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German Pages 350 Year 2015
Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.) Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung
DISABILITY STUDIES • KÖRPER – MACHT – DIFFERENZ • BAND 1
2007-04-25 13-42-03 --- Projekt: T486.ds.waldschmidt / Dokument: FAX ID 0295145482605128|(S.
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) T00_01 schmutztitel.p 145482605176
Editorial Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht ›Behinderung‹ als historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven eröffnen, die den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit ›Behinderung‹ korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert. Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. Disability Studies: Körper – Macht – Differenz wird für die Aktion Mensch herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Humanwissenschaftliche Fakultät, Universität Köln), gemeinsam mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, Humboldt-Universität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg) und Heike Zirden (Aktion Mensch, Bonn).
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) T00_02 editorial.p 145482605200
Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.)
Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld
DISABILITY STUDIES
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) T00_03 innentitel.p 145482605232
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Annette Wunschel, Sylvia Zirden, Berlin Umschlagabbildung: Marianne Lindow, »Traum A« (Auszug); © Marianne Lindow, 2007 Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-486-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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) T00_04 impressum.p 145482605296
Inhalt
Anne Waldschmidt und Werner Schneider Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge – eine Einführung . . . . . . . . . .
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I. Körper, Macht/Wissen und die Praxis von Behinderung. Theoretisch-analytische Grundlagen der Disability Studies Robert Gugutzer und Werner Schneider Der ›behinderte‹ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anne Waldschmidt Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies . . . . .
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Michael Schillmeier Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis
II.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Disability Studies, Cultural Studies, Queer Studies. Querverbindungen und Perspektiven Clemens Dannenbeck Paradigmenwechsel Disability Studies? Für eine kulturwissenschaftliche Wende im Blick auf die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
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Heike Raab Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
III.
Normalität, Abweichung und Behinderung als Regime von Sichtbarkeiten. Historische Rekonstruktionen des Blicks auf den ›anderen‹ Körper Thomas Becker Vom Blick auf den deformierten Menschen zum deformierten Maßstab der Beobachter. Versuch einer feldtheoretischen Genealogie des normalisierenden Beobachterhabitus in den Humanund Lebenswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Maren Möhring Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung . . . . . . . . . . 175
IV.
Behinderung in Diskursen und Interaktionen. Medizinische Praxis, Selbstbestimmung im Alltag und biographische Erfahrung Siegfried Saerberg Über die Differenz des Geradeaus. Alltagsinszenierungen von Blindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Karsten Altenschmidt und Lakshmi Kotsch »Sind meine ersten Eier, die ich koche, ja«. Zur interaktiven Konstruktion von Selbstbestimmung in der Persönlichen Assistenz körperbehinderter Menschen . . . . 225 Walburga Freitag Diskurs und Biographie. Konstruktion und Normalisierung contergangeschädigter Körper und ihre Bedeutung für die Entwicklung biographisch ›wahren‹ Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
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V. Behinderung und sozialer Status. Institutionen der Inklusion/Exklusion Gudrun Wansing Behinderung: Inklusions- oder Exklusionsfolge? Zur Konstruktion paradoxer Lebensläufe in der modernen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Michael Maschke Behinderung als Ungleichheitsphänomen – Herausforderung an Forschung und politische Praxis . . . . . . . . . 299 Justin J.W. Powell Behinderung in der Schule, behindert durch Schule? Die Institutionalisierung der ›schulischen Behinderung‹ . . . . . . 321 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
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) vakat 008.p 145482605384
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Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge – eine Einführung Anne Waldschmidt und Werner Schneider
›Behinderung‹ als sozialwissenschaftliches Forschungsfeld Für das Phänomen der (Nicht-)Behinderung und die Lebenssituation behinderter Menschen haben sich bislang primär die angewandten Wissenschaften interessiert, Disziplinen wie die Medizin, die Heil- und Sonderpädagogik, die Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften sowie seit neuestem die so genannten ›life sciences‹. Dem Projekt der Moderne und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Austreibung von Leid sowie der Verheißung von individuellem Lebensglück verpflichtet, geht es ihnen um die Verhütung, Beseitigung oder Linderung von gesundheitlichen Schädigungen oder Beeinträchtigungen. Dabei dominiert der ›klinische Blick‹ (Michel Foucault), welcher das moderne Krankheitsverständnis auf das Phänomen ›Behinderung‹ anwendet und dieses immer schon als ein medizinisches und pädagogisches Problem konstituiert, d.h. seine ›Behandlung‹ einfordert wie auch legitimiert. Die Ansätze der Therapie, der Förderung und des Coping unterstellen, dass es das Wichtigste sei, erfolgreiche Kuration oder Rehabilitation zu gewährleisten, eine gelungene Anpassung an die Umwelt sicherzustellen, die psychische Verarbeitung der Beeinträchtigung zu unterstützen und ›normale‹ Lebensumstände zu schaffen. Auch sozialpolitische Konzepte und Programme gehen von einer managementorientierten Zielsetzung aus: Ihnen gilt Behinderung als soziales Problem; deshalb werden Sozialleistungen und Versorgungssysteme bereitgestellt und behinderten Menschen Nachteilsausgleiche gewährt. Ge-
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10 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider sellschaftliche Teilhabe und Anerkennung sollen auf diese Weise ermöglicht werden. Sicherlich kann es nicht darum gehen, sozialpolitische Unterstützung, pädagogische Förderung und medizinische Behandlung für behinderte Menschen prinzipiell in Frage zu stellen. Dennoch ist ein Perspektivenwechsel auf das Phänomen notwendig. Dessen Ausgangspunkt muss darin liegen, sich zunächst der Standortgebundenheit, mehr noch, der Eingeschränktheit des vorherrschenden Blicks zu vergewissern: Der auf Problemlösung fixierte Ansatz kann die Komplexität von ›Behinderung‹ nicht hinreichend erfassen; er verschleiert, dass die verkörperten Erscheinungen, die wir heutzutage mit der unspezifischen Sammelkategorie ›Behinderung‹ bezeichnen, nicht aus der Welt geschafft werden können. Er negiert, dass ›Behinderung‹ eine weit verbreitete Lebenserfahrung darstellt und der menschliche Körper, trotz oder gerade wegen der für uns moderne Menschen so umfassenden, selbstverständlichen Möglichkeiten seiner technischen Zurichtung, keine reibungslos funktionierende Maschine ist, sondern höchst gebrechlich und verletzlich. Vielleicht werden wir in Zukunft sogar, je weiter die Möglichkeiten der technischen Körperformierung reichen, uns umso häufiger in Situationen finden, in denen sich der einzelne Mensch mit seiner individuellen Körperausstattung als ›behindert‹ im weiteren Sinne erfährt. Im Grunde ist Behinderung nicht die Ausnahme, die es zu kurieren gilt, sondern die Regel, die in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen zunächst einfach zu akzeptieren wäre. Dass ihr entgegen ihrer Omnipräsenz in der Lebenspraxis – denn wer von uns wäre nicht selbst in irgendeiner Weise von Behinderung betroffen, sei es am eigenen Leibe, als Angehörige/r oder in anderen sozialen Bezügen? – dennoch ein Ausnahmestatus zugeschrieben wird, hat gesellschaftspolitische und kulturelle Gründe. Offensichtlich wird die Abgrenzungskategorie Behinderung ›gebraucht‹, um sozialen Zusammenhang und Stabilität zu gewährleisten und bestimmte, kulturell vorgegebene Vorstellungen von Körperlichkeit und Subjektivität aufrechtzuerhalten. Vor allem die Gegenwartsgesellschaft benötigt diese Kategorie als einen Abweichungstatbestand, um im Kontrast so etwas wie ›Normalität‹ herstellen und sichern zu können. Gleichzeitig lässt sich im historischen und kulturanthropologischen Vergleich beobachten, dass ›Behinderung‹ keinesfalls eine universelle kulturelle Kategorie und uniforme soziale Praxis darstellt. Vielmehr findet man über die Jahrhunderte und zwischen den Kulturen eine große Vielfalt in den Sichtweisen von Behinderung und den Umgangsformen mit als behindert definierten Menschen. Insbesondere angesichts der reproduktions- und gentechnologischen Herausforderung und einer intensiven bioethischen Debatte stellt sich gerade heute die Frage noch einmal neu, was ›Behinderung‹ in modernen, medizintechnisch dominierten Gesellschaften kennzeichnet und welche gesellschaftliche Bedeutung dieser Differenz zugeschrieben wird.
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Dem sozialwissenschaftlichen Modell von Behinderung zufolge, das sich gegenüber dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Modell in den letzten drei Jahrzehnten wenn auch nicht gänzlich durchsetzen, so doch zumindest etablieren konnte, ist nicht die Ebene der Schädigung oder Beeinträchtigung entscheidend, sondern der soziale Prozess der Benachteiligung. Schaut man sich unter dieser Prämisse den soziologischen Diskurs an, wird man spätestens seit dem Jahre 1963 ein mehr oder weniger kontinuierliches soziologisches Interesse am Thema Behinderung erkennen können, d.h. konkret seit der Veröffentlichung der bahnbrechenden Studie von Erving Goffman, die sich unter dem Titel Stigma (deutsch 1975 erschienen) mit Interaktionsmustern und Identitätsdarstellungen bei negativ bewerteten Abweichungen beschäftigt. Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist, dass im gleichen Jahr in Frankreich ein Buch veröffentlicht wurde, das erst mit zeitlicher Verzögerung, genauer gesagt erst mit dem Entstehen der rehabilitationskritischen Disability Studies ab Beginn der 80er Jahre, den Behinderungsdiskurs nachhaltig beeinflussen sollte – Michel Foucaults Die Geburt der Klinik (1988). In der Entwicklungsgeschichte der deutschsprachigen Soziologie der Behinderung, die bis vor kurzem einseitig dem interaktionistischen Standpunkt verhaftet war und erst in jüngerer Zeit begonnen hat, auch strukturbzw. differenzierungstheoretische Ansätze zu berücksichtigen wie die Systemtheorie Niklas Luhmanns (vgl. Fuchs et al. 1994) oder auch die zwischen Struktur und Handlung vermittelnde Soziologie Pierre Bourdieus, lassen sich folgende wichtige Meilensteine ausmachen: 1967 hielt Christian von Ferber (1968) auf dem 65. Deutschen Fürsorgetag einen Vortrag zum Thema »Der behinderte Mensch und die Gesellschaft«. Wenige Jahre später, 1972, gab Walter Thimm (1975) den wegweisenden Reader Soziologie der Behinderten heraus. Für das in den letzten vierzig Jahren periodisch sich belebende, dann wieder abflauende soziologische Interesse an der Behinderungsthematik war sicherlich auch die 1980 von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps von Bedeutung, da mit ihr die Ebene der sozialen Benachteiligung in den Blick rückte. Vor dem Hintergrund des UNO-Jahres der Behinderten, das 1981 stattfand, veröffentlichten Rolf G. Heinze und Peter Runde (1982) den Sammelband Lebensbedingungen Behinderter im Sozialstaat. Erst fünfzehn Jahre später, mit der Einführung Soziologie der Behinderten von Günther Cloerkes (2001), die 1997 zuerst und 2001 in zweiter Auflage erschien, erhielt das Forschungsfeld ein erstes Lehrbuch. Schließlich veröffentlichte Klaus Bendel (1999) einen Versuch, Behinderung als »zugeschriebenes Kompetenzdefizit von Akteuren« und somit sozialkonstruktivistisch zu denken. Neben diesen und einigen anderen Publikationen mit eher Einführungs- bzw. Übersichtscharakter (vgl. etwa Cloerkes 2003; Forster 2004; Wacker/Wedel 1999) findet man mittlerweile eine ganze Reihe von sozio-
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12 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider logischen Forschungsarbeiten, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit den Lebensbedingungen behinderter Menschen auseinander setzen. In der Medizin- und Gesundheitssoziologie werden sie ebenso thematisiert wie in der Soziologie der Sozialpolitik und im Forschungsfeld Soziale Probleme/Soziale Kontrolle. Des Weiteren trifft man in der sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung sowie seit neuestem auch in der Körpersoziologie auf entsprechende Studien. Darüber hinaus sind Institutionalisierungstendenzen nicht zu übersehen: Erstmalig 2002 in Leipzig (Waldschmidt/Schneider 2003) und auch 2006 in Kassel (Maschke/Powell 2006) wurden auf deutschsprachigen Soziologiekongressen Ad-hocGruppen zur Soziologie der Behinderung durchgeführt; an verschiedenen Hochschulen – z.B. an den Universitäten in Berlin, Dortmund und Köln sowie an den Pädagogischen Hochschulen in Heidelberg und Reutlingen – gibt es behinderungssoziologisch ausgewiesene Lehrstühle. Allerdings führt die Untersuchung von Behinderung innerhalb der Soziologie trotz dieser vielfältigen Forschungsaktivitäten, Publikationen und institutionellen Verankerungen weiterhin ein Randdasein, und von außen wird ihr oftmals nur die Funktion einer pädagogischen Hilfswissenschaft zuerkannt. Zudem werden viele Forschungsarbeiten mit soziologisch relevanten Fragestellungen nicht von Soziologinnen und Soziologen, sondern in den Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegewissenschaften durchgeführt. Auch eine theoretische Auseinandersetzung über den eigenen Gegenstand, die vor allem den umfassenden und aktuellen Bezug zur Allgemeinen Soziologie sucht und vorantreibt, ist bisher nur in wenigen Ansätzen vorhanden. Angesichts aktueller Entwicklungen erscheint es uns jedoch dringend geboten, die Soziologie der Behinderung als spezielle Soziologie zu rekonzeptionalisieren und im innersoziologischen Fachdiskurs wie auch in ihren Bezügen zu den thematisch angrenzenden Nachbardisziplinen neu zu positionieren. Dabei erweist es sich als sinnvoll, die mittlerweile auch in Deutschland geführte Debatte um die Disability Studies aufzugreifen. Die Disability Studies (vgl. Albrecht et al. 2001; Barnes et al. 2002; Barton/Oliver 1997; Davis 1997; Mitchell/Snyder 1997; Oliver 1990; 1996; Shakespeare 1998), die als interdisziplinäre Forschungsrichtung in den 80er Jahren vornehmlich in den USA und Großbritannien entstanden, sind angetreten, um die sozial- und kulturwissenschaftlichen Lücken im Behinderungsdiskurs zu füllen. Der internationalen Querschnittsdisziplin geht es im Wesentlichen um drei Zielsetzungen. Zum einen soll der Forschungsgegenstand ›Behinderung‹ aus seiner Randlage herausgeholt und in den Mittelpunkt eines theoretisch und methodologisch anspruchsvollen Forschungsprogramms gestellt werden. Die Studien zu Behinderung, die in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen unternommen werden, dort aber zumeist nur wenig Beachtung erfahren, sollen unter dem Dach der Disability Studies zusammengefasst werden. Auf diese Weise erhalten sie ein neues Profil, und ›Behinderung‹ wird so als eigenstän-
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diges, interdisziplinäres und spannendes Thema überhaupt erst sichtbar. Zum anderen geht es den Disability Studies darum, ein Gegengewicht zum traditionellen, anwendungsorientierten Paradigma zu schaffen. Sie wollen gerade nicht Rehabilitationswissenschaft in neuem Gewand sein, sondern haben sich im Gegenteil deren Kritik vorgenommen. In den Disability Studies geht man davon aus, dass körperliches ›Anderssein‹ und ›verkörperte Differenz‹ weit verbreitete Lebenserfahrungen darstellen, deren Erforschung zu Erkenntnissen führt, die nicht nur für die auf ›Behinderung‹ spezialisierten gesellschaftlichen Teilsysteme und die so genannten ›Betroffenen‹, sondern für die allgemeine Gesellschaft und für das Verständnis des Zusammenlebens von Menschen schlechthin relevant sind. D.h. das in den Disability Studies produzierte Wissen zu Behinderung, zum Verhältnis von Abweichung und Normalität und deren jeweilige Bewertung ist eben nicht nur für das enge Feld der mit dem herkömmlichen Behinderungsbegriff verknüpften Praxis relevant, sondern gibt grundlegend Aufschluss über das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Kultur. Nicht zuletzt sind die Disability Studies mit Geschichte und Programmatik der internationalen Behindertenbewegung eng verknüpft. Ähnlich wie bei der Frauenforschung handelt es sich um ein Forschungsfeld, welches die Impulse der Selbstorganisation und Selbstrepräsentation aufnimmt und versucht, die Anliegen behinderter Menschen auf der wissenschaftlichen Agenda zu platzieren. Begründet wurden die Disability Studies von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie Michael Oliver (1990), Irving K. Zola (1972), Simi Linton (1998), Robert Murphy (1995), Rosemarie Garland-Thomson (1997), David T. Mitchell (Mitchell/Snyder 2000), Adrienne Asch (Parens/Asch 2000), Tom Shakespeare (1998; 2006) und anderen, die selbst mit einer Behinderung leben bzw. gelebt haben oder auch aus Familien mit behinderten Angehörigen stammen, wie etwa Lennard J. Davis (1995), der zweisprachig – neben dem Englischen mit der Gebärdensprache – aufgewachsen ist. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher persönlichen Bezüge verstehen sich die Disability Studies auch als ein emanzipatorisches, an Teilhabe orientiertes Projekt. Ihre Protagonisten verfolgen die Leitvorstellung, gesellschaftliche Sichtweisen und Praktiken so verändern zu können, dass Menschen mit besonderen körperlichen Merkmalen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein voller Subjektstatus und uneingeschränkte Partizipation möglich wird. Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob Wissenschaftsprojekte wie die Disability Studies, die sich quer zur traditionellen Fachsystematik stellen und auf ein ›single issue‹, also einen relativ kleinen, wenig konturierten Teilausschnitt aus der soziokulturellen Wirklichkeit fokussieren, überhaupt sinnvoll sind. Ähnlich wie die Gender Studies, die Critical Racial Studies, die Queer Studies oder seit neuestem die Diversity Studies bringen die Disability Studies die hergebrachte »Ordnung der (wissenschaftlichen) Dinge« (Michel Foucault) durcheinander. Da sie zusätzlich dem Wissen-
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14 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider schaftssystem eigentlich fremde Zielsetzungen wie Emanzipation und Teilhabe verfolgen, ist es nicht verwunderlich, dass sie mit einer Vielzahl von wissenschaftstheoretischen und methodologischen Problemen konfrontiert sind. Jemandem, der mit den Dilemmata der Frauen- und Geschlechterforschung vertraut ist, bietet der Diskurs über ›Behinderung‹ durchaus einige Déjà-vu-Erlebnisse. Gleichwohl gibt es auf internationaler Ebene ganz offensichtlich einen Bedarf an diesem Forschungsfeld, d.h. an Analysen des Phänomens ›Behinderung‹, die sich nicht auf den rehabilitationswissenschaftlichen Blickwinkel beschränken, sondern einen grundlagentheoretischen Anspruch verfolgen. Durchaus erfolgreich haben sich die Disability Studies in den letzten 25 Jahren insbesondere in der angloamerikanischen Hochschullandschaft etablieren können, und auch in anderen Ländern wie beispielsweise Frankreich, Finnland, Japan, Indien und Südafrika sind sie präsent. Von einer lebendigen Infrastruktur zeugt nicht zuletzt die jüngst erschienene fünfbändige »Encyclopedia of Disability«, bei der zwar eine nordamerikanische Dominanz feststellbar ist, deren Herausgeberkreis aber Bemühungen um eine breite Internationalisierung erkennen lässt (vgl. Albrecht 2006). Weltweit umfassen die akademischen Strukturen Professuren, Studiengänge und Promotionsprogramme ebenso wie Fachgesellschaften, Fachzeitschriften, Veröffentlichungsreihen und Mailing Lists. Reichlich spät, etwa seit dem Jahre 2000, hat auch im deutschsprachigen Raum die Rezeption der Disability Studies eingesetzt. Die beiden Tagungen »Der (im)perfekte Mensch« (2001) und »PhantomSchmerz« (2002), die vom Deutschen Hygiene-Museum, der Aktion Mensch und der Humboldt-Universität Berlin veranstaltet wurden, waren wichtige Startsignale. Erstmalig für den deutschsprachigen Raum fand mit ihnen eine Begegnung zwischen Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Kulturwissenschaften und den Disability Studies statt (vgl. Lutz et al. 2003). Außerdem wurde im April 2002 eine bundesweite Arbeitsgemeinschaft »Disability Studies in Deutschland« gegründet (vgl. Seidler 2002). Im Rahmen des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen wurde im Juli 2003 in Bremen die Sommeruniversität »Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken!« durchgeführt (vgl. Hermes/ Köbsell 2003; Waldschmidt 2003). An verschiedenen Hochschulen – in Berlin, Bochum, Bremen, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Marburg sowie in Innsbruck und Zürich – sind mittlerweile Lehrtätigkeiten, Ringvorlesungen, Tagungen zu verzeichnen. Fachzeitschriften – etwa Psychologie & Gesellschaftskritik in Deutschland, Traverse in der Schweiz und die nordamerikanischen Disability Studies Quarterly (vgl. Bruner/Dannenbeck 2005; Germann et al. 2006; Köbsell/Waldschmidt 2006) – haben Schwerpunkthefte zu den deutschsprachigen Disability Studies veröffentlicht. Neben der 2004 in Köln gegründeten Internationalen Forschungsstelle Disability Studies (iDiS) entstand 2005 das Hamburger Zentrum für Disability Stu-
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dies (ZeDiS). Auch wenn die deutschsprachige Infrastruktur sich noch längst nicht mit derjenigen in Großbritannien und den USA messen kann, so ist doch bereits absehbar, dass der Ansatz künftig auch hierzulande an Bedeutung gewinnen wird. In ihrem konsequenten Fokus auf die Kulturwissenschaften bieten die Disability Studies auch für die Soziologie einen neuartigen Zugang, das Phänomen ›Behinderung‹ zu reflektieren. Die kultursoziologische Perspektive ermöglicht es, Behinderung nicht nur aus dem anwendungsorientierten Blickwinkel, sondern aus einer grundlagen- und gesellschaftstheoretischen Sicht zu beleuchten. Mit ihr wird gleichsam der Standort des Betrachters oder der Forscherin umgekehrt: Nunmehr geht es nicht darum, von der Welt der Normalen aus die Lebenssituation behinderter Menschen zu untersuchen, um ihnen bei der Bewältigung ihrer schwierigen Lebenssituation zu helfen. Vielmehr gilt es, von einer ›dezentrierten‹ Position aus Behinderung als erkenntnisleitendes Moment für die Analyse der Mehrheitsgesellschaft zu benutzen. Auf diese Weise sind überraschend neue Einsichten möglich, beispielsweise in die Art und Weise, wie kulturelles Wissen über Körperlichkeit und Subjektivität produziert, transformiert und durchgesetzt wird; wie Normalitäten und entsprechende Differenzierungskategorien konstruiert und etabliert werden; wie sich gesellschaftliche Praktiken der Ein- und Ausschließung gestalten; wie personale und soziale Identitäten geformt und neue Körperbilder geschaffen werden; wie sich im Wechselbezug von (wie auch immer definierter vollständiger/unvollständiger, normaler/abweichender) Körperlichkeit und darauf gerichteter Technik womöglich grundlegende Konzepte von Raum und Zeit verändern – und zwar nicht nur für jene, die aus heutiger Sicht als ›behindert‹ erscheinen. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes adressieren diese Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven und bieten somit die Möglichkeit, entlang den Berührungs- und Überschneidungslinien von Disability Studies, Soziologie der Behinderung und Kultursoziologie Einblicke in den sich neu formierenden, poststrukturalistisch und konstruktivistisch orientierten, deutschsprachigen Diskurs zu Behinderung zu erhalten.
Zu den einzelnen Beiträgen Im ersten Teil des Bandes, »Körper, Macht/Wissen und die Praxis von Behinderung. Theoretisch-analytische Grundlagen der Disability Studies«, widmen sich zunächst Robert Gugutzer und Werner Schneider der Frage, welcher Stellenwert dem Körper bei der Analyse der gesellschaftlichen (Re-)Produktion des sozialen Phänomens ›Behinderung‹ zukommt und wie der nicht behinderte/behinderte Körper – in Anlehnung an aktuelle körpersoziologische Konzepte – analytisch dimensioniert werden kann. Aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive erscheint der
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16 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider menschliche Körper – als Normkörper, abweichender Körper, behinderter Körper – als ein sozial hergestelltes und kulturell geformtes Phänomen. Nach einer kurzen Diskussion der verschiedenen Modelle von Behinderung – dem medizinischen, sozialen und kulturellen Modell – und der jeweils darin enthaltenen Körperkonzepte präsentiert der Beitrag vor dem Hintergrund wissenssoziologisch-diskurstheoretisch sowie leibphänomenologisch ausgerichteter Überlegungen einen Dimensionierungsvorschlag für den analytischen Blick auf den nicht behinderten/behinderten Körper. Geht man von einem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft aus, wonach der menschliche Körper sowohl als Produkt wie auch als Produzent von Gesellschaft zu fassen ist, erscheint der Körper zunächst als Effekt von Körperdiskursen. Das, was wir als (nicht behinderten/behinderten) Körper an anderen ›für-wahr-nehmen‹, als eigenen Leib erfahren und in und durch unser Handeln als ›Wahrheit des Körpers‹ wirklich (also handlungswirksam) werden lassen, gründet in diskursiven Prozessen der Herstellung und Formierung von Körperlichkeit. Damit eng verbunden ist die konkrete Körperpraxis: Mittels körperlicher Routinehandlungen, verkörperter Selbstdarstellungen und ›eigensinnigen‹ körperlichen Agierens ist der (als wie anormal/normal auch immer definierte) Körper immer auch ›sinnhafter Produzent‹ des Sozialen. Und schließlich ›materialisiert‹ sich durch den Körper in der – wiederum gesellschaftlich geprägten – eigenleiblichen Differenzerfahrung des Subjekts das je eigene Nicht-behindert-Sein/Behindert-Sein als spezifischer Subjektivitätstypus. Vor dem Hintergrund der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung des Körpers ermöglicht die dreifache analytische Inblicknahme, das Phänomen ›Körperbehinderung‹ als spezifische Körperdifferenz zwischen Normalität und Abweichung zu fassen. Zudem gibt sie auch Auskunft darüber, wie in dieser Differenzerfahrung die zunehmende ›Arbeit am Körper‹ als Selbstvergewisserung oder gar absichtsvolle Identitätspolitik für das moderne Individuum immer bedeutsamer wird. In dem folgenden Beitrag greift Anne Waldschmidt die Foucault-Rezeption in den Disability Studies auf, insbesondere die Inanspruchnahme der Begriffe Macht, Wissen und Körper, und diskutiert die Möglichkeiten, die Ontologisierungstendenz, die mit dem gängigen Begriff ›Behinderung‹ (im Englischen: ›impairment‹ bzw. ›disability‹) verbunden ist, vor diesem Hintergrund zu kritisieren. Für die Disability Studies Foucault’scher Prägung erweisen sich vermeintlich objektive, neutrale Tatbestände, wie beispielsweise ›geistige Behinderung‹ oder ›Gehörlosigkeit‹, als diskursiv hergestellt; erst durch die entsprechenden disziplinären Macht/ Wissen-Formationen sind sie zu gesellschaftlichen Interventionsfeldern geworden. Der von Foucault herausgearbeitete ›klinische‹ Blick, der den menschlichen Körper taxiert, durchleuchtet, vermisst, kategorisiert und klassifiziert, konstituiert den (abweichenden) Körper und macht ihn zu einem für wissenschaftliche Disziplinen und gesellschaftliche Betreuungs-
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institutionen relevanten Objekt. Mit Foucault kann die Herstellungsweise von Behinderung als ein Beispiel für die spezifische Ambivalenz der Moderne gelesen werden: In ihrem Bestreben, die als behindert geltenden Menschen ›normal zu machen‹, schwankt die moderne Gesellschaft widersprüchlich zwischen Förderung und Internierung, Exklusion und Teilhabe, Normierung und Normalisierung. Auch wenn die Foucault-Lektüre in den Disability Studies noch Lücken und Schwächen aufweist, wie am Beispiel der Kontroverse um das soziale Modell sowie der Körper- und Normalitätskonzeptionen gezeigt wird, so gilt doch: Der Werkzeugkasten Foucaults bietet vielfältige Inspirationen, um die allgegenwärtige Naturalisierung von ›Behinderung‹ kritisch zu beleuchten. Auch Michael Schillmeier geht in seinem Beitrag zur »Politik des Behindert-Werdens« davon aus, dass Behinderung weniger einen Effekt körperlicher Schädigungen darstellt als vielmehr ein gesellschaftlich hergestelltes Phänomen. Orientiert an John Dewey und Michel Foucault sowie an den Science, Technology and Society Studies (STS) bietet er eine Auseinandersetzung mit dem Ereignis- und Erfahrungsbegriff und konzeptualisiert Behinderung als Ereignis. Dabei wird die Frage, wer wann, wo und durch was behindert oder nicht behindert wird bzw. ist, in den Vordergrund gestellt; vor allem sie gilt es primär in situ zu analysieren. Die theoretisch begründete und für empirische Forschung relevante Lokalisierung von Behinderung erfolgt somit weder einseitig als körperliche, individuelle Schädigung (wie im medizinischen Modell) noch als soziale und damit kollektive Behinderung (wie im sozialen Modell), sondern als heterogene, situative Praxis der (Dis-)Lokalisierung. ›Behinderung‹ – hier verstanden als ›dis/ ability‹ – wird so als heterogenes, materiales Ereignis beschreibbar. Dieses Ereignis verknüpft soziale und nicht soziale Zusammenhänge von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren, von Dingen, Körpern, Technologien, sensorischen Praktiken usw. und wird im Sinne von behindernden wie ermöglichenden (›dis/abling‹) Szenarien erfahrbar. Mit dieser Perspektive wird die Normativität tradierter gesellschaftlicher Konstruktionen von Körperlichkeit/Individualität und Sozialität/Kollektivität in und durch ›Behinderung‹ sichtbar – und damit zugleich immer schon potenziell fragwürdig. Behindert-Werden meint folglich ein Möglich-Werden, nämlich die Möglichkeit, tradierte gesellschaftliche Zusammenhänge zu hinterfragen, sich ihnen zu widersetzen oder sie zu verändern. Gleichzeitig impliziert die in diesem Beitrag entwickelte erfahrungs- und ereignislogische Perspektive auf Behinderung, das Soziale als Ereignis sozialer und nicht sozialer Zusammenhänge nicht mehr allein durch Soziales erklären zu wollen. Vielmehr sind die sozialwissenschaftlichen Prämissen von Beobachterposition und Beobachtungsgegenstand kritisch zu reflektieren, die eigenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf das Phänomen ›Behinderung‹ dem ›Behindert-Werden‹ auszuliefern. Unter der Überschrift »Disability Studies, Cultural Studies, Queer Stu-
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18 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider dies. Querverbindungen und Perspektiven« finden sich im zweiten Teil zwei Beiträge, die unterschiedliche Verknüpfungen zwischen den Disability Studies und Forschungsfeldern wie den Cultural Studies, Queer Studies und Gender Studies sowie dem Praxisfeld der Sozialen Arbeit reflektieren. So plädiert Clemens Dannenbeck in seinem Beitrag auf der Grundlage der durch die Disability Studies vollzogenen Perspektivenverschiebung für eine kulturwissenschaftliche Wende im Blick auf die Soziale Arbeit, die sich an Menschen mit besonderen Bedürfnissen richtet. Der Beitrag setzt sich mit dem Verhältnis zwischen den deutschsprachigen Disability Studies und dem Diskurs der Cultural Studies auseinander, nicht zuletzt auch mit dem Bestreben, die beiden theoretischen Traditionsstränge der Disability Studies – ihre eher marxistisch-materialistische Ausrichtung britischer Provenienz auf der einen und ihre differenztheoretisch-kulturelle Orientierung amerikanischer Provenienz auf der anderen Seite – stärker aufeinander zu beziehen. Beabsichtigt wird eine theoretische Fundierung der Disability Studies, die das dualistische Denken des sozialen Modells tendenziell überwindet und sich gleichzeitig kritisch mit Machtaspekten in den soziokulturellen Herstellungsprozessen von Behinderung auseinander setzt. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte darin bestehen, Impulse aus den Cultural Studies für die Weiterentwicklung der Disability Studies in Deutschland zu nutzen. Möglicherweise ließen sich hierbei auch Wege zur Überwindung des Oppositionspaares ›Behinderung‹ (soziokulturell) und ›Schädigung/Beeinträchtigung‹ (biologisch-medizinisch) finden, die für die praktische Soziale Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung fruchtbar gemacht werden könnten. Unter dem programmatischen Stichwort »Intersektionalität« unternimmt Heike Raab den Versuch, die Beschränkung auf ›Behinderung‹ als zentrale Kategorie für Forschungsarbeiten im Bereich der Disability Studies aufzugeben. Plädiert wird für einen multiplen Behinderungsbegriff, um nicht zuletzt vor dem Hintergrund vielschichtiger und komplexer Macht- und Herrschaftsverhältnisse die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Analysekategorien – z.B. Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht – auszuloten. Entsprechend diskutiert der Beitrag die jeweiligen Anschlussoptionen und möglichen Querverbindungen zu den Queer Studies und Gender Studies. An die Stelle eines binär-naturalistischen Behinderungsbegriffs tritt ein plurales Verständnis von Behinderung, welches zu weiteren, historisch und soziokulturell kontingenten Differenzkategorien in Beziehung zu setzen ist. Insbesondere die von den Queer Studies aufgeworfene Macht- und Herrschaftskritik, ihre Problematisierung von Körper-, Sexualitäts- und Geschlechternormen bietet eine Reihe von wechselseitig fruchtbaren Verbindungslinien zu den Disability Studies. Indem die kategoriale Verbindung von Geschlecht, Sexualität und Gesundheit aufgezeigt wird, verdeutlicht der Beitrag, dass Behinderung als eine intersektional einzusetzende Analysekategorie Leerstellen in den Queer Studies
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aufzudecken vermag. Heteronormativität reguliert nicht nur hierarchisch angeordnete geschlechtliche und sexuelle Existenzweisen, sondern konstituiert im Falle von Behinderung auch Zonen von asexuellen und ageschlechtlichen Lebensweisen. Als allgemeines Analyseraster erlaubt Intersektionalität dem Beitrag zufolge einen transdisziplinären Zugang, mithin eine Sichtweise, die Differenzen nicht als essenzielle und ahistorische Wesenheiten konzipiert, sondern als ineinander verschränkte, soziokulturelle Kategorien, deren wechselseitige Machtwirkungen und Herrschaftseffekte es zu analysieren gilt. Im dritten Teil des Bandes, »Normalität, Abweichung und Behinderung als Regime von Sichtbarkeiten. Historische Rekonstruktionen des Blicks auf den ›anderen‹ Körper«, rekonstruiert zunächst Thomas Becker – im Anschluss an Michel Foucaults Genealogie und Pierre Bourdieus Feldtheorie – die historische Transformation des (human-/lebens-)wissenschaftlichen Blicks auf den ›deformierten‹ Menschen. Dabei wird nicht nur der Zusammenhang von Macht und Wissen, sondern auch der Körper des Beobachters, der normalisierende Beobachterhabitus, als Medium von Macht/ Wissen problematisiert. Der Beitrag zeigt die Formierung und Durchsetzung jenes für die Moderne charakteristischen normalisierenden Blicks auf den ›monströsen‹, ›deformierten‹ Körper, der sich nach zwei Seiten gleichermaßen abgrenzt: gegen eine traditionell religiös konnotierte Wahrnehmung des ›Widernatürlichen‹ sowie gegen eine primär ästhetisierende, sich gleichsam interesselos gebende Schaulust. Die im 18. Jahrhundert sich etablierende Beobachtung von ›Monstren‹ als eine genuin wissenschaftliche Praxis der Klassifikation hat sich selbst als universal verstanden und gleichsam eine körperlose Beobachterposition eingenommen, von der aus sich die wissenschaftliche Normalisierung, d.h. die in faktischer Konsequenz »entwertende Integration« der Behinderung betreiben ließ. Innerhalb dieses wissenschaftlichen Sichtbarkeitsregimes wurden die Lebensformen, die morphologisch von der Normalität abweichen, zum Beobachtungsmedium einer im Leben versteckten, nicht mehr unmittelbar sichtbaren normativen Disposition. Der normalisierende Beobachterhabitus des Human- und Lebenswissenschaftlers verwandelte sich insofern zum »deformierten Maßstab« der Beobachter, als man hoffte, in der Beobachtung von Missbildungen einer verborgenen Norm der normalen Lebensbildung auf die Spur zu kommen. Von entscheidender Bedeutung war der in der Teratologie zum ersten Mal auftauchende Begriff der Anomalie, der – im Rahmen der Begriffstrias des Normalen, Anormalen und Anomalen – in den verschiedensten Disziplinen der Humanwissenschaften zentral wurde und schließlich, vermittelt durch die Psychiatrie, die Grenzbestimmung zwischen Normalität und Behinderung markierte. Weil der wissenschaftliche Blick die Normalität des Lebens nicht an »›normalen‹, sondern an monsterhaft abweichenden Formen« ausfindig zu machen suchte, konnten die ›Monster‹ wie schließlich die modernen ›Behinderten‹ zu »natürli-
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20 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider chen Gegenständen« eines scheinbar reinen wissenschaftlichen Blicks werden, mit dem sich eine vermeintlich nicht normative Bestimmung des Normalen bewerkstelligen ließ. Ebenso um Sichtbarkeiten in historischer Perspektive, aber weniger um Transformationen von Epistemen, sondern um die konkrete Wahrnehmung von Körperlichkeit geht es in dem Beitrag von Maren Möhring über kriegsversehrte Körper. Während Erving Goffman Stigmatisierungsprozesse primär als Frage nach der (Un-)Sichtbarkeit von abweichenden Körpermerkmalen in konkreten Interaktionssituationen adressiert, greift der Beitrag weiter und thematisiert die grundsätzliche Bedeutung des Blicks und von Sichtbarkeit für die Konstitution behinderter Körper. Am Beispiel der Kriegsversehrten nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg werden ästhetische, aber auch physiologische Körpernormen in ihrer historischen Spezifität rekonstruiert, wobei der Analysefokus auf dem Umgang mit Kriegsversehrten in der deutschen FKK-Bewegung liegt. Zum einen ist »das Nudistencamp« ein geradezu exemplarischer Ort, um die sozialen Prozesse körperlicher Normalisierung und Marginalisierung als unhintergehbar erscheinen zu lassen, da hier die uneingeschränkte Sichtbarkeit des Körpers herrscht. Zum anderen stellt der kriegsversehrte Körper mit seiner im Krieg ›unverschuldet‹ erworbenen Behinderung eine besondere Zurechnungsform körperlicher Abweichung und somit ein moralisches Bewertungsproblem dar, das kollektiv wie individuell gleichermaßen von Bedeutung ist und somit der Diskursivierung bedarf. Aus einer normalismusanalytischen Perspektive wird erkennbar, wie im Diskurs der FKK-Bewegung der normalisierende Blick die körperlichen Entstellungen der Kriegsversehrten als Zeichen innerer Schönheit und Reife umdeutet – z.B. als Narben, die als »Ehrenzeichen« auf den durchlittenen Kampf verweisen. Deutlich wird aber auch, wie in diesem Diskurs nicht nur ästhetische Normierungen, sondern auch motorisch-funktionale, d.h. physiologische Leistungsnormen angewandt werden. Unabhängig davon, ob man diese Debatten – nach Jürgen Link – dem flexiblen Normalismus zuordnet oder aber das Festhalten an Naturnormen seitens der FKK-Bewegung als ein protonormalistisches Festklopfen flexibilisierter Normalitätsgrenzen versteht, scheint die zweidimensionale, ästhetisch-formale wie morphologisch-funktionale Konstitution von körperlicher Abweichung, wie sie hier am Beispiel der Kriegsversehrung herausgearbeitet wird, bis in die heutige Zeit virulent zu sein. Unter der Überschrift »Behinderung in Diskursen und Interaktionen. Medizinische Praxis, Selbstbestimmung im Alltag und biographische Erfahrung« thematisieren im vierten Teil des Bandes drei Beiträge die Frage, wie Behinderung im konkreten sozialen Austausch zwischen Akteuren hergestellt und prozessiert wird. Entlang ethnographischer Beschreibungen nimmt Siegfried Saerberg die Leserinnen und Leser mit auf die Straße und in einen Hauptbahnhof, um die Weltwahrnehmung aus der Perspekti-
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ve eines Blinden zu verdeutlichen. Demgegenüber – gleichsam als Kontrastfolie – lernen sehende Leser und Leserinnen aber auch ihren eigenen, wohlvertrauten Wahrnehmungsstil noch einmal neu kennen, indem dieser anhand einer Analyse einer Dunkelausstellung, in der sich Sehende ohne ihren Sehsinn zurechtfinden müssen, gleichsam als »incongruity-experiment« (Harold Garfinkel) erörtert wird. Ausgehend von der Alltagsphänomenologie nach Alfred Schütz und der Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys vermittelt der Beitrag anschließend nicht nur die Konstitution von räumlicher (Um-)Welt aus der Perspektive eines Blinden (im Vergleich zur Perspektive Sehender). Vielmehr geht es um die grundlegende Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Konstruktion eines gemeinsamen sozialen Raumes zwischen Blinden und Sehenden in sozialen Begegnungen. Beim alltäglichen ›Nach-dem-Weg-Fragen‹, einer häufig vorkommenden Interaktion zwischen Blinden und Sehenden, wird typisches Wissen um den je anderen generiert, inszeniert und ausgehandelt; es ist dieses Wissen, welches die Interaktion und Kommunikation überhaupt erst möglich macht. In der materialen Rekonstruktion solcher konkreten Interaktionen, in den geschilderten Strategien der Kontaktaufnahme seitens des Blinden und den entsprechenden Reaktionen seitens der Sehenden, wird nicht nur deutlich, dass Sehende bei ihren Wegerläuterungen auf – für Blinde wenig ›sinnvolle‹ – Routinen sehender Raumkonstruktion zurückgreifen: das Zeigen der Richtung mit der Hand, verbale Richtungsangaben, sichtbare Landmarken und standardisierte Floskeln (»einfach immer geradeaus«). Vor allem zeigt sich auch, dass die unterschiedlichen Perspektiven und Relevanz-Inkongruenzen auf Seiten des Blinden Reparaturtechniken erfordern. Alternative Strategien der Konstruktion eines wie auch immer gearteten gemeinsamen sozialen Raumes müssen ausgehandelt werden, damit eine brauchbare Wegauskunft erfolgen kann. Schließlich ist mit solchen unterschiedlichen Relevanzsystemen und Standpunkten wie von Blinden und Sehenden auch die Frage verbunden, welche in der Interaktion verfolgte Selbstinszenierungen zur Geltung kommen können. Ebenfalls um das behinderte Selbst in konkreten Alltagssituationen dreht sich die von Karsten Altenschmidt und Lakshmi Kotsch präsentierte Analyse. Am Beispiel einer videografisch dokumentierten Szene einer Frühstückszubereitung wird untersucht, wie in der Persönlichen Assistenz körperbehinderter Menschen selbstbestimmtes Handeln interaktiv hergestellt und aufrechterhalten wird bzw. woran solche Handlungsentwürfe auch scheitern können. Das Modell der Persönlichen Assistenz, wie es von der emanzipatorischen Behindertenbewegung als Gegenentwurf zum herkömmlichen Unterstützungsarrangement in klassischen Hilfsinstitutionen entwickelt wurde, stellt assistenzbedürftigen Menschen mit Behinderung assistierende Personen zur Seite. Gemäß dem Postulat, dass auch bei umfänglichen Hilfe- und Unterstützungsbedarfen institutionell produzierte Ohnmachtserfahrungen, Fremdbestimmtheit oder gar Entwürdigung nicht
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22 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider zwangsläufig die Folge sein müssen, sondern im Gegenteil autonomes und selbstbestimmtes Handeln innerhalb der eigenen lebensweltlichen Bezüge dennoch möglich ist, führen die Assistenten alltägliche Tätigkeiten gemäß präziser, häufig auch minutiöser Anleitung nach den Vorgaben des behinderten Menschen aus. Die mit dem Assistenzmodell verbundene spezifische »Interaktionsordnung« (Erving Goffman) beinhaltet also die radikale Abkehr von einer asymmetrischen Pflegebeziehung, bei der die professionelle Pflegekraft mit ihrem professionellen Wissen die Situationsdefinition in der Hand hat und die Interaktion im Wesentlichen anleitet. Dagegen wird in dem an Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen orientierten Assistenzmodell von den Assistenznehmern und -nehmerinnen selbst bestimmt, welche Assistenten welche Arbeiten auf welche Weise durchführen. Der Beitrag macht in Anlehnung an Goffman darauf aufmerksam, dass der besondere Rahmen (frame) des Assistenzmodells spezifische Selbsttechniken auf beiden Seiten erfordert, schließlich erfolgen in jeglicher Interaktion immer auch Selbstdarstellungen, so dass die Identität der Akteure wechselseitig zur Disposition steht. Gezeigt werden kann, dass in alltäglichen Handlungsvollzügen der Assistenzbeziehung spezifische Interaktionsstrategien zur Anwendung kommen, die dazu beitragen, Probleme der Über- und Unterordnung wie auch der Bevormundung oder Widerständigkeit in situ zu lösen. Sie gewährleisten, dass in der Assistenzsituation nicht allein eine praktische ›Ent-Hinderung‹ der Person mit Assistenzbedarf durch Unterstützung im Handlungsvollzug erfolgt, sondern auch die ›Selbst-Erfahrung‹ von Autonomie in und durch (assistiertes) Handeln realisiert werden kann. Sowohl die Selbstwahrnehmung behinderter Frauen und Männer als auch der medizinische Diskurs sind die Grundlage der von Walburga Freitag präsentierten Untersuchung über die Konstruktion und Normalisierung contergangeschädigter Körper. Zum einen liefert der Beitrag eine Foucault’sche Diskursanalyse der Orthopädie, die nach der auffälligen Häufung von Geburten mit ähnlichen Anomalien zu Beginn der 60er Jahre diskursiv den Contergangeschädigten als eigenen Missbildungstyp konstituierte; kontrastierend dazu gewährt er anhand einer an Fritz Schütze ausgerichteten biographieanalytischen Studie Einblicke in die biographische Selbstpräsentation körperbehinderter Menschen. Im Kern geht es um das Verhältnis zwischen zwei Wissenstypen: das wissenschaftlich als ›wahr‹ gesetzte Wissen der Orthopädie und das biographisch ›wahre‹ Wissen der Contergangeschädigten, die als Erwachsene auf Kindheit und Lebenswege zurückblicken. Der Beitrag rekonstruiert, welche Bezeichnungsund Normalisierungspraktiken die medizinische Disziplin für die contergangeschädigten Kinder entwickelte und welche biographische Bedeutung diese aus der Perspektive derjenigen gewannen, denen der Diskurs galt. Deutlich wird, wie im damaligen Professionsdiskurs das Phänomen entlang spezifischer Ein- und Ausschlusspraktiken produziert wurde, die da-
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rauf abzielten, den Zusammenhang mit der Arzneimittelproduktion zu verschleiern. Außerdem beeinflussten professionspolitische Interessen von Chirurgie und Orthopädie die Entwicklung konkreter Normalisierungspraktiken, etwa die Frühprothetisierung der geschädigten Kinder. Dagegen zeigt das biographische Material, dass die Betroffenen nicht die medizinisch bevorzugten Begriffe Dysmelie und Thalidomid-Embryopathie verwendeten, sondern eigene Bezeichnungen, und dass sich eine eigene Kultur von ›Behindert-Sein‹ infolge von Contergan entwickeln konnte. Erkennbar werden biographische Positionierungen, die sich gegenüber den medizinischen Normalisierungspraktiken als widerständig erweisen und z.B. (aufgezwungene) Prothetisierungen verweigern, weil diese sich nicht mit dem eigenen Begehren und dem biographischen Eigensinn – etwa Wünschen nach Mobilität, Anerkennung und positivem Körpergefühl – in Übereinstimmung bringen lassen. Im Ergebnis demonstriert die zweiseitig angelegte Analyse, dass und wie das »Zur-Welt-Sein« (Maurice Merleau-Ponty) eines jeden Menschen sowohl auf eine kulturelle wie auch auf eine biographisch-individuelle (Körper-)Geschichte mit ihren je eigenen Verflechtungen verwiesen ist. Der fünfte und abschließende Teil des Bandes versammelt unter der Überschrift »Behinderung und sozialer Status. Institutionen der Inklusion/Exklusion« drei Beiträge, in denen aus unterschiedlichen Perspektiven die Praxis der institutionalisierten Besonderung von als ›behindert‹ etikettierten Menschen mit entsprechenden Ungleichheitseffekten in den Blick genommen wird. Gudrun Wansing zeigt in ihrem Beitrag, inwieweit Lebensläufe von Menschen mit Behinderung in modernen Gesellschaften sowohl durch Inklusion als auch durch Exklusion gekennzeichnet sind. Im Anschluss an Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie werden zunächst die modernen Bedingungen von Inklusion und Exklusion dargestellt, gefolgt von einer Diskussion der mit der Lebenslage Behinderung verbundenen Risiken in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen. Wenn für die moderne Gesellschaft kennzeichnend ist, dass Menschen nicht mehr in der Gesamtheit ihrer Lebensführung integriert werden, sondern unterschiedliche gesellschaftliche Funktionssysteme und ihre Kommunikationszusammenhänge die jeweils funktional ausschnitthafte Teilhabe von Personen steuern, ist zu klären, wie Menschen ›als Behinderte‹ in welche gesellschaftliche Teilsysteme integriert werden. Auf der Basis eines Konzepts, das das Exklusionsrisiko ›Behinderung‹ für verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme spezifiziert, kann gezeigt werden: Menschen mit Behinderung sind eben nicht sozial exkludiert in dem Sinne, dass sie sich außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Kommunikationszusammenhänge befänden. Nicht ein prinzipieller Mangel an Inklusion scheint die Problemlage von Menschen mit Behinderung zu kennzeichnen, sondern die Art und Weise ihrer besondernden Inklusion. Mit anderen Worten: Im Falle von ›Behinderung‹ ist Exklusion nicht die Folge mangelnder Inklusion, sondern die Folge von bestimmten
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24 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider Formen von Inklusion. Auf der Ebene individueller Lebensverläufe entstehen so typische Exklusionskarrieren von ›Behinderten‹; im Zusammenspiel verschiedener, voneinander unabhängiger gesellschaftlicher Teilsysteme mit je eigenen Inklusionsoperationen führen sie (als gleichsam paradoxe Effekte) zur Verfestigung von Ungleichheitslagen. Mitunter sind es gerade auch jene wohlfahrtsstaatlichen (kompensatorischen) Instrumente der Exklusionsbearbeitung, die in ihren (Neben-)Wirkungen die Probleme von Menschen mit Behinderung nicht lösen, sondern teilweise in paradoxer Weise überhaupt erst schaffen und zementieren. Im nächsten Beitrag fasst Michael Maschke ›Behinderung‹ aus sozialpolitischer Perspektive als Ungleichheitsphänomen. Die Ungleichheit besteht für ihn in einer Einschränkung der Lebenschancen, die wohlfahrtsstaatlicher Korrekturen bedarf. Er diskutiert verschiedene Konzepte sozialer Ungleichheit – Armut bzw. Deprivation, soziale Exklusion und Diskriminierung – und untersucht ihre spezifische Bedeutung für behinderte Menschen. Hierbei zeigt sich, dass sich das soziale Problem ›Behinderung‹ je nach Ungleichheitskonzept anders konstituiert; auch wird die jeweilige Ungleichheit von den beteiligten Akteuren als unterschiedlich legitim bzw. illegitim eingeschätzt, und es werden unterschiedliche Formen staatlichen Handelns präferiert. So erfassen z.B. herkömmliche Methoden der Armutsmessung nur einen Teil der Problemkonstellation und vernachlässigen die dynamische Qualität der Lebensläufe behinderter Menschen, während der Begriff der sozialen Exklusion ›Behinderung‹ deutlicher als mehrschichtiges, institutionelles Problem auch in seiner Prozessqualität erfassen kann. Ähnlich verweist das Konzept ›Diskriminierung‹ – verstanden als jede Form von Benachteiligung, Nichtbeachtung, Ausschluss oder Ungleichbehandlung auf Grund horizontaler Ungleichheiten – auf die Praxis der Einschränkung von Lebenschancen bestimmter Personengruppen auf Grund (generell) zugeschriebener und/oder in einem spezifischen Zusammenhang nicht relevanter Merkmale. Alle drei Ungleichheitsdimensionen sind miteinander verbunden: Diskriminierung kann die Ursache für Armut oder Deprivation sein und ist in der Praxis oft mit sozialer Exklusion verbunden. Auf politischer Ebene korrespondieren diese unterschiedlichen Konzepte mit verschiedenen politischen Strategien der Bearbeitung – so z.B. Kompensation, Rehabilitation und Integration bei Armut und Deprivation bzw. Partizipation, Inklusion und Gleichstellung bei sozialer Exklusion und Diskriminierung. Solche politischen Antwort-Strategien sind niemals ›neutral‹, sondern immer mit spezifischen Interessen verbunden und weisen somit auch unterschiedliche Chancen und Risiken ihrer praktischen Umsetzung im politischen Kontext aus. Justin Powell untersucht schließlich die Institutionalisierung von ›schulischer Behinderung‹, indem er die föderalistischen Schulsysteme in Deutschland und den USA miteinander vergleicht und die jeweiligen sonderpädagogischen Fördersysteme und ihre historische Entwicklung mittels
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einer neo-institutionalistisch orientierten Rekonstruktion analysiert. Zwar wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts ›schulische Behinderung‹ als relevantes Konzept und pädagogisches Handlungsfeld in den deutschen und USamerikanischen Schulsystemen stetig etabliert, verallgemeinert und verteidigt; mithin wurde die schulische Exklusion von als behindert wahrgenommenen Kindern im Sinne ihres generellen Ausschlusses aus dem Bildungswesen überwunden. Doch trotz vielfältiger Bestrebungen sozialer Gruppen und entsprechender gesetzlicher Regelungen zur Förderung schulischer Integration und Inklusion ist in beiden untersuchten Staaten die institutionalisierte Segregation oder Separation für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die als behindert gelten, nach wie vor konstitutiv. Das dominierende Motto lautet: Schulische Bildung ja, aber in eigenen Organisationsformen und mit niedrigem Status. Entsprechend dieser Entwicklung fasst der Beitrag schulische Behinderung konsequenterweise als einen sich kontinuierlich ausbreitenden Prozess des ›Behindert-Werdens‹, der durch die offizielle Klassifizierung und Beschulung in räumlich getrennten, stigmatisierenden Einrichtungen aufrechterhalten wird: Behinderung in der Schule ist also ein ›Behindert-Werden‹ durch Schule infolge von Aussonderung und Stigmatisierung, mit eindeutig messbaren Effekten der Einschränkung von Lernmöglichkeiten für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Deutlich wird vor allem die enorme Trägheit der Institution schulische Behinderung. Obwohl in den USA wie auch in Deutschland längst Modellprojekte und Programme zur schulischen Inklusion und Integration Erfolg versprechende Ergebnisse produziert haben, hat sich – wie der Beitrag zeigt – ein umfassender Paradigmenwandel noch nicht vollzogen. Immer noch mangelt es an einem Verständnis von Behinderung, mit dem die schwerwiegenden Konsequenzen schulischer Behinderung für den individuellen Lebensverlauf und die soziale Teilhabe erkannt und der Prozess der Deinstitutionalisierung – als bildungspolitische Agenda hin zu mehr schulischer Inklusion – weiter vorangetrieben werden könnte.
