowie Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004. 39 | Er findet sich in Texten von Frauen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert über ihre Erfahrungen in oder mit der Psychiatrie berichteten. Teilweise über den Umweg der USA wurden sie seit den 1980er Jahren in feministischen Kontexten neu entdeckt und gelesen. Vgl. Phyllis Chesler: Frauen – das verrückte Geschlecht? Reinbek b. Hamburg 1986; Sybille Duda (Hg.): WahnsinnsFrauen, Bde. 1-3, Frankfurt a.M., 1992-1999. 40 | Fichte, Hubert/Dorès, Maurice: Die Geisteskrankheiten in Afrika. Ein Gespräch, in: Hans-Jürgen Heinrichs/Michael Krüger/Klaus Wagenbach (Hg.): Alltag des Wahnsinns, Berlin 1978, 117-119, hier 119. Das vollständige Gespräch erschien als Teil II in: Hubert Fichte: Psyche. Anmerkungen zur Psychiatrie im Senegal, Teil II, Frankfurt a.M. 1980, 39-54.
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heitsbild der entarteten »psychopathischen Persönlichkeit« als »exquisite[s] Grenz- und Übergangsgebiet«41 formulierte für Menschen, deren Verstandesschärfe von ihrer Krankheit unberührt blieb, produzierte jene Patienten, die sich gegen ihre Diagnose mit Broschüren öffentlich zur Wehr setzen konnten. Und um 1970: Eine Psychiatrie, die neben somatischen auch gesellschaftliche Ursachen für abweichendes Verhalten, Denken und Fühlen einbezog und für die Therapien Vorrang hatten gegenüber der Unterbringung (auch wenn die Praxis oft anders aussah), sah sich mit Patienten konfrontiert, die ihr Recht auf Therapie einforderten bzw. grundlegende Veränderungen wollten. Im Zusammentreffen dieser drei Abläufe – Subjekt, Wissenschaft, Gesellschaft – zeigt sich, warum sich die Geschichte der Psychiatrie nicht als Geschichte medizinischen Fortschritts schreiben lässt. Und umgekehrt kann die Sozial- und Kulturgeschichte neue Einsichten gewinnen, wenn sie für manche ihrer Fragen die Psychiatrie als Untersuchungsgegenstand mit einbezieht.
L ITER ATUR Andrews, Jonathan/Digby, Anne: Introduction. Gender and Class in the Historiography of British and Irish Psychiatry, in: Dies. (Hg.): Sex and Seclusion, Class and Custody. Perspectives on Gender and Class in the History of British and Irish Psychiatry, Amsterdam/New York 2004, 7-44. Anonym: Entspricht das Irrenwesen der deutschen Bundesstaaten dem Kultur- und Rechtszustand des deutschen Reiches und warum ist ein Reichs-Irrengesetz dringendes Bedürfnis? Ein Wort zur Irrenfrage an Laien, Ärzte und Juristen, Leipzig 1899. Beyer, Bernhard: Die Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens. Material zu einem Reichs-Irrengesetz. Für Laien und Ärzte, Halle a.S. 1912. Birnbaum, Carl: Über psychopathische Persönlichkeiten. Eine psychopathologische Studie, Wiesbaden 1909. Blasius, Dirk: »Einfache Seelenstörung«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945, Frankfurt a.M. 1994. Bochnik, Hans J./Pittrich, Wolfgang: Psychiater und Journalisten (II). Zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker, in: Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3 (1980), H. 3, 126-130. Ders./Nässig, Carlo/Pittrich, Wolfgang: Psychiatrie und öffentliche Medien. Anstöße zu einer notwendigen Zusammenarbeit, in: Manfred Bergener (Hg.): Psychiatrie und Rechtsstaat, Neuwied 1981, 216-241. Brink, Cornelia: Radikale Psychiatriekritik in der Bundesrepublik. Das sozialistische Patientenkollektiv in Heidelberg, in: Franz-Werner Kersting (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek 41 | Carl Birnbaum: Über psychopathische Persönlichkeiten. Eine psychopathologische Studie, Wiesbaden 1909, hier 7.
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des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn 2003, 165-180. Dies.: »Anti-Vernunft« und »geistige Gesundheit«. Eine Fallgeschichte über Norm, Normalität und Selbstnormalisierung im deutschen Kaiserreich, in: Sibylle Brändli Blumenbach/Barbara Lüthi/Gregor Spuhler (Hg.): Ein schwieriger Fall. Historische Fallrekonstruktionen zu Medizin, Psychiatrie und Psychologie in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 2008, 121-141. Dies.: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980, Göttingen 2010. Castel, Françoise/Robert Castel/Anne Lovell: Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA, Frankfurt a.M. 1982. Chesler, Phyllis: Frauen – das verrückte Geschlecht? Reinbek b. Hamburg 1986. Davies, Kerry: »Silent and Censured Travellers«? Patients’ Narratives and Patients’ Voices: Perspectives on the History of Mental Illness since 1948, in: Social History of Medicine 14 (2001), H. 2, 267-292. Deutscher Bundestag: Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht der Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Drucksachen, 7. Wahlperiode, Drucksachen 4200 und 4201, 2 Bde., Bonn 1975. Duda, Sybille (Hg.): WahnsinnsFrauen, Bde. 1-3, Frankfurt a.M., 19921999. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004. Engstrom, Eric J.: Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca 2003. Feger, Gabi/Schneider, Hans: »Antipsychiatrische« Bewegung und Sozialpsychiatrische Ansätze von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, in: Stefan Lundt (Hg.): Rebellion gegen das Valiumzeitalter. Überlegungen zur Gesundheitsbewegung, Berlin 1981, 191-211. Fichte, Hubert/Dorès, Maurice: Die Geisteskrankheiten in Afrika. Ein Gespräch, in: Hans-Jürgen Heinrichs/Michael Krüger/Klaus Wagenbach (Hg.): Alltag des Wahnsinns, Berlin 1978, 117-119. Gijswijt-Hofstra, Marijke/Porter, Roy (Hg.): Cultures of Psychiatry and Mental Health Care in Postwar Britain and the Netherlands, Amsterdam/Atlanta 1998. Goldberg, Anne: A Reinvented Public. ›Lunatics’ Rights‹ and Bourgeois Populism in the Kaiserreich, in: German Studies 21 (2003), H. 2, 156182. Heinrich, Kurt: Psychiatrie auf der Anklagebank. Eine Fallstudie, in: Hanns Hippius/Hans Lauter (Hg.): Standorte der Psychiatrie. Zum
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Diagnostisch-therapeutische Grenzziehungen Die Zelltherapie bei Kindern mit Down-Syndrom im medizinischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland in den 1960/70er Jahren Susanne Pohl-Zucker
In einer Monitor-Sendung des Westdeutschen Rundfunks (WDR) im Jahre 1969 wurde der Kinderarzt Franz Schmid zur Anwendung der Zelltherapie bei Kindern mit Down-Syndrom, das damals noch ›Mongolismus‹ genannt wurde, befragt.1 Schmid bestand darauf, dass Injektionen mit tierischen Frisch- und Trockenzellen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Kinder verbesserten. Eine in der Sendung interviewte Mutter teilte diese Ansicht. Sie äußerte sich begeistert über die Fortschritte ihres Sohnes, der durch die Behandlung »lebendiger« geworden sei.2 Sie stand nicht allein: in den 1960er und 1970er Jahren hatten Ärzte, die Kinder mit Down-Syndrom zelltherapeutisch behandelten, großen Zulauf.3 Konfrontiert mit gesellschaftlicher Diskriminierung und den pessimistischen Diagnosen vieler Ärzte, die oft wenig über die sich seit den 1960er Jahren entwickelnden heilpädagogischen Förderangebote wussten, sahen Eltern in der Zelltherapie eine Chance für ihre Kinder. In der Schulmedizin wurde die Zelltherapie allerdings kontrovers diskutiert und obwohl einige Kassen die Behandlungskosten übernahmen, war dies nicht die Regel. 1 | Vgl. Monitor: Mongoloide Kinder, WDR, 28.4.1969. 2 | Ebd. 3 | Die Zelltherapie wurde von Paul Niehans (1882-1971) entwickelt und auch von älteren Menschen in der Allgemeinbevölkerung in Anspruch genommen, die sich eine Verjüngung oder Vitalisierung durch tierische Frischzellen erhofften. Vgl. W.H. Hitzig: Stellungnahme zur Frischzellenbehandlung bei Kindern unter Berücksichtigung des Down-Syndroms und andersartiger cerebraler Schädigungen, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 123 (1975), H. 9, 676-678, hier 676.
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Der Anlass für die Monitor-Sendung war ein Gerichtsurteil, das eine Krankenkasse in ihrer Weigerung, die Behandlung zu bezahlen, bestärkte.4 Schmid machte für die Widerstände der Krankenkassen die ablehnende Haltung der Schulmediziner verantwortlich, die selbst keine »bessere[n] Verfahren zur Hilfeleistung bei mehrfach behinderten Kindern« anzubieten hätten.5 Aber es gab durchaus Gegner der Zelltherapie, die für sich in Anspruch nahmen, die Förderung von Kindern mit Down-Syndrom voranzutreiben. So wies Schmids Gegenpart in der Monitor-Sendung, der Frankfurter Kinderpsychiater Hubert Harbauer, auf seine umfangreichen Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern mit Down-Syndrom hin.6 Er und sein akademischer Lehrer Herman Stutte, ein einflussreicher Kinderpsychiater der Nachkriegszeit, bestritten in ärztlichen Prozessgutachten die Wirksamkeit der Zelltherapie.7 Die beiden Kinderpsychiater waren Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V. Sie verstanden sich ebenso wie die Ärzte, die mit Frischzellen therapierten, als progressive Vorkämpfer für die pädagogische und medizinische Förderung von Kindern mit Down-Syndrom.8 Eine Analyse einzelner Aspekte der Zelltherapiedebatte verweist auf grundlegende Denkfiguren, die diesen Ansprüchen auf ›Fortschrittlichkeit‹ im medizinischen Diskurs zugrunde lagen. Hinter dem Streit über die angemessene Behandlungsmethode9 standen unterschiedliche Einschätzungen über die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern mit Down-Syndrom. Am Beispiel der Zelltherapiedebatte lässt sich zeigen, dass trotz eines von beiden Seiten postulierten Engagements für pädagogische Fördermöglichkeiten biologistisch-deterministische und somit die Entwicklungschancen eingrenzende Sichtweisen für die Konstruktion der jeweiligen Behinderungsmodelle konstitutiv blieben. Die Parameter, die dieser ärztlichen Schau zugrunde liegen, verweisen auf kulturelle Vorstellungen von ›Normalität‹ und ›Abnormalität‹. Anhand von zwei Beispielen soll im Folgenden die Spannung zwischen einer reduktionistischen Perspektive, die an biologistischen 4 | Vgl. Richard Mittermaier: »Kann man mongoloiden Kindern helfen?« Zur Monitor-Sendung des Westdeutschen Fernsehens vom 28.4.1969, in: Vierteljahresschrift der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Geistig Behinderte e.V. 8 (1969), H. 4, 169-185, hier 170f. 5 | Franz Schmid: Das Mongolismus-Syndrom, Münsterdorf 1976, 135. 6 | Vgl. Monitor (1969). 7 | Vgl. Mittermaier (1969), 170. 8 | Vgl. Hermann Stutte: Die Aufgaben des wissenschaftlichen Beirats der »Lebenshilfe«, in: Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V. Informationsschrift (1960), Nr. 5. 9 | Vgl. F.J. Schulte: Stellungnahme zur Behandlung des Down-Syndroms, speziell zur Zelltherapie aus neurophysiologisch/neuropädiatrischer Sicht, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 123 (1975), H. 9, 683-685, hier 684.
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Begrenzungen festhielt und dem Versuch, solche Entwicklungsgrenzen nach oben zu verschieben, herausgearbeitet werden. Der erste Abschnitt analysiert Positionen zum Verhältnis zwischen medizinischer und pädagogischer Förderung. Quellengrundlage sind Stellungnahmen von Ärzten aus dem wissenschaftlichen Beirat der Lebenshilfe zur Zelltherapie. Der zweite Abschnitt diskutiert den Anspruch des Zelltherapeuten Franz Schmid, neben der geistigen auch eine körperliche Veränderung von Kindern mit Down-Syndrom bewirken zu können. Da der schulmedizinische Diskurs im Vordergrund steht, berücksichtige ich nicht die zahlreichen Naturheilpraktiker, die die Zelltherapie anwandten, sondern beschränke mich auf zelltherapeutisch arbeitende Ärzte, die sich auch mit der pädagogischen Förderung von Kindern mit Down-Syndrom auseinandersetzten.10 Es handelt sich dabei um Hellmut Haubold, der bis in die 1960er Jahre Leiter der Forschungsstelle für Mangelkrankheiten in München war,11 sowie um den seit 1962 in privater Praxis in München tätigen Kinderpsychiater Christof Wunderlich12 10 | Der Beitrag konzentriert sich auf Behandlungsansätze bei Kindern mit Down-Syndrom, obwohl sich die meisten therapeutischen Vorstellungen auch auf Kinder mit anderen geistigen Beeinträchtigungen übertragen lassen. Kinder mit Down-Syndrom standen aber in den wissenschaftlichen Publikationen und in den öffentlichen Debatten im Vordergrund. Wegen des Zusammentreffens von genetischen, geistigen und körperlichen Besonderheiten lässt sich zudem das Fortwirken biologistischer Denkfiguren am Beispiel des Down-Syndroms besonders gut nachweisen. 11 | Hellmut Haubold (1905-1968) hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine ärztliche Karriere unter dem Nationalsozialismus hinter sich, die ihm 1940 den Posten des Leiters der Auslandsabteilung der Reichsärztekammer eingebracht hatte. Er publizierte über Gesundheitspolitik und Rassenhygiene, vgl. Robin T. Maitra: »… wer imstande und gewillt ist, dem Staate mit Höchstleistungen zu dienen!« Hans Reiter und der Wandel der Gesundheitskonzeption im Spiegel der Lehr- und Handbücher der Hygiene zwischen 1920 und 1960, Husum 2001, 144. Eugenisches Denken prägte Haubolds Schriften auch nach dem Krieg, vgl. beispielsweise Hellmut Haubold: Gedanken und Anregungen zur Mütterprophylaxe, in: Der Landarzt 35 (1959), H. 26, 945-951, hier 947. Haubold führte das Down-Syndrom auf mütterliche Mangelernährung zurück. Er argumentierte, dass die daraus resultierenden Folgen bei den Kindern durch Zellinjektionen und Vitaminkuren gemildert werden konnten. Vgl. H. Haubold/H. Loew/R. Haefele-Niemann: Möglichkeiten und Grenzen einer Nachreifungsbehandlung entwicklungsgehemmter, insbesondere mongoloider Kinder, in: Der Landarzt 36 (1960), H. 11, 378-383, hier 379f. 12 | Christof Wunderlich (1920-2009) setzte sich außerhalb seiner Praxistätigkeit für eine Verbesserung der schulischen Bildung von Kindern mit Down-Syndrom ein. 1974 wirkte er beispielsweise als ärztlicher Berater an der ZDF-Serie Unser Walter über eine Familie mit einem Kind mit Down-Syndrom mit, vgl. seine Beiträge in: Fried Thumser: Kampf für ein geistig behindertes Kind. Zum Beispiel: Mongolismus. Material zur ZDF-Fernsehserie »Unser Walter«, Nürnberg 1974.
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und um Franz Schmid, seit 1967 Leiter der städtischen Kinderklinik in Aschaffenburg.13 Nachdem das heute als Down-Syndrom bekannte Phänomen 1866 von John L.H. Langdon-Down aufgrund phänotypischer Besonderheiten als ›mongoloide Idiotie‹ bezeichnet worden war, wurde die Ätiologie in den folgenden Jahrzehnten immer wieder kontrovers diskutiert.14 Wissenschaftler führten das Down-Syndrom unter anderem auf Erbkrankheiten oder mütterliche Erschöpfungszustände zurück. Über eine genetische Schädigung wurde ebenfalls spekuliert, aber erst 1959 gelang es einem französischen Forscherteam um Jerome Lejeune bei Menschen mit Down-Syndrom ein zusätzliches 21. Chromosom, eine sogenannte Trisomie 21, nachzuweisen.15 Ansätze zur pädagogischen Förderung von Kindern mit Down-Syndrom entwickelte bereits John L.H. Langdon-Down,16 doch die Expertendiskussion über die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder verengte sich um die Jahrhundertwende unter dem zunehmenden Einfluss der Psychiatrie.17 Die klassische Nosologie nach Emil Kraepelin etablierte klar definierte, somatisch begründete Krankheitsbilder und verstärkte eine biologistische Orientierung der Psychiatrie, die sich vermehrt dem Einfluss von Eugenik und Degenerationslehren öffnete.18 Ursprung 13 | Der Kinderarzt Franz Schmid (1921-1997) gehörte zu den bekannteren Vertretern der Zelltherapie, denn seine Veröffentlichungen zur Zelltherapie beim Down-Syndrom waren in den 1970er Jahren Gegenstand kritischer Erörterung in medizinischen Zeitschriften, vgl. beispielsweise Schulte (1975). Öffentlich bekannt wurde Schmid auch durch die eingangs erwähnte Monitor-Sendung von 1969, die seiner Behandlung anhand von Fallbeispielen eine positive Wirkung attestierte. Mitte der 1990er Jahre, als die Popularität der Zelltherapie bei Kindern mit Down-Syndrom bereits nachgelassen hatte (vgl. Anm. 78), wurde Schmids Arbeit in den Medien negativ beurteilt. In zwei Spiegel TV-Reportagen aus den Jahren 1994 und 1995 wurde kritisiert, Schmid hätte ein russisches Institut, das Präparate aus den Zellen von abgetriebenen Föten herstellte, zu zelltherapeutischen Fragen beraten, vgl. Ingrid Schneider: Föten. Der neue medizinische Rohstoff, Frankfurt a.M./New York 1995, 191f. 14 | Vgl. John L.H. Langdon-Down: Observations on an Ethnic Classification of Idiots, in: London Hospital Medical Reports 3 (1866), 259-262. 15 | Vgl. Lilian Serife Zihni: The History of the Relationship between the Concept and Treatment of People with Down’s Syndrome in Britain and America from 1866 to 1967, unpublished thesis, London 1989, 352f. 16 | Vgl. Zihni (1989), 72ff. 17 | Vgl. Christian Bradl: Anfänge der Anstaltsfürsorge für Menschen mit geistiger Behinderung (»Idiotenwesen«): Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens am Beispiel des Rheinlands im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, 487ff. 18 | Für eine Interpretation von Kraepelins Krankheitslehre vgl. Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914), Frankfurt a.M./New York 1999, 161.
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und Symptomatik von ›Schwachsinnsarten‹ sollten genau bestimmt werden, um ›rassenhygienische‹ Maßnahmen, wie Institutionalisierung und Zwangssterilisierung, bis hin zur ›Euthanasie‹ im Nationalsozialismus begründen zu können.19 Der ›Mongolismus‹ wurde meist als schwere geistige Beeinträchtigung im unteren Bereich einer medizinisch festgelegten Skala von ›Schwachsinnszuständen‹ angesiedelt.20 Erst nach 1945, im Zusammenhang mit dem allmählichen Aufschwung der Heilpädagogik und den Bemühungen engagierter Eltern gewannen gegenläufige Ansätze in Deutschland an Legitimität. Der 1958 gegründete Verein Lebenshilfe für das behinderte Kind engagierte sich für den Ausbau von heilpädagogischen Maßnahmen und für die Einrichtung von Sonderschulen und Werkstätten.21 Die Gründung der Lebenshilfe wurde unterstützt durch prominente Vertreter der Kinderpsychiatrie, darunter Werner Villinger und sein Schüler Hermann Stutte. Beide gehörten dem wissenschaftlichen Beirat des Vereins an.22 Für Stutte und Villinger bedeutete diese Mitarbeit vielleicht auch eine Möglichkeit, sich von ihrer belasteten nationalsozialistischen Vergangenheit abzugrenzen und eine progressive Haltung gegenüber der Förderung von Kindern mit DownSyndrom zu demonstrieren.23 Der wissenschaftliche Beirat unterstützte beispielsweise 1958 den Vorschlag der Lebenshilfe, Sonderschulen für Kinder mit geistigen Behinderungen einzurichten, die bis dato als ›unbildbar‹ ausgeschult wurden. Die Sonderschulen legten den Schwerpunkt nicht auf die Unterrichtung von Kulturtechniken wie Lesen und Schrei-
19 | Vgl. Bradl (1991), 487ff. 20 | Vgl. Elisabeth Weber-Jasper: Wilhelm Weygandt (1870-1939): Psychiatrie zwischen erkenntnistheoretischem Idealismus und Rassenhygiene, Husum 1996, 100. 21 | Einen historischen Überblick über die Gründung und Geschichte der Lebenshilfe bietet die Festschrift: Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. (Hg.): 50 Jahre Lebenshilfe. Aufbruch – Entwicklung – Zukunft, Marburg 2008. 22 | Vgl. Stutte (1960), 8. 23 | Werner Villinger (1887-1961) und Hermann Stutte (1909-1982) waren während des Nationalsozialismus als Gutachter an der Durchführung von Zwangssterilisationen beteiligt. Villinger war außerdem als ›Euthanasie‹-Gutachter tätig. Vgl. Wolfgang Jantzen: Eklektisch-empirische Mehrdimensionalität und der »Fall« Stutte – Eine methodologische Studie zur Geschichte der deutschen Kinder und Jugendpsychiatrie, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 44 (1993), H. 7, 454-472, hier 454-455 und Martin Holtkamp: Werner Villinger (1887-1961). Die Kontinuität des Minderwertigkeitsgedankens in der Jugend- und Sozialpsychiatrie, Husum 2002. Villinger war von 1945 bis 1956 Professor für Psychiatrie an der Marburger Universität. Stutte erhielt dort 1956 den ersten Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
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ben, sondern auf die Vermittlung von lebenspraktischen Fähigkeiten.24 Kinder mit Down-Syndrom galten ebenfalls als vorwiegend praktisch bildbar. In den Publikationen der Lebenshilfe nahmen Diskussionen um Behandlungs- und Fördermöglichkeiten bei Down-Syndrom von Anfang an einen großen Raum ein. Vor diesem Hintergrund ist die langjährige Auseinandersetzung des wissenschaftlichen Beirats mit der Zelltherapie bei Kindern mit Down-Syndrom verständlich.
F RISCHZELLEN UND E RE THISMUS : P OSITIONEN DES WISSENSCHAF TLICHEN B EIR ATS DER L EBENSHILFE ZUR Z ELLTHER APIE In den 1960er und 1970er Jahren wandten sich die zelltherapeutisch behandelnden Ärzte Haubold und Wunderlich an den wissenschaftlichen Beirat der Lebenshilfe.25 Es lag nahe, dass diese Ärzte in der Hoffnung auf Unterstützung ihrer schulmedizinisch umstrittenen Methode an die Kollegen im wissenschaftlichen Beirat herantraten, denn mit ihnen verband sie der Anspruch, für die Rechte behinderter Kinder auf medizinische und pädagogische Förderung einzutreten. So warben die Zelltherapeuten für ein multidimensionales Behandlungskonzept, in welchem tierische Zellinjektionen in Verbindung mit einer Basistherapie aus Vitaminen und Hormonen geistige Wachheit hervorrufen und somit den Erfolg pädagogischer Förderung erhöhen sollten.26 Haubold ließ von einer Psychologin eine Studie durchführen, die nachprüfen sollte, ob zelltherapeutisch behandelte Kinder besser auf Förderangebote reagierten.27 In den Veröffentlichungen von Wunderlich und Schmid finden sich eigene Kapitel über die heilpädagogische Förderung, und in der Praxis von Wunderlich
24 | Vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe (2008), 18-19 und Heinz Bach: Geistigbehindertenpädagogik, Berlin-Charlottenburg 1971, 2-3. Für die Unterstützung des Konzepts der praktischen Bildbarkeit durch Ärzte des wissenschaftlichen Beirats vgl. Akten des wissenschaftlichen Beirats: Schreiben von Stutte an den Vorstand, 19.11.1959, Archiv der Lebenshilfe oder die Tonbandaufnahme der Sitzung des wissenschaftlichen Beirats vom März 1961, ebd. 25 | Vgl. z.B. Akten des wissenschaftlichen Beirats, Sitzungsprotokoll vom 30. 11. 1963, Archiv der Lebenshilfe und Antwortbrief von Richard Mittermaier an Christof Wunderlich, 21.7.1963, ebd. 26 | Vgl. Hellmut Haubold/Christof Wunderlich/W. Loew: Grundzüge der therapeutischen Beeinflussbarkeit von entwicklungsgehemmten mongoloiden Kindern im Sinne einer »Nachreifebehandlung«, in: Medizinische Klinik 58 (1963), H. 24, 991-994. Die von Haubold entwickelte Basistherapie wurde sowohl von Wunderlich als auch von Schmid in Verbindung mit der Zelltherapie angewendet. 27 | Vgl. Rosemarie Niemann: Über mögliche Leistungssteigerung bei entwicklungsgehemmten vornehmlich mongoloiden Kindern, München 1957.
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wurden regelmäßig Entwicklungsberichte verfasst und Förderkonzepte für Eltern entworfen.28 Innerhalb des Beirats setzten sich besonders die Kinderpsychiater Villinger, Stutte und Harbauer29 mit der Zelltherapie auseinander. Villinger verstarb 1961, aber Stutte und Harbauer blieben in den 1960er und 1970er Jahren ständige Mitglieder des Beirats.30 Auch der österreichische Kinderneurologe Andreas Rett, selbst nicht ständiges Mitglied des wissenschaftlichen Beirats, nahm gelegentlich an dessen Sitzungen und an wissenschaftlichen Symposien der Lebenshilfe teil.31 Er engagierte sich ebenfalls in der Zelltherapiedebatte.32 Da Retts Argumente auf ähnlichen Prämissen wie die Thesen von Stutte und Harbauer beruhten, sind seine Positionen ebenfalls zu berücksichtigen. Anfänglich zeigten sich die Beiratsmitglieder trotz einiger Vorbehalte offen für eine Auseinandersetzung mit der Zelltherapie. Sie boten Haubold und Wunderlich sogar an, eine entsprechende Doppelblindstudie zu unterstützen.33 Eine solche Kooperation kam jedoch nicht zustande. Bald nämlich überwogen bei den Beiratsmitgliedern die Zweifel. In den 1970er Jahren orientierte der Beirat seine Stellungnahmen für die Vierteljahreshefte der Lebenshilfe dann an 28 | Vgl. Christof Wunderlich: Das mongoloide Kind: Möglichkeiten der Erkennung und Betreuung, Anregungen für Ärzte, Psychologen, Heilpädagogen, Sozialarbeiter, Studenten und für die Eltern mongoloider Kinder, Stuttgart 1970, 128f. und Schmid (1976), 145f. 29 | Hubert Harbauer (1919-1980) war ab 1967 Inhaber des Lehrstuhls und Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Frankfurter Universität, vgl. G. Nissen: Hubert Harbauer, Werk und Mensch, in: Ders./A. Focken (Hg.): Kinder- und Jugendpsychiatrie – Entwicklung und Perspektiven. Symposion zum Gedenken von Prof. Dr. H. Harbauer am 12. und 13.2.1982 in Frankfurt a.M., Köln 1982, 14f. 30 | Vgl. Akten des wissenschaftlichen Beirats: Übersicht über die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats zwischen 1959 und 1980, [nicht datiert], Archiv der Lebenshilfe. 31 | Andreas Rett (1924-1997), bekannt für die Erstbeschreibung des nach ihm benannten Rett-Syndroms, war seit Mitte der 1950er Jahre als Chefarzt in Wiener Krankenhäusern tätig. Für eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Arbeit und dem Umgang mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit und der seiner Kollegen vgl. Gabriel M. Ronen/Brandon Meaney/Bernard Dan/Fritz Zimprich/Walter Stogmann/Wolfgang Neugebauer: From Eugenic Euthanasia to Habilitation of ›Disabled‹ Children: Andreas Rett’s Contribution, in: Journal of Child Neurology 24 (2009), H. 1, 115-127. 32 | Vgl. beispielsweise Akten des wissenschaftlichen Beirats, Sitzungsprotokoll vom 5./6.10.1973, Archiv der Lebenshilfe. 33 | Diese Studie sollte von Stutte mit vorbereitet werden. Vgl. Mittermaier (1969), 180-182 und Akten des wissenschaftlichen Beirats, Sitzungsprotokoll vom 30.11.1963, Archiv der Lebenshilfe sowie Brief von Richard Mittermaier an Christof Wunderlich, 21.7. 1963, ebd.
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Gutachten der Bundesärztekammer, in denen die Zelltherapie als wissenschaftlich ungesicherte Methode kritisiert wurde.34 In Sitzungsprotokollen und anderen Veröffentlichungen erwähnten Stutte, Harbauer und Rett zusätzlich bestimmte Nebenwirkungen. Sie kritisierten insbesondere, dass die Zelltherapie schwer zu kontrollierende Verhaltensauffälligkeiten hervorrufe. Dieser Punkt lässt sich im Kontext kinderpsychiatrischer Behandlungskonzepte verstehen. Stutte, Harbauer und Rett gingen von einem therapeutischen Ansatz aus, der in Abgrenzung zu einer einseitig biologistischen Perspektive auch Umweltfaktoren berücksichtigte und daher offen für die pädagogische Förderung der Kinder war.35 Allerdings verwies Stutte immer wieder auf die notwendige psychiatrische Koordination der Fördermaßnahmen: Heilpädagogik sei »angewandte Kinderpsychiatrie«.36 Das Urteil, ob in bestimmten Fällen Anlage- oder Umweltfaktoren überwogen und ob pädagogische Maßnahmen überhaupt greifen konnten, lag demnach beim behandelnden psychiatrischen Facharzt.37 Dadurch wurde eine syndrominhärente genetisch bedingte Entwicklungsgrenze, oft auch »Entwicklungsplafond« genannt, festgelegt.38 Die Fachärzte nahmen an, dass die Intelligenzentwicklung bei Menschen mit Down-Syndrom irgendwann im Laufe der Kindheit oder Jugend stagnierte. Wenn dieser ›Plafond‹ erreicht sei, könnten pädagogische Fördermaßnahmen keine weitere geistige Entwicklung mehr bewirken; bereits mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter müsse mit dem Sinken des Intelligenzquotienten gerechnet werden. Nach Harbauer wurde aus einem 34 | Vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Zelltherapie bei Down-Syndrom nicht zu empfehlen, in: Vierteljahresschrift für die Probleme geistig Behinderter in Familie und Gesellschaft 15 (1976), H. 2, 82. 35 | Vgl. Hermann Stutte: Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik, in: Arbeitsgemeinschaft »Heilpädagogik« im Evangelischen Reichs-Erziehungs-Verband in Verbund mit dem Deutschen Verband der Evangelischen Heilerziehung-, Heilund Pflegeanstalten (Hg.): Die Selbstdarstellung heilpädagogischen Handelns, Münster 1959, 25-41, hier 28f. und Andreas Rett: Der Mongolismus: biologische, erzieherische und soziale Aspekte, Stuttgart/Wien 1977, 103 und 85. Rett war beispielsweise offen für Maßnahmen, die über rein lebenspraktische Aufgaben hinaus das »naive Vorschullesen« zur Förderung des Spracherwerbs einbezogen, ebd., 113f. Harbauer berücksichtigte Umwelteinflüsse in seiner Unterscheidung zwischen den Entwicklungsmöglichkeiten von in Heimen und in Familien lebenden Kindern, vgl. Hubert Harbauer: Geistig Behinderte. Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Ärzte, Stuttgart 1976, 57f. 36 | Vgl. Stutte (1959), 26. 37 | Zur Kritik an Stuttes mehrdimensionalem Ansatz vgl. Jantzen (1993), der überzeugend das Fortleben biologistischer Prämissen herausarbeitet. 38 | Vgl. beispielsweise Rett (1977), 74 und 86. Zur Kritik des Entwicklungsplafonds vgl. Patricia Oelwein-Logan: Kinder mit Down-Syndrom lernen lesen. Ein Praxisbuch für Eltern und Lehrer, [o.O.] 2003, 29f.
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jungen Erwachsenen mit Down-Syndrom daher bereits mit ca. zwanzig Jahren ein »verfrühter Greis«.39 Die geistige Entwicklung und pädagogische Förderung sei außerdem gefährdet durch Down-Syndrom spezifische Verhaltensauffälligkeiten, wie ein »ausgeprägtes Instinktverhalten« oder die Unfähigkeit, mit der eigenen Sexualität umzugehen.40 Rett betonte eine anlagebedingte Prädisposition zum ›Erethismus‹, eine ziellose, motorische Unruhe, die in der Kinderpsychiatrie auch anderen Formen von geistigen Behinderungen zugeschrieben wurde.41 Das Konzept des ›Erethismus‹, in dem soziale Faktoren kaum berücksichtigt wurden, verwies auf die Behandlungs- und Deutungshoheit des psychiatrischen oder neurologischen Facharztes. Dessen Aufgabe war es, solche ›Verhaltensauffälligkeiten‹ zu diagnostizieren und sie anschließend einer Behandlung zu unterziehen, damit Kinder mit Down-Syndrom für ihre Umwelt ›erträglich‹ wurden.42 Weder Rett noch seine Kollegen aus der Kinderpsychiatrie schreckten vor der Verabreichung von Medikamenten mit schwer einschätzbaren Nebenwirkungen zurück. Sie empfahlen zur Bekämpfung des ›Erethismus‹ dämpfende Psychopharmaka.43 Auch das ›sozial unverträgliche‹ Sexualleben von Jugendlichen mit Down-Syndrom sollte auf diese Weise unterdrückt werden.44 Nach Rett war der Erfolg medikamentöser Therapien jedoch begrenzt, da die anlagebedingten Verhaltensauffälligkeiten nur gemildert, aber nicht behoben werden könnten. Rett äußerte sich daher skeptisch zu Integrationsbemühungen.45 Dagegen verknüpften die Zelltherapeuten mit ihren Medikamenten weitaus optimistischere Prognosen. Schmid beispielsweise argumentierte für die vollständige soziale Integration von Menschen mit Down-Syndrom, die nach der Behandlung sogar Berufe in der freien Wirtschaft ausüben könnten.46 Haubold ging davon aus, dass Frischzellen bei einem Drittel seiner Patientinnen und Patienten eine Steigerung des Intelligenzquotienten bewirkten.47 Wunderlich sah in Menschen mit DownSyndrom eine besondere »Art von ›Mensch-sein‹, die ihren eigenen Ge-
39 | Harbauer (1976), 62. 40 | Vgl. Rett (1977), 72 und 90f. 41 | Vgl. ebd., 142. Vgl. auch Werner Villinger/W. Munkwitz: Ausgewählte Kapitel aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in: Das Medizinische Prisma (1962), H. 4, 1-26, hier 16 und Harbauer (1976), 66, sowie F.G. Crookshank: The Mongol in Our Midst. A Study of Man and his three Faces, New York 1924, 53. 42 | Vgl. Rett (1977), 14f. und Harbauer (1976), 67. 43 | Vgl. Harbauer (1976), 66-67; Rett (1977), 139f. oder Hermann Stutte: Das geistig behinderte Kind im modernen Wohlfahrtsstaat, in: Unsere Jugend 12 (1960), H. 10, 434-439, hier 438. 44 | Vgl. Rett (1977), 93. 45 | Vgl. ebd., 113, 126. 46 | Vgl. Monitor (1969). 47 | Vgl. das Vorwort von Haubold in: Niemann (1957), 3.
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staltgesetzen gehorcht«.48 Deren Entfaltung könne durch die Zelltherapie unterstützt werden: Dazu gehöre auch die Beschulung nach dem Lehrplan der Schulen für Kinder mit Lernbeeinträchtigungen.49 Mit solchen Thesen stellten die Zelltherapeuten den fachärztlichen Deutungs- und Behandlungsanspruch ihrer Kollegen im wissenschaftlichen Beirat der Lebenshilfe in Frage. Für Ärzte wie Rett oder Harbauer waren die Medikamentengaben beim Down-Syndrom durch eine genetisch vorgegebene, syndrominhärente Entwicklungsgrenze begründet, die durch diese Medikamente gleichzeitig immer wieder neu festgeschrieben wurde. Der Autoritätsanspruch der Frischzellentherapeuten gründete dagegen auf einer medikamentösen Therapie. In einigen Fällen wäre dies einer ›Neuetikettierung‹ der Menschen mit Down-Syndrom als ›lernbehindert‹ oder ›normal‹ gleich gekommen. Dies aber hätte die festen Grenzen verwischt, auf die sich die kinderpsychiatrische Diagnose stützte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich vielleicht, warum Stutte und seine Kollegen die unerwünschten Nebenwirkungen der Zelltherapie in der Förderung eines sexuell pathologischen ›Erethismus‹ sahen: jenem syndromspezifischen Verhalten, das Entwicklungsgrenzen sozusagen belegte und mit Psychopharmaka gedämpft werden musste. So wies Stutte in den Sitzungen des wissenschaftlichen Beirats wiederholt auf die ›Gefahr‹ der sexuellen Erregung durch die Frischzellentherapie hin.50 Harbauer argumentierte, dass die Zelltherapie eine vorzeitig eintretende Pubertät zur Folge haben könne, die sogenannte pubertas praecox, die ein in der Kinderpsychiatrie fest umgrenztes Krankheitsbild darstellte.51 Rett betonte die Gefahr »deutlicher Virilisierungserscheinungen«.52 Als Folge dieser »triebhaften – erethischen – Unruhe« sei48 | Wunderlich (1970), 50. Wunderlichs Argumente waren von den Thesen des anthroposophisch orientierten Kinderarztes Karl König (1902-1966) beeinflusst, für den Menschen mit Down-Syndrom eine »unvollkommene Form des Menschseins« darstellten. Nach König konnte jedoch eine umfassende pädagogische Förderung, die auch die Kulturtechniken mit einschließen sollte, Menschen mit Down-Syndrom, die seiner Ansicht nach »zunächst im Seelendunkel« lebten, helfen, vgl. Karl König: Der Mongolismus. Erscheinungsbild und Herkunft, 4. Auflage Stuttgart 1980 (1. Auflage Stuttgart 1959), 240 und 267. 49 | Vgl. Wunderlich (1970), 139-147. 50 | Vgl. z.B. Sitzung des wissenschaftlichen Beirats vom 4.3.1963, Archiv der Lebenshilfe. 51 | Vgl. Harbauers Stellungnahme zur Zelltherapie im Interview mit einem Redakteur des WDR 1969, Mittermaier (1969), 179 oder Sitzung des wissenschaftlichen Beirats vom 30./31.1976, Archiv der Lebenshilfe. Für eine Darstellung des Konzepts der sogenannten Pubertas praecox vgl. Rolf Castell/Jan Nedoschill/ Madeleine Rupps: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland 1937-1961, Göttingen 2003, 309. 52 | Andreas Rett: Schlusswort zur vorstehenden Bemerkung von H. Mommsen, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 112 (1962), H. 21, 419-421, hier 419. Vgl.
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en die Kinder unfähig, sich positiv zu entwickeln. Er beklagte, dass die Zelltherapie künstlich erzeuge, »was wir zurückzuhalten bemüht sind«.53 ›Reifungsbiologische Dissonanzen‹ wie eine frühzeitige ›Sexualisierung‹ waren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie anerkannte Marker einer als abnormal eingestuften Entwicklung.54 So ließ sich als Gefährdung deuten, was von den Zelltherapeuten als geistige Wachheit postuliert wurde. Die Nebenwirkungen wurden so konstruiert, dass sich die von den Frischzellenärzten herausgeforderten Entwicklungsgrenzen erneut zu festigen schienen. Die behandelten Kinder wurden wieder in ein eindeutig psychiatrisch definiertes Behinderungsmodell gerückt. Trotz der unterschiedlichen Beurteilung der Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern mit Down-Syndrom gab es natürlich Übereinstimmungen zwischen beiden Lagern. Beide Seiten argumentierten im Rahmen eines defektorientierten medizinischen Modells und waren bereit, heilpädagogische Bemühungen einem medikamentösen Behandlungsplan unterzuordnen. Die Öffnung von Entwicklungsgrenzen wurde auch in den Thesen der Frischzellenärzte immer wieder durch biologistisch-deterministische Denkfiguren unterwandert. Unter anderem geschah dies durch einen postulierten Zusammenhang von körperlicher und geistiger Entwicklung in den therapeutischen Konzepten des Kinderarztes Franz Schmid. Diese Sichtweise soll im Folgenden diskutiert werden.
K ONSTRUK TIONEN VON › MONGOLOIDEN K ÖRPERN ‹ IN MEDIZINISCHEN D ISKURSEN Die schulmedizinische Kritik an der Zelltherapie ging im Laufe der 1970er Jahre weit über den wissenschaftlichen Beirat der Lebenshilfe hinaus. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde ließ 1975 auf Anfrage des Bundesgesundheitsministeriums ärztliche Gutachten erstellen, die sich besonders mit Schmids Therapiekonzept auseinandersetzten. Fachärzte bezweifelten darin dessen Thesen über die Wirksamkeit von tierischen Zellimplantationen und kritisierten das Fehlen von Doppelblindversuchen.55 Ungeachtet dieser Vorbehalte ließen zahlreiche Eltern weiterhin ihre Kinder zelltherapeutisch behandeln. 1977 reichte eine Elterninitiatiauch Akten des wissenschaftlichen Beirats, Sitzungsprotokoll vom 5. 6. 1973, Archiv der Lebenshilfe. 53 | Rett (1962), 49. 54 | Vgl. beispielsweise Stutte (1959), 34f. oder Hubert Harbauer: Allgemeine Entwicklungsbiologie und Reifungspathologie, Konstitutions- und Vererbungslehre, in: Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete, Bd. 3, Stuttgart 1961, 221-241. 55 | Vgl. Ilka Hönig-Gerhold: Zur Zelltherapie in der Kinderheilkunde. Eine kritische Analyse kontroverser Argumente in der medizinischen Literatur und in der Laienpresse, Marburg 1981, 36f.
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ve zur Förderung der Zelltherapie eine Petition im deutschen Bundestag ein. Ihr Ziel war es, die Übernahme der Behandlungskosten durch die Krankenkassen nicht nur in seltenen Einzelfällen, sondern generell zu erreichen.56 Als geladener Sachverständiger unterstützte Schmid die Anliegen der Eltern im Petitionsausschuss. Sein Versprechen, nicht nur eine geistige, sondern auch eine körperliche ›Normalisierung‹ zu bewirken, trug sicher zur Popularität seiner Behandlungsmethode bei.57 Schmid zufolge wuchs durch die Zelltherapie das Gehirnvolumen, sodass sich Schädelform und Gesichtsausdruck positiv veränderten.58 Mit ›Vorher‹und ›Nachher‹-Fotografien dokumentierte Schmid die ›Verschönerung‹ der Kinder. Den unbehandelten Kindern und Jugendlichen schrieb er dagegen eine »entstellende Physiognomie« zu; ihre Gesichter seien gekennzeichnet durch »mimische Ausdruckslosigkeit«.59 Je früher die Behandlung einsetze, desto tiefgreifender sei ihre Wirkung, argumentierte Schmid. Wenn schon im Säuglingsalter mit der Therapie begonnen werde, sei die Änderung so umfassend, dass der als »unästhetisch empfundene Gesamteindruck weitgehend« verschwinde.60 Dieser ›unästhetische‹ Eindruck wurde hauptsächlich mit Bildern von Auffälligkeiten im Mundbereich demonstriert, die seit Downs Erstbeschreibung zu den für Menschen mit Down-Syndrom typischen Körperzeichen, in der medizinischen Fachsprache auch ›mongoloide Stigmata‹ genannt, gezählt wurden.61 Die Kinder wurden mit offenem Mund und hervorstehender Zunge fotografiert oder mit geschlossenem Mund, dessen Winkel deutlich nach unten zeigten.62 Die ›Nachher‹-Fotos stellten die Kinder dagegen mit geschlossenen Lippen oder lachend dar. Aus der Sicht von Schmid zeigten diese 56 | Vgl. Stenografisches Protokoll der 25. Sitzung des Petitionsausschusses, 7.12.1977, Parlamentsarchiv Prot. Nr. 8/25. Die vom Bundesgesundheitsamt im Anschluss gebildete Kommission zweifelte zwar die Wirksamkeit der Therapie an und verwies auf das Fehlen von Doppelblindversuchen, überließ aber die Entscheidung den Kassen, sodass die Behandlung immer wieder von einigen Sozialämtern und Krankenkassen bezahlt und somit auch legitimiert wurde. Vgl. Georges Fülgraff/Klaus Jürgen Henning: Zur Frage der Wirksamkeit der Zelltherapie bei Mongolismus. Abschlußbericht der Kommission »Zelltherapie bei Mongolismus« beim Bundesgesundheitsamt, Berlin 1979, 7. 57 | Auch Haubold bescheinigte seiner Basis- und Zelltherapie, dass diese bei Behandlungsbeginn im frühen Kindesalter eine phänotypische Veränderung nach sich ziehen würde. Besonders die »mongoloiden Symptome in der Kopfform« seien zu »bessern.« Er attestierte seinen Patientinnen und Patienten eine zunehmende »Menschwerdung ihrer Körperformen«. Vgl. Haubold/Loew/HaefeleNiemann (1960), 381. 58 | Vgl. Schmid (1976), 141 und 239f. 59 | Ebd., 5, 17. 60 | Ebd., 240. 61 | Vgl. Zhini (1989), 38f. 62 | Vgl. Schmid (1976), 5, 17, 18, 20, 241-244.
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Fotos »kontrollierte, bewusste Gesichtszüge«.63 Seine Behandlungsprognosen beruhten auf einer Einteilung von Kindern mit Down-Syndrom in unterschiedliche ›Mongolismustypen‹. So bestimmte er beispielsweise einen »Pigmenttyp«, auch »Traviata-Typ« genannt, mit großen dunklen Augen oder einen Typ mit »semmelblonden Haaren«. Jedem dieser Typen ordnete Schmid eigene Gemüts- und Verhaltensweisen und daher unterschiedliche Aussichten auf phänotypische und damit auch geistige Veränderungen zu.64 Obwohl die meisten Ärzte Schmids Thesen über die möglichen körperlichen Veränderungen durch die Zelltherapie ablehnten, stellten seine Prämissen keinen grundlegenden Bruch mit traditionellen schulmedizinischen Theorien dar. Die Konstruktion von ›mongoloiden Körpern‹, in die voraussagbare Persönlichkeitsmerkmale sozusagen eingeschrieben waren, war ein fester Bestandteil dieser Theorien. Von Anfang an war der Diskurs über das Down-Syndrom ein Körperdiskurs, in dem die Katalogisierung und Interpretation der ›mongoloiden Stigmata‹, die als Degenerationserscheinungen gewertet wurden, eine große Rolle spielten.65 Die Katalogisierung ›degenerativer‹ Körperzeichen hatte einen diagnostischen, aber auch einen eugenischen Hintergrund. Immer wieder wurde versucht, das Down-Syndrom als Erbkrankheit zu deuten. In zahlreichen Studien, wurden Familien auf ›mongoloide Stigmata‹ untersucht. Dazu gehörten beispielsweise Auffälligkeiten der Ohren, Hand- und Fußlinien oder der Augen.66 Die ›Stigmata‹ konstituierten nicht nur den Körper eines ›mongoloiden‹ Menschen, sondern sie waren auch bedrohliche Marker – Hinweise auf eine ›Abnormalität‹, die jederzeit und überall auftreten konnte. Während so Mediziner einerseits ein fest umrissenes Krankheitsbild des ›Mongolismus‹ konstruierten, wurde andererseits ›mongoloiden‹ Körperzeichen eine Art kontaminierender ›spill-over‹-Effekt auf Menschen ohne Down-Syndrom zugeschrieben, der auch die Persönlichkeit betreffen konnte. In der Literatur finden sich häufig Hinweise auf charakterliche oder geistige Auffälligkeiten bei Menschen mit solchen Körperzeichen.67 Die Suche nach ›mongoloiden‹ Stigmata bei Familienmitgliedern setzte sich auch nach Lejeunes genetischer Entdeckung im Jahre 1959 fort. Zwar ist die freie Trisomie, die bei der Mehrzahl der Menschen mit Down-Syndrom vorliegt, nicht erblich, aber 1960 wurde die seltenere, erbliche Trans63 | Vgl. ebd., 5, 28f., 241-249. 64 | Vgl. ebd., 36-37. 65 | Die Interpretation des ›mongoloiden Körpers‹ war dabei oft von rassistischen Vergleichen charakterisiert: Die Körper wurden verglichen mit den als minderwertig konstruierten Körpern von Asiaten und mit den Körpern verschiedener Tierarten, z.B. von Orang-Utans. Vgl. hierzu Zhini (1989), besonders 72-141 und 251-276. 66 | Vgl. z.B. Verena Schneider: Über 100 Fälle von Mongolismus und ihre Sippen im Kanton Zürich, Zürich 1949. 67 | Vgl. ebd., 25f.
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lokationstrisomie entdeckt.68 Im Anschluss versuchten Ende der 1960er Jahre Humangenetiker im Auftrag des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie auch eine erbliche Form der noch selteneren Mosaiktrisomie nachzuweisen, indem sie Hautleistenbefunde von Kindern mit Down-Syndrom und ihren Familien verglichen.69 Die Entdeckung von drei verschiedenen Typen von Trisomie 21 hatte insgesamt einen verschärften diagnostischen Blick auf Kinder mit Down-Syndrom zur Folge. In psychometrischen Messungen forschten Psychologen nach Entsprechungen zwischen Körperzeichen, Trisomie 21-Typen und Intelligenzquotienten.70 Die Verbindung zwischen geistiger Entwicklung und körperlicher Ausprägung, die vom medizinischen Diskurs konstruiert wurde, dominierte auch die damalige öffentliche Wahrnehmung. Die Medien, die positiv über die Zelltherapie berichteten, betonten besonders die angebliche äußerliche Normalisierung der Patienten. In der eingangs erwähnten Monitor-Sendung des WDR aus dem Jahre 1969 wurden nicht behandelte Jugendliche, die mit monotonen Tätigkeiten beschäftigt waren, mit offenem Mund und hervorstehender Zunge gezeigt neben behandelten Kindern, die mit geschlossenem Mund oder lachend altersgerecht spielten. Eine Mutter betonte im Interview die ›Verschönerung‹ ihres Sohnes. Während er vor der Behandlung »entsetzlich« ausgesehen hätte, sei die »eckige Kopfform« weitgehend verschwunden, an der jeder sofort erkannt habe, dass das Kind »schwachsinnig« sei. Gleichzeitig sei das Kind geistig wacher geworden.71 Schulmedizinisch arbeitende Ärzte sahen ebenfalls Entsprechungen zwischen äußerlichen Veränderungen und Entwicklungschancen. Chirurgen rieten zu Zungenverkleinerungen und zu Korrekturen von Kinn, Nase, Augen oder Wangen und begründeten diese Eingriffe auch mit einer Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit.72 Ein Vater berichtete kritisch von einem Klinikschreiben, das für Zungenoperationen mit der Begründung warb, durch eine Verbesserung des Mundschlusses werde 68 | Vgl. C. Carter/J. Hamerton/P. Polani/A. Gunalp/S. Weller: Chromosome translocation as a cause of familial mongolism, in: Lancet 276 (1960), H. 7152, 678-80. 69 | Vgl. Akten des wissenschaftlichen Beirats, K.D. Zang et al.: Genetische Untersuchungen an Familien mongoloider Kinder. Eine Felduntersuchung, Tätigkeitsbericht für das Jahr 1972, Max-Planck-Institut für Psychiatrie München, Archiv der Lebenshilfe. 70 | Für eine Zusammenfassung dieser Untersuchungen vgl. Werner Dittmann: Intelligenz beim Down-Syndrom. Forschungsstand zur Problematik der Intelligenz-Leistungen beim Down-Syndrom, Heidelberg 1982, 198f. 71 | Monitor (1969). 72 | Vgl. Gottfried Lemperle: Plastisch-chirurgische Korrekturen im Gesicht von Kindern mit Down-Syndrom, in: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Plastische Chirurgie bei Menschen mit Down-Syndrom, Marburg/ Lahn 1983, 19-32.
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die Sauerstoffversorgung des Gehirns angeregt und somit die Lernfähigkeit gesteigert. Das Schreiben wies zusätzlich auf die sozialen ›Erfolge‹ der Operationen hin, da Familien ihre Kinder nicht mehr zu verstecken bräuchten.73 Eltern operierter Kinder betonten gleichfalls, dass sich die Akzeptanz durch die Umwelt erhöht habe.74 Auch der Kinderpsychiater Harbauer argumentierte, »kosmetische Verbesserungen« könnten die »soziale Prognose günstiger« gestalten.75 Die Befürworter der Zelltherapie teilten diese Ansichten. In der Monitor-Sendung spielten die einleitenden Worte des Redakteurs auf Integrationsprobleme von unbehandelten Kindern an: »Man sieht nicht gern hin, in ihrer Gesellschaft fühlt man sich unbehaglich, ihre Gesichter, ihre Hilflosigkeit, die gestammelten Laute.«76 Die von vielen Eltern aufgrund der äußerlichen Besonderheiten ihrer Kinder erlebte gesellschaftliche Diskriminierung wurde sowohl von den Gegnern als auch von den Befürwortern der Zelltherapie, wenn auch indirekt, immer wieder legitimiert. In Experten- und Populärdiskursen wurde ein Behinderungsmodell konstruiert, das die Persönlichkeitsentwicklung von einer äußerlichen Anpassung an gesellschaftliche Konventionen abhängig machte.
S CHLUSSBE TR ACHTUNGEN Trotz der Kontroversen zwischen Zelltherapeuten und konventionell behandelnden Ärzten lassen sich Parallelen in den Behandlungskonzepten aufzeigen. Zwar wurden Entwicklungsgrenzen unterschiedlich, entweder niedrig oder hoch angesetzt, doch in beiden Behandlungskonzepten finden sich biologistisch-deterministische Denkfiguren. So wurden pädagogische Erfolge mit der Behandlung durch Medikamente verbunden. Zudem wurde die gesellschaftliche Eingliederung von Kindern mit DownSyndrom an eine körperliche Normierung geknüpft. Die Popularität der Zelltherapie bei Kindern mit Down-Syndrom lässt sich vor dem Hintergrund des von der Historikerin Ulrike Lindner konstatierten therapeutischen Optimismus der Nachkriegszeit besser verstehen.77 Dass die Behandlungsmethode Ende der 1980er Jahre aus der Mode kam, 73 | Vgl. Konrad L. Heilmann: Sollen wir unser Kind operieren lassen? – Kritische Anmerkungen eines Vaters, in: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Plastische Chirurgie bei Menschen mit Down-Syndrom, Marburg/ Lahn 1983, 93-96, hier 94. 74 | Vgl. J. Regenbrecht: Dokumentation der Ergebnisse einer Elternbefragung, in: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Plastische Chirurgie bei Menschen mit Down-Syndrom, Marburg/Lahn 1983, 138-162, hier 139f. 75 | Vgl. Harbauer (1976), 16. 76 | Monitor (1969). 77 | Ulrike Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004, 11.
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hing mit der zunehmend restriktiven Haltung des Bundesgesundheitsministeriums gegenüber der Zelltherapie,78 aber auch mit der allmählichen Trennung von medizinischer und pädagogischer Behandlung zusammen. Zudem etablierte sich im Umgang mit Behinderung in den letzten Jahrzehnten, so Anne Waldschmidt, zunehmend das Prinzip einer »flexiblen Normalisierung«, das auf feste Grenzziehungen zwischen Krankheit und Gesundheit verzichtet und von einem Spektrum möglicher Normalitätserscheinungen ausgeht. Allerdings koexistiere diese Perspektive mit einem defektorientierten Blickwinkel, der nach wie vor in vielen Kontexten vorherrsche.79 Doch Behinderungsdiskurse sind nach Waldschmidt nicht immer eindeutig der einen oder anderen Sichtweise zuzuordnen.80 Wie in einem Palimpsest tauchen im gegenwärtigen Diskurs über das Down-Syndrom biologistische Denkfiguren wieder auf und können in bestimmten Kontexten Bemühungen um vorurteilslose Akzeptanz dominieren. Eltern berichten beispielsweise von Ärzten, die bei Vermittlung der Diagnose explizit und wiederholt eine Verbindung von geistiger und körperlicher Entwicklung herstellen; offenbar sollen die Hinweise auf eine ›milde‹ körperliche Ausprägung Hoffnungen auf günstige Entwicklungsprognosen wecken. Dies wird von Angehörigen und dem sozialen Umfeld oft internalisiert und trägt so im Alltag zum Fortbestand alter Stereotype bei.81 Die Auseinandersetzung mit solchen Bewertungsparametern, die bereits die Zelltherapiedebatte prägten, gewinnt im Licht aktueller Forschung zur biochemischen Beeinflussung der Gehirne von Menschen mit Down-Syndrom an Aktualität. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist offen, wie das Spannungsverhältnis zwischen medizinischen ›Normalisierungsbemühungen‹ und dem gleichzeitig postulierten Engagement für die soziale Akzeptanz von Menschen mit Down-Syndrom diesen Expertendiskurs und seine gesellschaftliche Wahrnehmung prägen wird.82 78 | 1987 wurde der Vertrieb von Trockenzellpräparaten wegen der Gefahr allergischer Reaktionen verboten; 1997 sogar die Zelltherapie insgesamt. Nach einer Verfassungsklage dürfen Ärzte mittlerweile Frischzellenpräparate in eigener Herstellung wieder verwenden, vgl. Schneider (1995), 192 und BVerfG, 1 BvR 420/97 vom 16.2.2000, Absatz-Nr. (1-57), www.bverfg.de/entscheidungen/ rs20000216_1bvr042097.html (6.5.2010). 79 | Vgl. Anne Waldschmidt: Behindertenpolitik im Spannungsverhältnis zwischen Normierung und Normalisierung, in: Sigrid Graumann/Katrin Grüber (Hg.): Anerkennung, Ethik und Behinderung. Beiträge aus dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, Münster 2005, 175-194, hier 177f. 80 | Ebd., 181f. 81 | Mitglieder einer Selbsthilfegruppe erzählten mir von Erfahrungen mit Ärzten und Umweltreaktionen in Interviews und Gesprächen, die ich seit 2008 zum Thema ›Vermittlung der Diagnose Down-Syndrom‹ führe. 82 | Vgl. Roger H. Reeves/Craig C. Garner: A Year of Unprecedented Progress in Down Syndrome Basic Research, in: Mental Retardation and Developmental Disabilities Research Reviews 13 (2007), H. 3, 215-220.
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Die Disability History hat zum Ziel, auf die historische Kontingenz solcher Behinderungskonstruktionen hinzuweisen.83 Am Beispiel der Zelltherapiekontroverse zeigt sich, dass die Grenzen und Möglichkeiten der Förderung von Kindern mit Down-Syndrom stets von einem bestimmten medizinischen oder gesellschaftlichen Vorverständnis her definiert werden. Die Sensibilisierung für die Historizität, die Wurzeln und die Variabilität solcher Definitionen kann zur Freisetzung zukunftsoffener Entwicklungsmodelle beitragen, die auf körperliche und geistige Normierungen und Grenzziehungen verzichten.
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83 | Vgl. C.F. Goodey: What is Developmental Disability? The Origin and Nature of Our Conceptual Models, in: Journal on Developmental Disabilities 8 (2001), H. 2, 1-18, hier 2f. und 14f.
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»Sei doch dich selbst« Krankenakten als historische Quellen von Subjektivität im Kontext der Disability History Petra Fuchs
Fast könnte ein Imperativ der Patientin Marta Kalchreuter (1900-?) als forschungsleitendes Prinzip für die sich entfaltende Historiografie von ›Behinderung‹ gelesen werden. Sei doch dich selbst, so betitelte die aus Esslingen stammende Künstlerin ihr Notizbuch, das sie ab 1919 während ihres gut zweieinhalbjährigen Aufenthalts in der Tübinger Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten führte.1 Diese und andere bislang für die Medizingeschichte genutzte Quellen eröffnen der sich konstituierenden Disability History ein bislang kaum genutztes und reiches Betätigungsfeld, das es unter der Prämisse des »Sei doch dich selbst« auszuloten und produktiv zu machen gilt. Der vorliegende Beitrag möchte die Aufmerksamkeit für ein Forschungsfeld im Kontext der Sozialgeschichte der Medizin wecken, das unter der Perspektive ›Behinderung‹ noch kaum erschlossen ist, und dies, obwohl Menschen mit ›Behinderungen‹ in diesem Feld entscheidende Bedeutung zukommt. In meinem Beitrag diskutiere ich die Analyse der Quellengattung Krankenakte im Rahmen des emanzipatorischen Forschungsansatzes der Disability History. Neben medizinischen Fallsammlungen und publizierten Fallgeschichten sind Krankenakten oder -blätter von grundlegender Bedeutung für eine ›patient oriented history‹. Als Begründer dieses theoretischen Ansatzes, der sich in den vergangenen zwanzig Jahren zum integralen Bestandteil der Sozialgeschichte der Medizin entwickelt hat,2 gilt der britische Historiker Roy Porter (19462002). In einem 1985 erschienenen programmatischen Aufsatz hat er 1 | Vgl. Petra Fuchs: Kurzbiografie der Freifrau Marta Kalchreuter, geb. John, in: Bettina Brand-Claussen/Viola Michely (Hg.): Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Heidelberg 2004, 257. 2 | Vgl. Wolfgang Uwe Eckart/Robert Jütte: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2007, 183.
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eine »medical history from below«, eine Medizingeschichte von unten, gefordert.3 Mit dem Anspruch auf Berücksichtigung des »patient’s view« etablierte er in der medizinhistorischen Forschung eine neue richtungweisende Perspektive, die über Großbritannien hinaus auch in Deutschland Wirkung entfaltete.4 Den im deutschsprachigen Raum etablierten Begriff ›Patientengeschichte‹ verwendet Porter jedoch nicht, da die Bezeichnung ›Patient‹, aus dem Lateinischen im Sinne von ›leidend‹ übersetzt, seiner Auffassung nach dem Kranken eine eher passive Rolle zuschreibt. Schon in diesem Zusammenhang deutet sich ein Forschungsdesiderat in der medizinischen Historiografie an, denn durch die unausgesprochene Subsumierung ›behinderter‹ Patienten und Patientinnen unter die erkrankten und einer Institution zugewiesenen Individuen – erst in diesem Kontext entstehen Krankenakten – werden Menschen mit ›Behinderungen‹ als Subjekte bzw. soziale Gruppe nicht eigens berücksichtigt. Zwar bilden sie die klassische (Teil-)Klientel der Orthopädie und der Psychiatrie im 20. Jahrhundert, bislang gibt es jedoch keine medizinhistorische Untersuchung, die explizit danach fragt, ob und wenn ja, in welcher Form sich Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer mit ›Behinderungen‹ unter dieser Klientel befinden. Vor diesem Hintergrund gehe ich der Frage nach, in welcher Weise Patientengeschichte im Sinne einer Medizingeschichte ›von unten‹ auch für die Historiografie von ›Behinderung‹ fruchtbar gemacht werden kann. Mit Bezug auf Beispiele aus der eigenen Forschungspraxis möchte ich zeigen, wie sich die Analysekategorie ›Behinderung‹ auf die Quellengattung Krankenakten anwenden lässt und welche neuen Sichtweisen und Fragestellungen sich aus diesem Vorgehen ergeben. Ich beziehe mich dabei auf Krankenaktenbestände unterschiedlicher Provenienz. Vorwiegend stammen sie aus der Psychiatrie, ein kleineres Kontingent umfasst orthopädische Krankenakten. Mit dem Blick auf die Sonderpädagogik berücksichtige ich ergänzend eine Disziplin, die in historisch engem Zusammenhang zur Medizin steht und im vorliegenden Fall die Kooperation mit der Orthopädie gesucht hat, ein Umstand, der sich auch in den Dokumenten der überlieferten Krankenaktenbestände abbildet. An die historische Quelle Krankenakte angelehnt bzw. über sie hinausgehend ziehe ich einen weiteren Bestand personenbezogener Akten heran, der im juristischen Zusammenhang entstanden ist. Obwohl die Häftlingsakten zu jenen Quellengruppen gehören, deren Informationswert sich für eine Analyse unter der sozial verstandenen Kategorie ›Behinderung‹ auf den ersten Blick nicht erschließt, verdienen sie es, wahrgenommen und in die Untersuchung über den geschichtlichen Wandel von ›Behinderung‹ einbezogen zu werden. Zeitlich bewege ich mich in den Jahren der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. 3 | Roy Porter: The Patient’s View. Doing Medical History from Below, in: Theory and Society 14 (1985), 175-198. 4 | Vgl. Eckart/Jütte (2007), 183.
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Wenngleich die Zuschreibung von ›minderwertig‹ und ›lebensunwert‹ im Kontext der Psychiatrie im Nationalsozialismus die physische Verletzung und Vernichtung von Menschen mit ›Behinderungen‹ zur Folge hatte, in diesem Zusammenhang also ihr Status als Opfer im Vordergrund steht, lassen sich selbst in diesem Kontext im Einzelfall handelnde Subjekte sichtbar machen und damit neue Geschichten von ›Behinderung‹ schreiben, die den Narrativen der Unterdrückung entgegenstehen und die medizinisch-psychiatrisch diagnostizierte ›Andersartigkeit‹ in Frage stellen. Mit dem Blick auf den (inter-)disziplinären und institutionellen Umgang mit ›Behinderung‹ und den diesem zugrunde liegenden theoretischen Implikationen lässt sich verdeutlichen, in welcher Weise ›Behinderung‹ aus professioneller Perspektive unter unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen historisch von ›Normalität‹ abgegrenzt wurde und welche Rückwirkungen dies auf das Leben und den Alltag ›behinderter‹ Menschen hatte. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf eine kritische Analyse des Konstruktionsprozesses von Seiten der Medizin und der Sonderpädagogik, der beteiligten Akteure und der strukturellen Bedingungen, unter denen sich diese Prozesse entfalteten. Der vorliegende Beitrag gliedert sich in drei zentrale quellenbezogene Abschnitte und ein abschließendes Resümee. Der erste Abschnitt erörtert methodische Überlegungen hinsichtlich der Grenzen und Möglichkeiten einer qualitativen Analyse der ›Euthanasie‹-Patientenakten. Ein Fallbeispiel illustriert das Erzählen als Methode für die Re-Konstruktion von individuellen nichtfiktiven Lebensgeschichten von Opfern des NS-Krankenmordes. Die auf der gleichen Quelle basierende Lebensgeschichte des ›taubstummen‹ Heinz R. wird im Kontext des vorliegenden Beitrags unter dem Gesichtspunkt der Konstruktion und Dekonstruktion von ›Behinderung‹ analysiert und hinsichtlich des psychiatrisch-wertenden Umgangs mit einer Sinnesbeeinträchtigung und den daraus resultierenden Konsequenzen unter den Bedingungen des NS-Regimes untersucht. Im zweiten Abschnitt des Beitrags wird der Aspekt der Konstruktion und Dekonstruktion von physischer Differenz mit Bezug auf den orthopädischen und sonderpädagogischen Umgang mit ›körperbehinderten‹ Kindern und Jugendlichen im Zeitraum der Weimarer Republik gedeutet. Der dritte Abschnitt wendet sich schließlich einer personenbezogenen Quelle zu, die zunächst nur implizit einen Zusammenhang mit dem Thema ›Behinderung‹ erkennen lässt, unter dem Blick der Disability History jedoch von Bedeutung ist und auf die Vielfältigkeit gelebter ›Andersheit‹ verweist.
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G RENZEN UND M ÖGLICHKEITEN DER QUALITATIV - BIOGR AFISCHEN A NALYSE AM B EISPIEL DER ›E UTHANASIE ‹-P ATIENTENAK TEN Historische Krankenakten weisen eine Reihe von quellenbedingten Besonderheiten auf, die einer patientenorientierten Geschichtsschreibung entgegenstehen. Einige dieser Spezifika bilden sich in besonderer Weise in den ›Euthanasie‹-Patientenakten ab,5 die im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts für eine qualitativ-biografische Analyse genutzt wurden.6 Der Bestand R 179 im Bundesarchiv Berlin enthält Akten von minderjährigen und erwachsenen Patienten und Patientinnen aus allen psychiatrischen Einrichtungen Deutschlands7 und der annektierten Gebiete im Osten (Polen)8 sowie Österreichs und der sogenannten Reichsgaue Sudetenland (Tschechien) und Untersteiermark. Viele der psychisch kranken oder ›geistig behinderten‹ Menschen wurden schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert in die Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen und gerieten ab 1939 in die zentral organisierte, geheime ›Euthanasie-Aktion T4‹. Andere wiederum gelangten erst kurz vor Beginn bzw. im Laufe dieser ersten Massenvernichtungsmaßnahme des NS-Regimes in die Psychiatrie und wurden in die Tötungsaktion einbezogen. In formaler Hinsicht stellt der Bestand der ›Euthanasie‹-Patientenakten also kein einheitliches Quellenmaterial dar. In der Regel sind die Akten nicht vollständig erhalten. Ein beträchtlicher Teil besteht zudem nur aus einem einzigen oder einigen wenigen Blättern, während andere Akten über Jahrzehnte geführt wurden und im Idealfall sowohl die vollständige Personal- bzw. Verwaltungsakte mit allen administrativen Vorgängen als auch die komplette Krankengeschichte umfassen. Die lückenhafte Dokumentation in den 5 | Im Bundesarchiv Berlin sind rund 30.000 Akten von Patienten und Patientinnen überliefert, die zwischen 1940 und 1941 im Rahmen der ›Aktion T4‹ von Ärzten selektiert und in sechs psychiatrischen Anstalten mit Gas getötet wurden. Insgesamt fielen dem zentral organisierten NS-Krankenmord mehr als 70.000 Menschen zum Opfer. 6 | Das 2006 abgeschlossene DFG-Forschungsprojekt war an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg und dem dortigen Institut für Geschichte der Medizin angesiedelt (Leitung: Gerrit Hohendorf). Die interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppe (Medizin, Psychiatrie, Erziehungswissenschaft und Geschichte) bestand aus insgesamt zwölf Personen. Gegenstand des Projekts war die quantitative und qualitative Analyse einer Stichprobe von 3.000 ›Euthanasie‹Patientenakten. Zu den Ergebnissen vgl. Maike Rotzoll/Gerrit Hohendorf/Petra Fuchs/Paul Richter/Christoph Mundt/Wolfgang U. Eckart (Hg.): Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn/München/Wien/Zürich 2010. 7 | Dazu zählten damals auch die Provinzen Pommern, Schlesien und Ostpreußen. 8 | Das waren Danzig-Westpreußen und das Wartheland (Posen).
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Akten setzt einer qualitativen Analyse enge Grenzen, eine ›Biografie‹ – im Sinne der Darstellung eines Lebens(ver)laufs – lässt sich auf diese Weise nicht rekonstruieren.9 Ein weiterer Begrenzungsfaktor besteht in der Zweckgebundenheit von Krankenakten, die ihre Entstehung den medizinisch-diagnostischen, therapeutischen und administrativen Notwendigkeiten im Kontext der Aufnahme oder Einweisung in eine Institution verdanken. Die in den Akten gesammelten Informationen spiegeln daher primär die Perspektive der Ärzte, des Pflege- und Erziehungspersonals, teilweise auch der Fürsorgerinnen und der Verwaltungsbeamten wider; dagegen ist der Zugang zur individuellen Lebenswelt der Anstaltsinsassen erschwert oder gar unmöglich. Dieses Grundproblem tritt in verstärkter Form zutage in den Krankenakten von Kindern und Jugendlichen sowie von Patienten und Patientinnen, die sich verbal nicht äußern wollten oder konnten. Mehr noch als bei erwachsenen Heiminsassen haftet den Mädchen und Jungen in den Patientenakten das Objekthafte an; sie scheinen nicht nur mehr oder weniger formbare Gegenstände des psychiatrisch-pädagogischen Handelns zu sein, vor allem sind ihre eigenen Erfahrungs- und Erlebnisräume durch den vielfach gefilterten Blick von Verwaltungsbeamten, Ärzten und Pflegepersonal und die Perspektive der Eltern und anderer Angehöriger nicht zu erschließen. Im Unterschied zu erwachsenen Patienten und Patientinnen enthalten die ›Euthanasie‹-Patientenakten von Kindern und Jugendlichen in der Regel keine Egodokumente wie Briefe, Lebensläufe und Zeichnungen. Trotz der Kargheit der Quellen und der daraus resultierenden methodischen Schwierigkeiten eignen sich die ›Euthanasie‹-Patientenakten für den Versuch, die Opfer des NS-Krankenmords in ihrer Subjektivität sichtbar zu machen. Dies zeigen die 23 sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten, die aus einem mehrjährigen Werkstattprozess der Heidelberger Forschungsgruppe zur wissenschaftlichen Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der nationalsozialistischen ›Euthanasie-Aktion T4‹ hervorgegangen sind.10 Von zentraler Bedeutung für die methodische Herangehensweise war die Prämisse, nach der Dokumente als »eigenständige methodische und situativ eingebettete Leistungen« begriffen werden.11 So bilden die jeweils in der Krankenakte vorgefundenen Frag9 | Vgl. Ulrich Müller: Metamorphosen. Krankenakten als Quellen für Lebensgeschichten, in: Petra Fuchs/Maike Rotzoll/Ulrich Müller/Paul Richter/Gerrit Hohendorf (Hg.): »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹, 2. Auflage Göttingen 2008, 80-96, hier 82. 10 | Fuchs/Rotzoll/Müller/Richter/Hohendorf (2008). 11 | Das methodische Vorgehen wurde von Ulrich Müller, dem ehemaligen Leiter der Forschungsstelle für Psychiatrische Soziologie, Klinik mit Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Rheinische Kliniken, entwickelt; Müller (2008), 80-96.
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mente die Basis für die Re-Konstruktion der einzelnen Person und ihres spezifischen Lebens. Das individuelle Bild vom Menschen entsteht jedoch erst durch den Prozess des Erzählens, der auf den überlieferten Bruchstücken aufbaut.12 Dabei entstehen keine fiktionalen Texte, denn jede einzelne Existenz lässt sich auf die jeweilige Krankenakte und das in ihr erhaltene Material zurückführen; der spezifische Mensch und sein Leben sind in ihrer Einzigartigkeit identifizierbar. Die strenge interpretatorische Zurückhaltung bei der Entwicklung des Texts ist ein weiteres grundlegendes methodisches Merkmal der aus dem Heidelberger Forschungsprojekt hervorgegangenen Lebensgeschichten von Opfern der NS-›Euthanasie‹. Dieser methodische Ansatz erlaubt es, die Subjektivität dieser Menschen in Erinnerung zu rufen und zu überliefern.
E RZ ÄHLEN ALS M E THODE – DAS B EISPIEL E RICH F. Beispielhaft kann die Lebensgeschichte von Erich F. aus Hadmersleben bei Magdeburg erzählt werden. 1928, im Alter von fünf Jahren, wird er in eine unbekannte psychiatrische Anstalt eingewiesen.13 Die Akte des ›geistig behinderten‹ Jungen, der bis zu seinem gewaltsamen Tod am 24. März 1941 dreizehn Jahre lang institutionell untergebracht war, besteht aus vier handgeschriebenen Seiten im DIN-A5-Format. Über die familiären Verhältnisse und den Kontakt der Eltern zu ihrem Kind erfahren wir nichts Näheres. Bei seiner Aufnahme in die Psychiatrie heißt es lediglich: »Ehelich geborene Eltern nicht blutsverwandt. Ein Vetter der Mutter war Idiot, ein Onkel väterlicherseits geistesschwach. Normale Geburt. Lernte sehr spät laufen, fasste nicht nach Gegenständen, blieb ängstlich beim Treppensteigen und lernte schlecht sprechen. Die Sprache besserte sich langsam, blieb aber unvollkommen.«14 Nach Angabe des Arztes war Erich F. 12 | Müller knüpft hier an die Auslegung des Begriffs durch Walter Benjamin an, der zwischen dem Historiker, der Geschichte schreibt, und dem Chronisten als dem ›Geschichts-Erzähler‹ unterscheidet. Vgl. Müller (2008), 93f. 13 | Kanzlei des Führers, Hauptamt II b, Nr. 2665, Bundesarchiv Berlin (BArch), Bestand R 179. Die nachfolgenden Zitate sind der Krankenakte entnommen. Zur ausführlichen Lebensgeschichte vgl. Fuchs/Rotzoll/Müller/Richter/Hohendorf (2008), 163-166. 14 | Hervorhebung im Original. Die Angaben zur medizinischen Vorgeschichte bzw. zu geistigen, psychischen, auch sozialen Auffälligkeiten der Familienmitglieder wurden zeitgenössisch als Hinweis auf Vererbung gedeutet. Diese Praxis war nicht spezifisch nationalsozialistisch. Vgl. dazu Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie – Von der Verhütung zur Vernichtung ›lebensunwerten‹ Lebens, 1890-1945, 2. Auflage Göttingen 1992. Schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bezeichnete ›Idiotie‹ den schwersten Grad der angeborenen oder in frühester Kindheit erworbenen ›geistigen Behinderung‹. Der Begriff fand als Schimpfwort Eingang in die Alltagssprache.
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»in der körperl.[ichen] Entwicklung zurückgeblieben«, zum Verhalten wird knapp kommentiert: »Hält sich sauber. Ißt allein. Spielt gern.« Etwa einmal pro Jahr halten wechselnde und anonyme Personen fast gleich lautende, stereotype Äußerungen in der Krankenakte fest. Fast immer findet sich die Notiz »körperlich gesund«; im April 1930 vermerkte der Arzt zusätzlich: »Ißt allein. Kennt die Personen seiner Umgebung, spricht aber die Namen sehr undeutlich aus. Sauber. Tut, was man ihm sagt. Nicht schulfähig.« Auf die ›Schulunfähigkeit‹ und die undeutliche Sprache des Kindes wird immer wieder abgehoben, beide Merkmale zählen zu den medizinisch-pädagogischen Konstanten in der Lebensgeschichte von Erich F. Vermutlich weil er inzwischen das arbeitsfähige Alter erreicht hat, wird der 16-jährige Jugendliche im März 1939 in die Lobetaler Anstalten bei Berlin-Bernau verlegt. In der konfessionellen Einrichtung, die unter der Leitung von Pastor Paul Gerhard Braune (1887-1954) stand, gingen ab Herbst 1939, nur wenige Monate nach Erichs Verlegung, die ersten Meldebögen zur Erfassung der Patienten und Patientinnen im Rahmen der geheimen Vernichtungs-›Aktion T4‹ ein.15 Braune, der mit seiner Denkschrift für Adolf Hitler vom 9. Juli 1940 gegen die Krankentötungen protestierte und im Oktober 1940 aus der Gestapohaft entlassen wurde, musste versichern, sich zukünftig nicht mehr gegen Maßnahmen der NSDAP und des Staats zu wenden. Vor diesem Hintergrund wird Erich F. an die ›T4‹-Verwaltungszentrale in Berlin gemeldet und dort nach dem üblichen Verfahren ›selektiert‹. Am 29. Januar 1941 wird der 18-Jährige in eine sächsische Zwischenanstalt verlegt. »Abgeholt«, heißt es dort abschließend. Am 24. März 1941 wird Erich F. zusammen mit 79 weiteren minderjährigen und erwachsenen Patienten und Patientinnen in die Tötungsanstalt Bernburg deportiert und dort durch Gas ermordet.16 Diese Lebensgeschichte zeigt exemplarisch, wie sich die Methode des Erzählens auf der Basis spärlichster Dokumente umsetzen lässt und dabei die Umrisse eines Lebens erkennbar werden.
K ONSTRUK TION UND D EKONSTRUK TION VON ›B EHINDERUNG ‹ – DAS B EISPIEL H EINZ R. Nur in einzelnen ›Euthanasie‹-Patientenakten finden sich direkte Spuren der hospitalisierten Individuen, die sich eignen, um die ›erkrankten‹ oder ›behinderten‹ Subjekte sprechen zu lassen. So ist in der umfangreichen Akte des ›taubstummen‹ Heinz R. zumindest ein Dokument erhalten, das 15 | Zu Braune vgl. Jan Cantow/Jochen-Christoph Kaiser (Hg.): Paul Gerhard Braune (1887-1954). Ein Mann der Kirche und Diakonie in schwieriger Zeit, Stuttgart 2005. 16 | Vgl. Dietmar Schulze: ›Euthanasie‹ in Bernburg – Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Anhaltinische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus, Essen 1999, 161.
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von ihm selbst stammt.17 In Dresden geboren, wird der Fünfjährige 1926 in die sogenannte Landespflegeanstalt für bildungsunfähige schwachsinnige Kinder zu Großhennersdorf aufgenommen. Mit der Diagnose »Schwachsinn erheblichen Grades, Schwerhörigkeit«18 wird Heinz R. 1930 in die ›Schwachsinnigenabteilung‹ der psychiatrischen Landesanstalt Chemnitz-Altendorf verlegt, wo er weitere zehn Jahre, bis Mai 1940, verbleibt. In der Akte sind Intelligenztests aus verschiedenen Jahren erhalten, nach denen der Junge als eingeschränkt ›bildungsfähig‹ gilt. Ein solcher Test geht auch – dem üblichen Prozedere folgend – dem Antrag des Chemnitzer Anstaltsleiters auf Zwangssterilisierung voraus. Im Januar 1939, mit 17 Jahren, wird der Jugendliche durch Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Chemnitz gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht. Im Dezember desselben Jahres heißt es in einem Schreiben der Anstaltsdirektion über Heinz R.: »Ein Versuch, ihn in einer Arbeitsabtg. auszubilden, ist nicht geglückt. Er ist zu unruhig, zeigt keine Ausdauer und hat stark psychopathische Züge. Er begeht mit unglaublicher Schlauheit allerhand Diebstähle. So ist er mehrere Male ins BDMHeim eingedrungen und hatte dort alles mögliche mitgenommen, obschon er es (z.B. Puppenkleider) gar nicht verwenden konnte. Er ist durch seine Diebereien in der Anstalt bekannt, ein letzter Versuch, ihn als Schuhmacher anzulernen, ist auch nicht von Erfolg. Anfangs ging er mit großer Lust an die Arbeit, aber bald ließ er nach und verbrauchte nur nutzlos das Material. Deshalb beantrage ich seine Wegnahme aus der Werkstatt, er geht am besten in der Kolonne zur Arbeit und bleibt in einem geschlossenen Hause.«19
Wohl aufgrund dieser Bewertung von Arbeitsleistung und Verhalten wird Heinz R. in der Krankenakte als ›psychopathischer‹,20 geistig eingeschränkter und unberechenbarer Zögling geschildert, der dauernder Kontrolle und Aufsicht bedarf. Eine verbale Verständigung sei aufgrund seiner ›Taubstummheit‹ nicht möglich; Hinweise auf ein Bemühen um andere Formen der Verständigung enthält die Akte nicht. Dieser eindimensionalen, ausschließlich defizitären und pejorativen Wahrnehmung des Arztes steht die Perspektive von Heinz R. selbst gegenüber, die sich aus der Lektüre des einzigen in der Akte erhaltenen Ego-Dokuments ableiten lässt. Im April 1940 schreibt der Jugendliche aus der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf an seine Mutter: 17 | BArch R 179/11269. 18 | Zeitgenössischer Oberbegriff für unterschiedliche Erscheinungsformen und abgestufte Grade ›geistiger Behinderung‹. 19 | BArch R 179/11269, Bl. 48. 20 | Griech. psyche, ›Seele‹ und páthos, ›Leiden‹. In der Zeit des Nationalsozialismus verknüpfte sich die Bezeichnung Psychopathie eng mit der Vorstellung von angeborener Kriminalität und ›Asozialität‹ und hatte entsprechende Konsequenzen für die so stigmatisierten Personen.
»S EI DOCH DICH SELBST « »Liebe Margarethe! Wie es hier in Algemeinen heißt soll die Landesanstalt aufgelöst werden, wann wir fort kommen und wohin wissen wir noch nicht. Bist du wieder gut zu hausen angekommen? Wenn Ihr könnte schickt mir nach ein Packet ich […] Euch dafür sehr dankbar. Wie Ihr mir sagtet soll ich am 26.5.40 zu Euch […] Ihr müßt vorher ein Gesuch an die Landesanstalt machen. Ich würde mich natürlich sehr freuen, wien ich auch einmal zu Euch auch Besuch kommen dürfte. Soweit bin ich nachg gsund hoffe selbiges auch won Euch. Seit herzlich gegrüßt won Euren Heinz. Heil Hitler!« 21
Dieser kurze Brief lässt eine Lesart zu, die der medizinisch diagnostizierten und sozial gedeuteten ›Andersartigkeit‹ von Heinz R. im Sinne einer Zuschreibung von ›Minderwertigkeit‹, Renitenz, Arbeitsverweigerung, Berechnung, Dummheit und Kriminalität entgegensteht. Aus den wenigen Zeilen scheint vielmehr ein Heranwachsender auf, der mit wachen Sinnen das Alltagsgeschehen um sich herum wahrnimmt und in der Lage ist, sich darüber mitzuteilen. Der Brief klingt lebendig, der Jugendliche äußert seine Wünsche und Gefühle, er freut sich darauf, besuchsweise nach Hause zu kommen. Die Bindung zu seiner Familie scheint trotz seiner dauerhaften institutionellen Unterbringung nach wie vor eng und vertraut. Heinz R. wird als eigenständige Person sichtbar, er kennt sich gut mit den Regeln des Anstaltsalltags aus und weiß, was zu tun ist, um eine Beurlaubung aus der Anstalt zu erreichen. Dieses Bild deckt sich so wenig mit der psychiatrischen Perspektive auf den Jungen, dass sich eine neue Frage aufdrängt: Inwieweit hat es der zeitgenössischen medizinischen Praxis und dem fachwissenschaftlichen Konsens entsprochen, Schwierigkeiten, die sich aus dem nicht oder nur eingeschränkt vorhandenen verbalen Ausdrucksvermögen ergaben, als Kennzeichen von ›Schwachsinn‹ zu deuten? Oder anders ausgedrückt: Inwiefern haben damals Mediziner und Medizinerinnen aus physischer Differenz intellektuelle und mentale ›Abweichung‹ abgeleitet und diese dann als ›minderwertig‹ klassifiziert? Über diese Dimension hinaus eignet sich das Dokument dazu, dem Sprechen dieses jungen Mannes – im doppelten Sinn – Gehör zu verschaffen, ihn als eigenständig handelndes Subjekt im Kontext seiner Psychiatrisierung in den Fokus zu rücken und die medizinisch konstruierte Identität des ›schwachsinnigen‹ und ›psychopathischen‹ ›Taubstummen‹ zu dekonstruieren.22 Im Kontext der nationalsozialistischen Diktatur und der damaligen Bestrebungen, die Psychiatrie zu ›modernisieren‹ und sich perspektivisch der ›unheilbaren‹ Patienten zu entledigen, hatte eine solche Konstruktion jedoch tödliche Konsequenzen. Im Alter von 19 Jahren wurde Heinz R. in der Gaskammer von Pirna-Sonnenstein bei Dresden ermordet.
21 | Personalakte, [nicht paginiert], BArch R 179/11269. Die Orthografie folgt dem Original. 22 | Zur ausführlichen Lebensgeschichte vgl. Fuchs/Hohendorf (2010).
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Z UR K ONSTRUK TION VON ›K ÖRPERBEHINDERUNG ‹ IM S CHNIT TFELD VON O RTHOPÄDIE , P SYCHOLOGIE UND P ÄDAGOGIK In welcher Weise körperliche Differenz dem sonderanthropologischen Narrativ der 1920er Jahre eingeschrieben war, möchte ich im Folgenden verdeutlichen. Am Beispiel von orthopädischen Krankenakten des Berliner Oskar-Helene-Heims für Heilung und Erziehung gebrechlicher Kinder lässt sich demonstrieren, in welcher Weise das Instrument des Intelligenzgutachtens genutzt wurde, um ›Körperbehinderung‹ und ›Normalität‹ historisch voneinander abzugrenzen.23 Dieser Prozess der Klassifizierung, Differenzierung und Qualifizierung vollzog sich in engem Zusammenhang mit der Etablierung der ›modernen Krüppelfürsorge‹ im Zeitraum der Weimarer Republik und repräsentiert den professionellen Umgang mit ›orthopädisch kranken‹ Kindern und Jugendlichen im Schnittfeld von Medizin, Psychologie und Pädagogik. Im interdisziplinären Zusammenwirken dieser drei Fächer konstruierte sich ›Körperbehinderung‹ als Produkt einer Sonderanthropologie,24 die aus der körperlichen Differenz besondere psychische und soziale Eigenschaften ableitete, auf die es mit (sonder-)pädagogischen Maßnahmen einzuwirken galt. Das 1914 von dem Kinderarzt und Orthopäden Konrad Biesalski (18681930) gegründete Oskar-Helene-Heim bildete den institutionellen Kern der modernen Fürsorge für ›Körperbehinderte‹. Ihr Konzept sah die Verbindung von medizinischer Versorgung sowie schulischer und beruflicher Ausbildung vor, orientiert an ärztlichen Vorgaben. Mit seiner juristischen Fundierung in der Weimarer Republik durch das Krüppelfürsorgegesetz von 1920 ging dieser neue Fürsorgezweig in staatliche Verantwortung
23 | Die Akten wurden im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes ›Patientenbilder – Zur Geschichte des Körper- und Menschenbildes des orthopädisch Kranken‹ (Leitung: Eva Brinkschulte) am Institut für Geschichte der Medizin der Berliner Charité bearbeitet. Vgl. Eva Brinkschulte (Hg.): Patientenbilder — Krankheitsbilder — Menschenbilder. Zur Geschichte der medialen Kultur der Medizin. Das Beispiel Oskar-Helene-Heim, Darmstadt 2007. 24 | Annedore Prengel benutzt den Begriff der »medizinisch dominierte[n} Sonderanthropologie« im Sinne einer Wissenschaft vom Menschen, aus der ›Behinderte‹ quasi herausfallen. Siehe Dies.: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, 3. Auflage Wiesbaden 2006, 182. Die Bezeichnung steht nicht für eine eigenständige Disziplin, wohl aber für die Wahrnehmung körperlich differenter Personen als angeblich vom Menschen abweichende Spezies. In ihrer Untersuchung Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt a.M./New York 1991 beschreibt Claudia Honegger die Entwicklung einer Sonderanthropologie des ›Weibes‹.
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über.25 Das Oskar-Helene-Heim erarbeitete sich im Zuge dieser Entwicklung den Status einer Modelleinrichtung, die als sogenannte Zentral-Forschungs- und Fortbildungsanstalt in Preußen und im Deutschen Reiche nationale und internationale Anerkennung genoss.
»D ER K RÜPPEL STEHT IN INNERER S PANNUNG GEGEN DIE G ESUNDEN « – DIE W ÜRT Z ’SCHE ›K RÜPPELSEELENKUNDE ‹ Eine besondere Rolle im Zusammenhang mit der Prüfung der Intelligenz orthopädisch kranker Kinder kam dem reformpädagogisch orientierten Volksschullehrer Hans Würtz (1875-1958) und dem Leipziger Schulpsychologen Herbert Winkler zu.26 Würtz, der ab 1911 am Oskar-Helene-Heim tätig war und rasch zum Erziehungsdirektor aufstieg, war Begründer der ›Krüppelpsychologie‹ und ›Krüppelpädagogik‹.27 Er behauptete die Existenz einer besonders beschaffenen und im Gegensatz zum ›Gesunden‹ stehenden ›Krüppelseele‹ und schrieb Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen seelische ›Sondereigenschaften‹ im Sinne grundlegender charakterlicher und sozialer Mängel und Defekte zu. ›Krüppel‹ seien »gemeinschaftskrank«, lautete seine Haupthypothese: »[…] die Möglichkeiten unbefangenen Gemeinschaftsbewusstseins sind in dem Krüppel bedroht oder ganz verschüttet«.28 Die Aufgabe der Sonderpädagogik bestand seiner Meinung nach darin, diese Defizite auszugleichen, und orthopädisch kranke Mädchen und Jungen »in besonderen Krüppelschule[n] […] nach bestimmten Methoden auf Grund der besonderen Krüppelseelenkunde« zu unterrichten und zur »Gemeinschaftsfähigkeit« zu erziehen.29 1928 berief Würtz seinen Leipziger Kollegen Winkler, der sich mit der »Bedeutung der Motorik für die psychologische Erkenntnis und Behandlung des körpergebrechlichen Kindes«30 beschäftigt hatte, zu »psychologischen 25 | Preußisches Gesetz betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge vom 6.5. 1920 – Gesetzessammlung 280, Sonderdruck aus: Volkswohlfahrt Nr. 9, Berlin 1921. 26 | Winklers Lebensdaten sind unbekannt. 27 | Zu Hans Würtz vgl. insbesondere Philipp Osten: Die Modellanstalt. Über den Aufbau einer ›modernen Krüppelfürsorge‹ 1905-1933, Frankfurt a.M. 2004, 147-172 sowie Oliver Musenberg: Der Körperbehindertenpädagoge Hans Würtz (1875-1958). Eine kritische Würdigung des psychologischen und pädagogischen Konzeptes vor dem Hintergrund seiner Biografie, Hamburg 2002. Zu den wichtigsten Veröffentlichungen von Würtz zählen: Das Seelenleben des Krüppels, Leipzig 1921 und Zerbrecht die Krücken. Krüppel-Probleme der Menschheit. Schicksalsstiefkinder aller Zeiten und Völker in Wort und Bild, Leipzig 1932. 28 | Würtz (1921), 4. 29 | Vgl. Preußisches Gesetz betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge, § 1. 30 | Herbert Winkler: Psychische Entwicklung und Krüppeltum. Deutsche Krüppelhilfe, Ergänzungshefte der Zeitschrift für Krüppelfürsorge, Leipzig 1931, Vorwort.
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Arbeiten« an das Oskar-Helene-Heim.31 Dieser nutzte das Angebot zur Vertiefung einer wissenschaftlich-psychologischen Untersuchung, die sich »auf die geistige Eigenart gebrechlicher Kinder und auf die Arbeitsfähigkeit körperbehinderter Jugendlicher«32 erstrecken sollte. Ziel der Studie war es, durch einen Vergleich der Intelligenzleistungen ›körperbehinderter‹ und ›gesunder‹ Kinder festzustellen, ob es zu Abweichungen von der psychischen Entwicklung des ›Gesunden‹ kam.33 Winkler ging davon aus, dass »der Vergleich jeder einzelnen Leistung des betreffenden Kindes mit der Durchschnittsleistung normaler Kinder zeigt, in welchen Fähigkeiten und in welchem Maße es hinter der Norm zurückgeblieben ist oder sie überschritten hat«.34 Die Durchführung von Intelligenzprüfungen gehörte im Oskar-Helene-Heim zu den regulären Aufgaben des pädagogischen Personals. Ziel war die Ermittlung der ›Bildungsfähigkeit‹ von Mädchen und Jungen mit orthopädischen Erkrankungen wie Rachitis, Skoliose, Tuberkulose und Poliomyelitis. Auf der Basis der Intelligenztestung erfolgte die Zuweisung der Kinder zu den verschiedenen Schultypen innerhalb der orthopädischen Einrichtung bzw. die Einweisung der als ›schwachsinnig‹ klassifizierten Mädchen und Jungen in Institutionen für ›geistig behinderte‹ Kinder und Jugendliche.
A USLESE VON K INDERN MIT DER D IAGNOSE ›L IT TLE ’SCHE K R ANKHEIT‹ 35 Die Mehrzahl der am Oskar-Helene-Heim vorgenommenen Intelligenztests betraf Mädchen und Jungen mit der Little’schen Krankheit, einer neurologisch bedingten Beeinträchtigung. Kinder mit spastischen Lähmungen galten aus ärztlicher Perspektive als in ihren mentalen und intellektuellen Fähigkeiten eingeschränkt und wurden, häufig schon aufgrund der fehlenden oder beeinträchtigten Sprechfähigkeit, als ›schwachsinnig‹ oder ›idiotisch‹, d.h. als ›geistig behindert‹ eingestuft. So führte Winkler aus, Kinder mit einer Little’schen Lähmung würden leicht für ›Idioten‹ gehalten, weil sie »so wie die Schwachsinnigen, nicht oder nur schwer sprechen«.36 Im Unterschied zu einer Vielzahl von Kollegen sah er den Grund für diese Schwierigkeit jedoch darin, »dass bei der Littleschen 31 | Die nachfolgenden Ausführungen sind Teil eines unveröffentlichten Manuskripts, das im Rahmen des Forschungsprojektes ›Patientenbilder‹ entstanden ist. 32 | Ebd. 33 | Ebd. 34 | Ebd., 76. 35 | Benannt nach dem englischen Chirurgen William John Little (1810-1894), cerebrale Kinderlähmung bzw. spastische Lähmung. 36 | Winkler (1931), 22.
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Erkrankung der Sprechmuskelapparat den Dienst als sprachliches Ausdrucksmittel versagt […]«, während, so fügte er in entwertender und diskriminierender Weise hinzu, »die Idioten nicht sprechen, weil sie nichts zu sagen haben«.37 Die Klassifizierung spastisch gelähmter Kinder und Jugendlicher als ›geistig behindert‹ erwies sich schon allein deshalb als fragwürdig, weil gerade das Sprachvermögen, das an die Physis, aber auch an die Beherrschung der deutschen Sprache gebunden war, im Zentrum der Intelligenzprüfung stand. So konnte der dreijährige Georg S. aus Lodz deshalb nicht getestet werden, weil »der Knabe nicht deutsch spricht und […] nur über einen geringen Wortschatz verfügt«.38 Winkler entwickelte ›stumme Tests‹ für nicht sprechende Kinder und gelangte auf der Basis dieses Instrumentariums zu der Erkenntnis, dass sich unter ihnen sowohl ›Schwachsinnige‹ als auch ›Hochbegabte‹ befanden.
I NTELLIGENZ TEST VERFAHREN ALS B ASIS › KRÜPPELPSYCHOLOGISCHER ‹ F ORSCHUNG Mit den Ergebnissen seiner Intelligenzforschung begründete der Psychologe Winkler die Notwendigkeit einer separierten Sondererziehung ›körperbehinderter‹ Kinder in eigens dafür eingerichteten ›Krüppelheimen‹. Die negative Beurteilung ›gebrechlicher‹ Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit führe zu Minderwertigkeitsgefühlen. Diesem Prozess könne man nur durch die Schaffung eines Schonraums entgegenwirken: »Das würde bedeuten, dass die Erziehung in einem Krüppelheim als Vorstadium für den späteren Lebenskampf unbedingt notwendig ist.«39 Winkler formulierte also bereits in den 1920er Jahren eine weiterhin gültige Grundannahme der Sonderpädagogik, die, wenngleich in fördernder und eingliedernder Absicht formuliert, bis heute die gesellschaftliche Aussonderung körperlich differenter Kinder und Jugendlicher zur Folge hat. Zwar lehnte Winkler die Würtz’sche ›Krüppelseelentheorie‹ ab und erkannte die Wirkung der abwertenden und stigmatisierenden Haltung der ›gesunden‹ Umgebung auf das Selbstwertgefühl körperlich beeinträchtigter Menschen, dennoch zog er wie Würtz den Schluss, dass erzieherisch allein auf die Gebrechlichen eingewirkt werden müsse.40 Die Psychologen und Pädagogen sahen die soziale Eingliederung als einseitigen Prozess an, der allein durch die Anstrengungen ›körperbehinderter‹ Kinder und Jugendlicher erreicht werden sollte.
37 | Ebd. 38 | Intelligenzgutachten ohne Datum [1922]. Archiv des Oskar-Helene-Heims: Krankenakte 22K54. 39 | Winkler (1931), 119. 40 | Ebd., 116ff.
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P ERSONENBEZOGENE A K TEN IM K ONTE X T NATIONALSOZIALISTISCHER J USTIZGESCHICHTE Mit den psychiatrischen und orthopädischen Krankenakten habe ich historische Quellen vorgestellt, die sich eindeutig (auch) auf Menschen mit ›Behinderungen‹ beziehen. Anders verhält es sich mit einem Bestand von Häftlingsakten, in den ich abschließend Einblick geben möchte.41 Die betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen beiderlei Geschlechts waren vor dem NS-Volksgerichtshof angeklagt und im Rahmen ihrer Hauptverhandlung im Potsdamer Landgerichtsgefängnis inhaftiert worden. Zwar geht es bei dieser Gruppe vordergründig um ›nichtbehinderte‹ Menschen; ein genaueres Studium der Akten zeigt aber, dass sich unter ihnen auch ›behinderte‹, ›gebrechliche‹ oder während ihrer Internierung schwer erkrankte Häftlinge befanden.42 Diese wurden nicht aufgrund des Merkmals ›Behinderung‹ Opfer der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspraxis, sondern sie reihten sich unauffällig, da nicht explizit benannt, in den Kreis der ›normalen‹ Justizgefangenen ein.43 Der am 26. Juli 1907 in Frankfurt a.M. geborene Paul J. wurde Anfang Juli 1943 von der Gestapo festgenommen.44 Ihm wurden das Abhören feindlicher Sender, die Beteiligung am Schwarzhandel und wiederholte staatsfeindliche Äußerungen vorgeworfen. So habe er Stalin als den größten Staatsmann beschrieben und sich gegen Hitler und Goebbels gewandt. Im Rahmen seines Verfahrens gab der 36-jährige Angeklagte an, vor 1933 keiner Partei angehört, bei den Wahlen seine Stimme aber der SPD gegeben zu haben. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sei er der Deutschen Arbeitsfront (DAF), dem Reichsluftschutzbund (RLB) und dem Reichsbund der Körperbehinderten (RBK) beigetreten. Paul J. hatte zunächst das Gymnasium und dann die Mittelschule besucht. Das Schulziel erreichte er jedoch nicht, weil er beim Spielen mit einem Sprengkapselzünder den linken Unterarm und das linke Auge verlor und etwa zwei Schuljahre einbüßte. Nach der Schulentlassung half Paul J. zunächst in der Papierhandlung seines Vaters aus und begann Mitte der 1920er Jahre mit einer Lehre als Chemigraf.45 Mehrfach war er in dieser Zeit in Fürsor41 | Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA), Pr. Br. Rep. 29, Landgerichtsgefängnis Potsdam. Die Häftlingsakten wurden im Rahmen des Vorhabens ›Die Potsdamer Lindenstrasse 54/55 in der Zeit des Nationalsozialismus‹ am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam recherchiert und ausgewertet. 42 | Siehe Nikolaus Wachsmann: Gefangen unter Hitler: Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006. 43 | Dazu gehörten Häftlinge mit Kriegsbeschädigungen und schweren TbcErkrankungen. 44 | BLHA, Pr. Br. Rep. 29, Nr. 119. 45 | Es handelt sich um einen ausgestorbenen Beruf im Bereich des grafischen Gewerbes. Der Chemigraf fertigte Klischees auf Metallplatten, die als Druckstock verwendet wurden.
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geerziehung untergebracht, wo er auch seine Lehrzeit beendete und die Gehilfenprüfung ablegte; bis 1932 fand er Beschäftigung in seinem Beruf. Wann er heiratete und Vater wurde, ist in den Dokumenten nicht genau vermerkt. 1934 verbüßte er wegen eines Sittlichkeitsverbrechens eine neunmonatige Haftstrafe und arbeitete bis zu seiner Verhaftung durch die Gestapo im Jahr 1943 in einer Frankfurter Gießerei.46 In der Frankfurter U-Haftanstalt wandte sich Paul J. mit zahlreichen Bitten an die Gefängnisleitung, er beantragte verschiedene Tageszeitungen und bat mehrfach um die Genehmigung von Sonderbriefen an seinen Vater und seine Frau. »Da ich Prothesenträger bin, bitte ich für meinen amputierten Arm, um 1-2 saubere Wollstrümpfe, da Arm öfters Wundt, 2 Tuben Wundsalbe und um meine Hornbrille, welche ich daheim habe meine Frau bringt mir die Sachen hierher«, schrieb er im März 1943. Sein labiler Gesundheitszustand und die offensichtliche medizinische Mangelversorgung boten häufig Anlass für die Beantragung von Sonderbriefen. Zweimal bat er um Lektüre, im Oktober 1943 notierte er: »Da ich körperbehindert bin, und nicht arbeiten kann, bitte ich zu meiner geistigen Beschäftigung, wöchentlich 3 Bücher zum lesen, größeren Inhalts, wenn möglich 2 Romanbücher, und 1 Wiesentschaftliches [sic!] Buch wenn vorhanden ist. Ich bitte um Genehmigung meines Antrages.«47 Mit der Bitte, einen zusätzlichen Brief an seine Ehefrau schicken zu dürfen, wandte sich Paul J. acht Monate später erneut an die Gefängnisleitung: »Begründung: Habe bald Termin in Berlin, kann jeden Tag fortkommen, und möchte Sie gern noch einmal sehen, solange ich in Ffm. bin […]«.48 Nach mehr als einem Jahr Untersuchungshaft in Frankfurt a.M. wurde Paul J. Mitte November 1944 in das Potsdamer Landgerichtsgefängnis überführt, da die Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof anberaumt war.49 Möglicherweise als Versuch dem Verfahren zu entgehen oder ein ›milderes‹ Urteil zu bekommen, beantragte er dort, wie er es bereits vorher schon einmal vergeblich versucht hatte,50 die Untersuchung und Begutachtung seines Geistes- und Gesundheitszustands durch einen Sachverständigen. Am 8. Dezember 1944 wurde er tatsächlich in die Krankenabteilung der Berliner Untersuchungshaftanstalt Alt-Moabit verlegt und ärztlich begutachtet, gegen Ende des Jahres erfolgte sein Rücktransport 46 | VGH-Anklageschrift vom 23.9.1944; BArch NJ/15465. 47 | Schreiben vom 26.10.1943, Hervorhebung im Original, und Antrag vom 28.2.1944, BLHA Pr. Br. Rep. 29, Nr. 119. 48 | Antrag vom 26.10.1944, BLHA Pr. Br. Rep. 29, Nr. 119. 49 | Der Volksgerichtshof war 1944 teilweise, ab Februar 1945 ganz aus Berlin nach Potsdam verlagert worden. Vgl. Petra Fuchs: Rassische und politische Verfolgung in Potsdam – Zur Topografie und Geschichte des Haft- und Gerichtsortes Lindenstraße 54/55, in: Hans-Hermann Hertle/Thomas Schaarschmidt (Hg.): Strafjustiz im Nationalsozialismus. Rassische und politische Verfolgung im Kontext der NS-Strafjustiz, Potsdam 2007, 113-138. 50 | Antrag vom 28.9.1943; BLHA Pr. Br. Rep. 29, Nr. 119.
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in das Potsdamer Gefängnis. Knapp zwei Monate später, am 21. Februar 1945, wurde Paul J. vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und bis zu seiner Überführung zur Exekution wieder in die Gefängniszelle gebracht. Dort fand ihn der erste Hauptwachtmeister vier Tage später. »Der Untersuchungsgefangene Paul J. ist um 15 Uhr am heutigen Tage verstorben«,51 lautete der letzte Vermerk in der Akte. Zu den Todesumständen gibt es keine näheren Angaben. Die Lebensgeschichte von Paul J. kann einerseits als Beispiel für die sehr unterschiedlichen Lebensweisen ›behinderter‹ Menschen gerade auch in der Zeit des Nationalsozialismus gelesen werden. Seine Existenz war nicht so sehr durch die körperliche Beeinträchtigung gefährdet, vielmehr setzte die Verfolgung durch das NS-Regime erst mit seiner regimekritischen Äußerung ein. Allerdings wirkte sich die Ignoranz seiner spezifischen Situation als physisch differenter Häftling ganz und gar zu seinem Nachteil aus: Weder erhielt er die notwendige medizinische Versorgung, noch konnte er sich in irgendeiner Weise in der Zelle beschäftigen. Die Einbeziehung der Akten von Häftlingen mit Beeinträchtigungen in die wissenschaftliche Analyse ist also geeignet, die Vielfalt der Existenzweisen von Menschen mit ›Behinderung‹ und (chronischer) Krankheit zu dokumentieren und die spezifischen Erfahrungen ›behinderter‹ Menschen zum Sprechen zu bringen.52 Sie ermöglicht es darüber hinaus, Alltagsgeschichte/n von ›Behinderung‹ auch dort zu schreiben, wo die Quellen das Thema zunächst nicht vermuten lassen.
›THE D ISABLED P ERSON ’S V IE W ‹ – ›B EHINDERUNG ‹ ALS ZENTR ALE A NALYSEK ATEGORIE DER M EDIZINGESCHICHTE Der vorliegende Beitrag hat anhand psychiatrischer und orthopädischer Krankenakten exemplarisch demonstriert, wie ›Behinderung‹ und ›Normalität‹ im Kontext des (inter-)disziplinären und institutionellen Umgangs mit mental, psychisch und physisch differenten Subjekten historisch konstruiert wird. Deutlich wurde auch, in welcher Weise sich die professionell geprägte Perspektive auf den gesellschaftlichen Umgang mit ›behinderten‹ Menschen im Sinne von fürsorglich begründeter Sonderbeschulung, Stigmatisierung, Diskriminierung, Entwertung und Vernichtung ausgewirkt hat. Mit Bezug auf die ›Euthanasie‹-Patientenakten wurde gezeigt, dass sich diese Quellenart auch dazu eignet, physisch, 51 | Ebd. 52 | So haben Hans Walter Schmuhl und Ulrike Winkler Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern einer konfessionellen Einrichtung für ›Behinderte‹ durchgeführt. Vgl. Hans Walter Schmuhl/Ulrike Winkler: Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein 1947 bis 1967, Bielefeld 2010.
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psychisch und mental beeinträchtigte Personen als handelnde Subjekte sichtbar zu machen. Darüber hinaus konnte herausgearbeitet werden, dass die Individualisierung von Opfern der ›Euthanasie‹ – und dies ist auf andere Kollektive und Individuen übertragbar – auch dort gelingen kann, wo nur noch Fragmente des einzelnen Lebens oder der ›Kranken‹Geschichte überliefert sind. Da Selbstzeugnisse von physisch, psychisch oder mental differenten Subjekten nur selten oder lückenhaft überliefert sind bzw. deren Wahrnehmungen häufig bloß über den vermittelten Blick Dritter, meist ›nichtbehinderter‹ Personen oder Instanzen zugänglich sind, könnte sich der methodische Ansatz des Erzählens auf der Basis unvollständiger Dokumentation für die Sichtbarmachung der Subjektivität ›behinderter‹ Menschen als produktiv erweisen. Der Rückgriff auf personenbezogene Akten aus dem Kontext der Justiz hat ein Schlaglicht auf die Vielfalt der Existenzweisen von Menschen mit ›Behinderung‹ und (chronischer) Krankheit geworfen und auf die Potenziale von Quellengattungen und -beständen für die Historiografie von ›Behinderung‹ aufmerksam gemacht, die sich vordergründig gar nicht auf dieses Phänomen beziehen. Für die Recherche und Analyse von historischen Quellen im Rahmen der Disability History hieße das, grundsätzlich eine zusätzliche Suchrichtung zu entfalten: Da sich ›Behinderung‹ alltagsgeschichtlich in allen Bereichen des sozialen, kulturellen und politischen Lebens wiederfindet, wären nicht nur Bestände ins Auge zu fassen, die sich per Definition auf physisch, psychisch oder mental differente Subjekte beziehen, vielmehr müsste dem Phänomen ›Behinderung‹ gerade auch in anders deklarierten Quellen nachgespürt werden. Patientengeschichte als ein Ansatz der medizinischen Geschichtsschreibung bedarf dringend der Erweiterung um das Konzept einer Sozial- und Kulturgeschichte von ›Behinderung‹, die die Sichtweisen und Wahrnehmungen beeinträchtigter Personen, quasi den ›disabled person’s view‹, gezielt in den Fokus nimmt.53 Mit der Etablierung einer spezifischen Herangehensweise an historische Quellen, bei der die Kategorie ›Behinderung‹ von zentraler Bedeutung ist, lassen sich jene Prozesse nachzeichnen und analysieren, die ›Behinderung‹ und ›Normalität‹ unter variablen sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen herstellen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auch auf das Verhältnis von ›Behinderung‹ und ›Normalität‹, denn das eine definiert sich über das andere und umgekehrt. Die systematische Untersuchung dieser relationalen Verbindung, die sich in den gesellschaftlichen Diskursen ebenso nieder53 | Hans-Walter Schmuhl plädiert seit Längerem dafür, die Sozialgeschichte um die Perspektive der ›Behinderten‹ und ›Befürsorgten‹ zu ergänzen. Vgl. ders.: Menschen mit Behinderungen im Spannungsfeld von Exklusion und Inklusion. Vorüberlegungen zu einer notwendigen Erweiterung der Sozialgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, in: Katrin Grüber/Jan Cantow (Hg.): Eine Welt ohne Behinderung – Vision oder Alptraum?, Berlin 2009, 24-50.