Danksagung Abschließend möchten wir uns bei all jenen bedanken, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Dabei gilt unser besonderer Dank als Herausgeber zum einen Sylvia Zirden und Annette Wunschel für sorgfältiges und zuverlässiges Lektorat; zum anderen wäre diese Anthologie in der vorliegenden Form ohne das Engagement des Verlags und die großzügige Förderung durch die Aktion Mensch nicht zustande gekommen, hierfür ein herzlicher Dank an unsere Kooperationspartner, insbesondere Karin Werner und Heike Zirden. Köln/Augsburg, im Februar 2007
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28 | Anne Waldschmidt, Werner Schneider Shakespeare, Tom (Hg.) (1998): The Disability Reader. Social Science Perspectives, London/New York: Cassell. Shakespeare, Tom (2006): Disability Rights and Wrongs, London/New York: Routledge. Thimm, Walter (Hg.) (1975): Soziologie der Behinderten. Materialien, 3. Aufl., Neuburgweier/Karlsruhe: G. Schindele. Wacker, Elisabeth/Wedel, Ute (1999): »Behindertenhilfe und Soziologie im Dialog. Auf den Spuren einer Fachdisziplin und ihrer Leistungen für die Behindertenhilfe in den vergangenen vier Jahrzehnten«. In: Geistige Behinderung 38, S. 30-55. Waldschmidt, Anne (Hg.) (2003): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel: Bifos. Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (2003): »Soziologie der Behinderung. Aktueller Stand und Perspektiven einer speziellen Soziologie«. In: Jutta Allmendinger (Hg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002. 2 Bde. + CD-ROM: Arbeitsgruppen-, Sektionssitzungs- und Ad-hoc-Gruppenbeiträge, Opladen: Leske und Budrich. Zola, Irving Kenneth (1972): »Medicine as an Institution of Social Control«. In: The Sociological Review o. Jg., S. 487-504.
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I. Körper, Macht/Wissen und die Praxis von Behinderung. Theoretisch-analytische Grundlagen der Disability Studies
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Der ›behinderte‹ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung Robert Gugutzer und Werner Schneider »Mein Körper ist das genaue Gegenteil einer Utopie, er ist niemals unter einem anderen Himmel, er ist der absolute Ort, das kleine Stück Raum, mit dem ich buchstäblich eins bin. Mein Körper ist eine gnadenlose Topie.« (Foucault 2005: 25)
1. ›Normkörper‹ und ›behinderter‹ Körper Das Alltagswissen versorgt uns gleichsam sprichwörtlich mit einer Reihe von Selbstverständlichkeiten über uns als Individuen, als ›verkörperte Selbste‹: So könne z.B. niemand aus seiner Haut, der Körper würde gar verraten, was Worte verschweigen u.a.m. Solche mehr oder weniger geläufigen Redewendungen zum Körper in seinem Verhältnis zum Selbst scheinen seine im Eingangszitat enthaltene Kennzeichnung zu bestätigen. Der Körper wird von uns erfahren als der absolute Ort, aus dem es kein Entrinnen gibt. Er gilt als der für den anderen wahrnehmbare Raum, mit dem ich eins bin und der mich und mein Selbst in unvermeidlicher Materialität ihm gegenüber zum Ausdruck bringt. Und er ist die »gnadenlose Topie«, die mir als immer schon gegebene Voraussetzung sowie als unvermeidliche Folge meines Tuns mein eigenes Selbst erfahrbar macht, spürbar werden lässt. Daraus abzuleiten, es gäbe über den menschlichen Körper nicht viel mehr zu sagen, als dass er lediglich im Sinne einer unhintergehbaren Voraussetzung jeglicher menschlicher Existenz immer schon gegeben sei, wäre jedoch falsch. Vielmehr ist der menschliche Körper Effekt vielfältiger ›Normalisierungspraktiken‹ (Foucault 2003; Waldschmidt 2007a): Erst die
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32 | Robert Gugutzer, Werner Schneider normierende Differenzsetzung zwischen so genannten normalen und abweichenden, anormalen Körpern, gekennzeichnet etwa durch körperliche Besonderheiten, erkennbare Defizite, ›Abnormitäten‹, die in ein Bewertungsverhältnis zu den jeweils herrschenden Normalitäten – dem ›Normkörper‹ – gebracht werden, konstituiert seine vermeintliche biophysische Gegebenheit. Mit dieser Sichtweise ist nicht zuletzt im Zuge der Diskussion um die Disability Studies die Vorstellung des ›defizitären‹ Körpers zur Disposition gestellt worden: jenes Körpers, der aufgrund seiner Abweichung von als natürlich gesetzten (Körper- und Sinnes-)Funktions- und Vollständigkeitsvorgaben als unhinterfragter Ausgangspunkt des Phänomens ›(körperlicher) Behinderung‹ galt. An die Stelle einer naturalisierten Setzung körperlicher Beeinträchtigung tritt zunehmend die Forderung nach einer theoretischen Fassung von Körper und Körperlichkeit als Differenzkonzept von Normalität, Abweichung und Behinderung. Dieses Konzept soll Aufschluss über die gesellschaftlichen Prozesse der Herstellung des ›behinderten‹ Körpers (als eine Erscheinungsform von normabweichenden Körpern) in seinem Verhältnis zum Normkörper und zum Selbst geben. Zu klären ist also, welcher theoretische Stellenwert dem Körper bei der Analyse der gesellschaftlichen (Re-)Produktion des sozialen Phänomens ›Behinderung‹ und bei der damit einhergehenden sozialen Konstitution von verkörperten Selbsten, von Subjektivitätstypen – dem Behinderten, dem Nicht-Behinderten – zukommt. Auch wenn Behinderung im Kontext der Disability Studies allgemein als verkörperte Differenz zu fassen ist (Waldschmidt 2007b), in deren Rahmen z.B. auch psychische Beeinträchtigungen, chronische Krankheiten, Verhaltensauffälligkeiten u.a. als praktische Verkörperungen von Abweichung zu rekonstruieren wären, liegt der Fokus in diesem Beitrag – nicht zuletzt aus Platzgründen – auf Körperbehinderung im engeren Sinn. Denn das hier verfolgte Ziel liegt darin, den (behinderten) Körper entlang theoretischer Fundamente aus der Körpersoziologie für den Kontext der Disability Studies analytisch so zu dimensionieren, dass daran sowohl die theoretische Reflexion als auch empirische Forschung mit unterschiedlichen Frageperspektiven orientiert werden können. Dazu zeigen wir in Kap. 2 zunächst, welchen Stellenwert der Körper in der aktuellen Diskussion über Behinderung im Kontext der Disability Studies hat, um dann in Kap. 3 einen Vorschlag zur Dimensionalisierung eines körpersoziologisch basierten analytischen Zugangs zum behinderten Körper zu präsentieren. Kap. 4 beschließt den Beitrag mit einigen wenigen Anmerkungen zum gesellschaftstheoretischen und zeitdiagnostischen Potenzial des behinderten Körpers im Verhältnis von Disability Studies und Allgemeiner bzw. Kultursoziologie.
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2. Behinderung, Disability Studies und der ›vergessene‹ Körper Aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive erscheint der menschliche Körper als ein sozial hergestelltes und kulturell geformtes Phänomen. Damit ist grundsätzlich offen, als wie normal oder anormal, als wie vollständig, funktionsfähig, geschädigt oder beeinträchtigt der Körper letztlich definiert und erfahrbar wird. Helmuth Plessners »erste[m] anthropologische[n] Gesetz« zufolge muss der Mensch »von Natur, aus Gründen seiner Existenzform, künstlich« leben (Plessner 1975: 310; vgl. auch Gehlen 1993: 48). Der Mensch ist sowohl ein Naturwesen, insofern er sein Leib ist, wie auch zugleich ein Kulturwesen, insofern er seinen Körper hat. Mit Leibsein meint Plessner das subjektive Erleben des biologisch gegebenen Körpers: Ich bin meine Arme, Beine, Hände, meine inneren und Sinnesorgane, meine Muskeln, Hormone etc., und aufgrund meines Leibseins bin ich räumlich und zeitlich an das Hier-Jetzt gebunden. Meinen biologischen Körper ›habe‹ ich jedoch nicht per se, ich muss vielmehr – über die sozialisatorische Aneignung des gesellschaftlich je vorhandenen Körperwissens – erst lernen, ihn zu erfahren, meine Empfindungen zu deuten und so über ihn verfügen, ihn einsetzen und beherrschen zu können. Dieses Körperhaben – letztlich die Fähigkeit und Notwendigkeit zur verkörperten Selbstverobjektivierung, sich also zu seinem eigenen Körper in einen reflexiven Bezug zu setzen – ist eine lebenslange Lernaufgabe, die immer schon gesellschaftlich kontextuiert und kulturell vermittelt ist. Denn – so Mary Douglas: »Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest.« (Douglas 1974: 99) Was immer wir von unserem Körper wissen, welche Bedeutung wir ihm zuschreiben, was wir mit ihm tun, wie wir ihn leibhaftig empfinden, spüren und das als ›natürlich‹ Erfahrene unseres Körpers – unser leibliches Sein – bewerten, ist von den je herrschenden gesellschaftlichen Werten und Normen, den verfügbaren Technologien sowie den dazugehörenden institutionellen Strukturen und Praktiken geprägt. In diesem Sinn waren und sind das Phänomen ›körperliche Behinderung‹ und die Lebenssituation (körper-)behinderter Menschen in Deutschland – wie Anne Waldschmidt (2005) zeigt – vorzugsweise ein Feld, mit dem sich so genannte Anwendungswissenschaften wie insbesondere Medizin, Psychologie, Heil- und Sonderpädagogik beschäftigen. Mit Mary Douglas gesprochen rückt dieser anwendungsbezogene Blickwinkel den Körper primär als physisches Gebilde in den Vordergrund. In der Fokussierung auf körperliche Defizite, Schädigungen oder Beeinträchtigungen wird der behinderte Körper – in Abgrenzung zum normalen (vollständi-
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34 | Robert Gugutzer, Werner Schneider gen, funktionsfähigen) Körper – als augenfälliger Marker für Auffälligkeit und Abweichung sowie als Gegenstand und Adressat einer präventiv, therapeutisch oder rehabilitativ orientierten Praxis konstituiert. In der Gleichsetzung von Behinderung mit körperlicher Schädigung bzw. funktionaler Beeinträchtigung zielt die institutionelle Praxis darauf, den Behinderten so weit wie möglich an seine Normal-Umwelt anzupassen. Während in diesem Feld der als defizitär deklarierte Körper als ursächlich gegeben vorausgesetzt und so die negative Bewertung von Behinderung gleichsam ›natürlich‹ legitimiert wird – eine Sichtweise, die sich noch bis hinein in die jüngsten WHO-Klassifikationen nachzeichnen lässt (Hirschberg 2003: 117ff.) –, nehmen die Disability Studies einen anderen Blickwinkel ein. Der behinderte Körper erscheint dort nicht mehr einfach als biophysisch gegebene Voraussetzung einer ›behinderten‹ Lebenssituation, sondern wird gemäß einer sozial-/kulturwissenschaftlichen Perspektive als gesellschaftlich-historisches Produkt gefasst, dessen Entstehungsbedingungen, Normierungen und praktische Formierungen es zu rekonstruieren und damit zu deontologisieren gilt. Diese Betrachtungsweise rekurriert dabei u.a. auf aktuelle Konzepte aus den Debatten um Poststrukturalismus und Cultural Studies, nach denen Körper, Subjekte und Identitäten als historisch und kulturell kontingente Phänomene zu verstehen sind (Waldschmidt 2005).1 Damit wird bereits deutlich, dass sich Forschung im Feld der Disability Studies eben nicht auf Forschung über Behinderung reduzieren lässt, sondern das gesellschaftliche Verhältnis von Behinderung/Nicht-Behinderung als historisch-kulturell geformt und in seinen Konsequenzen für soziale Beziehungen zwischen verkörperten Subjekten ins Zentrum rückt. Doch welcher Stellenwert kommt dabei dem behinderten/nicht behinderten Körper zu, und wie wird er analytisch in den Blick genommen? Als Gegenmodell zum medizinisch dominierten, vom ›klinischen Blick‹ (Foucault 1988b) bestimmten ›individualistischen Rehabilitationsparadigma‹ (Waldschmidt 2005: 15ff.) setzen die Disability Studies ein soziales Modell von Behinderung. Entlang der Unterscheidung von ›impairment‹ und ›disability‹ erscheint Behinderung in diesem Modell nicht als Ausdrucksform medizinischer Pathologie, sondern als soziales Phänomen, als Resultat sozialer Prozesse, die ›behindert machen‹. Diente im individualistisch-medizinischen Modell noch der defizitäre Körper als Ursache von Behinderung, rückt an seinen Platz im sozialen Modell nun ›die Gesellschaft‹, d.h. die soziale Organisation und institutionalisierte Praxis von Behinderung. Behindert ist man nicht aufgrund körperlicher Eigenschaften und Merkmale, sondern behindert wird man aufgrund von sozialen Prozessen der Ausschließung und Besonderung – von baulichen Zugangsbarrieren in öffentlichen Gebäuden etwa bis hin zum Behindertenausweis. Dieser Fokus auf Behinderung als soziales Problem transportiert jedoch in der Unterscheidung von impairment und disability weiterhin jene bereits
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von Plessner negierte »krude Dichotomie« (ebd.: 20) von Natur und Kultur, mit der der (verletzte, beschädigte) Körper als biophysische Gegebenheit vorausgesetzt und nicht als ebenfalls sozial hergestelltes physisches Gebilde verstanden wird. Auch im sozialen Modell fungiert der Körper lediglich als nicht weiter hinterfragter, analytischer Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der sozialen Prozesse der Deutung, Bewertung und Behandlung von normaler/abweichender Körperlichkeit. Die empirische Frage nach dem Verhältnis von sozialer Benachteiligung und Körperlichkeit als verkörperte Fremdwahrnehmung und als leiblicher Selbstbezug bleibt im Hintergrund (vgl. auch Hughes/Paterson 1997). Mit dem von Waldschmidt (2005: 24ff.) ergänzend präsentierten kulturellen Modell, welches Behinderung nicht mehr von vornherein als Problem, sondern als eine spezifische Form der Problematisierung von körperlicher Differenz fasst, verschiebt sich der Analysefokus einerseits noch deutlicher auf die Re- und Dekonstruktion der am Körper ansetzenden institutionellen Praktiken und der dahinterstehenden Werte, Normen und Deutungen. Gefragt wird dabei nach dem Zusammenspiel zwischen den vorherrschenden Deutungen von körperlicher Normalität/Anormalität und den jeweiligen stigmatisierenden Praktiken, den Prozessen der Ein- und Ausschließung der als behindert definierten Subjekte. Andererseits rückt dieses Modell die Frage nach der Bedeutung von Körpern im Sinne von damit einhergehender gesellschaftlich-kulturell vermittelter und verkörperter Selbst-Erfahrung in den Vordergrund. Welche Fremd- und Selbstzuschreibungsprozesse von Behinderung gehen mit welchen verkörperten Identitätsmustern und leibbezogenen Subjektbildungsprozessen einher (vgl. z.B. auch Bruner 2005)? Diese analytische Stoßrichtung relativiert zwar zunächst die Körpervergessenheit des sozialen Modells, aber auch hier ist noch nicht weiter präzisiert, wie der behinderte/nicht behinderte Körper gemäß einer solchen Perspektive als verkörperte Differenz konzeptionell zu fassen ist. Zusammengefasst entsteht nach dieser kurzen Durchsicht zu den vorherrschenden Modellen von (körperlicher) Behinderung der Eindruck, dass keineswegs von dem vergessenen Körper die Rede sein kann. Vielmehr treten je nach in Anschlag gebrachtem Behinderungsmodell verschiedene (behinderte) Körper hervor, während andere eher verdeckt bleiben. Zum einen ist es der Körper als physisches Gebilde, der mit bestimmten materialen Eigenschaften und Kennzeichen als ›defizitärer Körper‹ überhaupt erst bestimmte Praktiken initiiert. Zum anderen konstituiert umgekehrt diese soziale Praxis von Behinderung erst den ›behinderten Körper‹ als soziales Gebilde. Hinter beidem stehen kulturell und historisch kontingente symbolische Ordnungen von Normen, Werten, Deutungen, die die gesellschaftliche Wahrnehmung von ›anderen Körpern‹ als Differenzsetzung zwischen Normalität und Abweichung sowie die darauf bezogenen institutionellen Praktiken orientieren, anleiten und legitimieren. Schließlich kon-
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36 | Robert Gugutzer, Werner Schneider turieren sich in und durch diese Ordnungen und ihre Praktiken jene körperlich-leibbezogenen Selbstverständnisse und Subjektkonstitutionen des Nicht-behindert-Seins/Behindert-Seins, die mit der subjektiven Erfahrung des Körperhabens und Leibseins einhergehen. Ausgehend von dieser kurzen Zusammenschau soll im nächsten Schritt erörtert werden, wie der (nicht behinderte/behinderte) Körper im Rahmen ausgewählter körpersoziologischer Überlegungen zu den genannten Aspekten – also zum Verhältnis von Körper, Wissen, Praxis und Selbst – für die Disability Studies präzisiert werden kann.
3. Der (nicht behinderte/behinderte) Körper als soziologischer Gegenstand Bryan S. Turner hat in seinem Aufsatz »Disability and the Sociology of the Body« (2001: 253ff.) im Rahmen der Soziologie des Körpers zwei voneinander zu unterscheidende Sichtweisen benannt. Auf der einen Seite steht für ihn die Foucault’sche Perspektive, die anhand des Konzepts der ›governmentality‹ – den am gesellschaftlichen Kollektivkörper wie am individuellen Körper ansetzenden Fremd- und Selbstführungsstrategien – auf die diskursiv vermittelte Produktion von disziplinierten und normalisierten Körpern gerichtet ist. Gerade im Hinblick auf den behinderten Körper unterliegt diese Perspektive jedoch – seiner Ansicht nach – dem Paradox, dass »the specific character of embodiment in the everyday lives of people who are regarded as disabled disappears because the ›body‹ appears as only a phantasm that is produced by the discourses and practices of ablement« (ebd.: 254). Dem gegenüber steht für ihn die – vor allem an Maurice Merleau-Ponty orientierte – phänomenologische Perspektive auf den Körper, die sich auf die alltäglichen lebensweltlichen Prozesse und Erfahrungsweisen von Körperlichkeit als ›embodiment‹ konzentriert. Turner zufolge kann damit das Zusammenspiel im Auge behalten werden zwischen dem »objectified body of medical discourse, the phenomenal body of every day experience and the body image that, as it were, negotiates the social spaces between identity, experience and social relationships« (ebd.). Ohne hier näher auf die von Turner argumentierte Gegenüberstellung einzugehen, wollen wir im Folgenden den von ihm gegebenen Hinweis auf eine mögliche Vermittlung der beiden – gemeinhin als »incommensurable« (ebd.: 255) betrachteten – Positionen aufgreifen und den analytischen Zugriff auf den behinderten Körper über eine wissenssoziologisch-diskurstheoretisch orientierte sowie leibphänomenologisch ausgerichtete Körpersoziologie adressieren. Dabei gehen wir – erstens – von einem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft aus, wonach der menschliche Körper analytisch sowohl als Produkt wie auch als Produzent von Gesellschaft zu fassen ist. Zweitens orientieren wir uns entlang
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der Differenz von Normkörper, abweichendem Körper, behindertem Körper an der analytischen Unterscheidung von Körperdiskurs, Körperpraxis und Körpererfahrung als zentrale Analysedimensionen für Körper/Körperlichkeit.2
3.1 Körperdiskurs: Der ›behinderte‹ Körper und ›der Behinderte‹ als diskursiver Effekt Die Rede vom Körper als Produkt von Gesellschaft lässt sich – in Anlehnung an Michel Foucault – wissenssoziologisch-diskurstheoretisch mithilfe der analytischen Kategorie ›Diskurs‹ präzisieren. Gemeinsame Werte, kollektive Deutungsmuster, Alltagsvorstellungen, die mit dem Körper verbunden sind, sowie die damit einhergehenden Normierungen, institutionellen Handlungsvorgaben für Laien wie für ›Körperexperten‹ sind Resultate der diskursiv vermittelten und jeweils dominanten Wissenspolitiken. Diskurs, als eine »Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören« (Foucault 1981: 156), bezeichnet dabei ganz allgemein die Gesamtheit »eine[r] nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare[n] Aussagepraxis bzw. die Gesamtheit von Aussageereignissen« (Keller 2005: 229), mit der je spezifische Wissensordnungen prozessiert und als ›Wahrheit‹ (als geltendes Wissen) durchgesetzt werden. Diskurse können somit als Materialisierung dessen verstanden werden, was in einer Gesellschaft oder Kultur zu einer bestimmten Zeit gesagt und gedacht wird (vgl. Bublitz 2003: 21). In diesem Sinne ist die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit im engeren Sinne eine diskursive Konstruktion (vgl. hierzu auch Burr 1995). Das Verständnis von Körper/Körperlichkeit als Produkt von Gesellschaft besagt demzufolge: Das, was wir als Körper für-wahr-nehmen, als Leib erfahren und in und durch unser Handeln als ›Wahrheit des Körpers‹ wirklich (also handlungswirksam) werden lassen, gründet in den entsprechenden diskursiven Prozessen. Diskurse sind demnach nicht als ein ›Sprechen über Dinge‹ zu verstehen, sie bilden Realität nicht einfach sprachlich ab, sondern Diskurse sind als »Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1981: 74). In diesem Sinne versteht Foucault Diskurse als diskursive Praktiken,3 die einen performativen Charakter haben: Sie bringen das, was sie bezeichnen, erst hervor (vgl. dazu auch Butler 1997: 22; ebenso Bublitz 2003: 60ff.). Nicht die Gegenstände, Objekte (z.B. der trainierte, gesunde, schöne Körper, der kranke Körper, der behinderte Körper) bestimmen also die über sie geführten Diskurse, sondern umgekehrt. Diskurse produzieren, formen ihre Objekte, ihre Gegenstände – z.B. den durchtrainierten Körper, das Sich-fit-und-sportlich-Fühlen, den defizitären Körper, ein Sich-krank-, -behindert-Fühlen –, indem sie entlang ›machtvoller Regeln‹ über sie sprechen. Darin bestimmen diese (Aussage-)Regeln, über was in welchem Dis-
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38 | Robert Gugutzer, Werner Schneider kurs wie gesprochen, was als wahr anerkannt und als falsch verworfen wird (Foucault 1978; Schneider 1999: 79ff.).4 Gemäß dem sozialen und kulturellen Modell von Behinderung wird mit einer solchen diskurstheoretischen Macht-Wissens-Perspektive nicht nur Behinderung, sondern ebenso der Körper mit seinen Eigenschaften und Merkmalen jeglichen Ontologisierungsbestrebungen entzogen. Der Körper erscheint nicht mehr als etwas Vorgängiges, als natürlich Gegebenes mit bestimmten objektiven Kennzeichen, an denen dann gegebenenfalls soziale Prozesse als Bewertungen, Stigmatisierungen, Benachteiligungen anschließen. Vielmehr sind umgekehrt die Vorstellungen, Wahrnehmungen, Bewertungen und Praktiken bezogen auf ›körperliche Behinderung‹, sind Körper und Körperlichkeit selbst gesellschaftliche Produkte im Sinne diskursiver Effekte der je herrschenden, für-wahr-genommenen Deutungsrahmen von körperlicher Normalität und Abweichung. Die diskurstheoretische Rede von vorherrschenden Wissensordnungen (Wissensregimen) verweist auf die machtanalytisch orientierte Frage, woher die jeweiligen Wissensmuster stammen und wie sie – als Wissensbzw. Wahrheitspolitiken – vermittelt, zueinander in Bezug gesetzt und durchgesetzt werden (vgl. Schneider/Hirseland 2005). Indem Diskurse benennen und definieren, was als wahr oder falsch, natürlich oder unnatürlich, gesund oder krank, normal oder behindert zu gelten hat, basieren sie auf Machtrelationen (wer darf als legitimer Sprecher am Diskurs teilnehmen?) und üben (Benennungs- und Definitions-)Macht aus. Benennungsund Definitionsmacht bietet die Möglichkeit der Sichtbarmachung oder der Unsichtbarmachung, der Normierung und Normalisierung, mit ihr lässt sich das Eine einschließen und das Andere, Nicht-Normale, Nicht-Natürliche etc. ausgrenzen. Umgekehrt: Erst durch die Ausgrenzung des Anderen gewinnt das Eigene, das eingeschlossene Normale seine zentrale Position als das Gegebene. Die Positivität der Macht setzt somit das voraus, was sie unterdrückt. Entsprechend verweist der diskursiv konstruierte Normkörper immer auch – mehr oder weniger implizit – auf den diskursiv konstruierten abweichenden Körper (vgl. Bublitz 2003: 73ff.). Allerdings zielt eine solche Analyse des Körperdiskurses keineswegs nur auf die Beantwortung der Frage, welche sozialen Gruppen mit welcher Benennungsund Definitionsmacht ausgestattet sind und die jeweiligen Wissensordnungen mit ihren Deutungsrahmen beeinflussen oder gar bestimmen können. Vielmehr richtet sie sich auf die Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Wissensformen und Erfahrungsweisen. So gilt z.B. Behinderung immer noch als eine von der Norm des Normalen abgeleitete Kategorie, die als eine spezifische Ausdrucksform des Anormalen dem Normalen nach- bzw. untergeordnet wird. Damit erscheint Behinderung als kulturelle Kategorie in gewissem Sinne zwar als ohnmächtig, aber nicht als unwirksam. Denn so gesehen bringt erst die diskursiv produzierte Kategorie ›Be-
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hinderung‹ (körperliche) Normalität als Differenzerfahrung hervor, lässt sie gleichsam für alle Nicht-Behinderten erfahrbar werden. Fasst man Körperbehinderung als ein diskursiv vermitteltes, machtvolles Wissensverhältnis, wird nicht nur die historische und kulturelle Relativität der Kategorien ›Normalität‹/›Abweichung‹/›Behinderung‹ und ›Körper‹ analytisch erschließbar. Mit dem Hinweis auf Differenzerfahrung (vgl. hierzu auch Kap. 3.3) deutet die wissenssoziologisch-diskurstheoretische Perspektive auf den Körper auch auf die raum-zeitliche Situiertheit von verkörperten Selbsten in Interaktionsordnungen gemäß den jeweiligen Situationsdefinitionen. Diskurse formieren mit ihren Wissenspolitiken nicht nur die herrschenden Wissensordnungen, sondern auch die Art und Weise, wie darin sozialisierte Individuen sich selbst und wechselseitig als Subjekte adressieren können/sollen und welche Positionen sie dabei in ihrem sozialen Austausch einzunehmen haben.5 Das heißt: Welche Selbst-Deutungen werden ihnen als eigene Identität institutionell zu- oder aberkannt, aufgezwungen oder angeboten, und wie haben sie sich jeweils als Selbst zu anderen zu positionieren (z.B. als Behinderter zu NichtBehinderten, als Kranker zu medizinischen Professionellen etc.)? Anders formuliert: In der durch soziale und kulturelle Kategorien konstituierten und modifizierten physischen Wahrnehmung des Körpers als (individuelle oder kollektive) Inkorporierung von Körperwissen manifestiert sich – in Fortführung von Mary Douglas’ obiger Formulierung – sowohl eine historisch-kulturell spezifische Gesellschaftsauffassung wie auch eine gesellschaftlich bestimmte Auffassung des Selbst, d.h. dessen, was ein Subjekt als Subjekt auch körperlich kennzeichnet (vgl. Schneider 2005: 375f.). In diesem Sinne ist Gesellschaft – verstanden als (verkörpertes) Bezugsverhältnis zwischen einem Subjekt, einem Ich und anderen – in letzter Konsequenz immer auch verwiesen auf die Leibhaftigkeit ihrer Gesellschaftsmitglieder. Der Körper ist also nicht nur Produkt von Gesellschaft, sondern ebenso sinnhafter Produzent von Gesellschaft, insofern soziales Handeln und soziale Interaktion immer im Medium des wahrnehmbaren und wahrnehmenden, sicht- und spürbaren, bewegten und bewegenden Körpers erfolgt. Damit produziert der Körper in dem hier erläuterten Sinne Subjektivität – z.B. von der kognitiven Selbstzuschreibung als körperbehindert über die Art und Weise der verbalen und nonverbalen Selbstpositionierung in sozialen Interaktionen mit (anders/gleich) Körperbehinderten und Nicht-Behinderten bis hin zur eigenleiblichen Selbsterfahrung als körperbehindertes Individuum. All diese Formen der leibkörperlichen Zuschreibung, Thematisierung und Darstellung eines Selbst finden im Rahmen diskursiv vorgegebener Wissens- und Wahrheitspolitiken statt. Diese stellen den normativen Kontext dar, innerhalb dessen Körperbehinderte ebenso wie Nicht-Behinderte ihr Selbst körperlich-leiblich erfahren, stabilisieren, modifizieren oder neu entwerfen.
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3.2 Körperpraxis: Körperroutinen, verkörperte Selbstdarstellungen und der Körper als Akteur ›Körperpraxis‹ ist zunächst als Oberbegriff von drei analytisch zu unterscheidenden Varianten körperlichen Handelns bzw. Agierens zu verstehen, in denen der Körper als sinnhafter Produzent von Sozialem auf unterschiedliche Arten und Weisen ins Spiel kommt: körperliche Routinehandlungen, körperliche Selbstdarstellungen und körperliches Agieren als körperlicher Eigensinn (vgl. Gugutzer 2006: 17ff.). Wie können entlang dieser Unterscheidung die spezifischen Prozesse körperlicher Differenzsetzungen in den Blick genommen werden, um die (nicht diskursive) praktische Herstellung, Stabilisierung oder den Wandel einer sozialen Ordnung in und durch den (behinderten) Körper zu rekonstruieren? In Bezug auf die Körperroutinen behinderter wie auch nicht behinderter Menschen ist zunächst grundsätzlich festzuhalten, dass der Großteil von sozialen Handlungen insgesamt aus Routinehandlungen besteht (vgl. Giddens 1992: 116ff.). In ihrem Alltag bewegen sich Menschen typischerweise in für sie vertrauten Situationen und Strukturen mit bekannten Personen, Rollenträgern und Gegenständen, was es erlaubt, gewohnheitsmäßig zu handeln. Dies gilt besonders für den privaten Lebensbereich. Handeln erfolgt dort typischerweise durch den Gebrauch von »Routinewissen« (Schütz/Luckmann 1979: 139ff.) wie auch durch die Ausführung körperlicher Routinepraktiken im Rahmen der jeweiligen lebensweltlichen Bezüge. Routinewissen ist dabei immer auch ein inkorporiertes Wissen, ein habitualisiertes Körperwissen (vgl. Bourdieu 1987; 2001), das im Handeln »explizit« bzw. »exkorporiert« (Knoblauch 2005: 99, 104) und damit objektiviert wird. In dieser allgemeinen Hinsicht sind Routinehandlungen für Behinderte wie für Nicht-Behinderte im Medium des jeweiligen Körpers ausgeführte Handlungen, die sich – bezogen worauf auch immer – aufgrund von Wiederholungen zu Gewohnheiten bis hin zu Ritualen verfestigt haben. Die Analyse der konkreten Körperpraktiken zeigt allerdings eine Differenz zwischen Normkörper und behindertem Körper, die sich bereits in dem unterschiedlichen Verhältnis zu den Dingen des Alltags manifestiert. Gegenstände, Objekte, auf die bezogen gehandelt wird, haben nicht einfach nur eine Bedeutung, die sich auch verändern oder – z.B. durch zweckentfremdenden Gebrauch – gezielt abwandeln lässt. Sondern in architektonischen Ausstattungen, Werkzeugen, Gebrauchsgegenständen, Zierrat usw. sind gleichsam das Wissen um ihren Sinn, ihre Bedeutung und die damit verbundenen Handlungsskripte ihres ›rechten Gebrauchs‹ eingelassen bzw. im eigentlichen Wortsinn vergegenständlicht. Damit verbunden ist ebenso die normative Vorgabe eines dementsprechend verkörperten Nutzers, so wie z.B. das Wissen um den rechten Gebrauch einer Schaufel die Vorstellung eines kräftigen, beweglichen Körpers in sich trägt, eine Haar-
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bürste auf langes Haupthaar verweist und eine Lesebrille einen leicht sehbehinderten Angehörigen einer literalen Kultur erfordert.6 Bereits diese wenigen Beispiele zeigen: Alltagsgegenstände haben in der Regel einen Normkörper als Bezugsgröße inkorporiert, nach dem sie konzipiert und konstruiert werden. Treppen zur und Schwellen in der Wohnung, die Breite von Türrahmen, die Höhe von Spülen und Lichtschaltern, Türklingel u.v.a. sind typischerweise auf vollständige und voll funktionsfähige Normkörper abgestimmt, nicht aber auf geh-, seh-, greifoder hörbehinderte Menschen. Diese dinglich-technischen »Partizipanden« (Hirschauer 2004)7 von Alltagsinteraktionen benachteiligen normabweichende Körper durch ihren Zwang zu alternativen Körperroutinen schon in der privaten Umwelt, wo sie jedoch – anders als in der Öffentlichkeit – (leichter) modifiziert werden können. Im öffentlichen Raum hingegen ist die gegenständliche Organisiertheit des Alltagslebens noch durchgängiger am Normkörper orientiert. In der Regel ist dies der erwachsene Mensch, der gehen, sehen, hören und greifen kann, mit den bekannten vielfältigen Problemen für jene davon abweichenden Körper von Kindern, Alten oder eben körperlich Behinderten. Allerdings: Hier geht es analytisch nicht – etwa analog zum sozialen Modell – nur darum, das ›Behindert-Machen‹ von Menschen durch die ›Ordnung der Dinge‹ zu rekonstruieren, sondern darum, die Perspektive im Sinne des Körpers als Produzent von Gesellschaft umzudrehen: Mit welchen alltäglichen Körperroutinen wird die Differenz zwischen Normkörper und abweichendem Körpern als Behinderung hergestellt, prozessiert und stabilisiert oder aber auch geändert? Ein Beispiel: Weil Treppen für Rollstuhlfahrer ein unüberwindbares Hindernis darstellen, haben jene diese Barrieren in ihr Routinehandeln integriert, insofern sie Bewältigungsstrategien im Umgang mit solchen Hindernissen – z.B. durch Verwenden der möglicherweise vorhandenen Fahrrampe – entwickeln. Gleichwohl sind es diese individuellen körperpraktischen Differenzen – hier das Begehen der Treppe durch den einen, dort das Befahren der Rampe durch den anderen –, die die sozial typisierten und routinisierten Normkörperanforderungen und damit die gegebene soziale Ordnung von Normalität/Anormalität reproduzieren, institutionalisieren oder auch in Frage stellen, verändern. Soziale Ordnungen sind demnach »in einem fundamentalen Sinne Körperordnungen« (Meuser 2004: 211; siehe hierzu auch Kaufmann 1999), nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Interaktion zwischen menschlichen und nicht menschlichen Partizipanden, sondern ebenso sehr in Hinblick auf die Interaktion zwischen verkörperten sozialen Akteuren als Ego und Alter. Soziale Interaktionen basieren wesentlich auf der wechselseitigen Interpretation des Handlungssinns von Alter und Ego. Das »primäre Deutungsobjekt des Fremdverstehens« (Raab/Soeffner 2005: 178) in Face-to-face-Interaktionen ist dabei der optisch wahrnehmbare Körper. Wenn Menschen einander begegnen, begegnen zuallererst Körper.