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schlägt wie in der Interaktion ihrer jeweiligen Akteure, verweist letztlich auf die grundsätzliche Veränderbarkeit der sozialen Konstrukte und ist im Sinne heutiger Emanzipationsbemühungen ›behinderter‹ Menschen auch politisch bedeutsam.
L ITER ATUR Böhm, Boris (Hg.): Erinnerung wi(e)der Vergessen – Gedenkbuch für die Kinder des Katharinenhofes Großhennersdorf, die auf dem Sonnenstein in Pirna und in Großschweidnitz getötet wurden, Dresden/Pirna 1997. Brinkschulte, Eva (Hg.): Patientenbilder – Krankheitsbilder – Menschenbilder. Zur Geschichte der medialen Kultur der Medizin. Das Beispiel Oskar-Helene-Heim, Darmstadt 2007. Cantow, Jan/Kaiser, Jochen-Christoph (Hg.): Paul Gerhard Braune (18871954). Ein Mann der Kirche und Diakonie in schwieriger Zeit, Stuttgart 2005. Eckart, Wolfgang Uwe/Jütte, Robert: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2007. Fuchs, Petra/Hohendorf, Gerrit: Den Opfern ein Gesicht geben – Zum Schreiben von Lebensgeschichten auf der Basis der ›Euthanasie‹-Patientenakten, in: Philipp Osten (Hg.): Patientendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 35), Stuttgart 2010 (im Druck). Dies./Rotzoll, Maike/Müller, Ulrich/Richter, Paul/Hohendorf, Gerrit: »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹, 2. Auflage Göttingen 2008. Dies.: Rassische und politische Verfolgung in Potsdam – Zur Topografie und Geschichte des Haft- und Gerichtsortes Lindenstraße 54/55, in: Hans-Hermann Hertle/Thomas Schaarschmidt (Hg.): Strafjustiz im Nationalsozialismus. Rassische und politische Verfolgung im Kontext der NS-Strafjustiz, Potsdam 2007, 113-138. Dies.: Kurzbiografie der Freifrau Marta Kalchreuter, geb. John, in: Bettina Brand-Claussen/Viola Michely (Hg.): Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Heidelberg 2004, 257. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt a.M./New York 1991. Musenberg, Oliver: Der Körperbehindertenpädagoge Hans Würtz (18751958). Eine kritische Würdigung des psychologischen und pädagogischen Konzeptes vor dem Hintergrund seiner Biografie, Hamburg 2002. Osten, Philipp: Die Modellanstalt. Über den Aufbau einer »modernen Krüppelfürsorge« 1905-1933, Frankfurt a.M. 2004.
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3. Institutionen und Politiken
Konstruktionen von ›Behinderung‹ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964 1 Gabriele Lingelbach
Die Forschungen zu ›Behinderung‹ befinden sich seit einiger Zeit im Umbruch. Lange Zeit herrschte das ›individuelle‹ oder auch ›medizinische Modell‹ vor, das die Ursachen für die Behinderung im betroffenen Individuum verortete und Behinderung als tragischen Defekt definierte.2 Seit einiger Zeit aber wird diesem Modell ein anderes gegenübergestellt. Das soziale Modell verortet die Ursachen für Behinderung in der Gesellschaft. Gefragt wird danach, wie die gesellschaftlichen Strukturen Menschen mit bestimmten Merkmalen ›behindern‹, einschränken, sozial benachteiligen und marginalisieren.3 Hier nehmen neben sozialwissenschaftlichen Per1 | Ich danke Manuel Geist, Svenja Goltermann, Ulrich Kamp, Clara Mansfeld, Jan Stoll, Julia Welz und Tara Woods für ihre Kritik und ihre konstruktiven Vorschläge zur Verbesserung dieses Beitrags. Ebenso danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Aktion Mensch dafür, dass sie mir großzügig Einsicht in ihre Archivalien gewährten. 2 | Siehe z.B. den Forschungsüberblick bei Cornelia Renggli: Disability Studies – Ein historischer Überblick, in: Jan Weisser/Cornelia Renggli (Hg.): Disability Studies. Ein Lesebuch, Luzern 2004, 15-26; die Unterscheidung zwischen individuellem und sozialem Modell bei Mark Priestley: Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise, in: Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 23-35. Eine Einführung in den geschichtswissenschaftlichen Zweig innerhalb der Disability Studies bieten Elsbeth Bösl: Dis/ability History: Grundlagen und Forschungsstand, in: H-Soz-u-Kult, 7.7.2009, Link: http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-07-001 (13.7.2009) sowie die Aufsätze dieses Sammelbandes. 3 | Die Herausstellung des ›disablism‹ als weitere Form sozialer Unterdrückung neben z.B. Rassismus und Sexismus bei Carol Thomas: Theorien der Behinderung. Schlüsselkonzepte, Themen und Personen, in: Weisser/Renggli (2004), 31-56.
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spektiven auch kulturwissenschaftliche Ansätze einen immer breiteren Raum ein. Bei diesen wird danach gefragt, wie Behinderung konstruiert wird, welche sprachlichen und bildlichen Repräsentationen von Behinderung existieren und in der Öffentlichkeit verbreitet werden und welche Akteure für diese Konstruktionen verantwortlich sind. Auch Historikerinnen und Historiker haben diese Überlegungen aufgegriffen. Viele der neueren Arbeiten zur Geschichte von Behinderung und Menschen mit Behinderungen sind dabei inspiriert von Entwicklungen innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Disziplin, die durch die Gender und Postcolonial Studies ebenso angestoßen wurden wie etwa von den Debatten rund um den sogenannten Visual Turn. Konzentriert man sich auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und fragt, welche Akteure hier hauptsächlich an der Produktion von Bildern und Vorstellungen hinsichtlich Behinderung beteiligt waren und durch ihre Verwendung sprachlicher und bildlicher Repräsentationen die Vorstellungen von Behinderung in der Öffentlichkeit entscheidend prägten,4 so war wohl keine Institution so einflussreich wie die Aktion Sorgenkind, also die heutige Aktion Mensch.5 Ihre besondere Öffentlichkeitswirksamkeit lag vor allem in ihrer einzigartigen institutionellen Konstruktion begründet:6 Die Aktion Sorgenkind war insofern ein hybrides Gebilde, als sie ein Verein war, dessen Mitglieder erstens das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) und zweitens Institutionen der Sozialfürsorge in Form der Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege waren. Dem Kuratorium gehörten zusätzlich noch Mitglieder von Vereinigungen an, die die Interessen behinderter Kinder und Jugendlicher vertraten. Die Aktion verband somit die Institutionen der Behindertenfürsorge und der Betroffenengruppen mit dem in die Öffentlichkeit reichenden Medium des Fernsehens. Dies ermöglichte es dem Verein, das Bild von Behinderung in der Öffentlichkeit wesentlich mitzubestimmen. Dieser Beitrag stellt dar, welche Entwicklung die Arbeit der Aktion Sorgenkind und insbesondere ihre Darstellung und Interpretation von Behinderung seit ihrer Gründung 1964 bis in die 1990er Jahre durchlief und welche Ursachen für den letztlich doch eklatanten Wandel von einem paternalistischen zu einem gleichberechtigten Ansatz angeführt werden können. 4 | Einführend zur Geschichte von Behinderung in der BRD siehe Walter Fandrey: Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland, Stuttgart 1990, 195-265; Carol Poore: Disability in Twentieth-Century German Culture, Ann Arbor 2007, 152-230. 5 | Noch gibt es keine hinreichende geschichtswissenschaftliche Darstellung der Aktion Sorgenkind/Aktion Mensch e.V. Eine erste Orientierung bietet Dieter Gutschick/Udo Hartung: 25 Jahre Deutsche Behindertenhilfe Aktion Sorgenkind e.V. Bilanz und künftige Aufgabenschwerpunkte im Bereich Beschäftigung und Arbeit behinderter Menschen, in: Soziale Arbeit 38 (1989), H. 10/11, 407-412. 6 | Siehe Satzung des Vereins Aktion Sorgenkind, Fassung vom 9.9.1976, Archiv der Aktion Sorgenkind (im Folgenden AAS), AB-1-2007-22/1.
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D IE G RÜNDUNGSPHASE : 1964 BIS M IT TE 1970 ER J AHRE Anfang der 1960er Jahre erschütterte der sogenannte Contergan-Skandal die bundesrepublikanische Öffentlichkeit und führte zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Situation von Menschen mit Behinderung in der Wohlstandsgesellschaft.7 Angesichts des Skandals, der ihn begleitenden medialen Öffentlichkeit und der Ausbreitung des Wissens um die schlechte Versorgungslage von Menschen mit Behinderungen entschlossen sich die Verantwortlichen des ZDF, eine Fernsehlotterie zugunsten behinderter Kinder ins Leben zu rufen.8 Die Aufgabe der Aktion Sorgenkind bestand nicht darin, eigene Einrichtungen zu gründen. Vielmehr förderte sie die bereits bestehenden Institutionen der an der Initiative mitwirkenden Wohlfahrtsverbände und Betroffenengruppen, indem sie diesen zusätzliche Gelder etwa für Modernisierungsmaßnahmen oder Erweiterungsbauten zur Verfügung stellte. Diese Gelder kamen aus zwei Quellen: zum einen aus der Wohltätigkeitslotterie, die mit einer Fernsehshow – einer Art Ratequiz – verbunden war, in der für den Kauf von Lotterielosen geworben wurde. 1964 ging erstmals Vergißmeinnicht mit Peter Frankenfeld auf Sendung, später hießen die Unterhaltungsshows Drei x Neun, dann Der Große Preis mit Wim Thoelke. Die zweite Quelle der Gelder waren Spenden, die unabhängig von der Lotterie an die Aktion gegeben wurden. Um Spendengaben wurde vor allem in kürzeren Sendungen unter dem Titel Bilanz der guten Taten bzw. Beispiele guter Taten (später hieß die Sendung zunächst Die große Hilfe und dann Danke schön … die Aktion Sorgenkind berichtet) gebeten, die im Anschluss an die Rateshow ausgestrahlt wurden. Analysiert man die in dieser ersten Phase produzierten Fernsehsendungen und Informationsmaterialien hinsichtlich der Aussagen, die da7 | Die schädigende Wirkung des 1957 eingeführten Schlafmittels Contergan führte allein in Deutschland zur Geburt von etwa 4.000 bis 5.000 Kindern mit Dysmelien. Zu Contergan siehe z.B. Willibald Steinmetz: Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre, in: Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik, Göttingen 2003, 195-228. In der Nachkriegszeit waren es zunächst vor allem die Kriegsbeschädigten gewesen, die das Bild von Behinderung in der Öffentlichkeit geprägt hatten, vgl. dazu Wilfried Rudloff: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 3: Günther Schulz (Bandhg.): Bundesrepublik Deutschland 1949-1957: Bewältigung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität, Baden-Baden 2005, 517-557. 8 | Zu den Fernsehlotterien siehe Hans Mohl: Milliarden für den guten Zweck. Eine Bilanz der Fernsehlotterien und Spendenaktionen, in: Hans Dieter Erlinger/ Hans-Friedrich Folin (Hg.): Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4: Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme, München 1994, 313-325.
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rin über geistige und körperliche Behinderungen gemacht wurden, so muss man die Ambivalenz dieser Gründungsphase herausstreichen.9 Zunächst einmal machte die Aktion Sorgenkind auf das Problem der Vernachlässigung einer ganzen Bevölkerungsgruppe aufmerksam und deckte die teilweise katastrophalen Zustände in den Einrichtungen bzw. die fehlende Unterstützung von Familien mit behinderten Kindern auf. In einer 1966 publizierten Broschüre, die über die Arbeit der Initiative informierte, wurden die Bedingungen in vielen Heimen, deren Überfüllung sowie schlechte und überalterte Ausstattung angeprangert.10 Auch wurde die mangelhafte Infrastruktur für Menschen mit Behinderungen beklagt. Hingewiesen wurde auch auf das Fehlen sowohl von Einrichtungen wie »Sonderkindergärten, Sonderschulen, Tagesstätten und Beschützende[n] Werkstätten«11 als auch von Therapiemöglichkeiten, Rehabilitationsmaßnahmen und ausgebildetem Personal. Eingefordert wurden dagegen Maßnahmen, die unter dem Stichwort ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ einen fördernden Umgang favorisierten. Unterstützt werden sollten »alle Fertigkeiten, die zu dem individuell höchstmöglichen Maß an Unabhängigkeit von Pflege und Hilfe beitragen«,12 und dies unter Anwendung neuester therapeutischer Methoden. Als Ziel der Maßnahmen galt die Integration von Menschen mit Behinderungen in die ›allgemeine‹ Bevölkerung; insbesondere das Einfinden in den Arbeitsprozess wurde als wichtig erachtet.13 Darüber hinaus wandte sich die Öffentlichkeitsarbeit der Aktion Sorgenkind nach eigenen Angaben gegen vorherrschende »Vorurteile« und »Verständnislosigkeit«14 gegenüber behinderten Menschen, die zu Außenseitern abgestempelt würden. Auch Mitleid als Reaktion von nichtbehinderten Menschen wurde zumindest in einigen Veröffentlichungen als unangebracht kritisiert: Nicht Mitleid, sondern Empathie sollte das 9 | Diese Darlegung beruht auf der Durchsicht von Broschüren und Sendeprotokollen, die in dieser Phase entstanden sind. Einzelnachweise erfolgen in späteren Fußnoten. 10 | Siehe die Beispiele in der Broschüre »Sorgenkinder unter uns«, [wahrscheinlich 1966], 7, AAS, AB-1-2007-436. 11 | Faltblatt »Aktion Sorgenkind«, 1968, [nicht paginiert], AAS, AB-1-2007436. 12 | Hans Mohl: Manuskript »Aufklärung und Information im Dienste der Integration Behinderter. Möglichkeiten und Grenzen des Fernsehens«, 1979, 9, AAS, AB1-2007-423. 13 | Dies und Folgendes in: Broschüre »Sorgenkinder unter uns«, [wahrscheinlich 1966], 14, AAS, AB-1-2007-436. Allgemein wurden in der Nachkriegszeit unter Hilfen für Behinderte vor allem Maßnahmen zur Erwerbsförderung verstanden, siehe dazu Elsbeth Bösl: Integration durch Arbeit? Westdeutsche Behindertenpolitik unter dem Primat der Erwerbstätigkeit 1949-1974, in: Traverse 13 (2006), H. 3, 113-124. 14 | Broschüre »Sorgenkinder unter uns«, [wahrscheinlich 1966], 12, AAS, AB1-2007-436.
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Movens für Hilfe sein. Offen wurde zudem auf die besondere Verantwortung hingewiesen, die in Deutschland aus den nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen erwachsen sei. Somit sah sich die Aktion Sorgenkind auch als Aufklärungsinstanz, die die Gesellschaft »wachrüttel[n]«15 und ihr die »eigene Mitverantwortung für Behinderte« aufzeigen wollte. Ihr ging es darum, die Integration in die Gesellschaft zu fördern und dazu beizutragen, Barrieren und Berührungsängste zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen abzubauen: »Ziel: Nicht Mitleid erzeugen, sondern Verständnis wecken, Brücken schlagen, Barrieren abbauen. Diesen Prozeß in Gang zu bringen, ist eine Herausforderung […].«16 Abbildung 1: Foto eines contergangeschädigten Jungen aus der Broschüre Sorgenkinder unter uns [1966], AAS, AB-1-2007-436.
Das in den Informationsmaterialien dieser ersten Phase reproduzierte Bildmaterial, auf dem beispielsweise contergangeschädigte Kinder beim Spiel gezeigt wurden, war für damalige Verhältnisse weder elendspornografisch17 noch sensationsheischend. Sicherlich reproduzierte diese Darstellung das traditionelle Klischee des Behinderten, der das ihm vom Schicksal zugemutete Defizit heroisch durch Leistung auszugleichen trachtet, dennoch rekurrierte sie nicht auf das ebenfalls virulente Stereotyp des hilflosen, bemitleidenswerten Opfers, das zu Passivität verdammt ist. Und dass überhaupt Bilder von Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen in Broschüren und im Fernsehen gezeigt wurden und 15 | Dieses und folgendes Zitat aus: Hans Mohl: Manuskript »Beispiele guter Taten – ferngesehen«, 1972, 1, AAS, AB-1-2007-424. 16 | Broschüre »10 Jahre Aktion Sorgenkind«, 20.9.1974, 45, AAS, AB-1-200722/5. 17 | Zum Begriff der »Pornografie des Elends« vgl. Manfred Liebel/Andreas Wagner: Kolonialismus der Wohltätigkeit, in: Sozial extra 10 (1986), Nr. 9, 16-31, hier 18.
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damit die Existenz einer in der Nachkriegszeit kaum in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden sozialen Gruppe ins visuelle Bewusstsein der Bevölkerung gerückt wurde, war damals innovativ und zukunftsweisend. Insofern sorgte die Initiative also in dieser frühen Phase, die man als die anklagend-aufklärerische bezeichnen könnte, für eine größere Aufmerksamkeit hinsichtlich der Probleme von Menschen mit Behinderungen und übte damit indirekt Druck auf politische Entscheidungsträger aus, die Situation der Betroffenen zu verbessern. Doch das in dieser Phase transportierte Bild von Behinderung war zutiefst ambivalent: Auf der einen Seite stand das bereits benannte Aufklärungsanliegen, auf der anderen Seite kamen in dieser ersten Phase aber auch deutlich exkludierende Züge zum Tragen. In der bereits erwähnten Broschüre aus dem Jahr 1966 wurden behinderte Kinder als »Last« für ihre Eltern und die Geburt eines behinderten Kindes als »Unglück« beschrieben.18 Entgegen anderer Äußerungen wurde auch Mitleid als wesentliches Motiv für Hilfe interpretiert und gefördert.19 Eindeutig favorisiert wurde die Separierung von Menschen mit Behinderungen aus der ›normalen‹ Umgebung durch Unterbringung in Heimen oder sogenannten Beschützenden Werkstätten. Der »Vorteil des Zusammenlebens mit ähnlich geschädigten Kindern«20 unter Betreuung von Experten, die besser als die Eltern in der Lage seien, die Kinder zu fördern, wurde betont. Diese Vorstellungen wiederum koinzidierten und verstärkten jene Vorstellungen von und Einstellungen zu Behinderung, die zur damaligen Zeit in der bundesrepublikanischen Bevölkerung weit verbreitet waren. Zudem ging man davon aus, dass behinderte Menschen von der restlichen Gesellschaft separiert werden sollten. Hilfe, auch spendenfinanzierte Hilfe, sei zwar sinnvoll, aber eben nur aus der sowohl räumlichen als auch sozialen Distanz heraus.21 Diese Forderungen standen zu den gleichzeitig formulierten Appellen für die gesellschaftliche Integration von behinderten Menschen in deutlichem Widerspruch, was die Ambivalenz dieser Phase verdeutlicht. Die exkludierende Wirkung der Aktion Sorgenkind lässt sich insbesondere anhand der Quizsendungen erkennen, in denen Menschen mit Behinderungen ebenso selten vorkamen wie in den Werbungen für die Lotterie. Vielmehr wurde das Thema in die sich anschließenden Infor18 | Broschüre »Sorgenkinder unter uns«, [wahrscheinlich 1966], [nicht paginiert], AAS, AB-1-2007-436 [Vorwort des Bundesministers für Familie und Jugend Bruno Heck]. 19 | Broschüre »10 Jahre Aktion Sorgenkind«, 20.9.1974, 45, AAS, AB-1-200722/5. 20 | Broschüre »Sorgenkinder unter uns«, [wahrscheinlich 1966], 15, AAS, AB1-2007-436. 21 | Siehe dazu auch Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009, 9295.
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mationssendungen verbannt, sodass die Sphäre der Unterhaltung für die Allgemeinheit von der Sphäre der Behinderten getrennt blieb. Doch selbst dort, wo über die Initiative selbst berichtet wurde, standen die Menschen mit Behinderung meistens nicht im Zentrum. Der Schwerpunkt der Informationssendungen lag auf den Einrichtungen, die Finanzhilfen erhalten hatten. Erwähnt wurden zudem besonders hohe Spendengaben, oder man berichtete über Aktionen, mit deren Hilfe Spenden für die ›Sorgenkinder‹ gesammelt worden waren. Behinderte Menschen wurden gezeigt, wenn es darum ging, die Notwendigkeit der Hilfe zu betonen oder den Erfolg der Finanzierungsmaßnahmen zu belegen. Sie kamen aber nicht selbst zu Wort und waren somit lediglich Objekte der Spendenaufforderung, nicht deren Autoren. Die Abwesenheit von behinderten Menschen und Behinderung in den Quizsendungen erklärt sich aus der Grundsatzentscheidung der Aktion, Gelder über Lotterie- und Spendeneinnahmen zu akquirieren und dies mit einer Unterhaltungssendung zu verbinden. Dem Unterhaltungscharakter wäre, so wohl die vorherrschende Meinung, eine Darstellung von Behinderung abträglich gewesen. Die durch den Showmaster Wim Thoelke und seine Vorgänger betriebene Werbung für den Kauf der Lotterielose appellierte an die Hoffnung der Zuschauer, einen Gewinn zu erzielen und nicht an deren Bereitschaft, behinderten Menschen Hilfen zukommen zu lassen – so wie generell Wohltätigkeitslotterien nicht auf den Altruismus der potenziellen Käufer zielen, sondern auf deren Wunsch nach einem glücklichen Geldsegen. Auch unter diesem Aspekt wäre die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in die Quizsendung aus damaliger Sicht dysfunktional gewesen. Die sich anschließenden Features Bilanz der guten Taten hatten die Aufgabe, neben dem Absatz der Lose vor allem die Spendeneinnahmen zu steigern. Daher standen die Spender und Spenderinnen im Zentrum der Sendung, nicht die behinderten Menschen. Denn Spendenwerbung hat generell drei Funktionen:22 Sie muss erstens um Vertrauen werben, also Sicherheit beim Spender hervorrufen, dass die gespendeten Gelder auch tatsächlich für den angegebenen Zweck ausgegeben werden. Daher zeigten die Sendungen die mit Hilfe der Spenden und Lotterieeinnahmen renovierten Heime oder die angeschafften Fahrzeuge. Menschen mit Behinderung kamen vor allem dann ins Bild, wenn an ihnen die positiven Wirkungen der spendenfinanzierten Maßnahmen demonstriert werden konnten, wie an diesem Bildbeispiel zu sehen ist.
22 | Einführend zu Formen und Funktionen der Spendenwerbung: Marita Haibach: Handbuch Fundraising. Spenden, Sponsoring, Stiftungen in der Praxis, Frankfurt a.M. 1998. Zur Geschichte des Spendenwesens in der BRD siehe Gabriele Lingelbach: Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die frühen 1980er Jahre, Göttingen 2009.
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Abbildung 2: Foto aus der Broschüre Sorgenkinder unter uns [1966], AAS, AB-1-2007-436.
Neben der Vertrauenswerbung hat Spendenwerbung zweitens den Zweck, den bisherigen Spendern und Spenderinnen zu danken, denn bei Spenden an intermediäre Instanzen kann der Spendenempfänger dem Gebenden seinen Dank für die geleistete Hilfe nicht selbst aussprechen. Daher muss die vermittelnde spendensammelnde Instanz als Reziprozitätssubstitut einspringen, um die Spendengabe zu einem positiven Erlebnis für die Spender werden zu lassen.23 Die Kurzsendungen über die Arbeit der Aktion Sorgenkind trugen diesem Aspekt des Spenderdanks Rechnung: Gekürt wurden sowohl die originellste als auch die größte Spende des Monats; beide wurden in den entsprechenden Berichtssendungen ausführlich dargestellt, zudem verwies die Aktion Sorgenkind auf die Dankbarkeit der Spendenempfänger.24 Drittens geht es in Spendenwerbungen 23 | Zur Theorie der Reziprozität der Gabe siehe Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1968, zuerst erschienen unter dem Titel Essai sur le don, in: L’Année Sociologique (1923/1924); Frank Adloff/Steffen Mau (Hg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt a.M. 2005. 24 | Vierseitiges Faltblatt »Aktion Sorgenkind«, 1970, [nicht paginiert], AAS, AB1-2007-436; Zitat aus Hans Mohl: Manuskript »Beispiele guter Taten – ferngesehen«, 1972, 5, AAS, AB-1-2007-424.
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auch darum, die Spendeneinnahmen zu steigern, indem man auf Nachahmungseffekte zielt und bisherige Nichtspender zum Spenden animiert. Daher wurden in den Kurzsendungen immer wieder Spendensammelaktionen vorgestellt, um die Zuschauer und Zuschauerinnen daheim an den Bildschirmen zu motivieren, sich Ähnliches einfallen zu lassen. Ein Anreiz war die potenzielle Veröffentlichung der Spendenaktion in den besagten Sendungen als soziale Anerkennung für die geleistete Hilfe. Alle drei Ziele, die mit den Fernsehsendungen und auch den Informationsmaterialien angestrebt wurden, bewirkten, dass in der Öffentlichkeitsarbeit diejenigen im Mittelpunkt standen, die Lose kauften oder Geld spendeten, während behinderte Menschen nur selten vorkamen. Und wenn, dann war ihre Darstellung nur das Mittel zum Zweck. Somit trug die Aktion Sorgenkind dazu bei, Menschen mit Behinderungen zu Objekten von Fürsorge zu stilisieren und konterkarierte damit die anfangs erwähnte Aufklärungsintention. Insgesamt zeigte sich, dass die Grundsatzentscheidung, Gelder aus Spenden und Lotterien einzunehmen, der Außendarstellung bestimmte Funktionslogiken aufzwang: Dem Ziel, Losabsatz und Spendeneingänge zu steigern, ordnete die Initiative die Darstellung von behinderten Menschen unter. Letztlich musste der Anspruch, durch Aufklärungsarbeit die Integration eben dieser Personengruppe in die Gesellschaft zu fördern, hinter dem Werbeaspekt zurück stehen. Die Instrumentalisierung von behinderten Menschen spiegelte sich ebenfalls in den Spendensammelaktionen wider, in denen in der frühen Phase die Betroffenen wiederum allenfalls indirekt vorkamen. In großem quantitativen Umfang wurden im öffentlichen Raum Aktionen durchgeführt, bei denen Nichtbehinderte sportliche Aktivitäten oder spektakuläre Tätigkeiten vollführten, um dabei Spendengelder einzusammeln.25 Auch bei diesen Aktionen standen die Nichtbehinderten im Vordergrund, denn diese Aktivitäten hatten nicht nur den Zweck, Gelder für ›Bedürftige‹ zu sammeln, vielmehr hatten sie sowohl einen Erlebnis- und Unterhaltungswert als auch einen Gemeinschaft stiftenden Charakter für die Beteiligten.26 Außerdem hofften diejenigen, die sich in der Öffentlichkeit engagierten, auf einen Zugewinn an Sozialprestige. Somit wurden Menschen mit Behinderungen für die Interessen der Nichtbehinderten instrumentalisiert; zugleich wurde die Trennung der Sphären zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen bestätigt und zementiert.
25 | Vgl. Freunde boxten für die ›Aktion Sorgenkind‹, in: Bild, 24.1.1967; Hilfsaktion mit einem bunten Abend. Schüler sorgen für Sorgenkinder, in: Berliner Zeitung, 27.11.1968; Privater Einsatz für die ›Aktion Sorgenkind‹ überrundet Peter Frankenfelds Fernsehshow: Das Geld liegt auf der Straße, in: HörZu, 17.5.1969. 26 | Vgl. zu diesem Aspekt auch Sigrid Baringhorst: Politik als Kampagne. Zur medialen Erzeugung von Solidarität, Opladen 1998.
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K RISENJAHRE : M IT TE DER 1970 ER BIS FRÜHE 1980 ER J AHRE Ende der 1970er Jahre geriet die Aktion Sorgenkind auf mehreren Ebenen in eine Krise. Zu den problematischen Entwicklungen gehörte, dass die Spenden- und Lotterieeinnahmen seit den späten 1970er Jahren zu sinken begannen.27 Als Grund für den Rückgang wurde der wachsende Konkurrenzdruck auf dem Spendenmarkt angeführt, auf dem immer mehr Organisationen um Geld für wohltätige Zwecke baten.28 Zudem wurde auf die Problematik hingewiesen, dass immer mehr Menschen der Meinung waren, »dass in der Arbeit der Aktion Sorgenkind mittlerweile ein gewisser Sättigungsgrad erreicht ist und von daher eine finanzielle Unterstützung durch die Vergabe von Spenden weniger notwendig geworden ist«.29 Ein zweites Krisenmoment trat Ende der 1970er Jahre hinzu: Die Initiative drohte ihre Existenzberechtigung zu verlieren. Nach einer Phase des intensiven Ausbaus des Wohlfahrtsstaats übernahm die staatliche Sozialpolitik zunehmend jene Aufgaben, derer sich die Aktion Sorgenkind angenommen hatte.30 Je mehr staatlicherseits für die Klientel der Organisation getan wurde, desto eher drohte die Gefahr, dass sich der Erfolg der Sensibilisierungsarbeit gegen sie selbst wenden und sie zunehmend entbehrlich machen könnte. Da aber alle gemeinnützigen Institutionen nicht nur um ihr Anliegen, sondern auch um ihre Persistenz besorgt sind, kann der in dieser Phase erfolgende Vorstoß der Aktion Sorgenkind zur Erweiterung des eigenen Aktionsradius auch als versuchte Antwort auf diese Krise interpretiert werden.
27 | Manuskript ohne Autor »Kritische Analyse der ›Aktion Sorgenkind‹ – Spendeneinnahmen«, [nicht datiert], AAS, AB-1-2008-21. Die Spendeneingänge brachen von 16,8 Millionen DM im Jahr 1979 auf 10,2 Millionen im Jahr 1982 ein (Zahlenangaben gerundet). 28 | Protokoll der Klausurtagung der AS, 8.6.1983, AAS, Ordner ›Ausschüsse … 8.6.1983‹. 29 | Manuskript ohne Autor »Kritische Analyse der ›Aktion Sorgenkind‹Spendeneinnahmen«, [nicht datiert], AAS, AB-1-2008-21. 30 | Zur Entwicklung der sozialpolitischen Maßnahmen für behinderte Menschen in den 1960er und 1970er Jahren siehe Wilfried Rudloff: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5: Hans Günter Hockerts (Bandhg.): Bundesrepublik Deutschland 1966-1974: Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden 2005, 559-591; Ders./Ferdinand Schliehe: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 6: Martin H. Geyer (Bandhg.): Bundesrepublik Deutschland 1974-1982: Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten, Baden-Baden 2008, 585-604.
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1977 wurden die ersten Pläne erarbeitet, um neben der Akquise und Verteilung von Lotterie- und Spendengeldern ein weiteres Aufgabengebiet zu definieren: die Präventionsaufklärung, also die Verbreitung von Informationen über Vorsorgemaßnahmen.31 Gefördert wurden nun Maßnahmen der pränatalen Vorsorge wie die genetische Beratung werdender Eltern und die Aufklärung über Gefährdungspotenziale für die Gesundheit des Embryos.32 Allerdings transportierte Aktion Sorgenkind damit ein Bild von Behinderung in die Öffentlichkeit, das den Schwerpunkt auf deren angeblich wünschenswerte Vermeidbarkeit legte. Nicht die Integration von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft und die Verbesserung ihrer sozialen Situation, sondern die »Verhinderung […] von Behinderungen«33 stand im Zentrum der Präventionskampagne. Dieser eugenische Blick beinhaltete dementsprechend ein negatives Bild von Behinderung. Transportiert wurde die Botschaft, dass ein behindertes Kind eine Belastung für die Eltern und die Gesellschaft sei, eine Belastung, der es auszuweichen gelte. Damit korrespondierte, dass entgegen der allgemeinen Tendenz in der Öffentlichkeitsarbeit der Aktion Sorgenkind die Vorsorgeinitiative auch in der bildlichen Repräsentation von Behinderung auf denunziatorische und sensationalistische Rhetoriken zurückgriff, etwa wenn mit dem Bild eines durch den Alkoholkonsum seiner Mutter vorgeburtlich geschädigten Kindes Schwangere vom Alkoholgenuss abgehalten werden sollten. Diese Rhetorik war angesichts des Missbrauchs von Darstellungen von behinderten Menschen im Rahmen der NS-Propaganda besonders problematisch.34 Insgesamt konterkarierte die eugenische Schwerpunktsetzung das Aufklärungsanliegen, das die Öffentlichkeitsarbeit der Aktion 31 | 1979 begann das Programm nach kontroversen Diskussionen. Eine Darstellung der Aktivitätsschwerpunkte der Vorsorge-Initiative in: Statement von Hans Mohl beim AS-Pressegespräch vom 14.4.1983, AAS, AB-1-2007-421. 32 | Siehe dazu unter anderem die Aktennotiz über die Besprechung am 19.10.1977 in der Bundeszentrale der Lebenshilfe in Marburg zur Vorbereitung auf die Kommissionssitzung »Prävention« der AS, AAS, AB-1-2007-421. Zur Pränataldiagnostik siehe auch Anne Waldschmidt: Risiken, Zahlen, Landschaften. Pränataldiagnostik in der flexiblen Normalisierungsgesellschaft, in: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum/Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. (Hg.): Der [im]perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit. Begleitbuch zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vom 20.12.2001-12.8.2002, Ostfildern-Ruit 2001, 95-107. 33 | Presseinformation der Vorsorge-Initiative der AS, 20.2.1979, AAS, AB-12007-421. 34 | Zur Eugenik-Propaganda im Plakat während des Nationalsozialismus siehe unter anderem Poore (2007), 89-108; für die Filmpropaganda siehe Karl Heinz Roth: Filmpropaganda für die Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im ›Dritten Reich‹; in: Götz Aly (Hg.): Reform und Gewissen. ›Euthanasie‹ im Dienst des Fortschritts, Berlin 1985, 125-190.
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Sorgenkind ansonsten auszeichnete. Wieder zeigte sich, dass die Funktionslogiken der Institution – hier: die Persistenzsicherung – den wertedefinierten Aufklärungszielen widersprachen. Abbildung 3: Foto aus einer Presseinformation der VorsorgeInitiative der Aktion Sorgenkind (Mai 1983), AAS, AB-1-2007-421.
Ein weiteres Krisenmoment entwickelte sich daraus, dass einige Betroffenengruppen sowie die entstehende Behindertenbewegung begannen, massive Kritik an der Aktion Sorgenkind zu üben.35 Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich das Selbstverständnis seitens der Betroffenen änderte, Menschen mit Behinderungen zunehmend auf Emanzipation von der althergebrachten Fürsorge drängten und der Ruf nach gesellschaftlicher und beruflicher Gleichbehandlung immer lauter wurde, geriet die Aktion als Repräsentantin der traditionellen Behindertenpolitik ins Kreuzfeuer der Kritik. Dies geschah auf mehreren Ebenen. Zunächst einmal forderten Betroffenengruppen eine Korrektur der bislang betriebenen Förderpolitik, da, so der Vorwurf, die von der Organisation teilfinanzierten Einrichtungen die Separierung der Behinderten von der restlichen Gesellschaft verstärken würden. Mit Hilfe der Spendengelder baue man »goldene 35 | Zu den Selbsthilfeorganisationen und zur ›Krüppelbewegung‹ vgl. Poore (2007), 273-288.
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Ghettos«,36 verhindere eine familiennahe Betreuung, fördere das ›Abschieben‹ von behinderten Menschen in Heime anstatt die Integration voranzubringen.37 Des Weiteren stellten Kritikerinnen und Kritiker die Konstruktion der Aktion Sorgenkind als Wohltätigkeitslotterie und spendenfinanziertes Non-Profit-Unternehmen in Frage. Nicht die Behinderten, sondern die Loskäufer und Spender und deren Interessen stünden im Mittelpunkt: Der Kauf eines Loses oder die Überweisung einer Spende sei – so der Vorwurf – die »unpersönlichste Form unpersönlicher Hilfe« und diene allein der »Gewissensberuhigung«.38 Die Spenderinnen und Spender kauften sich von der Verpflichtung zu persönlichen Integrationsbemühungen frei und hielten – so der implizite Tadel – dennoch an ihrem diskriminierenden Alltagsverhalten fest.39 Zudem wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Aktion den Behinderten selbst keine Artikulationsmöglichkeiten böte. Nur selten frage man die Betroffenen, ob die geförderten Maßnahmen wirklich in ihrem Sinne seien. Doch solange diese ihren Vorstellungen keinen Ausdruck verleihen könnten, werde der Anspruch der Aktion Sorgenkind, Aufklärungsarbeit zu leisten, nicht eingelöst. Ein letztes Bündel von Kritikpunkten betraf das Bild, das die Initiative in der Öffentlichkeit von Menschen mit Behinderung zeichnete. Dabei war es vor allem der Name der Organisation, der von den Betroffenen zunehmend als diskriminierend empfunden wurde. Nicht nur assoziiere er behinderte Menschen pauschal mit dem Begriff der ›Sorge‹, vielmehr infantilisiere er sie in illegitimer Weise, rekurriere auf das Stereotyp der Hilflosigkeit und verhindere so, dass man sie als gleichwertige Mitmenschen akzeptiere. Er impliziere zudem die paternalistische Bevormundung durch Funktionäre und Spender, die selbst nicht behindert seien. So hieß es in einem Schreiben an die Aktion Sorgenkind: 36 | So die Kritik resümierend: Manuskript von Karlheinz Brendel: Die Aktion Sorgenkind, [evtl. September 1979], 8a, AAS, AB-1-2007-423. 37 | Ekkehard von Ketelhodt: Spenden – oder helfen? ›Aktion Sorgenkind‹ – Versuch einer Bilanz, Zeitungsausschnitt ohne Angabe der Zeitung, 13./14.10.1979, Pressedokumentation des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (Berlin). 38 | Manuskript von Karlheinz Brendel: Die Aktion Sorgenkind, [evtl. September 1979], 7, AAS, AB-1-2007-423. 39 | Die Kritik traf durchaus zu: In einer vom Allensbacher Institut 1980 durchgeführten Befragung gaben auf die Frage, in welcher Form sie Menschen mit Behinderungen helfen würden, 65 Prozent der Befragten an, sie würden ein Los der Aktion Sorgenkind kaufen, 45 Prozent, sie würden Geld spenden, aber nur 35 Prozent meinten, sie würden ein Heim für Behinderte besuchen, 27 Prozent einen Autoausflug mit einem behinderten Menschen machen und nur elf Prozent einen Körperbehinderten pflegen. Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach: Behinderung. Die Aufgeschlossenheit der Bevölkerung für dieses Thema, 1980, 14, AAS, AB-12007-423. Siehe auch Ernst Klee: Rent-a-Spasti?, in: Die Zeit, 19.12.1975.
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G ABRIELE L INGELBACH »Wir möchten Sie doch darum bitten, in Zukunft in Ihren Sendungen auf Wörter wie ›Schützlinge‹ und ›Sorgenkinder‹ zu verzichten. […] Um Behinderten […] wirklich helfen zu können, genügt es nicht, Mitleid zu erwecken. Wir wollen akzeptiert werden, nicht bemitleidet, und nicht weiter unsere Außenseiterposition beibehalten. Zu diesem Zweck ist es aber auch erforderlich, dass man uns als vollwertige, gleichberechtigte Menschen anerkennt und behandelt.« 40
Letztlich – so kulminierte der Vorwurf – führe die Existenz der Initiative dazu, dass sie »den Interessen Behinderter mehr [schade], als sie ihnen nütze, statt den Abbau von Vorurteilen, Scheu und Verkrampfungen bei Nichtbehinderten zu fördern, zementiere die Aktion Sorgenkind die Einstellung, dass Behinderte als Problemfälle, Außenseiter, keinesfalls aber als vollwertige Mitbürger akzeptiert werden«.41 Sicherlich trugen einige Kritikerinnen und Kritiker ihre Argumente überzogen vor und missachteten auch die Verdienste, die die Organisation durchaus vorzuweisen hatte, sicherlich stellten zudem die vehementen Gegner auch nur eine Minderheit unter den Betroffenen dar, doch im Kern trafen die Vorwürfe den wunden Punkt: Die Aktion Sorgenkind unterwarf sich den Funktionslogiken von (Spenden-)Werbung und Mediendarstellung und setzte Mittel ein, die den Zweck – Hilfe für behinderte Menschen auch in Form von gesellschaftlicher Integration mit dem Ziel gleichberechtigter Akzeptanz – konterkarierten. Das Dilemma zwischen den wertebezogenen Zielsetzungen einerseits und den Funktionslogiken eines marktorientierten, auf Spenden angewiesenen Unternehmens andererseits kann anhand der Diskussion über die Namensgebung gut nachvollzogen werden. Zwar erkannte die Leitung der Organisation die vorgebrachte inhaltliche Kritik an, führte aber ein instrumentelles, auf ökonomische Effizienzkriterien ausgerichtetes Argument dagegen an. So schrieb etwa der ZDF-Redakteur Hans Mohl an eine Gruppe junger Kritikerinnen und Kritiker: »Ich verstehe Ihre Vorbehalte sehr gut, verstehe Ihre Schwierigkeiten, die Sorgen. Andererseits sollten wir aber nicht vergessen, welch ungeheuer starke Welle des Mitgefühls und der Mitverantwortung gerade auch der Titel ›Aktion Sorgenkind‹ geweckt hat. […] Ich hielte […] eine Namensänderung für einen schweren Fehler, der den finanziellen und den ideellen Erfolg erheblich mindern könnte.« 42
40 | Brief [anonymisiert, d.Verf.] an die Aktion Sorgenkind, 9.12.1974, AAS, AB1-2007-426. 41 | So die Zusammenfassung der Kritik durch die Veranstalter einer Meinungsumfrage: Institut für Demoskopie Allensbach: Behinderung. Die Aufgeschlossenheit der Bevölkerung für dieses Thema, 1980, 19, AAS, AB-1-2007-423. 42 | Brief Hans Mohl an eine Gruppe Kritiker [anonymisiert, d.Verf.], 26.10.1973, AAS, AB-1-2007-262.
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Hinter dem Festhalten an dem Namen stand nicht nur die Tatsache, dass es sich bei der Aktion Sorgenkind um ein allseits bekanntes »Markenzeichen«43 handelte, dessen Änderung tatsächlich die Gefahr bedeutet hätte, wegen des fehlenden Wiedererkennungseffekts zu Mindereinnahmen bei den Lotterieerlösen und den Spenden zu führen. Vielmehr wollte man den Begriff ›… kinder‹ auch deswegen nicht aufgeben, weil er im Spendenbereich einen enormen Wettbewerbsvorteil bedeutete.44 Denn für Kinder gilt die Unschuldsvermutung: Sie können für ihr eigenes Schicksal nicht verantwortlich gemacht werden und haben sich nicht selbst in ihre missliche Lage gebracht. Sie sind die ›würdigsten‹ unter den ›würdigen Armen‹ und wecken zudem Hilfs- und Beschützerinstinkte, die den Spenderinnen und Spendern ein stärkeres Gefühl von Macht und Machbarkeit vermitteln als bedürftige Erwachsene. Als spendensammelnde Organisation stellte sich die Aktion Sorgenkind auf diese Spenderpräferenz ein, indem sie ihre Hilfen und Werbung auf behinderte Kinder fokussierte, obwohl die Unterversorgung mit Einrichtungen und Hilfen keineswegs nur diese, sondern auch behinderte Erwachsene betraf. Nicht zuletzt waren auch die Opfer der Contergan-Katastrophe mittlerweile keine Kinder mehr. Insgesamt spitzte sich in der zweiten Phase der Öffentlichkeitsarbeit der Zielkonflikt aus der Gründungsphase weiter zu, indem zunehmend deutlich wurde, dass das moralisch definierte Anliegen, adäquate Hilfe zu gewähren und Aufklärungsarbeit zu leisten, in einem unauflösbaren Widerspruch zur angestrebten Steigerung der Spenden- und Lotterieeinnahmen stand.
L ERN - UND U MORIENTIERUNGSPROZESSE : F RÜHE 1980 ER BIS 1990 ER J AHRE Trotz der anfänglichen Abwehrreaktionen wurde den Verantwortlichen der Aktion Sorgenkind bald klar, dass man die Kritik nicht ignorieren bzw. mit wenig überzeugenden Argumenten beiseite wischen konnte. Doch war es keinesfalls allein die Kritik von außen, die den nun einsetzenden Wandel auslöste, vielmehr müssen in erster Linie auch organisationsinterne Faktoren genannt werden, die die Umorientierung der Organisation vorantrieben und dazu führten, dass die Aktion seit den frühen 1980er Jahren ein neues, zukunftsweisendes Konzept entwickelte. Der Wandel fand auf mehreren Ebenen statt. Zunächst kann auf die Einbeziehung von Marketingexperten in die Reorganisationsbemühungen und eine Professionalisierung der PR-Arbeit hingewiesen werden.45 Zu 43 | Protokoll der Klausurtagung der AS, 8.6.1983, AAS, Ordner »Ausschüsse … 8.6.1983«. 44 | Siehe dazu Lingelbach (2009), 396-398. 45 | Zur Professionalisierung der Werbearbeit allgemein siehe Rainer Gries: Die Geburt des Werbeexperten aus dem Geist der Psychologie. Der »Motivforscher«
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diesem Maßnahmenpaket gehörte zunächst, dass das Allensbacher Institut im Auftrag der Organisation 1980 eine Umfrage durchführte, um die Einstellungen der Bevölkerung hinsichtlich des Themas ›Behinderung‹ zu eruieren.46 Des Weiteren wurden zwei Marketingfirmen beauftragt, sich über die Neukonzeptionierung der Öffentlichkeitsarbeit Gedanken zu machen. Die eine Firma, Benton&Bowles, riet dazu, »den berechtigten Forderungen der emanzipierten und emanzipationsfähigen Behinderten nach sozialer Integration Rechnung zu tragen«, aber zugleich auch die »Notwendigkeit spezieller Fördermaßnahmen und -einrichtungen [ für Schwerstbehinderte, d.Verf.] deutlich« zu machen.47 Außerdem solle sich die Aktion Sorgenkind stärker dem »Abbau von Vorurteilen und Verständnislosigkeit in der Öffentlichkeit« widmen und sich intensiver als zuvor im Bereich der Kontaktaufnahme zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen engagieren. Die PR-Firma riet der Aktion Sorgenkind insbesondere eine Namensänderung vorzunehmen: »Unter dem Stichwort ›Sorgenkind‹ kann sich einfach keine Einstellungsänderung im Sinne einer Gleichwertigkeit zwischen Behinderten und Nichtbehinderten vollziehen. Die Inhalte des Begriffs ›Sorgenkind‹ entsprechen weder dem heutigen Selbstverständnis der Behinderten noch der auf Integration gerichteten Zielsetzung der Aktion Sorgenkind.« 48
Mehr auf die Marktsituation ausgerichtet waren dagegen die Empfehlungen von J. Walter Thompson Public Relations, die betonten, die »Zielsetzung der Aktivitäten [dürfe] unter keinen Umständen defensiv, sie [müsse] auf jeden Fall selbstbewußt formuliert« sein – schließlich gebe es keinen Grund, die Initiative auf die Anklagebank zu setzen. Mit einer Umsetzung der Kritik (»mehr Information, weniger Unterhaltung«)49 riskiere man zudem einen Rückgang bei den Lotterie- und Spendeneinnahmen. Die PR-Agentur führte die Kritik an der Organisation vor allem auf Kommunikationsfehler und unprofessionelle Öffentlichkeitsarbeit zurück. Letzteres Argument griff die Aktion dadurch auf, dass sie zu
Ernest W. Dichter als Experte der Moderne, in: Hartmut Berghoff/Jacob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004, 353-375. 46 | Institut für Demoskopie Allensbach: Behinderung. Die Aufgeschlossenheit der Bevölkerung für dieses Thema, 1980, AAS, AB-1-2007-423. 47 | Benton & Bowles und Partner: Aktion Sorgenkind. Konzeption und Maßnahmenkatalog für Öffentlichkeitsarbeit, Juli 1981, 6, AAS, AB-1-2007-423. 48 | Ebd., 8. 49 | J. Walter Thompson Public Relations GmbH: Aktion Sorgenkind e.V. – Empfehlungen zu Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit, Juli 1981, 17, AAS, AB-12007-423.
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Beginn der 1980er Jahre eine eigene Pressestelle schuf.50 Diese intensivierte die Öffentlichkeitsarbeit erheblich, nicht nur, indem sie den Medien Vorlagen für Artikel zur Verfügung stellte, sondern auch, indem sie neues Informationsmaterial, darunter eine eigene Zeitung Aktion Sorgenkind aktuell entwickelte. Neben diesen Änderungen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit ging es aber auch um eine inhaltliche Neuausrichtung des eigenen Aktivitätsradius. Hier schien man sich eher an den Empfehlungen von Benton&Bowles zu orientieren. So wurden in der Förderpraxis viele der seit den späten 1970er Jahren geäußerten Kritikpunkte aufgegriffen. In der Außendarstellung wurde nun Wert darauf gelegt, herauszustreichen, dass die Aktion auch in bedeutendem Umfang familiennahe Einrichtungen fördere, die ambulante Hilfe vor Ort in den Vordergrund stelle und somit nicht ›Ghettos‹ und ›Abschiebeanstalten‹ fi nanziere, wie es der Organisation vorgeworfen worden war. Die Fernsehsendungen stellten nun geförderte Projekte vor, deren Konzeption darauf hinauslief, »behinderte Menschen am Leben in der Gesellschaft teilnehmen zu lassen«.51 Einige der neu ins Leben gerufenen Aktionen belegen zudem, dass sich die Organisation in zunehmendem Maße als Servicedienstleisterin und Dialogpartnerin für Menschen mit Behinderung zu begreifen begann. Dazu gehörte die 1981 erfolgte Einrichtung eines ›Infomobils‹, das von Stadt zu Stadt fuhr und vor Ort Beratungsmöglichkeiten bot. Zudem ging die Aktion Sorgenkind stärker als zuvor dazu über, soziale Kontakte zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen zu fördern. So beteiligte sie sich an der ›Aktion Treff 1981‹, durch welche »Begegnungen und Partnerschaften zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen«52 gefördert werden sollten. Die Arbeit – so ein Anfang der 1980er Jahre entworfener 10-Punkte-Plan53 – sollte darauf ausgerichtet sein, »die Eingliederung in die Gesellschaft, Freizeitmaßnahmen und Urlaubsmöglichkeiten« ins Zentrum zu stellen.54 Häufiger wurde nun auch an Nichtbehinderte appelliert, »nicht nur durch Loskauf oder Spende, sondern vor allem auch durch größere 50 | Siehe den Beschluss der Arbeitsgruppe »PR-Maßnahmen« vom 25.8.1981, AAS, Ordner »Ausschüsse, Arbeitsgruppen, PR-Maßnahmen«. 51 | Sendeprotokoll der Sendung Danke schön vom 1.3.1981, AAS, AB-1-2007448; siehe auch die eigenen Pressemeldungen z.B. Bildbericht des AS-Informationsdienstes »Ich möchte ganz normal akzeptiert werden« – Integration in der Schule, Februar 1983, AAS, AB-1-2008-23. 52 | Sendeprotokoll der Sendung Danke schön vom 24.4.1981, AAS, AB-1-2007448. 53 | Manuskript ohne Autor »Die Aktion Sorgenkind richtig gesehen – Hilfe zur Selbsthilfe«, Februar 1981, AAS, AB-1-2008-76. 54 | Das »10-Punkte-Programm«, in: J. Walter Thompson Public Relations GmbH: Aktion Sorgenkind e.V. – Empfehlungen zu Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit, Juli 1981, 12, AAS, AB-1-2007-423.
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Aufgeschlossenheit«55 die Integration von behinderten Menschen voranzubringen. Zu den Umorientierungsmaßnahmen gehörte nicht zuletzt, dass die Aktion Sorgenkind seit den frühen 1980er Jahren sukzessive den Kreis der zu fördernden Betroffenengruppen erweiterte: seit 1984/85 um Erwachsene mit körperlichen und geistigen Behinderungen sowie psychisch Kranke, darüber hinaus um von Behinderung bedrohte Menschen sowie weitere gefährdete Gruppen wie Kinder und Jugendliche in Obdachlosenunterkünften, Frauenhäusern und Strafanstalten sowie um suchtabhängige und verhaltensgestörte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.56 Dies war sicherlich auch eine Maßnahme zur Persistenzsicherung, da eine Zielgruppenverbreiterung auch eine Erweiterung des Aktionsradius bedeutete. Insgesamt aber kann festgehalten werden, dass die Förderpraxis eine neue Ausrichtung erhielt, die die von den Betroffenengruppen zuvor geäußerte Kritik aufnahm und umsetzte. Man bemühte sich von nun an um Partizipation, holte Kritik und Vorschläge von behinderten Menschen ein und beteiligte sie an der Neukonzeptionierung der Arbeit. Es ging nun unter anderem darum, »geistig behinderte Mitbürger gleichberechtigt in alle Überlegungen, Planungen und Entscheidungen einzubeziehen« und »nicht nur auf Expertenebene über die Köpfe der geistig Behinderten hinweg zu Klärungen zu kommen«.57 Insbesondere wollte man auch die Darstellung von Behinderung in der Öffentlichkeit neu ausrichten, um dem eigenen, nun offensiver verfolgten Aufklärungsanspruch gerecht zu werden. So wurden zunächst auf Arbeitstagungen Strategien entworfen, wie sich die Darstellung von Behinderung zu ändern habe, und es wurden Kriterien zur Beurteilung von Fernsehbeiträgen sowie Vorschläge für Themensetzungen entwickelt: »Sind die Behinderten einbezogen? […] Werden Institutionen oder die Beteiligten dargestellt? […] Schockiert der Beitrag oder ist er unterhaltsam? […] Appelliert er an Mitleid? […] Es gibt nicht die Behinderten! […] Thema ›Euthanasie lebt noch‹. […] Praktische Alltagshilfen für den Umgang miteinander (7. Sinn).«58 Anhand der Ablaufprotokolle der Sendung Danke schön lässt sich nachvollziehen, dass auch die Kritik aufgenommen wurde, behinderte Menschen kämen in den Sendungen nicht selbst zu Wort. So zeigte man im März 1981 einen »Film, der entscheidend mit von Be-
55 | Informationsdienst der Aktion Sorgenkind, 6.10.1982, AAS, AB-1-2008-76. 56 | Richtlinien des Vereins ›Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Sorgenkind‹ für die Vergabe, 1984, 7, AAS, Kladde »Ausblick 2000«. 57 | M. Bialdyga: Kurzbericht über den Lebenshilfekongress ›Normalisierung‹, 15.10.1985, AAS, AB-1-2008-21. 58 | Protokoll der Drei-Tage-Redaktion »Behinderte im Programm«, 13.-15.10. 1980, AAS, AB-1-2007-422.
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hinderten gestaltet wurde«.59 Später entwickelte man ein neues Sendeformat unter dem Titel Mach mit, das wöchentlich behindertenspezifische Themen aufgriff und an dem Menschen mit Behinderungen aktiv mitwirkten. Diese wurden so von Objekten zu Subjekten der Darstellung.60 Informationsbroschüren der Aktion Sorgenkind zielten ihrerseits verstärkt auf einen Einstellungswandel in der Bevölkerung: »Der Behinderte möchte sich als gleichberechtigter Bürger erleben, als Partner, als jemand, der auch dem Nichtbehinderten vieles zu geben vermag.«61 Dazu seien intensivere Verständigungsbemühungen vonnöten, die ihrerseits – so die artikulierte Hoffnung – zu Verhaltensänderungen seitens der Nichtbehinderten führen könnten, etwa in Form ehrenamtlichen Engagements.62 Insgesamt sei das Ziel der eigenen Arbeit, »das Verständnis zwischen Nichtbehinderten und Behinderten zu vertiefen, um ein vorurteilsfreies und partnerschaftliches Zusammenleben zu fördern«.63 Die in der folgenden Abbildung präsentierte Darstellung von Menschen mit Behinderung in der Werbearbeit der Aktion Sorgenkind bringt die Neuausrichtung auf den Punkt.64 Diese Darstellung lehnte Mitleid als Haltung gegenüber behinderten Menschen ab. Zugleich wurde nun stärker versucht, die Integration von Behinderten zu fördern. Die Infantilisierung von behinderten Menschen in den Bildprogrammen fand ein Ende und damit auch die Vorstellung, Menschen mit einer zugeschriebenen körperlichen oder verhaltensmäßigen Differenz seien per se machtlos und abhängig. In der Aufklärungsarbeit ging es nun vor allem darum, ›normalistische‹ Normen zu hinterfragen und ihre Bandbreite zu vergrößern, die Dominanz des Durchschnitts als Referenzsystem zu problematisieren und die Polarität zwischen Behinderung und Nichtbehinderung zu verringern.65
59 | Sendeprotokoll der Sendung Danke schön vom 1.3.1981, AAS, AB-1-2007448; siehe auch die Informationsmaterialien der Aktion Sorgenkind wie z.B. die Broschüre »Hilfe im Wandel«, 1983, 3, 7, AAS, AB-1-2007-22/6. 60 | Aktion Sorgenkind – Presseerklärung, [nicht datiert], AAS, AB-1 2008-97. 61 | Aktion Sorgenkind: Broschüre »Hilfe im Wandel«, 1983, 6, AAS, AB-1-200722/6. 62 | Ebd., 8, 12. 63 | Ebd., 10. 64 | Siehe auch die Analyse heutiger Werbekampagnen des schweizerischen Äquivalents der Aktion Mensch in: Patricia Oegerli: Behinderung als individuelles Wesensmerkmal oder als soziales Konstrukt? Eine Bildanalyse zur dritten Plakatkampagne von Pro Infirmis, in: Erich Otto Graf/Cornelia Renggli/Jan Weisser (Hg.): Die Welt als Barriere. Deutschsprachige Beiträge zu den Disability Studies, Bern 2007, 185-200. 65 | Zum Begriff der »normalistischen Norm« und ihren Funktionen in der »Normalisierungsgesellschaft« siehe Anne Waldschmidt: Behinderte Menschen zwischen Normierung und Normalisierung, in: Dies. (Hg): Kulturwissenschaftliche
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Abbildung 4: Plakatmotiv aus der Imagekampagne der Aktion Sorgenkind aus dem Jahr 1995, AAS, AB-1-2008-4.
Diesen neuen Zielbestimmungen entsprach die Abschaffung früherer Arbeitsbereiche: Die bis zu diesem Zeitpunkt praktizierte Förderung der humangenetischen Beratung passte nicht mehr in das neu entwickelte Bild von Behinderung. Daher beschloss man 1990, die Förderung dieses Zweigs zu beenden. Ebenso sagte man sich von dem Ziel der Spendeneinwerbung los, da dieser Zweig der Geldakquise besonders von Werbemechanismen abhängig war, die den Aufklärungszielen der Aktion Sorgenkind zuwider liefen. Von nun an setzte man vor allem auf den Losverkauf, der ja eher an individuelle Gewinnerwartungen als an paternalistische Bevormundungswünsche appellierte. Bewusst strebte man einen Wandel von einer auch spendenbasierten Organisation zu einer Wohltätigkeitslotterie mit einem ausgeprägten Markenprofil an, sodass sich die Darstellung von Behinderung in der eigenen Öffentlichkeitsarbeit stärker an die Aufklärungs- und Integrationsziele anpassen ließ. Der Lernprozess, den die Organisation durchlief, kulminierte sicherlich in der Änderung des Namens, zunächst 1985 in Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Sorgenkind e.V.66 und dann im Jahr 2000 in Aktion Mensch. Um das Risiko zu verringern, mit dem Markennamen auch die öffentliche Aufmerksamkeit zu verlieren, war in einer jahrelang andauernden Kampagne diese Namensänderung vorbereitet worden.
Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 129137. 66 | Siehe Richtlinien des Vereins Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Sorgenkind, 1984, AAS, AB-1-2007-22/1.
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D IE A K TION S ORGENKIND ALS › MOR ALISCHES U NTERNEHMEN ‹ Nach einer Gründungsphase, die von tiefen Ambivalenzen im Hinblick auf die Repräsentation von behinderten Menschen geprägt gewesen war, und einem zweiten, von Krisen und Suchbewegungen charakterisierten Zeitabschnitt stellt die dritte der hier untersuchten Phasen einen Zeitraum der schrittweisen Adaptationsleistungen dar. Sicherlich war diese Entwicklung von mehreren Prozessen beeinflusst: Dazu gehörten nicht nur die oben aufgezeigten Krisenmomente, sondern auch ein Generationswechsel, bei dem für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausschieden. Diese hatten bis dato an den traditionellen Konzeptionen festgehalten. Doch neben diesen außeninduzierten Umorientierungsmotoren ist vor allem auf einen internen Lern- und Entscheidungsprozess hinzuweisen: Angesichts der sich zunehmend aufdrängenden Tatsache, dass die von der Aktion Sorgenkind verwendeten Mittel (also die Formen der Spendenwerbung) zwar das Ziel der Einnahmensteigerung, nicht das der Aufklärung förderten, entschlossen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Zielkonflikt, die erste Aufgabenstellung hinter die zweite zurückzustellen. Hintergrund für diese Entscheidung war, dass die Aktion Sorgenkind, wie viele andere gemeinnützig orientierte Organisationen auch, zu der Gruppe der ›moralischen Unternehmen‹ gehört.67 Diese bewegen sich zwar auf einem Markt – dem im Fall der Aktion Sorgenkind von starker Konkurrenz geprägten Spenden- und Lotteriemarkt –, sodass sie in Form von Werbung und Öffentlichkeitsarbeit um Abnehmer für ihr Produkt kämpfen müssen, doch zugleich setzt die ethische Fundierung ihnen enge Grenzen. Das Ziel gemeinnütziger Organisationen ist nicht Gewinn bzw. Profit, sondern eine möglichst umfangreiche und qualitativ gute Hilfe für gesellschaftlich schwächere Gruppen. Wenn die Art der Mittelakquise die Qualität der Hilfe beeinträchtigt, sehen sie sich oft gezwungen, die Mittel den Zwecken unterzuordnen und sie zu ändern. Zwar beziehen moralische Unternehmen ihre Zielsetzungen und Vorgehensweisen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen – einerseits aus der Wirtschaft mit ihren Zielsetzungen von Einnahmemaximierung und Effizienzsteigerung, andererseits aus der Zivilgesellschaft mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen bestimmter sozialer Gruppen bzw. der Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch gemein67 | Zum Begriff der »moralischen Unternehmen« siehe Bernd Giesen: Moralische Unternehmer und öffentliche Diskussion. Überlegungen zur gesellschaftlichen Thematisierung sozialer Probleme, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 35 (1983), H. 2, 230-254; sowie den Sammelband Jan-Otmar Hesse/Tim Schanetzky/Jens Scholten (Hg.): Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der »moralischen Ökonomie« nach 1945, Essen 2004.
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nütziges Handeln – doch erweisen sich die Funktionslogiken des letztgenannten Subsystems im Fall von Zielkonflikten in den meisten Fällen als dominant. Als moralischem Unternehmen blieb der Aktion Sorgenkind mithin gar nichts anderes übrig als zur Aktion Mensch zu werden. Auf die Darstellung von Behinderung in der Öffentlichkeit hatte dies deutliche Auswirkungen, da sowohl denunziatorische als auch paternalistische Bildprogramme und Redeweisen zumindest aus der Öffentlichkeitsarbeit der Aktion Sorgenkind/Aktion Mensch verschwanden. Viele institutionszentrierte Darstellungen beispielsweise im Bereich der Geschichte der Sonderpädagogik oder der Rehabilitationswissenschaften sind zu Recht wegen ihrer einseitigen Konzeptionierung als reine Erfolgsgeschichten unter Ausblendung interner Widersprüche und Fehlentwicklungen kritisiert worden68 – dennoch sollten die Lernprozesse, die einige der sich mit Behinderung befassenden Institutionen vollzogen haben, nicht gänzlich ignoriert werden. Die Aktion Sorgenkind/ Aktion Mensch hat einen solchen Lernprozess durchlaufen – ob sie dabei allerdings als Avantgarde eines gesellschaftlichen Mentalitätswandels zu beschreiben oder lediglich als Indikator dieses Wandels zu definieren ist, oder ob es sich bei dieser Organisation gar nur um einen ›nachholenden Modernisierer‹ handelt, dies zu beurteilen bleibt einer noch zu schreibenden Geschichte von Behinderung in der Bundesrepublik vorbehalten.
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Integration durch Arbeit: Behindertenpolitik und die Entwicklung des schweizerischen Sozialstaats 1900-1960 Urs Germann
Am 19. Juni 1959 verabschiedete das schweizerische Parlament das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung. Männer und Frauen mit einer Behinderung erhielten dadurch erstmals unabhängig von der Art und Ursache ihrer Beeinträchtigung ein Anrecht auf staatliche Leistungen. Im europäischen Vergleich erfolgte dieser Ausbauschritt innerhalb des Systems sozialer Sicherheit indes erstaunlich spät. Dafür verantwortlich waren die spezifischen Pfadabhängigkeiten des Schweizer Sozialstaats, aber auch der Umstand, dass die neutrale Schweiz nie mit dem Massenphänomen kriegsbedingter Gesundheitsschädigungen konfrontiert gewesen war. Die Einführung der Invalidenversicherung bedeutete zugleich eine behindertenpolitische Weichenstellung. In der Tat stand die neue Institution ganz unter dem Motto »Eingliederung vor Rente«. Das Gesetz sah einen differenzierten Leistungskatalog vor, der die Eingliederung von Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen in den Arbeitsmarkt ermöglichen sollte. Renten waren dagegen nur subsidiär für den Fall vorgesehen, dass eine Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich oder zumutbar war.1 Die Invalidenversicherung war in erster Linie als Eingliederungsagentur konzipiert. Ausgeprägter als andere Sozialversicherungszweige stellte sie ein Konglomerat unterschiedlicher Regulierungsmodi 1 | Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 19.6.1959, in: Amtliche Sammlung des Bundesrechts (1959), 827-853. Psychische Beeinträchtigungen fanden damals noch keine Berücksichtigung. Der vorliegende Beitrag beruht größtenteils auf: Urs Germann: »Eingliederung vor Rente«. Behindertenpolitische Weichenstellungen un die Einführung der schweizerischen Invalidenversicherung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 58 (2008), H. 2, 178-197. Darin sind weiterführende Literatur- und Quellenverweise enthalten.
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dar, die ihrerseits eng an gesellschaftliche Vorstellungen über Behinderung gekoppelt waren. Dieser Beitrag nimmt diese Multifunktionalität zum Ausgangspunkt, um die Entstehung und Ausgestaltung der Invalidenversicherung in einer Perspektive zu diskutieren, die sich an den Ansätzen der Disability History orientiert.2 Er verortet die Realisierung dieses Sozialversicherungszweigs am Schnittpunkt der schweizerischen Sozialstaatsgeschichte, der nach 1920 entstehenden Behindertenpolitik auf Bundesebene sowie der für das Motto »Eingliederung vor Rente« konstitutiven Vorstellung, dass Erwerbsfähigkeit, soziale Integration und personale Identität in einem positiven Wechselspiel zueinander stehen. Auf diese Weise soll die herkömmliche, stark institutionenzentrierte Geschichte des schweizerischen Sozialstaats um eine behinderungsgeschichtliche Perspektive erweitert werden. Aus der Geschlechtergeschichte ist hinlänglich bekannt, dass die Ausgestaltung von Sozialversicherungssystemen immer auch dazu dient(e), gesellschaftspolitische Normen und Ziele – etwa bestimmte Familienmodelle oder Formen der Arbeitsteilung – festzuschreiben.3 Ähnliche Mechanismen lassen sich in Bezug auf die analytische Kategorie ›Behinderung‹ vermuten. Auch in diesem Fall geht es darum, jene Deutungsund Handlungsmuster zu rekonstruieren, die soziale Differenzierungskategorien erzeugen, legitimieren und institutionell verfestigen. Dieser Beitrag untersucht deshalb, auf welche Weise ›verkörperte Differenz‹ bei der Realisierung der Invalidenversicherung thematisiert und damit gesellschaftlich ›konstruiert‹ wurde. Es sollen dabei die mentalen, politischen und institutionellen Voraussetzungen herausgearbeitet werden, die es in der Schweiz der 1950er Jahren ermöglichten, Behinderung primär unter dem Aspekt der Erwerbsunfähigkeit und als ein Problem der Arbeitsintegration zu verhandeln sowie das Eingliederungspostulat auch gesetzlich zu verankern. Dieser Beitrag gliedert sich in vier Abschnitte: Zunächst situiere ich die Anfänge der modernen Behindertenpolitik und die Entstehung der Invalidenversicherung im Kontext der schweizerischen Sozialstaatsgeschichte. Der zweite Abschnitt resümiert die politischen Entscheidungsprozesse, die zur gesetzlichen Verankerung von Eingliederungsmaßnahmen führten. Der dritte Abschnitt stellt den Eingliederungsgedanken und die Erwerbszentrierung, die für die Ausgestaltung der Versicherung maßgebend waren, in den Kontext einer – in ihrer ganzen Breite ebenfalls noch auszuarbeitenden – Genealogie der Arbeitsintegration. Der letzte Abschnitt führt diese Argumentationsstränge in einer Analyse der viel2 | Vgl. Elsbeth Bösl: Dis/ability History: Grundlagen und Forschungsstand, 2009, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009-07-001 (24.9.2009). 3 | Vgl. Brigitte Studer: Familienzulagen statt Mutterschaftsversicherung? Die Zuschreibung der Geschlechterkompetenzen im sich formierenden Schweizer Sozialstaat, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), H. 2, 151-170.
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schichtigen Repräsentationen von Behinderung zusammen, welche die schweizerische Sozialpolitik im Nachkriegsboom prägten.
D IE A NFÄNGE SOZIALSTA ATLICHER B EHINDERTENPOLITIK Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein nahm sich der schweizerische Sozialstaat als ein »schwach ausgebildetes und hybrid-lückenhaftes Konstrukt« aus, wie die Berner Historikerin Brigitte Studer pointiert feststellt.4 Sozialstaatlichkeit in der Schweiz sei, so Studer, das »Produkt eines langwierigen historischen Prozesses, geprägt von vielen Akteuren und einigen wenigen Akteurinnen und immer wechselnden Paradigmata«.5 In der Tat erfolgten die ersten, wenn auch zögerlichen Schritte in Richtung einer bundesstaatlichen Sozialpolitik in den 1870er Jahren, wobei einzelnen Kantonen eine Vorreiterrolle zukam. 1877 trat ein Fabrikgesetz in Kraft, das landesweit Mindeststandards bezüglich Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen setzte. 1881 folgte ein Gesetz über die Fabrikhaftpflicht. Diese Arbeiterschutzgesetzgebung war einer »kurativen Sozialpolitik«6 verpflichtet, die auf die Verbesserung gesundheitsschädigender Arbeitsbedingungen setzte. Ende der 1880er Jahre erhielten dann Pläne für eine Kranken- und Unfallversicherung Auftrieb, die sich am Modell der Bismarck’schen Sozialversicherung orientierten. Das Projekt scheiterte allerdings 1900 in einer Volksabstimmung. Realisiert wurden in der Folge nur einzelne Versicherungszweige, so 1902 eine Militär- und 1918 eine Unfallversicherung. Weitgehend kantonalen Regelungen sowie gewerkschaftlichen, paritätisch besetzten oder kommunalen Trägerschaften überlassen blieben dagegen die Kranken- und später auch die Arbeitslosenversicherung.7 Die Überlappung unterschiedlicher Pfade und das Auftreten retardierender Momente, die durch das direktdemokratische System der Schweiz bedingt waren, prägten auch die Vorgeschichte der Invalidenversicherung. Die 1902 und 1918 eingeführte Militär- und Unfallversicherung, aber auch private Pensionskassen deckten zwar Invaliditätsrisiken ab, doch blieb der Kreis der Versicherten beschränkt. Lediglich der Kanton Glarus führte 1918 eine kantonale Invalidenversicherung ein. Für viele erwerbsunfähige 4 | Brigitte Studer: Soziale Sicherheit für alle? Das Projekt Sozialstaat, in: Dies. (Hg.): Etappen des Bundesstaates, Zürich 1998, 159-186, hier 163. 5 | Ebd., 181. 6 | Hansjörg Siegenthaler: Fridolin Schuler und die Anfänge des modernen Wohlfahrtsstaats, in: Ders. (Hg.): Wissenschaft und Wohlfahrt, Zürich 1997, 9-33, hier 23. 7 | Bernard Degen: Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Sozialstaats, in: Studien und Quellen 31 (2006), 17-48, hier 27, 31. Zur Unfallversicherung: Martin Lengwiler: Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung 1870-1970, Köln 2006.
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und bedürftige Personen blieb damit nur der Weg in die Armenfürsorge. Bereits seit den 1880er Jahren wurde deshalb sporadisch die Forderung nach einer Invalidenversicherung laut, die den Kreis der Versicherten deutlich ausweitete. Als katalytisch für die weitere Entwicklung erwies sich dann die soziale und politische Krise, mit der sich die bürgerliche Elite am Ende des Ersten Weltkriegs konfrontiert sah. 1919 schlug der schweizerische Bundesrat dem Parlament eine Verfassungsgrundlage für eine Invaliditäts-, Alters- und Hinterlassenenversicherung vor und kam damit einem Anliegen der organisierten Arbeiterschaft entgegen. Mit der Stabilisierung der politischen Lage geriet die Umsetzung allerdings ins Stocken. 1924 machte die Landesregierung einen Rückzieher, indem sie nun für einen »stufenweisen Ausbau der Sozialversicherung« eintrat und vorläufig auf eine Invalidenversicherung verzichten wollte. Begründet wurde diese Entscheidung mit der »Willkürlichkeit« eines gesetzlichen Invaliditätsbegriffs und einem »nicht zu leugnenden Misstrauen grosser Kreise gegenüber der Invalidenversicherung«.8 De facto hoffte der Bundesrat, durch den Verzicht auf eine ausgesprochene ›Minderheitsversicherung‹ die Realisierungschance für eine ›Mehrheitsversicherung‹ wie die Altersund Hinterlassenenversicherung zu erhöhen. Das Schicksal der beiden Versicherungszweige blieb in der Folge dennoch eng miteinander verbunden. Ein 1925 angenommener Verfassungsartikel räumte zwar der Alters- und Hinterlassenenversicherung Priorität ein, gab dem Bund aber die Befugnis, später auch eine Invalidenversicherung einzuführen. 1931 scheiterte ein erster Anlauf für ein entsprechendes Bundesgesetz. Erst infolge des politischen Aufbruchs der letzten Kriegsjahre kam es 1947 zur Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung, die als obligatorische Volksversicherung ausgestaltet war. Angesichts der bereits in der Zwischenkriegszeit erfolgten Prioritätensetzung, aber auch aufgrund des fehlenden Handlungsdrucks, Kriegsopfer mit Behinderungen versorgen zu müssen, stand ein Einschluss der Invalidenversicherung vorerst nicht mehr ernsthaft zur Diskussion.9 Das Feld der Behindertenpolitik war in der Schweiz bis in die Nachkriegszeit stark durch kommunale und kantonale Zuständigkeiten, vor allem aber durch private Akteure wie Wohltätigkeitsvereine geprägt. Dem Bund waren dagegen – wie gezeigt – weitgehend die Hände gebunden. Eine Ausnahme bildete der sogenannte Anormalen- oder Gebrechlichenkredit zugunsten der privat getragenen Behindertenhilfe. Bereits seit 1899 unterstützte der Bund die Schweizerische Konferenz für das Idio8 | Nachbericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Alters-, Invaliden- und Hinterlassenenversicherung, 23.7.1924, in: Bundesblatt (1924/II), 681-740, hier 683-692. 9 | Zur sozialpolitischen Umbruchsituation nach 1943: Matthieu Leimgruber/ Martin Lengwiler (Hg.): Umbruch an der »Inneren Front«. Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz, 1938-1948, Zürich 2009.
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tenwesen und den Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen mit bescheidenen Beiträgen. Ab 1923 erhielt dann der 1920 gegründete Dachverband der Behindertenfachhilfe, die Schweizerische Vereinigung für Anormale, später Pro Infirmis, regelmäßig Beiträge. 1929 erreichte Pro Infirmis mit einer Eingabe wenn auch keine gesetzliche Verankerung der Subvention, so doch eine markante Erhöhung, sodass künftig auch dem krisengeschüttelten Anstaltssektor unter die Arme gegriffen werden konnte. Gleichzeitig festigte der Dachverband seine dominante Stellung innerhalb der Behindertenhilfe.10 Ähnlich wie in der Arbeitslosen- und Krankenversicherung etablierte sich damit ein Subventionsregime, wobei private und staatliche Akteure eng kooperierten. Hinzu kamen weitere punktuelle Maßnahmen des Bundes im Bereich der Sonderschulen und der beruflichen Ausbildung. Substantiell erhöhen sollten sich die Beiträge des Bundes allerdings erst in der Nachkriegszeit. Grafik: Bundessubventionen zugunsten der ›Anormalenhilfe‹ 1923-1956.
Zwischen 1923 und 1956 schüttete der Bund über die Pro Infirmis nominal etwa 10 Millionen Franken an die Behindertenhilfe aus. Von den bis 1948 ausgeschütteten Beiträgen flossen 71 Prozent an private Anstalten, 16 Prozent an Fachverbände, vier Prozent an Heilpädagogische Seminarien und neun Prozent an die Pro Infirmis.11 Die Bundeshilfe konzentrierte sich 10 | Carlo Wolfisberg: Heilpädagogik und Eugenik. Zur Geschichte der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800-1950), Zürich 2002, 93-95. 11 | Bericht zur Motion Wick betreffend Anormalenfürsorge, 30.5.1949, Schweizerisches Bundesarchiv (BAR) E 3001 (B) 1000/731, Bd. 50, Az. VIII.4.5.2.5. Die Zusammenstellung enthält bereichsweise aufgeschlüsselte Angaben für die Jahre 1923 bis 1948. Für die Gesamtangaben 1949 bis 1956: BAR E 3001 (B) 1978/20, Bd. 78, Az. VIII.4.5.2.5.
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demnach stark auf die Anstaltsfürsorge. Keine Beiträge erhielten dagegen Organisationen der Behindertenselbsthilfe. Ein ähnliches Bild zeichnet ein Bericht der Pro Infirmis über den Stand der »Hilfe für die Anormalen« von 1929: Hier werden zwar Maßnahmen der offenen und der geschlossenen Fürsorge gleichermaßen erwähnt, dennoch liegt das Schwergewicht eindeutig auf der segregierenden Versorgung von Kindern, die als sinnes- oder geistig behindert oder aber als »schwererziehbar« galten.12 Insgesamt blieben die behindertenpolitischen Handlungsspielräume in der Schweiz bis zum Zweiten Weltkrieg also eng begrenzt. Verantwortlich dafür waren die Dominanz des Anstaltssektors, die Fragmentierung der Zuständigkeiten und institutionellen Trägerschaften sowie die sozialpolitische Blockade und die 1932 einsetzende Wirtschaftskrise. Vor allem die letzten beiden Faktoren hatten einen eklatanten Mangel an finanziellen Ressourcen zur Folge.
D IE »K OMBINATIONSLÖSUNG « DER I NVALIDENVERSICHERUNG : E INGLIEDERUNG VOR R ENTE Auch nach der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung stand die Invalidenversicherung nicht weit oben auf der sozialpolitischen Agenda. Wie der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherung Ende 1951 festhielt, genossen Revisionen der Erwerbsersatzordnung, der Unfallversicherung sowie die Mutterschaftsversicherung höhere Priorität.13 Auch Pro Infirmis setzte zunächst auf einen Ausbau der bisherigen Behindertenhilfe, die sie noch Ende der 1940er Jahre als Beitrag zu einer »qualitativen Bevölkerungspolitik« deklarierte. Dagegen verlangte der Invalidenverband, eine Organisation der Behindertenselbsthilfe, bereits 1951 die rasche Einführung einer Invalidenversicherung. 1954/55 setzten dann mehrere parlamentarische Vorstöße und zwei Volksinitiativen den schweizerischen Bundesrat definitiv unter Zugzwang. In Rekordzeit erarbeiteten die Bundesverwaltung, eine Expertenkommission und das Parlament daraufhin bis 1959 eine Gesetzesvorlage.14 Die Dynamik, von der die Invalidenversicherung nun profitierte, war nicht nur eine Folge der anhaltenden Konjunktur, der Einnahmeüberschüsse des Bundes und der positiven Erfahrungen mit der Alters- und Hinterlassenenversicherung. Vielmehr rückte mit dem Motto »Eingliederung vor Rente« ein Aspekt in den Vordergrund, der die Realisierung des neuen Sozialversicherungszweigs sichtlich beschleunigte. So verlangte der sozialdemokratische Nationalrat Walter Stünzi 1954: »Es geht […] nicht 12 | Bericht der Pro Infirmis an das Eidgenössische Departement des Innern, 27.11.1929, BAR E 3001 (A) 1000/725, Bd. 6, Az. V.1. 13 | Arnold Saxer: Wie steht es mit der Frage der Invalidenversicherung, [November 1951], BAR E 3340 (B) 1987/62, Bd. 127, Az. 3211. 14 | Germann (2008), 182f.
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darum, invalid geborene oder arbeitsunfähig gewordene Menschen vor der schlimmen Not und Armengenössigkeit zu schützen, sondern ebenso darum, möglichst vielen […] Behinderten eine ausreichende ärztliche Betreuung und berufliche Ausbildung zu ermöglichen, damit sie wieder arbeits- und erwerbsfähig werden.«15 Auch Spitzenvertreter der Verwaltung sowie die Volksinitiative der Sozialdemokratischen Partei stellten die »Eingliederung der Invaliden in den Arbeitsprozess« ins Zentrum und machten sich für eine Verbindung von Eingliederungsmaßnahmen und Rentenleistungen stark.16 Der freisinnige Nationalrat Urs Dietschi sprach 1955 diesbezüglich prägnant von einer »Kombinationslösung«.17 Hintergrund dieser neuartigen Thematisierung des lange aufgeschobenen Vorhabens war ein Boom privater und halbstaatlicher Eingliederungs- und Rehabilitationsinitiativen, der bereits Ende der 1940er Jahre eingesetzt hatte. Den Auftakt bildete die Bundesfeierspende von 1947, die der »Eingliederung Gebrechlicher« gewidmet war. 1951 ging aus einer Arbeitsgruppe der Pro Infirmis die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter in die Volkswirtschaft hervor, in der Vertreter der Arbeitgeber, Behindertenhilfe, Gewerkschaften, Behörden und der Ärzteschaft zusammengeschlossen waren. 1952 erhielt die Arbeitsgemeinschaft erstmals Beiträge aus dem ›Anormalenkredit‹ und engagierte sich fortan mit eigenen Projekten im Bereich der Ausbildung und Berufsberatung. 1956 erfolgte schließlich die Einweihung der Eingliederungsstätte ›Milchsuppe‹ im Basler Bürgerspital, die vor allem körperlich beeinträchtigte Männer auf eine Beschäftigung in Industrie und Gewerbe vorbereitete.18 Die Geschwindigkeit, mit der die Invalidenversicherung in Form der erwähnten »Kombinationslösung« das Gesetzgebungsverfahren passierte, spiegelt den breiten politischen Konsens bezüglich des Eingliederungspostulats wieder. Bereits im Juli 1955 legte der Bundesrat die Richtlinien der neuen Sozialversicherung fest, an denen Expertenkommission und Parlament nur noch punktuelle Änderungen vornehmen sollten. Kernstück war ein Versicherungsobligatorium für die ganze Bevölkerung. Leistungsberechtigt sollten jene Versicherten sein, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines körperlichen oder geistigen Gebrechens eingeschränkt war. Als Leistungen vorgesehen waren ein Gesundheitsdienst, Maßnahmen 15 | Stenografisches Protokoll des Nationalrats, 29.9.1954, BAR E 1301 1960/51, Bd. 416, 351-363. 16 | Arnold Saxer, Die Empfehlung der internationalen Arbeitskonferenz betreffend die berufliche Eingliederung der Invaliden, [o.O.] 1954; Bericht des Bundesrats an die Bundesversammlung über das Volksbegehren betreffend die Einführung der Invalidenversicherung, 22.2.1957, in: Bundesblatt (1957/I), 977-985. 17 | Stenografisches Protokoll des Nationalrats, 28.9.1955, BAR E 1301 1960/51, Bd. 421, 324. 18 | Germann (2008), 189f.; Rudolf Ulmann: Die Rehabilitation Behinderter in der »Milchsuppe« Basel, Schwarzenbach 1967.
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zur beruflichen Eingliederung und – falls dadurch die Erwerbsfähigkeit nicht wieder hergestellt werden konnte – Renten sowie Beiträge an Institutionen. Als Novität im Sozialversicherungsrecht galten insbesondere die Eingliederungsmaßnahmen, die allerdings an die erwähnte Tradition der »kurativen Sozialpolitik«19 anknüpften. Weder die Unfallversicherung noch die Glarner Invalidenversicherung kannten bisher derartige Maßnahmen. Lediglich die Militärversicherung konnte seit 1949 Leistungen zur beruflichen Eingliederung ausrichten. Wie der Bundesratsbeschluss vom Juli 1955 zeigt, blieb die neue Leistungsart auch verfassungsrechtlich begründungsbedürftig, erwähnte doch der 1925 angenommene Verfassungsartikel Maßnahmen zur Eingliederung nicht explizit. Die Invalidenversicherung dürfe aber, so der Antrag des federführenden Departements an den Bundesrat, zweifellos alle Maßnahmen ergreifen, welche zu ihrer finanziellen Entlastung beitragen würden.20
B EHINDERUNG ALS E RWERBSUNFÄHIGKEIT Nach dieser fokussierten Rekapitulation der Entstehungsgeschichte der Invalidenversicherung komme ich auf die Ausgangsfrage zurück: Welche Vorstellungen von Behinderung lagen der schließlich realisierten »Kombinationslösung« zugrunde? Und auf welche Weise problematisierten die Debatten um die Invalidenversicherung ›verkörperte Differenz‹? Im Zentrum der neuen Sozialversicherung stand der »Invalide«. Das Gesetz schuf damit eine Kollektivkategorie, die Männer und Frauen mit unterschiedlichen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen unter einem generalisierenden Blickwinkel zusammenfasste. In der Tat stellte der gesetzliche Invaliditätsbegriff konsequent die Erwerbs(un)fähigkeit ins Zentrum, wobei von einem kausalen Nexus von körperlich-geistiger Beeinträchtigung und (teilweiser) Erwerbsunfähigkeit ausgegangen wurde. Andere Aspekte von ›Behindertsein‹ oder ›Behindertwerden‹ spielten dagegen de lege keine Rolle. Dieses Konstrukt blieb indes paradox: Einerseits folgte das Gesetz einem medizinischen Modell von Behinderung, das soziale Bedingungen von Behinderung – beispielsweise bauliche Barrieren, Vorurteile, aber auch die Arbeitsmarktsituation – ausblendete. Andererseits kam mit der Erwerbs(un)fähigkeit ein genuin soziales Moment ins Spiel. Denn anders als in der Unfallversicherung, wo »Gliedertabellen«, die den Invaliditätsgrad aufgrund der geschädigten Körperteile und Organe bemaßen,21 lange eine wichtige Rolle gespielt hatten, waren in der
19 | Siegenthaler (1997). 20 | Bundesratsbeschluss, 12.7.1955, BAR E 1004.1 1000/9, Bd. 576, Nr. 1236. 21 | Lengwiler (2006), 115-118.
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Invalidenversicherung nicht einzelne Beeinträchtigungen, sondern allein deren Auswirkungen auf die Erwerbssituation maßgebend.22 Das Gesetz sah somit im »Invaliden« in erster Linie eine Person, die zur Erwerbstätigkeit befähigt und damit ›eingegliedert‹ werden sollte, und erst in zweiter Linie einen Rentenbezieher. Wie die Debatte um die Invalidenversicherung zeigt, bedingten sich das sozialpolitische Ziel der Erwerbsbefähigung und die normative Festlegung auf den Aspekt der Erwerbs(un)fähigkeit gegenseitig: das Eingliederungsziel verlangte geradezu nach einem erwerbszentrierten Invaliditätsbegriff, zugleich erschien es als ebenso logische wie zweckmäßige Konsequenz einer solchen Norm. Darüber hinaus gab der Eingliederungsgedanke der Sozialversicherung einen Anstrich von Modernität und Funktionalität, nicht ohne zugleich die Subsidiarität sozialstaatlicher Maßnahmen zu betonen. So präsentierte der Bundesrat die Invalidenversicherung 1958 als Paradigmenwechsel, mit dem eine subsistenzsichernde Fürsorge durch Maßnahmen abgelöst würde, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichten, ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise selbst zu verdienen und »im Rahmen des Möglichen« unabhängig zu werden.23 Erwerbsbefähigung und individuelle Selbstständigkeit gingen in dieser Perspektive Hand in Hand. Mit der sozialrechtlichen Identifikation von Behinderung mit Erwerbsunfähigkeit ging zwangsläufig eine Abstrahierung von konkreten Beeinträchtigungen und Lebenssituationen einher. Das Setzen einer (neuen) Differenz hatte also zugleich eine Entdifferenzierung komplexer Lebenslagen zur Folge. Aus Sicht der Disability History, die nach den Voraussetzungen solcher Grenzziehungen fragt, ist dieser Vorgang insofern bedeutsam, als er auf eine positive Verknüpfung von Arbeit und sozialer Identität verweist, die sich historisch als überaus wirkungsmächtig erwies. Der ›Eingliederungsboom‹ der 1950er Jahre erscheint in einer solchen Perspektive als eine Schlüsselepisode in einer Genealogie der Arbeitsintegration, die als Denkfigur im 20. Jahrhundert nicht nur den Umgang mit Behinderung, sondern auch Therapie- und Resozialisierungskonzepte in Psychiatrie und Armenfürsorge sowie im Strafvollzug prägte. Denn zu Recht hat Zygmunt Bauman der (Erwerbs-)Arbeit eine »Hauptrolle im Projekt der Moderne« zugeschrieben. Nicht zu arbeiten, sei, so Bauman, zunehmend als »Abweichen vom natürlich vorgeschriebenen Pfad« interpretiert worden,24 woraus sich – so ließe sich ergänzen – die Notwendigkeit ergab, nicht arbeitswillige oder arbeitsunfähige Personen mit Anreizen, aber auch mit Zwang zur Arbeit anzuhalten. In der Tat hat Arbeit im 22 | Philipp Haselbach: Die Entwicklung des Invaliditätsbegriffs, in: Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung 46 (2002), H. 1, 44-63. Das Gesetz orientierte sich dabei explizit an der Norm des (männlichen) Vollzeiterwerbstätigen, wodurch Sonderregelungen in Bezug auf Hausfrauen notwendig wurden. 23 | Botschaft des Bundesrats zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, 24.10.1958, in: Bundesblatt (1958/II), 1137-1322, 1152. 24 | Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2000, 161f.
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modernen Selbstverständnis mindestens ebenso viel mit sozialer Teilhabe und individueller Identität wie mit dem Erwerb des Lebensunterhalts zu tun. Gleichzeitig tendiert diese Auffassung dazu, individuelle und soziale Identität auf den Aspekt Erwerbstätigkeit zu reduzieren. Was die Idee der Arbeitsintegration und damit die Definition von Behinderung als Erwerbsunfähigkeit anbelangt, lässt sich – zumindest beim heutigen Kenntnisstand – allerdings keine gradlinige Entwicklung ausmachen. Zunächst war nicht einmal das Ziel als solches unumstritten. Noch dem aufgeklärten Vervollkommnungsideal verpflichtet, stellte 1870 etwa der Taubstummenlehrer Ignaz Scherr die »Hebung der Bildung« in den Vordergrund und sprach sich dezidiert dagegen aus, von »geistig und leiblich schwachen« Taubstummen eine »mühsame Nutzarbeit« zu verlangen.25 Allerdings dürfte landwirtschaftliche Arbeit bereits damals in vielen Taubstummenanstalten zum Alltag gehört haben.26 Um die Wende zum 20. Jahrhundert erhielt die Erwerbsbefähigung dann vor allem in der sogenannten Schwachsinnigenfürsorge größeres Gewicht. Dementsprechend rückte die »Lebensbewältigung« der austretenden Zöglinge in ihrem sozialen Umfeld – und damit die anstaltsexterne Beschäftigung – in den Vordergrund. So gründete die Zürcher Anstalt Regensberg 1913/18 zwei Arbeitsheime, die Jugendlichen mit sogenannten geistigen Behinderungen nach der Schulzeit eine Berufsausbildung bieten sollten.27 Ebenfalls kurz vor dem Ersten Weltkrieg tauchte in der schweizerischen Diskussion mit dem Sammelbegriff der »Mindererwerbsfähigen« eine Kategorie auf, die – wie später die Invalidenversicherung – Männer und Frauen mit unterschiedlichen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen primär unter dem Aspekt ihrer Arbeits- und Erwerbsfähigkeit betrachtete. Interessanterweise ging die Anregung für eine Fürsorge für »Mindererwerbsfähige« von der privat getragenen Jugendfürsorge aus, etwa dem Verein Freunde des jungen Mannes. Betont wurde zwar der Wunsch, betroffene Personen vermehrt an »freien Stellen« zu »platzieren«. Gleichzeitig überwog aber die Skepsis gegenüber der Integrationsbereitschaft des Arbeitsmarkts, sodass auch hier die Anstaltsversorgung weitgehend unangefochten blieb.28 Die Rede von der Eingliederung »Mindererwerbsfähiger« setzte ihre Karriere nach 1918 im 25 | Wolfisberg (2002), 53. 26 | Michael Gebhard: Hören lernen – hörbehindert bleiben. Die Geschichte von Gehörlosen- und Schwerhörigenorganisationen in den letzten 200 Jahren, Baden 2007, 48. 27 | Flavia Sax: »Erziehungsanstalten für schwachsinnige Kinder« und ihre »nachgehende Fürsorge«. Die Geschichte eines heilpädagogischen Praxiskonzeptes am Beispiel der Anstalten Hohenrain, Masans und Regensberg (1883-1961), Lizentiatsarbeit, Zürich 2006, 92-94. 28 | Schweizerischer Verein der Freunde des jungen Mannes: Jahresbericht (1909), [o.O.u.J.], 8-10, 26-40; Bericht der Volkswirtschaftlichen Kommission, 10.3.1911, Archiv der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, A 1909 D.
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Umfeld der in Basel, Zürich oder St. Gallen entstehenden Webstuben und Behindertenwerkstätten fort. Diese Institutionen, die sich 1930 zum Verband der Werkstätten für Mindererwerbsfähige zusammenschlossen, wollten körperlich und geistig beeinträchtigten Männern und Frauen eine Berufsausbildung oder zumindest eine Dauerbeschäftigung ermöglichen. Ziel war es, die vorhandenen »wirtschaftlichen Kräfte und Fähigkeiten« zu heben und »auszuwerten«. Als »mindererwerbsfähig« galten nun Personen, »die eines Gebrechens wegen mit ihren gesunden Mitmenschen nicht Schritt halten können im Kampf ums Dasein, die sich nicht reibungslos eingliedern lassen ins Räderwerk unseres Wirtschaftslebens«.29 Zwar setzte die Weltwirtschaftskrise den Ausbildungsund Vermittlungsbemühungen der Werkstätten bald enge Grenzen. Der Diskurs, der sich in diesem Umfeld artikulierte, ist in einer historischen Perspektive dennoch bemerkenswert. Denn mit der institutionalisierten Rede über »Mindererwerbsfähigkeit« nahm eine Definition von Behinderung Gestalt an, die nicht mehr auf konkrete Beeinträchtigungen, sondern auf die Verwertbarkeit von Fähigkeiten in einem gegebenen Arbeits(markt)umfeld abstellte. Obwohl die Situation von Menschen mit Behinderungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt unter dem Aspekt ihrer Arbeits- und Erwerbsfähigkeit thematisiert wurde, ist es fraglich, ob sich von diesen frühen Diskussionen eine direkte Linie zum behindertenpolitischen Aufbruch der 1950er Jahre ziehen lässt. Am ehesten dürfte dies für Verlautbarungen aus dem Umfeld des Werkstättenverbands gelten. Zum eigentlichen Referenzpunkt des ›Eingliederungsbooms‹ der 1950er Jahre wurde dann jedoch die bereits erwähnte Eingliederungsstätte der Basler ›Milchsuppe‹, die als Neugründung auch für eine enge Kooperation zwischen Berufsberatung und Rehabilitationsmedizin stand. Ebenfalls eher auf eine (relative) Diskontinuität verweist der Umstand, dass sich – wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde – die behindertenpolitischen Leitbilder erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich wandelten. Erst jetzt, so meine These, wurde die Eingliederung »Mindererwerbsfähiger« in jenem Bedeutungskontext verhandelt, der für die Invalidenversicherung konstitutiv sein sollte. Und erst jetzt konnte sich eine erwerbszentrierte Sicht auf Behinderung auf breiter Basis durchsetzen. Carlo Wolfisberg hat in seiner Studie zur Entwicklung der Heilpädagogik in der Schweiz aufgezeigt, wie sich in der Zwischenkriegszeit ein Vorsorgediskurs etablierte, der die Früherfassung von Gebrechen, eine »nachgehenden Fürsorge«, aber auch eugenische Maßnahmen propagier-
29 | Otto Graf: Das Problem der wirtschaftlichen Hilfe für Mindererwerbsfähige, in: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit 65 (1926), 287-301; [o.N.]: Der schweizerische Verband der Werkstätten für Mindererwerbsfähige Zürich, Zürich 1933, 3.
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te.30 Noch 1949 verlangte Pro Infirmis mit dem Argument »Gründliche Fürsorge ist auch beste Vorsorge« eine Erhöhung des Anormalenkredits und unterstrich ihre Forderung mit Fällen »vernachlässigter Erwachsener«, welche die Zweckmäßigkeit einer frühzeitigen Erfassung und Behandlung vor Augen führen sollte.31 Körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigte Männer und Frauen besetzten in diesem Argumentationszusammenhang eine ambivalente Position: Sie erschienen gleichermaßen als gefährdete und gefährliche Subjekte, die um ihrer selbst, aber auch um der Gesellschaft Willen auf Fürsorge angewiesen waren. Auch die ab 1910 geführte Diskussion um die »Mindererwerbsfähigen« folgte noch weitgehend diesem Muster. So handelte es sich bei den Freunden des jungen Mannes um einen Verein, der sich zum Ziel gesetzt hatte, junge Männer vor den »Lockrufen« der Großstadt zu bewahren – die Fürsorge für »Mindererwerbsfähige« war dabei bloß ein Einzelaspekt. Auch die Basler Webstube sah 1930 ihre Aufgabe in der »Hilfe für schulentlassene, arbeitslose, mindererwerbsfähige Jugendliche, die ansonsten zu verwahrlosen drohen«.32 Wie im Fall der Jugendfürsorge bildete hier der heilpädagogische Verwahrlosungsbegriff den Fluchtpunkt der Problematisierung. Wenn in den 1950er Jahren die Eingliederung »Invalider« als »Neuland« bezeichnet wurde oder vom »Beginn einer neuen Epoche«33 die Rede war, hatten sich nicht so sehr die praktischen Bemühungen als vielmehr die Begründungszusammenhänge gewandelt: Wie die zitierte Botschaft des Bundesrats, aber auch private Initiativen zur Förderung der Arbeitsintegration zeigen, wurde die Eingliederungsthematik nun weitgehend vom Kontext der Fürsorge und der Tradition des Vorsorge- und Verwahrlosungsdiskurses abgekoppelt. Die Popularität des Eingliederungsgedankens in den 1950er Jahren beruhte, so meine These, gerade darauf, dass dieser eine Verschiebung der behindertenpolitischen Perspektive signalisierte: An die Stelle der fürsorgerischen Bemühung, individuelle und kollektive Gefährdungen zu neutralisieren, trat das Ziel, die Potenziale von Männern und Frauen mit Behinderungen zu entfalten und zu nutzen. Nicht mehr die Legitimation einer prophylaktisch ausgerichteten Behindertenhilfe, sondern die Teilhabe des einzelnen Individuums an der Wohlstandsgesellschaft, aber auch seine Pflicht, sich ins ›Räderwerk‹ der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung einzufügen, standen nun im Zen30 | Wolfisberg (2002); Mariama Kaba: Des reproches d’inutilité au spectre de l’abus: étude diachronique des conceptions du handicap au XIX siècle à nos jours, in: Carnets de bord 13 (2007), Nr. 13, 68-77. 31 | Dokumentation zur Motion betreffend Gebrechlichenhilfe, 5.2.1949, BAR E 3001 (B) 1978/30, Bd. 78, Az. VIII.4.5.2.5. 32 | Verband der Werkstätten (1930), 10f. 33 | Protokoll der Sitzung der Nationalratskommission, 19.-22.11.1958, BAR E 3340 (B) 1987/62, Bd. 116, Az. 311.115.12; Robert Briner: [Diskussionsvotum], in: Pro Infirmis 10 (1951), 166f.
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trum. Verändert hatten sich also in erster Linie die diskursiven, aber – wie gleich zu zeigen ist – auch die gesellschaftlichen Kontexte, in denen Behinderung als Problem verhandelt wurde.
»I NVALIDE « UND IHR P OTENZIAL Der sozial- und behindertenpolitische Aufbruch der 1950er Jahre, der in der Realisierung der »Kombinationslösung« der Invalidenversicherung gipfelte, lässt sich als ein Versuch zur Aktivierung und Steigerung der individuellen Potenziale von Menschen mit Behinderungen interpretieren. Dabei lassen sich grob zwei Stoßrichtungen unterscheiden, welche körperlich und geistig beeinträchtigte Männer und Frauen auf unterschiedliche, sich jedoch nicht ausschließende Weise objektivierten und entsprechend konträre Subjektivierungsangebote bereithielten. Erstens erschien der »Invalide« als ein zu nutzendes ökonomisches Potenzial. Darauf verweist zunächst das versicherungstechnische Kalkül, dank Eingliederungsmaßnahmen die Ausgaben für die Renten der neuen Sozialversicherung möglichst knapp halten zu können. Der Bundesratsbeschluss vom Juli 1955 thematisierte Selbstbefähigung etwa unter dem Aspekt der sozialpolitischen Entlastung, was seinerseits als wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz der Invalidenversicherung erachtet wurde. Hier schlug die minimalistische Konzeption des schweizerischen Sozialstaats durch, die auch in den vorerst bescheidenen Rentenleistungen sichtbar wurde. Die Eingliederung »Invalider« stand aber auch – wie die gleichzeitige Massenrekrutierung ausländischer Arbeitskräfte – im Zeichen der Mobilisierung von human ressources für die angebotsseitig verknappten Arbeitsmärkte in der Nachkriegsboomphase. Nationalrat Karl Wick, zugleich Vorstandsmitglied von Pro Infirmis, betonte bereits 1949, dass es dank »fachgemäßer Hilfe« möglich sei, »Gebrechliche zu nützlichen Gliedern der Wirtschaft« zu erziehen und so der Volkswirtschaft »wertvolle Kräfte« zuzuführen. Wick bezeichnete den »Einschaltungsprozess der Gebrechlichen« als »Kapitalanlage« oder zumindest als optimierte »Kapitalnutzung«, welche die öffentliche Fürsorge entlastete.34 Ähnlich ließ sich die Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter, in der Vertreter der Arbeitgeber den Ton angaben, verlauten: »Volkswirtschaftlich gesehen gilt es, die Arbeitskraft, die bei den Behinderten vorhanden ist, nach Möglichkeit nutzbar zu machen, vor allem in ihrem eigenen Interesse, aber auch, um die Lasten, die der Öffentlichkeit aus der Unterstützung behinderter Personen erwachsen, zu vermindern.«35
34 | Stenografisches Bulletin des Nationalrats (Auszug), 21.9.1949, BAR E 3001 (B) 1000/731, Bd. 50, Az. VIII.4.5.2.5. 35 | Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter: Jahresbericht (1952/53), [o.O.] 1953, 3.
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Leitend war dabei die Überlegung, dass die Arbeitgeber für den Preis einer geringfügigen und von der Sozialversicherung mitgetragenen Anpassung der Arbeitsplätze an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen – die sogenannte Arbeitsplatzgestaltung – Zugriff auf ein schlecht qualifiziertes Arbeitskräftereservoir erhielten, das sich für repetitive Aufgaben und nicht automatisierbare Handreichungen der Massenproduktion einsetzen ließ. Zugleich kam eine Eingliederungspolitik, die auf der Selbstverpflichtung der Arbeitgeber beruhte, der Forderung nach staatlichen Eingriffen in den Arbeitsmarkt – etwa in Form von Beschäftigungsquoten, wie sie sie England und Deutschland kannten – zuvor. Aus der Sicht der Einzugliedernden funktionierte dieses Arrangement freilich nur bei einer entsprechenden Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt – eine Voraussetzung, die erst Mitte der 1970er Jahre in Frage gestellt werden sollte. Die eher pragmatische Einstellung, die mit solchen Bestrebungen verbunden war, reflektiert zugleich eine spezifische Vorstellung von Behinderung. Wie die Eingliederungsbemühungen der Arbeitsgemeinschaft und der ›Milchsuppe‹ zeigen, gingen die beteiligten Arbeitgeber, Berufsberater und Ärzte davon aus, dass eine eingeschränkte Erwerbsfähigkeit nicht unabänderliche Folge eines Defizits, sondern auch (wenn auch nicht allein) durch institutionelle, technische und mentale Barrieren – wie der Zugänglichkeit und Gestaltung des Arbeitsplatzes, der Ausbildung und der Motivation – mitbedingt und somit als soziales Problem überhaupt bearbeitbar war. Indirekt verwiesen sie so auf die Relationalität von Behinderung und die Möglichkeit, Grenzen der Beeinträchtigung mittels technischer und organisatorischer Maßnahmen zu verschieben – Annahmen, die später eine zentrale Rolle bei der Formulierung des sozialen Modells von Behinderung spielen sollten. Derartige Ansätze standen allerdings in einem gewissen Widerspruch zum Invaliditätsbegriff des Invalidenversicherungsgesetzes, welcher aus finanzpolitischen Gründen die Relativität von Erwerbs(un)fähigkeit ausblendete. Zweitens verhandelten Politiker, Rehabilitationsexperten und Exponenten der Behindertenhilfe Eingliederung in den 1950er Jahren immer auch unter einem emanzipatorischen Aspekt, der soziale Teilhabe und individuelle Entfaltung gleichermaßen beinhaltete. Eingliederung sei eine »soziale Maßnahme«, die über das rein Wirtschaftliche hinausgehe, hieß es selbst bei der Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter. Viele zeitgenössische Beiträge betonten, die Erwerbsbefähigung mache Menschen mit Behinderungen zu »nützlichen Gliedern« der Gesellschaft und gebe ihnen »Wertschätzung und Achtung«; sie wurde gar als »Befreiung der Infirmen« und als »Beginn einer neuen Menschwerdung« gefeiert.36 In der Tat bildete Eingliederung in den 1950er Jahren ein geradezu prometheisches Versprechen, das Männer und (in geringerem Maße) Frauen mit Behinderungen Selbstbestimmung in Aussicht stellte, ohne dass allerdings die gleichstellungspolitischen Implikationen bereits deut36 | Germann (2008), 193f.
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lich geworden wären. Denn die Formel »Befreiung durch Eingliederung« war nach wie vor eng mit einer Vorstellung des Sozialen verbunden, die von einem funktional und hierarchisch gegliederten ›Gesellschaftskörper‹ ausging und die Wachstumsdynamik und soziale Mobilität der Nachkriegszeit unterschätzte. So ließ 1949 der spätere Leiter der ›Milchsuppe‹, Walter Schweingruber, verlauten: »Der Gebrechliche […] soll ein Glied am Volkskörper werden. Nicht ein Fremdkörper, auch nicht ein Kunstglied.«37 Mit Eingliederung war hier zweifellos das Erreichen einer ›angemessenen‹ Stellung innerhalb der gegebenen Gesellschaftsordnung gemeint, wobei Konventionen des sozialen Aufstiegs und die Geschlechterrollen (enge) Grenzen setzten. In der Tat wies die emanzipatorische Stoßrichtung in sich Ambivalenzen auf. Indem die Rede von der Eingliederung Behinderung nach wie vor als defizitäre und entsprechend zu ›hebende‹ soziale Identität konzipierte, perpetuierte sie die Abwertung von körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigten Menschen. So finden sich in Publikationen der Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter nach wie vor Aussagen über charakterliche Mängel der »Invaliden«, wie sie aus der »Krüppelpsychologie« bekannt waren, die von körperlichen Gebrechen kurzerhand auf mentale Defizite schloss.38 Das Eingliederungsangebot konnte aber auch neue Formen institutionellen Zwangs beinhalten. Obwohl das Invalidenversicherungsgesetz schließlich von der zwangsweisen Durchführung von Eingliederungsmaßnahmen absah, blieb die Erwerbsbefähigung für Männer und – etwas weniger für Frauen – mit Behinderungen eine soziale Verpflichtung.39 Tatsächlich war die mit dem Eingliederungspostulat in Aussicht gestellte soziale Anerkennung oft eine aus der Hand von Ärzten und anderen Experten vermittelte Identität. Diese entschieden darüber, welche Lebens- und Arbeitsituationen für Menschen mit Behinderungen als ›angemessen‹ galten und im Interesse der Gesellschaft lagen.
S CHLUSSFOLGERUNGEN Was vermag eine behinderungsgeschichtliche Sicht auf die Entstehung der Invalidenversicherung als wichtige Etappe in der Entwicklung des schweizerischen Sozialstaats zu leisten? Zunächst stellt sie institutionsgeschichtlichen Ansätzen, die den Wandel von einer kurativen zu einer redistributiven Sozialpolitik und den sukzessiven Ausbau des Sozialversicherungssystems oft als lineare Erfolgsgeschichte und schrittweise Ver37 | Walter Schweingruber: Die Eingliederung der Gebrechlichen ins Erwerbsleben, in: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit 88 (1949), 243-253, 243. 38 | Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter: Die Eingliederung Behinderter ins Erwerbsleben, [o.O.] 1952, 4. 39 | Germann (2008), 196f.