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42 | Robert Gugutzer, Werner Schneider Daher spielen das körperliche Erscheinungsbild und das Verhalten für Interaktionen eine wichtige Rolle. Somit basieren – wie Erving Goffman in seinen Untersuchungen gezeigt hat – »Interaktionsordnungen« (Goffman 1994) in entscheidendem Maße darauf, dass die Interaktionspartner ihren Körper als Kommunikationsmittel in einer sozial erwartbaren Weise einsetzen. Das impliziert vor allem, dass die sozialen Akteure einer Face-to-faceInteraktion ein situationsadäquates Maß an Körperkontrolle und Gefühlsarbeit aufbringen müssen, um die gemeinsame Situationsdefinition nicht in Frage zu stellen und damit die (mikro-)soziale Ordnung nicht zu gefährden (vgl. Goffman 1974). Denn auf der Bühne des Sozialen übernimmt der »dramaturgische Körper« (Gugutzer 2004: 92ff.) die soziale Funktion, das gesellschaftliche Leben möglichst ohne Störungen am Laufen zu halten. Störungen treten dabei typischerweise dann auf, wenn Erwartungshaltungen enttäuscht werden, wozu auch Körpernormen zählen – sowohl ästhetische Normen hinsichtlich der körperlichen Erscheinung wie auch Handlungsnormen. So mögen z.B. Personen, deren körperliche Andersheit mit der Kategorie ›Behinderung‹ gerahmt wird, aus der Sicht von Nicht-Behinderten solche sozial typisierten körperlichen Normalitätsvorstellungen in praktischer Hinsicht auch dadurch verletzen, dass sie in ihrem Verhalten nicht den typischen Erwartungen in der gegebenen Situation entsprechen. So z.B. wenn ein Blinder, wahrnehmbar an seiner mit Blindenstock markierten körperlichen Erscheinung, den (gut gemeinten, aber schlecht ›dargestellten‹) Weganweisungen eines Sehenden erkennbar nicht Folge leistet.8 Umgekehrt können ebenso die Erwartungshaltungen von Körperbehinderten enttäuscht werden, wenn Nicht-Behinderte durch ihr Handeln an ihrer Situationsdefinition festhalten, anstatt dieses Handeln einem aus Sicht des Behinderten angemesseneren Rollenspiel anzupassen (z.B. bei der unangemessenen, weil nicht angefragten, sondern ihm gleichsam ›aufgezwungenen‹ Hilfestellung für den Rollstuhlfahrer beim Einsteigen in die U-Bahn, damit ›es schneller geht‹). So wohnt Interaktionen ein bestimmtes Potenzial an sozialen Irritationen bis hin zu Konflikten dadurch inne, dass sich hier Normkörper und behinderte Körper von Angesicht zu Angesicht begegnen und wechselseitig Erwartungshaltungen aneinander richten, festgemacht an und ausgedrückt durch die jeweiligen Körperpraktiken, die so divergieren können, dass eine gemeinsame Situationsdefinition misslingt. Da der Körper immer auch als Zeichenträger fungiert, der für Zuschreibungen sozialer und personaler Identitäten genutzt wird, stehen besonders Menschen mit sichtbarer Körperbehinderung vor der Aufgabe, ein »Identitätsmanagement« (vgl. Goffman 1971) zu betreiben, das sowohl ihren persönlichen wie auch sozialen Bedürfnissen entspricht. Die körperliche Selbstdarstellung, die im Alltagsleben von jedem Gesellschaftsmitglied zumeist unbewusst geleistet wird, verwandelt sich so unter Umständen zur
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bewusst einzusetzenden Interaktionsstrategie, zur gezielten und mehr oder weniger durchgängig zu betreibenden Identitätspolitik. Der Körper kann hierbei als Medium genutzt werden, um ein Selbst zu präsentieren, das die Differenz zum Normkörper möglichst gering halten will und den eigenen behinderten Körper in entsprechender Weise instrumentalisiert. Oder umgekehrt: Der anormale Körper wird gezielt in seiner Andersheit inszeniert, um den Widerstand gegen die herrschende Wissensordnung zum Ausdruck zu bringen, sich ihren hegemonialen Selbstzuschreibungen zu entziehen. Mit dem Blick auf Körperpraktiken – auf den Körper als Produzent von Gesellschaft – wäre daher zu fragen, welche Handlungspotenziale Körperbehinderte im Rahmen welcher Wissensordnungen und in welchen institutionellen Settings besitzen, um durch ihre körperlichen Selbstdarstellungen welche soziale Ordnung herzustellen, zu reproduzieren oder auch gezielt zu verändern. Eine dritte Dimension körperlichen Handelns, in welcher der Körper noch deutlicher als Akteur denn als Medium fungiert, ist der Körpereigensinn (vgl. dazu Barkhaus 2001; Jäger 2004: 54ff.). Damit ist ein Handeln diesseits bewusster Kontrolle gemeint, ein vorreflexives, eigenwilliges, aber gleichwohl sinnhaftes Agieren des Körpers, das entweder den situativ gegebenen Erwartungsstrukturen entspricht oder widerspricht. Unbeabsichtigtes Lachen (etwa auf der Beerdigung eines nahen Angehörigen) oder unvermitteltes Weinen (auf einer fröhlichen Geburtstagsfeier) als Antworten auf Situationen, in denen eine kontrollierte, typischerweise sprachliche Antwort nicht gelingt, wären Beispiele, die als sinnhaftes Körperverhalten den jeweiligen Erwartungen zuwiderlaufen (vgl. Joas 1992: 249f.). Demgegenüber kann mit Pierre Bourdieus Habituskonzept der Körpereigensinn auch als ›praktischer Sinn‹ verstanden werden, der auf vorreflexivem Wege für ein situationsangemessenes Handeln sorgt (vgl. Bourdieu 1987). Andere Autoren sprechen diesbezüglich von einer »leiblichen Intelligenz des Gespürs« (Schmid 1999: 199), einer »Intelligenz des Leibes« (Alkemeyer 2001: 157) oder kurz von einem »Spürsinn« (Gugutzer 2002: 116). Gemeint ist hier jeweils Leiblichkeit als eine spürende Orientierung im sozialen Leben, die soziales Handeln anleitet. Die soziale und auch personale Relevanz von Körpereigensinn und seines praktischen Ausdrucks mag in hoch rationalisierten, zivilisierten und auf Selbstkontrolle großen Wert legenden Gesellschaften gemeinhin für gering gehalten werden. Jedoch scheint gerade diese spürende Orientierung für Behinderte in verschiedensten, zumal besonders komplexen Situationsbezügen relevant zu sein, und dies nicht zuletzt auch aufgrund des dem Körpereigensinn innewohnenden subversiven Potenzials zu nonkonformem Verhalten.9 Allerdings: Wie müssen Normalitätsrahmen beschaffen sein, damit körpereigensinniges Handeln akzeptiert wird? Welche eigensinnige Körperpraktik wird gesellschaftlich innerhalb welcher Normalitätsrahmen verortet und welche außerhalb? Zu unterscheiden ist hier etwa
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44 | Robert Gugutzer, Werner Schneider zwischen einer eigensinnigen Körperpraktik, welche sich innerhalb eines alltäglichen Normalitätsrahmens bewegt, insofern sie diesen lediglich situativ und vorübergehend unterläuft, etwa wenn jemand aufspringen möchte, es aber nicht kann, weil seine Füße ›eingeschlafen‹ sind. In einem solchen Fall würde der Normalitätsrahmen weder für das verkörperte Subjekt (ich kann gehen) grundsätzlich gesprengt, da es – in Anlehnung an Alfred Schütz’ ›Idealisierungen‹ – weiß: ›Ich kann immer wieder‹ (Schütz/Luckmann 1979), die Füße werden in Kürze wieder ›aufwachen‹. Noch würde der überindividuelle Normalitätsrahmen (Menschen können sich normalerweise mit ihren eigenen Füßen fortbewegen) ernsthaft in Frage gestellt werden, da das Phänomen ›eingeschlafene Füße‹ fester Bestandteil des sozialen Wissensvorrats ist und die beteiligten Akteure daher über typische Handlungsstrategien verfügen, um die gestörte Interaktionsordnung wiederherzustellen. Im Gegensatz dazu kann sich der Körpereigensinn den herrschenden Normalitätsrahmen aber auch gänzlich entziehen, wenn der eigenwillige Körper infolge der unheilbaren Querschnittslähmung eine Person dazu zwingt, nicht nur heute, sondern auch morgen und für immer im Rollstuhl zu sitzen. Und gerade indem der Eigenwille des behinderten Körpers dominiert, bestätigt er aufgrund seiner unabänderlichen Normabweichung für das Subjekt wie auch für die Gesellschaft die umfassende Gültigkeit des kollektiven Normalitätsrahmens. Mit diesem Blick auf den Körper als eigensinnigen Akteur erschließen sich demnach analytisch die jeweils herrschenden Normalitätsrahmen einer Gesellschaft und ihre Wirkkraft in situ, wobei – wie bereits kurz angedeutet – die Frage nach dem Verhältnis von Identität, leibkörperlicher Erfahrung und den bestehenden Wissensordnungen noch präziser zu fassen ist.
3.3 Körper-/Leiberfahrung und das verkörperte Selbst In einem letzten Schritt soll deshalb mit einem phänomenologischen Fokus der Körper auch als Subjekt leiblicher Erfahrungen in den Blick genommen werden. Mit Maurice Merleau-Ponty gesprochen thematisiert die Phänomenologie den Körper in seiner »dialektischen Struktur« (MerleauPonty 1966: 113, 199f.), d.h. als wahrnehmenden und wahrnehmbaren, sehenden und sichtbaren, bewegenden und bewegungsempfindenden, spürenden und spürbaren Leib. In der dialektischen Struktur des Leibes ist der cartesianische Dualismus von Körper und Geist und die hiermit zusammenhängende Subjekt-Objekt-Trennung aufgehoben: Der Leib erscheint als jene »dritte Dimension« (Waldenfels 1987: 148ff.), die diese Dualismen überwindet. Hierfür grundlegend thematisiert eine phänomenologisch angelegte Körpersoziologie den Körper in der Selbstwahrnehmung. D.h. der soziologische Fokus ist im Engeren auf die gesellschaftliche Prägung und Bedeu-
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tung eigenleiblicher Erfahrungen und deren Relevanz für Subjektivität und Identität gerichtet. Dazu ist – erstens – noch einmal im Anschluss an die vorangegangenen Abschnitte festzuhalten, dass das Subjekt sich mit seinem Leib und Körper immer schon in einer (vor-)gedeuteten Welt bewegt, in der ein kulturell je spezifischer, sozial wirksamer Konnex zwischen der Erscheinung des Körpers und ›leibhaftiger‹ Subjektivität existiert. »In all human cultures, the body is identified, at least in some contexts, with the socialized actor or person to which it belongs.« (Turner 1995: 146) Foucault (1978; 1988a) hat darauf hingewiesen, dass mit der Herausbildung und Durchsetzung der Moderne der Körper zum prominenten Ort der Produktion von Wahrheit über das Subjekt wurde – und zwar in doppelter Hinsicht: im Blick von Außen auf das Selbst des anderen sowie als zentrales expressives Ausdrucksmittel für das als ›authentisch‹ gesetzte Selbst. In der traditionalen Gesellschaft brachte der menschliche Körper symbolisch (durch Kleidung, Haut, oder auch durch Krankheit, Gebrechen etc.) die göttliche Welt- und die durch sie legitimierte diesseitige Herrschaftsordnung zum Ausdruck und repräsentierte die sündige diesseitige Existenz des Menschen, die immer schon auf das Jenseits verwies. Im Gegensatz dazu steht der Körper in der Moderne nun für das Selbst, für die materialisierte Subjektivität. D.h. er repräsentiert, ja vielmehr appräsentiert in typisierter Form und entlang einer subjektivierend-ästhetischen Moralisierung die je eigene Persönlichkeit des verkörperten Subjekts – z.B. der sportlichschlanke Körper des zielstrebigen, maßhaltenden, disziplinierten (und deshalb attraktiven) Erfolgsmenschen im Gegensatz zum z.B. unsportlichen, übergewichtigen Körper des Wankelmütigen mit seinem gesundheitlich fahrlässigen Lebensstil. In diesem Sinne sind – zweitens – Körper- oder besser Leiberfahrungen10 immer zugleich auch Selbsterfahrungen, die für die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer personalen Identität von (unterschiedlicher) Bedeutung sind (vgl. Gugutzer 2002). Die Erfahrung von z.B. Schmerz, Angst, Anstrengung oder Unsicherheit ist eben nicht nur eine körperliche, rein physische Erfahrung, sondern eine leibliche, den Körper-Geist-Dualismus überschreitende Selbsterfahrung. Wer Schmerz empfindet, spürt sich selbst: Meine Schmerzerfahrung kann ich mit niemandem teilen, sie gehört mir selbst, bzw. ich bin sie selbst. In diesem Sinne hat etwa Husserl vom Leib als ›Ding besonderer Art‹, nämlich als ›mein Leib‹ – im Unterschied zum Leib als ›Körperding‹, das ein Ding wie jedes andere Ding ist (vgl. Waldenfels 2000) – gesprochen, wobei das Possessivpronomen ›mein‹ die Gleichbedeutung von Leib- und Selbsterfahrung anzeigt. Selbstverständlich ist diese Selbsterfahrung – spätestens dann, wenn sie in den sozialen Austausch eingebracht wird, wenn z.B. Schmerz kommuniziert werden soll – auf ihre (praktische) Darstellung angewiesen. Entweder fungiert dabei der Körper als eigensinniger Akteur, oder das Subjekt setzt seinen Körper für diese Darstellung als Medium ein (oder die Darstellung
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46 | Robert Gugutzer, Werner Schneider erfolgt in der Kombination von beidem) – was so oder so für Ego in seiner Selbstwahrnehmung wie für Alter Ego in seiner Fremdwahrnehmung wiederum als diskursiv präformiert zu fassen ist. Denn das, was wir als Körper, als Körper- und Leiberfahrung für uns selbst für-wahr-nehmen und in und durch unser Handeln als ›Wahrheit des Körpers und unseres Selbst‹ im Handeln wirklich werden lassen, gründet einerseits immer in den entsprechenden diskursiven Prozessen, geht also nie als natürlich-physiologisches Empfinden dem Sozialen voraus, noch lässt es sich andererseits als reiner Diskurseffekt fassen. Es bleibt gleichsam immer auch meine (Selbst-)Erfahrung. Einer solchen Perspektive folgend, richtet sich – drittens – das phänomenologisch-soziologische Augenmerk auf die leiblichen Selbsterfahrungen körperbehinderter Menschen, um das Was und Wie ihrer Erfahrungen (als Prozess wie als Produkt verstanden) zu rekonstruieren: Wie nimmt sich ein Seh-, Geh- oder Hörbehinderter selbst wahr? In welchen sozialen Situationen erfährt er sich selbst spürbar als körperbehindert, in welchen Situationen typischerweise nicht? Wie orientiert sich eine sinnesbehinderte Person im sozialen und materialen Raum, welche Sinne nutzt sie wie als Ersatz für die funktionsuntüchtigen Sinne? Wie entwickelt sich und verläuft die leibliche Interaktion eines Körperbehinderten mit seinen die Behinderung mehr oder weniger kompensierenden Artefakten – dem Rollstuhl, dem Blindenstock, den verschiedenen Prothesen (vgl. dazu Schneider 2005)? Für diese Perspektive ist unter einem biographischen Gesichtspunkt nicht zuletzt die Differenz zwischen angeborener und erworbener körperlicher Behinderung von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der unterschiedlichen zeitlich-biographischen Aufschichtung von Leiberfahrungen (Erfahrung als Prozess) und Körpererfahrungen (Erfahrung als Produkt) liegt die Annahme nahe, dass eine Person, die von Geburt an eine körperliche Einschränkung aufweist, sich selbst anders erfährt als jemand, der aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit von einem Tag auf den anderen ›körperbehindert‹ wird. Infolge der biographischen Diskontinuitätserfahrung bei erworbenen dauerhaften körperlichen Beeinträchtigungen zwingt dieses »leib-körperliche Schlüsselerlebnis« (Gugutzer 2002: 256) vor dem Hintergrund der vorgängigen Differenzerfahrung des ›Nicht-behindertSeins‹ zu einem veränderten Körperumgang. Die notwendige Entwicklung neuer Körperroutinen, das Erlernen neuer körperlicher Darstellungstechniken, ein veränderter Körpereigensinn bis hin zu den im sozialen Austausch wirksamen Fremd- und Selbstzuschreibungen als ›Behinderter‹ führen zu neuen Leib- und damit zu differenten Selbsterfahrungen. Umgekehrt scheint z.B. bei angeborener Gehörlosigkeit nicht das ›NichtHören‹, sondern erst der ›helfende Eingriff‹ (z.B. Cochlea-Implantation) bei Kindern zu einem solchen »leib-körperlichen Schlüsselerlebnis« mit radikaler Diskontinuitätserfahrung zu werden, welches – in Verbindung
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mit dem an der Prothese manifesten Labeling von Gehörlosigkeit als ›Defekt‹ – erst zu jenen Desintegrationseffekten führt, die dann umfassende Hilfsbedürftigkeit entstehen lassen (vgl. z.B. Bentele 2006, grundlegend Mirzoeff 1995).
4. Body Turn und der Körper als Utopie Fasst man die erörterten analytischen Dimensionen und Aspekte zusammen, so werden die (nicht behinderten/behinderten) Körper der Gesellschaftsmitglieder zum einen durch die jeweils herrschende Wissensordnung als Bedeutungsträger und -vermittler diskursiv hervorgebracht und sind somit sowohl Produkte wie Produzenten der entsprechenden materialen Praktiken ihrer Zurichtung und Darstellung. Zum anderen bilden sie immer und überall als Leib auch die subjektiv gespürte Behausung von Identität, den materialen Ort des Selbst, an dem sich die Grenze zwischen einem Ich und der Welt im tätigen bzw. interaktiven und damit immer schon verkörperten Austausch als Innen-Außen-Verhältnis zu den umgebenden Dingen sowie zu anderen Subjekten erfahren, leibhaftig spüren lässt. Letztlich geht es um die Frage, wie (mit welchen symbolischen und materialen Praktiken), warum (mit welchen Legitimationen) und wann (in welchen historischen Epochen ebenso wie in welchen Alltagssituationen) eine körperliche Differenz zwischen Menschen zu einer Behinderung des einen in Relation zur Normalität des anderen wird. So gesehen sind die hier vorgeschlagenen analytischen Möglichkeiten des Blicks auf den behinderten Körper gerade auch dafür geeignet, nicht nur ›über‹ Behinderung zu forschen, sondern mehr über die moderne Gesellschaft, über ihre Normkörper, über ihre Praktiken der materialen Herstellung dieser Körper und über die damit verbundenen leibhaftigen Selbstbezüge ihrer Gesellschaftsmitglieder zu erfahren. Damit erscheint eine solche Perspektive als nicht nur ertragreich für die Disability Studies, sondern auch für die Allgemeine Soziologie, deren »quasimentalistische Bornierung« (Lindemann 2005: 115) nach wie vor verhindert, die soziale Relevanz leiblicher Erfahrungen und Wahrnehmungen systematisch in soziologische Theorien aufzunehmen. Zu bedenken ist auch, dass im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften und ihres beschleunigten sozialen Wandels im 20. Jahrhundert Körperlichkeit als solche an Bedeutung gewonnen hat. Die Körper selbst – als wie normal/anormal auch immer wahrgenommen – sind im Sinne wachsender gesellschaftlicher Anforderungen zur Arbeit am Körper in Bewegung geraten, ja, sie sind gleichsam mit dem sie konstituierenden Feld von Normalität und Abweichung in den größer werdenden Lichtkegel institutioneller Aufmerksamkeit gewandert. Vor dem Hintergrund des modernen Konnexes zwischen Körper und Subjekt begreifen gegenwärtig immer
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48 | Robert Gugutzer, Werner Schneider mehr Menschen die Arbeit an und mit ihrem Körper als Identitätsarbeit bzw. umgekehrt erfolgt die Thematisierung des eigenen Selbst verstärkt als absichtsvolle Körperformierung: Arbeit am Körper wird immer deutlicher zur Arbeit am Selbst, zur reflexiven Identitätsarbeit, zur absichtsvollen Identitätspolitik. Und vice versa: Die Vergewisserung des Selbst, die Versicherung von Identität scheint immer stärker auf den Körper angewiesen zu sein. Dies mag mancher vor dem Hintergrund des medialen Diktats bestimmter Schönheitsideale und Normkörper kulturpessimistisch beklagen. Andererseits könnte die gesellschaftliche »Wiederkehr des Körpers« (Kamper/Wulf 1982), mit der auch jener sozialwissenschaftliche ›Body Turn‹ korrespondiert (vgl. z.B. Schroer 2005; Gugutzer 2006), der dem Körper theoretisch wie empirisch Aufmerksamkeit widmet, auch positive Effekte haben. Vielleicht eröffnet der analytische Blick auf das gesellschaftlich formierte und leiblich erfahrene Sein und Haben des Körpers sogar eine emanzipatorische Perspektive, die Körperbehinderung nicht nur als Schicksal, sondern auch als Chance betrachtet (vgl. Paterson 2001: 81ff.) – als Chance für die Gesellschaft zu neuen Körperutopien. In dem eingangs zitierten Text von Michel Foucault fährt dieser fort, indem er seiner ersten Wahrnehmung des Körpers eine zweite entgegenstellt. Er schreibt: »Es war dumm, wenn ich eben meinte, der Körper sei niemals anderswo, er sei immer nur hier und widersetze sich jeglicher Utopie. In Wirklichkeit ist mein Körper stets anderswo, er ist mit sämtlichen ›Anderswos‹ der Welt verbunden, er ist anderswo als in der Welt. Denn um ihn herum sind die Dinge angeordnet. Nur im Verhältnis zu ihm – zwar wie in einem Verhältnis zu einem Herrscher – gibt es ein Oben und Unten, ein Rechts und Links, ein Vorn und Hinten, ein Nah und Fern. Der Körper ist der Nullpunkt der Welt, der Ort, an dem Wege und Räume sich kreuzen. Der Körper selbst ist nirgendwo. Er ist der kleine utopische Kern im Mittelpunkt der Welt, von dem ich ausgehe, von dem aus ich träume, spreche, fantasiere, die Dinge an ihrem Ort wahrnehme und auch durch die grenzenlose Macht der von mir erdachten Utopien negiere. Mein Körper gleicht dem Sonnenstaat. Er hat keinen Ort, aber von ihm gehen alle möglichen realen und utopischen Orte wie Strahlen aus.« (Foucault 2005: 33f.)
Erst wenn wir dieses Verhältnis zwischen gnadenloser Topie und Utopie, zwischen dem absoluten Ort des Nirgendwo und seinen Anderswos, welches für jegliche verkörperte Existenzform des Menschen gilt, analytisch ›begreifen‹ können, erfahren wir etwas über uns und unseren Weltbezug und darüber, wie sich diese Verhältnisse kontinuieren oder verändern (lassen).
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Anmerkungen 1 Vgl. auch den Beitrag von Waldschmidt in diesem Band. 2 Vgl. hierfür und für die folgenden Ausführungen Gugutzer (2002; 2004: insbes. 6f., 140ff.; 2006: insbes. 14-20) sowie Schneider (1999; 2005); Schneider/Hirseland (2005); außerdem siehe für einen solchen Vermittlungsversuch von Konstruktivismus und Phänomenologie auch Jäger (2004). 3 Zur analytischen Unterscheidung von diskursiven/nicht diskursiven Praktiken vgl. Keller (2005: 219ff.). 4 Da Diskurse ihre Gegenstände, Objekte erzeugen, ›wahrnehmbar‹ machen, ist hier die mit Blick auf Erving Goffmans (1980) Arbeiten wichtige Differenz zwischen sichtbaren und nicht sichtbaren ›Körperbehinderungen‹ zu beachten (vgl. z.B. das Phänomen ›Gehörlosigkeit‹, das als solches am Körper zunächst nicht erkennbar ist, aber im sozialen Austausch anhand von ›Körperzeichen‹ zugeschrieben wird: z.B. bei Verwendung der Gebärdensprache; vgl. Mirzoeff 1995). Was Goffman auf der konkreten Interaktionsebene entlang seiner Unterscheidung zwischen Diskreditierbaren und Diskreditierten als Management von (Un-)Sichtbarkeiten der von einer Norm abweichenden körperlichen Merkmale und Eigenschaften eines Individuums analysiert, lässt sich mit Foucault auf der Diskursebene als die diskursive ›Erfindung‹ funktional-ästhetischer Körperdifferenzen formulieren. (Ästhetik hier im ursprünglichen griechischen Wortsinne als aisthesis = Wahrnehmung verstanden.) Vgl. hierzu auch den Beitrag von Freitag in diesem Band. 5 Aus diskurstheoretischer Sicht ist somit nicht nur nach dem MachtWissen zu fragen, sondern ebenso nach der damit verbundenen Herstellung, Konstitution von Subjekten – d.h. nach den diskursiv vermittelten Mustern der Subjektformierung und -positionierung sowie nach den damit einhergehenden Subjektivierungsweisen (vgl. Schneider/ Hirseland 2005). 6 Vgl. hierzu in Anlehnung an eine wissenssoziologisch-diskursanalytische Perspektive die Ausführungen zur Dispositivanalyse bei Schneider/Hirseland (2005). 7 Vgl. in diesem Kontext auch die möglichen Anschlüsse an die so genannte Actor-Network-Theory und an Arbeiten im Rahmen der Science, Technology and Society Studies; vgl. den Beitrag von Schillmeier in diesem Band. 8 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Saerberg in diesem Band. 9 Vgl. hierzu exemplarisch die Beiträge von Saerberg und von Freitag in diesem Band. 10 Von Leiberfahrung sollte gesprochen werden, wenn Erfahrung im Sinne von ›Erfahrung machen‹, also als Prozess verstanden wird. Erfahrung im Sinne von ›Erfahrung haben‹ ist demgegenüber als Pro-
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50 | Robert Gugutzer, Werner Schneider dukt zu verstehen, als Ergebnis gemachter und durchlebter Erfahrungen, so dass Körpererfahrung auf erworbenes körperliches Können und körperliche Fertigkeiten verweist, die im Körpergedächtnis gespeichert sind.
Literatur Alkemeyer, Thomas (2001): »Die Vergesellschaftung des Körpers und die Verkörperung der Gesellschaft. Ansätze zu einer Historischen Anthropologie des Körpers und des Sports in modernen Gesellschaften«. In: Klaus Moegling (Hg.): Integrative Bewegungslehre, Teil 1: Gesellschaft, Persönlichkeit, Bewegung, Immenhausen/Kassel: Prolog, S. 132-178. Barkhaus, Annette (2001): »Körper und Identität. Vorüberlegungen zu einer Phänomenologie des eigensinnigen Körpers«. In: Sabine Karoß/ Leonore Welzin (Hg.): Tanz Politik Identität, Münster: Lit, S. 27-49. Bentele, Karin (2006): »Identität und Anerkennung. Das Cochlea-Implantat und der Umgang mit dem Fremden«. In: Simone Ehm/Silke Schicktanz (Hg.): Körper als Maß? Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverständnisse, Stuttgart: S. Hirzel, S. 117-136. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bruner, Claudia F. (2005): Körperspuren. Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen, Bielefeld: transcript. Bublitz, Hannelore (2003): Diskurs, Bielefeld: transcript. Burr, Vivien (1995): An Introduction to Social Constructionism, London: Routledge. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Douglas, Mary (1974): Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1988a): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1988b): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M.: Fischer.
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) vakat 054.p 145482605632
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Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies Anne Waldschmidt
In seiner Studie Wahnsinn und Gesellschaft hat Michel Foucault (1978b) herausgearbeitet, dass der Wahnsinn kein objektives Faktum darstellt, sondern nur in seinem Verhältnis zur Vernunft analytisch erfasst werden kann. Über die Jahrhunderte haben Spezialdiskurse Definitionen und Diagnosen des ›Wahnsinns‹ hervorgebracht, und es sind institutionell-praktische Behandlungsansätze entstanden. Erst dieser von Machtverhältnissen durchdrungene Prozess hat das Gegenteil des Wahnsinns – die Vernunft – als vorherrschende ›Normalität‹ konstituiert. Ein ähnliches Unterfangen haben sich die Disability Studies vorgenommen. Ihnen geht es darum, die Historizität und Kulturalität, Relativität und Kontingenz von Behinderung zu analysieren. Dabei nehmen sie Anschlüsse an Foucault vor, dessen Werk mit seinem Fokus auf die Schattenseiten der Moderne eine Fülle von Einsichten in gesellschaftliche Normierungs-, Disziplinierungs- und Subjektivierungspraktiken liefert, die, indem sie Abweichung herstellen, zugleich immer auch Normalität produzieren. Nicht weiter verwunderlich ist also, dass im rekonstruierenden Rückblick die Arbeiten Foucaults als zentral für die Disability Studies angesehen werden und in Einführungstexten und Überblicksarbeiten ihre Bedeutung immer wieder herausgestrichen wird (vgl. beispielsweise Barnes et al. 2002: 4; Mitchell/Snyder 1997a: 18f.; Weisser/Renggli 2004: 16). Allerdings drängt sich bei der Literatursichtung der Eindruck auf, dass Foucault zwar häufig erwähnt, jedoch eher selten als theoretischer Bezugspunkt tatsächlich benutzt wird. Ein Beispiel: In dem 2001 erschienenen, 852 Seiten umfassenden Handbook of Disability Studies (Albrecht et al. 2001) finden sich im Index unter dem Eintrag »Foucault, Michel« nur fünf Seitenangaben. Schlägt man sie nach, wird man feststellen, dass sich die drei ersten Verweise dem Beitrag von Bryan S. Turner (2001) über Behinderung in der Körpersoziologie zuordnen lassen. Der vierte Eintrag gehört zu einem Auf-
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56 | Anne Waldschmidt satz über »Disability Culture« (Barnes/Mercer 2001); die fünfte Angabe findet sich in dem Artikel von Lennard J. Davis (2001) über Identitätspolitik. Merkwürdigerweise trifft man Foucault aber dort nicht an, wo man ihn am ehesten vermuten würde: In dem Beitrag »Theorizing Disability« von Gareth Williams (2001) kommt der französische Philosoph weder in der Literaturliste noch im Text vor. Auch wenn mittlerweile mit dem Sammelband Foucault and the Government of Disability, herausgegeben von der kanadischen Philosophin Shelley Tremain (2005a), ein wichtiger Schritt getan wurde, um die Foucault-Rezeption in den Disability Studies voranzutreiben, so muss man doch nach einem ersten Überblick1 über den internationalen Diskurs ernüchtert feststellen: Was immer noch eher fehlt, ist die Entwicklung von Argumentationslinien, theoretischen Überlegungen und Denkmodellen, die seiner Philosophie ernsthaft verpflichtet wären. Häufiger anzutreffen sind kursorische Darstellungen in ›Steinbruch‹-Manier ohne fundierte Bezugnahmen. Anders formuliert: Es existiert ein bemerkenswertes Missverhältnis zwischen der Betonung der Bedeutung Foucaults, der Nennung seiner Werke in Literaturlisten und Stichwortverzeichnissen und ihrer tatsächlichen Nutzung für die eigene Analyse. Im Grunde ›geistert‹ Foucault sozusagen im Diskurs ›umher‹: Er ist überall und nirgends, einerseits dauernd präsent, andererseits nur an wenigen Stellen tatsächlich konkret fassbar. Aber vielleicht passt diese schattenhafte Omnipräsenz ganz gut zu einem Philosophen, der über sich selbst gesagt hat: »Mehr als einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr. Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.« (Foucault 1990: 30)
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den Spuren Foucaults in den Disability Studies nachzugehen und eine Zwischenbilanz der Rezeption zu liefern, die allerdings notgedrungen kursorisch bleiben muss.2 Dabei geht es auch darum, die Antwortversuche der Foucaultianer auf zentrale Fragen des Behinderungsdiskurses kritisch zu reflektieren: Wie wird in Diskursen und institutionellen Praktiken ›Behinderung‹ als soziales Faktum hergestellt? Welche Bedeutung hat der Körper in diesem »Dispositiv« (Foucault 1978a), dem Ensemble von diskursiven und nicht diskursiven Machtpraktiken, die mit Behinderung verknüpft sind? Wie werden behinderte Menschen kategorisiert, und welche Rolle spielt dabei der ›klinische Blick‹? Wie werden die Pole Normalität, Gesundheit, Funktions- und Leistungsfähigkeit, in denen ›Behinderung‹ als Gegenpart fungiert, konstituiert? Kurz: Wie stellt sich aus dem Blickwinkel von Diskurstheorie, Dis-
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positivanalyse und Gouvernementalitätsstudien das Verhältnis von (Nicht-) Behinderung, Macht, Wissen und Körper dar?
1. Was ist ›Behinderung‹? In den Disability Studies wird man auf eine fortwährende Auseinandersetzung darüber treffen, was denn nun unter ›Behinderung‹ zu verstehen ist. Dabei begegnet man als Allererstes nicht Foucault, sondern dem so genannten ›sozialen Modell‹ von Behinderung (vgl. Barnes et al. 1999: 20-31; Oliver 1996), einem Denkansatz, der zu Beginn der 80er Jahre auf der Basis materialistischer Gesellschaftstheorie als Alternative zum individualisierenden Rehabilitationskonzept entwickelt wurde. Auch heute noch, nach mehr als zwanzig Jahren, gilt dieses Modell als das Fundament der Disability Studies, als ihr Forschungsparadigma, mit dem sie ihr eigenes Profil begründen und die Trennlinie zu den traditionellen Rehabilitationswissenschaften markieren (vgl. Priestley 2003: 23-35; Thomas 2002: 13ff.; Waldschmidt 2005b). Das soziale Behinderungsmodell postuliert eine Dichotomie zwischen den zwei Ebenen des Behinderungsprozesses, der medizinisch oder psychologisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung oder Schädigung (impairment) und der aus ihr resultierenden sozialen Benachteiligung (disability). Menschen ›sind‹ nicht zwangsläufig auf Grund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ›behindert‹, sondern sie ›werden‹, indem Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet werden, ›zu Behinderten gemacht‹. Aus einem vorhandenen Körperschaden, einer Verhaltensauffälligkeit oder kognitiven Störung, also objektiv feststellbaren ›impairments‹, folgt nicht unabwendbar eine Behinderung (disability), vielmehr ist der institutionalisierte Prozess der sozialen Benachteiligung entscheidend für die Randgruppenexistenz. Mit anderen Worten: Nach dem sozialen Modell ist weder ›disablement‹ (der Prozess des Behindertwerdens) eine notwendige Konsequenz von ›impairment‹, noch stellt diese eine hinreichende Bedingung für ›disability‹ da. Dieser Denkansatz wird in den Disability Studies nicht nur hoch gelobt, sondern auch heftig kritisiert – und an dieser Stelle kommt Foucault ins Spiel. Während Vertreter des sozialen Modells darauf beharren, dass körperliche und soziale Ebenen voneinander zu unterscheiden sind und es keine kausale Beziehung zwischen ›impairment‹ und ›disability‹ gibt, unterstellen die Anhänger Foucaults, dass die beiden Ebenen miteinander verwoben sind und dass ›impairment‹ ebenso sozial konstituiert ist wie ›disability‹; sie betonen vor allem die Macht von Diskursen: »Impairment, in other words, is a product of discursive practices; like sex it is an ef-
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58 | Anne Waldschmidt fect, rather than an origin, a performance rather than an essence. The re-iterative power of discourse perfects the performance so that the body not only becomes the materialisation of its diagnostic label, but also its own set of constraints and regulations. In this post-structuralist view, impairment is no longer a biological fact, but a discursive product.« (Hughes/Paterson 1997: 333)
Vor allem Tremain (2000; 2001; 2005b) bemüht sich um eine konsequente Kritik und stellt dabei Anschlüsse an Foucault her.3 Im Wesentlichen entwickelt sie zwei Argumente: Zum einen baue das soziale Modell auf der nicht reflektierten Vorannahme auf, dass nur bestimmte Normabweichungen, nämlich solche, die als ›impairment‹ bezeichnet werden können, die Zuschreibung von ›disability‹ zur Folge haben. Somit würden andere Abweichungen wie etwa schwarze Hautfarbe, fremde Herkunft, Homosexualität etc. nicht als Behinderungen betrachtet, und es werde postuliert, dass ›impairment‹ eine notwendige Bedingung von ›disability‹ sei. Beispielsweise werde Intersexualität nicht als Behinderung angesehen, obwohl auch hier medizinische Deutungsmacht und soziale Stigmatisierung zum Tragen kämen. »On the contrary, in the terms of the social model, only people who have or are presumed to have an ›impairment‹ get counted as ›disabled‹. Thus, the strict separation of the categories of impairment and disability that this model of disability is claimed to institute would seem a chimera.« (Tremain 2005b: 10)
Zum anderen – so argumentiert Tremain weiter – lasse sich das soziale Modell von der Annahme leiten, dass Gesellschaft und Kultur den körperlichen Auffälligkeiten bloß ihre Stempel aufdrückten, sie jedoch als Phänomene an sich in ihrer Substanz unberührt ließen. Dieser Sichtweise hält Tremain (2001: 623) entgegen, dass – ähnlich wie die als natürlich wahrgenommene ›Sexualität‹ – auch ›impairment‹, die gleichsam ontologisierte Gesundheitsbeeinträchtigung, mittels diskursiver Praxis naturalisiert wird, um als ahistorisches, biologisches Merkmal des menschlichen Körpers zu erscheinen. Bei den als ›impairment‹ bezeichneten, vermeintlich natürlichen Tatsachen handle es sich um Effekte historischer Machtverhältnisse, die, indem sie ›impairment‹ voraussetzten, sie überhaupt erst produzierten. Mit Foucault dreht die kanadische Philosophin das Verhältnis also um: Nicht Behinderung sei der Effekt von Beeinträchtigung; vielmehr werde ›disability‹ als soziale Benachteiligung konstruiert, um ›impairment‹ als Interventionsebene herzustellen und gleichzeitig der sozialen Praxis zu entziehen, indem sie als vorgängige, ›natürliche‹ Ebene gedacht werde. Tatsächlich sei auch ›impairment‹ – ebenso wie ›disability‹ – ein Diskursprodukt, auch wenn es üblicherweise nicht als soziokulturelle Kategorie wahrgenommen werde. Im Sinne Foucaults bringt Tremain an dieser Stel-
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le die Macht ins Spiel: Die erfolgreich vollzogene, überaus wirkmächtige Naturalisierung von ›impairment‹ habe die Neutralisierung und Entpolitisierung der verkörperten Abweichung ›disability‹ zur Folge. Entsprechend werde der Machtkampf um das, was Behinderung in der modernen Gesellschaft bedeute, nur noch auf der Ebene von ›disability‹ geführt. Weil dieser Kampf jedoch auf ideologischen Verkürzungen beruhe und die eigentlichen, das Problem konstituierenden Faktoren nicht berühre, könne sich an den realen Lebensbedingungen behinderter Menschen nichts ändern. Demgegenüber sei es Aufgabe der Disability Studies, gerade auch auf die soziale Konstruiertheit von ›impairment‹ aufmerksam zu machen: »Instead, those allegedly ›real‹ impairments must now be identified as constructs of disciplinary knowledge/power that are incorporated into the self-understandings of some subjects. As effects of an historically specific political discourse (namely, biopower), impairments are materialized as universal attributes (properties) of subjects, through the iteration and reiteration of rather cultural specific regulatory norms and ideals about (for example) human function and structure, competency, intelligence, and ability. As universalized attributes of subjects, furthermore, impairments are naturalized as an interior identity or essence on which culture acts in order to camouflage the historically contingent power relations that materialized them as natural.« (Tremain 2001: 632; Hervorh. dort)
Tatsächlich, Tremains analytischer Blick legt eine Schwachstelle des sozialen Modells bloß: Im Bereich von ›Behinderung‹ findet sich – in weitaus stärkerem Maße als bei der Geschlechterkategorie – ein dominantes, im Wesentlichen (noch) unumstrittenes Diskursmuster, das medizinisch kategorisierbare Körperdifferenzen außerhalb des Soziokulturellen stellt und auf diese Weise deren Konstruktionsweisen gegen Kritik immunisiert. Dass auch das soziale Modell, indem es hartnäckig an der Spaltung zwischen ›impairment‹ und ›disability‹ festhält, sich an eben diesem Machtspiel beteiligt, obwohl es sich eigentlich als Teil eines Widerstandsdiskurses versteht, leuchtet als Kritikpunkt einerseits ein. Andererseits – und hier setzt meine Kritik der Kritik ein: Wenn Tremain die Kongruenz von Beeinträchtigung und Behinderung re-affirmiert, schüttet sie sozusagen das Kind mit dem Bade aus. Zwar macht sie zu Recht darauf aufmerksam, dass ›impairment‹ eine notwendige Bedingung von ›disability‹ darstellt, mit anderen Worten: dass der Tatbestand Behinderung gesellschaftlich erst dann als gegeben gilt, wenn er auf eine medikalisierbare, dem Körper im weitesten Sinne zurechenbare Abweichung zurückgeführt werden kann. Jedoch bleibt sie die Antwort auf die hinreichende Bedingung von Behinderung schuldig; diese aber erst würde es rechtfertigen, eine tatsächlich vorhandene Kausalität von Beeinträchtigung und Behinderung anzunehmen. Vor allem auf das Fehlen dieser Bedingung weist das soziale Modell hin, nämlich darauf, dass die vom Rehabilitationsansatz behauptete Gleichsetzung
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60 | Anne Waldschmidt von verkörperter Differenz und stigmatisierter Lebenslage nicht logisch zwingend ist und insofern sich auch nicht von selbst versteht. Dagegen geht Tremain so weit, kurz und knapp zu behaupten: »In short, impairment has been disability all along.« (2001: 632) Dieser Kurzschluss fällt eigentlich hinter das soziale Modell zurück, dessen Verdienst es ist, ›impairment‹ und ›disability‹ getrennt zu denken, auch wenn es sich dabei einen durchaus fragwürdigen naturalistischen Kern eingehandelt hat. Der implizite Naturalismus kann jedoch nicht dadurch überwunden werden, dass man beide Ebenen (wieder) als ein und denselben Diskursgegenstand begreift. Vielleicht würde Tremains »Diskurs-Determinismus« (Gugutzer 2004: 81) sogar Foucault selbst zu weit gehen, schließlich kann man mit ihm einwenden, dass ›impairment‹ (ebenso wie die ›Sexualität‹) sicherlich ein ›Effekt‹ ist, sich also ableitet aus und herstellt in Diskursen, gleichzeitig aber – wie jeder diskursive Effekt – immer auch einen konkreten, materiellen Ansatzpunkt benötigt, um überhaupt diskursiviert werden zu können.
2. Behinderte Körper – disziplinierte Körper Wie bei der Sexualität, der Foucault verschiedene Studien gewidmet hat (vgl. insbesondere 1983; 1989a), so gilt auch bei Behinderung: Ausgangsund Ansatzpunkt, »der wirkliche Ankerpunkt«, wie Foucault (1983: 181) es nennt, ist der menschliche Körper. Auch die Studien zu Behinderung müssen deshalb darauf abzielen, »[…] zu zeigen, wie sich Machtdispositive direkt an den Körper schalten – an Körper, Funktionen, physiologische Prozesse, Empfindungen, Lüste. Weit entfernt von jeder Ausradierung des Körpers geht es darum, ihn in einer Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische nicht wie im Evolutionismus der alten Soziologen aufeinander folgen, sondern sich in einer Komplexität verschränken, die im gleichen Maße wächst, wie sich die modernen Lebens-Macht-Technologien entwickeln. Also nicht eine ›Geschichte der Mentalitäten‹, die an den Körpern nur die Art und Weise in Rechnung stellt, in der man sie wahrgenommen und ihnen Sinn und Wert verliehen hat. Sondern eine ›Geschichte der Körper‹ und der Art und Weise, in der man das Materiellste und Lebendigste an ihnen eingesetzt und besetzt hat.« (Foucault 1983: 180f.)
Im Mittelpunkt des Foucault’schen Körperkonzeptes steht der disziplinierte Körper. In Überwachen und Strafen (Foucault 1989b) wird gezeigt, wie sich Disziplinartechniken in Armee, Fabrik, Krankenhaus und Schule des menschlichen Körpers bemächtigen, wie er Zielscheibe von Disziplinartechnologien wird, einer Mikrophysik der Macht, die sich der Techniken der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktion und der Prüfung bedient, um gefügsame, gelehrige, normierte Körper zu schaffen,
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die vor allem eines sein sollen: produktiv, effektiv und effizient (Foucault 1989b: 220ff.). Im Anschluss an Foucault lässt sich Behinderung nicht auf die gleichsam vorsoziale, beschädigte Körperlichkeit reduzieren; vielmehr muss man sie denken als Produkt gesellschaftlicher Disziplinierung. Mit Foucault den behinderten Körper zu analysieren, heißt herauszuarbeiten, dass es ihn als definierbare, abgrenzbare und erkennbare Einheit, kurz: als soziales Phänomen, erst dann geben kann, wenn sich entsprechende diskursive Strategien und Machtpraktiken um ihn herum verdichten. Betrachtet man den Stellenwert von Körperlichkeit und Körpererfahrung im Diskurs der Disability Studies, so wird man auf eine auffällige Diskrepanz treffen: Einerseits ist der behinderte Körper sozusagen allgegenwärtig, andererseits bildet die Körpertheorie wenn nicht eine Leerstelle, so doch ein noch einzulösendes Desiderat.4 Etwas verwunderlich ist dies schon, wenn man bedenkt, dass just zu dem Zeitpunkt, als sich das Forschungsfeld zu entfalten begann, nämlich im Laufe der 80er Jahre, auch so etwas wie ein ›body turn‹ in den Sozial- und Kulturwissenschaften einsetzte. Allerdings verhinderte das soziale Behinderungsmodell und die mit ihm verbundene Dichotomisierung von Körper und Gesellschaft, mit anderen Worten die Naturalisierung von ›impairment‹, entsprechende Bezugnahmen. In einem viel zitierten Aufsatz haben beispielsweise die beiden schottischen Sozialwissenschaftler Bill Hughes und Kevin Paterson (1997) auf die Körpervergessenheit der Disability Studies aufmerksam gemacht. Während sich die Trennung zwischen ›impairment‹ und ›disability‹ für die Emanzipationsbewegung als nützlich erwiesen habe, (re-)produziere sie im Bereich der Identitätspolitik einen fragwürdigen cartesianischen Subjektbegriff, der keine lebensweltliche Relevanz besitze, da sich behinderte Menschen durchaus, z.B. in Autobiographien, mit dem Körper beschäftigten und dieser auch politisch, etwa im Kampf um Selbstbestimmung, eine Rolle spiele. Nicht nachvollziehbar sei deshalb, warum das soziale Modell den behinderten Körper ohne Weiteres der Medizin überlasse (vgl. Hughes/Paterson 1997: 326). In seiner Argumentation bezieht sich das Autorenpaar (1997: 332ff.) explizit auf Foucault: Dieser stelle den Körper in den Mittelpunkt und betrachte ihn als Wissensobjekt und Zielscheibe von Macht. Wenn man den Körper als ein historisch kontingentes Produkt von Machtverhältnissen ansehe, werde es möglich, eine kritische Theorie des ›embodiment‹ auszuarbeiten und auch den behinderten Körper zu dekonstruieren. Wenn die Annahme richtig sei, dass die Medizin eine hegemoniale Bezeichnungsmacht innehabe und mittels diagnostischer Labels und diskursiver Reifikation beeinträchtigte Körper erzeuge, werde sich auch ›impairment‹ als Diskursgegenstand erweisen. Im Anschluss an Foucault lautet die zentrale These: »Impairment is social and disability is embodied.« (Hughes/Paterson 1997: 336)
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62 | Anne Waldschmidt Mit Foucault über Foucault hinaus, oder auch: die Rückkehr des Essenzialismus jenseits des Poststrukturalismus, so könnte man die Position vielleicht zuspitzen. Denn Hughes/Paterson (1997: 333f.) beziehen sich nicht nur affirmativ auf den Foucault’schen Ansatz, sondern üben auch recht deutlich Kritik: Im Poststrukturalismus werde der offensichtlich vorhandene, der konkret-materielle Körper aus den Augen verloren. Der biologische Essenzialismus werde durch einen diskursiven Essenzialismus ersetzt, und der Körper werde zu einem Phantom, hergestellt mittels Wahrheitsregimen, reduziert auf eine Einheit multipler Bedeutungen (»significations«), die ihm Sinn (»meaning«) verleihen. Im Endeffekt sei er nur noch bloße Oberfläche, auf der man zwar »schreiben« könne, die aber ihren Eigensinn verloren habe. Für die Disability Studies habe jedoch die theoretische Eliminierung körperlicher Materialität nur geringen Wert, da sie weder für die theoretische Erkundung von ›impairment‹ genutzt werden könne noch es ermögliche, die haptischen Erfahrungen des individuellen In-der-Welt-Seins und des Empfindens von sich selbst als konkrete Materie einzubeziehen. Aus diesem Grund – so schlussfolgern Hughes/Paterson (1997: 334f.) – sei es sinnvoll, sich bei der Analyse des behinderten Körpers nicht nur auf Foucault zu verlassen, sondern als weiteren Bezugspunkt die Phänomenologie Merleau-Pontys zu benutzen. Tatsächlich sind in den Disability Studies phänomenologische Ansätze (Turner 2001; Williams 2001) gar nicht so selten; in seiner Kritik am konstruktivistischen Körperkonzept spricht der amerikanische Kulturwissenschaftler Tobin Siebers (2001) von einer Wende »to the new realism of the body«, und selbst Sharon Snyder und David Mitchell (2001: 381f.), nordamerikanische Literatur- und Filmwissenschaftler und eigentlich überzeugte Foucaultianer, liebäugeln damit. Während Siebers (2001: 742) das Desinteresse der ›normalen‹ Körpertheorie beklagt, ihr einseitiges Konzept eines Körpers »built for pleasure, a body infinitely teachable and adaptable«, sind Snyder/Mitchell (2001: 370) der Meinung, dass die allgemeine körpertheoretische Konjunktur den Boden für die Disability Studies bereitet habe, da es mit ihr möglich wurde, den abweichenden Körper als ein umkämpftes Feld politischer Bedeutungen zu verstehen. Indem die Disability Studies nach den sozialen Implikationen von Körpern fragten, die als »excessively aberrant« (Snyder/Mitchell 2001: 375) wahrgenommen würden, werde zwar ein engerer Fokus verfolgt. Dennoch werde Behinderung nicht als Sonderfall begriffen, sondern als allgemeine menschliche Erfahrung und als Repräsentation eines tief verwurzelten, unhinterfragten kulturellen Konflikts. Die Disability Studies verstehen Snyder/Mitchell (ebd.: 375) zufolge den ›nicht behinderten‹ Körper nicht nur, wie die allgemeine Körpertheorie dies tut, als falsches quantitatives Ideal, sondern vor allem als ein ästhetisches Produkt der kulturellen Kräfte, die jene unterdrücken, die als behindert etikettiert werden. In der modernen Gesellschaft habe insbesondere der behinderte Körper die Funktion, ›Anderssein‹ zu repräsentieren:
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Macht – Wissen – Körper | 63 »If the able body proved a utopian fiction of abstract bodily norms, disabled bodies occupied the phantasmic recesses of the cultural imagery. The different body was more than a site for public scapegoating – cognitive and physical aberrancies acted as reminders of Others in our midst who challenged beliefs in a homogeneous bodily order.« (Ebd.: 377)
Insbesondere Foucaults Analysen des überdiagnostizierten Körpers, darauf weisen Snyder/Mitchell (ebd.: 374) ebenfalls hin, bieten die Erkenntnis, dass hinter der medizinischen Untersuchung, der ständigen Unterteilung und Unterscheidung von Dysfunktionen, Defiziten und Defekten der individuelle Körper zu verschwinden droht. Und nicht nur das, die »overevaluation« (ebd.: 374) hat für behinderte Menschen nicht nur symbolische, sondern auch handfeste, materielle Folgen: chirurgische Eingriffe, normierende Prothetisierung,5 segregierte Beschulung, institutionelle Unterbringung und soziale Isolierung. Wenn man bedenkt, dass von einer Körpertheorie Foucaults im engeren Sinne eigentlich nicht die Rede sein kann, da in seinem Werk der Körper im Wesentlichen nur als Gegenstand von Diskursen und disziplinären Machtpraktiken auftaucht, während körperliche Materialität, Handlungsvermögen und der leibliche Eigensinn eher unbeachtet bleiben, so ist es erstaunlich, dass der Ansatz Foucaults in den körpertheoretischen Überlegungen der Disability Studies immer wieder aufgegriffen wird. Jedoch vermag dies dann nicht zu überraschen, wenn man bedenkt, dass die Erfahrung von (Ver-)Objektivierung mit der Erfahrung von Behinderung allzu häufig eng verknüpft ist. Körperobjekt zu sein, in den Händen von Ärzten, Therapeuten, Pflegekräften, ohne sich gegen entwürdigende Eingriffe zur Wehr setzen und über körperliche Bedürfnisse selbst bestimmen zu können – das ist eine Alltagserfahrung der meisten Menschen, die mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen leben. Kein Wunder also, dass die von Foucault herausgearbeiteten Praktiken der Körperdisziplinierung im Mittelpunkt der Disability Studies stehen. Allerdings, auch der kritische Hinweis, den Hughes/Paterson (1997) bereits vor einem Jahrzehnt gegeben haben, ist ernst zu nehmen. Wenn man den Körper allein als Objekt der Disziplinierung begreift, übersieht man leicht das Handlungspotenzial, das selbst mit marginalisierten Körpern immer auch verbunden ist. Man muss nicht gleich zur Phänomenologin werden; auch mit dem Diskurstheoretiker Foucault, der sich mit der Frage von Widerstand ebenfalls beschäftigt hat (z.B. in Foucault 1999), ließe sich der behinderte Körper studieren: das ihm anhaftende Unvorhergesehene, Unordentliche und Bedrohliche, seine Ereignishaftigkeit und Widerspenstigkeit, die Weigerung der Subjekte, sich anzupassen, und ihr Aufbegehren gegen das ›Ganzmachen‹ und ›Geraderichten‹.