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wirklichung sozialer Gerechtigkeit – respektive als Abfolge verpasster Gelegenheiten – beschreiben, einen problemorientierten Zugang gegenüber. Indem sie nach der sozialen Repräsentation und Verarbeitung von ›verkörperter Differenz‹ fragt, kann sie deutlich machen, dass der sozialstaatliche Umgang mit körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigungen auf zeit- und kontextspezifischen (Denk-)Voraussetzungen beruht(e), die ihrerseits einer historischen Problematisierung zugänglich sind. In einer solchen Perspektive lassen sich die Debatten bei der Gründung der Invalidenversicherung als Kristallisationspunkte von breit abgestützten, jedoch zugleich disparaten Diskursen analysieren, die unterschiedliche Bedeutungen von Behinderung hervorbrachten und verhandelten. Die »Kombinationslösung« der Invalidenversicherung setzte gegenüber der Diskussion in der Zwischenkriegszeit neue Akzente. Diese Konstellation beschleunigte und erleichterte das Zustandekommen einer zeitgemäßen Versicherungslösung deutlich. Diese Weichenstellung, so lautet der vorläufige Befund aus behinderungsgeschichtlicher Perspektive, war nicht allein Ergebnis erweiterter politischer Handlungsspielräume, sondern ebenso Resultat eines Wandels der Auffassungen und Repräsentationen von Behinderung, die im Bild des ›einzugliedernden Invaliden‹ kulminierten. Die damit einhergehende Identifikation von Behinderung mit Erwerbsunfähigkeit abstrahierte von einzelnen Beeinträchtigungen und löste sich von den Denkschemata der früheren Behindertenfürsorge. Sie war zugleich eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ›verkörperte Differenz‹ unter dem Aspekt der Arbeitsintegration problematisiert und Eingliederung als sozialpolitisches Ziel und rechtliche Norm formuliert werden konnte. Für die Realisierung der Invalidenversicherung war aber auch entscheidend, dass das Eingliederungspostulat verschiedene Anliegen unter einen Hut brachte: Die Sozialpolitiker versprachen sich davon finanzielle Entlastungen, die Arbeitgeber erwarteten die Mobilisierung eines dringend benötigten Arbeitskräftereservoirs, körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen hofften auf eine aktive Teilhabe an der Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit. Begreift man die Eingliederungspolitik der 1950er Jahren nicht (allein) als sachgerechte Lösung eines vorgegebenen Problems, sondern als Resultat kontingenter Problematisierungen, so wird deutlich, dass gerade die Ausgestaltung der Invalidenversicherung stark von zeitspezifischen Situationsdeutungen abhängig war. So war es nicht zufällig, dass sich der beschriebene Wandel der behindertenpolitischen Leitbilder in einer Zeit der Vollbeschäftigung und hoher Wachstumsraten, aber auch der einsetzenden Individualisierung der Lebensentwürfe vollzog. Dass die Popularität des Eingliederungsgedankens unmittelbar mit der Arbeitsmarktsituation zu tun hatte, wurde gerade von Arbeitgeberseite betont. Eine weitere Bedingung, um in körperlich oder geistig beeinträchtigten Männern und Frauen ein Potenzial zu sehen, war allerdings eine pragmatische Auffassung von ›verkörperter Differenz‹, welche die Bereitschaft voraussetzte, die Arbeitsumgebung punktuell den Bedürfnissen der betroffenen Perso-
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nen anzupassen. Dem gegenüber stand der medizinisch-kausale Invaliditätsbegriff des Gesetzes, der die konjunkturelle und soziale Mitbedingtheit von Erwerbs(un)fähigkeit und Behinderung negierte. Es zeigt sich also, dass bei einer diffusen Gemengelage spezifischer Interessen und institutioneller Settings durchaus unterschiedliche Repräsentationen von Behinderung koexistieren konnten. Im Fall der Invalidenversicherung waren damit allerdings auch Wahrnehmungsverengungen hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Bedingtheit von Behinderung verbunden, deren Konsequenzen erstmals in der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre und dann erneut in den 1990er Jahren in Form sinkender Eingliederungsraten und steigender Rentenzahlen sichtbar werden sollten. Die Invalidenversicherung sollte nun gleichsam auf ihr historisches Apriori zurückgeworfen werden.
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Das Ende der Anstalt? Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung in der Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik Wilfried Rudloff
Angebote des Wohnens bilden einen grundlegenden Bestimmungsfaktor der Lebenssituation behinderter Menschen, kaum anders als für nicht behinderte Menschen. Die Formen und Umstände des Wohnens benennen ganz wesentlich den Ort im sozialen Gefüge, den Menschen mit Behinderung einnehmen; sie beeinflussen die Chancen und Grenzen individueller Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und sie definieren einen grundlegenden Möglichkeitsraum gesellschaftlicher Integration und Kommunikation. Überblickt man die Entwicklungslinien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, lässt sich leicht der Eindruck einer grundlegenden Verschiebung der Leitkonzepte gewinnen: An die Stelle der überkommenen Anstaltsstrukturen, einer auf Verwahrung und Absonderung angelegten Monokultur der Heimunterbringung, ist das Paradigma eines gemeindenahen, möglichst selbstständigen und individuellen Wohnens in kleinen Wohneinheiten getreten. Es liegt nahe, diesen Wechsel der Modellvorstellungen mit den Wandlungsprozessen in Verbindung zu bringen, wie sie sich zur gleichen Zeit im allgemeinen Verständnis von Behinderung und in der Wahrnehmung behinderter Menschen beobachten lassen. Bei beiden Entwicklungen, der materiellen wie der ideellen Neuordnung der Leitkonzepte, ist aber mit widersprüchlichen Gemengelagen von Altem und Neuem zu rechnen, mit Inkonsistenzen, Reibungen und Ungleichzeitigkeiten, die aus dem Spannungszustand zwischen den neuen Leitideen und der Widerständigkeit bestehender Strukturen erwachsen. Die Veränderung von Infrastrukturen, die sich über lange Zeiträume entwickelt haben, stellt den Sozialstaat vor eine Aufgabe, bei der mit der Zählebigkeit überkommener Institutionenbestände gerechnet werden muss. Um den Zusammenhang zwischen institutioneller Versorgungsform und individueller Lebenslage zu bezeichnen, wird in den Fachdiskursen der Behindertenpolitik auf eine antonyme Begrifflichkeit zurückgegrif-
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fen. Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung umschreiben als Kontrastbegriffe das Spannungsverhältnis, das aus der Frage entsteht, wie sehr und in welcher Weise die individuellen Lebensumstände von institutionellen Funktionslogiken beherrscht werden. Dabei handelt es sich nicht um ein Entweder-Oder, sondern ein Mehr-Oder-Weniger. Versteht man unter Institutionalisierung die Unterwerfung unter die Routinen, Regeln und Ordnungsprinzipien einer Einrichtung, so stellt die konsequenteste Form die geschlossene Anstalt dar – die Rede ist dann vielfach von »totalen Institutionen«.1 Mit dem Begriff der ›totalen Institution‹ ist die Annahme verbunden, dass Personen, die in solchen – auf funktionaler Entdifferenzierung, Massenbetrieb und strengen Kontrollregeln basierenden – Einrichtungen leben, eine sekundäre Identität annehmen, die primär den Regeln des Anstaltsregimes angepasst ist. Deinstitutionalisierung2 bedeutet folglich die Umkehr dieses Prozesses mit dem Ziel, den Individuen ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung und individueller Lebensgestaltung zurückzugeben. Bezeichnet der Begriff Institutionalisierung die Unterordnung der individuellen Bedürfnisse unter die Imperative der Institution, ist mit Deinstitutionalisierung die Forderung verbunden, die Einrichtung den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Geht Institutionalisierung im Regelfall mit Absonderung und Exklusion einher, zielt Deinstitutionalisierung auf soziale Integration und Normalisierung der Lebensumstände.
A USGANGSPUNK T : V ERWAHRUNG IN A NSTALTSFÜRSORGE Am Ausgangspunkt der Entwicklung, den die Wohninfrastrukturen behinderter Menschen in den letzten sechs Jahrzehnten genommen haben, stand die desolate Lage der Behinderteneinrichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Jenseits von Familie und Elternhaus waren als Wohnform nur die meist auf Massenverwahrung abgestellten, als Typus zwischen Krankenhaus und Kaserne angesiedelten und größtenteils abseits gelegenen Anstalten für ›Abnorme‹, ›Schwachsinnige‹ oder ›Krüppel‹ vorhanden, wie es im Sprachgebrauch der Nachkriegszeit noch selbstverständlich 1 | Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M. 1972. 2 | Vgl. zur Begriffsbildung Claudia Hoffmann: Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung – Einführung in die Leitterminologie, in: Georg Theunissen/Albert Lingg (Hg.): Wohnen und Leben nach der Enthospitalisierung. Perspektiven für ehemals hospitalisierte und alte Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung, Bad Heilbrunn/Obb. 1999, 16-27. Etwa analog verwandt werden die Begriffe der Hospitalisierung und Enthospitalisierung. Im engeren Sinne bezeichnen sie die Verwahrung in bzw. Ausgliederung aus ›totalen Institutionen‹, im weiteren Sinne die Entstehung oder Überwindung jener anstaltstypischen Form auffälligen Verhaltens, die unter dem Ausdruck Hospitalismus subsumiert werden.
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hieß. Häufig waren sie im letzten Jahrhundert errichtet worden. In den allermeisten Fällen lagen sie in Händen karitativer Träger. Von anderen Wohn- und Lebensformen, von offenen Hilfen, Tageseinrichtungen und ambulanten Diensten, war weithin keine Spur. Der Vater eines Kindes mit geistiger Behinderung schrieb 1959 an den Verein Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind: »Seit 10 Jahren laufe ich gegen verschlossene Türen und finde keine behördliche oder caritative Stelle, welche für diese Kinder ›zuständig‹ ist. An Förderung oder gar Ausbildung ist nicht zu denken, immer nur an Asylierung entweder zu Lasten der Eltern oder auf Kosten der Wohlfahrt.«3 Der 1958 gegründeten Lebenshilfe ging es deshalb vor allem darum, mit der traditionellen Auffassung zu brechen, »daß der geistig Behinderte am besten unter Isolierung von der Allgemeinheit seine Förderung im Schutz eines Heimes erhält«.4 Für die umfassenden und kostspieligen Erneuerungsmaßnahmen, derer die Anstalten in den meisten Fällen bedurft hätten, fehlte es an den nötigen Mitteln. »Die meisten dieser Anstalten haben mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen«, hieß es in einem Bericht aus dem Jahr 1953. »Der Bombenkrieg hat Millionenwerte an Gebäuden und Einrichtungen vernichtet. Mit den bedeutend gewachsenen Unterhaltskosten haben die Pflegesätze nur unzulänglich Schritt gehalten. Eine Hilfe aus milden Gaben, die diese Anstalten haben groß werden lassen, gibt es heute nicht mehr. Und doch wird immer mehr Platz gebraucht. Die Anstalten sind sämtlich überfüllt. Es gibt oft lange Wartezeiten für die Aufnahmesuchenden […].« 5
Ungeachtet ihrer Unwohnlichkeit – typisch waren enge Massenschlafsäle, große Wasch- und Speiseräume, keine Rückzugsgelegenheiten, kein individuelles Mobiliar, rigide Hausordnungen – konnten die Anstalten die Nachfrage nach Plätzen kaum stillen. Auf katholischer Seite waren die Kapazitätsverluste aus den Kriegsjahren auch 1958 noch nicht ausgeglichen.6 Während nach 1945 in fast allen anderen Aufgabenfeldern der Caritas neue Einrichtungen entstanden waren, war für die behinderten 3 | Karl Lohrengel an Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V., Marburg, 31.12.1959, Archiv der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte, Sammlung ›Chronik der Lebenshilfe‹, Korrespondenz der Gründerjahre 1958-60, A-Ha. 4 | Amtsgerichtsrat Heinen: Aufgaben und Möglichkeiten einer Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind, in: Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V., Informationsschrift Nr. 14, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) MK 62263. 5 | Pater Bernhard Rüther, OSC: Bundestagung der katholischen Anstalten für Abnorme in Gescher, 29.5.1953, Archiv Deutscher Caritasverband Freiburg (ADCV) 279 Fasz. 1. 6 | Vgl. Dr. Becker: Heimunterbringungsmöglichkeiten für schwachsinnige und epileptische Kinder und Jugendliche, 5.1.1959, ADCV 279.025 Fasz. 1.
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Menschen kaum etwas geschehen.7 Die entsprechenden Zweige katholischer Anstaltsfürsorge sahen ihre Anliegen innerhalb des Deutschen Caritasverbandes nur unzulänglich berücksichtigt.8 Auch die Sozialbehörden entwickelten auf diesem Gebiet kaum nennenswerte Initiativen. Anfang 1964 wandte sich das bayerische Innenministerium an die Jugendämter, um zu erfahren, ob Tagesstätten für Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen vorhanden waren und welche Hilfen für diese Kinder außerhalb der Familien bestanden. Tagesstätten für Behinderte, so zeigte sich, waren in Bayern eine absolute Rarität. Nur in einigen größeren Städten wie Nürnberg oder Fürth gab es entsprechende Einrichtungen. Außerhalb von Heimunterbringung und Familie war kaum ein Hilfsangebot vorhanden. Wo solche Initiativen bestanden, waren sie meist mit dem Wirken der Lebenshilfe verbunden. Die Stadt Neu-Ulm zum Beispiel beantwortete die Frage nach Tagesstätten mit Fehlanzeige. Körperlich oder geistig behinderte Kinder würden im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz nur in Heimen untergebracht: »Möglichkeiten, körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche in irgendeiner Form zu unterstützen, bestehen in der Stadt Neu-Ulm nicht.«9 Da es überall an ambulanten Hilfsangeboten fehlte, mussten viele behinderte Menschen, die mit entsprechender Unterstützung auch allein hätten leben können, notgedrungen in einem Heim untergebracht werden. Und da der Mangel an Plätzen in den Behindertenheimen fortbestand, mussten behinderte Menschen nicht selten in Alten- und Pflegeheimen oder in psychiatrischen Krankenhäusern leben. An dieser Lage änderte sich in den ersten beiden Jahrzehnten bundesdeutscher Behindertenpolitik nur wenig. 17.426 geistig behinderte Menschen waren noch 1973 bundesweit in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht und somit fehlplatziert.10 1977 gab es in Bayern 110 Heime für behinderte Volljährige mit 15.783 Plätzen, zu drei Vierteln getragen von der freien Wohlfahrtspflege. Die Plätze bestanden nur zu 14 Prozent aus Wohneinheiten mit Sanitärraum und zum Teil auch mit Küche, hingegen boten 24 Prozent nur Wohnschlafräume ohne eine solche Ausstattung und 62 Prozent
7 | Vgl. Dr. Becker an den Präsidenten des Deutschen Caritasverbandes, 26.11.1959; ADCV 279.025 Fasz.1. 8 | Vgl. Dr. Becker: Zur Situation der Anstaltsfürsorge für Schwachsinnige und Epileptiker, 6.2.1960, ADCV 279 Fasz. 1; Dr. Becker: Heimunterbringungsmöglichkeiten für schwachsinnige und epileptische Kinder und Jugendliche, ADCV 279.025 Fasz. 1. 9 | Stadt Neu-Ulm an Regierung von Schwaben, 30.1.1964, BayHStA MInn 89594. 10 | Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Drucksachen, 7. Wahlperiode, Bonn 1975, Drucksache 4200 vom 25.11.1975, 206.
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waren reine Pflegeeinrichtungen. Zwei Drittel der Heimbewohner und Heimbewohnerinnen galten als ›Pflegefälle‹.11 Nahm man das in der breiten Öffentlichkeit vorherrschende Behindertenbild zum Maßstab, mochte der Eindruck entstehen, als bestünde zwischen der Einstellung der Bevölkerung und dem Entwicklungsstand der Wohnangebote keine größere Diskrepanz. Eine bundesweite Repräsentativbefragung führte 1970/71 zu dem Ergebnis, dass zwei Drittel der Bevölkerung einer Heimunterbringung geistig behinderter Kinder den Vorzug gegenüber einem Verbleib in der Familie gaben. Knapp vier Fünftel hielten abgeschieden gelegene Orte und weniger dicht besiedelte Gegenden für am besten geeignet.12 Solche Einstellungsmuster blieben nicht auf die geistig behinderten Kinder beschränkt. Befragt, ob körperbehinderte Kinder am besten in einem Heim aufgehoben seien, äußerten sich bei einer Untersuchung aus dem Jahr 1972 23 Prozent der Befragten zustimmend, 40 Prozent teilweise zustimmend und nur 18 Prozent teilweise oder ganz ablehnend.13 Untersucht man ›Behinderung‹ als ein historisch wandelbares Konstrukt, das auf gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Einstellungsmustern beruht, so deutete bis Ende der 1960er Jahre wenig auf einen Wandel der dominanten Zuschreibungen hin: Menschen mit psychischen, geistigen und schweren körperlichen Behinderungen wurden von weiten Teilen der Bevölkerung als soziale Fremde angesehen, denen ein gesellschaftlich exterritorialer Ort zugewiesen wurde.
H EIMKRITIK – DIE A NSTALT ALS ›TOTALE I NSTITUTION ‹ Solange die mediale Öffentlichkeit keinen Anteil nahm, die betroffenen Heiminsassen und ihre Familien kein breiteres Gehör fanden und Kenntnisse über alternative Wohn- und Lebensformen, die im Ausland längst anzutreffen waren, in Deutschland kaum existierten, kamen Reformen auf diesem Feld – wenn überhaupt – nur schleppend voran. Die Lebenshilfe bewies zwar, dass ein neuer, agiler und sozial anerkannter Akteur den Anstoß zu tiefgreifenden behindertenpolitischen Veränderungen geben konnte; sie schenkte aber der Frage alternativer Wohnformen zunächst vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Immerhin, in den 1960er Jahren machten sich erste Anzeichen eines vorsichtigen Wandels bemerkbar. In die Kritik gerieten jetzt nicht mehr 11 | Vgl. Die Heime für behinderte Volljährige in Bayern, in: Bayern in Zahlen 31 (1977), 88f. 12 | Vgl. Helmut von Bracken: Vorurteile gegen behinderte Kinder, ihre Familien und Schulen, Berlin 1976, 61f. u. 81. 13 | Vgl. Gerd W. Jansen: Die Einstellung der Gesellschaft zu Körperbehinderten. Eine psychologische Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen aufgrund empirischer Untersuchungen, 4. Auflage Rheinstetten 1981 (1. Auflage Rheinstetten 1972), 93 und 177.
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allein die desolaten Verhältnisse in den Heimen – das ›Prinzip‹ Anstalt selbst schien zunehmend zweifelhaft. Auf katholischer Seite beobachtete man mit Sorge das Aufkommen einer »allgemeinen, offenen wie auch versteckten Aversion gegen Heime und Anstalten«.14 Die konfessionellen Träger sahen sich bisweilen genötigt, Funktion und Existenzberechtigung der geschlossenen Einrichtungen nach außen hin zu verteidigen – diese seien ›Schutzraum‹ oder Refugium für schwere Fälle.15 Der Präsident des Diakonischen Werks, Theodor Schober, sah die Anstalten 1967 in der widersprüchlichen Lage, »fragwürdig und gefragt zugleich« zu sein.16 Ihre Aufgabe sei eine doppelte: Für den einen Typus ihrer Insassen erfüllten sie »die Funktion einer Brücke zwischen den Möglichkeiten des Behinderten und dem Leistungsanspruch der Gesellschaft; für den anderen sind Heim und Anstalt gestalteter Lebensraum, in dem er seine Daseinserfüllung findet.« Für die letztere Gruppe sei die »Welt umher […] zu groß, als daß sie in ihr echte Subjekte, und das ist mehr als Bewahrte und Behütete, sein könnten.«17 Als sich der Reformdruck auf die Anstalts- und Heimträger ein Jahrzehnt später deutlich erhöht hatte, musste der Deutsche Caritasverband in einer Denkschrift18 zur Behindertenhilfe vom April 1977 die Heime erneut gegen »unberechtigte Kritik« verteidigen: Die rasche Entwicklung der Tagesheimstätten, die der Verband inzwischen beobachtete, sei nur möglich gewesen, weil sich die Heime unter den schweren Bedingungen der Nachkriegszeit gerade jener Behinderten angenommen hätten, die keine Förderung in anderen Einrichtungen erhalten hätten. Heime und Vollzeiteinrichtungen hätten aber auch in der Gegenwart nicht an Bedeutung verloren, denn sie böten besonders Schwerbehinderten »eine überschaubare Welt, eine erträgliche Lebensgemeinschaft, ein angemessenes soziales Trainingsfeld und differenzierte Therapie- und Förderungsangebote«.19 Inzwischen waren die Dinge erstmals in Fluss geraten. Je schärfer die Lebensbedingungen in den Heimen und Anstalten mit dem wachsenden Wohlstandsniveau der bundesrepublikanischen Gesellschaft kontrastierten, je deutlicher die Schieflage hervortrat, die innerhalb der Behin14 | Rudolf Müller: Die Sorge um das geistig behinderte Kind, in: Caritas 65 (1964), 228-232, hier 231. 15 | Johannes Klevinghaus: Die Anstalt als Lebenshilfe?, in: Innere Mission 54 (1964), 9-17. 16 | Theodor Schober: Standpunkt, in: Innere Mission 57 (1967), 453. 17 | Ebd. 18 | Deutscher Caritasverband: Behinderte Menschen – Auftrag, Aufgaben und Dienste der Caritas, 28.4.1977, Neufassung Dezember 1980, Kapitel 5.a, in: Andreas Wollasch (Hg.): Deutscher Caritasverband und Sozialstaat. Ausgewählte Denkschriften und Stellungnahmen im Wortlaut (1897-2000), Freiburg i.Br. 2002 (CD-ROM), Dokument 90. 19 | Ebd.
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dertenpolitik zwischen dem hohen Entwicklungsniveau der beruflichen Rehabilitation und dem Rückstand auf den nicht erwerbsbezogenen Integrationsfeldern bestand, je mehr also die Behindertenpolitik auf Fragen der Lebensqualität gestoßen wurde, um so schwieriger wurde es, die Frage nach den Wohnbedingungen zu umgehen. Zusammen mit der gebauten Umwelt und den Mobilitätsschranken geriet deshalb gegen Ende der 1960er Jahre auch das Wohnen verstärkt ins Blickfeld der Behindertenpolitik. Im hessischen Landtag, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde die Wohnversorgung behinderter Menschen 1972 erstmals eingehender erörtert. Allerdings beteuerte der hessische Sozialminister bei dieser Gelegenheit, es seien ihm keine Fälle bekannt, in denen die Unterbringung in Anstalten und gleichartigen Einrichtungen nur deshalb notwendig geworden sei, weil keine behindertengerechten Wohnungen zur Verfügung stünden. Anders der Initiator der Debatte, ein liberaler Abgeordneter, der sich auf eine Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfen für Behinderte (BAGH) berief, die eine exakt gegenteilige Auffassung vertrat.20 Die Bundesregierung wie auch die Landesregierungen verstärkten in der Folgezeit die Förderung behindertengerechter Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus. Der nordrhein-westfälische Innenminister zum Beispiel stellte 1973 Sondermittel zur Förderung von mehr als 600 Wohnungen für Menschen mit Behinderungen bereit. Zugleich waren aber auch sieben neue Wohnheime, meist in der Größe von 25-60 Plätzen, in Planung, im Falle eines Blindenheims – ganz im alten Stil – mit sogar 200 Plätzen. Immerhin sollte nunmehr, wie die Landesregierung hervorhob, »der Gesichtspunkt der Integrierung der Wohnheime in allgemeine Wohngebiete bei der Planung berücksichtigt« werden.21 Der Ausbau der Wohnheime, wenn auch in einer stärker zeitgemäßen Form, und die Modernisierung der überkommenen Anstalten blieben auch weiterhin auf der Agenda der Behindertenpolitik. Unterdessen wurde das ›Heim‹ immer mehr zum Reizwort und die ›Anstalt‹ zur Chiffre für viele Unzulänglichkeiten in der Behindertenpolitik. Die ›Anstalt‹ stand für einen fremdregulierten Alltag, einen Tagesablauf in Abhängigkeit von den organisatorischen Bedürfnissen der Institution, nicht der darin Lebenden, für die Unterwerfung unter Dienstpläne, Personalnöte, Heimordnungen, für die Bevormundung durch und die Abhängigkeit vom Pflegepersonal, für minimale Entfaltungsräume von Privatheit, Intimität und Individualität, für hermetische Abschirmung von der Umwelt, für ein Wohnen in unfreiwilligen, zufällig gebildeten Kollektiven, für bauliche Uniformität, unpersönliche Massenunterkünf20 | Vgl. Hessischer Landtag: Stenografische Berichte, 7. Wahlperiode, Wiesbaden 1972, 33. Sitzung vom 7.3.1972, 1755-1766, besonders 1756 und 1758. 21 | Landtag Nordrhein-Westfalen: Drucksachen, 7. Wahlperiode, Düsseldorf 1975, Drucksache 7/4257 – Situation der Behinderten in Nordrhein-Westfalen (Behinderten-Enquête), 25.9.1974, 111 und 113.
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te und soziale Isolation, kurzum: für eine Gegenwelt zu ›normalen‹ Lebensentwürfen. In den Zeitschriften der sich neu formierenden Behindertenbewegungen figurierte das ›Heim‹ als Sinnbild für den abseitigen gesellschaftlichen Ort und die marginalisierte Lage, welche Menschen mit Behinderungen zugewiesen wurden. Die Krüppelgruppen, die in den 1980er Jahren den radikalen Arm der neuen Behindertenbewegung bildeten, gehörten zu den ersten, die eine konsequente Schließung aller Heime forderten.22 Auf der Ebene der je besonderen Befindlichkeit gab eine anonymisierte Zuschrift, die 1972 im Organ der Clubs Behinderter und ihrer Freunde zu lesen war, der allgemeinen Misere einen individuellen Ausdruck: »Bin 1932 geboren. Außerdem bin ich im Rollstuhl gefesselt, infolge 100 Prozent Spastischerlähmung. Wohne hier im Pflegeheim seit 3 Jahren, nun meine Probleme. 1. ist das Gelände hier sehr uneben, so dass es für mich unmöglich ist mich fortzubewegen, wie ich es gerne möchte. 2. Wäre es mein Wunsch, ein Heimplatz nahe der Stadt zu finden, ich denke im Raum Rhld. 3. Bedrückt mich die Raumnot. Beispielsweise ist hier kein Hobby- und Leseraum, leider ist es für mich auch unmöglich, selbständig auf das Zimmer zu kommen, da ein Aufzug, der ohne Begleiter nicht läuft. Zudem ist das ein 4 Bettzimmer, dort kann ich begrenzt meine Hobbys ausüben. Bitte deshalb herzlich um Adresse von Heimen, die mir zusagen! […] Bitte um Vertraulichkeit, da ich sonst Ärger bekomme.« 23
Nicht allein die erschreckende Dürftigkeit und die ghettoartigen Strukturen vieler Anstalten machten in den Augen der Kritiker deren Fragwürdigkeit aus. Als Institutionen, deren Spielregeln den Ablauf und Rhythmus des Alltags diktierten, erschienen sie vielen auch als ein Ort »erlernter Hilflosigkeit«.24 Eine körperbehinderte Frau beschrieb den Verlust an Selbstständigkeit, der mit ihrer Heimunterbringung verbunden war: »Hier im Heim erfuhr ich nicht mehr, welcher Aufwand notwendig ist, eine Mahlzeit zuzubereiten, oder wieviel Zeit es in Anspruch nimmt, bis schmutzige Wäsche sauber und gebügelt im Schrank liegt. Diese lebenspraktischen Dinge wurden heimintern geregelt. […] Jegliche finanzielle und organisatorische Angelegenheiten wurden ohne mich von der Heimverwaltung erledigt. Dadurch gerieten, ohne dass es mir richtig bewusst wurde, meine persönlichen Bedürfnisse immer mehr in den Hintergrund. Der Dienstplan entschied, ob ich ins Kino gehen 22 | Vgl. die Ablichtung zweier Artikel aus der Bremer Weserzeitung vom 12. und 19.3.1982 (»Alle Heime für Behinderte schließen« und »Scherf kritisiert ›Krüppelgruppen‹«) sowie eines darauf bezogenen Briefwechsels in: Krüppelzeitung 4 (1982), H. 2, 8f. und 24. 23 | Ein Blick über den Zaun, in: CeBeeF-Magazin für Behinderte und ihre Freunde 2 (1972), H. 3, 32. 24 | M.F.P. Seligmann: Erlernte Hilflosigkeit, 3. Auflage München/Weinheim 1986.
D AS E NDE DER A NSTALT ? konnte. Erst nach Jahren der absoluten Versorgung und Überbehütung in diesem Heim merkte ich allmählich, wie entwürdigend dieser Zustand eigentlich ist. Ich war ziemlich unfähig im Lösen von eigenen Problemen und in der Bewältigung lebenspraktischer Grundfragen.« 25
Auch auf politischer Ebene wuchs allmählich ein Bewusstsein für die Problematik der Heime. »Die Behinderten in Heimen«, hieß es in einem Hintergrundpapier des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit aus dem Jahre 1982, »zählen zu den bisher am meisten vernachlässigten Behindertengruppen, soweit es um das öffentliche Interesse an Fragen ihrer sozialen Lebensbedingungen und darum geht, wie sich diese verbessern lassen. Die negativen psychosozialen Folgen eines jahrelangen Heimaufenthalts sind bekannt.«26 Dauerhaft in einem Heim untergebrachte Menschen hätten unter den gegebenen Bedingungen kaum noch Aussicht auf gesellschaftliche Integration, der Einzelne finde fast regelmäßig keine Möglichkeit mehr, das Heim wieder zu verlassen. In dem Maße, wie seit den 1980er Jahren das von Skandinavien ausstrahlende Normalisierungsprinzip27 auf die Problemsichten der bundesdeutschen Behindertenpolitik einzuwirken begann, wurde das Heim immer fragwürdiger: Wenn es darum gehen sollte, die Lebensumstände behinderter Menschen soweit wie möglich den Lebensumständen der nicht behinderten Bevölkerung anzugleichen, büßte die Heimunterbringung ihre Legitimation vollends ein. Erwachsene Behinderte, forderten zwei führende dänische Vertreter dieses Prinzips auf einem Kongress in München 1982, sollten so selbstständig wie möglich wohnen können, »und zwar in Wohnungen, die denen der sogenannten Normalbevölkerung entsprechen«. Wenn aber eine Institutionenunterbringung erforderlich sei, sollte sie aus höchstens vier bis sechs Personen je Haus bestehen.28
25 | Johanna Greckl: Ein knappes Jahr nach meinem Umzug in eine eigene Wohnung, in: Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung der Behinderten. Neue Wege gemeindenaher Hilfen zum selbständigen Leben. Kongressbericht der internationalen Tagung: »Leben, Lernen, Arbeiten in der Gemeinschaft«, München 24.-26. März 1982, München 1982, 40-42, hier 41f. 26 | Regierungsdirektor Lenz, Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit: Aufstellung einer Prioritätenliste für die BMJFG-Behindertenpolitik, 17.3.1982, Bundesarchiv Koblenz (BArch) B 189, Nr. 28131. 27 | Vgl. Walter Thimm: Das Normalisierungsprinzip – Eine Einführung, Marburg 1984. 28 | Niels Erik Bank-Mikkelsen/E. Berg: Das dänische Verständnis von Normalisierung und seine Umsetzung in einem System von Hilfs- und Pflegediensten zur Integration, in: Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung der Behinderten. Neue Wege gemeindenaher Hilfen zum selbständigen Leben. Kongressbericht der internationalen Tagung: »Leben, Lernen, Arbeiten in der Gemeinschaft«, München 24.-26. März 1982, München 1982, 108-113, hier 111.
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Löst man für einen Moment den Blick von der Behindertenpolitik, stößt man seit den 1970er Jahren auf eine viele Sektoren des Sozialwesens übergreifende, ähnliche Entwicklung: Die wesentlich im 19. Jahrhundert etablierte Einrichtung des ›Heims‹, bis in die 1950er Jahre hinein die selbstverständliche – und weithin einzige – institutionelle Alternative zu den Versorgungs- und Fürsorgeleistungen der Familie, wurde von einem Lösungsansatz, als welcher sie bis dahin gegolten hatte, zunehmend selbst zu einem sozialen Problem. Dies galt weit über die Hilfen für behinderte Menschen hinaus. Beispielsweise enthielten die seit den 1970er Jahren auf Länder- und Städteebene vorgelegten Altenpläne nicht mehr nur Fördermittel zur Sanierung der oft genug desolaten Verhältnisse in den Altenheimen – sie zielten nun häufig auch auf einen Ausbau der offenen Altenhilfe in Gestalt von Altentagesstätten, -clubs oder -beratungsstellen.29 Alten Menschen ihre Selbstständigkeit zu erhalten, ihnen Möglichkeiten zu bieten am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen, galt als neue Richtschnur auch der Altenhilfe.30 Ebenso machte seit den späten 1960er Jahren der Jugendhilfe eine anschwellende ›Heimkritik‹ zu schaffen, deren Vehemenz die Anstaltsträger in die Defensive drängte.31 In der Folge durchlebte die Jugendhilfe eine Phase produktiver Unruhe. Die großen Heime der Jugendhilfe wurden in den 1970er und 1980er Jahren durch Außenwohngruppen, Kleinstheime, sozialpädagogisch betreutes Einzelwohnen und Jugendwohngemeinschaften aufgelockert und ergänzt.32 Zugleich wurde in der Jugendhilfe das Netz der teilstationären und ambulanten Einrichtungen dichter geknüpft.33 Kurzum, das Prinzip ›Anstalt‹ als Hilfetyp und Lebensform büßte seine selbstverständliche Legitimation ein. Auf theoretischer Ebene liefer29 | Monika Friedrich-Wussow: Altenhilfepolitik in der Bundesrepublik Deutschland aus der Sicht der Altenpläne, in: Margret Dieck/Gerhard Naegele (Hg.): Sozialpolitik für ältere Menschen, Heidelberg 1978, 267-282; Birgit Baumgartl: Altersbilder und Altenhilfe. Zum Wandel der Leitbilder von Altenhilfe seit 1950, Opladen 1997, 134ff. 30 | Vgl. Birgit Baumgartl: Problemwahrnehmung und Politikformulierung in der Altenhilfe, in: Universität Konstanz/Fakultät für Verwaltungswissenschaft: Sozialverwaltung und Altenpolitik, Konstanz 1995, 53-91, hier 79. 31 | Vgl. Markus Köster: Holt die Kinder aus den Heimen! – Veränderungen im öffentlichen Umgang mit Jugendlichen in den 1960er Jahren am Beispiel der Heimerziehung, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn/München/Wien/Zürich 2003, 667-681. 32 | Als Überblick über die einzelnen Varianten vgl. Erich Kiehn, Sozialpädagogisch betreutes Jugendwohnen, Freiburg i.Br. 1990, 50ff. 33 | Vgl. Jürgen Blandow: Heimreform in den 80er Jahren. Materialien und Einschätzungen zur jüngeren Entwicklung der Heimerziehung, in: Friedhelm Peters (Hg.): Jenseits von Familie und Anstalt. Entwicklungsperspektiven in der Heimerziehung, Bielefeld 1988, 28-49.
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te die bereits erwähnte Interpretationsfigur der ›totalen Institution‹ von Erving Goffman der Anstaltskritik die nötige Munition.34 Einrichtungen diesen Typs, die Goffman exemplarisch anhand des Binnenlebens psychiatrischer Anstalten ergründet hatte, waren vor allem durch Dreierlei gekennzeichnet: Erstens zogen sie eine scharfe Grenze zwischen Innenund Außenwelt, wodurch die Insassen von den Grundlagen ihrer bisherigen Identität abgeschnitten wurden. Zweitens waren die Schranken, die in der Außenwelt zwischen den funktionalen Lebensbereichen (Wohnen, Arbeiten, Freizeit etc.) bestanden, in der Innenwelt der Anstalt aufgehoben. Und drittens entfaltete sich zwischen Insassen und Personal ein auf Unterordnung und Sanktionsmacht beruhendes Wechselspiel, bei dem sich die Bewohner zu einem eigentümlichen Verhalten veranlasst sahen, das weniger als Ausdruck ihrer ›Krankheit‹ denn als Anpassung an die Institution zu verstehen war. Vor diesem Hintergrund konnte für jeweils kurze Zeit Heimkritik zu einer Erscheinung werden, die nicht mehr allein unter den Betroffenen virulent war, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit erfasste. Dies galt auch für die Behindertenanstalten. Als die Wochenzeitung Die Zeit 1979 unter dem Titel Schlangengruben in unserer Gesellschaft ein Licht auf das Elend warf, das in den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg herrschte,35 rief dies nicht nur lebhafte Reaktionen ihrer Leserschaft hervor, sondern auch erkennbare Änderungsbestrebungen von politischer Seite. In den Alsterdorfer Anstalten hatte sich ein Kreis von Mitarbeitern formiert, der dafür sorgte, dass die Missstände ans Licht der Öffentlichkeit gelangten. »Wir wollen nichts weiter als: Möglichst viele Bewohner sollen in möglichst normalen Wohnungen in möglichst normalen Wohngegenden mit möglichst normalen Nachbarn leben. Das Getto, die Zusammenballung von behinderten Menschen, muß aufgelöst werden.«36 Auf Druck der Sozialbehörde legte der Vorstand der Alsterdorfer Anstalten bereits 1980 einen Plan zur Verkleinerung des 1.200-Betten-Komplexes vor. Zwar wurde noch 1982 ein schon länger geplantes sechsstöckiges Wohnheim für 220 Menschen eröffnet, dessen 2-3-Bettzimmer gegenüber den vorherigen Schlafsälen einen Fortschritt darstellen mochten, das aber als Wohnkonzept im Grunde schon bei der Eröffnung anachronistisch war. Der entstandene Reformdruck führte indes zu weiteren ›Auflockerungsmaß34 | Zu den ›totalen Institutionen‹ zählte Goffman, dessen Werk Asyle 1972 in deutscher Übersetzung erschien, Waisenhäuser und Altersheime, Irrenhäuser und Tbc-Sanatorien, Gefängnisse und Gefangenenlager, Kasernen und Internate, Klöster und Konvente. 35 | Vgl. R. Just/R. Meisel: Schlangengruben in unserem Land. Heilanstalten – Schandflecken der deutschen Psychiatrie, in: Zeit-Magazin, Nr. 17 vom 20.4.1974. 36 | Heike Kühn: Löst die Anstalten auf!, in: Michael Wunder/Udo Sierck (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand, Hamburg 1981, 134-140, 137.
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nahmen‹,37 die dann in den 1980er Jahren auf den Weg gebracht wurden – zur Errichtung von Außenwohngruppen, Dezentralisierung bzw. Regionalisierung des Wohnstättenangebots wie auch zu Qualitätsverbesserungen in den bestehenden Heimstrukturen. Dieses Reformmuster findet sich bei zahlreichen anderen Großanstalten, wenn auch selten verbunden mit einer ähnlich vehementen öffentlichen Skandalisierung.
R EFORMEN – M ODERNISIERUNG , A UFLOCKERUNG ODER A UFLÖSUNG DER A NSTALTEN ? Das gleiche Muster von Skandalisierung und Modernisierung lässt sich im Kontext der psychiatrischen Unterbringung finden. Bis in die 1970er Jahre hinein waren hier die Missstände in den Anstalten besonders schlimm. An der Wende zu den 1970er Jahren sorgte dann unter anderem der aus Insider-Perspektive verfasste Bericht Irrenhäuser von Frank Fischer (1969) für medialen Wirbel, ebenso Pressereportagen wie der Spiegel-Report Isoliert wie Aussätzige von 1971.38 Ein Zwischenbericht der 1970 von der Bundesregierung eingesetzten Enquête-Kommission zur Berichterstattung über die Lage der bundesdeutschen Psychiatrie kulminierte 1973 in dem fortan viel zitierten Satz, »daß eine sehr große Anzahl psychisch Kranke[r] und Behinderter in den stationären Einrichtungen unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben müssen«.39 Im Mittelpunkt der Kritik standen die psychiatrischen Großkrankenhäuser mit ihrer dominanten Stellung im Versorgungsgefüge: ihr übergroßer Zuschnitt, ihre katastrophale Überfüllung, überalterte Bausubstanz und unangemessene innere Struktur, dazu ihr unzureichendes und schlecht ausgebildetes Personal. Die schweren Missstände und elenden Lebensbedingungen, die in den psychiatrischen Krankenhäusern angetroffen
37 | Uwe Schiermann: Entwicklungsplanung der Alsterdorfer Anstalten, in: Hamburger Spastikerverein (Hg.): Internationales Symposium »Was heißt hier Wohnen?« Wohnprobleme körperlich und geistig Behinderter. Tagungsbericht, Hamburg [o.J.], 77-86; Michael Wunder: Paradigmenwechsel in Alsterdorf, www. beratungszentrum-alsterdorf.de/cont/Paradigmenwechsel(1).pdf (10.2.2010). 38 | Anne Lennertz: Die Reaktion der Bevölkerung auf die Veröffentlichung des Berichts von Frank Fischer in einer Tageszeitung, in: Der Nervenarzt 43 (1972), 50f.; Unterprivilegiert. Eine Studie über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland, Neuwied/Berlin 1973, 129ff. (Der Spiegel Nr. 13/1971). 39 | Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, hier: Zwischenbericht der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung der Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, Deutscher Bundestag (Hg.): Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Drucksachen, 7. Wahlperiode, Bonn 1975, Drucksache 1124, 23.
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wurden,40 drohten zusammen mit der kontraproduktiven Prägekraft des Anstaltsmilieus und dem Fehlen ambulanter wie teilstationärer Angebote aus Patienten tatsächlich ›chronisch psychisch Kranke‹ werden zu lassen. Im 1975 schließlich vorgelegten Enquête-Bericht war zwar nicht mehr die Rede von einer »Auflösung« oder »Schließung« der Großkrankenhäuser, wie sie von entschiedenen Kritikern aus dem Lager der Sozial- oder AntiPsychiatrie gefordert worden war, lediglich von ihrer »Umstrukturierung« wurde gesprochen.41 Dennoch war dies das Startsignal für einen sich über mehrere Jahrzehnte hinziehenden Reformzyklus. Auf Länderebene war man bereits dabei, die Fachkrankenhäuser zu renovieren. Dies erschien zwar im Interesse der Patienten als unvermeidbar, musste zugleich aber die Bestandsaussichten der Einrichtungen wieder stabilisieren. Gleichwohl steht außer Zweifel, dass sich das Gesicht der bundesdeutschen Psychiatrie seit der Enquête in kardinaler Weise verändert hat. Die Versorgungsangebote wurden dezentralisiert, zahlreiche psychiatrische Abteilungen an den Allgemeinkrankenhäusern errichtet, in den Gemeinden ambulante und komplementäre Hilfen aufgebaut, die einzelnen Dienste regional verzahnt, die Bettenzahlen (und damit die einseitige Orientierung auf die stationäre Versorgung) reduziert, die Langzeitbereiche in den Kliniken teilweise aufgelöst, die Therapieangebote erweitert. In der Summe ergab dies zweifellos einen qualitativen Sprung.42 Schon bald nach Verabschiedung der Enquête zeigte sich allerdings, dass gerade die Gruppe der psychisch Behinderten, d.h. der chronisch Kranken, ins Abseits der Reform zu geraten drohte. Das Interesse der Enquête hatte vornehmlich solchen Patienten gegolten, bei denen Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft möglich erschienen. Hingegen wurden die als schwierig und therapieresistent eingestuften ›Fälle‹ nun in den expandierenden Heimsektor abgeschoben – mit ihnen, die zuvor zwei Drittel ihrer Patienten ausgemacht hatten, wollte sich die Anstaltspsychiatrie nicht mehr länger aufhalten. In den Heimen aber hatten die Betroffenen oft von Neuem mit miserablen Lebensbedingungen zu kämpfen. Mit der Klinifizierung der Anstaltspsychiatrie war somit, nicht anders als in England oder den USA, die Gefahr einer Abkehr der 40 | Für zeitgenössische Schilderungen der Missstände vgl. neben dem Schlussbericht der Enquête Heinz Häfner: Situation und Entwicklungstendenzen der Sozialpsychiatrie, in: Die Verantwortung der Gesellschaft für ihre psychisch Kranken, Frankfurt a.M. 1967, 8-35; Asmus Finzen: Situation und Entwicklungstendenzen der psychiatrischen Krankenversorgung in der Bundesrepublik, in: Ders./Hilde Schädle-Deininger: »Unter elenden menschenunwürdigen Umständen«. Die Psychiatrie-Enquête, Rehburg-Lossum 1979, 5-24. 41 | Deutscher Bundestag, Drucksache 4200 vom 25.11.1975, 217ff. 42 | Vgl. Manfred Bauer/Renate Engfer: Entwicklung und Bewährung psychiatrischer Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Achim Thom/Erich Wulff (Hg.): Psychiatrie im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West, Bonn 1990, 413-429.
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Psychiatrie aus der Verantwortung für die chronisch psychisch Kranken verbunden.43 Statt zur Deinstitutionalisierung kam es zu einer Umhospitalisierung. Auf dem Feld der Behindertenpolitik hängen Fehlsteuerungen dieser Art nicht nur mit der Schwerkraft der Bestandsinteressen, den Eigeninteressen der Profession oder den dominierenden Konzepten von Behinderung zusammen, sondern auch mit den gegebenen sozialpolitischen Anreizen. So war man sich Anfang der 1980er Jahre in den zuständigen Ministerien darüber im Klaren, dass die Neigung zur Heimunterbringung selbst für jene Personengruppen, die auch in ambulant betreuten Wohnformen leben konnten, damit zusammenhing, dass die Finanzierungsmodalitäten im Heimsektor in der Regel weniger Schwierigkeiten bereiteten. Solange adäquate Alternativen fehlten und es an Bereitschaft von Kostenträgern, Trägerverbänden und Gemeinden mangelte, die Einrichtung von Alternativen zu unterstützen, könnten, hieß es in einem Bericht, keine Konsequenzen aus der Fehlbelegung, der unzureichenden Ausstattung und der Gefahr der Ghettoisierung gezogen werden, auch wenn ein gestuftes System alternativer Möglichkeiten »beschützten Wohnens« dazu dienen könne, »den Aufenthalt in Kliniken zu verkürzen, die Einweisungsziffer zu senken und auf diese Weise einer Chronifizierung und Hospitalisierung vorzubeugen«.44 Immerhin ist nicht zu übersehen, dass die Zahl der Modellprojekte und etablierten Alternativinstitutionen seit den 1980er Jahren enorm zugenommen hat, so sehr, dass manchmal der Blick für die Beharrungskraft der Institution des Heims verloren zu gehen droht.45 Im Einzelnen kann das ganze Spektrum der neu geschaffenen Institutionen hier nicht vorgestellt werden. So sind für Menschen mit geistigen Behinderungen in den Gemeinden gruppengegliederte Wohnheime in überschaubarer Größe, gemeindeintegrierte Außenwohngruppen, betreute Wohngruppen und Wohngemeinschaften, vereinzelt auch Formen betreuten Einzelwohnens entstanden.46 15.000 Plätze in solchen Einrichtungen wurden bis Mitte der 1990er Jahre geschaffen; 1995 schätzte die Lebenshilfe indes den wei43 | Vgl. Heinrich Kunze: Psychiatrie-Reform zu Lasten der chronischen Patienten, in: Der Nervenarzt 48 (1977), 83-88; ders.: Psychiatrische Übergangseinrichtungen und Heime. Psychisch Kranke und Behinderte im Abseits der Psychiatrie-Reform, Stuttgart 1981. 44 | Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Ref. 342, Bialonski, an Ref. 530, 13.5.1982, BArch B 189, Nr. 28092. 45 | Als Überblick vgl. Wohnen Behinderter, Bd. 1 und 2. Bearbeitet von Bernd Pieda/Stephanie Schulz, Stuttgart/Berlin/Köln 1990. 46 | Theodor Thesing: Betreute Wohngruppen und Wohngemeinschaften für Menschen mit einer geistigen Behinderung, Freiburg i.Br. 1990; Monika Seifert: Wohnen – so normal als möglich, in: Hajo Jakobs/Andreas König/Georg Theunissen (Hg.): Lebensräume – Lebensperspektiven. Ausgewählte Beiträge zur Situation Erwachsener mit geistiger Behinderung, Butzbach-Griedel 1998, 150-190.
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ter bestehenden Fehlbedarf an gemeindeintegrierten Wohnplätzen auf 45.000-50.000.47 In einer Stadt wie Berlin lebten zu diesem Zeitpunkt 53 Prozent der geistig behinderten Menschen in der Familie, 24 Prozent in Wohnheimen, 17 Prozent in klinischen und pflegerischen Einrichtungen und sechs Prozent im betreuten Wohnen.48 Selbst Mitte der 1990er Jahre war es bei Weitem noch nicht gelungen, alle in Alten- und Pflegeheimen oder psychiatrischen Anstalten ›fehlplatzierten‹ Heiminsassen zu enthospitalisieren.49 Der größte Abstand zur ›alten‹ Anstalt trat bei der Konzipierung neuer Wohnformen im Umfeld der Behindertenbewegung zutage.50 Das Leitbild des Selbstbestimmten Lebens, das diese in den 1980er Jahren nach dem Vorbild der amerikanischen Independent-Living-Bewegung aufgriff,51 zielte auf ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Wohnen in autonomer Lebensgestaltung. Deshalb standen das Ende der Heimunterbringung und die Schaffung von Wohn- und Lebensmöglichkeiten in eigener Regie weit oben auf der Prioritätenskala dieser Gruppen. In Bremen, wo bereits 1978 eine Krüppelgruppe ins Leben gerufen worden war, setzte sich 1986 ein aus diesem Kreis hervorgegangenes Pionierprojekt zum Ziel, auch stark pflege- und assistenzabhängigen Menschen ein Wohnen in eigener Regie zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten den Betroffenen eine Reihe von Kompetenzen zurückgegeben werden: die Finanzkompetenz als Verfügung über die finanziellen Mittel, mit denen Pflege und Assistenz bezahlt wurden, die Organisationskompetenz als die Möglichkeit, selbst über deren Art, Form und Zeitpunkt zu 47 | Vgl. Klaus Kräling: Wohnen heißt zu Hause sein. Gemeindeintegriertes Wohnen erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland, in: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Wohnen heißt zu Hause sein. Handbuch für die Praxis gemeindenahen Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg 1995, 21-28, hier 24f. 48 | Vgl. Monika Seifert: Über 1000 Menschen mit geistiger Behinderung fehlplaziert … Ergebnisse einer Studie zur Wohnsituation von Menschen mit geistiger Behinderung in Berlin, in: Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. (Hg.): Wohnen heißt zu Hause sein. Handbuch für die Praxis gemeindenahen Wohnens von Menschen mit geistiger Behinderung, Marburg 1995, 75-84. 49 | Auf die entsprechenden Erfahrungen in der Psychiatrie kann hier nicht eingegangen werden; vgl. hierzu vor allem: Petra Gromann-Richter (Hg.): Was heißt hier Auflösung? Die Schließung der Klinik Blankenburg, Bonn 1991; Klaus Dörner (Hg.): Ende der Veranstaltung – Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie, Gütersloh 1998. 50 | Vgl. Christian Bradl: Vom Heim zur Assistenz. Strukturelle Grenzen von »Selbstbestimmt Leben« im Heim, in: Ders./Ingmar Steinhart (Hg.): Mehr Selbstbestimmung durch Enthospitalisierung. Kritische Analysen und neue Orientierungen für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen, Bonn 1996, 178-203. 51 | Vgl. Tobias Reinarz: Initiativen für »selbstbestimmtes Leben« in Deutschland, in: Die Randschau 5 (1990), H. 3, 6-12.
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befinden, die Personalkompetenz als das Recht der ›Assistenznehmer/-innen‹, selbst zu bestimmen, wer sie unterstützt, die Anleitungskompetenz als Vermögen, die Helfer/-innen eigenhändig anzuleiten und schließlich die Kompetenz der Person mit Assistenzbedarf zu entscheiden, wo, wie und mit wem sie leben will. Die hierfür notwendige Beratung der Betroffenen beruhte auf dem Prinzip des Peer Support, d.h. der Beratung von behinderten Menschen durch selbst Betroffene und ›Experten in eigener Sache‹.52 Damit wurde ein Weg vorgezeichnet, der weit voraus wies und inzwischen in der Verankerung des Persönlichen Budgets sowie der Assistenz im Sozialgesetzbuch IX von 2001 seinen sozialrechtlichen Niederschlag gefunden hat. Für unseren Kontext wesentlich ist der Kontrast zum Idealtyp des hilfeabhängigen, unselbstständigen, schutzbedürftigen ›Heimpfleglings‹, der gleichsam die Negativfolie zu allen Kompetenzzuschreibungen darstellt, wie sie mit dem Paradigma des Selbstbestimmten Lebens verbunden sind. Bei Letzterem wird das Bild des behinderten Menschen nicht von den angenommenen Defiziten, sondern von den wieder herzustellenden Fähigkeiten aus entworfen; die soziale Konstruktion des Behindertenbegriffs wird gleichsam umgedreht. Die in Institutionen wirkenden, formellen und informellen Machtbeziehungen sollen in den Rahmen selbstbestimmten Entscheidens überführt werden. Das Abhängigkeitsverhältnis, das nicht nur stationäre Einrichtungen, sondern auf andere Weise auch ambulante Dienste erzeugen, wird nicht unbedingt aufgehoben, aber durch eine Umkehrung ausbalanciert. Den Stand, der Mitte der 1990er Jahre auf dem Feld des Wohnens behinderter Menschen außerhalb ihrer Familien erreicht war, dokumentiert eine bundesweite Untersuchung, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gab.53 142.000 behinderte Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt in den rund 3.000 Heimen und Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Noch immer war das Angebot, wie der vierte Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten festhielt, im Wesentlichen geprägt durch ›Wohnheime für Erwachsene‹,54 einer Wohnform, der, zählte man die Wohnangebote mit integrierter Beschäftigung oder ganztägiger Pflege hinzu, gut drei Viertel der Plätze zugeordnet werden konnten. Die Gründe für die Aufnahme in ein Heim ließen nach wie vor erkennen, wie sehr der Weg dorthin durch Zwangslagen bestimmt war. In etwa zwei Dritteln der Fälle erfolgte die Heimaufnahme, weil eine Versorgung durch die Eltern oder eine häusliche Betreuung durch andere Personen nicht mehr möglich war; der Wechsel war also »häufig aus einer Notsituation erfolgt, ohne dass die 52 | Selbstbestimmt leben – Entwicklung eines Bremer Projektes, in: Die Randschau 2 (1987), H. 3, 6-10. 53 | Die folgenden Befunde nach Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Vierter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, unveränderter Nachdruck Bonn 1998, 85ff. 54 | Vgl. ebd.
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Betroffenen Einfluss auf diese Entscheidung haben«.55 Nur in 20 Prozent der Fälle lag dem Wechsel die Erwartung gesteigerter Selbstständigkeit zugrunde. Eine selbstständigere Lebensführung ermöglichten nur etwa 15 Prozent aller Wohnplätze, die sich zu 6,2 Prozent auf die Wohnform der Außenwohngruppen, zu 4,2 Prozent auf Wohngemeinschaften und zu 3,6 Prozent auf betreutes Einzel- und Paarwohnen verteilten. Auf internationaler Ebene sah die Situation bisweilen anders aus: In Schweden lebten zu diesem Zeitpunkt 95 Prozent der Menschen mit geistiger Behinderung in gemeindenahen, betreuten Wohnformen oder in der Familie; nur fünf Prozent befanden sich noch in Einrichtungen mit mehr als fünf Personen.56 Fast die gleichen Prozentangaben ergaben sich für Norwegen; in Finnland lagen die Werte bei 85 Prozent und 15 Prozent. In Deutschland lebten dagegen 28 Prozent der geistig behinderten Menschen in Heimen, 68 Prozent in ihren Familien und nur vier Prozent in Wohngemeinschaften bzw. betreuten Wohnformen.57 Ein Jahrzehnt später war die Zahl der Heimunterbringungen noch einmal beträchtlich gestiegen; noch immer lebte lediglich ein Viertel der behinderten Heimbewohner in Einrichtungen mit weniger als 50 Plätzen.58
A USBLICK Wenn heute von vielen Seiten gefordert wird, möglichst selbstständige Wohnformen für behinderte Menschen zu schaffen, dürfen die dabei weiter bestehenden Interessendivergenzen und Perspektivenunterschiede nicht übersehen werden. Im Dezember 2006 trat die Bundesinitiative – Daheim statt Heim mit der Forderung nach einem »Baustopp für neue
55 | Ebd. 56 | In Schweden wurde Verwaltung und Anstaltsträgern 1985 gesetzlich vorgeschrieben, Abbaupläne zu entwerfen und zugleich bei allen noch in Anstalten wohnenden Behinderten einmal jährlich zu überprüfen, ob nicht andere Formen des Wohnens für sie günstiger waren. 1997 wurde per Gesetz bestimmt, dass bis 2000 alle Anstalten geschlossen sein sollten; vgl. Kai Grunewald: Der Abbau der Anstalten für Behinderte in Schweden, in: Geistige Behinderung 41 (2002), H. 3, 243-254. 57 | Vgl. Matthias Dalferth: Enthospitalisierung in westlichen Industrienationen am Beispiel der USA/Kalifornien, Norwegen und Schweden, in: Georg Theunissen/ Albert Lingg (Hg.): Wohnen und Leben nach der Enthospitalisierung. Perspektiven für ehemals hospitalisierte und alte Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung, Bad Heilbrunn/Obb. 1999, 88-113, hier 88 und 100ff. 58 | Eckhard Rohrmann: Auf dem Weg zu mehr ambulanten Hilfen?, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 151 (2004), H. 4, 137-139; Werner Strubel: Menschen mit Behinderungen gehören zu ihren Gemeinden, in: Neue Caritas Jahrbuch 2004, 154-157.
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Heime« und einem »Abbau von Heimplätzen« an die Öffentlichkeit.59 Ambulante Unterstützungsangebote, so hieß es, müssten behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Wohnen und Leben ermöglichen. Die Betroffenen müssten ihre Lebensform selbst wählen können, nicht zuletzt auch mit Hilfe eines persönlichen Budgets. Dem trat jedoch der Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe als Dachverband zahlreicher Einrichtungsträger der Diakonie entgegen.60 Ungeachtet grundsätzlicher Sympathie für die Leitidee der Initiative sprach er sich für »regional vollständige Unterstützungslandschaften« unter Einschluss auch stationärer Einrichtungen aus. Im Verband war, wie bekundet wurde, der Eindruck entstanden, dass die Heimkritik der Bundesinitiative auf einem überholten Heimbild beruhe, in den letzten Jahrzehnten seien schließlich an die Stelle der großen Heimkomplexe längst kleine, stadtteilintegrierte Wohnstätten und dezentrale Verbundsysteme von Wohnheimgruppen getreten. Die Auseinandersetzung um die ›richtigen‹ Wohnformen für behinderte Menschen hält also an. Dass die Forderung nach Deinstitutionalisierung – wie begrenzt auch immer – Resonanz gefunden und sich die Institutionenlandschaft ein erhebliches Stück verändert hat, macht deutlich, dass Wohninstitutionen als zeitgebundene und insofern kulturell codierte Repräsentationen eines wandelbaren Begriffs von ›Behinderung‹ verstanden werden können. Letztendlich geht es um eine noch lange nicht eingelöste Umkehrung: Galt in der frühen Bundesrepublik für das Wohnen behinderter Menschen jenseits der Familie die Anstalt als das ›Normale‹, so ist heute die Anstalt, da die Lebensbedingungen ›normalisiert‹ werden sollen, zur institutionellen Verkörperung einer anachronistischen Differenz geworden. Bis sich diese qualitative Neuorientierung in den quantitativen Daten des Wohnens hinreichend widerspiegeln wird, ist es freilich noch ein weiter Weg.
L ITER ATUR Bank-Mikkelsen, Niels Erik/Berg, E.: Das dänische Verständnis von Normalisierung und seine Umsetzung in einem System von Hilfs- und Pflegediensten zur Integration, in: Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung der Behinderten. Neue Wege gemeindenaher Hilfen zum selbständigen Leben. Kongressbericht der internationalen Tagung: »Leben, Lernen, Arbeiten in der Gemeinschaft«, München 24.-26. März 1982, München 1982, 108-113. Bauer, Manfred/Engfer, Renate: Entwicklung und Bewährung psychia59 | Neue Stiftung gegründet, in: epd-Mitteilung vom 1.12.2006. 60 | Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe: Wirkliche Wahlmöglichkeiten durch vollständige Unterstützungslandschaften, 3.5.2007, www.beb-ev.de/ files/pdf/stellungnahmen/2007-05-21_Stellungnahme_DaheimstattHeim.pdf (10.2.2010).
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trischer Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Achim Thom/Erich Wulff (Hg.): Psychiatrie im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West, Bonn 1990, 413-429. Baumgartl, Birgit: Altersbilder und Altenhilfe. Zum Wandel der Leitbilder von Altenhilfe seit 1950, Opladen 1997. Dies.: Problemwahrnehmung und Politikformulierung in der Altenhilfe, in: Universität Konstanz/Fakultät für Verwaltungswissenschaft: Sozialverwaltung und Altenpolitik, Konstanz 1995, 53-91. Blandow, Jürgen: Heimreform in den 80er Jahren. Materialien und Einschätzungen zur jüngeren Entwicklung der Heimerziehung, in: Friedhelm Peters (Hg.): Jenseits von Familie und Anstalt. Entwicklungsperspektiven in der Heimerziehung, Bielefeld 1988, 28-49. Bracken, Helmut von: Vorurteile gegen behinderte Kinder, ihre Familien und Schulen, Berlin 1976. Bradl, Christian: Vom Heim zur Assistenz. Strukturelle Grenzen von »Selbstbestimmt Leben« im Heim, in: Ders./Ingmar Steinhart (Hg.): Mehr Selbstbestimmung durch Enthospitalisierung. Kritische Analysen und neue Orientierungen für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen, Bonn 1996, 178-203. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Vierter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, unveränderter Nachdruck, Bonn 1998. Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe: Wirkliche Wahlmöglichkeiten durch vollständige Unterstützungslandschaften, 3.5.2007, www.beb-ev.de/files/pdf/stellungnahmen/2007-05-21_Stellungnahme_DaheimstattHeim.pdf (10.02.2010). Dalferth, Matthias: Enthospitalisierung in westlichen Industrienationen am Beispiel der USA/Kalifornien, Norwegen und Schweden, in: Georg Theunissen/Albert Lingg (Hg.): Wohnen und Leben nach der Enthospitalisierung. Perspektiven für ehemals hospitalisierte und alte Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung, Bad Heilbrunn/ Obb. 1999, 88-113. Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, hier: Zwischenbericht der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung der Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Verhandlungen des Deutschen Bundestags. Drucksachen, 7. Wahlperiode, Bonn 1975, Drucksache 7/1124. Die Heime für behinderte Volljährige in Bayern, in: Bayern in Zahlen 31 (1977), 88-89. Dörner, Klaus (Hg.): Ende der Veranstaltung – Anfänge der ChronischKranken-Psychiatrie, Gütersloh 1998. Ein Blick über den Zaun, in: CeBeeF-Magazin für Behinderte und ihre Freunde, 2 (1972), H. 3, 32. Finzen, Asmus: Situation und Entwicklungstendenzen der psychiatrischen Krankenversorgung in der Bundesrepublik, in: Ders./Hilde
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4. Körper, Kunst und Kultur
Behindertensportgeschichte: das Beispiel Nationalsozialismus Bernd Wedemeyer-Kolwe
Die Disability History betrachtet ›Behinderung‹ als Produkt gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Stigmatisierungsmechanismen und befasst sich mit dem grundsätzlichen Fragenkomplex, wer und mit welchen Mitteln jemand historisch als behindert definiert wurde bzw. wie und warum der als behindert klassifizierte Körper konstruiert worden ist.1 Paradigmatisch lässt sich dieses Spannungsfeld an einer Geschichte des Behindertensports zeigen. Sport gilt – nimmt man ihn historisch in den Blick – generell als ein Handlungsspielraum, der körperliche Selbstvergewisserung, individuellen Eigensinn und soziale Identität – und somit eine Art kulturelles Widerstandspotential – beinhalten kann, sich aber auch schon häufig als ein Instrument politischer Instrumentalisierung, gesellschaftlicher Normierung und körperlicher (Sozial-)Disziplinierung erwiesen hat.2 Da die historischen Bedingungen von Sport und Körperlichkeit von individuellem Handlungsspielraum und gesellschaftlicher Normierung bestimmt sind, kann eine Geschichte des Behindertensports auch aus der Sicht der Disability History betrachtet werden. Diese nimmt ähnliche Verhältnisse in den Blick, zumal ein zentraler Aspekt der Disability History der Körper in seinem historischen Wandel ist: Was, so kann man fragen, ist – historisch gesehen – eigentlich ›Behindertensport‹ und wie wird er erfahren? Ist der Begriff nicht schon eine unzulässige normierende Stigmatisierung? Wann, wo und in welchem Kontext wird Behindertensport organisiert und praktiziert? Ist der Sport von Menschen mit Behinde1 | Vgl. dazu Carol Poore, Disability in Twentieth-Century German Culture, Ann Arbor 2007 oder die historisch orientierten Beiträge in Petra Lutz/Thomas Macho/Gisela Staupe/Heike Zirden (Hg. für die Aktion Mensch und die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum): Der (im-)perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003. 2 | Zur Einführung geeignet ist Michael Krüger: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, 3 Teile, Schorndorf 2004-2005.
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rungen ein Versuch sozialer Anpassung, individueller Autonomie oder medizinischer Überwindung? Markiert Behindertensport einen politisch egalitären Raum oder werden hier Stereotype reproduziert? Welchen historischen Körperkonstruktionen ist Behindertensport ausgesetzt? Das Thema Behindertensport – wenn im Folgenden von ›Behindertensport‹ gesprochen wird, so wird der Einfachheit halber ein moderner Sammelbegriff für ein historisch äußerst differenziertes Phänomen verwendet – ist trotz dieser deutlichen Bezugspunkte bislang kaum in den Fokus der Sportgeschichte und der Disability History gerückt. Nur wenige Studien befassen sich unter derartigen Aspekten mit Behindertensportgeschichte.3 Am Beispiel des Nationalsozialismus soll im Folgenden eine besonders interessante und bislang vernachlässigte Epoche des Behindertensports untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk gilt es dabei auf die Politiken des Heilens und Vernichtens, der Nutzbarmachung und Ausgrenzung im Nationalsozialismus zu richten. Utilitätsdenken und Rassenideologie bestimmten die Kategorien ›behindert‹ und ›nichtbehindert‹ und ›gesund‹ und ›krank‹. Dennoch wurden zahlreiche Menschen mit Behinderungen nach 1933 in nationalsozialistische Organisationen eingegliedert; wichtigstes Kriterium war der Grad ihrer Arbeits- und Bildungsfähigkeit. Der Sport spielte hier eine ganz besondere Rolle.
D IE O RGANISATION DES B EHINDERTENSPORTS BIS 1933 Zum heterogenen Personenkreis, der heutzutage unter dem Begriff Menschen mit Behinderungen gefasst wird, gehörten auch vor und um 1933 ganz verschiedene Gruppen und Personen mit völlig unterschiedlichen Merkmalen. Es handelte sich um Menschen mit Kriegsbeschädigungen beider Weltkriege, Menschen mit Köperbehinderungen ziviler Ursachen, gehörlose und blinde Menschen, Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen und sogenannte lernschwache Menschen. Diese Gruppen waren recht groß: Verschiedene zeitgenössische Zählungen ergaben über zwei Millionen Erwachsene und etwa 100.000 Kinder, etwa eine Million Kriegsbeschädigte des Ersten Weltkriegs, ungefähr 45.000 gehörlose und 33.000 blinde Menschen, darunter 3.000 sogenannte Kriegsblinde, sowie ungefähr 10.000 lernschwache, aber nicht als Menschen mit geistiger Behinderung eingestufte Hilfsschüler. Von 1939 bis 1945 kamen noch ein-
3 | Vgl. die Übersicht von Bernd Wedemeyer-Kolwe: Behindertensport, in: Michael Krüger/Hans Langenfeld (Hg.): Handbuch der deutschen Sportgeschichte, Schorndorf 2010 (im Druck) und als Beispielstudie Bernd Wedemeyer-Kolwe: Versehrtensport in Niedersachsen zwischen Ausgrenzung und Integration, in: Arnd Krüger/Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hg.): Vergessen Verdrängt Abgelehnt. Zur Geschichte der Ausgrenzung im Sport, Berlin 2009, 72-91.
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mal etwa 750.000 Kriegsbeschädigte hinzu.4 Eine Reihe dieser Personen und Gruppen hatte – und zwar lange vor 1933 – zu unterschiedlichen Zeiten ganz verschiedene Berührungspunkte mit Vereinssport oder mit schulischer Leibeserziehung. Der Behindertensport unterschied sich organisatorisch in Kinder- und Jugendsport und in Erwachsenensport. Die Kinder- und Jugendleibeserziehung fand in den separaten Bildungs- und Bewahreinrichtungen für Jugendliche mit Behinderungen statt: in den staatlichen und kirchlichen sogenannten Taubstummenanstalten, Blindenschulen, Krüppelanstalten und Hilfsschulen. Sie gehörte – ebenso wie die herkömmliche Leibeserziehung in den Regelschulen – etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger zum Bestandteil der Behindertenpädagogik. In diesen Institutionen, deren Lehrpersonal sich in entsprechenden Sonderfürsorge- und Berufsverbänden organisiert hatte, besaßen Turnen und Sport eine längere Tradition. Die Sonderpädagogik hoffte, ihre Klientel über Sport und Turnen zu Eingliederung, Disziplin und ökonomischer Selbstständigkeit zu erziehen. Für die Kinder mit Körperbehinderungen kamen orthopädische Erwägungen hinzu; für blinde Kinder ging es um die Verbesserung der Raumorientierung, die Sensibilisierung des Tastsinns und die Vermeidung von Bewegungsmangel. All diese Motive hatten immer oder fast immer mit den Grundprinzipien in der damaligen Behindertenpädagogik zu tun: Es galt, die Arbeits- und Bildungsfähigkeit des Einzelnen zu fördern oder zu gewährleisten. Zudem kam noch ein ausgesprochen profaner Grund dazu, der weniger mit Erziehung, aber eine ganze Menge mit Zeitmanagement zu tun hatte: Wie sollte man in einer internatsähnlichen Bewahranstalt den ganzen Tag über Kinder beschäftigen, ohne dass das Erziehungspersonal allzu viel Aufwand investieren musste? Man schickte sie auf den Spielplatz, wo die Chance zur Selbstbeschäftigung relativ groß war; außerdem wurden die Kinder dabei müde.5
4 | Vgl. die in der Literatur stark schwankenden Zahlenangaben nach Petra Fuchs: »Körperbehinderte« zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation. Selbsthilfe – Integration – Aussonderung, Neuwied/Kriftel/Berlin 2001, 27f.; Mohammad Reza Malmanesh: Blinde unter dem Hakenkreuz, Marburg 2002, 19f.; Andreas Möckel: 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen, München 1998, 34 sowie Helmut Ziem: Der Beschädigte und Körperbehinderte im Daseinskampf einst und jetzt, Berlin 1965, 61. 5 | Vgl. zum Turnen gehörloser und blinder Kinder Gertrud Pfister: Turnen, Spiel und Sport »behinderter« Jugendlicher – ein Projektbericht, in: Hans-Georg John/ Roland Naul (Hg.): Jugendsport im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, ClausthalZellerfeld 1988, 155-170 sowie die historische Übersicht in Adolf Fischer (Hg.): Leibeserziehung mit Blinden, Hannover 1957, 19f.; zum Turnen in Hilfsschulen vgl. Heinrich Kielhorn: Erziehung und Unterricht schwachbefähigter Kinder, Halle 1909, 101f. und zur Leibeserziehung in den sogenannten Krüppelanstalten Konrad Biesalski: Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfür-
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Der Erwachsenensport dagegen war überwiegend marginal organisiert. Lediglich die gehörlosen Menschen verfügten seit dem späten 19. Jahrhundert mit eigenen Sportvereinen und -verbänden sowie länderübergreifenden Weltspielen über eine starke Institutionalisierung. Ihre Sportsparten stellten eine mit etwa 2.000 männlichen und weiblichen Mitgliedern zahlenmäßig kleine Variante der herkömmlichen Sportorganisationen dar. In Anlehnung an die Sportorganisationen der Hörenden verfügte der Gehörlosensport seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert außerdem über eine entsprechende Verbandszeitschriften-, Festschriften- und Erinnerungskultur.6 Blinde Erwachsene hingegen besaßen nur informelle Sportgruppen, bevor es in der Weimarer Republik zu einigen wenigen Vereinsgründungen im Rahmen der Blindenanstalten in Kiel (1926), Berlin (1928) und Breslau (1929) kam.7 Ganz ähnliche Verhältnisse galten für körperbehinderte Erwachsene. Es waren in der Hauptsache die Angehörigen des 1919 gegründeten Selbsthilfebundes Reichsbund für Körperbehinderte (RBK), die die allmählich eingeführten, verbandsinternen Sportangebote – Schwimmen, Gymnastik, Spiele – wahrnehmen konnten.8 Nur das staatliche Oskar-Helene-Heim in Berlin, eines der sogenannten Krüppelheime, hatte 1924 für seine körperbehinderten Berufsschüler einen eigenen sogenannten Sportund Turnverein (für Rasensport) gegründet, der als ordentliches Mitglied dem Verband Brandenburgischer Athletik-Vereine – also dem Landesfachverband für Leichtathletik – angehörte und an Marathonläufen sowie am »Lauf quer durch Berlin« teilnahm. Hier zeigt sich eine interessante Verzahnung zwischen Behinderten- und Nichtbehindertensport.9 sorge in Deutschland, Hamburg 1909, der die jeweiligen Turnsäle und medicomechanischen Trainingsapparate in den Heimen auflistet. 6 | Eine kritische wissenschaftliche Geschichte des Gehörlosensports existiert bislang nicht. Lediglich innerhalb des Verbandes der Gehörlosen wurden diverse Festschriften erstellt; vgl. etwa Deutscher Gehörlosensportverband: 50 Jahre Gehörlosensport, Köln 1960 und als lokales Beispiel Karl Hermann Rode: GehörlosenSportverein Hannover von 1908. Vereinschronik 1908-2000, Hannover 2000. 7 | Vgl. Klaas Dierks: Sehgeschädigte Menschen im Nationalsozialismus. Eine Bibliografie, Hannover 1998, 84 (Berlin) und 113 (Breslau) sowie Wolfgang Drave: »Hier riecht’s nach Mozart und Tosca«. Blinde Menschen erzählen ihr Leben, Würzburg 1996, 120 (Kiel). 8 | Vgl. dazu Fuchs (2001), 200-209. Der RBK existierte über 1945 hinaus. 1955 ließ er sich ins Vereinsregister Düsseldorf eintragen. 1969 feierte er sein 50. Jubiläum. 1984 löste er sich aufgrund geringer Mitgliedszahlen und des hohen Alters der Mitglieder auf. Bis zuletzt war in der Satzung die »körperliche Ertüchtigung« der Mitglieder als Förderziel des Vereins festgeschrieben; vgl. die Satzung des RBK §4g [nicht datiert], in: Amtsgericht Düsseldorf, Vereinsregister Nr. 3903, Reichsbund der Körperbehinderten. 9 | Konrad Biesalski: Zeitgemäße Krüppelfürsorge, Leipzig 1925, 74; vgl. auch die Abbildungen bei Eva Brinkschulte: Tradition mit Zukunft. 85 Jahre Oskar-Helene-Heim, Berlin 1999, 50.
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Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs dagegen erhielten aufgrund ihres besonderen Status sportliche Eingliederungshilfen vom Staat, von der Ärzteschaft und den Sport- und Turnvereinen. Nachdem bereits im Krieg in etlichen Lazaretten sogenannter Versehrtensport durchgeführt worden war, boten sich Turn- und Sportvereine an, die Männer auch nach dem Krieg weiterzubetreuen.10 Doch aufgrund von Organisations- und Betreuungsproblemen sowie des Desinteresses der Beteiligten verebbte der Kriegsversehrtensport schon 1919 beinahe völlig. Lediglich einige wenige lokale Initiativen hielten sich über die Weimarer Republik und sogar über den Nationalsozialismus hinaus und bildeten nach 1945 teilweise die Keimzellen der nun neu entstehenden Versehrtensportvereine.11 1933 wurden einige Behindertenorganisationen, die Berufsverbände der Sonderpädagogen und die Anstaltsverbände in NS-Organisationen eingegliedert. Für einige dieser neuen Verbände, die formal eigenständige Institutionen blieben, war die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt zuständig, für die Sonderpädagogen dagegen der NS-Lehrerbund. So wurden zum Beispiel die Organisationen der gehörlosen Menschen im Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (Regede) zusammengefasst und von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt betreut. Der Verband der Deutschen Gehörlosensportvereine aber blieb bestehen und wurde in den Deutschen Reichsbund für Leibesübungen eingefügt, der 1938 der NSDAP als abhängige Parteizelle angegliedert wurde und ab diesem Zeitpunkt als eine von der NSDAP betreute Organisation galt. An der Spitze der Verbände, die programmgemäß den sogenannten Arierparagrafen12 und das Führerprinzip einführten sowie oppositionelle Kräfte ausschalteten, standen überzeugte Nationalsozialisten oder pragmatische Taktierer, die der Ansicht waren, mit der größtmöglichen Annäherung an das NS-Regime die Weiterexistenz ihrer Organisation sichern zu können. Auch die bis dahin unabhängigen Selbsthilfeverbände der Menschen mit Behinderungen wurden gleichgeschaltet und ebenfalls mit überzeugten Nationalsozialisten oder umgeschwenkten Opportunisten besetzt. Um sich mit dem Nationalsozialismus zu arrangieren, gehörte zur Strategie 10 | Vgl. Josef Hermann Schäfer: Ministerialrat Dr. med. Arthur Mallwitz (18801968). Ein Leben für Sport, Sportmedizin und Gesundheitsfürsorge. InauguralDissertation, Bonn 2003, 275-287 sowie Peter Tauber: Vom Schützengraben auf den grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung des Sports in Deutschland, Berlin 2008, 163-178. 11 | Vgl. Bernd Wedemeyer-Kolwe: Versehrtensport zwischen »Drittem Reich« und Bundesrepublik: Das Beispiel Niedersachsen, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft (2007), H. 1, 7-42, hier 21. 12 | Der Arierparagraf wurde erstmals im Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 eingeführt, um Beamte und Angehörige mit »nichtarischer« Abstammung aus Behörden, Verbänden und sonstigen Organisationen auszugrenzen. Die Sportorganisationen mussten den Arierparagrafen ab dem 22.4.1933 in ihre Satzung aufnehmen.
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der Verbände bzw. der Betroffenen der Versuch, interne Hierarchien nach Nützlichkeitskriterien aufzustellen. Zu dieser Praxis zählten auch verbandsinterne Aufrufe an die angeblich erbkranken Menschen mit Behinderungen in den eigenen Reihen, sich freiwillig sterilisieren zu lassen, sowie die Abwertung und Aussonderung von Menschen mit geistiger Behinderung bei gleichzeitiger Aufwertung der bildungs- und arbeitsfähigen Personen mit Körper- oder Sinnesbehinderungen.13
B EHINDERTENSPORT NACH 1933: M OTIVE UND I DEOLOGIE Die Nationalsozialisten maßen dem Sport aus ideologischen, erzieherischen, politischen und ökonomischen Gründen eine wesentliche Bedeutung bei. In den Sportorganisationen, in den Schulen, in der Hitlerjugend, in der Deutschen Arbeitsfront, in der Wehrmacht und in der SS: Überall wurde der Sport intensiviert. Die Sportpolitik nutzte die körperliche Disziplinierung zur Erziehung zum militärischen Gehorsam, für die sogenannte Hebung der »Volkskraft« und zur Gewährleistung der »rassischen Reinheit«. Perfekte »arische« Körper verkörperten als sichtbare Symbole die Überlegenheit des nationalsozialistischen Staates.14 In diesem Sinne wurden auch diejenigen Menschen mit Behinderungen zum Sport angehalten, die den Zielen und der Ideologie des Nationalsozialismus nützlich schienen. Dabei bauten die für die Behindertenverbände verantwortlichen Personen auf den schon vorhandenen Strukturen des Behindertensports auf oder behielten diese bei. Insgesamt versuchten sie, die zersplitterten und historisch gewachsenen Sportorganisationen der Menschen mit Körperbehinderungen und Kriegsbeschädigungen sowie der gehörlosen und blinden Menschen zu vereinheitlichen. Sie gliederten den Behindertensport jedoch weitgehend nicht in die herkömmlichen NS-Sportorganisationen ein, sondern installierten ihn abseits davon. Die gleichgeschalteten Behindertenverbände folgten dieser Vorgehensweise. Ein gängiges Argument für Sport bei Männern war auch im Nationalsozialismus die Wehrdiensttauglichkeit. Da jedoch für gehörlose, blinde und körperbehinderte Männer der Wehrdienst weitgehend ausfiel, wurde 13 | Vgl. zum Prozess der Gleichschaltung bei den gehörlosen Menschen etwa Malin Büttner: »Nicht minderwertig, sondern mindersinnig…« Der Bann G für Gehörgeschädigte in der Hitlerjugend, Frankfurt a.M. 2005, 53f. mit Aufrufen zur freiwilligen Sterilisation sowie Christian Hannen: Von der Fürsorge zur Barrierefreiheit. Die Hamburger Gehörlosenbewegung 1875-2005, Hamburg 2006, 55ff.; bei blinden Menschen Malmanesh (2002), 39f. und 63f. sowie bei Menschen mit Körperbehinderung Fuchs (2001), 164ff. 14 | Vgl. als Einstieg dazu Hajo Bernett: Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Dokumentation ihrer Theorie und Organisation, 2., überarbeitete Auflage Schorndorf 2008 sowie Lorenz Peiffer: Sport im Nationalsozialismus. Eine kommentierte Bibliografie, 2., überarbeitete Auflage Göttingen 2008.
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ihre Sportausübung – ebenso wie bei den Frauen mit Behinderungen – mit der Förderung der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit begründet und damit, dass man die Menschen über den Sport – wie es in den Quellen heißt – »gemeinschaftstüchtig« machen wolle. Damit könne den Menschen mit Körperbehinderungen »die Eingliederung in den schaffenden Volkskörper« ermöglicht werden, sodass sie sich »ein[…]reihen in die kämpfende Gemeinschaft«.15 Auch die gehörlosen Menschen wurden dazu angehalten, ihren Beitrag zum »Volksganzen« zu leisten und genauso wie »Vollhörende zu ihrem Teil dem Staate dienen [zu] können und [zu] wollen«.16 Die Blindenlehrer verpflichteten sich ebenfalls, »die blinde Jugend Deutschlands« zu »wertvollen deutschbewussten Gliedern des Staates« zu erziehen.17 Vor allem ab 1939, als durch die Einberufungen in den Kriegsdienst ein Arbeitskräftemangel entstand, wurden zahlreiche behinderte Menschen in den Arbeitsmarkt eingegliedert und ihnen höchste Arbeitsleistungen abverlangt. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, die entsprechende Disziplin zu gewährleisten und im nationalsozialistischen Sinne zu sozialisieren, wurde systematisch auf Sport und Körpererziehung zurückgegriffen. Rigide Körperbeherrschung galt insgesamt als Mittel zur »Überwindung des Defekts«, gegen »alle ererbten oder erworbenen Schädigungen, welche die Leistungsfähigkeit […] beeinträchtigen« und somit als Möglichkeit, als »vollwertiges Glied in der Gemeinschaft« anerkannt zu werden.18 »Die Körperertüchtigung«, so notierte es ein Autor in der Blindenzeitschrift Der Weckruf 1935, »soll dazu beitragen, dass ich mich ganz meinem Führer und meinem Vaterland widme«.19
B EHINDERTENSPORT 1933 BIS 1945: P R A XIS UND R EZEP TION Mit der nationalsozialistischen Sportausübung wurde zunächst bei der Jugend angesetzt: Parallel zu der Gleichschaltung der Gehörlosenanstalten, der Krüppelheime, der Blindenschulen und der Hilfsschulen begann man, die als bildungs- und arbeitsunfähig bezeichneten Kinder und Jugendlichen zwangsweise zu sterilisieren und in Pflegeanstalten auszusondern, wo viele von ihnen dem Krankenmord zum Opfer fielen. Die 15 | Der Körperbehinderte 7 (1937), H. 7, 7; vgl. dazu auch Hans Stadler/Udo Wilken: Pädagogik bei Körperbehinderung, Weinheim 2004, 298f. und 303f. sowie Fuchs (2001), 208. 16 | Völkischer Beobachter, Nr. 193 vom 11.7.1936, zitiert in Lothar Scharf: Taubstumme in der Hitlerjugend? Fridolin W. erzählt, Heusenstamm 2006, 22. 17 | Der Blindenfreund 53 (1933), 121, zitiert in Herbert Demmel: Durch Nacht zum Licht. Geschichte des Bayerischen Blindenbundes, München 1990, 221. 18 | Der Körperbehinderte 5 (1935), 18 und 17 (1. und 3. Zitat) sowie Zeitschrift für Krüppelfürsorge (1933), 144 (2. Zitat), alles zitiert in Fuchs (2001), 158f. 19 | Der Weckruf 2 (1935), H. 2, 204.
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als bildungsfähig eingestuften Kinder und Jugendlichen wurden dagegen ab 1933 in die Hitlerjugend (HJ) eingegliedert. 1933 wurde für blinde Kinder und Jugendliche der Bann B (Blinde), 1934 für gehörlose Kinder und Jugendliche der Bann G (Gehörlose bzw. Gehörgeschädigte) und 1935 für körperbehinderte Kinder und Jugendliche der Bann K (Körperbehinderte) eingerichtet. Letzterer bestand jedoch nur kurze Zeit und wurde 1937 aus bislang ungeklärten Gründen wieder aufgelöst. 1936 erfolgte dann die Aufnahme der um die angeblich nicht bildungsfähigen Schülerinnen und Schüler bereinigten Absolventen der Hilfsschulen in die allgemeine Hitlerjugend. Dabei bildeten das Personal und die Schülerinnen und Schüler der jeweiligen sonderpädagogischen Anstalt je eine HJ-Einheit.20 Zwar wurden die gehörlosen, blinden und körperbehinderten weiblichen und männlichen Jugendlichen durch die Einführung der jeweiligen HJ-Banne formal gleichgestellt; die scheinbare Gleichbehandlung mit der herkömmlichen Hitlerjugend erfuhr aber über Sonderregelungen diverse Einschränkungen. So wurden die Banne wie die allgemeine Hitlerjugend gegliedert und besetzt; die Führer der Banne aber besaßen keine Behinderungen. Zwar war auch hier die sogenannte Pimpfenprobe, also die körperliche und ideologische Prüfung der jüngsten Mitglieder in der Hitlerjugend Pflicht; sie wurde jedoch den eingeschränkten Möglichkeiten der Jugendlichen mit Behinderungen angepasst. Die Banne besaßen zwar ein eigenes Publikationsorgan und ihre Mitglieder trugen eine eigene HJ-Kluft. Die Uniformen wiesen aber eigens gekennzeichnete Schulterklappen auf, die den Sonderstatus der Jugendlichen symbolisierten. Trotz dieser Unterschiede absolvierten die Banne aber alle die gleiche Schulung wie die allgemeine Hitlerjugend, einschließlich der Aufmärsche, Fahnenweihen, Gruppenabende, Lagerfahrten und der Teilnahme an Bannmeisterschaften und an Reichssportwettkämpfen, und zwar zum Teil zusammen mit der allgemeinen HJ. Lediglich die Bannstärke wurde an die jeweils geringe Zahl der behinderten Jugendlichen angeglichen. So verfügte der Bann G reichsweit nur über etwa 6.000 weibliche und männliche Mitglieder.21
20 | Vgl. zum Bann K Fuchs (2001), 216f., zum Bann G Büttner (2005) sowie Lothar Scharf: Gehörlose in der Hitlerjugend und Taubstummenanstalt Bayreuth, Berlin 2004; zum Bann B die regionale Studie von Uwe Benke: Wie blind ist die blinde Hitlerjugend? Zur Geschichte der HJ an der Staatlichen Blindenanstalt Berlin-Steglitz in den Jahren 1933 bis 1935, in: Bezirksamt Steglitz von Berlin (Hg.): Steglitz im Dritten Reich, Berlin 1992, 196-205 und zu den Hilfsschülern in der Hitlerjugend die Bemerkungen von Manfred Höck: Die Hilfsschule im Dritten Reich, Berlin 1979, 269-280 sowie von Erika Welkerling/Falk Wiesemann (Hg.): Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus. »Jugendpflege« und Hilfsschule im Rheinland 1933-1945, Essen 2005, 11. 21 | Vgl. dazu Fuchs (2001), 216f., Büttner (2005), 78-99; Scharf (2006), 8086.
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Die Leibesübungen in den Bannen B, G und K bestanden – wie in der allgemeinen HJ – aus Wehrsport, Geländespielen, Marschübungen, Luftgewehrschießen, Leichtathletik und Turnspielen. Für die Führer der Banne war ein gutes Abschneiden ihrer Gruppen bei den regelmäßigen Bannwettkämpfen wichtig, und so wurde regelmäßig und hart dafür trainiert. Auf Sonderlehrgängen konnten zumindest die gehörlosen Jugendlichen zudem die Gelände- und Schießwartprüfung bestehen und die Abnahmeberechtigung für das Leistungsabzeichen der HJ und der DJ (Deutsche Jungenschaft) erlangen.22 Für blinde Jugendliche wurde 1935 unter besonderen Bedingungen das Jugendsportabzeichen eingeführt, das nichtbehinderte Jugendliche schon seit 1925 absolvieren konnten.23 Jugendliche mit Körperbehinderung konnten darüber hinaus den Leistungsschein der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) erwerben und Lehrgänge zum Rettungsschwimmer absolvieren.24 Das im November 1942 für Kriegsverletzte eingeführte Versehrtensportabzeichen konnten auch sogenannte Zivilbeschädigte erlangen.25 Und ab 1938 war zumindest für die Gehörlosen der Erwerb des Reichsschwimmscheins möglich.26 In den zeitgenössischen internen Bannzeitschriften, den Anstaltsberichten und der sonderpädagogischen Literatur wurde häufig auf die hohe Bereitschaft hingewiesen, mit der die jugendlichen Behinderten ihren HJ-Dienst ausübten, wobei sie auf eine Stufe mit den nichtbehinderten HJ-Gruppen gestellt wurden. So seien angeblich die körperbehinderten Jugendlichen der Krüppelanstalten durch »die nationalsozialistische Bewegung […] straffer, disziplinierter, arbeitsfroher und fröhlicher geworden«.27 »Besonders die Jungen wurden beim Sport tüchtig gefordert«, hieß es aus der Gehörlosen-HJ: »Darum wurden sie fest angepackt. Weichheit wurde nicht geduldet […]. 15 und 20 Km-Gepäckmarsch wurde geübt. Und immer besser wurde das Schiessen mit der Kleinkaliberbüchse«.28 Dies galt auch für die Blinden bei den Sportfesten der HJ-Schulungslager, in denen für Reichsjugendwettkämpfe trainiert und Märsche bis zu einer 22 | Bericht über die Gehörlosen-Hitler-Jugend, Standort Hildesheim für 1935 sowie Bannbefehl 4/36 NSDAP, Hitlerjugend, Bann B vom 25.3.1936, 7, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann 157 Hildesheim, Acc. 2004/36, Nr. 1275. 23 | Vgl. den Hinweis in: Die Deutsche Sonderschule 3 (1936), 305ff. sowie zum Jugendsportabzeichen Jürgen Buschmann/Karl Lennartz (Hg.): 75 Jahre Deutsches Sportabzeichen, Frankfurt 1988, 34ff. 24 | Deutsche Turnzeitung, Beilage NS-Sport (1943), H. 13, 1 sowie Der Körperbehinderte 8 (1938), H. 1, 3. 25 | Hans Ritter von Lex: Das Reichssportabzeichen und das Versehrtensportabzeichen, Kassel 1943. 26 | Vgl. Scharf (2006), 33. 27 | Bericht über die Entwicklung der Krüppelpflegeanstalt Annastift e.V. Hannover in den Jahren 1933 und 1934, Hannover 1935, 7. 28 | Die Quelle (1938), H. 8, [nicht paginiert], zitiert in Scharf (2006), 26.
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Länge von 42 Kilometern durchgeführt wurden: »Sport ist Kampf«, so hieß es: »Auch der blinde Junge will kämpfen«. Selbst in der Hilfsschule wurden Wehrsporttage für Jungen und Mädchen durchgeführt, inklusive Turnen und Schießen.29 Die vordergründig gleichberechtigte Behandlung rief bei vielen dieser behinderten Jungen und Mädchen Begeisterung hervor – auch wenn einige von denselben Machthabern zwangssterilisiert wurden.30 Sie fühlten sich gebraucht und eingegliedert. Das NS-Regime wiederum benötigte jedes brauchbare Mitglied seiner »Volksgemeinschaft«: »Es gab vieles«, so ein blinder Zeitzeuge im Rückblick, »was uns alle […] anzog. Dazu gehörten Geländespiele, Sportwettkämpfe, […] Zeltlager […]. [Sie] scheuten keine Mühe und Kosten. Sie kauften uns alle Uniformen. Wir waren […] genauso wie die andere HJ.«31 »Da kam so ein Jungmann«, erzählte eine weitere blinde Zeitzeugin, »der hat mit uns Sport betrieben: Hochsprung, Weitsprung […]. Da wurde aus Kriegsgeschichten vorgelesen. Das war das Schönste.« »Wir bekamen eine Uniform«, berichtete ein anderer blinder Zeitzeuge, »wir zogen sie gern an […], und man durfte uns nicht anpöbeln, das war der Vorteil dabei. Man hat Geländespiel, Räuber und Soldat […], so ein bisschen manöverartiges Tun betrieben«.32 Allerdings wurde jeder, der sich dem System verweigerte, mit Zwangsmaßnahmen konfrontiert. Der Führer des Berliner Gehörlosensportvereins, ein »verbissener Verfechter der NS-Rassenideologie«,33 beklagte sich 1937 über die Weigerung vieler Jugendlicher seines Vereins, in die Hitlerjugend einzutreten, und drohte den entsprechenden Personen mit Zwangsausschluss. Da die Führer der Gehörlosenbewegung der Meinung waren, in der Gehörlosen-HJ reiften die Jungen »zu prächtigen, richtigen Männern, besser gesagt, zu den besten Nationalsozialisten« heran, bekamen diejenigen Schwierigkeiten, die gegen den »Strom der Parteidisziplin oder der Gehörlosengemeinschaft« schwammen.34 Andere machten zwar in der Behinderten-HJ mit, empfanden aber gerade Leibesübungen und Marschieren für blinde Jugend29 | Die deutsche Sonderschule 2 (1935), 204 (beide Zitate) sowie dazu 862864. 30 | Zumindest für die gehörlosen Menschen gibt es entsprechende Hinweise; vgl. Scharf (2006), 12f. und 39f. sowie nach Mitteilung eines 1926 geborenen gehörlosen Vereinssportlers aus Hannover an den Verfasser. 31 | So der blinde Zeitzeuge Horst Stolper, zitiert in Martin Jaedicke/Wolfgang Schmidt-Block (Hg.): Blinde unterm Hakenkreuz – Erkennen, Trauern, Begegnen, Berlin 1991, 109f. 32 | So die blinde Zeitzeugin Frau St. und der blinde Zeitzeuge Herr J., zitiert in Drave (1996), 130 und 135. 33 | Horst Biesold: Klagende Hände. Betroffenheit und Spätfolgen in bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der »Taubstummen«, Solms 1988, 95 34 | Landesverband der Gehörlosen Berlin: 150 Jahre Gehörlosenbewegung, Berlin 1998, 41 sowie Biesold (1988), 95.
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liche als unsinnige Maßnahmen: »Ich war Rottenführer, da musste ein Blinder die anderen Blinden kommandieren: Augen gerade aus und dann links um. Was für ein Quatsch! Man kam sich lächerlich vor«.35 Die nationalsozialistische Sportsozialisation der Erwachsenen mit Behinderungen – mit Ausnahme der Kriegsbeschädigten – verlief oft weniger reibungslos als in der Hitlerjugend. 1933 führte der Reichsbund der Gehörlosen Deutschlands (Regede) eine Sportpflicht für alle in der Regede organisierten gehörlosen Menschen zwischen 16 und 25 Jahren ein. Diese »Gehörlosen-Sportgruppen« unterstanden organisatorisch zwar den jeweiligen Regede-Ortsgruppen. Sporttechnisch jedoch wurden sie vom Verband Deutscher Gehörlosen Turn- und Sportvereine betreut, der auch als Dachverband der weiter bestehenden Gehörlosen-Sportvereine fungierte. Der Versuch, über diese sportliche Totalerfassung möglichst viele gehörlose Menschen zum Sport zu bewegen, schlug jedoch fehl, nicht nur aufgrund der Kompetenzstreitigkeiten zwischen Regede und Gehörlosen-Sportverband. Denn trotz massiver Propaganda gelang es dem Regede nicht, mehr als die bereits in den Sportvereinen organisierten gehörlosen Sportler zum Sport zu animieren. Der Regede wandelte daher die Sportpflicht bald in eine Sportempfehlung um und die nähere Regelung blieb den örtlichen Verhältnissen überlassen.36 So ging die Gesamtmitgliederzahl der deutschen Gehörlosen-Sportvereine mit etwa 2.300 Personen kaum über die Verhältnisse in der Weimarer Republik hinaus. Insgesamt nahmen, die Gehörlosen-HJ eingeschlossen, nur etwa zehn bis 20 Prozent der Gehörlosen am Sport teil.37 Besser lief der Sport in der gleichgeschalteten Organisation der erwachsenen sogenannten Zivil- und Unfallbeschädigten, im Reichsbund für Körperbehinderte. Dieser befürwortete in seinen Publikationen Sportgruppen und Sport: »Das Hauptmittel für die Überwindung der Behinderung ist selbstredend die körperliche Ertüchtigung«, hieß es in der Bundeszeitung Der Körperbehinderte.38 Auch hier diente der Sport zur beruflichen Leistungssteigerung und zur politischen Schulung. Da es um die Leistung von Arbeitnehmern ging, wurden die Menschen mit Körperbehinderungen in den Sportkursen der gleichgeschalteten Gewerkschafts- und Freizeitorganisation »Kraft durch Freude« (KdF) der Deutschen Arbeitsfront organisiert, die für den Betriebssport der männlichen und weiblichen Arbeitsnehmer zuständig war. Hier waren sie offenbar akzeptiert.39 So genügte 1942 ledig35 | So der blinde Zeitzeuge Herr Schlüter, zitiert in Drave (1996), 393. 36 | Vgl. dazu Deutsche Taubstummen-Sport-Zeitung, Nr. 18 vom 1.12.1933, [nicht paginiert] sowie Deutsche Gehörlosen Sportzeitung vom Januar 1943, [nicht paginiert]. 37 | Vgl. Scharf (2006), 103f. 38 | Der Körperbehinderte 6 (1936), 1, zitiert in Fuchs (2001), 200. 39 | Vgl. allgemein zum KdF-Sport Gertrud Pfister (Hg.): Zwischen Arbeitnehmerinteressen und Unternehmenspolitik. Zur Geschichte des Betriebssports in Deutschland, St. Augustin 1999.
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lich ein kleiner Hinweis des örtlichen Vertreters des Reichsbundes für Körperbehinderte auf die positive Wirkung des Sports für die Arbeitsleistung der Körperbehinderten, dass ein von der Stadt Essen bereits gestrichener Behinderten-Schwimmkurs in der städtischen Schwimmhalle von den Behörden unverzüglich wieder genehmigt wurde.40 Insgesamt nahm etwa jedes zweite Reichsbund-Mitglied an einem Schwimmkurs in den reichsweiten Kreis- und Ortsgruppen teil. Die Kurse wurden von orthopädischen Turnlehrern sowie Diplom-Turn- und Sportlehrern geleitet. Die dafür nötigen Fortbildungen erwarben diese unter anderem in der bekannten Sportheilstätte Hohenlychen bei Templin, der nach 1935 ein SS-Sanatorium angefügt wurde.41 Die Anstalt Hohenlychen wurde von dem SS-Gruppenführer und Chirurgen Professor Karl Gebhardt geleitet, der nach 1945 für seine Menschenversuche im Konzentrationslager Ravensbrück hingerichtet wurde. Gebhardt begann 1939 in Hohenlychen damit, Kriegsversehrtensport praktizieren zu lassen, Versehrtensportlehrer umzuschulen und das Reichsversehrtensportabzeichen zu entwickeln.42 Auch die 1933 immer noch zahlreichen kriegsbeschädigten Veteranen des Ersten Weltkriegs wurden zum Sport aufgefordert. Einige von ihnen organisierten sich in Sportgruppen, die im Wesentlichen der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung NSKOV angegliedert waren. Zu den Zielen der NSKOV gehörten auch die konsequente Mobilmachung und Militarisierung der Kriegsopfer des Ersten Weltkriegs; eine ihrer ersten Aktionen bestand darin, die mittlerweile schon älteren Veteranen dazu aufzurufen, eigene Marsch- und Schützengruppen zu bilden und paramilitärische Übungen sowie Wehrsport abzuhalten.43 In einigen Orten scheint es tatsächlich zur Gründung von Sportgruppen gekommen zu sein, so in Berlin 1934, wo etliche kriegsbeschädigte »Sportkameraden« auch das Sportabzeichen der SA (Sturmabteilung der NSDAP) absolvierten.44 In Karlsruhe und Leipzig gab es ebenfalls derartige Versehrtensportgruppen, die bis Kriegsende bestanden und nach 1945 die Gründung neuer örtlicher Versehrtensportgruppen initiierten, die – in geänderter Form
40 | Brief von Hans Vößing (RBK) an den Oberbürgermeister der Stadt Essen vom 27.10.1942, Privatarchiv Bernd Wedemeyer-Kolwe, Göttingen, Nachlass Hans Vößing. Der körperbehinderte Hans Vößing leitete ab 1928 Sportkurse im RBKKreisbund Essen, gründete 1944 in Hann. Münden (Südniedersachsen) einen neuen RBK-Bund und initiierte 1958 dort den örtlichen Versehrtensportverein, der erst vor wenigen Jahren aufgelöst wurde. 41 | Vgl. Fuchs (2001), 207f. und 210f. 42 | Vgl. Judith Hahn: Grawitz, Genzken, Gebhardt. Drei Karrieren im Sanitätsdienst der SS, Münster 2008, 165ff., 333ff. und 447ff. sowie mit Bezug zum Versehrtensport noch Wedemeyer-Kolwe (2007), 19f. 43 | Vgl. Wolfgang Falk: Vom Reichsbund zum Sozialverband Deutschland SoVD. Teil 1: 1917-1933, Berlin 2005, 226f. und 238. 44 | Vgl. Deutsche Kriegsopferversorgung 4 (1935/36), H. 10, 22-23.
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– bis heute bestehen.45 Daneben gab es Sportgruppen mit Beschädigten des Ersten Weltkriegs, die, wie in Hamburg, von der örtlichen DLRG gegründet wurden und deren Teilnehmer im Wesentlichen Schwimmen und Wassersport betrieben.46 Mit der totalen Mobilmachung wollten die Nationalsozialisten auch die Kriegsversehrten des Zweiten Weltkriegs wieder in den Arbeitsprozess eingliedern oder sie zumindest – was die Führer der SS (Schutzstaffel) anging – als Ausbilder für die Front einsetzen. So wurden ab 1939 und vor allem dann ab 1942 flächendeckend Sportlehrer für den Versehrtensport umgeschult und zusammen mit Krankengymnasten, Gymnastiklehrerinnen, Übungsleitern und kriegsbeschädigten ehemaligen guten Sportlern in die Lazarette geschickt, um die Rehabilitation der (schwer) verwundeten Soldaten zu befördern.47 Auch in der SS wurde Versehrtensport absolviert.48 Um die Leistungen noch zu steigern und Kriegsbeschädigte – auch mit Blick auf den Arbeitseinsatz – zu beständigem Training zu bewegen, wurde 1942 das gleichermaßen für Kriegsbeschädigte und Männer mit Körperbehinderungen anderer Ursache gedachte, schwer zu erlangende Reichsversehrtensportabzeichen entwickelt. Die Prüfungen für die Abzeichen konnten in Lazaretten, Sportvereinen, Sportinstituten der Universitäten, SS-Junkerschulen und HJ-Ordensburgen absolviert werden.49 Insgesamt erlangten bis März 1945 über 10.000 Kriegsbeschädigte und andere Körperbehinderte dieses Abzeichen.50 45 | Vgl. Leibesübungen und körperliche Erziehung 58 (1939), 126-129; Behindertensport (1982), H. 7, 147 und Versehrtensportgemeinschaft (VSG) Karlsruhe, Festschrift 20 Jahre Versehrtensport Karlsruhe, Karlsruhe 1970, 11 sowie Chronik des 30jährigen Leipziger Versehrtensports 1966, Privatarchiv Wolfgang Sperling, Leipzig, Mappe Chronik BSG Chemie Leipzig. 46 | Auskunft von Frau Frieda Steffens (geb. 1918), Hamburg, vom 20.10.2009. Frieda Steffens war 1936 Bademeisterin, DLRG-Mitglied sowie Schwimmtrainerin. Nachdem mehrere Weltkriegsinvaliden die örtliche DLRG nach Schwimmmöglichkeiten gefragt hatten, stellte Frau Steffens eine entsprechende Sportgruppe zusammen, die nach 1945 den Kern des Hamburger Versehrtensports bildete. Frau Steffens ist aktuell (November 2009) immer noch aktive Übungsleiterin im Hamburger Behindertensport. 47 | Vgl. Schäfer (2003), 288-299 sowie Arthur Mallwitz: Gymnastik und Sport für Verwundete und Kranke. Leitfaden für Sanitätsoffiziere und ärztliches Hilfspersonal, Berlin 1943. 48 | Vgl. die Hinweise in Der Freiwillige 22 (1976), H. 22, 6-8 und 18-20 sowie 53 (2007), H. 8/9, 53-55. Dieses revanchistische Kameradschaftsblatt für ehemalige Angehörige der Waffen-SS ist mit besonderer quellenkritischer Vorsicht zu behandeln. 49 | Vgl. Wedemeyer-Kolwe (2007), 21 sowie Der Freiwillige 22 (1976), 6-8 und 18-20. 50 | Vgl. zu den Bedingungen insgesamt Lex (1944) sowie Wedemeyer-Kolwe (2007), 19f. und zu den Zahlen Buschmann/Lennartz (1988), 61.
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A USBLICK Zusammenfassend lässt sich Folgendes formulieren: Der Behindertensport im Nationalsozialismus bestand aus äußerst heterogenen Gruppen mit jeweils unterschiedlicher Herkunft und Geschichte. Dennoch überschnitten sich die Motive für den Behindertensport sowohl beim Staat als auch bei den jeweiligen Gruppen behinderter Menschen beträchtlich. Auf der einen Seite bemühten sich die Behinderten – unter anderem auch aus Selbstschutz – zu beweisen, dass auch sie vollwertige Menschen und für den Staat ökonomisch und kulturell von Nutzen waren. Auf der anderen Seite förderten die Nationalsozialisten die ihrer Ansicht nach erbgesunden und brauchbaren Menschen, gliederten sie mittels Sport und Rehabilitationsmaßnahmen in den Arbeitsprozess ein und werteten sie dadurch scheinbar auf. Einige Selbstzeugnisse deuten darauf hin, dass es etliche Menschen mit Behinderungen gab, die sich tatsächlich auch anerkannt und gleichberechtigt fühlten; allerdings gilt dies nicht für diejenigen, die dem Nationalsozialismus grundsätzlich kritisch gegenüber standen. Obwohl die Separierung in gesonderte Gruppen durch entsprechende Kennzeichnungen großen Abstand zu den Nichtbehinderten schuf, empfanden viele die nationalsozialistischen Sportmaßnahmen als durchaus positiv für das eigene Selbstbewusstsein. Insofern fällt das Ergebnis zwiespältig aus: Der NS-Behindertensport wies den Menschen, die als brauchbar eingestuft wurden, tatsächlich individuelle Handlungsspielräume zu. Gleichzeitig aber war auch er ein Element der NS-Aussonderungspolitik. Die nationalsozialistische Behindertensportpolitik hatte zudem auch Folgen für die Zukunft. Die nach 1945 entstandenen Versehrtensportvereine und Landesverbände, die ab 1951 mit dem Deutschem Versehrtensportverband einen eigenen Bundesverband besaßen,51 sind im Wesentlichen von einer Generation von Kriegsbeschädigten gegründet worden, die in den meisten Fällen während des Nationalsozialismus sozialisiert worden waren. Viele von ihnen hatten schon in der NS-Zeit Versehrtensport getrieben. Unter ihnen befanden sich zahlreiche ehemalige SS-Männer.52 Nur allmählich und unter großem Druck (auch von innen) konnte sich der von rückwärtsgewandten Kräften geprägte Kriegsversehrtensportverband zu einem Behindertensportverband entwickeln, der heute als Sprachrohr vieler sporttreibender Menschen mit Behinderungen auftritt und mittlerweile ein gleichberechtigter Partner im Deutschen Olympischen Sportbund ist.
51 | Der Versehrtensportverband fungiert heute als Deutscher Behindertensportverband (DBS) und vertritt mittlerweile über 450.000 Mitglieder. 52 | Vgl. als Beispiel für diese Entwicklung Wedemeyer-Kolwe (2007).
B EHINDERTENSPORTGESCHICHTE
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B EHINDERTENSPORTGESCHICHTE
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Die Gespielen der Infantin Darstellungen kleinwüchsiger Menschen in der bildenden Kunst Maaike van Rijn
Forschungsergebnisse der Disability Studies haben in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass Behinderung nicht einfach ›vorhanden‹ ist, sondern hergestellt wird. Sie wird durch wissenschaftliche und alltagsweltliche Diskurse, in politischen und bürokratischen Verfahren und in subjektiven Sichtweisen und Identitäten konstruiert.1 Gerade die Geschichts- und Kulturwissenschaften können neben sozialwissenschaftlichen Ansätzen aufzeigen, wie Begriffe von Behinderung, Abweichung und Normalität konstituiert und festgeschrieben werden. Zum einen können kulturwissenschaftliche Teildisziplinen wie die Literaturwissenschaft oder die Kunstgeschichte Aufschluss darüber geben, wie zu bestimmten Zeiten und in verschiedenen Kulturkreisen2 Behinderung inszeniert wird, zum anderen wird deutlich, wie die Wissenschaften selbst Begriffe von Behinderung herstellen und zementieren. Der folgende Beitrag ist kunsthistorisch angelegt und soll zeigen, wie Diskurse um Andersheit, Normalität und Differenzen innerhalb der Kunst verhandelt wurden und werden. Als Bildsujet wird der kleinwüchsige Mensch herausgegriffen. Er gehört zu einer heute der Kategorie ›behindert‹ zugeordneten sozialen Gruppe und ist in der Kunst immer wieder mit verschiedenen Zeichen und Codierungen bildsprachlicher 1 | Anne Waldschmidt: »Behinderung« neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, in: Dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation. Kassel 2003, 11-22, hier 13. 2 | Den Kulturbegriff entlehne ich an dieser Stelle bei Clifford Geertz. Der Kulturanthropologe begreift die kulturellen Ausdrucksformen des Menschen als selbstgesponnene Bedeutungsnetze, innerhalb derer sich die kulturelle Kommunikation bewegt und soziales Handeln vollzieht. Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987.