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3. Wissen und Kontrolle: Die Macht des klinischen Blicks Der abweichende Körper – das ist das zentrale Thema der auf (Nicht-) Behinderung fokussierten Theorie der Disability Studies. Wesentliche Impulse hat sie durch Die Geburt der Klinik (Foucault 1973) erhalten, deren archäologische Herangehensweise den ›klinischen Blick‹ in den Mittelpunkt stellt. Dieser Blick ist der Blick des Arztes und Wissenschaftlers, der beobachtet, um zu erkennen, der die Oberfläche des Körpers zu durchdringen sucht, um therapeutisches Wissen anhäufen zu können. Eigentlich ist es der klinische Blick, der in Bezug auf den Körper Handlungs- und Deutungshoheit beansprucht; mit Foucaults Methodologie gerät er jedoch selbst ins Fadenkreuz der Analyse: »In other words, theorists of the body sought to invert the traditional power dynamic of the medical gaze by situating the institution, in place of the body, as an object of scrutiny. In the new methodology’s tactical inversion, the gazer became the gazed upon.« (Snyder/Mitchell 2001: 370)
Die Disability Studies drehen im Anschluss an Foucault also das Verhältnis um: Sie konfrontieren die wissenschaftlichen, klinischen, therapeutischen Perspektiven mit den Sichtweisen ihrer Objekte. Diejenigen, die zu Patienten, Anstaltsinsassen, Rehabilitanden gemacht werden, schauen sozusagen zurück und beginnen ihrerseits mit analytischer Sezierarbeit. Sie hinterfragen die klinisch-diagnostische Episteme, betreiben kritische Wissenschaftsgeschichte, problematisieren die fraglose Geltung von Normalitätsbegriffen und untersuchen die Prozesse von Stigmatisierung und Institutionalisierung. Nicht ohne Grund trifft man in den Disability Studies immer wieder auf Reflexionen über die Bedeutung des Sehens für die Konstruktion von ›Behinderung‹, über den Stellenwert von Visibilität und die Wahrnehmbarkeit von Merkmalen, die zumeist erst dann, wenn sie dem Auge6 des Betrachters zugänglich gemacht werden, als Zeichen einer Behinderung gedeutet werden können. Ein gutes Beispiel für die mit Foucault arbeitenden Disability Studies liefert die Untersuchung von Nicholas Mirzoeff (1995a; 1995b)7 über Gebärdensprache und die Konstruktion der Gehörlosen als therapiebedürftige Behindertengruppe. Der nordamerikanische Kulturwissenschaftler macht darauf aufmerksam, dass es zu verkürzt wäre, würde man die Sichtbarkeit von ›impairment‹ einfach als gegeben voraussetzen; vielmehr zeigt das Beispiel Gehörlosigkeit, dass in einem ersten Schritt die Sichtbarkeit von auffälligen Zeichen überhaupt erst produziert werden muss, damit diese als typische Symptome eines pathologischen Defizits fungieren können. Für den klinischen Blick stellt ›Gehörlosigkeit‹8 eine Herausforderung insofern dar, als sie nicht unmittelbar zu sehen ist; erst im Gebrauch der Hände beim Sprechen wird sie als Abweichung sichtbar. Heutzutage
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›wissen‹ selbst alltagsweltliche Beobachter, dass Anwender der Gebärdensprache gehörlos sind – aber wieso eigentlich können wir uns dieser Schlussfolgerung so sicher sein? Der heute als selbstverständlich erscheinende Konnex zwischen der Gebärdensprache und der Deutung ihrer Nutzer als bedauernswerte, der Lautsprache nicht mächtige Wesen erweist sich beim näheren Hinsehen als systematisch konstruiert: als Produkt eines ›framing‹, einer bestimmten Weise von Kontextualisierung. Berichte europäischer Reisender über die Verwendung der Gebärdensprache im Harem des osmanischen Sultans in Istanbul – und zwar nicht nur von offenbar gehörlosen Wachleuten, sondern von allen Mitgliedern des Hofes – führten zu ihrer Einordnung in eine exotische, von Despotismus geprägte, körperorientierte und sensualistische, dem ›logos‹ abgewandte, kurz: als ›primitiv‹ wahrgenommene Welt. Seit dem 16. Jahrhundert repräsentierte der Harem des Sultans gewissermaßen die exotische Folie, auf die im 19. Jahrhundert Anthropologie, Medizin und Psychiatrie rekurrieren konnten, um Gebärdensprachnutzer als Defizitwesen zu deuten, ihnen die Lautsprache als Ausdruck der Vernunft und somit als Heilmittel angedeihen zu lassen und schließlich ab 1880 den Gebrauch der Hände zum Sprechen in den Gehörlosenschulen ganz zu verbieten. Die poststrukturalistische Herangehensweise von Mirzoeff verdeutlicht, dass Blicke Machtmittel sind, die Rahmen und Räume brauchen, Strukturen, in denen sie sich entfalten können. Dem erkennenden Blick des Arztes bietet die ›Klinik‹ den passenden Rahmen: Sie versammelt das ›Patientengut‹, trennt es vom Alltag ab, schafft isolierende Bedingungen und stellt so das Labor bereit, in dem der mikroskopische Blick seine volle Wirksamkeit entfalten kann. Wissensanhäufung, Erkenntnisgewinn ist allerdings nur ein Aspekt von Sichtbarkeit, gleichzeitig geht es immer auch um eine zweite Dimension, um die Überwachung: Der Blick, der wissen und erkennen will, verbündet sich mit dem Blick, der kontrollieren und disziplinieren will. Wie Foucault in Überwachen und Strafen (1989b) gezeigt hat, wird nicht nur in der Klinik (in der Form der ›Patientenüberwachung‹), sondern auch im modernen Gefängnis Sichtbarkeit zum entscheidenden Machtmittel. Der »Panoptismus« ermöglicht die Installation von höchst effektiven, dauerhaften Kontrollregimen, bei denen das Machtzentrum verborgen bleibt, die Insassen aber ständig das Auge des Gesetzes auf sich gerichtet fühlen. »Die traditionelle Macht ist diejenige, die sich sehen lässt, die sich zeigt, die sich kundtut und die die Quelle ihrer Kraft gerade in der Bewegung ihrer Äußerung findet. Jene aber, an denen sich die Macht entfaltet, bleiben im Dunkeln; sie empfangen nur soviel Licht von der Macht, wie diese ihnen zugesteht: den Widerschein eines Augenblicks. Ganz anders die Disziplinarmacht: sie setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt. In der Disziplin sind es die Untertanen, die gesehen werden müssen, die
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66 | Anne Waldschmidt im Scheinwerferlicht stehen, damit der Zugriff der Macht gesichert bleibt. Es ist gerade das ununterbrochene Gesehenwerden, das ständige Gesehenwerdenkönnen, […] was das Disziplinarindividuum in seiner Unterwerfung festhält.« (Foucault 1989b: 241)
Klinik und Gefängnis – mit Foucault und den Disability Studies kann man behaupten, dass dies die beiden Prototypen der Disziplinarmacht sind, aus denen heraus sich die Institutionen der Behindertenhilfe entwickelt haben. Ihr konkretes historisches Vorbild war die psychiatrische Anstalt (vgl. hierzu auch Castel 1983), ein Raum, der in idealer Weise die beiden Funktionen der Klinik – Erkenntnisgewinnung und Interventionsfeld – mit denjenigen des Gefängnisses – Internierung und (Re-)Sozialisierung – kombinierte. Zeitlich parallel zur Etablierung der psychiatrischen Disziplin entstanden im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts die Blinden- und Taubstummenanstalten, Krüppelheime, Hilfs- und Sonderschulen, ›beschützende‹ Werkstätten und Tageseinrichtungen, mit einem Wort, die segregierende Versorgungsstruktur, von der auch die re-integrierenden und normalisierenden Rehabilitationspraktiken des 21. Jahrhunderts noch geprägt sind.
4. Die Macht der Normalität Die zentrale Frage der Disability Studies lautet: Auf welche Weise und aus welchen Gründen konstituiert sich der Tatbestand ›Behinderung‹ als prononciertes Gegenteil des Normalen? Wenn man davon ausgeht, dass Normalität und Abweichung Schattenbegriffe sind, komplementär zu einander, sich gegenseitig bedingend und auf einander verweisend, dann stellt sich ›Behinderung‹ als ein paradigmatischer Fall von Abweichung dar, einer Abweichung, die sich hartnäckig gegen alle Versuche von Dekonstruktion sperrt und weiter auf einer naturgegebenen Ontologie beharrt. Der britische Soziologe John Law bringt diesen Sachverhalt so auf den Punkt: »Normative ability. Normative deficit. Intervention to remedy the deficit. This is the constitutional package on offer in the first style of story-telling. It has been the dominant political philosophy at work in the discourse of disability for most of this century in the western liberal democracies.« (Law 1999: 8)
Normativität und/oder Normalität? Dem am diskurstheoretischen Normalismuskonzept von Jürgen Link (2006) geschulten Auge fällt auf, dass die Disability Studies bisher noch nicht zu der analytischen Schärfe gefunden haben, die notwendig wäre, um Bedeutung und Potenzial des spätmodernen Normalitätsbegriffs wirklich nachzuvollziehen. Zwar findet man ›Norm‹, ›Normalität‹ und ›Normalisierung‹ in fast allen Texten, die den
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Disability Studies zuzuordnen sind. Der Omnipräsenz des semantischen Komplexes steht jedoch eine nicht zu übersehende Uneindeutigkeit in der theoretischen Reflexion gegenüber. In seiner einflussreichen Studie Enforcing Normalcy bezieht sich der nordamerikanische Literaturwissenschaftler Lennard J. Davis (1995: 9ff.) allenfalls sporadisch auf Foucault – und entwickelt doch eine Argumentation, die eine deutliche Nähe zu dem französischen Philosophen aufweist, etwa dort, wo er die Bedeutung statistischer Normalität für die moderne, industrialisierte Gesellschaft hervorhebt, die Bemühungen Francis Galtons und Adolphe Quételets zur Konstruktion des Durchschnittsmenschen erläutert und auf die Gauß’sche Glockenkurve als »a symbol of the tyranny of the norm« (Davis 1995: 13) eingeht. Frappierend ist allerdings, dass Davis nicht auf den Gedanken kommt, die statistische Normalität von der traditionellen sozialen Norm, der imperativischen Verhaltenserwartung zu unterscheiden. Weniger Foucault, der neoliberale Regierungskunst, Biomacht und Normalisierungsgesellschaft zusammen gedacht hat, als vielmehr George Canguilhem (1974) scheint Davis bei folgender Formulierung über die Schulter geschaut zu haben: »What I have tried to show here is that the very term that permeates our contemporary life – the normal – is a configuration that arises in a particular historical moment. It is part of a notion of progress, of industrialization, and of ideological consolidation of the power of the bourgeoisie. The implications of the hegemony of normalcy are profound and extend into the very heart of cultural production.« (Davis 1997: 26)9
Mit der Orientierung an Canguilhem, die in einer neueren Veröffentlichung noch deutlicher wird, legt Davis (2002) den Akzent auf die disziplinierende Normativität. Oder, so könnte man auch schlussfolgern, er folgt intuitiv dem machtkritischen Foucault, der in seiner Studie über das Gefängnis die normierende Sanktion so beschrieben hat: »Im System der Disziplinarmacht zielt die Kunst der Bestrafung nicht auf Sühne und auch nicht eigentlich auf die Unterdrückung eines Vergehens ab. Sie führt vielmehr fünf verschiedene Operationen durch: sie bezieht die einzelnen Taten, Leistungen und Verhaltensweisen [sowie Befunde, AW] auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist. Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ›Natur‹ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ›wertenden‹ Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität. Als Unterschied zu allen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber dem Anormalen gezogen […]. Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und
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68 | Anne Waldschmidt alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend.« (Foucault 1989b: 236; Hervorh. dort)
Zwar muss man berücksichtigen, dass es sich bei Behinderung eher um ein ›schuldloses Verbrechen‹ (im Sinne von Devianz) handelt und es folglich um eine allgemeine ›Kunst‹ der Normierung und Normalisierung geht. Gleichwohl werden alle fünf hier genannten Verfahren der Disziplinarmacht – der Vergleich, die Differenzierung, die Hierarchisierung, die Homogenisierung und die Ausschließung – im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung eingesetzt: So werden Körper, um sie als behindert etikettieren zu können, laufend mit anderen Körpern verglichen, z.B. in Intelligenztests und medizinischer Diagnostik; auch werden sie differenziert, nämlich als unterschiedlich leistungs- und erwerbsgemindert, förder-, hilfs- und pflegebedürftig eingestuft; des Weiteren werden sie – z.B. nach dem sozialrechtlich festgelegten ›Grad der Behinderung‹ oder den ›Stufen der Pflegebedürftigkeit‹ – in eine hierarchisierende Rangordnung eingegliedert; außerdem werden sie in homogene Gruppen – der Lernbehinderten, Hörgeschädigten, Mehrfachbehinderten etc. – eingeteilt und schließlich in Sonderschulen, Wohnheimen und Behindertenwerkstätten exkludierenden Strategien unterworfen. Somit gerät mit Foucault in den Blick, dass behinderte Körper Regimen der Normierung und Normalisierung ausgesetzt sind; mit chirurgischen Eingriffen, Prothesen und Implantaten werden sie korrigiert und ›normal gemacht‹; ein ganzes Arsenal an Rehabilitationstechniken sorgt für ihre möglichst reibungslose Eingliederung in Kommunikations-, Konsumtionsund Produktionsabläufe, kurz: für ihre Einpassung in und Anpassung an eine ›nicht behinderte‹ Ordnung. Allerdings lässt sich an dieser Stelle einwenden: Auch wenn in der sozialen Praxis die Dichotomie zwischen Normalität und Behinderung immer wieder neu hergestellt wird, so heißt dies nicht, dass das gleiche Tableau, einmal fixiert, auf lange Zeit statisch bleibt, sich sozusagen durch eine ›longue durée‹ auszeichnet. Eher das Gegenteil ist der Fall: Im Unterschied zu anderen Differenzkategorien, wie etwa Geschlecht und ethnische Herkunft, weist gerade die Landschaft der Behinderung eine auffällig große Kontingenz, Vielgestaltigkeit und Unschärfe auf, die es nur mit einiger Mühe erlaubt, so etwas wie eine lebensweltlich oder sozialpolitisch handhabbare und praktikable Oberkategorie ›Behinderung‹ überhaupt zu bilden. Denn was eigentlich haben psychisch Kranke, Rollstuhlfahrer, Nierenkranke, Gehörlose, Brustamputierte, Kleinwüchsige und aufmerksamkeitsgestörte Kinder tatsächlich gemeinsam? Auf diese Frage geben Mitchell und Snyder folgende Antwort: »It is through their common association with incapacity and aberrancy that people with enormously varied bodily experiences and capacities come to share a political
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Macht – Wissen – Körper | 69 and communal identity. Disability acts as a loose rubric and as an amalgam of dissimilar physical and cognitive traits that often have little in common other than the social stigma of limitation, deviance, and inability.« (Mitchell/Snyder 1997b: 7)
Als ›behindert‹ etikettierte Menschen werden, darauf weist auch Jürgen Link (2004) hin, auf das ›Normalfeld‹ Gesundheit bezogen und auf Grund körperlicher und verkörperter Differenzen dem negativen Pol zugeordnet; sie gelten als ›nicht normal‹ und sollen – als logische Konsequenz dieses Verdikts – ›normal‹ gemacht werden. Gleichzeitig ist auffällig, dass in den letzten Jahrzehnten die Normalfelder in Bewegung geraten sind und auch das Behinderungsdispositiv – wenn auch nicht an seinen Polen, so doch zumindest in den Übergangsbereichen – zunehmend dynamisch und durchlässig geworden ist (vgl. Waldschmidt 1998; 2004). Schaut man sich in den Disability Studies nach Analysen dieser Normalisierungstendenzen um, wird man allerdings feststellen, dass hier vorzugsweise Disziplinarmacht und Normativität im Mittelpunkt stehen. Illustrativ ist etwa die Kritik von Fiona Campbell (2000) am behindertenpädagogischen Normalisierungsprinzip; sie zeigt, dass der vermeintlich humanistische und betroffenenorientierte Ansatz auch benutzt wird, um behinderte Menschen zu angepasstem Aussehen und Verhalten anzuhalten und so soziale Akzeptanz – um den Preis von Konformität – zu schaffen. Dagegen sind Arbeiten, die nicht nur den Normierungszwang, sondern auch flexibel-normalisierende und subjektivierende Strategien problematisieren, immer noch eher selten (vgl. exemplarisch Jarman et al. 2002; Price/Shildrick 1998; Shildrick/Price 1996). Die Tendenz zur Flexibilisierung von Normalität und Abweichung, die sich insbesondere im Neoliberalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts entfaltet hat und im Falle von Behinderung deutlich bemerkbar ist, erfährt in den Disability Studies noch zu wenig Aufmerksamkeit. Wie das obige längere Zitat aus Überwachen und Strafen (Foucault 1989b: 236) dokumentiert, ist dieses Manko wahrscheinlich auch der Tatsache geschuldet, dass Foucault selbst nicht klar genug zwischen normierenden und normalisierenden Strategien unterschieden und zudem das Verhältnis von Disziplinarmacht und Biomacht nicht präzise entwickelt hat.
5. Das ›Regieren der Behinderung‹ An dieser Stelle fällt wiederum eine Leerstelle des Diskurses auf: Nur ausnahmsweise trifft man auf machttheoretische Überlegungen. Neben Margrit Schildrick und Janet Price (Price/Shildrick 1998; Shildrick/Price 1996), die sich im Kontext der britischen Disability Studies um eine an Foucault orientierte Reformulierung der Machtfrage bemühen, gehört Tremain (2001; 2005b) zu den wenigen, denen es um eine vertiefte Debatte des in
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70 | Anne Waldschmidt den Disability Studies vorherrschenden Machtkonzepts geht. Dabei verweist die kanadische Philosophin darauf, dass die weitgehend fehlende Auseinandersetzung dazu geführt hat, dass sich zumindest implizit ein eher anachronistisches, repressionsorientiertes Verständnis von Macht breitgemacht hat, das der eigenen Zielsetzung, nämlich Behinderung als Kategorie der Moderne zu begreifen, eigentlich widerspricht. Denn mehrheitlich halten die Disability Studies weiter an juridischsouveränen und disziplinären Machtkonzepten fest, anstatt Foucault auch an dieser Stelle zu folgen und Macht als (neo-)liberale Regierung im weitesten Sinne, nämlich als Regulierung und Führung nicht nur des Staates, sondern auch von sozialem Verhalten und von Subjektivität zu verstehen. Tremain arbeitet heraus, dass im Rahmen der Disability Studies Macht vor allem als Repression verstanden wird, als Unterdrückungsapparatur, deren Handhabe sich in Besitz einer externen Autorität befindet und mittels derer über andere regiert wird. Dagegen plädiert sie dafür, mit dem Konzept der Biomacht zu arbeiten, um zu verstehen, warum ›Behinderung‹ gerade auch für die spätmoderne Gesellschaft von Bedeutung ist: »The importance of critical work on bio-power (bio-politics) to analyses of disability cannot be overstated. For during the past two centuries, in particular, a vast apparatus, erected to secure the well-being of the general population, has caused the contemporary disabled subject to emerge into discourse and social existence. Among the items that have comprised this expansive apparatus are asylums, income support programs, quality of life assessments, workers’ compensation benefits, special education programs, regimes of rehabilitation, parallel transit systems, prostheses, home care services, telethons, sheltered workshops, poster child campaigns, and prenatal diagnosis. These (and a host of other) practices, procedures, and policies have created, classified, codified, managed, and controlled social anomalies through which some people have been divided from others and objectivized as (for instance) physically impaired, insane, handicapped, mentally ill, retarded, and deaf.« (Tremain 2005b: 5f.; Hervorh. dort)
Tremain verfolgt das Anliegen, den Ansatz der ›Gouvernementalität‹ für die Analyse des Behinderungsdispositivs fruchtbar zu machen. Mit Foucault soll Behinderung als Effekt eines Regierungswillens analysiert werden, der sich nicht auf Staatlichkeit reduzieren lässt, sondern gesellschaftliche Regulierung und Führung im weitesten Sinne beinhaltet. Das spätmoderne »government of disability« (Tremain 2005a) wirkt nicht nur kontrollierend und disziplinierend, sondern auch produktiv und produzierend. Und es wirkt auf vier Ebenen gleichzeitig: auf der Ebene politischer Souveränität, innerhalb von sozialen Institutionen und Einrichtungen, in interpersonalen Beziehungen sowie schließlich auf der Ebene der Selbstverhältnisse.
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Macht – Wissen – Körper | 71 »A Foucauldian analysis of disability would show that the juridical conception of disability that is assumed within the terms of the social model and most existing disability theory obscures the productive constraints of modern (bio-)power. A Foucauldian approach to disability would hold that the governmental practices into which the subject is inducted and divided from others produce the illusion that they have a prediscursive, or natural, antecedent (impairment), which in turn provides the justification for the multiplication and expansion of the regulatory effects of these practices.« (Tremain 2005b: 10f.; Hervorh. dort)
Einschränkend muss man anmerken: Bei Tremain findet man eine eher dogmatische Lesart der Foucault’schen Machtkonzeption, die sozusagen in deren Untiefen ›stecken bleibt‹. Die bekannten Schwächen werden reproduziert, nämlich die totalisierenden und selbstreferenziellen Machtaspekte überbetont. Entsprechend gibt es bei der kanadischen Philosophin kein Außen der Macht mehr; selbst vorhandene Formen von Widerstand, etwa die Behindertenbewegung und auch die Disability Studies und das soziale Modell, gelten ihr als bloße Effekte der Biomacht, mit denen genau das reproduziert werde, was eigentlich überwunden werden sollte (Tremain 2001: 634). Nimmt man die Gouvernementalitätsstudien (Foucault 1991) insgesamt in den Blick, deuten sich an dieser Stelle spannende Perspektiven an. Im Rahmen dieses Ansatzes lässt sich Behinderung als Dispositiv (vgl. Waldschmidt 1998; 2003; 2005a) begreifen, als eine zentrale Kategorie der Moderne und neoliberale Machtstruktur, die – etwa im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Powell und Wansing in diesem Band) – inkludierende Exklusion ebenso wie exkludierende Inklusion praktiziert. Auf der Ebene von Diskursen geht das Dispositiv mit den Grenzziehungen zwischen Normalität und Abweichung flexibel um, und z.B. in der vorgeburtlichen Diagnostik verheißt es nicht nur Selbstbestimmung, sondern auch Sicherheit (Waldschmidt 2005c). Bis in die 70er Jahre hinein hat man im gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen auf eine starr ausgrenzende, die Anstaltsverwahrung und Besonderung fördernde Apparatur gesetzt, die sich am Psychiatriemodell orientierte; heute haben wir es mit einem Ensemble vielfältiger Normalisierungsstrategien zu tun. Ohne dass es zu einer vollständigen Auflösung des negativ bewerteten Pols kommt, verschwimmen doch zunehmend die Trennlinien zwischen dem Normalsein und dem Behindertsein, und zwar nicht nur auf Werbeplakaten und in Fernsehspots. Das Dispositiv der Behinderung beruht auf Spezialdiskursen, z.B. der Behindertenpädagogik und der Rehabilitationswissenschaften, die Paradigmen wie Normalisierung, Inklusion und Empowerment für sich entdeckt haben (vgl. Dannenbeck in diesem Band). Gleichzeitig kann es auf operative Programme zurückgreifen, etwa auf rechtliche Regulierungen, die auf soziale Teilhabe abzielen, auf integrationspädagogische Förderkonzepte, betriebliches ›disability management‹
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72 | Anne Waldschmidt und die International Classification of Functioning, Disability and Health (World Health Organisation 2001), die ebenfalls den Partizipationsgedanken in den Mittelpunkt stellt. Außerdem beinhaltet das Dispositiv minutiöse Subjektivierungspraktiken wie das von Erving Goffman (1996) so anschaulich geschilderte Identitätsmanagement, bei dem behinderte wie nicht behinderte Interaktionspartner sich gleichermaßen um die Herstellung von ›Schein-Normalität‹ bemühen (vgl. Altenschmidt/Kotsch in diesem Band). Kurz, mit Hilfe der Gouvernementalitätsstudien lässt sich verdeutlichen, dass das Behinderungsdispositiv das Verhältnis von Wissen, Macht und Körper auf eine spezifische, mit spätmodernen Gesellschaften kompatible Weise strukturiert.
6. Resümee Anschlüsse an Foucault finden sich in den Disability Studies vor allem in der Kontroverse um das soziale Behinderungsmodell sowie in Körper- und Normalitätskonzeptionen. Im Unterschied zum sozialen Modell, dem zufolge Behinderung (disability) nicht mit gesundheitlicher Beeinträchtigung (impairment) gleichzusetzen ist, geht es den Disability Studies Foucault’scher Prägung darum, die Verwobenheit der beiden Ebenen aufzudecken. Die ontologische Festschreibung von ›impairment‹ wird relativiert, indem gezeigt wird, dass vermeintlich objektive, neutrale Tatbestände wie beispielsweise ›Conterganschädigung‹ (vgl. Freitag in diesem Band) diskursiv hergestellt, in Formationen von Macht/Wissen integriert werden müssen, um überhaupt zu gesellschaftlichen Interventionsfeldern (im Sinne von ›disability‹) werden zu können. Mit Foucault machen die Disability Studies außerdem darauf aufmerksam, dass das Dispositiv der Behinderung für seine Entfaltung und sein Wirksamwerden einen konkreten Ansatzpunkt braucht, nämlich den menschlichen Körper. Der Körper wird dann zu einem für das Behinderungsdispositiv relevanten Objekt, wenn – wie Foucault gezeigt hat – der Blick ins Spiel kommt, der klassifizierende, diagnostizierende, auf mögliche Eingriffe abzielende, eben der ›klinische‹ Blick. Ausgehend von spezifischen Erkenntnisinteressen werden (als ›behindert‹ eingestufte) Körper abtaxiert, abgetastet, durchleuchtet, geprüft und vermessen; sie werden zu Zielscheiben disziplinärer, kontrollierender und regulierender Machtpraktiken. Behinderte Menschen ›normal machen‹ – dass dieses gesellschaftliche Projekt im Grunde ein Paradoxon darstellt, lässt sich mit Foucault ebenfalls denken. Am Beispiel von Behinderung arbeiten die diskurstheoretisch inspirierten Disability Studies die Ambivalenz der Moderne heraus, ihr widersprüchliches Schwanken zwischen Förderung und Internierung, Exklusion und Teilhabe, Normierung und Normalisierung. Insgesamt gilt: Für den kritischen Behinderungsdiskurs bietet der Werkzeugkasten Foucaults vielfältige Inspirationen, um
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Denkalternativen zur allgegenwärtigen Naturalisierung, Pathologisierung und Entpolitisierung von ›Behinderung‹ zu entwickeln.
Anmerkungen 1
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In diesem Beitrag wurde der Schwerpunkt auf englischsprachige Arbeiten gelegt, da auf Grund des aktuellen Forschungsstandes und der Sprache dieser Diskursraum am leichtesten erschlossen werden konnte. Da das Korpus an deutschsprachigen Arbeiten, die sowohl den Disability Studies als auch der Foucault-Schule zugerechnet werden können, noch eher rudimentär ist, wurde es zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht eingehend berücksichtigt. Dass Foucault in der deutschsprachigen Forschung jedoch durchaus präsent ist, zeigt die vorliegende Anthologie: In neun Beiträgen (von insgesamt 13) wird auf Foucault Bezug genommen. Dieser Beitrag fußt in wesentlichen Teilen auf meinem Aufsatz »Verkörperte Differenzen – Normierende Blicke. Foucault in den Disability Studies« (2007). Die verwendeten Auszüge wurden für diese Veröffentlichung überarbeitet und ergänzt. In ihrer Argumentation stellt Tremain Anschlüsse an die »sex/gender«-Debatte her; außer auf Foucault bezieht sie sich deshalb auch auf Judith Butler. Umgekehrt ist dies übrigens genauso der Fall: Auch die ›normale‹ Körpertheorie hat den behinderten Körper noch zu entdecken. So kritisiert beispielsweise Meekosha (1998: 166f.), dass die feministische Körpertheorie Behinderung nicht zur Kenntnis nimmt. Hierfür ist das »Dispositiv der Frühprothetisierung« (vgl. Freitag in diesem Band) im Falle der Contergan-Schädigung ein besonders illustratives Beispiel. Das Auge des Betrachters ist hier natürlich in einem weiteren, vor allem epistemologischen Sinne zu verstehen. Dass gleichwohl mit dem Fokus auf Visibilität die Gefahr verbunden ist, die Wahrnehmungsmodi blinder und sehbehinderter Menschen auszublenden, wird in den Disability Studies ebenfalls problematisiert. Mirzoeff stellt außerdem Anschlüsse an Lacan und Derrida her. Einblicke in die Deaf Studies geben auch Davis (1995) und Corker (1998). Diese Passage erinnert sehr stark an entsprechende Formulierungen Canguilhems im dritten Kapitel seiner Studie Das Normale und das Pathologische; jedoch fehlt bei Davis ein solcher Nachweis. In einer jüngeren Veröffentlichung bekennt er sich in einer Fußnote dazu, Canguilhems Buch nicht gekannt zu haben, als er Enforcing Normalcy (1995) schrieb; vgl. Davis (2002: 182). The Normal and the Pathological
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74 | Anne Waldschmidt war allerdings bereits 1991 in englischer Übersetzung bei Zone Books, New York, erschienen (vgl. Mirzoeff 1995a: 278).
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Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis Michael Schillmeier »Die Politik ließe sich wohl besser als ein Zweig der Disability Studies begreifen.« (Bruno Latour) »Jede Existenz ist ein Ereignis.« (John Dewey)
1. Was ist Behinderung? Der gegenwärtige Diskurs zu Behinderung wird von zwei Modellen geprägt: dem medizinischen und dem sozialen Modell. Für das medizinische Modell steht die Frage im Zentrum, inwieweit Behinderung ein körperlicher oder geistiger Defekt ist, der fehlende Funktionen oder Fehlfunktionen zur Folge hat und damit zunächst einer einzelnen Person und deren Körper zugerechnet werden kann. Das soziale Modell hingegen stellt Behinderung weniger als Effekt individueller, körperlicher Schädigung dar, sondern als ein gesellschaftlich hergestelltes Phänomen. Behinderung wird als soziales Konstrukt, als soziokulturelle Praxis und Konsequenz gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Machtverhältnisse beschrieben. Die Frage, wer wann, wo und wodurch behindert ist oder nicht, zielt demnach je nach Perspektive entweder auf individuell-körperliche Probleme oder auf soziale Zusammenhänge. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist diese Divergenz nur allzu gut nachzuvollziehen, wird darin doch der explizit moderne Umgang mit Behinderung deutlich. In modernen Gesellschaften lässt sich eben keine Einigung mehr darüber erzielen, was Behinderung ist, sondern Behinderung wird von der jeweiligen Sicht auf Behinderung abhängig. Deswegen muss die Antwort auf die Frage »Was ist Behinderung« auf je spezifische
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80 | Michael Schillmeier gesellschaftliche Strukturen, Prozesse und Praktiken rekurrieren. Behinderung wird somit nicht als Naturgegebenheit, sondern als kontingentes soziales Ereignis sichtbar. Die daraus entstehenden, oftmals konfliktreichen Debatten um das Thema Behinderung haben jedoch auch Anstrengungen erwirkt, die jeweils andere Perspektive in die eigene zu integrieren. So werden individuell-körperliche Zusammenhänge durchaus zum Thema des sozialen Modells der Disability Studies (Thomas 1999), wie auch der soziale Aspekt Eingang in die medizinische Betrachtung von Behinderung gefunden hat (WHO 2001). Dies geschieht jedoch vornehmlich mit der Motivation, sich der jeweils eigenen Praxis zu vergewissern und damit den wissenschaftlich autonomen Standpunkt der sozialen oder medizinischen Sichtweise zu verdeutlichen und zu stabilisieren. Dennoch wenden sich die sozialwissenschaftlich und gesellschaftspolitisch ausgerichteten Disability Studies – die eigenen Erfahrungen von Behinderung reflektierend – gegen jedwede einseitige oder gar naturalisierende Behandlung von Behinderung. Aus ihrer Sicht ist es gerade die Dominanz der medizinischen Betrachtung von Behinderung, welche entscheidend zur negativen und individualisierenden Erfahrung des Behindert-Werdens beigetragen hat. Trotz aller Perspektivenvielfalt auf Behinderung in modernen Gesellschaften ist der moderne Diskurs über Behinderung geprägt von Macht- und Herrschaftsstrukturen, welche die Hegemonie einer – sprich der medizinischen – Perspektive ermöglichten. Aus der Sicht der Disability Studies ist für das medizinische Modell ›Behinderung‹ zunächst alles andere als die Erfahrung eines sozialen Ereignisses, sondern vielmehr ein universales und natürliches Merkmal des Menschen. Damit begründet und etabliert sich eine dreifache Normalität von Behinderung: (1) Es erscheint von Natur aus als normal, behindert zu sein, (2) die Natur der Behinderung lokalisiert sich in Individuen, und (3) es ist im gesellschaftlichen Rahmen ebenso normal, Behinderung zu überwinden. Dieser dreifachen Normalität der Natur von Behinderung gesellschaftlich gerecht zu werden, hat sich die Medizin verschrieben. Und um dies zu gewährleisten, entwirft das medizinische Modell einen universal ausgelegten naturwissenschaftlichen Referenzrahmen für die jeweilige(n) individuelle(n) Behinderung(en), innerhalb dessen techno-wissenschaftliche Expertisen und Innovationen als Mittel zur Diagnose und Klassifikation, Therapie und Rehabilitation von Behinderung dienen (WHO 2001). Der Diskurs der Disability Studies versteht sich als explizite Kritik am medizinischen Modell, da es aus ihrer Sicht Behinderung naturalisiert, indem es Behinderung primär als Kausalzusammenhang individueller Schädigungen begreift und nur sekundär die sozialen Mechanismen, die Behinderung erzeugen und gesellschaftlich sichtbar machen, anerkennt. Innerhalb der Disability Studies rückt die soziokulturelle und historische Kontext- und Perspektivenabhängigkeit der Erfahrung von Behinderung ins Zentrum des Interesses. Es ist die Perspektive auf Behinderung als ge-
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sellschaftliches Konstrukt, die sich clare et distincte vom medizinischen Blick auf die individuelle Natur von Behinderung unterscheidet. Die individuelle, körperliche oder geistige Behinderung ist nicht der natürliche Grund, sondern das Ergebnis, sprich das soziale Ereignis der Erfahrung je spezifischer gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen. Die gesellschaftliche Verortung von ›Behinderung‹ entzieht sich so jeder Annahme einer außergesellschaftlichen Natur der Behinderung. Dies macht den eigentümlichen Gegenstandsbereich der Disability Studies sichtbar: ›Behinderung‹ ist zugleich wissenschaftliches Objekt der Beobachtung und personelle wie kollektive Erfahrung. Die gesellschaftliche Erfahrung von Behinderung ist selbst Teil des ausgewiesenen Beobachtungsgegenstandes ›Behinderung‹. Dadurch haben es die Disability Studies nicht mit einem individuellen oder natürlichen Objekt zu tun, sondern mit einem multiplen Gegenstand, der als soziales Ereignis reflektiert wird (Barnes/Mercer 2003; Breckenridge/ Vogler 2001; Davis 1995; Mitchell/Snyder 1997; Stiker 1997; Thomas 1999).1 Somit definiert sich der Beobachtungsgegenstand der Disability Studies nicht nur an der Kritik der medizinisch-wissenschaftlichen Zurichtung von Behinderung und der damit verbundenen hegemonialen Politik des Behindert-Werdens. Durch die Disability Studies bekamen die behinderten Menschen ihre eigene(n) Stimme(n) im wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs zurück. Der Diskurs der Disability Studies eröffnet seither einen heterogenen sozialen Raum, der – um mit Foucault zu sprechen – »den Aufstand der ›unterworfenen Wissen‹« (Foucault 2001: 21), der vielschichtigen Erfahrung und Praxis von sozialer Behinderung ermöglicht.2 Das soziale und das medizinische Modell, so kann zusammenfassend festgestellt werden, beruhen jeweils auf einer Sicht der Behinderung, die sich der anderen Perspektive entzieht. Weder lässt sich im medizinischen Modell die soziokulturelle und historische Erfahrung operationalisieren, noch erlaubt es der Diskurs der Disability Studies, die Natürlichkeit von Behinderung außerhalb soziokultureller und historischer Prozesse und Strukturen zu verorten. Beiden Modellen unterliegt somit die Unterscheidung von Natur und Kultur von Behinderung, die sich gegenseitig ausschließen. Dadurch bleibt die Identität der jeweils eigenen Perspektive gewährleistet: Das medizinische Modell verschreibt sich der exklusiven (dreifachen) Natur von Behinderung und gewinnt dadurch kulturelle Bedeutung, und der Diskurs der Disability Studies positioniert sich in Opposition dazu, indem er Behinderung ebenso exklusiv innerhalb und nicht auch außerhalb sozialer Praxis verortet. Die oppositionelle Haltung der Disability Studies gegenüber dem medizinischen Modell entspricht der klassisch-modernen wissenschaftlichen Strategie, die es als (epistemologischen) Fortschritt ansieht, sich von einer primären Ganzheit der Erfahrung von Natur/Kultur zu emanzipieren, in-
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82 | Michael Schillmeier dem sie die Eingrenzung ihres Gegenstandsbereichs als Begrenzung der eigenen diskursiven Grenzen begreift. So verstehen sich die Disability Studies vornehmlich als Sozial- oder Kulturwissenschaften im Unterschied zu einer naturwissenschaftlichen oder kognitivistisch-individualistischen Perspektive. Dadurch definieren sich die Grenzen der Disability Studies durch die Beobachtung exklusiv sozialer Ereignisse, Prozesse und Strukturen, die sich im Unterschied a) zur Natur, b) zu den körperlichen Belangen des denkenden und fühlenden Individuums und c) im Unterschied zum Common Sense zeigen (Turner 2006). Die konfliktreiche Diskussion, inwieweit die natürliche bzw. körperliche Schädigung Teil des Gegenstandsbereiches eines sozialen Modells von Behinderung sein soll, ist ein sehr eindringliches Beispiel für den Versuch, durch exklusive Grenzziehungen den Gegenstandsbereich der Disability Studies zu sichern oder in Frage zu stellen (Oliver 1996, Swain et al. 1994; Thomas 1999). Mit der methodologischen Diskussion, inwieweit die Natur der geschädigten Körperlichkeit und die individuelle Erfahrung innerhalb des Gegenstandsbereichs des sozialen Modells der Disability Studies sein kann oder soll, verbindet sich das ›alte‹ moderne Problem der Krise der Repräsentation: Wie kann man das, was man individuell als Behinderung erfährt, als soziales und eben nicht natürliches Ereignis beschreiben und dabei den virulenten Unterschied zwischen individueller Erfahrung und sozialem Ereignis mitberücksichtigen (Foucault 1974)? Anders formuliert: Wie kann ich die körperlich-individuellen Schädigungen als sozial hergestellte Behinderungen beschreiben? Wie kann ich natürliche Zusammenhänge in ihrer kulturellen Bedeutsamkeit benennen? Um dies zu erwirken, bedarf es einer sozialen Theorie der Praxis von Behinderung, die sich clare et distincte von einer (nicht sozialen) Praxis der Theorie der Schädigung unterscheidet (Oliver 1996). Es geht also darum, eine allgemeine soziale Sicht auf Behinderung zu generieren, die von der individuell-physiologischen Welt des körperlichen Behindert-Seins abstrahieren kann. Das heißt jedoch nicht, dass physiologisch-individuelle Schädigungen keine Rolle spielen. Ganz im Gegenteil: Sie sind zentraler Bestandteil der Disability Studies, nur eben nicht als natürliche Gegebenheiten, sondern als soziale Ereignisse, welche die Herstellung der sozialen Relevanz physiologischer Zusammenhänge sichtbar machen (Swain et al. 1994; Swain/French 1997). Verstehen sich die Disability Studies als wissenschaftliche Beobachtung des ausschließlich sozialen Ereignens von Behinderung, dann besteht der Umgang mit empirischen Daten in der Reflexion der Praxis des sozialen Behindert-Werdens im Gegensatz zum physiologischen oder kognitivmentalen Behindert-Sein. Nimmt man die damit getroffene Unterscheidung soziale vs. nicht soziale Natur von Behinderung als Leitdifferenz einer empirisch ausgelegten soziawissenschaftlichen Behinderungs-Forschung, dann umgrenzt dies den eigenen Forschungsbereich und er-
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möglicht ein produktives und pluralistisch angelegtes Theoretisieren der je spezifischen selbst hergestellten gesellschaftlichen Zusammenhänge, ohne sich dem naturwissenschaftlich-medizinischen Diskurs aussetzen zu müssen. Aus der Sicht der Disability Studies konnte sich Letzterer nur deswegen so hegemonial entfalten, weil dieser ›Behinderung‹ als (natürlichphysiologisches) Objekt und nicht gesellschaftliches Konstrukt behandelt, das es dann ebenso natürlich gilt, ›gesellschaftlich‹ zu überwinden. Demgegenüber kennt eine Theorie der sozialen Praxis von Behinderung keine natürlichen Objekte, sondern nur soziale Konstruktionen. Somit wird die gesellschaftlich hergestellte Unterscheidung sozial/nicht sozial bestimmend für ein soziales Modell von Behinderung. Jeglicher Verweis auf ein material-sinnliches oder gefühltes individuelles Was von Behinderung (Subjekte, Objekte, Körper der Behinderung) kann nur als soziales Ereignis begriffen werden. Für ein soziales Modell gibt es entweder soziale Konstruktionen (Kultur) oder Objekte (Natur). Ob eine sehgeschädigte Person diesen Text lesen kann oder nicht, ist aus sozialer Perspektive nicht primär eine Frage und Folge der Sehschädigung. Es sind vielmehr die soziale(n) Zuschreibung(en) und Exklusions- oder Inklusionspraktiken (z.B. [un-]lesbare Schrift, unlesbares Format), d.h. die gesellschaftlich institutionalisierten Barrieren, welche sozialwissenschaftlich am Behindert-Werden interessieren. Eine Gesellschaftstheorie der Behinderung lässt sich somit nur als Kommunikation über die soziale Praxis von Behinderung (durch den Optiker, die Medizin, die Politik, das Recht etc.) konzipieren und unterscheidet sich dadurch vom Interesse an den natürlich-physiologischen Bedingungen (Sehschädigung, Schriftgröße etc.) der Kommunikation. Nimmt man die soziale Matrix ernst, dann wird deutlich, dass die Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge nicht durch die Dinge und Objekte und nicht durch die fühlenden, wahrnehmenden und denkenden Individuen zustande kommt, sondern dadurch, dass man davon absieht. Die sozialwissenschaftliche Perspektive auf Behinderung ist nicht radikal-demokratisch zu verstehen, aber dennoch hochgradig politisch, indem sie eine exklusiv soziale Realität von Behinderung proklamiert. Subjekte und Objekte, wie z.B. ein Individuum mit einem Körper mit Augen mit grünem Star, werden zwar unhinterfragt als Teil sozialer Konstruktionen anerkannt, haben aber keine aktive Stimme in der sozialen Welt, sondern nur als beobachtete Objekte, z.B. durch die Medizin oder die Disability Studies, die kritisch beobachten, was Mediziner tun.3 Will man aber dennoch über das Behindert-Werden des Sehgeschädigten beim Lesen – sei es einer Zeitung oder sei es dieses Textes – etwas herausfinden, so sehen wir uns der eigentümlichen Tatsache gegenüber, dass in den Beobachtungen die Objekte des Interesses (ob Zeitung, Text, Sehschädigungen) nicht aus den Konstruktionen herausfallen, sondern wie »stubborn fact(s)« (Whitehead 1978: 128f.) diese mitbestimmen.4 Ohne
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84 | Michael Schillmeier die individuellen, materialen Objekte ›geschädigte Augen‹, ›Sehschädigung‹, ›Zeitung‹, ›Text‹ gäbe es nichts zu kommunizieren.
2. Grenzen der sozialen Perspektive(n) auf Behinderung Dieser Text möchte nun eine sozialwissenschaftliche Perspektive vorschlagen, die sich nicht durch die Abgrenzung zum nicht sozialen Anderen, sondern durch Verknüpfung mit dem sozialwissenschaftlich Ausgeschlossenen bestimmt. Behinderung wäre dann aus soziokultureller und historischer Perspektive nicht im Unterschied zur ›Natur‹, zur individuellen Erfahrung oder physiologischen Zusammenhängen von Behinderung, sondern als Verknüpfung damit zu denken. Erfahrung und Ereignis von Behinderung meint dann das Behindert-Werden als Verknüpfung von Natur und Kultur und nicht das Unterscheiden von natürlichem Behindert-Sein und sozialem Behindert-Werden. Dadurch wird das soziale Ereignis, das aus klassisch sozialwissenschaftlicher Perspektive Behinderung erklären soll, selbst erklärungsbedürftig. Ausgangspunkt einer solchen Sichtweise auf Behinderung wäre die Annahme von multiplen Objekten des Sozialen/Nicht-Sozialen.5 Diese begründen die Erfahrung der Kultur von Behinderung. Nach John Dewey bezeichnet die Erfahrung von Kultur »den umfassenden Bereich der Dinge, die in einer unbestimmten Vielfalt von Formen erfahren werden« (Dewey 1995: 451). Im Sinne Deweys benennen multiple kulturelle Objekte »Artefakte, die als ›materiell‹ gelten, und Operationen an und mit materiellen Dingen [artikulieren]. Die Tatsachen, die vom Ausdruck ›Kultur‹ benannt werden, schließen außerdem das gesamte System von Überzeugungen, Haltungen und Dispositionen ein, die wissenschaftlich und ›moralisch‹ sind und die als kulturelle Tatsachen über die spezifischen Verwendungen entscheiden, denen die ›materiellen‹ Konstituenten der Kultur zugeführt werden.« (Ebd.)
Eine so konzipierte kulturelle Erfahrung von Behinderung anerkennt die Materialität, Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Emotionalität der Objekte in der Praxis der (Mit-)Bestimmung des Sozialen. Durch die Perspektive auf die Konstruktion von multiplen kulturellen Objekten rückt eine prozessuale Dimension des Sozialen in den Vordergrund, die sich nicht vom NichtSozialen unterscheidet, sondern erst mit und durch das Nicht-Soziale ihren ereignishaften Charakter ermöglicht und erhält. Die Komplexität des Sozialen als emergierendes Phänomen bleibt erhalten, die Kontingenz des Sozialen wird jedoch als Modus der Heterogenität des Sozialen, und nicht in der Unterscheidung zum Nicht-Sozialen, anerkannt. So gedacht, ist das Soziale dann nicht ein »place, a thing, a domain, or a kind of stuff but a provisional movement of new associations« (Latour 2005a: 238) heteroge-
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ner Elemente. Damit rückt die Erfahrung von Behinderungen als zeitlichräumlich kontingente und heterogene Ereignisse in den Mittelpunkt, die sich nicht durch ›das Soziale‹ im Unterschied zur ›Natur‹ von Behinderung verstehen lässt, sondern die Erklärungsbedürftigkeit und Fragwürdigkeit des Sozialen der Behinderung erst sichtbar macht. Wie oben beschrieben, bestimmt sich innerhalb des Diskurses der Disability Studies die ›Natur‹ von Behinderung als Ergebnis innergesellschaftlicher Strukturen und Prozesse im Gegensatz zur individuellen ›objektiven‹ Natur der Behinderung. Dadurch entsteht ein eigenartiges Dilemma der Disability Studies im Hinblick auf die medizinische Praxis und auch auf individuelle Erfahrung, auf Körper, Technologien usw. Zwar erkennt der Diskurs der Disability Studies die soziokulturelle Bedeutung der medizinischen Praxis an, kann aber sowohl medizinische Praxis als auch individuelle Körper und Technologien nur mehr als Aspekte der Naturalisierung von Behinderung konzeptualisieren. Die gesellschaftliche Bedeutsamkeit der medizinischen Praxis sowie die Komplexität von Körpern und Technologien als Kultur/Natur-Verknüpfungen kommen so nicht in den Blick. Die Perspektive der Disability Studies setzt sich damit ihrerseits der Gefahr aus, medizinische Praxis, Körper und Technologien zu naturalisieren, indem sie ihnen kein produktives und damit affirmatives Mitspracherecht in der ereignishaften Heterogenität von Behinderungen einräumt. Das Ziel der hier verfolgten Perspektive ist es hingegen, der ›Natur/Kultur‹ von Behinderung das Mitspracherecht im gesellschaftlichen Kontext wiederzugeben.
2.1 Ereignis und Erfahrung Die Begriffe ›Ereignis‹ und ›Erfahrung‹ (als ›längeres Ereignis‹) sollen in einem pragmatischen Sinne verstanden werden. Erfahrung kann man mit John Dewey als »praktisches Unternehmen« verstehen, dessen »Gegenstände […] eine Mischung aus Gefährlichem und Ungewissem mit Bestimmten und Gleichförmigen enthalten« und sich »als signifikante, sich in verschiedenen Kontexten darstellenden Eigenschaften von Ereignissen« aktualisieren (Dewey 1995: 9f.). Deweys Begriff von Erfahrung ist deswegen so interessant, weil er sich konsequenterweise der Notwendigkeit, a priori zwischen der physischen und idealen Welt, zwischen dem Sozialen und Nicht-Sozialen, zwischen Kultur und Natur zu unterscheiden, entzieht. Dadurch wird die Erfahrung von Behinderung zu einem offenen, heterogenen Ereignis von Natur/Kultur. Nach Dewey gibt es »Erfahrung sowohl von der Natur wie in der Natur. Es ist nicht die Erfahrung, die erfahren wird, sondern die Natur – Steine, Pflanzen, Tiere, Krankheiten, Gesundheit, Temperatur, Elektrizität und so weiter. Dinge, die auf bestimmte Weise miteinander agieren, sind Erfahrung; sie sind das, was erfahren wird. Auf bestimmte
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86 | Michael Schillmeier andere Weise mit anderen natürlichen Objekten verknüpft – mit dem menschlichen Organismus –, sind sie ebenso die Art, wie Dinge erfahren werden. Erfahrung reicht so in die Natur hinunter; sie hat Tiefe. Ebenso hat sie Breite und das in einem unendlichen elastischen Ausmaß. Sie dehnt sich aus. Diese Ausdehnung macht die Schlußfolgerung aus. … Erfahrung schließt ein, was Menschen tun und leiden, was sie ersehnen, lieben, glauben und ertragen, und ebenso, wie Menschen handeln und wie sie behandelt werden, die Arten und Weisen, wie sie tun und leiden, wünschen und genießen, sehen, glauben, phantasieren – kurzum Prozesse des Erfahrens. ›Erfahrung‹ bezeichnet das gepflanzte Feld, die gesäten Saaten, die eingebrachte Ernte, den Wechsel von Tag und Nacht, Frühling und Herbst, feucht und trocken, Hitze und Kälte, die beobachtet, gefürchtet, ersehnt werden; Erfahrung bezeichnet auch den, der pflanzt und erntet, der arbeitet und genießt, hofft, fürchtet, plant, Magie oder Chemie zu Hilfe nimmt, der niedergeschlagen und voller Triumph ist. Erfahrung ist ›doppelläufig‹ in dem Sinne, dass sie in ihrer primären Ganzheit keine Trennung zwischen Akt und Material, zwischen Subjekt und Objekt kennt, sondern beide in einer unanalysierten Totalität enthält.« (Dewey 1995: 18, 25; Hervorh. dort)
Mit einer solchen Konzeptionalisierung ihres Beobachtungsgegenstandes ›Behinderung‹ als heterogenes Ereignis von Natur/Kultur, würde die dergestalt empirisch ausgelegte Sichtweise der Disability Studies selbst zu einem offenen, grenzgängerischen Ereignis von Natur/Kultur. Durch die kulturelle Erfahrung ist Behinderung abhängig, rückgebunden und bestätigt durch die ereignishafte Erfahrung von der Natur wie in der Natur ›Behinderung‹. Die Besonderheit der Disability Studies besteht dann nicht etwa darin, sich durch eine exklusiv soziale Perspektive von der medizinisch-naturwissenschaftlichen Praxis abzugrenzen, sondern entfaltet ein experimentelles Unterfangen, das sich explizit gegen abstrakte Theoriekonstruktionen wendet, die »exklusiv einen eigenen Bereich ohne den Kontakt mit den Dingen der gewöhnlichen Erfahrung« (Dewey 1995: 23) von Behinderung reklamieren. Damit wird die Möglichkeit aktualisiert, sowohl den eigenen Beobachtungsgegenstand als auch die eigene Beobachtung für das Ausgeschlossene, das Andere zu öffnen. Durch die Erfahrung und das Ereignis von Behinderungen hindurch geht die sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektive als eine andere, eine veränderte hervor.
2.2 Diskurse als Ereignisse Die hier vorgestellte Perspektive des Behindert-Werdens entspricht dem Foucault’schen Vorschlag einer »geringfügigen Verschiebung« des Denkens hin zum Ereignis-Denken, sie zielt also darauf, »den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen« (Foucault 1994: 38). Foucaults durchgängiges Interesse bestand ja darin, die ›Realität des Diskurses‹ und dessen Einheit in der ständig selbsttransformierenden Tätigkeit, d.h. im gesellschaftlichen Sprechen, Denken,
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Handeln menschlicher Kollektive (diskursive Praktiken) und ihrer materiellen Manifestationen (z.B. Körper, Bücher, Dinge, Technologien, Institutionen, Bauten und Bauwerke etc.) als »variabel und relativ« (Foucault 1981: 36) zu analysieren. Diskurse sind demnach »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1981: 74). Sie aktualisieren Prozesse, die zeigen, »wie sich allmählich, schrittweise, tatsächlich und materiell die Subjekte, das Subjekt auf der Basis der Vielfalt der Körper, Kräfte, Energien, Materien, Wünsche und Gedanken usw. konstituiert haben. […] Die Macht […] muß analysiert werden als etwas, was zirkuliert und nur durch Verkettung funktioniert. Sie ist niemals hier und dort anzutreffen, sie liegt nie in den Händen gewisser Leute, sie lässt sich nie aneignen wie Reichtum oder ein Gut. Die Macht funktioniert. Die Macht verteilt sich über Netze« (Foucault 2001: 43-44).
Foucaults produktiver Machtbegriff6 fasst die netzwerkartigen materialen Praktiken zusammen, die den Diskursen ihre heterogene Ereignishaftigkeit geben, indem diese Subjekte, Objekte, Techniken und Technologien des Wissens (und Nicht-Wissens) zirkulieren lassen, um die diskursive Stabilität und Kontinuität zu gewährleisten. Man kann nun die Erfahrung des Behindert-Werdens als produktiven Effekt von Machtverhältnissen ebensolcher diskursiver materialer Praktiken beschreiben. Und so ist die Quintessenz für ein adäquates kulturelles Verständnis von Behinderung der Weg »from theory to practice« (Oliver 1996). Es ist die Verknüpfung von physiologischer, individueller und kollektiver Erfahrung des Behindert-Werdens, die sich nicht in ein adäquates Theoretisieren von Behinderung auflösen lässt. Vielmehr ist es die materiale Praxis des BehindertWerdens selbst, die die Praxis der Disability Studies bestimmt, und nicht die einseitige, professionalisierte Zurichtung von Behinderung – sei es durch medizinische Praxis oder ihre Kritik durch das soziale Modell. Kritik an den bestehenden Machtprozessen, so meine These in Anlehnung an Dewey und Foucault, lässt sich im Zuge des Erfahrungs- und Ereignischarakters von Behinderung nicht mehr sozialtheoretisch, d.h. in der Abstraktion von der individuellen Praxis, der Materialität, der Stofflichkeit (Körper, Technologien, Artefakte, Objekte) formulieren. Kritik ist auch nicht mehr negativ, d.h. als Grenzbestimmung dessen, was Behinderung ist, zu bestimmen, sondern positiv, d.h. in der Überschreitung der Grenzen dessen, was behindert ist. Eine positive Kritik stellt die Politik des BehindertWerdens ins Zentrum des Interesses. Ganz im Sinne von Foucaults produktivem Machtbegriff ist es die individuell bzw. kollektiv am eigenen Leibe erfahrene Politik der Grenze und Grenzziehung von Normalität, d.h. die leibliche Erfahrung des Behindert-Werdens materialer Praktiken, die es ebenso ermöglicht, die individua-
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88 | Michael Schillmeier lisierende Erfahrung von Behinderung zu überschreiten (Breckenridge/ Vogler 2001). Damit werden sowohl ›Behinderung‹ als auch die Modi der Beschreibung selbst zu Ereignissen sozialer Praxis. Diese entfalten ein Selbstverständnis der Disability Studies, die sich als Politik der Grenzerfahrungen und -überschreitungen soziokultureller Ordnungsregimes artikulieren. So wäre der oppositionelle Charakter der Disability Studies gerade nicht in der Konstruktion einer Theorie oder eines Modells zu sehen, das Behinderung allein durch das Soziale bestimmt und dessen wissenschaftliche Erklärungskraft und gesellschaftspolitische Position durch die Abstraktion vom Nicht-Sozialen gewonnen wird. Konzipiert man Behinderung als ereignishaften materialen Diskurs, der die Praxis und Erfahrung von Behinderung als situatives7 Behindert-Werden in den Mittelpunkt stellt, so führt dies zu multiplen Realitäten von Behinderungen, die sich nicht durch eine Theorie oder ein Modell vereinheitlichen lassen. Diese multiplen Realitäten geben dem Diskurs ›Behinderung‹ seine Ereignishaftigkeit zurück. Darin wären die Spezifizität, die Relevanz und die ontologische Politik (Mol 1999; 2002) der Disability Studies zu sehen, konsequent und permanent die Strategien der Diskursivierung zu durchkreuzen. Einer solchen Politik des Behindert-Werdens kann es demzufolge nicht darum gehen, den klinischen, verobjektivierenden und individualisierenden medizinischen Blick auf Behinderung zu unterstreichen und in der Folge zu kritisieren. Trotz all der guten Gründe, dies zu tun, besteht die Gefahr, dass die präferierte soziale Dimension alleinig im Unterschied zur naturalisierenden, medizinischen Zuschreibung von Behinderung als individuelle(s) Schädigung/Defizit verstanden wird. Dies hat zur Folge, dass medizinische Praxis nur unterkomplex als die medizinische Praxis beschrieben werden kann und damit ebenfalls normalisiert wird. Man entzieht damit der medizinischen Praxis ihre Ereignishaftigkeit, um die Differenz der eigenen Perspektive sichtbar zu machen, und setzt sich dadurch selbst der an die Medizin herangetragenen Kritik aus. Ein Blick auf die Foucault’schen medizinhistorischen Analysen mag dies verdeutlichen. Wenngleich Foucault die explizit medizinische Praxis beschreibt, so tut er dies, um die Komplexität medizinischer Praxis in ihren Besonderheiten an einem bestimmten Ort zu bestimmten Zeiten aufzuzeigen. Dazu gehören die historisch je spezifischen Ensembles von Technologien des Visualisierens und Wahrnehmens, des Protokollierens, Klassifizierens, Kalkulierens und Archivierens (Foucault 1991; Berg/Mol 1998). Dass es Foucault nicht um den medizinischen Blick, sondern um den Wandel der Praxen des medizinischen Wissens geht, hat er selbstkritisch immer wieder betont (Foucault 1981: 81f.). Dennoch geht mit der modernen medizinischen Praxis die Individualisierung von Krankheit einher. Dazu Foucault:
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Zur Politik des Behindert-Werdens | 89 »Es gibt nur individuelle Krankheiten – nicht weil das Individuum auf seine eigene Krankheit reagiert, sondern weil sich die Tätigkeit der Krankheit immer schon in der Form der Individualität vollzieht. […] Das Individuum ist nicht die anfängliche und ausgeprägteste Form, in der sich das Leben darbietet. Es wird dem Wissen erst am Ende eines langen Verräumlichungsprozesses zugänglich, dessen entscheidende Instrumente ein bestimmter Gebrauch der Sprache und eine diffizile Verbegrifflichung des Todes gewesen sind.« (Foucault 1991: 182)
Individualisierung von Krankheit, Leben und Tod durch die Etablierung moderner klinischer Medizin setzt ein komplexes Set materialer Praktiken und Technologien der Sichtbarmachung individueller Formen, die sich also gerade nicht auf das Subjekt ›Arzt‹ oder auf das Objekt ›Medizin‹ reduzieren lässt. Subjekte und Objekte, Arzt, Patienten und Medizin sind vielmehr Effekte von materialen Praktiken, die sich dadurch konstituieren, bewähren oder aber verändern. Foucaults medizinhistorische Arbeiten zeigen, dass die komplexe Geschichte der klinischen Medizin von einem auf Evidenz basierenden professionalisierten ›Sehen‹ motiviert war, das gleichzeitig universell ›sagbares‹ Wissen generieren sollte und damit immer auch die Erlernbarkeit und Lehrbarkeit der Sagbarkeit des Sehens in den Settings der Klinik verbindet. Die Gleichsetzung des ›Sehens‹ bzw. der Sichtbarmachung eines körperlichen Defizits und der allgemeingültigen Aussage darüber, dass das Ergebnis womöglich von der gesetzten Norm und Normalität abweicht, entspricht durchaus dem Versuch eines direkten Erkennens der natürlichen Ordnung und ihrer Abweichungen. In der Tat wäre ›Behinderung‹ dann das reine Aufdecken eines nicht gesellschaftlichen, eines natürlichen Phänomens und eben keine soziokulturelle und historisch divergierende Erfahrung. Medizinische Praxis würde sich dadurch außerhalb des gesellschaftlichen Rahmens platzieren und zum Fürsprecher einer natürlichen Ordnung von individualisierter Krankheit und/oder Behinderung werden. Foucault hat nun aber gezeigt, dass die Utopie einer Symmetrie von Sehen und Sprechen über die Dinge, die man in einer institutionalisierbaren medizinischen Sehsprache entdeckt zu haben glaubte, nur von kurzer Dauer war. Mit Foucault erkennen wir gerade den Mythos einer veränderungsfreien, quasi neutralen Übersetzung des Sichtbaren in das Sagbare. »Es war eine kurze Periode der Euphorie, ein goldenes Zeitalter, das nur einen Tag dauerte: Sehen, Sagen und Sehen-Lehren durch das Sagen des Gesehenen kommunizierten in einer unmittelbaren Transparenz. Die Erfahrung war selber mit vollem Recht Wissenschaft; der Gang des Erkennens war der des Lernens und Lehrens. Souverän las der Blick einen Text, dessen klares Wort er mühelos aufnahm, um es in einem zweiten und doch identischen Diskurs wiederherzustellen: vom Sichtbaren gegeben, machte dieses Wort wiederum sichtbar, ohne irgendetwas zu verändern. In
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90 | Michael Schillmeier seinem souveränen Vollzug griff der Blick auf die Sichtbarkeitsstrukturen zurück, die er selber in sein Wahrnehmungsfeld hineingelegt hatte.« (Foucault 1991: 130)
Foucaults Analysen lassen eines nicht mehr zu: Medizin als Einheit zu konzipieren – weder zeitlich noch räumlich. Im Zentrum steht die Ereignishaftigkeit medizinischer Praxis, welche die Ordnung des Diskurses daran hindert, abstrakt, unhinterfragbar oder gar homogen zu sein (Foucault 1994).
3. Politik des Behindert-Werdens revisited Die Arbeiten im Bereich der so genannten STS-Forschung (Science, Technology and Society) unterstreichen den ereignishaften Charakter von wissenschaftlicher Praxis, die sich weder durch die sozialwissenschaftliche Kritik normalisieren lässt noch einer Ontologie unterliegt oder eine Realität produziert. Dies geschieht nicht nur im Bezug auf die Naturwissenschaften, sondern auch im Hinblick auf die Bestimmung des Gegenstandsbereiches der Sozialwissenschaften selbst. Hierin sehe ich auch das Potenzial für die Disability Studies. Anknüpfend an Foucaults Macht/Wissens-Analysen (Law 1986; 1991) entwickelte sich eine transdisziplinäre Forschungsgemeinschaft, deren Hauptinteresse – trotz aller Unterschiede – in der Erforschung der Heterogenität und Ereignishaftigkeit des Sozialen liegt (Latour 2002; 2005a; Hetherington/Munro 1997; Latimer 2000; Law 1994; Law/Hassard 1999; Law/Mol 2002; Lee/Munro 2001). Die STS-Forschung verweist auch in Bezug auf die von ihr eingehend untersuchte medizinische Praxis auf deren ontologische Multiplizität und die der daran beteiligten und produzierten Körper, Subjekte und Objekte (Cussins 1998; Mol 1999; 2002). Eine Vielzahl von Praxisstudien zeigt, dass die medizinischen Körper, Subjekte und Objekte keineswegs innerhalb einer uniformen Routine zu homogenen, verobjektivierten Einheiten werden (Berg/Mol 1998; Heinlein 2003; Law/Mol 2002; Moreira 2004; Struhkamp 2004). Sie artikulieren vielmehr, wie Annemarie Mol an den Beispielen von Anämie und Atherosklerosis (Arterienverkalkung) zeigt, an und für sich heterogene Dinge, die multiple Realitäten aktualisieren (Mol 1998; 1999; 2002). Das heißt gerade nicht, dass man eine oder die Natur von Anämie oder Atherosklerosis annimmt und dann verschiedene Perspektiven oder Repräsentationen davon erzeugt. Vielmehr kommt es zu einer Multiplikation von Anämien oder Atherosklerosen, zu »ontological politics«, wie Mol (1999) das nennt, die sich durch die Praxen der unterschiedlichen Diagnose- und Therapieverfahren in ihrer Realität völlig unterscheiden. Medizinische Praxis zeigt sich als
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Zur Politik des Behindert-Werdens | 91 »an amalgam of thoughts, a mixture of habits, an assemblage of techniques. Medicine is a heterogeneous coalition of ways of handling bodies, studying pictures, making numbers, conducting conversations. Wherever you look, in hospitals, in clinics, in laboratories, in general practitioners’ offices – there is multiplicity.« (Berg/Mol 1998: 3)
STS-motivierte empirische Forschung zu Behinderung verdeutlicht den in der alltäglichen Praxis komplexen Ereignischarakter von behindernden und ermöglichenden Realitäten. Behinderung verstanden als ›dis/abling practices‹ betont das situative Ineinanderwirken und Verknüpftsein von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren, Prozessen und Praktiken, welche die komplexen und kontingenten, guten wie schlechten Erfahrungen von Behinderung, von behindernden wie ermöglichenden (dis/abling) Szenarien aktualisieren (Law/Moser 1999; Schillmeier 2005; 2007; Struhkamp 2004). Dabei ist es eine empirisch offene Frage, wie, wo und wann sich Behinderung herstellt. Behinderung verstanden als dis/ability verweist auf das komplexe Zusammenspiel von Körpern, Sinnen, Gefühlen, Symbolen, Erfahrungen, Technologien und technologischen Infrastrukturen, von situativ erzeugten Raum- und Zeitverhältnissen etc., die soziale Praxen ereignen lassen, die Handlungsrahmen und -kompetenzen ermöglichen und fortschreiben oder aber in Frage stellen, behindern und unmöglich machen. In der Konsequenz ›de/konstruiert‹ die sozialwissenschaftliche STSForschung sowohl die Einheit der medizinischen Praxis als auch das Faktum ›Behinderung‹, indem sie auf den heterogen-materialen Ereignis- und Konstruktionscharakter sozialer Praxis verweist. Anknüpfend an Gilles Deleuze und Felix Guattari ist Behindert-Werden demnach nicht als »Evolution durch Herkunft und Abstammung« zu verstehen, weder im Sinne individueller Schädigung noch als Folge gesellschaftlicher Strukturen. »Es kommt (vielmehr) durch Bündnisse zustande«, Bündnisse von menschlichen und nicht menschlichen, sozialen und nicht sozialen Akteuren, Objekten und Prozessen (Deleuze/Guattari 1992: 325). So lässt sich z.B. die Erfahrung von Blindheit nicht nur als eine Geschichte geschädigter Augen denken, welche die Natur der Blindheit als ahistorisches, unverändertes Faktum voraussetzt, um es dann zum Einschreibungsort pluraler und historisch spezifischer, gesellschaftlicher Vorund Einstellungen, von Vorurteilen und Ideen etc. zu machen (Barasch 2001; Monbeck 1973). Die damit initiierte und höchst fragwürdige Trennung zwischen einer fixen physiologischen Natur von Blindheit und der pluralen gesellschaftlichen Konstruktionen von Blindheit »verlangt eine erkenntnistheoretische Position«, so Carolin Länger in ihrer Kultursoziologie des Sehsinnes, um die »natürliche[n] Seinsgewissenheiten von Sehenden zu hinterfragen – und Blindheit als erklärungsbedürftiges Phänomen zu untersuchen« (Länger 2002: 5).8 Danach ist »Blindheit als ein soziales Er-
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92 | Michael Schillmeier eignis ›durch und durch‹« und »[d]as Merkmal ›leere Augenhöhlen‹ […] als kulturelles Zeichen« (ebd.) zu verstehen. Die daraus hervorgehenden »alltagsweltlichen Irritationen« (ebd.) ermöglichen und inszenieren eine explizit kultursoziologische Beschreibung. Auch wenn Blindheit unhintergehbar mit der Dominanz sozialer Praxis visueller Infrastrukturen verwoben ist, wie dies Längers Kultursoziologie des Sehsinns zu suggerieren scheint, so ist die alltägliche Praxis blinder Menschen doch immer auch mehr als die Beziehung zur visuellen Kultur und immer mehr als ein rein soziales Ereignis (Schillmeier 2005; 2007). Das Soziale selbst wird als heterogenes Ereignis sozialer und nicht sozialer Zusammenhänge sichtbar. Der hier vorgestellte Blick auf Erfahrung und Ereignis konzipiert die alltägliche Praxis des Blind-Werdens als ontologische Politik des Sozialen, die in der Verknüpfung mit dem Nicht-Sozialen ständig die eigenen Grenzen in Frage stellt, übersteigt, multipliziert und neu konstituiert. Die Verunsicherungen der heterogenen Ereignisse des Blind-Werdens (oder Behindert-Werdens) liegen auf Seiten der Herstellung ontologischer Ordnungen, die in der alltäglichen Praxis generiert werden, und nicht nur auf Seiten erkenntnistheoretischer Perspektiven sozialer Wirklichkeit.9 Sie verweisen stets auf den heterogenen Ereignischarakter der multiplen Erfahrung von der Natur und in der Natur von Blindheit(en) oder generell Behinderung(en), der wiederum entscheidend die Modi der Beobachtung dessen selbst mitproduziert. Mit der hier vorgetragenen Ereignislogik wird, ganz im Sinne des Erfahrungsbegriffes bei Dewey, ein kultureller Forschungspragmatismus weitergeführt, der versucht, dem Beobachtungsobjekt in seinem Ereignen als Natur/Kultur selbst eine Stimme zu geben. Dies hat aber zur Konsequenz, dass einem solchen Forschungsinteresse die professionalisierten Abgrenzungsmechanismen, die wissenschaftlichen Leitdifferenzen fehlen, die darüber Aufschluss geben, aus welcher Perspektive bzw. aus welcher Disziplin heraus Behinderung sichtbar wird. Innerhalb eines solchen Forschungsprojekts hat man es mit vagen, ja diskontinuierlichen, eben ereignishaften Identitäten zu tun, die sich auch nicht mehr aus einer distanzierten und exklusiven sozialen Perspektive vereinheitlichen lassen. Ereignislogisch gedacht bleiben damit ›Behinderung‹ und ›das Soziale‹ begründungs- und erklärungsbedürftige Praxis und können nicht a priori als Begründungs- und Erklärungsmatrix herangezogen werden. Paradox formuliert: Die sozialwissenschaftliche Forschung zu Behinderung bleibt zunächst namenlos, da sie ›das Soziale‹ selbst kontingent und heterogen beschreibt. Mit dem in diesem Beitrag vorgestellten Konzept »Behinderung als Erfahrung und Ereignis« soll dieser produktiven Namenlosigkeit dennoch ein Name gegeben werden. Die damit beschriebene Politik des Behindert-Werdens konterkariert die Ordnung des Diskurses, welche
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Zur Politik des Behindert-Werdens | 93 »in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert […] – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bahnen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen« (Foucault 1994: 11).
Demzufolge unterscheidet sich eine objektzentrierte, ereignis- und erfahrungslogische Konzeption der Natur(en)/Kultur(en) von Behinderung von einem rein medizinischen bzw. sozialen Modell. Die ereignislogische Konzeption von Behinderung stellt die »Artikulation« (Latour 2005a) der Erfahrung des heterogenen Objektes ›Behinderung‹ ins Zentrum: Erst in der kontingenten und heterogenen Verwobenheit mit vergangenen und gegenwärtigen, individuell-körperlichen und umweltbezogenen physiologisch-biologischen Prozessen und Einflüssen, im alltäglichen Umgang mit Artefakten und Technologien artikuliert sich das je spezifische natürliche/ kulturelle ›Haben‹ von ›Behinderung‹. »Denn Dinge«, so John Dewey, »sind in viel höherem Maße Objekte, die behandelt, benutzt, auf die eingewirkt, mit denen gewirkt werden soll, die genossen und ertragen werden müssen, als Gegenstände der Erkenntnis. Sie sind Dinge, die man hat, bevor sie Dinge sind, die man erkennt.« (Dewey 1995: 37, Hervorh. dort; vgl. auch Latour 2002) Mit dem materialen Ereignen der alltagsweltlichen Erfahrung entfaltet sich nicht nur das Objekt ›Behinderung‹, sondern es geht damit ebenso eine (Re-)Konfiguration des Objektes des Sozialen einher. Dadurch wird eine sozialwissenschaftliche Begründungslogik, die ›das Soziale‹ als epistemologische Matrix zur Beschreibung der Natur von Behinderung heranzieht und voraussetzt, selbst fragwürdig. Soziales lässt sich, so die hier vorgeschlagene These, nicht ausschließlich sozial erklären und bestimmt gerade dadurch das komplexe Werden des Objektes Behinderung. In diesem ereignishaften Vermittlungsprozess menschlicher/nicht menschlicher und sozialer/nicht sozialer Dynamiken entfalten sich die kontingenten Naturen/Kulturen der Erfahrung von Behinderung. Die Erfahrung der Heterogenität von Behinderung ereignet die soziale und individuelle Natur, die Subjekte und Objekte des Behindert-Werdens und entfaltet dadurch ihre Kontinuität und Kontingenz. Es ist somit die Wiederholung heterogener (menschlicher/nicht menschlicher, sozialer/nicht sozialer) Ereignisse, sprich die regelhafte ›Regellosigkeit der Erfahrung‹, welche die Systematik exklusiv-sozialer oder exklusiv-biologischer Argumentation unterwandert und ihre jeweiligen Diskurse aus sich hinaustreiben lässt. Vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Perspektive auf Behinderung als Erfahrung und Ereignis kann es also nicht darum gehen, Behinderung den tradierten Rahmenbedingungen sozialwissenschaftlicher Forschung anzupassen, sondern umgekehrt ›das Soziale‹ und seine Beobachtungsroutinen am Phänomen des Behindert-Werdens neu auszurich-
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94 | Michael Schillmeier ten. Es gilt, dem ›Gemurmel der Dinge‹ der Natur/Kultur des BehindertWerdens Stimme und Gehör zu geben. Damit wird Wissen über das Beobachtungsobjekt ›Behinderung‹ nicht durch die soziale Welt generiert, die sich als abgehoben von Körpern, Individuen, natürlichen Dingen und Technologien versteht, sondern in der Politik der Natur(en)/Kultur(en) des Behindert-Werdens selbst erfahren.10 Dem entspräche die von John Dewey vorgeschlagene empirische Methode, dass Dinge um ihrer selbst willen untersucht werden sollen, um herauszufinden, was enthüllt wird, wenn sie erfahren werden (Dewey 1995). Eine solche Perspektive partizipiert ebenfalls an Michel Callons und Bruno Latours gesellschafts- und forschungspolitischer Forderung »Behinderte aller Länder, vereinigt Euch!« (Latour 2005b), um die »Dingpolitik« gesellschaftlicher Praxis sichtbar zu machen. Mit dem zunächst eher befremdenden Neologismus »Dingpolitik« verbindet Latour eine ebenso ungewöhnlich anmutende Frage: Wie könnte ein konkretes Verständnis einer objektorientierten Demokratie aussehen? Wie dieser Text exemplarisch an ›Behinderung‹ zu zeigen versucht hat, handelt es sich bei Dingen bzw. Objekten nicht um unveränderliche, natürliche Einheiten, sondern um die kontingente wie heterogene Erfahrung des materialen Ereignens von ›prekär-stabiler(en)‹ Natur(en)/Kultur(en). Mit der multiplen, alltagsweltlichen Erfahrung von Behinderung etabliert sich eine öffentlich sichtbare kulturelle Praxis, an der sich politische Probleme, Positionen, Prinzipien und Werte artikulieren. Es konstituiert sich ein öffentlicher Raum, der sich deutlich von einem humanistisch geprägten Verständnis des Politischen unterscheidet, das Politik auf Seiten der menschlichen Kultur und im Gegensatz zu den fixen Objekten der Natur verortet. Mit den multiplen Objekten der ›Behinderung‹ wird die Dingpolitik, d.h. das Versammeln von Körpern, Technologien und Dingen, als Artikulierung der Wirklichkeit von Naturen/Kulturen evident. Dadurch wird ›Gesellschaft‹ und ihre wissenschaftliche Beobachtung zu einem heterogenen, materialen Ereignis des Politischen, das dann in der Tat – wie eingangs zitiert – als Zweig der Disability Studies begriffen werden kann.
Anmerkungen 1
Vgl. dazu z.B. Albrecht/Seelman/Bury (2001), Barnes/Oliver/Barton (2002), Barton (1996), Corker/French (1999), Gleeson (1999), Ingstad/Whyte (1995), Oliver (1990; 1996), Priestley (2003), Swain/Finkelstein/French/Oliver (1994). 2 Dazu Foucault: »Vielmehr geht es darum, lokale, unzusammenhängende, disqualifizierte, nicht legitimierte Wissen gegen die theoretische Einheitsinstanz ins Spiel zu bringen, die den Anspruch erhebt, sie im Namen der Rechte einer von gewissen Leuten betriebenen Wissen-
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schaft zu filtern, zu hierarchisieren und zu ordnen.« (Foucault 2001: 23) So heben John Swain und Sally French (1997) als Vertreter der britischen Disability Studies in ihrer Studie über die soziale Konstruktion von visueller Behinderung hervor, dass sie in keinem Satz ihrer Arbeit vom geschädigten Auge sprechen. Sie setzen sich damit identitätsstiftend von einem medizinischen Diskurs ab, dem es primär um körperliche Ursachen, Symptome und Effekte geschädigter Augen geht. Alfred North Whiteheads Ereignis-Philosophie hat dies – wie wohl keine andere – zum Thema: »The canalization of the creative urge, exemplified in its massive reproduction of social nexus, is for common sense the final illustration of the power of stubborn fact. Also in our experience, we essentially arise out of our bodies which are the stubborn facts of the immediate relevant past. We are carried on by our immediate past of personal experience; we finish a sentence because we have begun it. […] We are governed by stubborn fact. It is in this respect to this »stubborn fact« that the theories of modern philosophy are the weakest.« (Whitehead 1978: 129) Dies zeigen vorzüglich die Arbeiten der neueren sozialwissenschaftlichen STS-Forschung (Science, Technology and Society). Es ist insbesondere die von Bruno Latour, Michel Callon und John Law konzipierte Akteur-Netzwerk-Theorie, die sich empirisch wie theoretisch dem »heterogeneous engineering« (Law 1994) von Natur/Kultur, von sozialen und nicht sozialen, von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren widmet (vgl. z.B. Heinlein 2003; Law 2004; Latour 1991; 1995; 2001; 2005a; 2005b; Law/Hassard 1999; Schillmeier 2007). In Die Geburt des Gefängnisses schreibt Foucault: »Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.« (Foucault 1976: 250) In der feministischen Literatur wird die Erfahrung von Unterdrückung ebenfalls zum Marker für ›situatives Wissen‹ (Haraway 2004). Zum Verhältnis der Hegemonie des physischen Sehens und der Semantik des Visuellen in der Soziologie/Philosophie und den Umgang mit ›Blindheit‹ vgl. Schillmeier (2005; 2006). An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, wie »ordinary acts of dealing with money and money technologies fabricate enabling and disabling […] spaces of calculation. Rather than referring to money merely as a general symbolic medium of exchange, I highlight the materiality and the sensory practices involved in handling money and shaping the practices of sociality. […] Visual disability is ›situated in everyday practi-
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96 | Michael Schillmeier ces and […] can neither be understood as an individual bodily impairment nor as a socially attributed disability. Both money and blindness become visible as a complex set of configurations, ›linking bodies, material objects and technologies with sensory practices‹.« (Schillmeier 2007: 1; 2005). 10 Die Geschichte(n) der Blindheit, beginnend im antiken Griechenland bis in unsere Zeit, ist (sind) hierfür ein prominentes Beispiel. Vgl. dazu Bernidakis-Aldous (1990), Schillmeier (2005; 2006; 2007).
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II. Disability Studies, Cultural Studies, Queer Studies. Querverbindungen und Perspektiven
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Paradigmenwechsel Disability Studies? Für eine kulturwissenschaftliche Wende im Blick auf die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen Clemens Dannenbeck
Dieser Beitrag verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll der theoretische Diskurs über Behinderung im deutschsprachigen Raum durch einen poststrukturellen Blickwinkel bereichert, zum anderen in handlungspraktischer Hinsicht der politische Anspruch der Cultural Studies auf die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen (special needs) bezogen werden. Seit dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung (2003) werden auch im deutschsprachigen Raum die Disability Studies auf breiter Ebene zur Kenntnis genommen. Diese verstärkte Rezeption gibt Anlass zur Hoffnung, dass die immer noch weithin dominierende rehabilitationswissenschaftliche Ausrichtung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung korrigiert und die Position von Menschen mit Behinderung als gesellschaftliche Handlungsakteure gestärkt werden kann. Die verspätete Einmischung in den international längst stattfindenden, hierzulande bislang weitgehend unvertrauten wissenschaftlichen Diskurs sollte sich allerdings nicht in einer bloß nachholenden und kritiklosen Übernahme der in anderen gesellschaftspolitischen und historischen Kontexten entstandenen theoretischen Orientierungen erschöpfen. Vielmehr ist die spezifische Entwicklung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen, welche im deutschsprachigen Raum von einem unentschiedenen Schwanken zwischen Fürsorge- und Integrationsparadigmen geprägt ist.
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104 | Clemens Dannenbeck Insofern stehen die Disability Studies in Deutschland vor zwei Herausforderungen zugleich: Erstens ist die Etablierung des Diskurses in der Scientific Community auch gegen andauernde Bedenken und Widerstände voranzutreiben – mit dem Ziel einer zunehmenden Institutionalisierung, von der Menschen mit und ohne Behinderung profitieren. Zweitens ist zu verdeutlichen, welchen spezifischen wissenschaftstheoretischen Beitrag die Disability Studies jenseits von Empowerment-, Integrations- und Stigmatisierungsansätzen leisten können. Dieser Beitrag könnte sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in einem ›cultural turn‹ der Sozialen Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen niederschlagen. Bei diesem Vorhaben sind die beiden theoretischen Traditionsstränge der Disability Studies – marxistisch-materialistische Orientierung (britisch) auf der einen und differenztheoretisch-kulturelle Ausrichtung (amerikanisch) auf der anderen Seite – stärker aufeinander zu beziehen. Beabsichtigt ist somit eine theoretische Fundierung der Disability Studies, die das binäre Denken in den Kategorien behindert/nicht behindert, das auch dem so genannten ›sozialen Modell‹ von Behinderung eigen ist, tendenziell überwindet und sich gleichzeitig kritisch mit der Kategorie der Macht im soziokulturellen Herstellungsprozess von Behinderung auseinander setzt. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte darin bestehen, wesentliche Elemente der Diskursformation der Cultural Studies auch für die theoretische und institutionelle Weiterentwicklung der Disability Studies in Deutschland zu reklamieren. Möglicherweise stehen dann vertraute Kategorien wie ›Behinderung‹ oder ›Integration‹ als zumeist unhinterfragte gesellschaftspolitische Leitlinien im Umgang mit Menschen mit Behinderung zur Disposition. Im Folgenden wird zunächst das die Disability Studies kennzeichnende soziale Modell von Behinderung einer sozialkonstruktivistischen Kritik unterzogen (1.), um anschließend auf der Basis dieser Kritik die Perspektive der poststrukturell gewendeten Cultural Studies in die Debatte einzubringen (2.). Der Erkenntnisgewinn dieses Blickwinkels liegt zum einen in einer transdisziplinär verorteten wissenschaftstheoretischen Position (3.), zum anderen sind damit die theoretischen Voraussetzungen angedeutet, um das gesellschaftspolitische Ziel der Integration von Menschen mit Behinderungen durch eine radikale Inklusionsperspektive von Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu erweitern (4.). Die beiden anschließenden Kapitel (5. und 6.) verweisen auf den politischen Anspruch, der mit der geforderten kulturwissenschaftlichen Wendung der Disability Studies für den deutschsprachigen Raum verbunden ist. Aus diesem theoretisch fundierten politischen Anspruch wiederum ergeben sich handlungspraktische Konsequenzen – u.a. – für die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen (7.).
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1. (De-)Konstruktive Kritik des sozialen Modells von Behinderung Als ein wesentlicher Bestandteil der Theorie der Disability Studies werden gemeinhin soziale Modelle (vgl. Oliver 1996a: 30ff; Barnes et al. 1999: 20ff; Priestley 2003) von Behinderung beschrieben, die man unter dem Motto zusammenfassen kann: »Behindert ist man nicht, behindert wird man«. Die Ursache einer Behinderung liegt demnach weder in der betreffenden Person selbst oder ihren Eigenschaften noch in ihrer biologischen bzw. körperlichen Verfassung, sondern im Prozess der Interaktion bzw. in den Zuschreibungen, die sich etwa in gesetzlichen oder baulichen Barrieren manifestieren. Soziale Modelle von Behinderung werden einerseits gegen rehabilitationswissenschaftlich und heilpädagogisch dominierte Defizitmodelle (vgl. u.a. Bleidick 1999), andererseits gegen medizinisch geprägte Interventionsmodelle von Behinderung (vgl. Pfeiffer 2002) in Anschlag gebracht. Gemeinsam ist den Ansätzen, die den sozialen Prozess von Behinderung (vgl. Tervooren 2003a) betonen, dass sie die gesellschaftlichen Herstellungsprozesse von Behinderung in der Interaktion zwischen Individuen und in Institutionen fokussieren. In der Theorieentwicklung der Disability Studies (vgl. Barnes et al. 2002) wird idealtypisch zwischen einer angelsächsischen (stärker sozialwissenschaftlich argumentierenden) und einer angloamerikanischen (eher kulturwissenschaftlich argumentierenden) Diskurstradition unterschieden. Erstere erscheint dabei von Anfang an in höherem Maße einer makrosoziologischen Denklogik verpflichtet (vgl. Renggli 2005: 17). Der Blick fällt hier vornehmlich auf die gesellschaftlichen Manifestationen der Barrieren, die Menschen mit Behinderung an einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe hindern. Eine der kapitalistischen Verwertungslogik verpflichtete Leistungsgesellschaft erzeugt demnach Normalitätsstandards, denen Menschen mit Behinderung nur eingeschränkt oder bestenfalls mit sozialer bzw. therapeutischer Unterstützung in Einzelfällen entsprechen können. Gelingende Normalisierungsprozesse bilden dann die punktuellen Integrationserfolge einer Gesellschaft. Ihnen vorausgegangen sind differenzierte Selektionsmechanismen, die integrierbare von nicht (mehr) integrierbaren behinderten Menschen unterscheiden und den jeweiligen individuellen Förderbedarf legitimieren. Allerdings erfährt diese Interpretation des sozialen Modells von Behinderung inzwischen eine interessante Kritik von sozialkonstruktivistischer Seite. Sie lässt das Verhältnis zwischen materieller Basis und Kultur zum Thema theoretischer Reflexion werden: »Das Aufkommen der Disability Studies im Wissenschaftsbetrieb Großbritanniens ging einher mit der Konzeption des sozialen Modells. Anfänglich wurde das Modell in materialistischer Perspektive gefüllt: Die Ursprünge sozial hervorgebrachter Res-
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106 | Clemens Dannenbeck triktionen der Aktivität von Menschen mit einer Schädigung wurden in den sozialen Verhältnissen kapitalistischer Waren- und Güterproduktion gesehen. Gründe für den Ausschluss in der Gegenwart wurden in der Funktionsweise struktureller sozialer Barrieren ausgemacht. In jüngster Zeit und mit zunehmendem Gewicht der Disability Studies haben auch andere theoretische Perspektiven aus dem Umfeld des Sozialkonstruktivismus Einzug gehalten. Das soziale Modell wurde daraufhin kritisiert und heftig verteidigt. Nachfolgende Diskussionen über Behinderung erforderten eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Kultur im Hervorbringen von Behinderung und mit der Sache der Schädigung selbst.« (Thomas 2004: 51)
Die angelsächsische Diskurstradition verortet also Behinderung von vornherein stärker in strukturellen gesellschaftlichen Bedingungszusammenhängen, wodurch das Diskriminierungspotenzial von auf Behinderung bezogener Politik sowie die ökonomischen Ausschließungspraxen aufgrund kapitalistischer Profitlogik in den Blick geraten. All das schlägt sich in der Kritik an baulichen, rechtlichen oder auch sozial- und bildungspolitisch verursachten Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung nieder – und stellt letztendlich die primären Anknüpfungspunkte für die behindertenpolitischen Aktivitäten der Behindertenbewegung(en) dar. Demgegenüber geht es in der sozialkonstruktivistischen Kritikperspektive nicht um eine Revision oder Zurückweisung des sozialen Modells von Behinderung, sondern um die Kritik an einem verkürzten Verständnis dieses Modells, das Gefahr läuft, sich in behindertenpolitischen Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung und dem Abbau räumlicher bzw. architektonischer Barrieren zu erschöpfen. Der sozialkonstruktivistische Ansatz bezieht sich auf Fragen nach der Bedeutung von Differenzen im Alltag sowie auf deren Wirkungsdynamik. Als Orte der Herstellung von Behinderung werden soziokulturelle Praxen und ihnen zugrunde liegende Differenzlogiken ausgemacht. In der Folge werden von Seiten der Disability Studies nicht mehr nur die gesellschaftlichen Diskriminierungsprozesse, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, analysiert und kritisiert (und damit fast zwangsläufig die überwunden geglaubte Defizitperspektive durch eine implizite Opferperspektive ersetzt), sondern nunmehr können Zusammenhänge zwischen Behinderung und Identitätsbildung, Subjekttheorien (vgl. Bruner 2005) und Körperkonzepten (vgl. Gugutzer 2004) in den Blick genommen werden. Die angloamerikanische Diskurstradition spielt sich von vornherein stärker vor einem differenztheoretischen Hintergrund ab, der den Blick weitet auf den Vollzug von Behinderungsprozessen in alltäglichen Interaktionen, auf ihre Auswirkungen auf Identitätsbildung und Repräsentationschancen (vgl. Renggli 2004: 18). Die theoretische Nähe zu Stigmatisierungs- und Labeling-Ansätzen (vgl. Goffman 1968; 1977) liegt dabei auf der Hand.