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Art belegt worden. Ausgehend von der These, dass künstlerische Darstellungsweisen einen erheblichen Beitrag zur Konstruktion von ›Anderssein‹ und ›Behinderung‹ leisten3, soll in diesem Beitrag ein Blick auf die Darstellung von kleinwüchsigen Menschen in der bildenden Kunst vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart geworfen werden. Besprochen werden insgesamt zwölf Beispiele, von denen jedoch nur sieben abgebildet werden.4 Anhand mehrerer Bildbeispiele aus verschiedenen Epochen der abendländischen Kunstgeschichte wird der Frage nachgegangen, welche Rollen und Funktionen dem kleinwüchsigen Menschen durch die Jahrhunderte in der Kunst zugewiesen wurden. Durch die Beschreibung einzelner Werke und der kunsthistorischen Interpretation der Funktion des Kleinwüchsigen innerhalb der Bildnarration soll vor allem deutlich werden, dass Kleinwüchsige und damit Menschen mit Behinderungen in der Kunst schon immer präsent waren, jedoch die Zuordnung und Betrachtung dieser kollektiven Identität unter dem Begriff der ›Behinderung‹ vergleichsweise jung ist. Dagegen wurden in früheren Jahrhunderten kleinwüchsige Menschen unter dem Bildfigurentypus des ›Zwerges‹, des ›Narren‹, der ›Karikatur‹ oder der ›Groteske‹ dargestellt und durchliefen verschiedene Bedeutungszuschreibungen. Kernthese dieses Beitrages ist daher, dass kleinwüchsige Menschen über viele Jahrhunderte festes Bildrepertoire waren und erst mit der Moderne, wie Behinderung generell, aus der Kunst verdrängt wurden. Es ist ein Charakteristikum der Disability History, dass im Vergleich zu den Disability Studies der Schwerpunkt der Analyse weniger auf dem von Michel Foucault 1973 konstatierten ›klinischen Blick‹5 liegt, sondern vielmehr der allgemeineren Frage nachgegangen wird, welche Blicke auf den behinderten Menschen gerichtet wurden, bevor der ›klinischen Blick‹ überhaupt erst einen ›behinderten‹ Menschen konstruierte. Daher geht es auch weniger um disziplinierte Körper, sondern um die Frage, ab wann und warum diese Körper zu solchen wurden. Es gilt also zu fragen, welche Rolle Diskussionen um Normen und Normalitäten historisch spielten
3 | Vgl. Christian Mürner: Die Normalität der Kunst: das Bild, das wir Normalen uns von Behinderten machen, Köln 1989, 141ff. 4 | Alle in diesem Beitrag behandelten Werke mit Ausnahme des letzten (Juan Muñoz, Sara with blue dress) sind abgebildet in: Alfred Enderle/Dietrich Meyerhöfer/Gerd Unverfehrt (Hg.): Kleine Menschen – Große Kunst. Kleinwuchs aus künstlerischer und medizinischer Sicht, Hamm 1992. 5 | Michel Foucaults zweites größeres Buch Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (im Original Naissance de la clinique: une archéologie du regard medical) wurde 1963 veröffentlicht. Die Publikation löste Debatten über die Disziplinierung von Körpern aus und ist auch für die Entstehung der Disability Studies von Bedeutung, da durch Foucaults Darstellung der Blick für die Konstruktion von Behinderung geschärft wurde.
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bzw. welche Bezeichnung anstelle des Begriffs der Behinderung angewandt wurde.6 Der Disability History geht es dabei um die Darstellung historischer Prozesse. Während die Disability Studies in den meisten Fällen unser gegenwärtiges Verständnis von Behinderung thematisieren, von der gelebten Gegenwart aus die soziokulturelle Konstruktion dieses Begriffes untersuchen und dabei Machtstrukturen und institutionelle Zusammenhänge kritisch beleuchten, kann die Disability History sich vom gegenwärtigen Bild des ›Behinderten‹ lösen. Sie kann unabhängig von heute geltenden Kategorien und Begriffen konstruierte Kollektive wie ›Blinde‹, ›Anstaltsinsassen‹, ›Kleinwüchsige‹ oder ›Gehörlose‹ in einen historischen Kontext einordnen und anhand des Quellenmaterials der jeweiligen Zeit herausarbeiten, wie und ob überhaupt ein solches Kollektiv als ›behindert‹ galt und welche Konsequenzen dies für die Lebensrealität der Subjekte hatte. In dieser exemplarischen Untersuchung sind kleinwüchsige Menschen das zu untersuchende Kollektiv, und die künstlerischen Bildträger, auf denen sie dargestellt sind, bieten das zu analysierende Quellenmaterial. Gerade durch einen weit gespannten Bogen, der über mehrere Jahrhunderte ein Phänomen betrachtet, können grundlegende Fragen der Disability History aufgegriffen und erörtert werden. Es handelt sich dabei um Fragen nach der Herstellung und Konstruktion von ›behinderten Randgruppen‹, nach der Umwertung von Bedeutungen und der historisch wechselnden Funktion eines Bildgegenstandes im Laufe der Zeit. Nicht nur das Bild selbst oder der Künstler, der es schuf, nehmen dabei eine bestimmte Codierung von ›Behinderung‹ vor. Auch die Betrachterinnen und Betrachter, die Kunsthistoriker und -philosophinnen, die das Werk in einer bestimmten Weise interpretieren, nehmen Bezug auf die Begriffe ihrer jeweiligen historischen Zeit, um ›Behinderung‹, ›Hofzwerg‹ oder ›Kleinwüchsiger‹ in einer charakteristisch erscheinenden Weise zu tradieren. Dieser Beitrag geht bei der Untersuchung der Darstellung kleinwüchsiger Menschen in der Kunst in erster Linie von der Bildkomposition selbst aus, bezieht jedoch an einzelnen Stellen auch Rezipientenpositionen der Gegenwart mit ein.
6 | Zur besonderen Aufgabe der Disability History in Abgrenzung zu den Disability Studies vgl. auch den einleitenden Beitrag von Anne Waldschmidt in diesem Sammelband.
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K LEINWÜCHSIGE M ENSCHEN IN DER K UNST : Z EICHEN UND B EDEUTUNGSTR ÄGER Innerhalb der bildenden Kunst fungiert der behinderte Mensch in der Abbildung als doppelt wirksame Bildstrategie. Zum einen wird Zeugnis einer historischen Situation abgelegt, zum anderen wird das Bild des ›Behinderten‹ als innerbildliches Symbol eingesetzt. Kunst und Kultur benutzen den behinderten Menschen als verweisendes Zeichen und Symbol; an verschiedenen Stellen innerhalb der Disability Studies ist dies bereits konstatiert worden: »Aus kulturwissenschaftlicher Sicht wird Behinderung nicht nur als historische Kategorie, sondern auch als ›Zeichen‹ verstanden, als Symbol und kulturelle Repräsentation, die immer auch auf etwas anderes verweist und nicht nur die gesundheitliche Beeinträchtigung meint.«7 Die Analyse der Codierungen innerhalb kultureller Praktiken und Bilder steht bislang aber noch aus. Es geht im Folgenden demnach um zwei Punkte: Erstens ist zu zeigen, wie kleinwüchsige Menschen in der Kunst der verschiedenen Epochen dargestellt wurden, was ihre Aufgaben und Funktionen waren und in welchem sozialen und gesellschaftlichen Kontext sie sich bewegten. Zweitens wird untersucht, wie die Kunst Menschen mit Behinderungen – in diesem Fall kleinwüchsige Menschen – gewissermaßen benutzt, d.h. als Zeichen und Symbole für Diskurse verwendet, die innerhalb der Kunst selbst stattfinden. Gefragt werden soll also, welche bildsprachlichen Codes kleinwüchsigen Menschen in der Kunstgeschichte zugeschrieben werden und wie die Kunst innerbildliche Diskurse um Andersheit verhandelt. Bei den in dieser Überblicksdarstellung angesprochenen Kunstwerken handelt es sich um eine exemplarische Auswahl, die geeignet ist, eine Entwicklung durch die Jahrhunderte aufzuzeigen. Deutlich wird, wie sich Zuschreibungen und kulturelle Codes, mit denen kleinwüchsige Menschen in der Kunst belegt werden, verändert haben. In Anlehnung an den konstruktivistischen Ausgangspunkt der Disability Studies soll somit ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Normalität und Abweichung keine fest gefügten sozialen Positionen sind, sondern Perspektiven, die wechselnd eingenommen werden können. Die Darstellung kleinwüchsiger Menschen kann bis in die Kunst des alten Ägyptens zurückverfolgt werden, sie ist somit schon immer Teil der abendländischen Kunstgeschichte gewesen. Immer häufiger und insbesondere im Zusammenhang mit Gruppenkonstellationen wurden kleinwüchsige Menschen ab dem 14. Jahrhundert als Personal an Königshöfen abgebildet. Gleichwohl ist es schwierig, die Geschichte der sogenannten Hofnarren und Hofzwerge historisch zu rekonstruieren.8
7 | Waldschmidt (2003), 20. 8 | Vgl. Gerhardt Petrat: Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe. Reflexionen in Herrschaft und Moral in der Frühen Neuzeit, Bochum 1998, 11.
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K LEINWÜCHSIGE M ENSCHEN ALS KÖNIGLICHE A T TRIBUTE UND TEIL DES HÖFISCHEN L EBENS Als charakteristisch für die Darstellung des kleinwüchsigen Menschen in der Kunst des Mittelalters kann die Szene auf der Mitteltafel eines Altarbildes gelten, das zu Beginn des 15. Jahrhunderts von einem namentlich unbekannten Maler in Florenz geschaffen wurde. Abbildung 1: Meister des Bambino Vispo: Anbetung der Heiligen drei Könige, Anfang 15. Jahrhundert, Tempera auf Holz 30,5 x 57,5 cm, Musée de la Chartreuse, Douai, in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 99.
Zu sehen ist eine Szene, welche die Anbetung der Heiligen Drei Könige darstellt. Rechts befindet sich die Heilige Familie in einem offenen, überdachten Unterstand und links daneben stehen die Weisen aus dem Morgenland mit ihrem Gefolge. In der Bildmitte steht, etwas verdeckt von anderem Gefolge, ein bärtiger kleinwüchsiger Falkner. Auf seiner behandschuhten Hand sitzt ein Falke und an seinem Gürtel hängt ein Beutel, der den Mann zugleich als eine Art Schatzmeister ausweist. Der kleinwüchsige Mann ist hier in die Gesamtkomposition des Werkes eingebettet und nimmt die Rolle eines königlichen Attributs ein. Durch seine Anwesenheit werden gewissermaßen die Weisen aus dem Morgenlande erst zu ›richtigen‹ Königen. Es ist davon auszugehen, dass im 15. Jahrhundert der kleinwüchsige Mensch vor allem als Attribut einer höfischen Gesellschaft rezipiert wurde.9 Durch ihn wurde aus dem ikonografischen Topos der Drei Weisen letztendlich ein tatsächlich greifbarer König, der dem zeitgenössischen Betrachter Anhaltspunkte und eine Identifikationsmöglichkeit bot. Die Bibelgeschichte kann somit in die Gegenwart des 15. Jahrhunderts hinein wirken. Wie häufig vor allem im 16. und 17. Jahrhundert kleinwüchsige Menschen als Teil des höfischen Lebens dargestellt wurden, zeigt auch ein 9 | Vgl. Petrat (1998), 40.
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Ganzkörperporträt der Infantin Isabella von Spanien mit ihrer kleinwüchsigen Hofdame Magdalena Ruiz, das Teodoro Felipe de Liano (1556-1625) 1584 malte.10 Gerade am spanischen, aber auch am französischen und russischen Hof waren während dieser Zeit viele kleinwüchsige Menschen als Hofzwerge und damit als Diener und persönliche Vertraute der Königsfamilie anzutreffen.11 Zentral im Bild steht die junge Infantin in einem aufwändig gestalteten Kleid. In der rechten Hand hält sie ein um ihren Hals hängendes Medaillon, ihre Linke ruht in einer Schutzgeste auf dem Kopf der kleinwüchsigen Kammerzofe, die ebenfalls in reiche Spitzen gekleidet ist. Zentrales Thema des Bildes scheint die Darstellung von Freundschaft und einer intimen, persönlichen Beziehung zu sein. Denn auch die abgebildete, kleinwüchsige Magdalena Ruiz, die namentlich bekannt ist und in historischen Quellen des spanischen Könighofes genannt wird,12 hält neben einer Rosenkranzkette und zwei Äffchen ein Medaillon in der Hand. In der Ikonografie dieser Epoche tritt die Zurschaustellung kleiner Porträtmedaillons immer dann auf, wenn es darum geht, Freundschaft und Zuneigung zu thematisieren, ist doch die Abbildung eines anderen Menschen auf dem Medaillon immer zugleich mit einer Art indirekter Anwesenheit des geschätzten Freundes oder der Freundin verbunden. Der Medienwissenschaftler Gerhardt Petrat weist zudem darauf hin, dass Hofzwergen eine unheilabwehrende Aufgabe zukam. »Auch brachten die Zwerge«, so Petrat, »aus der Tradition das Image mit, besonders nützlich zu sein.«13 Um in diesem Porträt das freundliche und vertrauensvolle Wesen der spanischen Infantin Isabella zu betonen und sie zugleich mit einer Schutzpatronin zu versehen, stellte der Maler der Infantin als kunsthistorisches Freundschaftssujet die kleinwüchsige Magdalena Ruiz zur Seite. Ein um 1550 entstandener Kupferstich, der die Szene eines Besuches des Florentiner Herrschers Cosimo de Medici bei Papst Pius V. im Konsistorium darstellt, zeigt ebenfalls eine Art Momentaufnahme des höfischgeistlichen Lebens. Inmitten des bewaffneten Gefolges von Cosimo de Medici und wie selbstverständlich in dieses eingegliedert, ist rechts vorne ein kleinwüchsiger Militärbefehlshaber zu sehen.
10 | Teodoro Felipe de Liano, Infantin Isabella Clara Eugenia von Spanien mit Magdalena Ruiz, um 1585, Öl auf Leinwand, 207 x 129 cm, Museo del Prado, Madrid. Abbildung in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 145. 11 | Vgl. Petrat (1998), 40. 12 | Vgl. Alice Jane McVan: Spanish Dwarfs, in: Notes Hispanic 2 (1942), 97129. 13 | Petrat (1998), 40.
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Abbildung 2: Philippe Galle (nach Jan van der Straet, gen. Giovanni Stradanus): Cosimo de Medici bei der Audienz vor Papst Pius V., um 1580, Kupferstich, 21,6 x 29,7 cm, Rijksprentenkabinet Amsterdam, in: Enderle/ Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 155.
Für den zeitgenössischen Betrachter ist dies vermutlich lediglich ein Indiz dafür gewesen, dass hier ein vollständiger Hofstaat – inklusive des kleinwüchsigen Personals, das üblicherweise eben diesem angehörte – anwesend war. Hingegen ist in einer Bildbeschreibung aus dem Jahr 199214 explizit von einem »Zwerg« zu lesen, der die gleiche Kleidung wie der Militärbefehlshaber ihm rechts gegenüber trage. Somit wird der abgebildete, kleinwüchsige Mann zu einem lustig verkleideten Beiwerk, das lediglich der Bildausschmückung dient. An dieser Stelle zeigt sich, wie sehr die Beschreibung eines Werks an seine Zeit gebunden ist. Die Beschreibung und Interpretation eines Kunstwerkes ist jeweils von der historischen Situation und dem Kontext abhängig; sie bedient sich einerseits bestehender Bilder und Denkweisen über Behinderung, reproduziert diese oder aber verändert sie immer wieder. Es macht einen großen Unterschied, ob schlicht von drei Militärmännern die Rede ist oder aber von einem verkleideten Zwerg und zwei Militärmännern. Das Bewusstsein dafür, wie Bilder mittels interpretativer Beschreibung rezipiert werden, und mit welchen Machtstrukturen dies verbunden ist, ist ein Aspekt, der auch in der historischen Forschung nach wie vor zu wenig beachtet wird. Daher ist es wichtig, bei der Betrachtung eines Werkes stets die innerbildliche Struktur der Bildkomposition im Auge zu behalten. Innerbildlich scheint 14 | Dietrich Meyerhöfer: Bildbeschreibung, in: Enderle/Ders./Unverfehrt (1992), 154.
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sich nämlich in der Gestalt des kleinwüchsigen Militärbefehlshabers, der in einer direkten Blickachse dem Papst als zentrale Figur des Bildes gegenüber steht, ein Topos anzudeuten, der im folgenden 17. Jahrhundert mit der Darstellung des Kleinwüchsigen verknüpft wird, nämlich das Aufmerksamkeitsthema.
D ER KLEINWÜCHSIGE M ENSCH : B ILDSTR ATEGIE ZUR S TEIGERUNG DER A UFMERKSAMKEIT BEIM B E TR ACHTER Aufmerksamkeit erregt auch der kleinwüchsige Mann, den der Maler Jan Molenaer (1610-1668) 1631 in die Mitte einer Atelierszene gestellt hat.15 In einer Malerwerkstatt mischt der Maler seine Farben zusammen, während rechts im Raum auf einer Staffelei ein angefangenes Gemälde steht. Auf dem unfertigen Gemälde findet sich eine Skizze der Szene, die sich parallel auch im Atelier abspielt: Ein kleinwüchsiger Mann, mit Samtjoppe und Federbarett sorgsam und teuer gekleidet, vollführt ein lustiges Tänzchen mit einem Hund, während im Hintergrund ein Musikant mit Drehleier und eine Frau mit Häubchen die Szene betrachten. Das Kunstvolle, das beim Betrachten die Aufmerksamkeit vor allem erweckt, steht eindeutig im Vordergrund dieses Gemäldes, das letztendlich die Kunst der Malerei selbst zum Thema hat. Es geht um Sichtbarkeit und Darstellung, um das Besondere, eben um die Kunst. Dabei fungiert der Kleinwüchsige gewissermaßen als Verstärker, da er selbst etwas Besonderes, Außergewöhnliches im positiven Sinne darstellt. Gemälde, welche die Malerei als große Kunst thematisieren und durch Bilder im Bild, durch Spiegel oder ineinander verschränkte Räume das malerische Können vorführen, sind charakteristisch für die Epoche des frühen 17. Jahrhunderts. Ein solch komplexes Werk, das über die Malerei selbst reflektiert, um einen kleinwüchsigen Menschen zu ergänzen, scheint daher nur konsequent. Ähnliche Bildkompositionen sind zu jener Zeit nicht selten realisiert worden. Auch eines der bedeutendsten und meistinterpretierten Werke der Kunstgeschichte, Diego Velasquez’ Las Meninas von 1656 hat die Kunst, die Darstellung und den Blick zum Thema. Es gibt zahlreiche Interpretationen zu diesem zentralen Werk der Kunstgeschichte. Ein Maler malt auf einer großen, nur von hinten sichtbaren Leinwand das, was für den Betrachter außerhalb des Bildes liegt: das in einem Spiegel im hinterem Bildraum sichtbare Königspaar, Philipp IV von Spanien und seine Gemahlin Maria Anna. Die im Vordergrund anwesende Infantin und ihre Hofdamen werden durch die Bildkomposition genauso zu Betrachtern und Betrachteten der gemalten Szene wie der Rezipient des Werkes selbst. Vielfache Blickachsen, Überschneidungen von 15 | Jan Miense Molenaer: Die Werkstatt des Malers, 1631, Öl auf Leinwand, 91 x 127 cm, Gemäldegalerie Berlin (Staatliche Museen zu Berlin). Abbildung in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 191.
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Abbildung 3: Diego Velasquez: Las Meninas, 1656, Öl auf Leinwand, 276 cm × 318 cm, Museo del Prado, Madrid, in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 205.
Räumen, das Bild im Bild und Mutmaßungen über den Künstler als Autor haben Generationen von Kunsthistorikern und Kunstphilosophen zu immer neuen Bilddeutungen veranlasst.16 Umso verwunderlicher erscheint es, dass die beiden ebenfalls abgebildeten, kleinwüchsigen Hofmitglieder, die historisch nachgewiesenen Personen Maria Bárbola und Nicolas Pertusato, seit dem 19. Jahrhundert in beinahe allen Interpretationen und Beschreibungen als Leerstelle der Interpretation ausgeblendet werden.17 16 | Thierry Greub hat in einem Sammelband eine Anzahl teils kontroverser Besprechungen zu diesem Werk zusammengestellt: Thierry Greub (Hg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte, Berlin 2001. 17 | Eine Ausnahme bildet der Aufsatz der Kuratorin des Prado Museums in Madrid, Manuela B. Mena Marqués, die ausgehend von Lichtreflexen am Ärmel Maria Bárbolas dafür plädiert, die vielen Umarbeitungen und Vorstufen des Kunstwerks in eine Interpretation mit einzubeziehen. Sie deutet die Meninas als eine Allegorie der Treue: Manuela B. Mena Marqués: Die Spitze am Ärmel der Zwergin MariBárbola, in: Thierry Greub (Hg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte. Berlin 2001, 247-280.
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Bestenfalls werden sie als zufällig anwesendes Hofpersonal wahrgenommen, das im Sinne einer Momentaufnahme mit porträtiert wurde. Da aber Velasquez in seinem auffällig komplexen, durchkomponierten Werk wohl kaum etwas ›zufällig‹ dargestellt hat, stellt sich aus Sicht der Disability History die Frage, welche innerbildliche Funktion den beiden kleinwüchsigen Menschen am rechten Bildrand zukommt. Die Vermutung liegt nahe, dass mit ihrer Hilfe wiederum die Kunst und das Kunstvolle selbst thematisiert werden. Maria Bárbola und Nicolas Pertusato werden als Personal des spanischen Königshofes dargestellt, sie führen aber gleichzeitig das eigentliche Bildthema vor: Es geht um die Aufmerksamkeit, das Wunderlich-Wunderbare, das Besondere, Kunstvolle und Wertvolle. Bemerkenswerterweise findet sich selbst bei Michel Foucault diese Leerstelle in der Bildinterpretation. In seiner ausführlichen Bildbeschreibung und Werkinterpretation von Las Meninas, die er 1966 seinem Werk Ordnung der Dinge18 gewissermaßen als Einführung voranstellt, geht er ebenfalls nicht auf das kleinwüchsige Hofpersonal ein. Foucault macht auf ein ganzes Spektrum von Sichtachsen und Spiegelungen, Räumen und Verschneidungen, Perspektiven und Bedeutungen aufmerksam und gelangt zu einem ähnlichen Schluss wie viele andere Interpreten des Bildes vor und nach ihm: Es handle sich um ein Gemälde, das Bedeutungen und Perspektiven und damit die Kunst selbst zum Inhalt habe.19 Die ›Zwerge‹ werden aber auch von ihm nicht ausdrücklich erwähnt, obwohl sie die Argumentation, wie eben gezeigt, eher untermauern würden. Die Tatsache, dass Foucault das kleinwüchsige Hofpersonal nicht weiter behandelt und für die Interpretation des Bildes nicht nutzt, ist umso verwunderlicher, wenn man seinen gesellschaftskritischen Ansatz berücksichtigt. Wenn es um Normalisierungsprozesse und Macht geht, wird gerade Foucault in den Disability Studies immer wieder als theoretische Referenz herangezogen.20 Doch auch Foucaults Blick auf Behinderung setzt voraus, dass bereits über Abweichung und Normierungen geurteilt und der zu besprechende Körper bereits als ›behindert‹ charakterisiert wurde. So schreibt Anne Waldschmidt: »Mit Foucault den als ›behindert‹ etikettierten Körper zu denken, heißt herauszuarbeiten, dass abgrenzbare und erkennbare, definierbare und somit verkörperte Differenzen tatsächlich erst dann entstehen können, wenn entsprechende Wissensformen, Denk- und Deutungsmuster sich konstituieren und gesellschaftlich durchsetzen.«21 Als ›Kind seiner Zeit‹ – der 1970er Jahre – musste wohl 18 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971. 19 | Ebd., 45. 20 | Vgl. Anne Waldschmidt: Verkörperte Differenzen – Normierende Blicke. Foucault in den Disability Studies, in: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007, 178-194. 21 | Anne Waldschmidt: Behinderte Körper: Stigmatheorie, Diskurstheorie und Disability Studies im Vergleich, in: Thorsten Junge/Imke Schmincke (Hg.): Margi-
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selbst Michel Foucault das kleinwüchsige Hofpersonal als nur zufällig im Raum anwesende Personen regelrecht übersehen und konnte es nicht für seine Interpretation der Bildkomposition einsetzen.
D AS 18. J AHRHUNDERT : V OM W UNDERBAREN ZUM W UNDERLICHEN Im 18. Jahrhundert wird das Wunderbare immer mehr zum Wunderlichen. Als ›Wunder‹ wird zunehmend Skurriles und Kurioses versammelt und ausgestellt. Zwei aus Barockperlen gefertigte Groteskfigürchen, die um 1725 entstanden sind und sich heute im Grünen Gewölbe in Dresden befinden, können als typische Sammelobjekte einer Kunst- und Wunderkammer verstanden werden. Abbildung 4a und b: Anonymer Künstler: Ausgelassener Koch, der auf dem Bratrost geigt und Tanzender Zwerg, um 1720, Kleinplastiken aus Barockperlen, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Grünes Gewölbe, in: Enderle/ Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 248 und 249.
nalisierte Körper. Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers, Münster 2007, 27-43, hier 35f.
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Es handelt sich um zwei Kleinplastiken, die jeweils aus einer großen Perle gearbeitet sind. Sie zeigen gewissermaßen Karikaturen kleinwüchsiger Personen: einen, wie der Titel sagt, »ausgelassenen Koch, der auf dem Bratrost geigt«, und einen »tanzenden Zwerg«. Die Arbeiten sollten vermutlich demonstrieren, wie sich das Wunderbare mit dem Wunderlichen vereinigt; sie sollten zum Staunen und Wundern animieren. Verwendet wurde kostbares Material, Perlen, Gold und Edelsteine, das mit hohem kunsthandwerklichem Können verarbeitet wurde. Es war bis zum 18. Jahrhundert nicht unüblich, in höfischen Kunst- und Wunderkammern nicht nur schöne Kunstwerke, Schmuck und Porzellan auszustellen, sondern auch ›natürliche‹ Wunder wie seltene Steine, Haifischzähne oder eben Abbildungen von ungewöhnlichen Menschen, die als besondere Laune der Natur galten. »Die Kunst«, so konstatiert Thomas Becker, »sollte die Natur nicht nur genau repräsentieren, sondern durch Idealisierung überwinden. Wenn Monster eine Kunst der Natur waren, dann waren sie eine Repräsentation, in der sich die Natur selbst übertraf, weil an ihnen die Idee der Natur deutlicher zum Ausdruck kam als in normalen, unauffälligen Phänomenen. In den Monstern kam die Natur also gleichsam dem Erforscher der Gesetzmäßigkeiten der Natur ohne dessen Zutun entgegen.«22 Da dieser Beitrag nicht intensiver auf die Geschichte der höfischen Kunst- und Wunderkammern eingehen kann,23 soll an dieser Stelle zumindest dieser Punkt festgehalten werden: In diesen Urformen von Museen und Sammlungen verdeutlichen insbesondere die damals verwendeten Ordnungskategorien, dass Kategorien eine unterschiedliche Gültigkeit besitzen und Wahrnehmungsweisen sich auffällig unterscheiden können. Abbildungen von besonderen, zum Beispiel kleinwüchsigen Menschen oder die hier dargestellten Goldschmiedearbeiten waren Teile eines Sammlungskonzeptes, das die gesamte kosmisch-göttliche Ordnung der Welt repräsentieren sollte. Dabei waren Darstellungen von menschlichen ›Wunderwesen‹ kostbar und etwas ganz Besonderes, ähnlich wie Fürstenporträts, »sie hingen zusammen mit den fürstlichen Bildern in der gleichen Galerie.«24 22 | Thomas Becker: Vom Blick auf den deformierten Menschen zum deformierten Maßstab der Beobachter. Versuch einer feldtheoretischen Genealogie des normalisierenden Betrachterhabitus in den Human- und Lebenswissenschaften, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, 151-174, hier 159. 23 | Zur Geschichte der Kunst- und Wunderkammern siehe auch: Lorraine Daston/Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750, Frankfurt a.M. 2002; Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994; Helmar Schramm et al. (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2003. 24 | Ruth von Bernuth: Aus den Wunderkammern in die Irrenanstalten – Natürliche Hofnarren in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Anne Waldschmidt (Hg.):
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Die hier genannten Beispiele machen deutlich, dass die Herausforderung der Disability History vor allem darin liegt, Kategorienbildungen und Differenzierungen in ihrer Historizität transparent zu machen. Während der kleinwüchsige Mensch bis zum 18. Jahrhundert unter dem Oberbegriff ›Naturwunder‹ angesiedelt und zusammen mit Vulkanen, Überschwemmungen oder Edelsteinen eingeordnet wurde, findet er sich heute zusammen mit blinden oder lernschwachen Menschen in derjenigen Kategorie wieder, welche die Überschrift ›Behinderte‹ trägt. »Ihre wichtigste Gemeinsamkeit [der behinderten Menschen, d.Verf.] besteht darin, dass sie auf Grund körperlicher und verkörperter Differenz dem negativen Pol des Normalfelds Gesundheit zugeordnet werden, eben nicht als ›normal‹ gelten und – als logische Konsequenz des Verdikts – ›normal‹ gemacht werden sollen.«25 Ein kultur- oder kunsthistorischer Blick auf die Veränderbarkeit von Abbildungsstrategien und die zeitliche Verschiebung von Bedeutungskontexten und Codierungen kann zeigen – gerade, wenn ein einziges Bildsujet durch mehrere Jahrhunderte verfolgt wird –, dass und wie sich Zuschreibungen verändern.
19. J AHRHUNDERT : E LENDSDARSTELLUNG KLEINWÜCHSIGER M ENSCHEN Der Aspekt des Ausstellens und des Vorführens, der sich in der Idee der Kunst- und Wunderkammern manifestiert, erreicht im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt. Damit geht ein deutlicher Pendelschlag – weg vom positiv geladenen Wunder hin zum negativ konnotierten Mitleids- und Abartigkeitsprogramm – einher. Der Beitrag von Claudia Gottwald in diesem Band arbeitet diesen Bruch vom Komisch-Wunderlichen hin zum mitleidsbeladenen Unbehaglichen heraus. Zusammen mit bärtigen Frauen, sogenannten Riesen oder Schlangenmenschen werden im 19. Jahrhundert kleinwüchsige Menschen in Europa und den Vereinigten Staaten auf Wanderausstellungen und in Zirkussen vorgeführt.26 Auch die Abbildungen von kleinwüchsigen Menschen aus jener Zeit zeigen deutlich, dass kleinwüchsige Menschen als schaurig-mitleiderregende Attraktion aufgefasst werden. Ein Holzschnitt aus der Illustrated London News,27 Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 49-62, hier 50. 25 | Waldschmidt (2007b), 192. 26 | Zu Freak Shows sei verwiesen auf: Rosemarie Garland-Thomson: Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997 und Robert Bogdan: Freak Show: Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago 1988. 27 | Frank Dadd: Die Zwerge im Picadilly: Lucia Zarate und General Mite, mit dem Schausteller Frank Uffner, Holzstich, 26,7 x 21,4 cm, in: The Illustrated London
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einer Wochenschrift mittlerer Auflage mit damals breitem Lesepublikum, veranschaulicht eine solche Vorführszene. Dargestellt ist eine kleine Bühne, auf der ein vornehm gekleideter Herr drei Kleinwüchsige präsentiert. Die Szene ist aus einer leichten Froschperspektive dargestellt. Durch das abgebildete Podium und die Absperrung lässt der Illustrator eine große Distanz zwischen den vorgeführten Kleinwüchsigen und dem Betrachter aufkommen, der unfreiwillig in die Position des Voyeurs gedrängt wird. Auch ein großes Gemälde von Fernand Pelez (1843-1913), das 1888 entstand und heute im Pariser Petit Palais hängt, zeigt eine solche Zirkusszene. Abbildung 5: Fernand Pelez: Grimaces et miserès, 1888, Öl auf Leinwand, 221 x 635 cm, Musée du Petit Palais, Paris, in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 302.
Schon der Titel der Arbeit, Grimace et miserès, macht deutlich, dass das Vorstellen, Präsentieren und Zeigen nicht mehr den unschuldigen und positiv besetzten Aspekt des Wunderbaren hervorkehrt, wie noch ein Jahrhundert zuvor. Vielmehr wollte der Maler als einer der großen Vertreter des Realismus die Negativseiten der Pariser Schaustellerwelt deutlich vorführen. Verelendung, Unglück und Armut, das Ausgeliefertsein an ein Schicksal und die persönliche Not hinter der glitzernden Welt des Showbusiness sind das zentrale Bildthema. Der kleinwüchsige Mann im bunten Zirkuskostüm, der auf dem Bühnenrand sitzt und unbeteiligt ins Publikum starrt, während hinter ihm eine Gesangsnummer zum Besten gegeben wird und Kinderartisten ihr Schicksal beweinen, wird in diesem Bild zur Personifizierung eines bestimmten Milieus im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Thomas Becker führt das Verschwinden kleinwüchsiger Menschen an den Königshöfen und ihren sozialen Abstieg ins Schaustellergewerbe auf Machtverschiebungen zurück, die durch die BilNews No. 2165, Vol. LXXII, Saturday 17 November 1880, Seite 517/518. Abbildung in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 299.
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dungsdiskurse der Aufklärung entstanden: »Ihr [der »Zwerge«, d.Verf.] Ausstellungswert für einen interesselosen Beobachter war im Feld der Macht durch die Bildung eines wissenschaftlichen Blicks gesunken, während sich Marktschreier gleichzeitig beeilten, die in unteren Klassen noch als gehoben anerkannte Schaulust in Bezug auf Monster für eine Aufwertung ihrer Spektakel zu instrumentalisieren.«28 Der Kleinwüchsige als Metapher für das Schaustellermilieu und seine soziale Verelendung taucht in der Kunst des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts immer wieder auf. Auch der expressionistische Maler Max Beckmann (1884-1950) bedient sich des Bildes eines Zirkuswagens, in dem unter anderem auch ein kleinwüchsiger Schausteller anwesend ist, als er 1940 im niederländischen Exil gewissermaßen sein eigenes Schicksal verarbeitet. Beckmanns Gemälde Der Zirkuswagen29 zeigt einen Blick in einen Zirkuswagen, in welchem fünf Menschen dicht gedrängt, jedoch ohne Beziehung zueinander ausharren. Ein Dompteur bewacht in der rechten Bildhälfte ein Raubtier, während eine in weiß gekleidete Dame auf einem Sofa liegt, hinter dem ein Mann in seine Zeitungslektüre vertieft ist. Ein Artistenjunge versucht, über eine Leiter durch die Dachluke den Wagen zu verlassen, während ganz vorne im Bild ein kleinwüchsiger Mann mit Laterne in Rückenansicht zu sehen ist. Die Bildkomposition lässt sich als ein Bild des Elends zusammenfassen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte zur Darstellung des Elends der kleinwüchsige Mensch als fester Bildgegenstand. Als das Bild 1940 entstand, waren allerdings Zirkuswelt und Gaukler auch schon Verweise auf vergangene Zeiten, die es so nicht mehr gab.30 Zusammen mit dem Bild des Zirkus scheint der kleinwüchsige Mensch im weiteren Verlauf der Kunst der Moderne untergegangen zu sein. In der Kunst nach 1945 tauchen Kleinwüchsige nur noch als Verweis auf längst vergangene Zeiten und Bildsujets auf. Offenbar hat der ›klinische Blick‹ den kleinwüchsigen Menschen als Teil eines komplexen Medizin- und Normalisierungsapparates so sehr besetzt, dass für den künstlerischen Blick nicht mehr viel Raum blieb.
28 | Becker (2007), 163. 29 | Max Beckmann: Der Zirkuswagen, 1940, Öl auf Leinwand, 86 x 119 cm, Städel Museum Frankfurt a.M. Abbildung in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 313. 30 | Das Zirkus- und Gauklerthema war ein zentrales Thema in der Kunst der frühen Moderne. Als Beispiel kann hier auch das Gemälde Die Gaukler von Pablo Picasso gelten, das er 1905 malte, und das heute in der National Gallery in Washington hängt. Vgl. dazu auch Yve-Alain Bois (Hg.): Picasso Harlequin 1917-1937. Ausstellungskatalog Complesso del Vittoriano, Rom, 2008-2009, Mailand 2008, 19; Roland Berger/Dietmar Winkler: Künstler, Clowns und Akrobaten: Der Zirkus in der bildenden Kunst, Stuttgart 1983.
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Kunst und Gesellschaft scheinen sich in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander im 20. Jahrhundert auf die Nicht-Wahrnehmung von Behinderung und damit auch von kleinwüchsigen Menschen geeinigt zu haben. Was nicht im kollektiven Bild- und Kunstgedächtnis vorhanden ist, scheint auch nicht zu existieren.
N ICHTBE ACHTUNG UND M ITLEID IN DER G EGENWARTSKUNST Der spanische Künstler Juan Muñoz (1953-2001) gehört zu den wenigen Künstlern, die in der zeitgenössischen Kunst den kleinwüchsigen Menschen darstellen. So gibt es von dem 2001 verstorbenen Künstler einige Raumarbeiten, die Plastiken bzw. Körperabgüsse von kleinwüchsigen Menschen beinhalten. Die beiden Arbeiten Dwarf with three columns31 von 1988 und Sara with blue dress von 1996 haben, anders als die Kunstwerke in den Jahrhunderten zuvor, den kleinwüchsigen Menschen zum einzigen und zentralen Thema. Die Rauminstallation Dwarf with three columns besteht aus drei hohen, in sich gedrehten dreidimensionalen Säulen und der anatomisch genau ausgearbeiteten Figur eines kleinwüchsigen Mannes, der mit dem Rücken zur Wand zwischen den Säulen steht. Bei Sara with blue dress handelt es sich hingegen um den Abguss einer kleinwüchsigen Frau, die vor einem Spiegel steht. Während die Figur auf der Rückseite farblos ist, sieht die betrachtende Person im Spiegel, dass die Kleidung der Frau auf der Vorderseite blau gefärbt ist. In beiden Arbeiten steht die kleinwüchsige Person für sich, ist in keinen weiteren Erzählstrang eingebunden und kann so auch kaum für irgendetwas anderes stehen. Hier zeigt sich ein Charakteristikum unserer Zeit: Die Darstellung eines Menschen mit Behinderung fokussiert stets auf die Darstellung eben dieser Behinderung; sie ist und bleibt ständiger Bezugs- und Referenzpunkt. Während es in der Kunst früherer Jahrhunderte um den Königshof, die Kunst an sich oder die Verbildlichung eines bestimmten sozialen Milieus ging, wird in der Gegenwartskunst die Behinderung zum zentralen Bildinhalt. Zurückgeworfen auf die menschliche Figur lässt der Künstler dem Betrachter nur eingeschränkte Interpretationsfreiheit. Zu stark drängen die hohen Säulen Größenverhältnisse und -ordnungen in den Vordergrund und all zu sehr wird der Spiegel zur Metapher für Selbstkritik und Sichtbarkeit von Defiziten. Die Arbeit von Juan Muñoz zeichnet somit ein charakteristisches Bild des kleinwüchsigen Menschen in der heutigen Gesellschaft. Denn während die kleinwüchsige Sara vor sich im Spiegel eine attraktive Frau in einem schönen blauen Kleid sehen mag, nehmen die Betrachter der zumindest auf den 31 | Juan Muñoz: Dwarf with three columns, 1988, Terrakotta, ca. 235 x 150 x 200 cm, Rubell Family Collection, Miami. Abbildung in: Enderle/Meyerhöfer/Unverfehrt (1992), 317.
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ersten Blick eher beklemmend wirkenden Rauminstallation eine arme, behinderte ›Zwergin‹ wahr, die von hinten gesehen, ohne aufgemaltes Kleid den Blicken der Besucher nackt ausgeliefert ist. Abbildung 6: Juan Muñoz: Sara with blue dress, 1996, Acryl auf Polyestergießharz und Spiegel, 195 x 110 x 100 cm, Sammlung Juan Várez, Madrid, Foto: Dimitri Tamviskos, Abbildung mit freundlicher Genehmigung des ›Estate of Juan Muñoz‹, Bilbao.
Z USCHREIBUNGEN VER ÄNDERN SICH IM L AUFE DER G ESCHICHTE Der hier vorgestellte, zugegeben kursorische Gang durch die Kunstgeschichte kann nur exemplarisch einige Merkmale der Darstellung des kleinwüchsigen Menschen in der Kunst anreißen. Da der Überblick unvollständig ist, kann er nur Anregungen für eine vertiefende Auseinandersetzung mit Konstruktionen von ›Anderssein‹ und ›Behinderung‹ in der Kunst liefern. Eine solche Überblicksdarstellung macht deutlich, wie wichtig es ist, dass Kunsthistorikerinnen und -historiker selbstkritisch untersuchen, wie ihre eigene Disziplin Andersheiten nicht nur interpretiert, sondern
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konstituiert und mit ihnen umgeht. Nicht allein die Disability Studies als fächerübergreifender Forschungsansatz sollten die Geschichts- und Sozialwissenschaften auf Aspekte der Behinderung durchforsten. Vielmehr ist es nötig, aus der Einzeldisziplin heraus eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Tradierung von Normen und Normierungen im eigenen Forschungskontext stattfinden zu lassen: So sollte in der Kunstgeschichte wie in jeder Disziplin ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass künstlerische Darstellungsweisen immer auch zur Konstruktion von Andersartigkeit, Normen und Behinderung beitragen. Wichtig ist auch zu zeigen, wie diese Konstruktionen sich im Laufe der Zeit verändern und wie die Kunst zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Strategien verfolgt, wenn es um die Darstellung von Menschen mit Behinderungen geht. Das Bild vom menschlichen Körper ist auch in der Kunst nicht zu trennen von den Normen, die seine Materialisierung regulieren und beherrschen. Ebenso ist die Signifikation dieser materiellen Wirkungen zu berücksichtigen. Ein Blick in die Kunstgeschichte kann zeigen, dass die Darstellung kleinwüchsiger Menschen nicht immer so nichtexistent oder so extrem überthematisiert war, wie wir es heute an den Arbeiten von Juan Muñoz sehen können. Gerade kunst- und kulturhistorisch geprägte Untersuchungen im Bereich der Disability History können den Blick auf die Konstruktion der Behinderung erweitern und fragen, ob Behinderung überhaupt schon immer da war. Dadurch wird ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass der Begriff der Behinderung eine vergleichbar junge Erscheinung ist. Dem gilt es auch in geschichtswissenschaftlichen Bereichen, die sich bislang nicht explizit mit Fragen der Disability Studies beschäftigen, Rechnung zu tragen, um der Geschichte als dynamische Abfolge von Diskursen gerecht zu werden. Auch die Fragen, inwieweit sich Kunst und Behinderung gegenseitig bedingen und was Ästhetik mit der Vorführung imperfekter Körper in der Kunst zu tun hat, bleiben spannend und wichtig für zukünftige Beschäftigungen mit Kunst und Behinderung. Der Kunst- und Literaturwissenschaftler Tobin Siebers vertritt in seinen Essays die These, dass die Kunst der Moderne deshalb so erfolgreich ist, weil sie das Zerbrochene, Organische, Unproportionierte, Körperliche und Verletzliche, letztendlich Behinderung thematisiert: »In der Moderne lässt sich anhand der Kategorie Behinderung sogar zwischen guter und schlechter Kunst unterscheiden, wenn auch anders, als man aus einer gewissen Sicht erwarten würde. Gute Kunst verkörpert Behinderung.«32 In Bezug auf die Disability History kann dies bedeuten, dass sich gerade mit Hilfe der Historisierung des Behinderungsbegriffs und der Aufdeckung der dabei wirksam werdenden Machtstrategien ein Verständnis dafür entwickeln lässt, wie sich in der modernen und zeitgenössischen Kunst Aufmerksamkeitsstrategien einsetzen lassen und wie auch heute Kunst, Behinderung, Aufmerksamkeit 32 | Tobin Siebers: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung, Bielefeld 2009, 9.
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und Ästhetik in enger Verbindung zueinander stehen. »Schönheit ist heute anders – anders als zu jeder anderen historischen Zeit.«33
L ITER ATUR Becker, Thomas: Vom Blick auf den deformierten Menschen zum deformierten Maßstab der Beobachter. Versuch einer feldtheoretischen Genealogie des normalisierenden Betrachterhabitus in den Humanund Lebenswissenschaften, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, 151-174. Bernuth, Ruth von: Aus den Wunderkammern in die Irrenanstalten – Natürliche Hofnarren in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 49-62. Bogdan, Robert: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago/London 1988. Daston, Lorraine/Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der Dinge 1150-1750, Frankfurt a.M. 2002. Enderle, Alfred/Meyerhöfer, Dietrich/Unverfehrt, Gerd (Hg.): Kleine Menschen – Große Kunst. Kleinwuchs aus künstlerischer und medizinischer Sicht, Hamm 1992. Feucht, Rainer G.: Krüppel, Behinderte und »Beschränkte« in Medizin, Geschichte, Literatur u. Kunst, Allmendingen 1985. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M. 1988. Ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971. Garland-Thompson, Rosemarie: Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literatur, New York 1997. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987. Greub, Thierry (Hg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte, Berlin 2001. Köhl, Gudrun/König, Hannes/Ortenau, Erich: Eulenspiegel, Hofnarren und Zwerge, München 1982. McVan, Alice Jane: Spanish Dwarfs, in: Notes Hispanic 2 (1942), 97-129. Mena Marqués, Manuela B.: Die Spitze am Ärmel der Zwergin Mari-Bárbola im Gemälde Las Meninas von Velásquez, in: Thierry Greub (Hg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte, Berlin 2001, 247-280.
33 | Siebers (2009), 91.
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Meyerhöfer, Dietrich: Bildbeschreibung, in: Alfred Enderle/Ders./Gerd Unverfehrt (Hg.): Kleine Menschen – Große Kunst. Kleinwuchs aus künstlerischer und medizinischer Sicht, Hamm 1992, 154. Mürner, Christian: Die Normalität der Kunst: das Bild, das wir Normalen uns von Behinderten machen, Köln 1989. Petrat, Gerhardt: Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe. Reflexionen in Herrschaft und Moral in der Frühen Neuzeit, Bochum 1998. Siebers, Tobin: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung, Bielefeld 2009. Waldschmidt, Anne: »Behinderung« neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, in: Dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, 11-22. Dies.: Behinderte Körper: Stigmatheorie, Diskurstheorie und Disability Studies im Vergleich, in: Thorsten Junge/Imke Schmincke (Hg.): Marginalisierte Körper. Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers, Münster 2007a, 27-43. Dies.: Verkörperte Differenzen – Normierende Blicke. Foucault in den Disability Studies. In: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007b, 178-194.
Ist Behinderung komisch? Lachen über verkörperte Differenz im historischen Wandel Claudia Gottwald
»Wie geht’s, sagte ein blinder zum lahmen, Wie Sie sehen, antwortete der lahme.«1
Diesen Witz erzählte der Schriftsteller und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) im 18. Jahrhundert.2 Aber schon seit der Antike wurde über körperliche und kognitive Abweichungen gelacht – zeitweise galten diese sogar als Inbegriff des Komischen. Gleichzeitig wurden mit diesem Lachen den Menschen mit Abweichungen soziale Rollen zugewiesen – beispielsweise die der Hofnarren im Mittelalter – und gesellschaftli1 | Georg Christoph Lichtenberg: Die Aphorismen-Bücher [1764-1799]. Nach den Handschriften herausgegeben von Albert Leitzmann 1902-1908, Frankfurt a.M. 2005, E382. 2 | Lichtenberg wurde vor allem als Gegner der Physiognomik und damit von Johann Caspar Lavater bekannt. Seine Aphorismen- bzw. Sudelbücher werden bis heute immer wieder aufgelegt. Über sich selbst – als eine »mir bekannte Person« – schrieb Lichtenberg: »Ihr Körper ist so beschaffen, daß ihn auch ein schlechter Zeichner im Dunkeln besser zeichnen würde, und stände es in ihrem Vermögen, ihn zu ändern, so würde sie manchen Theilen weniger Relief geben […]«, Georg Christoph Lichtenberg: Nachrichten und Bemerkungen des Verfassers von und über sich selbst, in: Ludwig Christian Lichtenberg/Friedrich Kreis (Hg.): Georg Christoph Lichtenberg’s vermischte Schriften nach dessen Tode aus den hinterlassenen Papieren gesammelt und herausgegeben, Bd. 1, Nachdruck der Ausgabe Göttingen 1800, Darmstadt 1972, 4-48, hier 3. Wegen seines Buckels wurde er scheinbar häufig ausgelacht, es gelang ihm aber auch, sich selbst humorvoll zu beschreiben: »Bey mir liegt das Hertz dem Kopf wenigstens um einen gantzen Schuh näher als bey den übrigen Menschen, daher meine grose Billigkeit. Die Entschlüsse können noch gantz warm ratificirt werden«, Lichtenberg (2005), 1772-75/2005, C 19.
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che Umgangsweisen wie etwa das Verspotten legitimiert. Seit dem späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert jedoch wurde Behinderung als komisches Objekt zunehmend kritisch betrachtet und abgelehnt: Gefordert wurden andere, vermeintlich humanere Reaktionen, wie beispielsweise Mitleid und Anteilnahme. Aus kulturwissenschaftlich orientierter Perspektive wird Behinderung als kulturell hergestellt und historisch relativ betrachtet. Dabei wird davon ausgegangen, dass in jedem Sprechen (oder Lachen!) Behinderung als Objekt konstruiert bzw. inszeniert wird: »[D]as Objekt, das von den medizinischen Aussagen des 17. oder 18. Jahrhunderts als ihr Korrelat gesetzt worden ist, ist nicht identisch mit dem Objekt, das sich durch die juristischen Urteilssprüche und polizeilichen Maßnahmen hindurch abzeichnet […]. Es sind nicht dieselben Krankheiten, um die es sich dort oder hier handelt; es sind nicht dieselben Irren, um die es geht,« so Michel Foucault.3 Schon der Begriff Behinderung macht dies deutlich. Er wird im heutigen Sinne erst seit dem Ersten Weltkrieg verwendet.4 Nach Ansicht der Historikerin Gudrun Hopf wäre ein »historisch adäquates begriffliches Konzept von Behinderung«5 erst noch zu entwickeln. Deshalb geht es im Folgenden darum, durchaus heterogene Phänomene von kulturell hervorgebrachten körperlichen, psychischen oder geistigen Abweichungen in den Blick zu nehmen.6 Die in den historischen Quellen genannten Personen(-gruppen) lassen sich zwar mithilfe der damaligen Begriffe und Beschreibungen näher charakterisieren, sie sind aber sicher nicht mit den heute als behindert gekennzeichneten Gruppen gleichzusetzen; beispielsweise sind die natürlichen Narren des Mittelalters nicht identisch mit denjenigen, die heute als Menschen mit Lernschwierigkeiten bezeichnet werden. Wenn Behinderung kulturell und sozial produziert ist, dann kann über eine zeitliche und räumliche Distanz nur eine Annäherung an das Verständnis einer Epoche erfolgen und es muss beachtet werden, dass die eigene – historisch relative – Perspektive in diese Betrachtungen mit einfließt. Behinderung muss deshalb als Konstrukt verstanden und nicht nach objektivierbaren, individualisierenden Merkmalen untersucht werden. Stattdessen soll sie »in ihrer Abhängigkeit von Kommunikation, Interaktion und sozialen Praktiken, institutionellen Kontexten, medialen Repräsentationen und historisch und kulturell wandelbaren Wahrneh-
3 | Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1973, 49f. 4 | Vgl. Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 2005, 55. 5 | Gudrun Hopf: Berührungsängste mit Behinderung? Konstruktionen des Andersseins als Forschungsthema, in: Historische Anthropologie (2002), H. 2, 107114, hier 109. 6 | Vgl. Claudia Gottwald: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung, Bielefeld 2009.
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mungs-, Denk- und Handlungsmustern gesehen werden«.7 Die historische Analyse des Lachens über körperliche und kognitive Abweichungen erlaubt es zudem, Kontinuitäten, Verschiebungen und Brüche in den Blick zu nehmen, und ermöglicht es, die kulturelle Bedeutung von Behinderung zu betrachten und die sozialen Rollen von behinderten Menschen zu analysieren. Dies gelingt mittels einer historisch-hermeneutischen Diskursanalyse, die sich als Methode gut an die kulturwissenschaftliche Perspektive der Disability Studies anschließen lässt: Geschichte wird als Analyse von Zeiten und Räumen des Denkens, Handelns und Sprechens betrachtet. Die Diskursanalyse fragt nach der »Konstruktion und Produktion bedeutungshaltigen Wissens und sinnhafter Wirklichkeit«8 und macht es möglich, Denkkategorien und Ordnungen zu untersuchen. Foucault zufolge haben Diskurse die Aufgabe, Wissen zu produzieren und zu regulieren, ›Wahres‹ von ›Falschem‹ und ›Normales‹ von ›Anormalem‹ zu unterscheiden.9 Deshalb sind im Folgenden einerseits komische Repräsentationen von Behinderung und andererseits Diskurse, also Aussagen über das Lachen zu analysieren. Das Lachen an sich ist im Rahmen historischer Arbeiten nicht beobachtbar, da es flüchtig ist. Aussagen hingegen, die seine Funktion und Bedeutung thematisieren oder Einstellungen zum Lachen sind ebenso wie schriftliche oder bildliche komische Repräsentationen der Analyse zugänglich. Differenzieren lässt sich zwischen Quellen, die das Lachen über Behinderung bzw. Menschen mit Behinderung hervorrufen wollen, beispielsweise Witze, Schwänke, Bilder und Texte, und solchen, die über das Lachen berichten oder es bewerten, wie es in Chroniken, Biografien oder philosophischen Texten geschieht. Während für den ersteren Typ von Quellen hermeneutische Analysen zum Tragen kommen, bietet sich für die zweite Quellensorte die Diskursanalyse an.
W AS IST ÜBERHAUP T › KOMISCH ‹? Im alltäglichen Sprachgebrauch wird gegenwärtig das als komisch bezeichnet, was entweder belustigend ist oder als sonderbar bzw. seltsam betrachtet wird. Der Literaturwissenschaftler Uwe Wirth grenzt Komik so ein: »Dem Begriff des Komischen haftet die Konnotation des Sonderbaren, Überraschenden, Ungewohnten und insofern Unnormalen an. Ursprünglich ist ›komos‹, als Auftakt, der die Dionysien einleitet, ein lärmender Umzug mit anschließendem Zechgelage. Heute bezeichnet der
7 | Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007, 41. 8 | Achim Landwehr: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, 171. 9 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1993.