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In ihrer Kritik am sozialen Modell von Behinderung scheinen sich beide Diskurstraditionen gegenwärtig aufeinander zuzubewegen. Die sich vollziehende Etablierung und Institutionalisierung der Disability Studies in Deutschland birgt dabei die Chance in sich, diese Kritik an den sozialen Modellen von Behinderung aufzugreifen und somit die Theoriedebatte um die Bedeutung von Behinderung als verkörperter Differenz voranzutreiben (vgl. Bruner/Dannenbeck 2002: 69ff.; Waldschmidt 2005: 10ff.). Körper erscheinen dabei unweigerlich als vergeschlechtlicht, sozial klassifiziert, ethnisch und kulturell entworfen sowie Normalitäts- und Ästhetikdiskursen ausgesetzt. Unterschiedliche und voneinander unterschiedene Körper werden im Alltag laufend hervorgebracht und verändert, was sich dann in gesellschaftlichen Macht- und Dominanzverhältnissen niederschlägt. Zu fragen ist: Welchen Produktionsbedingungen unterliegt der als behindert ausgerufene (verrufene) Körper? Welche Texte schreiben den Körper, welche Bilder entwerfen ihn? Auch Anne Waldschmidt (2005: 20) hält es für »voreilig, wenn man das soziale Modell unreflektiert für den deutschsprachigen Diskurs übernehmen würde«. Waldschmidt weist außerdem auf eine immer noch aktuelle Entwicklung in der Theoriedebatte der Disability Studies hin: »Als weitere Quellen [der Disability Studies] müssen der cultural turn und die poststrukturalistische Differenzdebatte erwähnt werden, die Entdeckung von Körper, Subjekt und Identität als historische und kulturell geformte Phänomene, die Problematisierung von Diskurs, Wissen und Macht als realitätskonstituierende Strategien.« (Waldschmidt 2005: 10) Im Folgenden soll analysiert werden, inwieweit dieser ›cultural turn‹ – der eine Situation widerspiegelt, wie sie sich auch in den Cultural Studies beobachten lässt – zu einer Weiterentwicklung der theoretischen Fundierung der Disability Studies beizutragen vermag.
2. Der ›cultural turn‹ in den Cultural Studies Die Gründungsgeneration der Cultural Studies stammte aus einem sozialen Umfeld, das Erfahrungen mit ausgrenzenden Formen und Praktiken kultureller Produktion mit einschloss. Insofern ging es in diesem Diskurs von vornherein immer auch um einen politischen Aspekt, um die Auseinandersetzung über kulturelle Repräsentation und Legitimität. In der Genese der Cultural Studies angelsächsischer Prägung und in Ergänzung zur marxistischen Denktradition der Neuen Linken in England gab vor allem Stuart Hall (vgl. 1989, 1994, 1999) Mitte der 60er Jahre den Anstoß zur Rezeption des französischen Poststrukturalismus und wies damit den Weg zu semiotischen Zugängen zu kulturellen Phänomenen (vgl. Lutter/ Reisenleitner 2001: 34f.).
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108 | Clemens Dannenbeck »Gerade der Strukturalismus und seine kultursemantischen Ausformungen [etwa in der strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss oder der Kulturkritik von Roland Barthes] boten einen Anstoß für interdisziplinäre Forschungen zu sehr heterogenen kulturellen Formen. Das Klima politischer Radikalisierung Ende der sechziger Jahre begünstigte darüber hinaus eine Neuinterpretation des marxistischen Ideologiebegriffs: Strukturelle Analysen dienten zunehmend dazu, die den kulturellen Formen zugrundeliegenden Ideologien aufzudecken, um eine entmythologisierte, entmystifizierte Sicht auf gesellschaftliche Zusammenhänge zu eröffnen. Kultur wurde als Feld der Auseinandersetzung um die Definition von Bedeutung ›gelesen‹.« (Lutter/Reisenleitner 2001: 34)
Mit dieser theoretischen Öffnung gelang es, die Cultural Studies als politisches Projekt auch in postmarxistischen Diskursen zu verankern. Nun ging es nicht mehr nur um eine nachholende Rehabilitation einer nicht hegemonialen, randständigen oder ausgegrenzten Kulturpraxis (etwa im Sinne eines relativistischen Multikulturalismus oder eines auf prinzipielle Aufhebung der Geschlechterdifferenz zielenden Feminismus), sondern um die Frage der Möglichkeit von Widerstand und Subversivität in prinzipiell von Macht geprägten gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. Foucault 1968; 1973; 1988; 1994). Gemeint ist hier ein poststrukturalistisch informiertes soziologisches Verständnis von Macht, das sich als Diskursmacht in einem andauernden Kampf um die Geltung und Bedeutung von Differenz äußert. Methodisch lässt sich hierbei auch ein Paradigmenwechsel von ethnographischen Subkulturstudien hin zu stärker diskursanalytisch orientierten Textanalysen (vgl. Bublitz 2003; Kerchner/Schneider 2006; Keller 2001) erkennen. »Kulturelle Texte wurden daraufhin befragt, welche Möglichkeiten der produktiven und subversiven Aneignung sie den nicht-dominanten Gruppen [die nicht mehr rein klassenspezifisch definiert werden konnten] erlaubten, wobei die konkreten Formen der Aneignung bei spezifischen Bevölkerungsgruppen untersucht wurden. Dieser Blick auf Kultur öffnete wiederum einen größeren Spielraum für individuelles und kollektives politisches Handeln […]. Der Ausgang der Konflikte um Bedeutungen und Interpretationen im kulturellen Feld wurde nun als offen angesehen, nicht mehr vollständig determiniert durch die dominante Ideologie. Dekonstruktivistische Vorstellungen über die prinzipiell unabgeschlossene Produktivität von Zeichen konnten in diese Überlegungen sinnvoll integriert werden: Der intertextuell [durch den Bezug auf andere Texte der gleichen Gattung] und inter-textuell [durch den Bezug auf andere Textsorten] bedingte Überschuß an Bedeutungen, der den kulturellen Formen inhärent ist, produziert immer neue Möglichkeiten von pleasure und identity, die Optionen für Widerstand bieten, gleichzeitig aber auch der Macht ihrer hegemonialen Interpretation […] unterworfen sind« (Lutter/Reisenleitner 2001: 37).
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Der diskursanalytische Transfer dieser Gedanken ins Feld der Disability Studies würde darin bestehen, alle »kulturellen Texte«, in denen ›Behinderung‹ verhandelt wird, daraufhin zu analysieren, welche Aneignungsmechanismen die am Behinderungsdiskurs Beteiligten zur Anwendung bringen. Dabei würde in der prinzipiellen Offenheit der Kämpfe um Bedeutungen und Interpretationen die Chance liegen, produktive und subversive Optionen für Bedeutungsverschiebungen wahrzunehmen, also politisch zu handeln, ohne dabei vor der Wirksamkeit der vorherrschenden Dominanzstrukturen die Augen zu verschließen.
3. Transdisziplinarität statt Interdisziplinarität Die Theoriegenese der Disability Studies weist auffallende Parallelen zur Geschichte der Entwicklung der Cultural Studies auf. Ein Blick auf die Entwicklung der Disability Studies zeigt, dass es sich hier ebenfalls nicht um ein in sich homogenes Projekt handelt, das sich stringent auf eine singuläre theoretische Tradition zurückführen ließe. Selbst der gedankliche Ausgangspunkt des sozialen Modells von Behinderung bildet keine Ausnahme, stellt dieses doch alles andere als ein unhinterfragtes, in sich widerspruchsfreies Modell dar – schon allein die historische und kulturelle Variabilität, mit der unterschiedliche Gesellschaften ›Behinderungen‹ definieren und sich ›ihrer‹ Menschen mit Behinderung annehmen, verbietet eine homogenisierende Vorstellung von der Wirkungsweise des sozialen Modells. Das zu Beginn der 80er Jahre im angelsächsischen Kontext formulierte soziale Modell von Behinderung basiert auf Definitionsbemühungen der britischen Behindertenbewegung (Union of Physically Impaired Against Segregation, kurz: UPIAS). Es nimmt die Dichotomie zwischen Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability) auf und kommt zu dem Schluss: »Behinderung ist kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation« (Waldschmidt 2005: 18). Daraus ergibt sich die Folgerung, dass ein soziales Modell von Behinderung, transferiert in einen realpolitisch anders geprägten gesellschaftlichen Kontext (z.B. Deutschland), den jeweiligen historischen und kulturellen Bedingungen entsprechen müsste. Die zukünftige theoretische und methodische Herausforderung, die mit einem sozialen Modell von Behinderung verbunden ist, wird darin bestehen, die spezifischen Mechanismen zu rekonstruieren, durch die in unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen Behinderung als Produkt sozialer Organisation erzeugt wird. Dementsprechend üben die Disability Studies Kritik an einer arbeitsteiligen fachdisziplinären Logik, die traditionellerweise nicht nur dazu tendiert, die spezifischen Lebenslagen von Menschen mit Behinderung systematisch zu übersehen, sondern gleichzeitig ihre impliziten Anteile an der
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110 | Clemens Dannenbeck Herstellung von Behinderung gut und gründlich zu verdrängen weiß. Wenn das soziale Modell Behinderung als soziales Problem thematisiert, das einer wohlfahrtsstaatlich organisierten solidarischen Unterstützung bedarf, könnte die Herausforderung der Disability Studies im Zuge ihrer Etablierung in bundesrepublikanischen Kontexten darin bestehen, den Wohlfahrtsstaat selbst (einschließlich der gemeinschaftlichen behindertenpolitischen Aktionen) auf seine Anteile bei der sozialen Konstituierung von Behinderung zu thematisieren. Disability Studies verstehen sich infolgedessen als konsequent transdisziplinär. Entsprechend den Cultural Studies ist darin weder eine methodologische noch eine theoretische Schwäche zu sehen, sondern ganz im Gegenteil: »Denn Fragestellungen, die zu gewissen Zeitpunkten an einem Ort der Welt zentrale Bedeutungen haben, können gleichzeitig woanders für eine problemorientierte wissenschaftliche Praxis nicht mehr oder noch nicht wichtig sein.« (Morris 1992: 451)
Ein solches Selbstverständnis führt zu einer disziplin- und gesellschaftskritischen Sichtweise, welche das Projekt der Disability Studies als einen disziplinär, fachtheoretisch, methodisch, politisch und natürlich auch personell offenen Diskurszusammenhang entwirft. Darin steckt vor allem eine Kritik an den gesellschaftlich verteilten Macht-, sprich Repräsentationsund Artikulationsverhältnissen in Bezug auf Behinderung: Wer spricht über Behinderung und handelt im Namen von Menschen mit Behinderung, und mit welcher Legitimation und Definitionsmacht geschieht dies jeweils? Damit ist der Diskurs der Disability Studies prinzipiell quer zu disziplinärer Logik und fachwissenschaftlichen Abgrenzungsstrategien positioniert. Dieser explizit im Foucault’schen Sinne (macht-)politische Anspruch der Disability Studies trifft sich mit dem Anliegen Lawrence Grossbergs, die Cultural Studies als wissenschaftliches und zugleich politisches Projekt zu verstehen: »Tatsächlich ist dies meiner Ansicht nach die einzige Möglichkeit, Cultural Studies zu betreiben: sie ständig neu in Reaktion auf die sich verändernden geographischen und historischen, politischen, institutionellen sowie intellektuellen Bedingungen zu definieren, sie immer wieder in eine festgelegte Disziplin einzubringen, auch wenn dies die Legitimität der bestehenden Einteilung der intellektuellen Arbeit in Disziplinen herausfordert. Cultural Studies stellen für mich eine bestimmte Weise der Kontextualisierung und Politisierung intellektueller Praxis dar« (Grossberg 1999: 45).
In dem Maße, wie die Disability Studies die traditionellen rehabilitations-
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wissenschaftlichen und fachdisziplinären Grenzen überschreiten, üben sie ihrerseits bereits eine politische Praxis aus, die zu Veränderungen in dem, was Behinderung für den Einzelnen und in der Gesellschaft bedeutet, führen kann. Die Disability Studies sind so gesehen eine Art widerspenstiger Fremdkörper im fachwissenschaftlichen (und gesellschaftspolitischen) Diskurs – nicht nur aufgrund der in diesem Diskurs häufig selbst als behindert geltenden Agierenden, sondern auch aufgrund ihres transdisziplinären Anspruchs, in die bestehenden Machtverhältnisse bewusst und strategisch eingreifen zu wollen. Transdisziplinarität geht auch im Kontext der Disability Studies über bloße Interdisziplinarität insofern hinaus, als hier die disziplinären Gegenstände, Methoden und Theorien nicht nur um die bislang vergessene oder ausgeschlossene Dimension Behinderung additiv ergänzt werden; vielmehr geht es darum, die gerade durch die disziplinäre Abgrenzungspraxis erst erzeugten Zuständigkeitshierarchien und Erklärungsmonopole aufzubrechen. Beispielhaft macht darauf Anja Tervooren aufmerksam: »Gerade die Orte der Überschneidung der Kategorie Behinderung mit anderen Kategorien wie ›Rasse‹, Klasse, Geschlecht, Sexualität usw. zeigen die Potenziale und Grenzen der einen wie der anderen Kategorie auf. Politische Begriffe wie Autonomie und Selbstbestimmung entfalten an den Orten der Überschneidung nicht nur ihr emanzipatorisches Potenzial, sondern verweisen auch auf ihr ausgeschlossenes Anderes […]. In der Praxis der Disability Studies wird es nicht allein darum gehen können, die Kategorie Behinderung in allgemeine Debatten einzubringen, sondern vielmehr ihre vielfältigen Verbindungen zu anderen anthropologischen Themen wie Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Gleichheit und Differenz, Ästhetik, Intersubjektivität etc. aufzuzeigen.« (Tervooren 2003b: 7)
4. Inklusion statt Integration Die praktischen Konsequenzen eines ›cultural turn‹ in den Disability Studies könnten sich beispielsweise in einer Einmischung in den gesellschaftlich und politisch dominierenden Integrationsdiskurs manifestieren. In Bezug auf den Kontext Behinderung lassen sich solche Einmischungen in Gestalt einer Kritik des Integrationsparadigmas aus einer Inklusionsperspektive heraus entdecken (vgl. Geiling/Hinz 2005; Wansing 2005; Schnell/Sander 2004; Boban/Hinz 2003; Booth/Ainscow 1998). Während die bislang die öffentliche und fachliche Diskussion in Deutschland maßgeblich bestimmende Orientierung an Integration um die Eingliederung von behinderten Menschen (oder in einem anderen Kontext auch von Menschen mit Migrationshintergrund) in bestehende gesellschaftliche Strukturen bemüht ist, weist das Konzept der Inklusion auf die notwendige
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112 | Clemens Dannenbeck Umgestaltung der sozialen Umwelt als Voraussetzung für die gemeinsame Nutzung und gesellschaftliche Teilhabe durch heterogene Gruppen hin. Integration zielt auf geregelte Formen gemeinsamen Lernens und Lebens – allerdings eben nur für diejenigen, die sich in der Lage sehen, den herrschenden Normalitätsstandards zu genügen. Da dies auch im Falle von Empowerment-Ansätzen nur in Einzelfällen gelingen kann, müssen differenzierte Systeme der Förderung und Sondermaßnahmen fortbestehen. Folge ist: Manche können und dürfen teilhaben, andere werden weiterhin zu ihrem Besten gesondert gefördert. Die gesellschaftlichen Regelsysteme werden zwar prinzipiell durchlässiger, die binäre Logik der Trennung jedoch wird nicht aufgehoben. Demgegenüber meint Inklusion die reale Aufhebung der beschriebenen binären Logik zugunsten der Anerkennung real existierender Heterogenität – wobei sich (als eine Konsequenz transdisziplinären Denkens) die Heterogenitätsannahme nicht allein auf die Kategorie der Behinderung bezieht, sondern generell Differenzen zwischen Menschen nach Maßgabe ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Bedeutungszuschreibungen in den Blick genommen werden. Insbesondere die Momente, an denen die Diskurse sozialer, kultureller und genderspezifischer Differenzen aufeinander treffen, sind hier gemeint (vgl. Bruner 2005; Dannenbeck 2002). Menschen sind eben nie nur behindert oder nicht behindert, sind nie nur Mann oder Frau, nur arm oder reich, nur einheimisch oder fremd. Man ist immer all dies zugleich. Stets kreuzen sich all diese, mit je spezifischer gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladenen Differenzkategorien. Es ist ihr Zusammenspiel, das sich zu komplexen Diskursformationen fügt, welche die Grundlage der individuellen Identitätsarbeit darstellen. In diesem Sinne zielt Inklusion also auf die Auflösung bzw. auf den Verzicht jeglicher institutionalisierter Sonderbehandlungen oder -verfahren, ungeachtet der Art der jeweiligen Differenzen. Dem Inklusionsparadigma entspräche gewissermaßen die Entwicklung einer allgemeinen Pädagogik im Sinne einer ›individuellen Sonderpädagogik für alle‹. So verstanden ist dem Inklusionsbegriff auch keine zielgruppenspezifische Implikation eigen. Beispielsweise kann es nicht mehr darum gehen, eine als defizitär ausgewiesene Minderheit über gruppenspezifische Förderprozesse zum Zwecke der Passung in ein funktional ausdifferenziertes Bildungssystem zu integrieren. Auf dem Weg zur Inklusion wird eine gruppenspezifische Integrationslogik durch eine Orientierung an ›special needs‹ ersetzt. Besondere Bedürfnisse in diesem Sinne hat jeder Mensch. An den je individuellen Ressourcen und Kompetenzen setzt der Inklusionsbegriff an und zielt damit auf die Auflösung einer selektiven Förderungspraxis. Insofern bedeutet Inklusion eine Herausforderung für Systeme (z.B. Bildungssysteme) als Ganze (vgl. Platte/Seitz/Terfloth 2006). Dieser Sichtweise entsprechend ist es u.a. auch das dominierende sonderpädagogische Fürsorgeparadigma selbst, das den jeweiligen Förderbedarf auf der Grundlage
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gruppenspezifischer Kategorisierungen systematisch immer wieder selbst erzeugt. Es ist seinerseits als Realisierung einer andauernden Exklusionspraxis zu begreifen.
5. Reflexivität kultureller Praktiken Disability Studies im Sinne von Cultural Studies zu betreiben, würde bedeuten, nicht nur die Mechanismen soziokultureller Herstellung von Behinderung zu analysieren, z.B. juristische Definitionspraktiken, sozialpolitische Definitionspraktiken von Behinderung und auch Stigmatisierungen in alltäglichen Interaktionen auf Mikro-, Meso- oder Makroebene. Zusätzlich ginge es darum, »die Kultur selbst als das Feld, in dem Macht produziert und um sie gerungen wird« (Grossberg 1999: 48), zu erkennen. An diesen kulturellen Praktiken, die man auch als (wenngleich keineswegs freies) Spiel der Kräfte begreifen könnte, sind nicht zuletzt der Diskurs der Disability Studies und die ihn repräsentierenden Individuen und Institutionen selbst stets beteiligt. Dieses unhintergehbar reflexive Moment der Disability Studies erfordert ein politisches Engagement, das sich der eigenen Funktion im Ringen um Definitionsmacht im Feld von Behinderung bewusst ist. Kultur beschreibt damit einen Ort der Teilhabe an Kämpfen zwischen konkurrierenden Praktiken, die unvermeidlich mit Machtverhältnissen verknüpft sind. Die erforderliche Reflexivität stellt ein weiteres Argument für die prinzipielle Offenheit der Disability Studies dar, die sich auf die Bandbreite der möglichen zu bearbeitenden Themen, aber ebenso auf die theoretischen und methodologischen Grundlagen sowie die einzuschlagenden politischen Strategien beziehen muss. In gewisser Weise sind das Agieren im Namen der Disability Studies und ihre zukünftige wissenschaftliche Ausrichtung untrennbar verbunden mit dem sich ständig verändernden Spannungsfeld zwischen Kultur und Macht. Die zukünftige Entwicklung der Disability Studies ist damit notwendigerweise als offen zu betrachten. Dies ist charakteristisch für ein sich zugleich als wissenschaftlich und politisch verstehendes Projekt. Auch in diesem Punkt treffen sich die Disability Studies mit den Cultural Studies Grossberg’scher Prägung: »Cultural Studies sind ein Netzwerk politischer und diskursiver Allianzen, ein diskursiver Raum, der durch bestimmte Bahnungen konstruiert wird, die bestimmte Arten von Analysen und Erkenntnissen ermöglichen. Die Konstruktion eines solchen Raumes erfordert genaue und disziplinierte Formen der Arbeit« (Grossberg 1999: 54).
Die spezifische reflexive Haltung der Disability Studies zu ihrem For-
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114 | Clemens Dannenbeck schungsgegenstand – der Kategorie Behinderung – zeigt, dass die empirische Wirksamkeit eines zu definierenden sozialen Modells von Behinderung immer nur in einem historisch, sozial, politisch und kulturell bestimmten konkreten Kontext Geltung beanspruchen kann. Zwar lassen sich aus der Vorstellung eines sozialen Modells von Behinderung – im Gegensatz zum medizinischen Modell von Behinderung, dessen hegemoniale Bedeutung zunächst quasi ausschließlich intellektuell bekämpft werden kann – relativ leicht konkrete politische Handlungsoptionen ableiten (wie etwa die Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung, gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstbestimmung). Allerdings würde – um einem verbreiteten Missverständnis zu begegnen – selbst die volle Umsetzung der aus einem sozialen Modell abgeleiteten behindertenpolitischen Forderungen keinen herrschaftsfreien Raum markieren, in dem verkörperte Differenzen ihre gesellschaftliche und individuelle Bedeutung ein für alle Mal verloren hätten. Eine Konsequenz dieser selbstreflexiven Haltung der Disability Studies wäre, die Wirksamkeit der eigenen Kategorien sowie der forschungsstrategischen und behindertenpolitischen Argumente ständig im Blick zu behalten. Ein Beispiel hierfür ist Waldschmidts Kritik an der Leitkategorie ›Selbstbestimmung‹ als einer sozialen Konstruktion von (und für) Menschen mit Behinderung, die in einem durch Integrationsdiskurse gekennzeichneten historischen und politischen Umfeld leben (vgl. Waldschmidt 1999). Erst diese spezifische Form der Reflexivität ermöglicht es, die eigenen politischen Strategien sich verändernden gesellschaftlichen Realitäten anzupassen und dabei die Sensibilität gegenüber vorherrschenden kulturellen Praktiken nicht zu verlieren. Auch in dieser Hinsicht würden sich die Disability Studies mit einem Verständnis von Cultural Studies treffen, wie es Lawrence Grossberg beschrieben hat: »Cultural Studies sind in dem Sinne interventionistisch, als sie versuchen, die besten verfügbaren intellektuellen Ressourcen zu verwenden, um zu einem besseren Verständnis der Machtbeziehungen (als dem Spielstand oder der Balance in einem Kräftefeld) in einem bestimmten Kontext zu gelangen. Damit ist die Überzeugung verbunden, dass ein solches Wissen die Menschen in eine bessere Position versetzt, den konkreten Kontext und damit die Machtbeziehungen, in denen sie sich befinden, zu verändern« (Grossberg 1999: 55).
Wichtig dabei ist, dass es nicht nur um ein Verständnis der bestehenden Strukturen von Macht geht, sondern auch um ein Verständnis für die Möglichkeiten des Eingreifens in diese Strukturen, um die Entdeckung und Mobilisierung von Widerstands- und Veränderungspotenzialen. Disability Studies in diesem Sinne müssten sich also konsequenterweise der Festschreibung eines bestimmten Modells von Behinderung ebenso
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widersetzen, wie sie der Festlegung eines homogenen theoretischen und/ oder methodischen Kanons oder der Ausschließung von Forschenden aufgrund ausgewiesener Qualifikationsmerkmale (etwa dem diagnostizierten Defizit, über einen zeitweise nicht behinderten Körper zu verfügen) entgegenzutreten hätten. Schließungsabsichten, die über rein strategische und damit zeitlich begrenzte kontextuell veranlasste Maßnahmen hinausgehen, würden eine Schwächung des politischen Projekts der Disability Studies bedeuten, da sie den Ort der Kämpfe zwischen den konkurrierenden kulturellen Praktiken aus dem Auge verlieren würden.
6. Widerspenstigkeit Eine Kritik an dominierenden Paradigmen, wie dem der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung als behindertenpolitisch unhinterfragte handlungsleitende Orientierung (vgl. Waldschmidt 1999), birgt die Gefahr, auf allgemeines Unverständnis, wenn nicht gar vehemente Ablehnung zu stoßen. Während von politischer Seite die Orientierung an Selbstbestimmung nicht nur aus wahltaktischen Gründen, sondern vermutlich auch aufgrund der Aussicht favorisiert wird, mit dem Stichwort ›Selbstbestimmung‹ einen Rückzug aus staatlicher/öffentlicher Verantwortung in sozialen Fragen begründen zu können, weht von Seiten behindertenpolitischer Interessenvertretungen ein ganz anderer Wind: Das, wofür jahrelang gekämpft wurde – und was ja keineswegs schon als allgemein durchgesetzt gelten kann –, das soll nun schon wieder in Frage gestellt werden, noch dazu ›von den eigenen Leuten‹? Diesem Moment paradoxer Solidarität haben sich die Disability Studies zu stellen (wie übrigens auch die Cultural Studies, was sich anhand differenzierungstheoretischer Gender- und Ethnizitätsdiskurse, die sich den Cultural Studies zurechnen, beispielhaft ablesen lässt). Einerseits mag die Hinterfragung von politisch handlungswirksamen Leitkategorien als kontraproduktiv und unsolidarisch aufgefasst werden, andererseits bietet allein sie die Option, den Blick für die »Bedingung dafür, dass etwas möglich wird« (Grossberg 1999: 59), offen zu halten. In unserem konkreten Beispiel heißt das, die Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung im Kontext einer Gesellschaftsanalyse zu betrachten, welche die Integrationsbemühungen der letzten Jahre berücksichtigt und sie als Bedingung für die Möglichkeit, die Grenzen der Selbstbestimmung neu zu vermessen, (an-)erkennt. Anders – etwas salopp – ausgedrückt: Wo Selbstbestimmung ›draufsteht‹, wo Selbstbestimmung anvisiert ist, muss noch lange nicht Selbstbestimmung ›drin sein‹.
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116 | Clemens Dannenbeck »Der Macht gelingt es nie, immer und überall all das zu erzielen, was sie möchte, es besteht stets die Möglichkeit, die Strukturen und Organisationen der Macht zu verändern. Außerdem ist zu sagen, dass Macht nicht nur in Institutionen und im Staat wirksam ist, sie ist auch dort wirksam, wo Menschen ihr alltägliches Leben verbringen« (Grossberg 1999: 62).
Aus der Unberechenbarkeit bzw. Nichtantizipierbarkeit dessen, was aus einer politischen Strategie folgt, ergeben sich Ansatzpunkte für fortgesetztes politisches Handeln unter Maßgabe der stetigen Revision der Voraussetzungen, unter denen man beispielsweise behindertenpolitisch angetreten ist. Gemeint ist also durchaus nicht eine Analyse der Ohnmacht, sondern ganz im Gegenteil: Wenn sich »Cultural Studies […] mit der Rolle kultureller Praktiken bei der Konstruktion der Kontexte menschlichen Lebens als Machtmilieus« befassen (Grossberg 1999: 62), bedeutet das übertragen auf die Disability Studies, die sensiblen sozialen Orte der Konstruktion von Behinderung auf die sich dort vollziehenden machtvollen Prozesse hin zu analysieren. Die in den Disability Studies vertretenen Vorstellungen vom sozialen Modell von Behinderung begreifen Behinderung nicht als Eigenschaft, sondern als das Ergebnis einer sozialen Beziehung, als Produkt von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, von Verhandlungen. Damit wird dem Begriff der Behinderung jeglicher essenzialistische Gehalt entzogen. Was eine Behinderung ist, ist vorsozial letztendlich unentscheidbar, ohne gesellschaftlichen Kontext nicht festlegbar. Auch wer von Behinderungen in welcher Weise betroffen ist, muss letztlich offen bleiben, da sich die Bedeutungen von Behinderung stets verschieben. Der einer solchen Sichtweise inhärente Anti-Essenzialismus lässt auch die Grenze zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu einer virtuellen – wenngleich am eigenen Leib für alle Beteiligten stets spürbaren – Grenze werden. Es handelt sich dabei jedoch um eine Grenzziehung, die als verschiebbar aufgefasst werden kann und muss, die nicht als unaufhebbares Schicksal begreifbar ist – ein Grenzverlauf, dessen man sich quasi in Grenzen bemächtigen kann.
7. Konsequenzen für die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen Eine im Sinne der Cultural Studies kulturwissenschaftliche Fundierung der Disability Studies besitzt nicht nur für eine innerfachliche Theoriedebatte Bedeutung, sondern – so meine These – wäre auch von besonderer praktischer Relevanz, und zwar in all denjenigen Handlungsfeldern, in denen die Kategorie der Behinderung nicht nur diskursiv, sondern auch praktisch verhandelt wird. Paradigmatisch soll dies im Folgenden am Beispiel
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der Sozialen Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung deutlich gemacht werden. Das Merkmal der Transdisziplinarität ist für die Anwendungswissenschaft Soziale Arbeit zumindest dem fachlichen Selbstverständnis nach nichts Neues. Die Komplexität der Klientenbeziehungen verweist darauf, dass Transdisziplinarität ein, wenn nicht das, charakteristische Wesensmerkmal Sozialer Arbeit überhaupt darstellt – ein Selbstverständnis, das sich im Zuge der Neustrukturierung des Faches als Bachelor- und Masterstudiengang auch curricular stärker niederschlagen sollte. Das Ringen um ein den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit gerecht werdendes Verständnis von Transdisziplinarität prägt zumindest die jüngere Geschichte der fachspezifischen Curricularentwicklung und spiegelt sich im Verhältnis des Fachs zu seinen Bezugswissenschaften. Im Falle der Sozialen Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung könnte Transdisziplinarität zuallererst bedeuten anzuerkennen, dass sich hier Menschen begegnen, deren Identitäten nicht wechselseitig auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Merkmals Behinderung reduziert werden können. Im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit verbietet sich beispielsweise ein rehabilitationswissenschaftlich oder sonderpädagogisch verengter Blick auf Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind immer zugleich Mädchen und Jungen, ebenso wie sie über spezifische soziale Herkünfte beziehungsweise kulturelle Zugehörigkeiten verfügen. Insofern könnte die Herausforderung praktischer Sozialer Arbeit darin bestehen, pädagogisch umsetzbare Konzepte einer genderbewussten und zugleich kultursensiblen Kinder- und Jugendarbeit für Mädchen und Jungen mit und ohne Behinderung zu entwickeln. Einer reduktionistischen Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen entlang der Kategorie Behinderung würde somit die transdisziplinäre Orientierung entgegenstehen. Die Differenz zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern und Jugendlichen würde als situations- und kontextspezifische Differenzziehung, die gerade durch verschiedene fachliche Zugänge in unterschiedlicher Weise vollzogen wird, transparent und damit verhandelbar. Zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ließe sich – ebenso wenig wie zwischen Menschen mit je unterschiedlichen diagnostizierten Beeinträchtigungen – eine sozialpädagogisches Handeln legitimierende situations- und kontextübergreifende Differenz nicht aufmachen. Berücksichtigt würde, dass keiner dieser in je unterschiedlichen Lebenszusammenhängen unterscheidbaren Personenkreise über in sich homogene Eigenschaften, identische Interessen oder einheitliche Bedarfslagen verfügt. Praktisch heißt das, den disziplinären Blick auf Behinderung als partikularen Blick zu verstehen, der sozialpädagogisches Handeln eben nicht hinreichend zu begründen vermag. Jegliche (aus medizinischer, rechtli-
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118 | Clemens Dannenbeck cher, soziologischer, rehabilitationswissenschaftlicher etc. Analyse abgeleitete) Identifikation einer Person als behindert (oder nicht behindert) entspricht der Logik eines medizinischen Modells, das Behinderung als individuelles Merkmal begreift. Ein konsequent transdisziplinäres Bewusstsein böte dagegen die Chance, die durch die Fachdisziplinen selbst provozierten Herstellungs- und Definitionsprozesse von Behinderung zu reflektieren und zu verändern. In diesem Moment würde die Soziale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung an einen Punkt gelangen, der zwar den Maßstab eines sozialen Modells von Behinderung auch an die Fachdisziplinen selbst legt, ein anderes Dilemma aber noch nicht notwendigerweise überwindet: das der Problemorientierung sozialpädagogischen Handelns im Blick auf die Begegnung mit Menschen mit und ohne Behinderung (die sich gerade in integrativen pädagogischen Programmatiken und Modellen niederschlägt). Waldschmidt weist darauf hin, dass das individuelle und das soziale Behinderungsmodell diese Tendenz zur Problemorientierung teilen: »Im wesentlichen geht es darum, sowohl Behandlungsprogramme und Versorgungssysteme als auch Sozialleistungen und Nachteilsausgleich bereitzustellen, damit – so das individuelle Modell – der einzelne möglichst reibungslos seinen gesellschaftlichen Pflichten nachkommen kann oder um – so das soziale Modell – soziale Teilhabe, Selbstbestimmung und Anerkennung zu ermöglichen. Letztendlich handelt es sich sowohl bei dem individuellen als auch bei dem sozialen Modell um operative Strategien, anwendungsorientierte Programme, die Lösungsvorschläge formulieren für etwas, was offenbar ›stört‹ und deshalb ›behoben‹ werden soll.« (Waldschmidt 2005: 23)
Auch wenn sozialpädagogische Interventionen immer den Aspekt der Unterstützung von außen – der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ – beinhalten, bieten transdisziplinär orientierte Handlungsstrategien darüber hinaus die Möglichkeit, in sozialen Prozessen von Behinderung auch (selbst-)bewusste Formen der Selbstwahrnehmung und positiver Selbstzuschreibungen zu erkennen – oder diese zumindest für möglich zu halten. Dabei mag es gerade aus sozialpädagogischer Sicht besonders schwerfallen, die als positiv und produktiv geschilderten Erfahrungen von Behinderung nicht als bloßen Ausdruck (möglicherweise gelungener) Sublimierungen (oder Verdrängungen) von mehr oder weniger tragischen und primär zu bedauernden individuellen Schicksalen zu interpretieren. Bei alledem geht es nicht darum, die Augen vor den Problemen zu verschließen, die soziale Herstellungsprozesse von Behinderung für Betroffene nach sich ziehen. Vielmehr ist eine ausschließliche Problemorientierung zu kritisieren, die verkennt, dass Menschen mit Behinderung als individu-
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ell und kollektiv Handelnde aktiv und produktiv an sozialen Prozessen und Diskursen über Behinderung beteiligt sind. Dies anzuerkennen bedeutet wiederum, dass auch eine transdisziplinär orientierte Soziale Arbeit keinen Monopolanspruch auf die Interpretation der Bedeutung von Behinderung für Menschen mit und ohne Behinderung erheben kann. Im Kontext der Disability Studies melden Menschen mit Behinderung ihren Anspruch auf Akzeptanz eigener Lebensstile und komplexer Identitäten an. Im Sinne eines kulturellen Modells von Behinderung (vgl. Waldschmidt 2005) würde dies aber auch bedeuten, diesen Anspruch von Menschen mit Behinderung nicht als bloße Konsequenz ihrer Behinderung zu sehen. Denn gerade in diesem Anspruch auf Eigenwertigkeit liegt auch das Potenzial, sich jenseits oder abseits von Behinderung zu positionieren. Ähnlich banal wie das Stichwort der Transdisziplinarität mag aus der Sicht der Sozialen Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung die Forderung nach Reflexivität erscheinen. Richtig ist, dass Reflexivität schnell gefordert und zumeist unhinterfragt als notwendiger Bestandteil qualitativ anspruchsvoller Sozialer Arbeit akzeptiert wird, dagegen im praktischen Handlungsfeld weitgehend folgenlos bleibt. Praktisch bedeutet die Forderung nach Reflexivität des eigenen Handelns zunächst, sich für die sozialen Prozesse der Herstellung von Behinderung zu sensibilisieren. Behinderung als Produkt sozialer Organisation zu begreifen heißt dann, das Projekt der Sozialen Arbeit selbst als konstitutiven Bestandteil der sozialen Organisation von Behinderung aufzufassen. Die Soziale Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung konstituiert und organisiert selbst Handlungsfelder, in denen die kulturelle und soziale Bedeutung von Behinderung fortlaufend verhandelt wird. Insofern nehmen die Soziale Arbeit und die in ihrem Namen handelnden Professionellen stets an den kulturellen Auseinandersetzungen um die Bedeutung von Behinderung teil. Dies im täglichen praktischen Handeln zu berücksichtigen, erfordert individuelle Anstrengung und birgt politische Implikationen. Für den Handelnden bedeutet die Forderung nach Reflexivität, gegenüber den eigenen Handlungsgrundlagen und Handlungsvoraussetzungen stets skeptisch zu bleiben. Denn die gesellschaftliche und soziale Bedeutung von Behinderung kann eben nie eindeutig und endgültig festgeschrieben werden. Da nicht an einen lokalisierbaren Ort (etwa den des betroffenen Individuums) gebunden, ist sie im Rahmen eines sozialen Modells von Behinderung in gewisser Weise nicht diagnostizierbar. Die soziale und kulturelle Bedeutung von Behinderung ist aber auch nicht an einen historischen Zeitpunkt gebunden und insofern ebenfalls nicht festlegbar, analysierbar und fachlichen Interventionsmaßnahmen zu überantworten. Die Bedeutung von Behinderung ist mit Bezug auf die Zukunft gewissermaßen nicht antizipierbar, also offen. Das wiederum heißt, dass die fachlichen Begründungen sozialpädagogischen Handelns in Bezug auf Behinde-
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120 | Clemens Dannenbeck rung immer nur pragmatische Entscheidungsgrundlagen darstellen können, Entscheidungsgrundlagen, deren Stimmigkeit und Effizienz auf die Zukunft hin aber nicht garantierbar sind. In diesen unhintergehbaren Verunsicherungen des eigenen Handelns durch die anhaltenden sozial-kulturellen Auseinandersetzungen um die Bedeutung von Behinderung liegt nun aber das eigentliche politische Potenzial der Disability Studies im Sinne des ›cultural turn‹. Denn die systematischen Verunsicherungen schwächen letztendlich nicht die Position der professionellen Sozialen Arbeit, wie häufig befürchtet. Vielmehr sind sie gleichbedeutend mit einer konsequenten Politisierung des sozialpädagogischen Handelns. Dieses ist nie als ›unschuldig‹ insofern zu betrachten, als die Anwendung einer bestimmten theoretisch begründeten Methode zu einem voraussagbaren ›Erfolg‹ führt, der einen Menschen mit Behinderung dann beispielsweise in die Lage versetzt, sich selbst zu helfen. Im Gegensatz zu dieser mechanistischen Hoffnung haftet dem Ergebnis sozialpädagogischen Handelns stets ein Moment der Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit an. Dies ist in der Tatsache begründet, dass auf der Seite der Klienten immer auch Definitionsmacht verbleibt. Bei der sozialpädagogischen Handlungssituation handelt es sich also nie um eine einseitige Intervention, sondern stets um eine Form der sozialen Interaktion mit ungewissem Ausgang. Reflexivität praktischen Handelns in der Sozialen Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung wird auch in Bezug auf die Auffassung des (behinderten) Körpers gefordert. So kritisiert Waldschmidt das soziale Modell von Behinderung in körpertheoretischer Hinsicht: »[E]s basiert ganz offensichtlich auf einer kruden Dichotomie von ›Natur‹ und ›Kultur‹, von ›impairment‹ und ›disability‹ […]. [W]ährend das soziale Modell Behinderung der Ebene von Gesellschaft und damit gesellschaftlicher Verantwortung zurechnet, gilt die gesundheitliche Beeinträchtigung als biologisch-medizinisch begründet und insofern als nicht weiter problematisierbar.« (Waldschmidt 2005: 20)
Hier wird deutlich, dass die kategoriale Trennung einer kulturellen von einer natürlichen Sphäre notwendigerweise mit Entpolitisierungsprozessen verbunden ist. Die Seite der Natur wird der politischen Verhandelbarkeit entzogen. In diesem Fall ist es gesundheitliche Beeinträchtigung, die Medizin und Biologie disziplinär für sich reklamieren und damit als ›nicht weiter problematisierbar‹ ansehen, sondern lediglich für bekämpfbar halten. Corker und French kritisieren ebenfalls die im Kontext der Disability Studies etablierte dichotome Sichtweise von sozialer Behinderung und biologisch-körperlicher Schädigung, wie sie gerade soziale Modelle von Behinderung reproduzieren:
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Paradigmenwechsel Disability Studies? | 121 »Social model theory rests on the distinction between disability, which is socially created, and impairment, which is referred to as a physical attribute of the body. In this sense it establishes a paradigm for disabled people which is equivalent to those of sex/gender and race/ethnicity. However, though it is a ground-breaking concept, and one which has provided tremendous political impetus for disabled people, we feel that because the distinction between disability and impairment is presented as a dualism or dichotomy – one part of which (disability) tends to be valorized and the other part (impairment) marginalized or silenced – social model theory itself, produces and embodies distinctions of values and power.« (Corker/French 1999: 2)
Beim Versuch, die Unfruchtbarkeit dieser Dichotomisierungen theoretisch zu überwinden, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass in Genderdiskursen entlang der Binarität der Kategorien von Geschlecht und Gender parallele Dilemmata verhandelt werden. Eine in dieser Hinsicht weiterführende Perspektive hat Claudia Franziska Bruner (2005) in die Debatte eingebracht: »Ich schlage vor (auch in diesem Kontext unter Berufung auf Butler), nicht naiverweise die Materialität des Körpers als solche in Abrede zu stellen, sondern die These zu vertreten, dass Körper ebenso wie die aus ihrer Wahrnehmung abgeleiteten emotionalen Empfindungen einer Betrachtung überhaupt nur soziokulturell zugänglich sind. Wie gezeigt wurde, erfordert dies eine diskursanalytische Wendung der Disability Studies, wie sie etwa von Corker und French reklamiert wird.« (Bruner 2005: 82f.)
Mit Blick auf das hegemoniale Konzept der Zweigeschlechtlichkeit stellt Judith Butler im Grunde die gleiche entscheidende Frage: »Is there a way to link the question of the materiality of the body to the performativity of gender?« (Butler 2005: 62). Und weiter: »But how, then, does the notion of gender performativity relate to this conception of materialization? In the first instance, performativity must be understood not as a singular or deliberate ›act‹, but, rather, as the reiterative and citational practice by which discourse produces the effects that it names […]. The regulatory norms of ›sex‹ work in a performative fashion to constitute the materiality of bodies and, more specifically, to materialize the body’s sex, to materialize sexual difference in the service of the consolidation of heterosexual imperative.« (Ebd.)
Zwei Punkte scheinen mir hier weiterzuführen: Zum einen macht Judith Butler deutlich, dass es nicht darum gehen kann, die Materialität des Körpers zu leugnen und als bloßes Diskursprodukt zu begreifen. Vielmehr ›wirkt‹ die Materialität des Körpers und stellt gewissermaßen die diskursiven Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer sich der soziale (Geschlechts-)Körper performativ inszenieren kann. Zum anderen ist diese
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122 | Clemens Dannenbeck Körperperformanz nicht als statisch zu begreifen, sondern als fortgesetzte Praxis. Damit produziert die Diskursformation aber genau jene Effekte, auf denen sie selbst beruht. Ebenso könnte man sagen, dass die (körperliche) Schädigung zwar eine Art diskursive Rahmenbedingung darstellt, andererseits aber materialisiert sie sich im Zuge jener kulturellen Prozesse, die über die Grenzziehungen zwischen Gesundheit/Krankheit, Normalität/ Nicht-Normalität etc. bestimmen. Reflexivität in diesem Sinne bedeutet für die praktische Soziale Arbeit, stets dann misstrauisch zu werden, wenn eine körpertheoretisch problematische Dichotomisierung zwischen sozialer Behinderung und körperlicher Schädigung wirksam wird.
8. Fazit Die Chance praktischen Handelns in der Sozialen Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung im Sinne kulturwissenschaftlich orientierter Disability Studies liegt in der kontinuierlichen Widerspenstigkeit, mit der transdisziplinäre und reflexive Perspektiven von unterschiedlicher Seite in den Diskurs um Behinderung eingebracht werden. Damit wird aus der Arbeit mit Menschen mit und ohne Behinderung ein politisches Projekt jenseits fürsorglicher professioneller Belagerung und hierarchisch verordneter Integration. Vor allem ist festzuhalten, dass die Definition gesellschaftlicher Teilhabe nicht einer Disziplin oder einer professionellen Stellvertreterinstanz überlassen werden kann. Gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung sind, ebenso wie die Auswahl dieser Kriterien selbst, Gegenstand kultureller Kämpfe um Bedeutung. An diesen Kämpfen diskursiv teilzunehmen, setzt möglicherweise mehr Veränderungspotenzial mit behindertenpolitischer Relevanz frei als die Orientierung an einem Integrationsparadigma, das letztlich einer rehabilitationswissenschaftlichen Logik verhaftet bleibt.
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Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht Heike Raab
Bei dieser Untersuchung zur Intersektionalität in den Disability Studies geht es vor allem darum zu erörtern, warum und inwieweit für diesen Forschungsbereich andere Analysekategorien als Behinderung relevant sind. Die Beschränkung auf Behinderung als einzige zentrale Kategorie für die Forschung in den Disability Studies soll damit aufgegeben werden. Im Gegenzug gilt es, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Kategorien, wie z.B. Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht, auszuloten und die ihnen zugrunde liegenden vielschichtigen historisch bedingten Machtund Herrschaftsverhältnisse zu analysieren. Ziel dieses Beitrages ist es, einen intersektionellen Ansatz für die Disability Studies herauszuarbeiten, der auf einem multiplen Behinderungsbegriff basiert und einen transzdisziplinären Ansatz verfolgt. Ausgehend von unterschiedlichen Modellen soll zunächst eine genauere Begriffsbestimmung von Intersektionalität vorgenommen werden. Im Anschluss daran möchte ich auf die theoretischen Grundlagen, das Erkenntnispotenzial und einige Ansätze der Queer Studies und Gender Studies eingehen und dabei die Begriffe Heteronormativität und Geschlecht näher erläutern. Während feministische Untersuchungen zu Behinderung in der Behindertenpädagogik auf eine längere Tradition zurückgreifen können, befinden sich die feministischen Disability Studies noch in ihren Anfängen. Hier gilt es, unterschiedliche Konzeptionen der Verhältnisbestimmung von Behinderung und Geschlecht zu diskutieren. Insbesondere die in den Queer Studies aufgeworfene Kritik an Körper-, Sexualitäts- und Geschlechternormen bietet Überschneidungen mit den Disability Studies.
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128 | Heike Raab Das queere Anliegen zu zeigen, dass Heterosexualität als Heteronormativität grundlegenden Gesellschaftskonzepten unterliegt (Jagose 2001: 168), gewährt hingegen neue Einsichten. Parallel dazu werden die Ein- und Ausschlüsse der Queer und Gender Studies in ihrer Forschungsrelevanz für die Disability Studies erörtert, um Fragen nach der Verknüpfung und gegenseitigen Bedingtheit von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht darstellen zu können. Welche forschungsstrategischen Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Queer und Gender Studies für Behinderung als Analysekategorie der Disability Studies? Und – welche Einsichten lassen sich aus der Zusammenschau dieser verschiedenen Theorieansätze und Disziplinen für ein Intersektionalitätsmodell in den Disability Studies entwickeln? Meine erste These hierzu ist, dass das von mir angestrebte Intersektionalitätsmodell zentrale Verbindungslinien zu einigen bereits entwickelten Varianten eines kulturellen Modells von Behinderung in den Disability Studies aufweist, also zu Arbeiten, die das dominante medizinisch-biologistische Konzept von Behinderung hinterfragen (vgl. Bruner 2005a; 2005b; Waldschmidt 2003; Waldschmidt 2005). Vor dem Hintergrund eines intersektionellen Zugangs von Behinderung bedarf es, so meine zweite These, einer weitergehenden kritischen Reflexion der Definition von Behinderung. Eine überwiegend substanziell, homogen und naturalistisch gefasste Auffassung von Behinderung sollte einem erweiterten, multiplen Behinderungsbegriff weichen. Multipel bedeutet in diesem Fall erst einmal eine Differenzierung, die Dichotomien wie ›normal/anormal‹ oder ›behindert/nicht behindert‹ vermeidet bzw. dekonstruiert. Vielmehr steht die ›Differenz der Differenz‹ im Vordergrund, d.h. es geht um die Vielfalt jenseits von Dualitäten. Außerdem beinhaltet ein multipler Behinderungsbegriff die Vielzahl von Behinderungsformen. Als Stichwort sei hier nur auf die Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von sichtbaren und unsichtbaren Behinderungsformen verwiesen. Das Intersektionalitätsmodell berücksichtigt folglich auch die internen Verflechtungen innerhalb der Kategorie Behinderung. Intersektionalität in den Disability Studies verstehe ich ferner als ein Plädoyer für ein Analysemodell, das mit mehreren, nicht hierarchisch angeordneten Analysekategorien operiert. In diesem Sinne halte ich es für unerlässlich, das Verhältnis von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht als maßgebliche Referenzsysteme und Ordungsprinzipien, die soziokulturelle, hierarchische Differenzen produzieren, eingehend zu erforschen. Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht sind als fundamentale Analysekategorien anzusehen, die sich nicht in abgetrennte Forschungsbereiche aufteilen lassen. So gesehen, verlangt das Thema Behinderung eine Herangehensweise, die nicht nur ökonomische, juridische, soziale und subjektivierende Verfahrensweisen des ›Behindert-Machens‹ untersucht. Vielmehr bedarf es eines multiplen, transdisziplinären Behinde-
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rungsbegriffs, mit dessen Hilfe man u.a. untersuchen kann, ob und inwieweit Behinderung durch Heteronormativität und Geschlecht konstituiert wird und umgekehrt. Denn die Fokussierung auf Behinderung als Masterkategorie der Disability Studies blendet nicht nur andere Unterdrückungsweisen wie Homophobie, Sexismus und Rassismus aus; sie kann diese auch nicht theoretisch integrieren (Zander 2004: 880). So lässt sich mit Behinderung als einziger Analysekategorie beispielsweise nicht klären, inwieweit vorherrschende Alltagsnormen und Diskurse von Gesundheit an Weiß-Sein1 und heterosexuelle Maskulinität gekoppelt sind und wie dadurch womöglich umgekehrt Behinderung konstruiert wird. Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Transformationsprozesse gilt es auch, soziokulturelle Regulierungen von Behinderung ins Visier zu nehmen. Aus meiner Sicht liefert der Intersektionalitätsgedanke hierbei wichtige theoretische Bausteine für eine differenzierte Bestimmung der veränderten Vergesellschaftungsformen von Behinderung in spätmodernen Gegenwartsgesellschaften. Das Intersektionalitätssmodell in den Disability Studies muss demzufolge auch von einer komplexen Vielschichtigkeit gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgehen. In diesem Punkt beziehe ich mich vornehmlich auf die Cultural Studies (vgl. Hörnig/Winter 1999; Bromley et al. 1999; Engelmann 1999; Hall 1999; 2004), deren Perspektive von einem fragmentierten, widersprüchlichen Kulturbegriff und der Betonung historisch spezifischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse geprägt wird. Behinderung kann so im Kontext vielfältiger kultureller Formen und der sie bedingenden gesellschaftlichen Hierarchisierungen und Konflikte erforscht werden. Demnach sollte Behinderung als eine soziokulturelle Praxis untersucht werden, in die Macht und soziale Ungleichheit gleichsam eingelassen sind. In dieser Sichtweise ist Behinderung aber auch ein Modus, innerhalb dessen sich verschiedene soziale Gruppierungen ausdrücken und versuchen, durch Abgrenzungsprozesse Differenz hervorzuheben und zu behaupten. Auf diese Weise wird Behinderung ein vielstimmiges (plurales), stets umstrittenes und komplexes gesellschaftliches Konstrukt, das seine Prozesshaftigkeit sichtbar macht. Behinderung kann so als hochgradig differenzierte und vielfach gegliederte soziokulturelle Formation verstanden werden und nicht als ein homogenes Ganzes. Für die Disability Studies scheint also die Entwicklung eines theoretischen Modells notwendig, das die Analyse »sich vielfach durchkreuzender Differenzen« (Wartenpfuhl 2000: 25) und Hierarchien ermöglicht. Durch den intersektionellen Ansatz soll es möglich werden, diese verschiedenen Aspekte, Dimensionen und Analyseebenen miteinander zu verschränken: Erstens kann Behinderung dadurch als zentrale Analysekategorie dekonstruiert werden; zweitens kann die Kategorie Behinderung als Teil eines multikategorialen Forschungsdesigns entworfen werden, das zudem unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen einbezieht; drittens lässt sich
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130 | Heike Raab Behinderung als kulturelle Praxis verstehen, die innerhalb komplexer und widersprüchlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse – wie Heteronormativität und Geschlecht – repräsentiert wird; viertens schließlich wird es möglich, Behinderung als Zeichen und Ausdruck historisch bedingter, veränderlicher Vergesellschaftungsformen zu analysieren. Der erkenntnistheoretische Gewinn eines Intersektionalitätsmodells liegt somit, so eine weitere These, in dessen mehrdimensionaler Herangehensweise: Mit dieser Methode wird eine adäquate Einschätzung von Behinderung und deren Interdependenz mit anderen Vektoren der Macht in spätmodernen Gegenwartsgesellschaften möglich. Zugleich eröffnet das Intersektionalitätsmodell eine neuartige kategoriale Bestimmung von Behinderung und begründet somit ein neues Forschungsfeld innerhalb der Disability Studies.
1. Von der Mehrfachunterdrückung zur Intersektionalität. Aspekte der Intersektionalitätsdebatte Die Entstehungsgeschichte der Intersektionalitätsdebatte ist eng verflochten mit der insbesondere von schwarzen Feministinnen und Women of Color geführten Auseinandersetzung um ihren Ausschluss aus der feministischen Bewegung und Forschung aufgrund von Rasse bzw. Ethnizität. Seit Ende der 70er Jahre wurde – zunächst nur in den USA – dieser innerfeministische Streit verstärkt Thema des akademischen Feminismus. Dabei ging es um eine Kritik an der Eindimensionalität von Analysen, die sich entweder nur auf die Kategorie Geschlecht oder nur auf die Kategorie Rasse bezogen. Die akademische Praxis wurde in ihrer Tendenz hinterfragt, nur eine einzige Leitdifferenz als Gründungsmoment für die Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin zu verwenden. Politisch war damit ein widerständiges Zusammendenken von Sexismus und Rassismus gemeint (vgl. Lutz 2001: 217). Mit dem Hinweis auf die Mehrfachunterdrückung schwarzer Frauen und Women of Color wurde zwar eine klare Unterscheidung zwischen Täter und Opfer beibehalten. Das Täter/Opfer-Schema wurde aber gleichzeitig verkompliziert: Nicht mehr alle Frauen waren gleich – nämlich in ihrem Status als Opfer. Vielmehr galt nun die weiße Frau als Mittäterin und Nutznießerin von Rassismus und Kolonialismus. Diese These der Mehrfachunterdrückung fand bald Eingang in die wissenschaftliche Debatte – insbesondere innerhalb der feministischen antirassistischen Wissenschaft. Es setzte sich der englische Terminus »triple-oppression-theory« durch (ebd.: 219; vgl. Hess/Lindner 1997: 46), der auf dem Verständnis einer dreifachen Unterdrückung von Rasse, Klasse und Geschlecht basiert. In analoger Weise wurden übrigens in der Bewegung behinderter Frauen und der feministischen Behindertenforschung die kumulativen Effekte von behinderungs- und geschlechtsspezifischen Benachteiligungen
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als »doppelte Diskriminierung« (vgl. Arnade 1991) von Frauen mit Behinderung entworfen (vgl. Eggli 1981; Ewinkel/Hermes 1985; Barwig/Busch 1993). Auf diesen Punkt werde ich später zurückkommen. Doch dieses differenztheoretische Kategorienmodell der feministischen Wissenschaft war nicht unumstritten. Im Mittelpunkt der Kritik standen zwei basale Grundannahmen der »triple-oppression-theory«. Erstens wurde bemängelt, dass die These von der Mehrfachunterdrückung in einem dualistischen und repressiven Macht- und Herrschaftsverständnis verfangen sei. Angesichts von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen in der Spätmoderne müsse sie relativiert werden (vgl. Hess/Lindner 1997: 47). Außerdem beruhe dieses Konzept auf einem additiven Verständnis von Unterdrückung. Dies führe einerseits dazu, soziale Differenzkategorien zu essenzialisieren; andererseits bestehe die Gefahr, Funktions- und Wirkungsweisen von z.B. Rassismus und Sexismus auf ein einheitliches Muster zu reduzieren (vgl. Lutz 2001: 218). Um den Reduktionen der»triple-oppression-theory« zu entgehen, wurden der Begriff und das theoretische Modell von Intersektionalität entwickelt. Seit den 80er Jahren spielt es innerhalb der Gender Studies, Cultural Studies, Post-Colonial Studies und Critical Race Studies eine wichtige Rolle. Auch hier übernimmt die englischsprachige Diskussion eine gewisse Vorreiterrolle. Intersektionalität ist zu einem Leitbegriff geworden, mit dem eine paradigmatische Neuausrichtung der Geschlechterforschung2 verbunden wird. Der Begriff selbst geht auf die afroamerikanische Rechtstheoretikerin Kimberlé Crenshaw zurück (vgl. Crenshaw 1989; Crenshaw 1991), die ihn mit dem Bild einer Straßenkreuzung veranschaulicht: »[T]he roads are the axis of subordination (patriarchy, racial hierarchy); the traffic is the dynamics of subordination and the vehicles of discrimination (race, gender, class); in the roads is, where are the marginalized women located« (Crenshaw 2000). Inzwischen wird dieses Modell jedoch kritisiert. Die Metapher der Straßenkreuzung beruhe letztlich auf der Vorstellung, dass Rasse, Klasse und Geschlecht isolierte und zudem homogene Entitäten seien. Ihre gegenseitige Verwobenheit und Durchdringung könne auf diese Weise weder adäquat erfasst noch erforscht werden (vgl. Walgenbach 2005a). Mittlerweile hat auch in der deutschsprachigen Geschlechterforschung eine Diskussion um Intersektionalität eingesetzt (vgl. Knapp 2005). Wie die Soziologin Gudrun-Alexi Knapp ausführt, ist die Programmatik von Intersektionalität im Wesentlichen von der Triade Rasse, Klasse, Geschlecht gekennzeichnet (ebd.: 68). Das Rasse/Klasse/Geschlecht-Paradigma könne dazu beitragen, so die Philosophin Gabriele Dietze, die systematische Perspektivenverengung einer Ein-Differenz-Disziplin, die die Geschlechterstudien aufgrund ihres Untersuchungsgegenstandes weitgehend sind, abzubauen (Dietze 2001: 49). Die US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin Leslie McCall unter-
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132 | Heike Raab scheidet in ihrer Darlegung der gegenwärtigen Diskussion um Intersektionalität in der Geschlechterforschung drei verschiedene Typen kategorialer Ansätze: antikategoriale, intrakategoriale und interkategoriale (vgl. McCall 2005). Antikategoriale Ansätze werden vor allem in dekonstruktivistischen und poststrukuralistischen Theorien vertreten, die McCall als radikal-konstruktivistische Auflösung jeglicher Versuche, einen kategorialen Analyserahmen zu schaffen, interpretiert. Damit aber, so McCall, würde die Möglichkeit der Analyse der Entstehungsgründe für hierarchische Differenzen und Ungleichheit mit dekonstruiert und in der Folge verunmöglicht. In intrakategorialen Problematisierungen wiederum werde ausgehend von einer bestimmten Kategorie Gesellschaftsanalyse betrieben. Dies beinhalte auch die Berücksichtigung von Diversität innerhalb einer Kategoriengruppe. Maßgeblich bleibe aber der Bezug auf eine bestimmte soziale Gruppierung als Ausgangspunkt der Forschung. Interkategoriale Analysen hingegen suchten die Verhältnisse und Wechselwirkungen zwischen den Kategorien zu erforschen. Als problematisch an McCalls Interpretation verschiedener Modelle von Intersektionalität erscheint die ausschließliche Fokussierung auf kategoriale Konzeptionen. Diese werden weder an Macht- und Herrschaftsverhältnisse zurückgebunden noch als historisch bedingt und damit veränderbar diskutiert. Darüber hinaus bleibt unklar, welche Kategorien für eine kritische Gesellschaftsanalyse eine dominante Rolle spielen. Zudem kommt es zu einer polarisierenden Interpretation dekonstruktivistisch-poststrukturalistischer Positionen, indem die Infragestellung und radikale Historisierung kategorialer Wissenssysteme und Identitäten mit deren Auflösung gleichgesetzt wird. Dennoch, so bleibt festzuhalten, wirft McCall die wichtige Frage nach der kategorialen Konzeptionalisierung auf, die für einen intersektionellen Ansatz in den Disability Studies ebenfalls von Bedeutung ist. Dagegen akzentuieren die beiden feministischen Wissenschaftlerinnen Cornelia Klinger und Gudrun-Alexi Knapp (vgl. Knapp 2005; Klinger 2003; Klinger/Knapp 2005) in ihren aktuellen Texten die Bedeutung des Sozialen für eine intersektionelle Analyse und kritisieren eine Diskussion, die sich mittlerweile nur noch um die Anzahl und Konzeptionalisierung von Analysekategorien drehe. Für Klinger und Knapp kranken die Debatten um die Trias Rasse, Klasse, Geschlecht außerdem daran, dass die Begriffe in erster Linie als (Identitäts-)Kategorien, also mit Bezug auf die Subjektebene benutzt würden. Dagegen kämen soziokulturelle Perspektiven eher selten in den Blick (vgl. Klinger/Knapp 2005). Es gehe vorrangig darum, »wie die Individuen durch ihre Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einer Klasse oder Ethnie ›betroffen‹ sind […] und wie sich die verschiedenen Subjektpositionen überschneiden« (ebd.). Die Begriffe bzw. Kategorien stünden selten für gesellschafts- bzw. makrotheoretische Perspektiven auf Achsen der Differenz und Ungleichheit (ebd.). In diesem Sinn gebe es keine Definition des Sozialen, da nur von (Identitäts-)Kategorien die Rede sei. Die Autorin-
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nen betonen hingegen die Notwendigkeit, Intersektionalität gesellschaftstheoretisch zu präzisieren (vgl. Knapp 2005: 75). Positiv gesprochen, wird mit diesem Beitrag eine weitere Analysedimension in die intersektionelle Perspektive einbezogen. Allerdings entwerfen Klinger und Knapp ein Intersektionalitätsmodell, das (Identitäts-)Kategorien und Gesellschaft als duale Gegensätze beschreibt. Dadurch entstehen zwei zu unterscheidende Analyseebenen und -perspektiven, deren Vermittlungszusammenhang im Sinne von Intersektionalität zu erforschen ist. Gerade dekonstruktivistisch-poststrukturalistische Positionen kritisieren jedoch die identitätslogischen Grundlagen von Rasse, Ethnizität, Klasse und Geschlecht. Stattdessen werden die soziokulturellen Entstehungsprozesse von (Identitäts-)Kategorien in den Vordergrund gestellt. Der Dualismus zwischen (Identitäts-) Kategorien und gesellschaftlichen Strukturen wird unterlaufen, indem von einer Gleichursprünglichkeit ausgegangen wird. Trotzdem bleibt für ein noch zu entwickelndes Intersektionalitätsmodell in den Disability Studies die wichtige Frage zu klären, wie der Vermittlungszusammenhang von Gesellschaft und Differenzkategorien theoretisch zu erfassen ist. Als Beispiel für dekonstruktivistisch-poststrukturalistische Positionen möchte ich Brigitte Kossek und Helma Lutz heranziehen. Die Ethnologin Kossek versteht Intersektionalität als die Entwicklung von interdependentintegrativen Zugängen, welche Machtfaktoren und Herrschaftsverhältnisse nicht abspalten und so Differenzkategorien nicht als identitäre (kollektive) Subjektpositionen entwerfen (Kossek 1996). Insofern verzichtet dieser Ansatz auf eine essenzialistische, identitäre Konzeptionalisierung von Differenzkategorien wie Rasse, Ethnizität, Klasse und Geschlecht (vgl. Engel/ Schulz/Wedl 2005: 12; Kossek 1996: 13). Denn die Betonung von Differenz wird vor allem dann problematisch, wie die Soziologin Helma Lutz schreibt, wenn sie dazu dient, statische und homogene Subjektpositionen zu bilden, diese hierarchisch zu ordnen (vgl. Lutz 2001: 221) und auf diese Weise Ausschlüsse zu produzieren. Kurz: Diese Auffassung betont – im Unterschied zu Klinger/Knapp – die Konstruiertheit von Differenzkategorien als Effekte gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsrelationen. Differenzkategorien entstehen innerhalb soziokultureller Kontexte und umgekehrt. Es handelt sich also nicht um zwei getrennt aufeinander einwirkende Ebenen. In dieser dekonstruktivistisch-poststrukturalistisch motivierten Lesart ist folglich ein verändertes Verständnis von Macht und Herrschaft maßgeblich. In Anlehnung an die von Michel Foucault entwickelte Machttheorie wird Macht nicht mehr als ein einheitliches, hermetisches und unterdrückendes Konstrukt verstanden. Die Betonung liegt eher auf einer netzwerkartigen, multidimensionalen und paradoxen Struktur spätmoderner Machtverhältnisse. Maßgeblicher Modus bei der Herausbildung soziokultureller Differenzkategorien sind Machtfaktoren, die nicht mehr ausschließlich auf Unterdrückung und Herrschaft beruhen. Die spezifische
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134 | Heike Raab Wirkung spätmoderner Machtverhältnisse entsteht demnach weniger durch repressive als durch produktive Kraft (Foucault 1991; 2001). Für wissenschaftliche Theorieansätze wie die Disability Studies folgt daraus, dass auch die eigenen Produktions- und Konstruktionsbedingungen bei der Kategorienbildung kritisch ins Visier genommen werden müssen. Außerdem ist Behinderung, die zentrale Leitdifferenz der Disability Studies, als relationale Kategorie, d.h. in ihrer Verwobenheit und Interdependenz mit anderen Achsen der Differenz wie z.B. Heteronormativität und Geschlecht zu verstehen und zu erforschen. Mit einem dekonstruktivistisch-poststrukturalistisch fundierten Intersektionalitätsansatz geraten also die Prozesse des Klassifizierens selbst ins Visier. Hierarchisch angeordnete Binaritäten und Identitäten wie Mann/Frau, Homo-/Heterosexualität, behindert/nicht behindert werden als soziokulturelle Konstrukte in Frage gestellt und dekonstruiert. Unzweifelhaft ist es das große Verdienst der Geschlechterstudien, die Überkreuzungen verschiedener Achsen der Macht und ihre Verkoppelung mit Differenzkategorien thematisiert zu haben. Wichtigster Ausgangspunkt von Intersektionalität ist folglich, dass unterschiedliche Differenzkategorien sich nicht nur in komplexer und widersprüchlicher Weise artikulieren, sondern sich wechselseitig durchkreuzen und einander durchdringen (vgl. Kossek 1996: 14). Die gegenseitigen Überschneidungen konstituieren die verschiedenen Kategorien ständig neu; sie sind deshalb auch in ihrer historischen Dimension zu analysieren. Ferner ist zu berücksichtigen, dass Differenzen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb einer Kategorie bedeutsam sind (ebd.; vgl. Hess/Lindner 1997: 48). Es lässt sich also sagen, dass Intersektionalitätsansätze einen Perspektivenwechsel markieren, den man als Abkehr von einem Modell der Mehrfachunterdrückung hin zu einer Theorie der Differenz bezeichnen kann. Unterschiedliche differenztheoretische Positionierungen markieren hierbei die Verschiedenheit intersektioneller Ansätze. Aus dieser feministischen Debatte lassen sich einige für das von mir angestrebte Intersektionsmodell in den Disability Studies relevante Punkte herausheben: Der erste Aspekt betrifft die dekonstruktivistisch-poststrukturalistische Bestimmung soziokultureller Differenzkategorien: Ein binärnaturalistischer Behinderungsbegriff kann so zugunsten eines multiplen Verständnisses von Behinderung aufgegeben werden. Die zweite Gesichtspunkt bezieht sich auf die Relationalität von Differenzkategorien: Dies bedeutet für die Disability Studies, dass sich Behinderung nur mit Bezug auf andere Kategorien erforschen lässt. Der dritte Punkt zielt auf Differenzkategorien als Kreuzungspunkt und Effekt soziokultureller Macht- und Herrschaftspraktiken: Damit sind die Deutungsmuster einer gegebenen Gesellschaft, wie Werte, Normen und Identitäten, ebenso gemeint wie Homophobie, Zwangsheterosexualität, Rassismus, Ethnizität oder soziale Herkunft. Behinderung lässt sich somit nicht auf eine einzige Macht- und
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Herrschaftsdimension reduzieren. Umgekehrt konstituieren Macht- und Herrschaftsrelationen aber auch Behinderung. Der letzte Aspekt betrifft die radikale Historizität von Differenzkategorien: Entsprechend müssen vergangene und gegenwärtige soziokulturelle Umgangsweisen mit Behinderung sowie die Gründe ihres Wandels in eine intersektionelle Analyse einbezogen werden. Gemeinsame Schwäche der verschiedenen intersektionellen Ansätze ist jedoch die systematische Nichtberücksichtigung der Triade Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. Für die Entwicklung eines intersektionellen Entwurfs in den Disability Studies stellt sich deshalb die Frage nach der Relevanz spezifischer soziokultureller Differenzkategorien und deren unterschiedlichen Funktions- und Wirkungsweisen in spätmodernen Gegenwartsgesellschaften: Welche Kategorien und soziokulturellen Faktoren muss ein intersektioneller Forschungsansatz in den Disability Studies berücksichtigen? Oder anders formuliert: Was sind die dominanten Scheidelinien einer Gesellschaft, wie entstehen sie und welchen Veränderungen sind sie unterworfen? Während in der Intersektionalitätsdebatte der Geschlechterforschung die Differenzkategorien Rasse, Klasse und Geschlecht im Mittelpunkt des Interesses stehen, möchte ich mich nun auf die Beziehung und gegenseitige Überschneidung von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht konzentrieren, auch wenn in den Disability Studies eine eingehende Beschäftigung mit Rasse/Ethnizität und Klasse sicherlich noch aussteht. Beginnen werde ich mit den Kategorien Behinderung und Geschlecht, denn insbesondere die feministische Behindertenpädagogik widmet diesem Thema schon einige Zeit ihre Aufmerksamkeit, so dass bereits einige theorierelevante ›Vorarbeiten‹ für einen intersektionellen Ansatz in den Disability Studies vorliegen.
2. Intersektionalität und feministische Studien zu Behinderung Die feministische Forschung zu Behinderung ist ein Teilgebiet der Gender Studies; allerdings stellt sie einen eher randständigen Bereich dar. Ihr Ziel ist es, Behinderung als Analysekategorie in die Geschlechterforschung zu implementieren. Dazu untersucht sie in verschiedenen Forschungsbereichen Verbindungslinien zwischen Behinderung und Geschlecht. Während ältere Ansätze wie der von Ulrike Schildmann gleichheits- und strukturtheoretisch orientiert sind, artikulieren hauptsächlich jüngere Studien im Kontext der Disability Studies – wie etwa die von Claudia Franziska Bruner – ein dekonstruktivistisches Verständnis von Behinderung und Geschlecht. Die feministische Behindertenpädagogin Ulrike Schildmann bestimmt Geschlecht und Behinderung als Indikatoren für gesellschaftliche Un-
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136 | Heike Raab gleichheitslagen. Während die Kategorie Geschlecht Menschen in Männer und Frauen aufteile, diene die Kategorie Behinderung dazu, eine bestimmte Art und Weise der Normabweichung zu definieren und zu klassifizieren. In diesem Sinne seien Behinderung und Geschlecht als soziale Strukturkategorien zu verstehen, die auf soziale Benachteiligungen verweisen. Allerdings sind beide Kategorien, so Schildmann, durch sehr unterschiedliche Merkmale und Funktionsweisen gekennzeichnet: Im Vergleich zur relativ stabilen, sozial gefestigten Kategorie Geschlecht sei Behinderung eine eher flexible Kategorie. Es gebe keinen einheitlichen Behinderungsbegriff, sondern dieser werde je nach medizinischer, juristischer, sozialrechtlicher oder politischer Lesart verschieden gefasst und habe entsprechend unterschiedliche Folgen für die betroffenen Personen (vgl. Schildmann 2003: 29-30). Simultan konstatiert die Autorin eine gewisse Parallelität zwischen weiblichem Geschlecht und Behinderung. Beide verbinde die Zuschreibung, im Vergleich zur Norm unvollständig, defizitär zu sei. Zusätzlich würden beide Unvollständigkeiten an den Körper geheftet (vgl. Schildmann 2004: 536). Das Binnenverhältnis der Triade Normalität, Behinderung und Geschlecht sei, so Schildmann, in der Hauptsache an die gesellschaftliche Organisation geschlechtsspezifischer Normvorstellungen geknüpft, wobei die männliche Norm als Maßstab diene. Im Gegensatz zu Geschlecht und Behinderung funktioniere Normalität deshalb als diskursive Strategie: »Normalität, Behinderung und Geschlecht sind […] allesamt gesellschaftliche Phänomene, aber dennoch strukturell äußerst unterschiedlich. […] Im Vergleich zu Behinderung und Geschlecht […] hat Normalität nochmals eine ganz andere Struktur. […] [Sie] erfüllt nicht die Kriterien einer gesellschaftlichen Strukturkategorie; […] Normalität ist vielmehr eine ›diskursive Strategie‹ […]« (Schildmann: 2001: 8). Dies bedeutet, dass im Unterschied zu Geschlecht und Behinderung, die als soziale Strukturkategorien dargestellt werden, gesellschaftliche Normen und Werte Effekte von Normalisierungsdiskursen sind. Trotzdem betont Schildmann die Notwendigkeit sozialpolitischer und strukturanalytischer Forschungen zu Behinderung und Geschlecht (vgl. Schildmann 2003: 32). Normalisierungsdiskurse spielen darin eine zentrale Rolle (vgl. Schildmann 2001: 8), indem z.B. nach den Selbstnormalisierungsdiskursen behinderter Frauen in einer sie benachteiligenden Umwelt gefragt wird. Diesem Ansatz liegt meines Erachtens ein binär-naturalistisches Verständnis von Geschlecht und Behinderung zugrunde. Gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen werden diskursiv hervorgebracht und unterliegen damit gesellschaftlichem Wandel; die binär-naturalistische Konzeption von Geschlecht und Behinderung bleibt davon scheinbar unberührt. Aus dieser Sicht fungieren Geschlecht und Behinderung als ahistorische, soziokulturelle Unterscheidungsweisen, lediglich der gesellschaftliche Umgang mit ihnen scheint variabel. Der Grund für diese Auffassung von Behinderung und Geschlecht ist, dass sie nicht als integraler Bestandteil
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gesellschaftlicher Normalisierungsdiskurse berücksichtigt, sondern als sozial strukturierende Phänomene aufgefasst werden. Geschlecht und Behinderung erfüllen jedoch durchaus auch normierende Funktionen und sind in diesem Sinne auch als diskursive Strategien zu verstehen. Trotzdem verweist Schildmann auf einen weiteren wichtigen Faktor von Intersektionalität. Normalität, Behinderung und Geschlecht sind parallel in unterschiedliche soziale Gefüge eingebunden und entfalten auf unterschiedliche Weise ihre Wirkkraft. Während Behinderung und Geschlecht gesellschaftliche Strukturierungsmerkmale sind, fungieren Normen bzw. Normalisierungsdiskurse gleichsam als deren soziokulturelle Ausdrucksweisen. Die von der Autorin hervorgehobene Differenzierung der Funktionsmechanismen von Normalität, Behinderung, und Geschlecht (Schildmann 2001: 8) kann sich für die Beschreibung eines intersektionellen Modells in den Disability Studies als nützlich erweisen. Im Kontext der Disability Studies hat die feministische Biographieforscherin Claudia Franziska Bruner (Bruner 2005a; 2005b) sich mit der Dekonstruktion von Körper, Behinderung und Geschlecht beschäftigt. Aus einer körpertheoretischen Perspektive inspiziert sie das Verhältnis Behinderung und Geschlecht. Der Körper gilt ihr als geeigneter Ausgangspunkt, da sich verschiedene soziokulturelle Differenzen in ihrer Wechselwirkung im und am Körper manifestieren. Die differenziellen Wechselwirkungen interpretiert sie als radikale Kontextabhängigkeit, die sich binären Zuschreibungen verweigert. So kreuzen sich in den Aussagen der von Bruner interviewten körperbehinderten Frauen Behinderung, Geschlecht, Soziales und Ökonomisches etc. Es zeigen sich situative und kontextuelle Positionierungen; nie geht es um den Stellenwert von Behinderung allein. Stets werden andere körperbezogene Differenzmarkierungen mitverhandelt und vollzogen (vgl. Bruner 2005a). Aufschlussreich ist es für die Autorin, die Orte kenntlich zu machen, an denen die verschiedenartigen Differenzen ihre Wirkmacht entfalten bzw. Handlungsoptionen entstehen. So kann der Auszug aus dem Elternhaus in eine Sonderinstitution (Bruner 2005a: 287) – etwa für eine Ausbildung – Abnabelungsprozesse fördern, aber auch Gefühle des Abgeschoben-Werdens hervorrufen. Bruner teilt zwar die Perspektive der Behindertenbewegung, die die Unterbringung von Behinderten in Heimen als Ausschluss aus der Gesellschaft kritisiert. In den von ihr analysierten Interviews wird aber deutlich, dass Sozialisationsinstanzen, wie z.B. Heime, nicht per se integrationshemmend oder integrationsfreundlich, sondern ambivalent sind. Des Weiteren könnten Konflikte mit den Eltern oder im Beruf auch mit nonkonformistischem Geschlechtsverhalten und nicht unbedingt mit der eigenen Behinderung zusammenhängen. Legt man die Ergebnisse dieser Studie zugrunde, bedeutet Intersektionalität entsprechend einen Abschied von der Vorstellung, Behinderung fungiere als einziges stigmatisierendes Differenzierungsmerkmal bzw. stehe grundsätzlich immer im Vordergrund.
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138 | Heike Raab Die beiden vorgestellten Ansätze können für einen intersektionellen Zugang in den Disability Studies genutzt werden, da sie Hinweise auf die Ungleichzeitigkeit, Kontextualität und unterschiedliche Funktionalität von Geschlecht und Behinderung als soziokulturelle Differenzierungsmerkmale liefern. Da in den verschiedenen Intersektionalitätsmodellen mit (mindestens) drei Analysekategorien operiert wird, kann jedoch im Grunde lediglich von einem Vorläufer von Intersektionalität gesprochen werden bzw. von einer halbierten Intersektionalität. Zudem sind Auslassungen und asymmetrische Fokussierungen zu beklagen. Gemeinsame Leerstelle ist, dass die Kritik der Queer Studies an der heteronormativen Verfasstheit der Kategorie Geschlecht nicht berücksichtigt wird. Zwar werden Geschlecht und Behinderung als soziokulturelle Konstrukte verstanden (wenngleich auch mit unterschiedlichen theoretischen Bezügen), aber die darin eingelassene heteronormative Ordnung der Geschlechterdifferenz wird analytisch nicht erfasst. Als Folge bleibt der Zusammenhang zwischen Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht unreflektiert. Dagegen würde ein um die Queer Studies ergänzter intersektioneller Ansatz die Analyse der konstitutiven Wechselwirkungen dieser drei für die Disability Studies wesentlichen soziokulturellen Differenzkategorien ermöglichen.
3. Queerness, Heteronormativität und Intersektionalität Auch wenn die Queer Studies auf keinem einheitlichen Theoriegebilde beruhen, teilen queere Ansätze gemeinsame Grundannahmen, z.B. die Beanstandung der Dichotomie von Homo- und Heterosexualität und die Infragestellung von Zweigeschlechtlichkeit als Naturtatsache. Zu den queeren Leitmotiven gehört außerdem eine Kritik an den identitätslogischen Grundlagen emanzipatorischer Bewegungen (Hark 1993; Jagose 2001). Überschneidungen zwischen Queer Studies und Disability Studies sind in der Hauptsache im körpertheoretischen Bereich zu finden: So fokussieren sowohl die Queer Studies als auch die Disability Studies auf kulturelle Unterscheidungsweisen von Körpern. Beziehen sich die Queer Studies hierbei auf Körper innerhalb kulturell ausgeschlossener und verworfener sexueller und geschlechtlicher Existenzweisen, so bilden die Variationen ausgeschlossener Körper, die gemeinhin in unserer Kultur als behindert bezeichnet werden, das Forschungsfeld der Disability Studies. Mit anderen Worten: Untersuchungsgegenstand der Queer Studies sind Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle sowie Transsexuelle. Für die Disability Studies wiederum sind alle Aspekte des Phänomens Behinderung von Interesse. Des Weiteren werden in den Queer Studies ebenso wie in den Disability Studies die medizinische Definitionsgewalt über Körper bzw. Körperzustände und die damit verbundenen kulturellen Normen und Normalisie-
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rungsprozesse in Frage gestellt. So streicht Michel Foucault (1991), der frühe Vordenker der Queer wie der Disability Studies, die Bedeutung der Medizin bei der Konstruktion von Homosexualität als Krankheit heraus. Er pointiert in seinen Studien die komplexe Wechselbeziehung zwischen dem historischen Prozess der medizinischen Konstruktion von krankhaften homosexuellen Subjekten und der Entstehung von Sexualität als normative Regulierungskraft in der Gesellschaft. Wissenschaftliche Begriffe wie Homosexualität werden auf diese Weise in ihren verkörpernden, subjektivierenden und normierenden Effekten erforscht. Gleichzeitig wird Medizin als Wissenschaft historisch situiert und damit in ihrem Deutungsmonopol relativiert. Ebenfalls medizinkritische Bezüge finden sich in den Studien zum Thema Transgender, Intersexuelle und Transsexuelle: Insbesondere Intersexuelle organisieren sich mittlerweile gegen medizinische Genitalverstümmelungen. Ihr Protest richtet sich gegen den ärztlich verordneten Zwang, ein eindeutiges Geschlecht zu haben. Zudem wehren sich zunehmend Transsexuelle gegen bevormundende Gutachten, gesetzlich vorgeschriebene Zwangstherapien und Zwangsoperationen. In beiden Fällen werden nicht nur die medizinischen, sondern auch die traditionellen kulturellen Vorstellungen von Geschlecht bzw. Geschlechtskörpern hinterfragt (Genschel 1998; 2001; Polymorph 2002). Die Kritik an Körpernormen stellt folglich einen fundamentalen theoretischen Ausgangspunkt der Queer Studies dar, die die Annahme, dass der geschlechtlich markierte Körper eine vorkulturelle Angelegenheit sei, systematisch hinterfragt. In analoger Weise wird auch in den Disability Studies die biologischmedizinische Definitionshoheit über körperliche Zustände angefochten. Zweifelsohne liegt die wissenschaftliche Bedeutung queerer Theoriebildung in der Entwicklung und Prägung des Begriffs Heteronormativität. Elementar für dieses Konzept ist es, Sexualität als zentrales gesellschaftliches Strukturierungsprinzip zu verstehen und die Dichotomie von Homound Heterosexualität als Fundament moderner Machtverhältnisse. Wie die Queertheoretikerin Sabine Hark schreibt, versuchen die Queer Studies mit dem Begriff der Heteronormativität diese binäre Klassifikation zu dechiffrieren und Heterosexualität als Norm, Institution und Matrix sichtbar zu machen. Die Produktion, Organisation und Regulation von Sexualität im Sinne von Hetero- und Homosexualität wird somit ins Zentrum der Analyse gestellt (Fuss 1991; Sedgwick 1990). Aus dieser Grundannahme leitet sich das queere Anliegen ab, die etablierte Wissenschaft gewissermaßen sexualtheoretisch zu unterwandern (Warner 1999). Anfang der 90er Jahre hat Judith Butler (1991) als Mitbegründerin queerer Theorien eine umfassende Kritik an der heteronormativen Verfasstheit der feministischen Wissenschaft formuliert. Für Butler konstituieren sich Körper innerhalb eines kulturellen Rahmens. In diesem Zusammenhang konstatiert sie eine unreflektiert vorausgesetzte und als na-
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140 | Heike Raab türlich angenommene Übereinstimmung von Geschlecht, Geschlechtskörper und Begehren. Die Annahme einer Einheit von Körper, Geschlecht, Geschlechtsidentität und Sexualität wird von ihr als Gesetz der heterosexuellen Kohärenz deklariert. Versteht man darunter die normative Ordnung der Geschlechterdifferenz, d.h. ein an Normen orientiertes geschlechtliches und sexuelles Regulierungsverfahren, verweist dieses unmittelbar auf das Konzept der Heteronormativität. Insofern versteht Butler normative Heterosexualität auch als einen Zwang zum Mann-Sein bzw. Frau-Sein und infolgedessen als Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Mit dieser Perspektive hinterfragt sie die Natürlichkeit der binär organisierten Geschlechterdifferenz. Zugleich bringt sie die binäre Organisation von Geschlecht und normative Sexualität in eine konstitutive Beziehung. Zu den herausragenden Leistungen von Butler gehört ihre sexualitätstheoretische Bestimmung von Geschlecht, der zufolge Geschlecht ein Konstrukt ist, das Heterosexualität privilegiert. Im Spiel mit Geschlechterrollen und -normen, d.h. in einer Politik der Geschlechterverschiebung und -überschreitung, sieht sie die Chance einer Desartikulation und Resignifikation3 der vorherrschenden heteronormativen Geschlechterdifferenz. Butler rekurriert damit auf Praktiken des Zitierens und damit Überschreitens von Geschlechternormen in den lesbischen und schwulen Subkulturen, wie etwa ButchFemmes, Tunten oder Transvestiten4. Diese Form des parodistischen Geschlechter-Aktivismus birgt für sie die Möglichkeit zur Dekonstruktion von Heteronormativität (Butler 1991; 1996). Trotzdem entgeht auch dieser Queertheoretikerin die vollständige Komplexität von Heteronormativität. Denn erst die zusätzliche Perspektive der Disability Studies ermöglicht es, alle Facetten von Heteronormativität zu erfassen: Zwar konstituieren sich Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität durch die kulturelle Organisation von Körper- und Geschlechtsnormen, wie Butler zu Recht darlegt, jedoch ist gerade Menschen mit Handicap oftmals das Scheitern an der Geschlechtsnorm qua Behinderung schon eingeschrieben. Ihre Situation ist gewissermaßen von der Unmöglichkeit der Möglichkeit gekennzeichnet, Geschlecht und Sexualität zu zitieren. So werden im alltäglichen Umgang Menschen mit Behinderung häufig als sexuelle und geschlechtliche Neutren behandelt. Infolgedessen wird das soziale Feld von einer Art verweigerter Geschlechtszugehörigkeit strukturiert. Oftmals angeführtes Beispiel hierfür ist die Bezeichnungspraxis öffentlicher Toiletten. Es gibt Toiletten für Männer und Frauen sowie eine asexuelle und ageschlechtliche Toilette – nämlich die Behindertentoilette. In anderen Worten: Die heteronormative Ordnung der Geschlechterdifferenz funktioniert nicht nur entlang der Vektoren Körper, Geschlecht und Sexualität. Als ein weiterer Heteronormativität produzierender Schauplatz ist der Bereich der Behinderung zu nennen. Heteronormativität, so meine
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These, produziert und organisiert nicht nur Männlichkeit, Weiblichkeit und Homosexualität, sondern zugleich auch Formen von Asexualität und Ageschlechtlichkeit – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise: Während die Hetero/Homo-Dichotomie – als Heteronorm – die heterosexuelle Ordnung aufrechterhält, besteht im Falle von Behinderung die Gefahr, völlig von dieser binären soziokulturellen Organisationsstruktur ausgeschlossen zu werden. Für Menschen mit Behinderung ergibt sich hieraus eine widersprüchliche Situation. Einerseits fallen sie gemäß der heteronormativen Ordnung aus Butlers Konzept der Geschlechterparodie heraus. Andererseits ›verschieben‹ Behinderte genau jene Geschlechter- und Sexualitätsnormen, die Butler als Gesetz der heterosexuellen Kohärenz bezeichnet, und unterwandern damit tendenziell die heteronormative Ordnung. Die Lösung dieses Dilemmas scheint mir im queeren Verständnis von Geschlecht als Konstrukt und soziokulturelle Praxis angelegt. Das Butler’sche Konzept der Geschlechterverschiebung und -überschreitung strebt letztlich eine Anerkennung der Vielfalt von Geschlecht an. Notwendige Voraussetzung, um ein Geschlecht verschieben oder überschreiten zu können, ist es aber, ein Geschlecht zu haben. Da Menschen mit Behinderung dies oft verweigert wird, scheint es notwendig, soziokulturelle Prozesse und Praktiken der Geschlechtsaneignung zu entwickeln, die außerdem nicht heteronormative Effekte entfalten können. Anstelle der Fokussierung auf Geschlechterparodie sollte deshalb auch eine stärkere Problematisierung der Aneignung von Geschlecht erfolgen. Gemäß dem Funktions- und Regulationsmodus von Heteronormativität, d.h. der medizinisch-kulturell erzwungenen Pflicht, ein Geschlecht zu haben, könnte dies über den Weg eines strategischen Konfiszierens von Geschlechtlichkeit gelingen. Mit dem Einschreiben anders befähigter und anders funktionierender Geschlechter, Körper und Sexualitäten in die Geschlechter-Agenda der Mehrheitsgesellschaft könnten auf diese Weise ebenfalls neuartige Schemata von Körpern, Sexualitäten und Geschlechtern etc. entstehen, die die heteronormative Ordnung in Frage stellen. Dementsprechend müsste sich die queere Heteronormativitätskritik mehr als bisher sowohl Konzepte der Geschlechterparodie als auch des Geschlechterkonfiszierens zum Forschungsgegenstand machen. Nur so kann Heteronormativität analysiert und kritisiert werden, ohne die konstitutive Wirkmächtigkeit von Behinderung abermals unsichtbar zu machen (vgl. Raab 2003). Die Einführung einer Perspektive der Disability Studies erweitert an dieser Stelle nicht nur den Analyserahmen um den Aspekt Behinderung, sondern enthüllt Butlers Kritik an der heteronormativen Verfasstheit der feministischen Analysekategorie Geschlecht als kurzschlüssig. Erst die Frage nach der Verschränkung von Heteronormativität mit Behinderung zeigt die vielschichtigen und widersprüchlichen Funktionsmechanismen
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142 | Heike Raab von Heteronormativität. Sie reguliert nicht nur hierarchisch angeordnete geschlechtliche und sexuelle Existenzweisen, sondern im Falle von Behinderung auch Zonen von asexuellen und ageschlechtlichen Lebensweisen. Eine weitere Möglichkeit, die Funktionsweisen von Heteronormativität zu beleuchten, wird seit kurzem im US-amerikanischen Kontext unter der Rubrik Queer Disability Studies diskutiert (Brownworth/Raffo 1999; Clare 1999; McRuer/Wilkerson 2003; McRuer 2006). Wie Robert McRuer schreibt, haben die Queer Disability Studies sich die Aufgabe gestellt, die gegenseitige Bedingtheit von »compulsory able-bodiedness« und »compulsory heterosexuality« zu untersuchen. Angesichts gegenwärtig umfassender ökonomischer, politischer und kultureller Veränderungen konstatiert McRuer das Auftauchen eines neuartigen »flexible heterosexual and ablebodied subject« (McRuer 2006: 3) und einer veränderten »able-bodied heteronormativity« (ebd.). Denn im Zeitalter der flexiblen Normalisierung (ebd.; Engel 2005) werde Differenz nicht mehr vorrangig stigmatisiert, sondern flexibilisiert. Anzeichen hierfür sieht er in der neuen Sichtbarkeit von Lesben, Schwulen und Behinderten in den Medien (Kinofilme, TVSerien, Werbung etc.). Diese dienten als Folien für sich wandelnde, dynamisierte spätmoderne (heterosexuelle) Lebensformen. Da in diesen medialen Darstellungen bzw. in den Rollen der Darsteller Gesundheit an Heterosexualität geknüpft werde, während Homosexualität mit Krankheit assoziiert werde, komme es zu einer klaren Abgrenzung zwischen Homosexuellen und Behinderten einerseits und allen übrigen Personen andererseits. Entsprechend kristallisiere sich ein System von »able-bodied heteronormativity« heraus (ebd.). Durch den sexualitätstheoretischen Impuls der Queer Studies findet also eine produktive Weiterentwicklung der Disability Studies statt, während die Analysekategorie Behinderung Leerstellen in den Queer Studies aufzudecken vermag. Intersektionalität verweist hier auf die gegenseitige Anschlussfähigkeit unterschiedlicher fachdisziplinärer Richtungen. In diesem Sinne begründet ein intersektioneller Blick auf Heteronormativität nicht nur deren Bedeutung bei der Konstruktion von Geschlecht und Sexualität, sondern erklärt auch ihre Wirkmacht im Bereich Behinderung. Die Einbeziehung einer intersektionellen Sichtweise lässt somit eine systematische Verknüpfung von Heteronormativität und Behinderung als ein neues transdisziplinäres Forschungsfeld sinnvoll erscheinen.