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Ausdruck ›komisch‹ etwas Belustigendes, das zugleich sonderbar und idiosynkratisch erscheint.«10 Seit der Antike wurde über das Komische bzw. das komische Lachen11 geschrieben. Gemeinsam ist allen Theorien des Komischen, dass sie dieses als Reaktion auf eine Normabweichung fassen. Dazu zählen unter anderem die Überlegenheitstheorie nach dem englischen Mathematiker und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679) und vor allem die Inkongruenz- und Kontrasttheorien des 18. Jahrhunderts. Zu unterscheiden ist zwischen den Theorien, die das Lachen moralisch bewerten und zumeist ablehnen, wie die Überlegenheitstheorie, und denjenigen, die es epistemologisch verfügbar machen wollen, wie es vor allem die ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts versucht haben. Beide Aspekte, Moral und Wesen der Komik, sind jedoch nach dem Soziologen Peter L. Berger nicht voneinander zu trennen: Ihm zufolge können die Inhalte eines Witzes zwar unmoralisch sein, aber es bleibt die »beunruhigende Tatsache übrig, dass ein Witz selbst dann, wenn seine moralische Verwerflichkeit ausführlich erläutert worden ist, immer noch komisch sein kann«.12 Die klassische Antike setzte das Komische mit dem Hässlichen (Lat.: deformitas) gleich. Cicero (106-43 v. Chr.) beispielsweise forderte im Rahmen seiner Rhetorik in der politischen Rede explizit dazu auf, sich über die körperlichen ›Missbildungen‹ und Schwächen des politischen Gegners lustig zu machen. Und für Aristoteles (384-322 v. Chr.) war die Komödie die Nachahmung des mangelhaften, hässlichen Menschen. Diese Sichtweise warf eine moralische Frage auf: Wann verbot es sich, über den anderen und seine Makel zu spotten? Nach Aristoteles lag die Grenze in der ›Unschädlichkeit‹ und ›Schmerzlosigkeit‹, da das Komische »nicht mit Schmerz oder Untergang derjenigen, die ihn [den Fehler/Makel, d.Verf.] an sich haben, verbunden ist«.13 Laut Cicero durfte man alles verspotten, was weder Hass noch Mitleid provozierte. Auch spätere Autoren wie etwa der schottische Schriftsteller und Philosoph James Beattie (1735-1803) oder der Hofbeamte und Schriftsteller Karl Julius Weber (1767-1832) sahen darin die Grenze des komischen Lachens. Für Thomas Hobbes, dem bereits erwähnten Begründer der sogenannten Überlegenheitstheorie, war Lachen immer aggressiv sowie mit Gefühlen von Triumph und Überlegenheit über den anderen verbunden und musste deshalb negativ bewertet bzw. abgelehnt werden: »Menschen 10 | Uwe Wirth: Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Grenzphänomene des Verstehens, Heidelberg 1999, 5. 11 | Das komische Lachen wird im Allgemeinen vom Lachen aus anderen Gründen (Freude/Kitzeln) getrennt. 12 | Peter L. Berger: Erlösendes Lachen. Das Komische in der Menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998, XVI (Hervorhebung im Original). 13 | Aristoteles zitiert nach Karl Julius Weber: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen, 8., sorgfältig erläuterte Original-StereotypAusgabe, Bd. 1, Stuttgart 1868, 167.
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lachen über Unglücksfälle und Unanständiges, in denen eigentlich kein Witz oder Scherz liegt.«14 Andere Autoren konstatierten später Ähnliches. Sie sahen im Lachen jedoch einen Ausdruck menschlicher Angst. So versuche beispielsweise der Schwarze Humor, eine Balance zwischen Grauen und Lachen herzustellen.15 Im 18. Jahrhundert setzten sich zunehmend die sogenannten Inkongruenz- und Kontrasttheorien gegen die Überlegenheitstheorie nach Hobbes durch. Erstere betrachteten das Komische weniger moralisch bzw. psychologisch, sondern versuchten, seine Struktur zu ergründen. Immanuel Kant (1724-1804) nannte ein viel zitiertes Beispiel für den der Komik zugrunde liegenden Kontrast oder Widersinn: Auf einer Trauerfeier beschwerte sich der Erbe, je mehr Geld er den Trauergästen gebe, umso lustiger sähen sie aus.16 Unzählige solcher Kontraste wurden im Laufe der Zeit entdeckt und beschrieben, so zum Beispiel Kontraste und Inkongruenzen zwischen einer gespannten Erwartung und ihrer Verwandlung in Nichts,17 zwischen Äußerem und Innerem18 oder zwischen Größe und Kleinheit.19 Wie auch immer man das Komische betrachtet und bewertet, deutlich wird eines: Komik berührt stets gesellschaftliche Normen und Ordnungen. Sowohl als das ›unschädliche Hässliche‹ nach Aristoteles und Cicero als auch als Ausdruck von Angst oder Aggression oder als komischer Widerspruch bzw. Kontrast – das Komische verweist immer auf die Devianz als Abweichung von der Norm. Das komische Lachen ist demzufolge als Reaktion auf eine Normabweichung zu verstehen. Umstritten ist dabei jedoch die Frage, ob das komische Lachen der Grenzüberschreitung oder der Verfestigung von Grenzen und Normen dient.20 Bereits die Definition des Komischen als Reaktion auf eine Normabweichung gibt eine erste mögliche Erklärung für das Lachen über Behinderungen bzw. Menschen mit Behinderungen. 14 | Vgl. Thomas Hobbes: Human Nature or the Fundamental Elements of Policy. De Corpore Politico: or the Elements of Law, 1640, Nachdruck der Ausgabe von 1840, Bristol 1994, 40ff., Übersetzung durch d. Verf. 15 | Vgl. Michael Hellenthal: Schwarzer Humor. Theorie und Definition, Essen 1989, 52ff. 16 | Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, unveränderter Neudruck der Ausgabe von 1924, Berlin 1963, 192. 17 | Ebd., 190. 18 | Vgl. Karl Heinrich Heydenreich: Grundsätze der Kritik des Lächerlichen mit Hinsicht auf das Lustspiel nebst einer Abhandlung über den Scherz und die Grundsätze seiner Beurtheilung, Leipzig 1797, 111f. 19 | Beispielsweise bei Weber (1868), Bd. 1, 216f. 20 | Vgl. Joachim Ritter: Über das Lachen (1940), in: Ders. (Hg.): Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a.M. 1989, 62-92; Peter L. Berger: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998; Anton C. Zijderveld: Humor und Gesellschaft. Eine Soziologie des Humors und des Lachens, Graz/Wien/Köln 1976.
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K OMISCHE R EPR ÄSENTATIONEN VON B EHINDERUNG IN M IT TEL ALTER UND R ENAISSANCE Im Mittelalter wurden unterschiedliche Gruppen von Menschen mit körperlichen und/oder kognitiven Abweichungen zu Objekten von Komik und Lachen. Hierzu zählten vor allem die sogenannten ›natürlichen Narren‹ und die ›Hofzwerge‹ ebenso wie Menschen mit Kropf und Kretinismus und blinde und gehörlose Menschen. Neben den natürlichen Narren21 gelangten im europäischen Mittelalter auch kleinwüchsige Menschen – im damaligen Sprachgebrauch als Zwerge bezeichnet – an die Höfe der Herrschenden. Dies ist ab dem 10. Jahrhundert belegt.22 Ihre Hauptfunktion war es, die Herrschenden zu zerstreuen; sie sollten die Hofgesellschaft unterhalten und zum Lachen bringen. So sollen am Hofe eines italienischen Fürsten beispielsweise Turniere und Pferderennen mit kleinwüchsigen Menschen stattgefunden haben.23 Von verschiedensten Höfen wurde berichtet, dass kleinwüchsige Menschen in Torten oder Pasteten versteckt wurden, aus denen sie zum Amüsement der Hofgesellschaft oder als Geburtstagsüberraschung für den Gastgeber hervorzuspringen hatten. Geschichten dieser Art stammen beispielsweise vom Hof des englischen Königs Charles I (1600-1649). Der Schweizer Pathologe Felix Platter (1536-1614) berichtete aus dem Jahr 1568 von der Hochzeit an einem Fürstenhof, wo ein ›Zwerg‹ »völlig bewaffnet«24 in einer Fleischpastete versteckt worden sei: »Er stürzte mit Ungestüm heraus, sprang nach Gladiatorenart auf dem Tisch herum und erregte bei allen Anwesenden Gelächter und Bewunderung.«25 Beliebt sollen die kleinwüchsigen Menschen aber vor allem deshalb gewesen sein, weil sie den weiblichen Adligen als »Spielgefährten« und »Anziehpuppen«26 dienten. Man richtete ihnen Miniaturwohnungen ein und trug sie – so wird erzählt – in Papageienkäfigen umher.27 Auch sogenannte Zwergenhochzeiten waren sehr in Mode. Friedrich Christian Weber, Diplomat des Kurfürstentums Hannover und Gesandter 21 | Für weiterführende Informationen zum Lachen über die natürlichen Narren siehe Gottwald (2009). 22 | Vgl. Hans-Rudolf Velten: Komische Körper: Zur Funktion von Hofnarren und zur Dramaturgie des Lachens im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge (2001), H. 2, 292-317, hier 295. 23 | Vgl. Günther G. Bauer/Heinz Verfondern: Barocke Zwergenkarikaturen von Callot bis Chodowiecki, Salzburg 1991, 39. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Maaike van Rijn in diesem Band. 24 | Platter zitiert nach Katharina Huber: Felix Platters »Observationes«. Studien zum frühneuzeitlichen Gesundheitswesen in Basel, Basel 2003, 265. 25 | Ebd. 26 | Gerhardt Petrat: Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe. Reflexionen zu Herrschaft und Moral in der Frühen Neuzeit, Bochum 1998, 57ff. 27 | Vgl. ebd.
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am Hofe des Zaren Peter I. von Russland (1672-1725) berichtete noch aus dem Jahr 1721 von einer solchen Hochzeit an eben diesem Hof. Neben der Unterhaltung der normalwüchsigen Hochzeitsgäste hatten die Zwergenhochzeiten auch das Ziel, kleinwüchsige Menschen heranzuzüchten.28 Durch ihre Vielzahl gebe es in Russland so viele Zwerge, so Weber, »daß es also nicht schwer fiel, bey der Anno 1710 gehaltenen Zwerge-Hochzeit, ihrer zwey und siebentzig zusammen zu bringen«.29 Bei der von ihm beschriebenen Hochzeitsfeier hatten die kleinwüchsigen Gäste die Aufgabe, die Offiziere, den Zaren und die anderen Gäste zu unterhalten und zu bewirten. Dazu liefen sie, so Weber, auf der Tafel herum und bedienten die »Gäste dergestalt wohl, waren auch so lustig und machten so viel Lerm, als wenn das Zimmer ihnen allein gehöret«.30 Nach dem Essen tanzten sie und brachten so wiederum die normalwüchsigen Zuschauer zum Lachen. Warum ihr Verhalten Lachen auslöste, erklärte Weber so: »Was nun vor wunderliche Capriolen, Grimacen, und Posituren, so wohl beym Tantzen als beym Tische zu sehen gewesen, solches kann man sich leicht einbilden, wie sie denn allen hohen und vornehmen Hochzeitsgästen, insbesonderheit Ihro Majestät, viele Kurtzweile machten und zum Lachen bewogen. Indem unter diesen 72 Zwergen so vielerley Arten und wunderliche Posituren waren, daß man sie ohne Lachen nicht wohl ansehen konnte.« 31
Und er fuhr fort: »Einige hatten einen hohen Buckel und kleine Beine, andere einen dicken Bauch, andere kleine krumme Beinen, wie der Zar-Hündgens, wiederum andere einen grossen dicken Kopff, theils ein krum Maul und grosse Ohren, theils kleine Augen und dicke Pauß Paucken, und viele lächerliche Gestalten mehr.« 32
Die Hofzwerge wirkten also aus Sicht der damaligen Zeit einerseits aufgrund ihrer Darbietungen, andererseits aufgrund ihres Aussehens komisch. Deutlich wird, dass dabei die Abweichung von der Norm in Bezug auf körperliche Größe und Figur als lächerlich bzw. komisch empfunden wurde. Zudem könnten die (vermeintliche) Überlegenheit der Normalgroßen und Kontraste im Aussehen der kleinwüchsigen Menschen eine Rolle gespielt haben. Der Literaturwissenschaftler und Historiker Karl Friedrich Flögel (1729-1788) fand Ende des 18. Jahrhunderts folgende Erklärung: »Vermuthlich trug der Kontrast, den man an den Zwergen fand, 28 | Vgl. ebd. 29 | Friedrich Christian Weber: Das veränderte Russland. Erster Teil, Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a.M./Leipzig 1738, Hildesheim/Zürich/New York 1992, 385. 30 | Ebd., 387. 31 | Ebd., 387f. 32 | Ebd., 388.
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nämlich die ältliche Gestalt in einem kindischen Körper, der männliche Witz in dem Munde eines Knaben, und die Dicke der Glieder bei einem verkürzten Körper, die dadurch ein unförmliches, verhältniswidriges Ansehen erhalten, das meiste dazu bei, daß man die Zwerge lächerlich fand […].«33 Ebenso wie bei den Narren wurde demzufolge der Kontrast zwischen Körper und Geist, wenn auch im umgekehrten Verhältnis, als komisch wahrgenommen. Kleinwüchsige Menschen blieben Objekte der Unterhaltung, wenngleich sie ab den 18. Jahrhundert nicht mehr an Höfen lebten. Sie traten in der Folgezeit vielmehr im Zirkus – vor allem als Clowns – auf, in dessen Side Shows, auf Jahrmärkten, aber auch in den sogenannten Freak Shows und in den ›Liliputanerstädten‹ der Zoos.34 Bis in das letzte Jahrhundert schien diese Art von ›Unterhaltung‹ für die meisten Menschen nicht fragwürdig oder verwerflich. Kleinwüchsige Zirkusclowns gab es in Deutschland noch bis in die 1980er Jahre.35 Auch blinde Menschen wurden zu Unterhaltungszwecken benutzt. Ein – vielleicht nur fiktiver36 – Spaß war vom Hochmittelalter bis ins 16. Jahrhundert das sogenannte ›Schweinestechen‹, von dem aus Städten 33 | Karl Friedrich Flögel: Geschichte der Hofnarren, Liegnitz/Leipzig 1978, 506. 34 | Viele Beispiele finden sich in: P. Richards: Zeichner und »Gezeichnete«. Aus den Erinnerungen eines amerikanischen Zeichners und Journalisten, 3. Auflage Berlin 1912, 51ff.; Hermann Waldemar Otto Saltarino: Artisten-Lexikon: Biographische Notizen über Kunstreiter, Dompteure, Gymnastiker, Clowns, Akrobaten, Spezialitäten etc. aller Länder und Zeiten, 2., vermehrte und verbesserte Auflage Düsseldorf 1895. Als Side Show wurde das Beiprogramm des Zirkus bezeichnet. Side Shows gab es vor allem in den USA. Dort traten gegen Eintritt kleinwüchsige Menschen, aber auch siamesische Zwillinge oder ethnische Minderheiten auf. Auch mit den Freak Shows (Engl.: freak, Laune/Laune der Natur) reisten viele körperlich ungewöhnliche oder behinderte Menschen durch die Lande. Side Shows und Freak Shows hatten aber nicht hauptsächlich das Ziel, komisch zu wirken, es ging dabei vielmehr um das Staunen bzw. Anstarren. Vgl. Rosemarie GarlandThomson: Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997, 55-80. Die Forschung des Kulturwissenschaftlers Robert Bogdan belegt, dass die ›Freaks‹ eher nicht im Modus des Komischen agierten, sondern im Modus des Exotischen und »Vergrößerten [im Original aggrandized]«, Robert Bogdan: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago 1988, hier 97. 35 | Der 1935 geborene kleinwüchsige Clown ›Klein-Helmut‹ verließ den Zirkus Krone 1981. 36 | Während andere Forscher nicht in Frage stellen, dass diese Kämpfe tatsächlich stattfanden, nimmt Hans-Jörg Uther an, dass sie fiktiv sind, da sie schon weitaus früher literarisch verarbeitet wurden. Vgl. Hans-Jörg Uther: Behinderte in populären Erzählungen. Studien zur historischen und zur vergleichenden Erzählforschung, Berlin/New York 1981, 83.
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wie Paris (1425), Augsburg (1510), Venedig37 oder Lübeck (1386)38 berichtet wurde. Auf den Marktplätzen dieser Städte wurden demnach mehrere blinde Menschen mit einem Schwein in ein Gatter geschlossen. Die Aufgabe der Eingeschlossenen war es, das Schwein zu töten. Da sie es in dem entstehenden Tumult kaum akustisch orten konnten, schlugen sie sich unter dem Gelächter der Zuschauer gegenseitig. Zur Entschädigung erhielten sie meist anschließend – so die Chronisten – ein Festessen. Da viele blinde Menschen vom Betteln leben mussten, bewog sie dies zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen. Aus Stralsund ist ein Bericht über das Schweinestechen überliefert. In den Stralsundischen Chroniken heißt es: »Anno 1415 do schlogenn de blindenn ein schwyn inn dem vastelauende op dem olden marckede; se weren beplanckett, datt en dath schwin nicht entlopen kondte, se schlogen sik vaken suluest op dat liff, mehr alße op dat schwinn, unnd worden ganz schaftig darauer, so lange dath se mit der kuele vœleden, wor idt stundt, vnnd schlogent noch, alße waß solck ein lachendes vastelauent nicht geseen.« 39
Auch die Schriftsteller des Mittelalters setzten das Lachen über blinde Menschen gezielt ein. Vor allem in der Schwankliteratur des Mittelalters und der frühen Neuzeit gab es zahlreiche blinde Protagonisten. Im Schwank wurden vorwiegend Späße auf Kosten von Außenseitern getrieben, die gesellschaftliche Vorurteile bestätigen sollten. Hier wurden auch gängige Stereotypien über die Blindheit reproduziert. Recht verbreitet ist
37 | Ottokar Wanecek: Blindheit und Humor, in: Zeitschrift für das österreichische Blindenwesen 5 (1916), H. 5, 528-532, hier 529. 38 | Uther (1981), 82. 39 | Johann Berckmanns Stralsundische Chronik, zitiert nach D.G.Ch.F. Mohnike/ D.E.H. Zober (Hg.): Johann Berckmanns Stralsundische Chronik und die noch vorhandenen Auszüge aus alten verloren gegangenen Stralsundischen Chroniken nebst einem Anhange. Aus den Handschriften herausgegeben, Stralsund 1833, 8f. Übersetzt heißt es im Text: »Im Jahre 1415 schlugen die Blinden ein Schwein an Fastnacht auf dem alten Markt. Sie waren eingezäunt, so dass ihnen das Schwein nicht entlaufen konnte, sie schlugen sich eher selbst auf den Leib, mehr als auf das Schwein, und wurden ganz sauer darüber, so lange, bis sie mit der Keule fühlten, wo es stand, und sie schlugen noch, also wurde solch ein lachendes Fastnacht noch nicht gesehen.« Mohnike und Zober gaben Johann Berckmanns Stralsundische Handschrift nebst noch vorhandenen Auszügen aus alten verloren gegangenen Chroniken heraus. Da Berckmann nach Mutmaßung der Verfasser erst im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts geboren wurde, muss der Bericht vom ›Schweinestechen‹ von einem anderen Verfasser stammen oder von Berckmann aus Aufzeichnungen eingefügt worden sein.
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ein Schwank aus dem Scheer-Geiger von 1673.40 In der Geschichte lässt sich ein Passant von einem blinden Musiker etwas vorspielen. Statt ihm aber das erwartete Entgelt dafür zu überreichen, gibt er ihm eine Ohrfeige. Daraufhin versucht der Musiker, den Mann mit seinem Stock zu schlagen, trifft ihn aber nicht und erhält weitere Schläge von seinem Gegner. Die anwesenden Zuschauer reagieren mit Lachen und Johlen. Diese Erzählung offenbart soziale Normen im Umgang mit dem blinden Bettler: Das Verspotten des Blinden wird zunächst nicht sanktioniert, der Mann wird aggressiv verspottet und verhöhnt. Am Ende der Geschichte wird dieses Verhalten jedoch als unmoralisch bewertet: Die Zuschauerinnen und Zuschauer bringen schließlich den Musiker und sein Instrument nach Hause. Objekte eines ›Spaßes‹ wurden blinde Bettler ebenfalls in dem Schwank Eulenspiegel und die Blinden aus dem 14. Jahrhundert,41 den 1553 Hans Sachs (1494-1576) in ein Fastnachtsspiel umschrieb.42 In der Geschichte trifft Eulenspiegel drei blinde Männer und gibt vor, ihnen Geld zu geben. Ein jeder denkt, der andere hat das Geld und sie gehen ins Wirtshaus. Dort können sie natürlich nicht bezahlen, sodass der Wirt sie in den Schweinestall sperrt, woraus Eulenspiegel sie mit einer List befreit. Die Geschichte von einem Betrüger, der vortäuscht, blinden Bettlern Geld zu geben, gibt es in den unterschiedlichsten Variationen.43 Zumeist wird dabei die Einfalt der blinden Menschen vorgeführt. In der Geschichte um Eulenspiegel ist allerdings der Wirt der Düpierte, der auf seinen Kosten sitzen bleibt. Neben dem Motiv des blinden Bettlers zählten außerdem Geschichten von Einäugigen, Blindenführern, blinden und körperbehinderten (›lahmen‹) Personen zu den komischen Stereotypien in Bildern, Facetien44 und Schwänken. Personen, die heute als behindert bezeichnet würden, wurden zwischen dem zehnten und sechzehnten Jahrhundert allmählich zu Objekten des Amüsements, der Unterhaltung. Lachen über ›Behinderung‹ war einerseits Teil der Alltagspraxis und fand an den Höfen ebenso statt wie auf den Straßen, wo Menschen verspottet, verhöhnt und ausgelacht wurden. Auf der anderen Seite avancierten Menschen mit körperlichen oder intellektuellen Auffälligkeiten zu dieser Zeit zu Protagonisten
40 | Abgedruckt in: Werner Schmidt: Der Blinde in der schönen Literatur, in: Freie Wohlfahrtspflege 4 (1929), 345-357, 406-418. 41 | Bekannt ist auch die Version von Johannes Pauli: »Zwölf Blinden verzarten zwölf Guldin« von 1522 in Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Hg. von Johannes Bolte, Bd. 1, Nachdruck der Ausgabe von 1522, Berlin 1924, 358. 42 | Hans Sachs: Eulenspiegel mit den Blinden, in: Ders.: Sieben Fastnachtsspiele. Für die Schule bearbeitet von Wolfgang Becker, Berlin 1957, 91-116, hier 93. 43 | Vgl. Uther (1981), 79. 44 | Facetien sind kurze, pointierte Erzählungen, die mit dem heutigen Witz verwandt sind.
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der komischen Literatur, aber auch bildlicher Darstellungen (Karikaturen). Kritisch betrachtet hat dies im Mittelalter und der Renaissance, so ergibt sich bei der Analyse der vorhandenen Quellen, lediglich der Klerus. Überliefert ist beispielsweise die Kritik von Thomas von Aquin (1225-1275). Er lehnte das Lachen im Allgemeinen und insbesondere das Amüsement über menschliche Andersheiten als Ausdruck von Fleischlichkeit, Überlegenheit und Sünde ab.45 Erst im 18. Jahrhundert aber sollte diese Art moralischer Kritik in der übrigen Gesellschaft wirksam werden.
E INSCHR ÄNKUNGEN DES L ACHENS ÜBER B EHINDERUNG Hofnarren und -zwerge wurden im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung zunehmend als obsolet und »lächerliche Mode«46 empfunden. Über sie zu lachen, galt nicht mehr als unterhaltsam und kurzweilig, sondern als abstoßend und höhnisch. Vor allem die europäischen Gelehrten, wie zum Beispiel der Schriftsteller und Philosoph Karl Heinrich Heydenreich (1764-1801), der Historiker Karl Friedrich Flögel und der Schriftsteller Karl Julius Weber, hielten Behinderungen nicht mehr für komisch und kritisierten die Praxis des Zur-Schau-Stellens als inhuman und unzeitgemäß. Sie beobachteten, dass die Unterhaltung durch die Narren zudem von sogenannten zivileren Vergnügungen wie Jagden, Bällen und Maitressen abgelöst wurden.47 Es sei Kennzeichen ungebildeter Menschen, über körperliche und kognitive Abweichungen zu lachen: »Die Natur lacht offenbar – es ist veredelte Natur, wenn wir nicht lachen und Mangel an aller Humanität, wenn wir dergleichen Naturfehler gar als Zeichen der Verworfenheit ansehen.«48 Vor allem Karl Heinrich Heydenreich beschäftigte sich mit dem Verhältnis des Komischen zum Sittlichen. Das Lächerliche bzw. Komische müsse, so forderte er, in Bezug auf die Vernunft und sein Verhältnis zur Sittlichkeit reflektiert werden. Angesichts des Vernunftmenschen müsse das Komische als ein »sehr vernünftiges, sittliches und der Menschheit würdiges Gefühl«49 verstanden werden. Nur noch ein durch 45 | Thomas von Aquin: Das buoch der tugenden. Ein Compendium des 14. Jahrhunderts über Moral und Recht nach der Summa theologiae des Thomas von Aquin und anderen Werken der Scholastik und Kanonistik, Bd. 1: Einleitung – Mittelhochdeutscher Text. Hg. von Klaus Berg/Monika Kasper, Tübingen 1984. 46 | Friedrich Nick: Die Hof- und Volks-Narren sammt den närrischen Lustbarkeiten der verschiedenen Stände aller Völker und Zeiten. Aus Flögel’s Schriften und anderen Quellen, Bd. 1: Die Hofnarren, Lustigmacher, Possenreißer und Volksnarren älterer und neuerer Zeiten; ihre Spässe, komischen Einfälle, lustigen Streiche und Schwänke, Stuttgart 1861, 598. 47 | Vgl. z.B. Flögel (1789), 36ff.; Weber (1868), Bd. XII, 196. 48 | Weber (1868), Bd. XII, 194. 49 | Heydenreich (1797), 24.
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die Vernunft gezügeltes Komisches war also erwünscht, das ›natürliche‹ Lachen hingegen wurde als roh empfunden. Komik im Allgemeinen, aber auch das Amüsieren über abweichende Körper galt zunehmend als unsittlich. Der vernunftbegabte Mensch, so forderten die Aufklärer, müsse das Komische bändigen. Karl Friedrich Flögel meinte, nach wie vor sei für »das Volk […] der rauheste Spott auch der natürlichste; dergleichen der Spott über körperliche Gebrechen ist«.50 Wie James Beattie (1780) und der Psychiater Ewald Hecker (1873) annahmen, lachten nur noch Kinder und Ungebildete über Menschen mit verkörperten Differenzen. Seit der Zeit des Humanismus und der Aufklärung, insbesondere aber mit Beginn der Moderne galt das Lachen über Behinderungen als nicht mehr zeitgemäß. So hielt der Pädagoge Ottokar Wanecek noch 1916 fest: »Solange die Sitten der Menschen noch rauh, das Gefühl der Überlegenheit der Gesunden über die Gebrechlichen noch nicht durch sittliche und ästhetische Momente gedämpft und reguliert war, wurden selbst Blinde zu derber, wenn nicht gar grausamer Belustigung gebraucht.«51 Seit der Aufklärung beschäftigte man sich auch wissenschaftlich mit der Frage, warum über Behinderungen gelacht wurde. Als Erklärungen wurden sowohl mangelnde Erziehung und Bildung52 als auch Gefühle der Überlegenheit und die Wahrnehmung von Kontrasten und Normabweichungen bzw. Regelwidrigkeiten herangezogen. So meinte beispielsweise der Philosoph und Psychologe Karl Groos (1861-1946), »gattungswidrige Proportionen«53 seien komisch. Das Lachen als Reaktion auf eine Normabweichung bzw. einen Kontrast macht auch ein anekdotisches Beispiel von Karl Julius Weber deutlich, allerdings mit dem Unterschied, dass hier das Lachen umgekehrt wurde: In einer Dorfgemeinde in den Alpen hatten alle Mitglieder einen Kropf54 . Während des Gottesdienstes betritt ein Reisender ohne Kropf die Kirche, woraufhin alle in Lachen ausbrechen. Schließlich ermahnt sie der Pfarrer, sie mögen »die natürlichen Gebrechen des Nächsten […] nicht verspotten, vielmehr dem Himmel für die Zierde […] danken, die diesem armen Fremdling versagt sei.«55 In der bürgerlichen Moderne galten Behinderungen zunehmend als individuelles Defizit und trauriges Schicksal. Lachen und Spott wurden als unangemessen erlebt und sollten durch Mitleid und Hilfe ersetzt wer-
50 | Karl Friedrich Flögel: Geschichte der Komischen Litteratur. Vier Bde. in zwei Bden., Bd. 1, Liegnitz/Leipzig 1784, 218. 51 | Wanecek (1916), 529. 52 | Vgl. z.B. Home (1774); Beattie (1780); Heydenreich (1797); Nick (1861 Bd. 1); Birrer (1877); Weber (1868), Bd. XII. 53 | Karl Groos: Einleitung in die Aesthetik, Gießen 1892, 378. 54 | Die Alpenregionen waren als Jodmangelgebiete Regionen des endemischen Kropfes und Kretinismus. 55 | Weber (1868), Bd. 1, 194.
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den.56 Aber auch Ekel, Abscheu und Furcht57 wurden als vorherrschende Reaktionen – statt der Komik – benannt bzw. diskutiert. Sowohl körperliche Auffälligkeiten als auch psychische Abweichungen wurden aus dem Reich des Komischen ausgeschlossen. So meinte zum Beispiel Karl Heinrich Heydenreich 1797 stereotypisch über den ›Narren‹ und den ›Verrückten‹: »Der Genuß eines solchen Deliriums verursacht Wehmuth und Mitleiden in der Seele des Betrachtenden, wie es alle zum Lachen reizenden Erscheinungen bei solchen Unglücklichen sollten.«58 Auch kleinwüchsige Menschen wurden immer seltener als unterhaltsam betrachtet. So formulierte der österreichische Historiker Schlager: »Der Anblick einer Zwergengestalt […] erweckt bei der weit vorgeschrittenen Bildung unserer Zeit wohl mehr das Gefühl des Bedauerns als einer Belustigung. Nicht so war es in früheren Jahrhunderten, wo Zwerge einen eigenen Unterhaltungswert hatten, welcher durch kein Gefühl des Mitleids beeinträchtigt wurde […].«59 Hintergrund der Plädoyers für das Mitleid und gegen das Lachen war die Überlegung, dass nichts mehr komisch sein könne, wenn andere Gefühle stärker seien.60 So hielt der schottische Jurist und Philosoph Henry Home (1696-1782) im 18. Jahrhundert fest: »Ein wahres Unglück erregt Mitleid und kann deswegen nicht lächerlich seyn. Aber ein leichtes oder eingebildetes Unglück, das kein Mitleid erregt, ist lächerlich.«61 Karl Julius Weber hingegen ging davon aus, dass das Komische stärker als Mitleid sein konnte. Er meinte, selbst bei tragischen Geschehnissen verschlinge »die Neugierde und Lust sich zu amüsieren […] Mitleid und Theilnahme«.62 So wurde begründet, warum man trotzdem lachen konnte, obwohl das Lachen eigentlich als moralisch falsch betrachtet wurde. Es durfte nach Ansicht der meisten Autoren nur noch über ›kleine Gebrechen‹ oder ›leichte Missbildungen‹ gelacht werden. Dennoch kon56 | Vgl. z.B. bei Flögel (1789), 4; Nick (1861), 25; Groos (1892), 376. 57 | Beispielsweise bei Groos (1892), 378; Heydenreich (1797), 43; Flögel (1789), 4; Nick (1861), 25; Weber (1868), Bd. 1, 173. 58 | Heydenreich (1797), 38f. 59 | J. Schlager: Die Kammerzwerge und Zwerginnen am römischen Kaiserhofe vom Jahre 1543-1715. Aus dem handschriftlichen Nachlasse, in: Blätter für Landeskunde von Niederösterreich (1866), H. 2, 213-216, 229-232, hier 213. 60 | Der blinde Historiker Ludwig von Baczko (1756-1823) verwies in seinen Ausführungen jedoch darauf, dass es vom Mitleid zur Abwertung und Ablehnung nur ein kleiner Schritt ist. Seines Erachtens war Mitleid als ein bloß sentimentales Gefühl nicht nachhaltig. Aufgrund der Annahme, sie fühlten und litten weniger als z.B. blinde oder stumme Menschen, würden Gehörlose »beinahe so wie ein gut abgerichtetes Thier« betrachtet. Ludwig von Baczko: Über mich selbst und meine Unglücksgefährten die Blinden, Leipzig 1807, 1-65; hier 4. 61 | Heinrich [Henry] Home: Grundsätze der Kritik. Nach der vierten englischen verbesserten Ausgabe, Bd. 1, Leipzig 1772, 362-383, hier 364. 62 | Weber (1868), Bd. 1, 186.
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statierten auch Historiker und Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts, dass das Lachen nicht einfach verschwand. So berichtete zu Beginn des 20. Jahrhunderts der mit einer Körperbehinderung lebende Maler Max Herrmann-Neisse (1886-1941), er sei in seiner Schulzeit am Gymnasium ohne den Schutz der Lehrer dem Spott seiner Mitschüler ausgesetzt gewesen: »Man zwang mich zu entwürdigenden Kunststücken, man ließ mich während der Pause am Hofe in einer Ecke stehen […], Gegenstand des Gelächters.«63 Als Kind war Herrmann-Neisse, so schreibt er, dem Spott aufgrund seiner körperlichen Unterlegenheit hilflos ausgeliefert. Auch der blinde Wanderer und Kaufmann Jakob Birrer (1800-1855) wurde auf der Straße ausgelacht und verspottet. Deshalb forderte er: »Möchten doch alle Eltern und Lehrer die Kleinen darauf aufmerksam machen, wie sehr es die Pflicht aller Menschen ist, das harte Geschick der Blinden, Taubstummen, Krüppelhaften, durch Theilnahme zu erleichtern und nicht durch Spott und Hohn sie unglücklicher zu machen.«64 Der erst im Erwachsenenalter erblindete Geschichtsprofessor Ludwig von Baczko (1756-1823) machte deutlich, dass er den Spott zwar kannte und kritisierte, Komik aber auch selbst einsetzte, unter anderem um Spott zu verhindern bzw. ihm zuvorzukommen. »Ein Tauber, Stummer, oder Gebrechlicher wird oft verlacht; denn jede Abweichung von der gewöhnlichen Form macht auf uns entweder einen unangenehmen oder komischen Eindruck, und es hängt ganz vom Benehmen des Krüpplichten ab, welche dieser beiden Empfindungen er erregen will.«65 Blinde hingegen seien dem Spott seltener ausgesetzt als andere behinderte Menschen, da sie noch hilfloser seien und daher häufiger Mitleid und Hilfsbereitschaft hervorriefen. Dennoch müsse sich auch der Blinde anstrengen, um Komik auf seine Kosten zu vermeiden. Dazu werde häufig, wie er es auch selbst tue, die Strategie verwendet, die Gegenüber lächerlich zu machen, um ihnen zuvorzukommen. Auch auf Diskriminierungen reagierte Ludwig von Baczko mit einer Gegenreaktion, die ihrerseits komisch sein sollte: Bei einem Konzert, das er besuchte, hörte er einen Mann sagen, dass Blinde auf Konzerten nichts zu suchen hätten. Daraufhin stand von Baczko mit einer Verbeugung auf und sagte: »Verzeihen Sie, meine Herren, die Bitte, da ich an den Ohren nicht blind bin, doch ein paar Schritte weiter zu gehen, wenn Sie etwas mir unangenehmes sagen wollen.«66 Festzuhalten bleibt: Das Lachen verschwand vom Übergang der Renaissance zur Aufklärung nicht aus der Alltagspraxis, so zeigen zumindest einige schriftlich erhaltene Beispiele,67 sondern verlor nur seinen offiziellen, institutionellen Charakter: Es galt nun als unzeitgemäß und 63 | Herrmann-Neisse (1988), 458. 64 | Birrer (1877), 44. 65 | von Baczko (1807), 2. 66 | Ebd., 9. 67 | So z.B. bei den schon zitierten Autoren Flögel (1789), Heydenreich (1797); Weber (1868); Hecker (1873).
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sollte durch Erziehung und Bildung eliminiert werden. Es verlagerte sich gewissermaßen von den Höfen zum Zirkus, von den Herrschenden auf die Bevölkerung und die Kinder, von der Komödie in die Posse. Im Gegensatz zu Mittelalter und Renaissance war es nicht mehr Bestandteil einer offiziellen Lachkultur, sondern galt als inhuman und unzivilisiert. Komische Bilder, Karikaturen und Geschichten aus dieser Zeit sind folglich kaum zu finden. Zeitgleich mit der aufkommenden Haltung, dass Behinderungen als Unglück und damit mitleidig betrachtet werden sollten, wurden sie medizinisiert und institutionalisiert: Verkörperte Differenz wurde zunehmend als Krankheit betrachtet. Dieser Prozess fand allerdings schleichend und zunächst parallel zur Zurschaustellung und Belustigung statt. Sogar bis ins 19. Jahrhundert war es üblich, Bürger gegen ein kleines Entgelt zum sonntäglichen Amüsement Eintritt in die Hospitäler und Irrenhäuser zu gewähren. Im Amsterdamer Hospital gab es beispielsweise eine Gitterkiste, in der im 18. Jahrhundert die Insassen »zum Gaudium des Gesindels«68 in den Garten geschoben wurden. Berichte von Besuchen solcher Anstalten – viele Menschen reisten zum Beispiel ins Londoner ›Bedlam‹ (abgekürzt für Bethlem Royal Hospital) – gab es unter anderem von den schon zitierten Autoren Lichtenberg und Weber, aber auch von den Dichtern Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Heinrich von Kleist (1777-1811) und später Alexander Döblin (1878-1957).69
U ND HEUTE ? Die Gleichsetzung von Behinderung mit Leid und damit die Forderung nach Mitleid als adäquater Reaktion galt noch bis in die 1980er Jahre – teilweise gilt sie wohl noch heute. Bis zum Ende der 1980er Jahre war das Lachen über Behinderung ein Tabu. Erst in den 1990er Jahren änderte sich der Umgang. Mittlerweile gibt es unzählige Cartoons und Witze, die unterschiedlichste Behinderungen thematisieren. Bekannt geworden sind unter anderem die Cartoonisten Phil Hubbe (Deutschland), Jupe Hägler (Schweiz) und John Callahan (USA), die selbst mit einer Behinderung leben. Im deutschen Fernsehen existiert beispielsweise das Format der ›Paracomedy‹, bei dem Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderungen nach dem Prinzip der versteckten Kamera nichtbehinderte Passanten erschrecken; in England ist der Comedian Laurence Clark sehr bekannt.
68 | Eugen Holländer: Die Karikatur und Satire in der Medizin. Mediko-kunsthistorische Studie, 2. Auflage Stuttgart 1921, 196. 69 | Vgl. Alexander Košenina: Von Bedlam nach Steinhof. Irrenhausbesuche in der Frühen Neuzeit und Moderne, in: Zeitschrift für Germanistik (2007), H. 2, 322-339.
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Unumstritten ist das Lachen dennoch nicht: In der Zeitschrift Body&Society erschien 1999 ein Disput zu dieser Frage. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – vorwiegend aus den Disability Studies – diskutierten das Thema durchaus kontrovers. Dem Bioethiker und Soziologen Tom Shakespeare zufolge gehört es zum Alltag von Menschen mit Behinderungen, ausgelacht zu werden. Vor allem Kinder und Betrunkene lachen demnach über Behinderungen; erstere, weil sie das Tabu noch nicht internalisiert hätten, letztere, weil der Tabubruch nicht sanktioniert werde.70 Während die Präsentation von Komik in Witzen und Cartoons zunehmend akzeptiert wird – und zwar von Menschen mit Behinderungen stärker als von denjenigen ohne Behinderung – wird das (Aus-)Lachen in Interaktionen des Alltags nicht toleriert; es gilt nach wie vor als Tabu. Im Gegensatz zu anderen Epochen sind Menschen mit Behinderungen zumindest im europäischen und US-amerikanischen Raum heute aber nicht mehr bloß Objekte des Lachens bzw. Opfer des Spottes. Sie machen selbst Witze, lachen darüber bzw. bestimmen, wann gelacht werden darf. Dennoch empfinden einige auch die heutige Komik als zwiespältig. So konstatiert Shakespeare eine »Ambiguität der kulturellen Reaktion auf Behinderung«,71 die sich im aggressiven Lachen äußere, über das man sich zeitgleich schäme. Verstärkt werde aber das Mitleid vom Lachen abgelöst, die Menschen würden durch den behinderten Comedian »vom unerträglichen Gewicht der Empathie frei [gesprochen]«.72 Positiver betrachtet der Soziologe Gary Albrecht das Lachen: Er meint, man könne nur dann über Behinderungen lachen, wenn man über sich selbst lachen könne.73 Arthur W. Frank, ebenfalls Soziologe, konstatiert hingegen, dass das Lachen immer auch Angst enthalte. Dies sei auch der Grund, warum viele nichtbehinderte Menschen nicht über den Schwarzen Humor von Menschen mit Behinderungen lachen könnten.74 Shakespeare zufolge hat das Lachen aber genau diese Funktion: Es verdrängt die Angst vor Menschen mit Behinderung bzw. einer eigenen drohenden Behinderung. Dabei wird die eigene Verletzlichkeit geradezu auf Menschen mit Behinderungen projiziert.75 Auch heute ist also nicht unumstritten, ob Komik Normen festigt oder sie überschreitet. Historische Kontinuitäten werden immer wieder konstatiert und komische Rollen von Menschen mit Behinderungen als stereotyp bezeich-
70 | Vgl. Tom Shakespeare: Joking a Part, in: Body&Society (1999), H. 5, 47-52, hier 48. 71 | Ebd., Übersetzung durch d. Verf. 72 | Ebd., 50. 73 | Gary L. Albrecht: Disability Humor. What’s in a Joke?, in: Body&Society (1999), H. 5, 67-64, hier 67. 74 | Arthur W. Frank: What’s Pharmakos? From Pseudotheologie to Presence, in: Body&Society (1999), H. 5, 53-59. 75 | Vgl. Shakespeare (1999), 50.
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net. Komik basiere, meint der britische Comedian Laurence Clark,76 nach wie vor häufig auf dem medizinischen Modell von Behinderung: Es werde über die körperliche Abweichung oder funktionelle Begrenzung gelacht und nicht über behindernde soziale Interaktionen, Barrieren oder Umgebungen. Auch heute noch kann also ein Gefühl der Überlegenheit ein Grund für das komische Lachen sein. Vor allem jedoch haben sich die Macht- und Deutungsverhältnisse verkehrt. Heute sind Menschen mit Behinderungen diejenigen, die lachen, und vor allem sind sie es, die das Lachen legitimieren. Sie sind es auch, die Witze machen bzw. Cartoons zeichnen.77 Nichtbehinderte lachen meist erst, wenn anwesende Behinderte lachen oder dazu auffordern. Diese Praxiserfahrung macht unter anderem auch Phil Hubbe. Und Tom Shakespeare konstatiert: »Einen Witz zu machen, anstatt einer zu sein, ist eine andere Form der Umkehr.«78 Damit trifft Shakespeare eine wesentliche Feststellung. Am Beispiel des Lachens über Behinderung lässt sich der Grad an Emanzipation erkennen, den behinderte Menschen in westlichen Gesellschaften erreicht haben. Die Geschichte des Lachens über Behinderung und seiner Einschränkungen ist ein relevanter Bestandteil der Geschichte behinderter Menschen: Das Komische ist keinesfalls als marginal zu betrachten. Gleichzeitig lässt sich mit dieser Geschichte aufweisen, dass Behinderungen relativ sind. Behinderte Menschen wurden im 18. Jahrhundert zwar zunehmend aus dem Komischen ausgeschlossen, dafür aber in Institutionen eingeschlossen. Statt Objekt der Komik zu bleiben, wurden sie zum Objekt des Bedauerns, des Mitleids, zum Gegenstand von Psychologie und Pädagogik. Der Ausschluss behinderter Menschen aus dem Lachen führte zunächst also nicht zu einem Mehr an Integration in die soziale Ordnung oder zu einem egalitären Menschenbild. Die Studien von Käte Hamburger (1985) und Joachim Koffler (2001) zeigen zudem, dass das Mitleid häufig abwertend war und mit Verachtung des Bemitleideten einherging.79 Dass Mitleid zu Ausgrenzung und Herabsetzung führt, ist auch ein Grund für 76 | Laurence Clark: Disabling Comedy: »Only When We Laugh!«, Vortrag auf der Konferenz »Finding the Spotlight«, Liverpool Institute for the Performing Arts, 30.5.2003, www.leeds.ac.uk/disability-studies/archiveuk/Clark,%20Laurence/ clarke%20on%20comedy.pdf, (4.1.2010); Ders.: Should we be laughing? Investigating disability and comedy, www.bbc.co.uk/ouch/features/should_we_be_ laughing_investigating_disability_and_comedy.shtml (4.1.2010). Diese Aussage müsste allerdings empirisch umfassend geprüft werden. Clarks Befund gilt vor allem für die amerikanischen Sitcoms. Er stellt selbst fest, dass hingegen Comedians mit Behinderungen auf soziale Barrieren fokussieren. 77 | Diese Witze stellen häufig ironisch gesellschaftliche Vorurteile in den Vorder grund. 78 | Shakespeare (1999), 52, Übersetzung durch d. Verf. 79 | Käte Hamburger: Das Mitleid, Stuttgart 1985; Joachim Koffler: Mit-Leid. Geschichte und Problematik eines ethischen Grundwortes, Würzburg 2001.
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dessen Ablehnung durch behinderte Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts. Im beginnenden 21. Jahrhundert gilt wiederum: Zumeist soll Komik zeigen, dass Mitleid nicht angebracht ist. Ein weiterer Bruch fand im 18. Jahrhundert statt: War es in Mittelalter und Renaissance normal gewesen, über sogenannte Narren, Zwerge, Blinde und Kropfige zu lachen, so waren es genau diese Personen, über die nun nicht mehr gelacht werden sollte. Behindert war nun der, über den nicht gelacht werden durfte. Eine neue Normalitätsgrenze wurde etabliert: Komisch durften nur noch kleinere Abweichungen80 sein, bemitleidenswerte Abweichungen wurden aus dem Reich des Komischen ausgeschlossen. Sowohl das Lachen über Behinderung bzw. die Herstellung komischer Behinderungen in Mittelalter und Renaissance als auch der Ausschluss aus der Komik hatten denselben Zweck: Sie dienten der Festigung gesellschaftlicher Grenzen und Normen und markierten diejenigen, die am Rande bzw. außerhalb standen. Erst Ende des 20. Jahrhunderts ändert sich diese Haltung erneut: Komik wird heute vor allem von Comedians und Cartoonisten mit Behinderung benutzt, um mitleidigen Reaktionen etwas entgegen zu setzen. Gezeigt werden soll, dass Behinderung normal und nicht bemitleidenswert ist. Komik dient nun dem Zweck, die gesellschaftliche Inklusion zu unterstützen. Wenn etwa im Jahre 2007 die Karikaturen von Phil Hubbe im Thüringer Landtag ausgestellt werden, so zeigt dies, dass das Lachen über Behinderungen mittlerweile als Ausdruck von Normalität gilt und sogar im Sinne der Political Correctness ist.
L ITER ATUR Albrecht, Gary L.: Disability Humor. What’s in a Joke?, in: Body&Society (1999), H. 5, 67-64. Aquin, Thomas von: Das buoch der tugenden. Ein Compendium des 14. Jahrhunderts über Moral und Recht nach der Summa theologiae des Thomas von Aquin und anderen Werken der Scholastik und Kanonistik, Bd. 1: Einleitung – Mittelhochdeutscher Text. Hg. von Klaus Berg/ Monika Kasper, Tübingen 1984. Baczko, Ludwig von: Über mich selbst und meine Unglücksgefährten die Blinden, Leipzig 1807. Bauer, Günther G./Verfondern, Heinz: Barocke Zwergenkarikaturen von Callot bis Chodowiecki, Salzburg 1991. Beattie, Jakob [James] »Versuch über das Lachen und über witzige Schrif-
80 | Am Beispiel der Nase wird dies deutlich: Über auffallende Nasen darf nach Ansicht vieler Autoren gelacht werden. Verbieten tue sich dieses Lachen nur, wenn die Nase ganz fehle, vgl. z.B. Home (1772), 364f.; Weber (1832/1868) Bd. 1, 188f.
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ten [1764/1776]«, in: Jakob Beattie’s neue philosophische Versuche, Bd. 2, Leipzig 1780, 6-214. Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der Menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998. Birrer, Jakob: Sonderbare Erinnerungen und merkwürdige Lebensfahrten. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Louis Naef, Willisau 1999. Bogdan, Robert: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit. Chicago 1988. Clark, Laurence: Disabling Comedy: »Only When We Laugh!«, Vortrag auf der Konferenz »Finding the Spotlight«, Liverpool Institute for the Performing Arts, 30.5.2003, www.leeds.ac.uk/disability-studies/ archiveuk/Clark, %20Laurence/clarke %20on %20comedy.pdf, (4.1.2010). Ders.: Should we be laughing? Investigating disability and comedy, www. bbc.co.uk/ouch/features/should_we_be_laughing_investigating_disability_and_comedy.shtml (4.1.2010). Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007. Flögel, Karl Friedrich: Geschichte der Komischen Litteratur. Vier Bde. in zwei Bden., Liegnitz/Leipzig 1784/85. Ders.: Geschichte der Hofnarren, Liegnitz/Leipzig 1789. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1973. Ders.: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1993. Frank, Arthur W.: »What’s Pharmakos? From Pseudotheologie to Presence«, in: Body&Society (1999), H. 5, 53-59. Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten [1905]. Der Humor [1927], 7., unveränderte Auflage Frankfurt a.M. 2004. Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997. Gottwald, Claudia: Lachen über Behinderung? Positionen der antiken Mythologie und Theorien der antiken Philosophie, in: Graf, Erich Otto/ Renggli, Cornelia/Weisser, Jan (Hg.): Die Welt als Barriere. Deutschsprachige Beiträge zu den Disability Studies, Bern 2006, 91-97. Dies.: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung, Bielefeld 2009. Groos, Karl: Einleitung in die Aesthetik, Gießen 1892. Hamburger, Käte: Das Mitleid, Stuttgart 1985. Hecker, Ewald: Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen. Ein Beitrag zur experimentellen Psychologie für Naturforscher, Philosophen und gebildete Laien, Berlin 1873. Hellenthal, Michael: Schwarzer Humor. Theorie und Definition, Essen 1989. Herrmann-Neisse, Max: Kindheitsjahre, in: Ders.: Unglückliche Liebe. Prosa 3, Frankfurt a.M. 1988, 435-472.
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Autorinnen und Autoren
Elsbeth Bösl, Dr. phil., Studium der Geschichte und Archäologie in München und Edinburgh (GB). 2008 Promotion an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Geschichte der Technik der TU München. Forschungsschwerpunkte: Disability History, Technikgeschichte. Cornelia Brink, PD Dr. phil., Studium der Deutschen Literaturgeschichte, Volkskunde, Kunstgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Freiburg i.Br. und Hamburg. Wissenschaftliche Mitarbeit in technik- und kulturgeschichtlichen Museen. Promotion 1998 mit einer Arbeit über den öffentlichen Gebrauch von KZ-Fotografien. Seit 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2008 Habilitation mit einer Arbeit zur Gesellschaftsgeschichte der Psychiatrie. Seit Wintersemester 2007/08 Vertretung der Professur für Neuere und Neueste Geschichte in Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Visual History, Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte der Psychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Erinnerungskulturen, Historische Anthropologie. Petra Fuchs, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin und Historikerin, seit Januar 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt »›Die Breite des Normalen‹. Zum Umgang mit Kindern im Schwellenraum zwischen ›gesund‹ und ›geisteskrank‹ in Berlin und Brandenburg, 1918-1933« am Institut für Geschichte der Medizin Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Alltags- und Sozialgeschichte ›behinderter‹ Menschen, Geschichte der NS-›Euthanasie‹ und Zwangssterilisation, Geschichte der Psychiatrie, Patientengeschichte, Biografieforschung. Urs Germann, Dr. phil., Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Bern (CH) und Lille (F). Promotion 2003 mit einer Arbeit zur Entwicklung der forensischen Psychiatrie in der Schweiz. Arbeitet seit 1997 im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern. Daneben Lehraufträge und Mitarbeit in verschiedenen Projekten. 2007/08 Forschungsaufenthalte in
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A UTORINNEN UND A UTOREN
Frankfurt a.M. und Cambridge. Aktuelle Forschungsgebiete: Geschichte der modernen Kriminalpolitik, Psychiatriegeschichte, Geschichte und Theorie von Behinderung. Claudia Gottwald, Dr. phil., Studium der Sonderpädagogik (2. Staatsexamen), seit 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Technische Universität Dortmund. Promotion 2008 mit einer historischen Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Historische Aspekte von Behinderung, Tod und Sterben, Leid und Mitleid (ethische Fragen). Anne Klein, Dr. phil., Studium der Geschichte, Romanistik und Spanisch, Erziehungs- und Politikwissenschaften. Lehrt als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Langjährige Erfahrung in sozialen Bewegungen und im Projektmanagement. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Historische Bildungs- und Wissensforschung, Biopolitik, Gender, Disability und Postkoloniale Studien, Migrationsgeschichte und europäische Erinnerungskultur. Gabriele Lingelbach, Prof., Dr. phil, Studium der Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Germanistik in Berlin und Paris. 2000 Promotion an der Freien Universität Berlin, 2000-2008 wissenschaftliche Assistentin an der Universität Trier. 2004/2005 John F. Kennedy Fellow der Harvard University. 2007 Habilitation mit einer Arbeit über die Entwicklung des Markts für Wohltätigkeitsspenden in der Bundesrepublik Deutschland. 2008-2010 Vertretung der Professur für Westeuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. Seit 2010 Professorin für Globalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im internationalen Vergleich; philanthropiegeschichtliche Themen. Susanne Pohl-Zucker, Dr. phil., Studium der Geschichte und Anthropologie an der University of Michigan in Ann Arbor, Michigan (USA) 19891997, Assistant Professor of Early Modern European History an der Cornell University, Ithaca, New York 1998-2004, seit 2004 als freie Historikerin bei Mainz tätig. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Rechtsgeschichte der Frühen Neuzeit, Disability Studies/Disability History. Maaike van Rijn, M.A., Studium der Kunstgeschichte und Neueren deutschen Literatur in Tübingen und Leiden (NL). Dissertationsprojekt am Kunsthistorischen Institut in Tübingen zu Künstlerinnen der expressionistischen Gruppe »Der Sturm« in Berlin 1910-1929. Promotionsstipendiatin der Stiftung der deutschen Wirtschaft. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Konstruktion von Geschlecht im Expressionismus, Gender Studies, Disability Studies.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Wilfried Rudloff, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Forschungsschwerpunkte: Sozialstaatsgeschichte und Geschichte der Bildungspolitik; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Behindertenpolitik. Anne Waldschmidt, Univ.-Prof., Dr. rer. pol., Studium der Sozialwissenschaften (Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte) in Bremen und Edinburgh (GB). Lehrt Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, leitet die Internationale Forschungsstelle Disability Studies (iDiS). Zuvor Professorin an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg (2000-2002), wissenschaftliche Mitarbeiterin in DFG-Forschergruppe an der Universität Dortmund (1997-2000), wissenschaftliche Mitarbeiterin und Vertretungsprofessorin an der Universität Siegen (1992-1997). Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Behinderung und Rehabilitation, Bioethik/Biopolitik, Normalität und Abweichung, Wissenssoziologie, Körpersoziologie, Europäische Behindertenpolitik, Disability Studies, Diskurstheorie und -analyse. Bernd Wedemeyer-Kolwe, apl. Prof., Dr. phil., Dr. disc.pol., Studium der Volkskunde, Vor- und Frühgeschichte und Assyriologie in Göttingen, 1989 M.A., 1992 Dr. phil. (Volkskunde), 2001 Dr. disc.pol. (Sportwissenschaft), 2002 sporthistorische Habilitation, seit 2007 außerplanmäßige Professur für Sportgeschichte an der Universität Göttingen. Derzeit Arbeit an einer Geschichte des deutschen Behindertensports im Auftrag des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS). Forschungsschwerpunkte: Zeit- und Kulturgeschichte des Sports, Geschichte des Behindertensports, Geschichte der alternativen sozialen Bewegungen, Geschichte der völkischen Bewegung.
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Disability Studies. Körper – Macht – Differenz Elsbeth Bösl Politiken der Normalisierung Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 2009, 406 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1267-7
Markus Dederich Körper, Kultur und Behinderung Eine Einführung in die Disability Studies 2007, 208 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-641-0
Claudia Gottwald Lachen über das Andere Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung 2009, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1275-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Disability Studies. Körper – Macht – Differenz Lisa Pfahl Techniken der Behinderung Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien Dezember 2010, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1532-6
Tobin Siebers Zerbrochene Schönheit Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung (übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck) 2009, 130 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1132-8
Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.) Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld 2007, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-486-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de