4. Ein Plädoyer für Intersektionalität in den Disability Studies Als allgemeines Analyseraster erlaubt Intersektionalität folglich einen transdisziplinären Zugang und eine Sichtweise, die Differenzen nicht als essenzielle und ahistorische Wesenheiten konzipiert. Dies gestattet eine
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Intersektionalität in den Disability Studies | 143
Neubestimmung von Behinderung als soziokulturelles Differenzierungsverfahren jenseits dualer und hierarchischer Gegensätze. Ferner ermöglicht es eine Konzeptionalisierung von Behinderung, die weitere soziokulturelle Differenzkategorien wie Heteronormativität und Geschlecht systematisch berücksichtigt. Die Anwendung eines Intersektionalitätmodells führt darüber hinaus zu einer stärkeren disziplinenübergreifenden Anbindung an die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Schließlich hinterfragt die dekonstruktivistisch-poststrukturalistische Methode die Dichotomie von Natur und Kultur. Behinderung ist – wie auch Heteronormativität und Geschlecht – kein Produkt der Natur, sondern der Kultur. Hieraus ergeben sich Berührungspunkte mit den eingangs erwähnten kulturellen Ansätzen von Behinderung in den deutschsprachigen Disability Studies. Auch diese Arbeiten dekonstruieren den Behinderungsbegriff (Bruner 2005a; Waldschmidt 2005). Die medizinisch-biologistische Klassifikation wird ebenso hinterfragt wie die Universalität von Behinderung. Stattdessen wird Behinderung als vielfältige soziokulturelle Problematisierungsweise verstanden. Gleichwohl fehlt bislang das methodische Handwerkszeug für einen solchermaßen verstandenen Behinderungsbegriff. Für zentral halte ich hierbei die Untersuchung der Triade Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. Wichtig ist dabei, Geschlecht im Sinne der Queer Studies zu konzipieren und den Zusammenhang von Heteronormativität und Behinderung zu berücksichtigen. Um die gegenseitige Durchkreuzung und Verwobenheit von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht erforschen zu können, bedarf es aber auch hier einer methodologischen Systematik. Die von mir diskutierten diversen Aspekte eines Intersektionalitätsmodells bilden einen Analyserahmen, der die verschiedenen Ebenen und Interdependenzen von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht mittels eines transdisziplinären Verfahrens und einer multiplen Bestimmung von Behinderung erfassen könnte. In diesem Sinne bietet der Intersektionalitätsgedanke für die Disability Studies eine neue methodische Herangehensweise, die auf neue Erkenntnisse in der Erforschung von Behinderung hoffen lässt.
Anmerkungen 1
›Weiß-Sein‹ bezeichnet eine Kategorie der Critical Whiteness Studies und steht für einen Paradigmenwechsel in der Rassismusforschung. Kritisiert wird, dass immer nur die anderen rassifiziert werden und das eigene (weiße) Selbst nicht wahrgenommen wird. ›Weiß-Sein‹ markiert die Unsichtbarkeit einer herrschenden Norm und verschiebt so die Perspektive von der Norm-Abweichung auf die Norm selbst. D.h. es erfolgt ein Blickwechsel, der nicht nur das marginalisierte Andere
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144 | Heike Raab (Ausländer/Migrantinnen) als gesellschaftlich Erzeugtes entlarvt, sondern auch das Eigene bzw. das so genannte Einheimische als konstruiert kennzeichnet. Bezogen auf die Disability Studies bedeutet dies, bei der Erforschung von Behinderung der internen Abhängigkeit von ›normal‹/›anormal‹, ›behindert‹/›nicht behindert‹ mehr Aufmerksamkeit zu schenken und diese Binaritäten als soziokulturelle Konstruktionen zu enthüllen. Es geht aber auch darum, scheinbar unsichtbare gesellschaftliche Schemata und Normen selbst – wie z.B. Weiß-Sein – in ihrer Wirkkraft hinsichtlich des Zustandekommens von Behinderung als soziokulturelles Konstrukt miteinzubeziehen und Behinderung nicht nur als singuläres Phänomen zu erforschen. 2 Auch wenn es im akademischen Feminismus eine Begriffsentwicklung von der feministischen Wissenschaft über die Frauen- und Geschlechterforschung hin zu den Gender Studies gab, verwende ich diese Begriffe in diesem Beitrag synonym. 3 Die Begriffe Desartikulation und Resignifikation beziehen sich auf Butlers Vorhaben einer verschiebenden Neuartikulation und Neubezeichnung von Geschlecht. Statt Zweigeschlechtlichkeit zielt sie auf Vervielfältigung von Geschlecht jenseits heterosexueller Normen. 4 Damit sind die sexuellen und geschlechtlichen Existenzweisen in den lesbischen bzw. schwulen Subkulturen gemeint.
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III.
Normalität, Abweichung und Behinderung als Regime von Sichtbarkeiten. Historische Rekonstruktionen des Blicks auf den ›anderen‹ Körper
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) T01_06 RESPEKT III.p 145482606320
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) vakat 150.p 145482606328
Vom deformierten Menschen zum deformierten Maßstab | 151
Vom Blick auf den deformierten Menschen zum deformierten Maßstab der Beobachter. Versuch einer feldtheoretischen Genealogie des normalisierenden Beobachterhabitus in den Human-und Lebenswissenschaften Thomas Becker
Außergewöhnliche Missbildungen sind erst im 18. Jahrhundert zum rein wissenschaftlichen Gegenstand der Medizin geworden. Noch bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts konnten sie bei Chirurgen und Medizinern als Ausdruck göttlicher Strafe, Zeichen für begangene Sünden oder Indizien kosmologischer Prozesse gelten, die widernatürliche Erscheinungen repräsentierten (Huet 2004: 128f.). Im 19. Jahrhundert nannte sich die Untersuchung von Missbildungen zwar noch Teratologie, zu deutsch: Lehre von den Monstern, aber der ärztliche Blick konzentrierte sich nun auf die Beobachtung der embryonalen Entwicklung. Anders als im 18. Jahrhundert ging es in dieser sich neu ausrichtenden Teratologie nicht mehr um die Einordnung von seltenen Individuen in eine allgemeine Taxonomie der Naturdinge. Vielmehr nahm die Erforschung der Gesetzmäßigkeit des normalen Lebens ihren Ausgangspunkt bei der Missbildung (Schuster 1930: 291). Die Normalität des Lebens erklärte sich nicht mehr aus der rein visuellen Klassifikation, sondern verlangte die Aufdeckung einer dem Leben immanenten, dem morphologischen Blick zunächst verborgenen Disposition. Suchte die Medizin des 15. und 16. Jahrhunderts in den ›Monstern‹ Zeichen für eine kosmische Entwicklung oder religiöse Strafen für menschliches Fehlverhalten, das den Lauf der Dinge aus dem Lot gebracht hatte, so hoffte das 19. Jahrhundert vielmehr, in der Beobachtung der Missbildungen einer verborgenen Norm der normalen Lebensbildung auf der Spur zu sein. Eine entscheidende Funktion
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152 | Thomas Becker kam dabei dem in der Teratologie zum ersten Mal auftauchenden Begriff der Anomalie zu, der schließlich über die Vermittlung der Psychiatrie für die Grenzbestimmung zwischen Normalität und Behinderung in verschiedensten Disziplinen der Humanwissenschaften wirksam wurde. Nach Georges Canguilhem bestand die Normalisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts darin, dass die innere Norm des sich individualisierenden Lebensprozesses zunächst aus dem Zusammenhang zwischen Gesundheit und Krankheit abgeleitet wurde. Normalität und Abweichung sollten nur noch graduell unterschieden sein (vgl. Canguilhem 1950: 14ff.). Seit etwa 1830 regte diese Vorstellung die Medizin zu Tests an, welche die Toleranzwerte des Normalen statistisch zu erfassen versuchten. Michel Foucault hat diese Normalisierungsthese Canguilhems dagegen erst in eine machtkritische Perspektive gerückt (Foucault 1977b: 139-157). Laut Foucault ist Normalisierung eine genuin wissenschaftliche Macht der Individualisierung, die sich auf den Körper des Beobachteten stützt, indem sie ihn testet und einer permanenten Kontrolle aussetzt (Foucault 1977a: 28-39). Kontrolle und Tests werden damit zu Instrumenten einer maximierenden Effektivierung von Leben, die sich keineswegs in der Problematisierung der Toleranzwerte für Abweichungen von der Gesundheit erschöpfen. Die in der Teratologie entworfene Begriffstrias des Normalen, Anormalen und Anomalen ging jedoch keineswegs auf eine Praxis des Messens, sondern auf einen zunächst von klinischer Anwendung befreiten autonomen Forschungsblick zurück. Die neuere Literatur zum Thema der Monster versucht daher, sich auf die Frühphase Foucaults – auf seine »Archäologie« von Epistemeformen1 – zu berufen, in der es nicht um eine klinische Praxis, sondern um epistemologische Modelle zur Anreizung der Wissensproduktion ging. Diese Archäologie hatte jedoch noch keinerlei machtkritische Perspektive entwickelt. Das Zusammenspiel einer Archäologie der Epistemeformen mit der von Foucault erst später in der Phase der »Genealogie« entwickelten machtkritischen Normalisierungstheorie ist daher bislang eine methodische Leerstelle geblieben.2 Die Machtanalyse von autonomen Epistemeformen erschöpft sich nicht nur darin, die prädiskursive Habitualisierung eines normalisierenden Blicks des Beobachters zu thematisieren. Vielmehr soll es darum gehen, das Verhältnis der im ärztlichen Blick implizit angeeigneten Normen zur expliziten Diskursivierung herauszuarbeiten. Gerade die im 19. Jahrhundert im Diskurs auftauchenden Selbstreflexionen des wissenschaftlichen Beobachters in Bezug auf den Beobachteten, die mit dem alltäglichen Glauben an eine Identität von Norm und Normalität ebenso brachen wie mit eindeutigen Definitionen des Normalen in der klinischen Wissenschaft, konnten zum effektiven Medium einer versteckten Normierung durch einen Beobachterhabitus werden. Im expliziten Bruch mit einer normativen Definitionsmacht von Normalität durch die Tugend der skeptischen Forschung entstand nämlich nicht nur die Möglichkeit, sich von der
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Vom deformierten Menschen zum deformierten Maßstab | 153
gesamten Geschichte eines normierenden Blicks zu distanzieren, sondern damit auch dessen Rolle für die Konstitution einer Grenze zwischen normal und behindert zu übersehen. Nach einer ersten Exposition der Grundthese zur Entstehung eines epistemologischen Bruchs durch die Entstehung der Teratologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird sich ein zweiter Abschnitt der methodologischen Klärung widmen und sich dafür nicht nur an Foucault, sondern an Pierre Bourdieus Theorie symbolischer Macht anlehnen. Ein dritter Teil wird zeigen, wie man durch die Verbindung der Foucault’schen Normalisierungskritik mit der Bourdieu’schen Feldanalyse eine machtkritische Beschreibung der Genese eines normalisierenden Beobachterhabitus leisten kann, der nicht nur aus der klinischen Anwendung von Wissen hervorging.
1. Der Bruch mit dem normalen Blick als Mittel der wissenschaftlichen Normalisierung 1829 stellte die Teratologie die Unterscheidung zwischen Anomalie und Anormalität zur Klassifikation von Missbildungen zum ersten Mal auf. Sie wurde unmittelbar von der entstehenden Psychiatrie übernommen (Canguilhem 1950: 77). Wenn anatomische Missbildungen irregulär waren, aber nicht die Lebensfunktionen beeinträchtigten, nannte sie Isidore Geoffroy Saint-Hilaire »Anomalien«. Andererseits konnten Anomalien aber auch Funktionsstörungen unabhängig von einem offensichtlichen (morphologischen) Indiz der Abweichung in sich bergen. Je undeutlicher, weicher und unsichtbarer der Übergang von Anomalien zum Normalen wurde, desto mehr wurde das eindeutig Anormale zum Orientierungspunkt der wissenschaftlichen Decodierung einer Grammatik der Lebensentwicklung. Die beiden naturhistorischen Forscher Isidore und sein Vater Etienne Geoffroy Saint-Hilaire versuchten daher, gerade aus den extremen, nicht lebensfähigen embryonalen Missbildungen eine dem Leben immanente, normative Gesetzmäßigkeit aller Lebensentwicklungen abzuleiten. Dieses Vorgehen war u.a. durch die Entdeckung des deutschen Mediziners Philipp Meckel motiviert, der schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Bildung von Kiemen im Frühstadium des menschlichen Embryos nachweisen konnte. Es lag nahe, embryonale Missbildungen als eine stehengebliebene Vorstufe der Naturgeschichte zu interpretieren. Missbildungen gehörten dann folglich zur Formbildung des normalen Lebens schlechthin,3 so dass ihre gesetzmäßige Erklärung einer dem Lebenstrieb immanenten Norm auf der Spur zu sein schien (Geoffroy Saint-Hilaire 1826: 9).4 Indem der wissenschaftliche Blick mit der bisherigen Klassifikation des Normalen zu brechen versuchte und Normalität des Lebens nicht an visuell unauffälligen ›normalen‹, sondern an monsterhaft abweichenden Formen ausfindig zu machen hoffte, konnten diese zu rein natürlichen Gegenstän-
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154 | Thomas Becker den einer wissenschaftlich zu ergründenden, unmittelbar nicht sichtbaren Normativität des Lebens erklärt werden. Da die Beobachtungen somit zunächst weder an klinischer Anwendung orientiert waren noch durch menschliches Eingreifen beeinflusst schienen, standen ihre Ergebnisse für den objektiven Blick der Forschung. Deswegen konnte beispielsweise Cesare Lombroso gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Modell der Teratologie dazu nutzen, seiner Theorie des geborenen Verbrechers in einer anwendungsorientierten Kriminalanthropologie den Anschein wissenschaftlicher Seriosität fortschrittlichster Forschung zu verleihen: »Eine Tathsache, die vielleicht der Mehrzahl der Beobachter entgangen ist, gerade um ihrer Einfachheit und Häufigkeit willen […], ist die, daß die Keime des moralischen Irreseins und der Verbrechernatur sich nicht ausnahmsweise, sondern als Norm im ersten Lebensalter vorfinden, gerade wie sich beim Embryo regelmäßig gewisse Formen finden, die beim Erwachsenen Missbildungen darstellen, so dass das Kind ein des moralischen Sinnes entbehrender Mensch [!] darstellen würde, was die Irrenärzte einen moralisch Irrsinnigen, wir aber einen geborenen Verbrecher nennen.« (Lombroso 1894: 97)
Mögen im Rückblick auf die Entstehung der Institutionen des 19. Jahrhunderts die vergangenen Rassismen in der Grenzziehung zwischen normal und anormal in den offensichtlichen Typisierungen eines Lombroso für uns Spätere leicht erkennbar sein, so doch nicht der ihnen zugrunde liegende Mechanismus einer genuin wissenschaftlichen Haltung, die im Zweifel an der Norm allgemein anerkannter Normalität eine wissenschaftlich legitimierte Normalität aufstellte, die damit nicht mehr als Normativität, sondern als reine Natur erschien.5 Diese angeblich nicht normative Bestimmung des Normalen wurde durch ein Normalitätskonzept getragen, das auf die neue Klassifikation der Anomalie in der Teratologie zurückging und im Laufe des 19. Jahrhunderts für Randphänomene in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen wirksam wurde. So setzte sich mit der Entstehung der institutionellen Sonderpädagogik am Ende des 19. Jahrhunderts eine Differenzierung von Behinderten durch, die Erziehbare von den nicht erziehbaren Extremfällen unterschied, welche vollkommen durch ihre Natur determiniert zu sein schienen. Im Folgenden werde ich versuchen zu zeigen, wie wissenschaftliche Disziplinen in ihrer scheinbar formalen und weichen Grenzsetzung zwischen Normalität und Behinderung normative Vorstellungen transportierten, die deswegen nicht als normativ verstanden wurden, weil der Anspruch dieser Wissenschaften auf eine hegemoniale Beobachtersouveränität nicht reflektiert wurde.
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2. Wozu Feldanalyse und Genealogie verbinden? Die Anomalie kann man aus Foucault’scher Perspektive als eine Episteme fassen, die dazu in der Lage ist, mehrere ganz unterschiedliche Disziplinen anzuleiten, ohne dafür auf einen kulturellen oder sozialen Großkontext zurückführbar zu sein (Foucault 1974: 23). Von einem sozialkritischen Standpunkt aus ist an dieser Konzeption weniger auszusetzen, dass die Produktivität der Wissenschaften unabhängig von einem kulturellen Großkontext betrachtet wird, sondern vielmehr dass deren Ausdifferenzierung gegenüber dem kulturellen Großraum nicht mehr als Ergebnis sozialer Kämpfe erscheint. Darauf aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst Pierre Bourdieus. Er teilt Foucaults Auffassung von den Wissenschaften als eigenem Raum strategischer Möglichkeiten (gegenseitiger Abgrenzungen) (vgl. Foucault 1968), kritisiert aber, dass Foucault in seinen frühen Schriften immer von Strategien rein theoretischer Polemiken ausgeht (Bourdieu 1998: 57f.).6 Lange vor Gilles Deleuze und Foucault hat Pierre Bourdieu eine Theorie spezifischer Felder entwickelt, die es erlaubt, Autonomisierungen kultureller Produktionen auch aus gesellschaftstheoretischer bzw. machtkritischer Perspektive zu analysieren, ohne deren Autonomie zu übergehen: Die jeweils in strategischen Relationen zueinander stehenden Positionen von Produzenten der Wissenschaft bilden die Struktur eines lokalen sozialen Raums bzw. Felds der Kämpfe um spezifische Regeln, die allen in dieses Feld neu Eintretenden aufgezwungen werden können. Das wichtigste Instrument dieser symbolischen Kämpfe ist dabei auch für Bourdieu der Körper – freilich als aktiver Träger von Wissen und nicht nur als beobachteter Gegenstand: Indem die Ergebnisse der Kämpfe im Körper der Agenten nicht nur als Wissen, sondern als Wahrnehmungsstruktur in Form einer Habitualisierung dauerhaft angeeignet werden, reproduzieren sich nicht nur die Strukturen eines Feldes auf implizite Weise, sondern bilden sich je nach Position Perspektiven, deren Durchsetzung unterschiedliche Strategien erfordern und zur dynamischen Transformation des Feldes führen. Wissen wird damit als ein aktiver Zustand des Leibes und nicht nur als Diskurs7 verstanden, und ein Feld stellt anders als beim frühen Foucault nicht mehr ein rein semantisches Feld der Diskurse, sondern einen spezifisch begrenzten Raum strategischer Handlungen dar. In der Feldsoziologie schließt daher die Annahme eines den Akteuren vorausliegenden Systems oder Dispositivs nicht eine Analyse der Handlungsstrategien von Akteuren aus. Da Foucault Diskurse an die Stelle von sozialen Agenten treten lässt, hat er allerdings auch späterhin stets die Analyse von sozialen Interessen verworfen (Foucault 1977b: 40). Foucault hielt zwar den Begriff des Interesses nicht zu Unrecht für ein Instrument der Ideologiekritik, das die Eigendynamik lokaler wissenschaftlicher Kämpfe nicht erfassen kann. Will
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156 | Thomas Becker man aber die Triebkräfte des wissenschaftlichen Blicks zur Konstitution diskreter Gegenstände als Ergebnis strategischer Machtbeziehungen darstellen, muss man die durch soziale Kämpfe gegenüber Ökonomie und Machtkonzentration entstehende Interesselosigkeit eines autonomen Feldes selbst als ein spezifisches soziales Interesse des jeweiligen Feldes beschreiben.8 Dieses Interesse an der Interesselosigkeit gegenüber Machtkonzentration ist zwar immer nur relativ. Aber die Distanz zu Interessen, wie sie sich im ›l’art pour l’art‹ des Kunstfeldes oder in der Verpflichtung des medizinischen Feldes zur Erforschung des Lebens um der Forschung willen formuliert, kann selbst Gegenstand eines spezifischen, vornehmlich dieses Feld bestimmenden Interesses und damit spezifischer Kämpfe um Instrumente, Laborplätze, Theorien usw. werden, die die symbolischen Positionen eines Feldes abbilden. Die normalisierende Funktion der Wissenschaften ist jedoch in der Feldtheorie Bourdieus nie Gegenstand der Machtkritik geworden. Dies liegt daran, dass Theorien und Diskurse in der Feldsoziologie bisher vorwiegend aus der Perspektive der Genese einer synchronen Feldstruktur beschrieben werden: Diskurse werden weniger in ihrer thematischen Entwicklung, sondern vom symbolischen Markt der im Feld herrschenden Konkurrenz her analysiert, welcher die Selektion von Diskursen und Themen steuert. Nicht die historische Transformation eines über Jahrhunderte zirkulierenden Dispositivs ist dann der historische Gegenstand, sondern die im Laufe der Genese eines Feldes sich ausbildende Brechung von Diskursen an den jeweiligen Kräfteverhältnissen konkurrierender Positionen (innerhalb der Medizin, Naturgeschichte, Biologie etc.). Auf diese Weise gelingt es Bourdieu, eine teleologische Doxografie oder die Etablierung einer kontinuierlichen Ideengeschichte zu vermeiden und stattdessen die realen Kämpfe sichtbar zu machen, die Themen zu ihrer Durchsetzung verhelfen. Aber diese Theorie spezifischer Felder muss analog zu Foucaults Geschichte der Gegenwart durch eine Analyse jener lang anhaltenden Praktiken ergänzt werden, die als Triebkräfte zu einer allgemeinen Wissens- und Machtakkumulation der Ausbildung von spezifischen Wissenschaften nicht nur historisch vorangehen, sondern auch nach Etablierung in genau abgegrenzten Disziplinen und Feldern eben keineswegs vollkommen verschwunden sind. Dem oben skizzierten innerwissenschaftlichen Bruch mit der morphologischen Bestimmung des Normalen, der dazu führte, dass der wissenschaftliche Blick die Normalität gerade aus den morphologisch abweichenden Monstern abzulesen versuchte, ging historisch ein keineswegs wissenschaftlich motivierter Bruch voran, der indes erst die allgemeine Grundhaltung der wissenschaftlichen Skepsis vor aller Spezifizierung in unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen motivierte: So begann man sich mit Beginn des 17. Jahrhunderts in den gehobenen Schichten genuin für die
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ästhetische Besonderheit der Monster zu interessieren, so dass die außergewöhnlichen Naturerscheinungen an Kultwert verloren und in den Wunderkabinetten des Adels zunehmend an Ausstellungswert gewannen, mit dem dieser sich von einer populären Sichtweise distinguieren konnte.9 Erst durch dieses an populärem Kult uninteressierte, genuin ästhetische Interesse an Monstern wurden diese zu diskreten Naturgegenständen der Beobachtung, auf die sich dann die weitere Entstehung moderner Wissenschaften stützen konnte. Bourdieu hat darauf verwiesen, dass die ästhetische, gegenüber Sinnenreizen distanzierte, also uninteressierte Haltung, wie sie zuerst Kant für ästhetische Urteile diskursiv zu begründen versuchte, überhaupt nur als soziale Funktion der Abgrenzung gegenüber populären Geschmacksformen zu existieren vermag, die meist auf unmittelbare sinnliche Reize setzen (Bourdieu 1987: 756ff.). Die symbolische Triebkraft des interesselosen Blicks muss also sowohl als eine Anziehungskraft für die Konstituierung eines diskreten, autonomen Gegenstands als auch zugleich als Instrument der Machtlegitimation angesehen werden. Die wissenschaftliche Beobachtung von Monstern etablierte sich sodann als Radikalisierung des reinen Blicks, indem sie sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zur ästhetischen Haltung des Machtfeldes als intellektuellere Schaulust zunehmend in Konkurrenz setzen konnte. Sie ersetzte die ästhetische Schaulust durch die Lust an der gesteigerten Orientierung in der Natur. Gleichwohl war die Orientierungslust eine für das Feld der Macht nützliche Variante des Interesses an einem reinen Blick, der sich dann unter neuen Transformationen vor allem im 19. Jahrhundert als Legitimationsinstrument durchsetzte. Weil das Interesse am interesselosen Blick eine den Wissenschaften und dem Feld der Macht gemeinsame soziale Triebkraft ist, kann eine interesselose Haltung den immerwährenden Kampf um Positionierungen und Distinktionen nicht etwa befrieden, wie Kant glaubte. Der historisch offene Zusammenhang zwischen Autonomisierung der Wissenschaften und ihrer Funktion der Machtlegitimation kann auf diese Weise diachron beschrieben werden, ohne ihn auf eine Apokalypse der reinen Machtkonzentration oder eine bloße Fortschrittsteleologie zu reduzieren.
3. Die Konstituierung der Monster als Gegenstand des interesselosen Blicks Schon lange vor der Renaissance tauchen Diskurse zu Monstren auf. Aber seit der Renaissance werden sie in ein genuin christliches Weltbild integriert (Park/Daston 1981: 25). Diese Diskurse behandeln nicht ausschließlich Monstren, sondern ebenso außergewöhnliche Naturerscheinungen wie Vulkanausbrüche und Überschwemmungen. Sie wurden als Zeichen von
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158 | Thomas Becker Gottes Willen interpretiert, so dass das Thema der Monster kaum ein autonomer, klar abgegrenzter Gegenstand dieser Traktate genannt werden kann.10 Um 1600 begannen jedoch mehrere Diskurse die Betrachtung der Monster und außergewöhnlicher Naturerscheinungen als eine Sache der gehobenen Konversation um der Konversation willen darzustellen (ebd.: 39f.).11 Als Gegenstand der Konversation waren sie auf die Symbiose von Hof und aufsteigendem Bürgertum ausgerichtet, das sich einem Stilgesetz des adligen Habitus unterwerfen musste, um seine Teilnahme am Feld der Macht zu legitimieren. Die Konversationsliteratur zu Wundern der Natur entsprach der Haltung des Adels, sich der Natur mit einem gegenüber den neuen Professionen der universitären Bildung interesselosen Blick zuzuwenden. Professionelle Ausbildung hätte den Adel entehrt, dem die Macht von Geburt zustand. Er hatte sich gegenüber der mühsamen Wissensaneignung des Bürgertums zu distinguieren. Das heißt nicht, dass er sich Wissen nicht ebenso aneignen konnte wie das Bürgertum, aber niemals unterwarf er sich einer Prüfung oder einer geordneten Karriere (Stichweh 1991: 280f.). Die Konversationsliteratur erlaubte dem Bürgertum seinerseits, die im Machtfeld dominierende aristokratische Haltung der spielerischen (an Karriere scheinbar nicht interessierten) Aneignung von Wissen ohne allzu großen Kraftaufwand neben der zur Legitimation für ihn durchaus gebotenen Professionalisierung einzuüben. Indem man das Neue und Einzigartige an außergewöhnlichen Erscheinungen zur Belebung einer spielerischen Konversation in den Vordergrund rückte, vermied man jede religiös-populäre Deutung und empfahl sich damit den gehobenen Positionen im Feld der Macht. Am Ende des 16. Jahrhunderts wird dieser Übergang in Ambroise Parés Des monstres deutlich erkennbar: Zwar werden noch theologische Gründe aufgezählt, zugleich tauchen jedoch schon Beschreibungen auf, wonach die Natur bei den Monstren nur gespielt habe, um uns die Größe der Werke in der Natur bewundern zu lassen (Paré 1971: 139). Bis zur Schwelle des 18. Jahrhunderts konnte man an katholischen Höfen noch viele menschliche Anormalitäten, wie z.B. Zwerge, finden. Sie waren genuin ein Mittel der aristokratischen Abgrenzung gegenüber dem Volksglauben, der Zwerge stets als unheimlich und gefährlich ansah (Wind 1998: 19f.). Am Hof wurden sie als preziöse Spielzeuge der Unterhaltung behandelt, die weniger Kultwert als Ausstellungswert hatten. Dies entsprach einer Autonomisierung des Blicks, der zwar noch nicht durch wissenschaftliche Entwicklung geprägt war, aber mit der Ablehnung eines populären Kultwertes außergewöhnlicher Erscheinungen die Symbiose mit einer religiösen Codierung zunehmend in Frage stellte und damit die Natur zu einem eigenständigen Akteur machte.12 Die ästhetische Interesselosigkeit gegenüber volkstümlicher Religion wurde bei Bacon zum ersten Mal als Anreiz zu einer wissenschaftlichen
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Lesart der Monstren genutzt, welche die interesselose Haltung radikalisierte und somit als intellektuelle Abgrenzung gegen die ästhetischen Praktiken des Machtfeldes zur Neugründung von wissenschaftlichen Institutionen fungieren konnte. Sein in der Abhandlung »The Advancement of Learning« formuliertes Wissenschaftsverständnis (Bacon 1831: 102f.) war die Grundlage späterer Reformen der Royal Academy. Bacon unterscheidet drei Regionen der Untersuchung: die eigentlichen Dinge der Natur, die Wunder der Natur und die künstlich beeinflusste Natur. Zwar rekurriert Bacon mit den Wundern der Natur noch auf die traditionelle Darstellung, welche Monster und Ereignisse nicht unterschied, zugleich betont er jedoch, dass es sich dabei vielmehr um eine Kunst der Natur selbst handele (Park/Daston 1981: 43f.). Dass Bacon ausgerechnet an natürlichen Monstren den Unterschied zwischen Kunst und Künstlichkeit ausmacht, wird erst dann verständlich, wenn man seine Strategie vor dem Hintergrund einer die Kunstproduktion seit der Renaissance anleitenden Praxis betrachtet. Die Kunst sollte die Natur nicht nur genau repräsentieren, sondern auch durch Idealisierung überwinden (Panofsky 1993: S. 23f.). Wenn Monster eine Kunst der Natur waren, dann waren sie eine Repräsentation, in der sich die Natur selbst übertraf, weil an ihnen die Idee in der Natur deutlicher zum Ausdruck kam als in normalen, unauffälligen Phänomenen. In den Monstern kam die Natur also gleichsam dem Erforscher der Gesetzmäßigkeiten der Natur ohne dessen Zutun entgegen. Das durch ästhetische Interesselosigkeit im Feld der Macht eingeübte Interesse an Monstern leitete Bacons Orientierung an einer Wahrnehmungstheorie der Kunstpraxis an, die dann aber durch seinen Hang zur Abgrenzung gegenüber einer spielerischen Interesselosigkeit der Schaulust an den Höfen in eine formale Wahrnehmungstheorie der Naturdinge transformiert wurde, um das Auge zum definitorischen Sehen zu disziplinieren. Für diese Transformation bediente sich Bacon der Theorie des »real character« (Sachzeichen). Als Beispiel für Sachzeichen wurde immer wieder die chinesische Bilderschrift angeführt, von der Bacon wie viele vor ihm fälschlicherweise annahm, sie repräsentiere unmittelbar und direkt die Dinge der Natur durch bildliche Repräsentation (Strasser 1988: 87), da sie in Japan wie in China trotz unterschiedlicher phonetischer Artikulation verständlich ist. Dies galt Bacon als Beweis dafür, dass eine nicht phonetische Bilderschrift sichtbare Dinge so repräsentieren könne, dass sie unabhängig von einer nationalen Sprache und somit universal auf der ganzen Welt verständlich sein müsste. Idee und sichtbares Ding sollten in einem Sachzeichen unmittelbar zusammenfallen, so wie ein im Bild repräsentierter Gegenstand unmittelbar als Gegenstand ohne phonetische Bezeichnung erkannt werden sollte. Sachzeichen sollten damit dem wissenschaftlichen Ideal entsprechen, jede Mehrdeutigkeit einer Definition zu vermeiden.
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160 | Thomas Becker Monster waren in ihrer herausragenden Ausnahme die von der Natur selbst gegebene, rein sichtbare Anregung zu einer Definition per Sachzeichen: Sie standen für ein absolut ausgezeichnetes Individuum, dem nur ein Name zukommen konnte. Die Forderung eines gegenüber der Schaustellung von Monstern interesselosen Blicks grenzte sich damit nicht mehr nur gemeinsam mit dem Adel vom Aberglauben einer Volksreligion, sondern nun auch von der mangelhaften Distanz der Höfe gegenüber der Lust am ästhetischen Spektakel der Abnormitäten ab.
4. Die Radikalisierung des reinen Blicks und die entwertende Integration In der Renaissance war die Privilegierung des Beobachterstandpunktes noch durch einen topografischen Ort bestimmt, d.h. durch den zentralperspektivischen Punkt, von dem aus die Wirklichkeit repräsentiert wurde. Bekanntlich wurde die zentralperspektivische Abbildung der Welt seit ihrer ersten Beschreibung durch Leon Battista Alberti im 15. Jahrhundert als Blick durch ein Fenster definiert. Alberti nannte den Künstler auch einen »alter deus«, einen Gott im Kleinen, da er von einer zentralen Position aus die Welt überschaue (Alberti 2002: 103). Die neue Privilegierung des wissenschaftlichen Blicks am Ende des 17. Jahrhunderts bestand hingegen darin, dass der Beobachter sich von jeder topologischen Festlegung durch eine nationale Sprache oder religiöse Konventionen distinguierte, weil er sich mittels universaler Logik der Sachzeichen zu legitimieren gedachte. Das war nicht der Blick durchs Fenster auf das Spektakel des flüchtigen Welttheaters, sondern der Blick der aufzählenden wissenschaftlichen ›descriptio‹, wie er sich paradigmatisch in der von der Zentralperspektive gelösten Kartografie der Niederländer des 17. Jahrhunderts ausdrückte (Alpers 1983: 119-168): In einer solchen kartografischen descriptio ist der Rahmen einer bildlichen Repräsentation nicht mehr durch den geografischen Standpunkt des Beobachters festgelegt: Der Beobachter wird von der Bindung an einen einzigen körperlichen Ort gelöst, weil jede kartografische Auswahl der Welt mit einer neuen Auswahl in fortzusetzende Verbindung gebracht werden konnte. Nicht mehr der Gegenstand wurde damit idealisiert, sondern der Beobachter durch die Aufhebung seiner Bindung an einen einzigen, sinnlich konkreten Standpunkt. Sein privilegierter Beobachterstandpunkt bestand nun in einer intellektualisierten, körperlosen Position gegenüber der zu beschreibenden Realität, deren konkrete Erscheinung aber umso deutlicher als Abgrenzung zum intellektuellen Standpunkt der descriptio in den Vordergrund gerückt werden sollte. Das intellektuelle Beobachtungsinteresse der ordnenden Definition beanspruchte damit nicht nur, das Objekt wesentlich genauer und eingängiger zu inspizieren als die ästhetische Schaulust. Es wurde zugleich in den Dienst einer permanent steigerbaren
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Lust an Orientierung gestellt, die sich gegenüber der ästhetischen Lust an den ausgestellten individuellen Abnormitäten in den aristokratischen Wunderkabinetten als wesentlich höher stehend abgrenzen konnte. Damit aber wurde dieses Beobachtungsinteresse zum wichtigen Stützpunkt einer Hierarchisierung von Naturerscheinungen, die sich am Maßstab einer zunehmenden Intellektualisierung des Beobachters ausrichtete. Die Praxis der taxonomischen descriptio mit ihrer neuen Form der intellektuellen Zentralität des Beobachters wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit Linnés Pflanzenklassifikationen paradigmatisch umgesetzt. Die Ordnung der Pflanzen war schon seit der Renaissance ein genuines Geschäft der klassifizierenden Repräsentationen gewesen. Aber erst Linné konnte ein System vorstellen, das alle bisherigen Versuche in den Schatten stellte. Erst kurz vor Linné hatte man die Zweigeschlechtlichkeit der Pflanzen entdeckt. Linné scheute sich indes nicht, die Sexualität der Pflanzen zum Gegenstand einer aufzählenden Beschreibung zu machen (Fara 2003: 21f.). Er nannte den Staubbeutel der Pflanzen den Phallus, den Pollen den Samen und den Fruchtstempel die Vagina. Die ehemalige ästhetische Schaulust gegenüber außergewöhnlichen Dingen der Natur war nur auf ephemere Unterhaltung aus, aber die Kunst der klassifizierenden Beschreibung zielte auf die Steigerung der intellektuellen Lust des Beobachters durch bessere Orientierung in einer scheinbar unüberschaubar wuchernden Welt der Pflanzen für jeden, der sich des neuen Systems bediente. Sie erschien als eine genuin seriöse Lust und damit als legitimiert, den Sex von Pflanzen zum formal-wissenschaftlichen Gegenstand zu erklären. Durch die Unterordnung der ästhetischen unter die intellektuellere Orientierungslust wurde jedoch das im 18. Jahrhundert bestehende Monopol des Mannes zur wissenschaftlichen Beobachtung stillschweigend als ein von der Natur vorgegebenes Privileg zur Vernunft gerechtfertigt. Die erste Pflanze in Linnés System, von der aus alle anderen als Unterarten klassifiziert wurden, hatte das Verhältnis 1:1, d.h. ein Staubbeutel zu einem Fruchtstempel. Bei dieser als »Monandria« titulierten Pflanze stehen sich rein formal zwar weibliches und männliches Geschlechtsorgan eins zu eins gegenüber, aber die reale Referenz, die Sache, auf die sich die von Linné erfundene Definition in der sichtbaren Realität bezieht, ist hier unmissverständlich das männliche Geschlechtsorgan (Mon-andria = Einmännlich). Die Repräsentation eines allgemeinsten Bereichs der Pflanzenwelt wird erstens durch das männliche Sexualorgan zum Sachzeichen und zweitens zum logisch-universalen Sachzeichen, dem alle nachfolgenden Klassen untergeordnet werden, indem die männlichen Sexualorgane abgezählt werden, um die Arten und Unterarten zu bilden. Der französische Astronom Maupertuis versuchte dann im Anschluss an Linné mit seinem Buch Vénus physique (Maupertuis 1768: II) die Orientierungslust konsequent durch eine höhere Intellektualisierung des Beobachters zu steigern. Der Beobachter wurde zunehmend abstrakter und der Umfang der Ord-
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162 | Thomas Becker nung zugleich immer größer, um die Sexualität für eine systematische Naturgeschichte der gesamten belebten Welt zu nutzen. Da Vererbung nach Maupertuis immer Sexualität zur Voraussetzung hat, schloss er, dass die Ähnlichkeit des Kindes mit beiden Elternteilen nicht nur auf eine gegenseitige Anziehungskraft der jeweiligen Anteile in der Vererbung zurückzuführen sei. Diese durch Sexualität zustande gekommene gegenseitige Anziehungskraft der Vererbungsteile sollte daher auch nicht mit einer physikalisch-mechanischen Beschreibung erfasst werden können (Maupertuis 1761: §14). Folglich lehnte er Descartes’ Klassifikation von Tieren als Maschinen ab, um Sexualität zum Entwicklungstrieb der Formen in der gesamten lebenden Natur deklarieren zu können. Zur Erhaltung der höheren Intellektualität des Beobachters und damit der höheren Legitimation gegenüber der ästhetischen Lust wurde die cartesianische Grenzziehung zwischen Seele und Körper in dieser Kritik an Descartes konsequenterweise radikalisiert: Der Mensch habe zwar mit den Tieren die rein biologische Sensibilität der Sexualität gemeinsam, aber zugleich komme ihm allein eine von jeglicher Körperlichkeit vollkommen gelöste Vernunftseele zu (Maupertuis 1768: II, 210f.). Daher habe der Mensch die perfekteste Organisation in der Natur vorzuweisen. Der menschliche Beobachter war aufgrund seiner rein geistigen, körperlosen Subjektivität das normative Ziel eines sich durch sexuelle Vererbung in Arten und Gattungen ausdifferenzierenden morphologischen Triebs, der den menschlichen Zieltypus indes grundsätzlich nie erreichen konnte. Buffon übernahm diesen reformierten Cartesianismus in seiner späteren Naturgeschichte, die damit massenhaft in Europa verbreitet wurde (Badinter 1999: 64). Auch wenn Maupertuis die Rechtfertigung des männlichen Monopols nicht aussprach, so kam sie doch durch die fortgesetzte Radikalisierung der Abstraktion bei La Mettrie zum Vorschein: Die Pflanzen seien noch zweigeschlechtlich, so La Mettrie, aber mit dem Auftauchen der getrennten Geschlechtlichkeit in einer Kette der lebenden Wesen werde die Triebbefriedigung immer schwieriger und steige daher die Intelligenz. Die Frau sei nun eher durch Passionen bestimmt und der Mann durch reine Vernunft (La Mettrie 1987: II, 155). Die sexuelle Ausdifferenzierung und die Steigerung der Triebe in der Natur agierte damit im Namen der formalen geschlechtslosen und an Trieben uninteressierten Vernunft des Mannes, welche demzufolge als von der Natur nicht erreichbare Perfektion erscheint. Die Idee der Begierde, so La Mettrie konsequent, sei wichtiger als diese selbst (ebd.: II, 99). Der abstrakte Blick legitimierte den wissenschaftlichen Forscher dazu, der Natur direkter auf den Leib zu rücken und den wissenschaftlichen Gegenstand der Sexualität zu etablieren, die in ihrer formalen Ordnungsfunktion angeblich keiner durch den beobachtenden Habitus vorgegebenen Norm verpflichtet war. Dieses neue Regime der Sichtbarkeit integrierte nun die Missbildungen
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endgültig in die Naturordnung, indem sie zwar nicht mehr als ästhetische Sonderfälle behandelt wurden, dafür aber eine allgemeine Entwertung erfuhren. 1744 schrieb Maupertuis angesichts einer ›weißen Negerin‹, die man im selben Jahr nach Paris gebracht hatte, seine Dissertation physique à l’occasion d’un nègre blanc. Dieses Buch stand am Anfang der biologischen Degenerationstheorie, die Maupertuis ein Jahr später in seiner Vénus physique genauer explizierte (Maupertuis 1768: II, 115f.). Er konstatierte, dass die ›weiße Negerin‹ dieselbe Physiognomie wie eine Schwarze habe, aber eben weiß sei. Da es keine schwarzen Kinder von weißen Eltern gab, aber weiße Kinder von schwarzen Eltern, verhielten sich die Gesetze der Vererbung genauso wie bei den Missbildungen: Da gewisse Missbildungen nicht direkt auf die Kinder übertragen wurden und erst in späteren Generationen wieder auftauchen, musste es mit der weißen Haut der ›Negerin‹ dieselbe Bewandtnis haben. Weiß wurde damit zur Grundfarbe der menschlichen Rassen erklärt. Schwarze Rassen galten in dieser Konstruktion nicht mehr als Tiere. Ebenso wie Missbildungen wurden sie als eine normale, aber gegenüber dem perfekten Beobachter degenerierte menschliche Natur verstanden. Indem der Beobachter sich gegenüber dem eigenen Körper interesselos gab, machte er sich zum Maßstab einer intellektualisierten Normalisierung, in der die Inklusion der für ihn fremden Rassen und Missbildungen in eine universale Menschheit nur bei gleichzeitiger Entwertung der fremden Körper möglich war. Die vielen Zwerge verschwanden im Laufe des 18. Jahrhunderts vom Hof, während sie auf populären Alltagsmärkten bis hin zu den Freakshows des 20. Jahrhunderts weiterhin als einträgliches Spektakel ausgestellt wurden. Ihr Ausstellungswert für einen interesselosen Beobachter war im Feld der Macht durch die Bildung eines wissenschaftlichen Blicks gesunken, während sich Marktschreier gleichzeitig beeilten, die in unteren Klassen noch als gehoben anerkannte Schaulust in Bezug auf Monster für eine Aufwertung ihrer Spektakel zu instrumentalisieren.
5. Der reflexive Beobachter als modernes Normalisierungsinstrument Mit dem Beginn des 19. Jahrhundert setzte eine neue Konstruktion des reinen Blicks in den Human- und Lebenswissenschaften ein. Man sah zunehmend von äußeren Formen ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Untersuchung der unsichtbaren inneren Dispositionen. Dieser Bruch ist ebenso wenig wie die vorangehenden Wissensformen unabhängig von Legitimationsinteressen des Macht-Feldes zu sehen. In Frankreich war die philosophische Schule der »Idéologues« um 1800 eine tragende Säule bei der Gründung eines neuen Typs republikanischer Eliteausbildung, der Ecole Normale Supérieure. In den Lehren der
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164 | Thomas Becker »Idéologues« ging es weniger um eine neue Theorie als um die Bestimmung der intellektuellen Instrumente, die nötig waren, um Wissen zu vermitteln. Das Buch Idéologies von Destutt de Tracy wurde gar als Nachschlagewerk der Eliteschulen genutzt (Copans/Jamin 1994: 11). Das Vorbild der »Idéologues« war Condillac (vgl. Knight 1968), der im 18. Jahrhundert bei allen sonstigen Unterschieden zu La Mettrie, Maupertuis und Buffon in Bezug auf die Stellung des Menschen in der Naturgeschichte dieselbe Episteme teilte. Während Condillac sich aber durch eine analytisch-geometrische Denkweise auszeichnete, ging es den »Idéologues« um die gänzlich empirisch-praktische Frage der demokratischen Legitimation einer Elite durch Erziehung in der neuen Republik, zu deren Beantwortung sie sich der wissenschaftlichen Problematisierung der Naturanlagen widmeten (Becker 2005: 60ff.). Die »Idéologues« stellten nicht nur die Mehrheit in der Sektion der zweiten Klasse der Akademie (Classe des Sciences Morales et Politique de l’Institut), sondern gründeten auch die erste anthropologische Gesellschaft, die Société de l’Observateur de l’homme, welche eine wissenschaftliche Weltexpedition zur Erforschung fremder Ethnien beantragte (Staum 1980: 167). Die zur Zivilisation fähigen Naturanlagen sollten nach den »Idéologues« vor allem an ›primitiven Völkern‹ beobachtbar sein, weil die angeblich geringen Unterschiede zwischen früheren Kulturen wesentlich deutlicher auf unterschiedliche Naturanlagen und nicht auf gesellschaftliche Einflüsse zurückzuführen seien (Degérando 1994: 75). Um die von der Zivilisation unabhängige Norm der Natur erkennen zu können, welche in der eigenen Gesellschaft zu kultivieren und zu fördern war, brauchte das beobachtende Subjekt die vollkommene Andersheit des Wilden. Die Normierung der eigenen Gesellschaft durch eine Natur bedurfte also notwendig der Erfahrung des Eigenen im Fremden. Dabei wurde diese reflexive Beobachtung seiner selbst im anderen als desto objektiver angesehen, je fremder die zu beobachtende Ethnie war. Die Ausnahme musste möglichst weit von der Normalität des Beobachters entfernt und ihr gegenüber uninteressiert sein, um in einer gefundenen Gemeinsamkeit eine objektive Naturgrundlage der Subjektivität vermuten zu können. Für eine Verständigung bei einem ersten Kontakt mit unbekannten Bewohnern während der geplanten Weltexpedition schlug einer der leitenden »Idéologues« die von Abbé Sicard entwickelte Sprache für Taubstumme vor (Degérando 1994: 83), da sie als eine Natursprache galt. Je weiter das unverständliche Fremde von der eigenen Normalität abwich, desto eher sollte vielmehr die mit ihm herstellbare Kommunikation eine Gemeinsamkeit zum Vorschein bringen können, die durch den Beobachter als schätzenswerte natürliche Disposition zu seiner eigenen zivilisatorischen Überlegenheit gewertet werden konnte. Die neue Form der reflexiven Beobachtung stellte sich um 1800 mit ersten Erfolgen in der Entstehung einer modernen, dynamischen Psychia-
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trie ein: Philippe Pinel, der den Ideologen sehr nahe stand,13 war bekanntlich der erste Psychiater in Frankreich14, der mit seinem »traitement moral« die Wahnsinnigen nicht mehr mit Stockschlägen zu disziplinieren versuchte. Pinel und auch sein Nachfolger Esquirol, welcher schließlich dann zuerst die Psychiatrie zu einer staatlichen Anerkennung brachte, versuchten, psychische Erkrankungen auf einen elementaren Grundtypus – oder wie sie es nannten: auf einen primitiven Typus15 – zurückzuführen, um alle Krankheiten in einem nosografischen System erfassen zu können. Gegenüber den klassifizierenden Systemen des 18. Jahrhunderts war daran neu, dass dieser elementare Krankheitstypus auf die Störung einer primitiven, natürlichen Sensibilität und nicht etwa der Vernunft zurückgehen sollte. Folglich hielt Pinel die Einwirkung auf die Imagination für wichtiger als einen disziplinierenden Zugriff auf den Kranken (Becker 2005: 279; Goldstein 1987: 76): So führte Pinel in seiner Therapie phantastische Inszenierungen vor den Zellen der Wahnsinnigen auf, mit denen er auf deren imaginäre Sensibilität hin zu agieren versuchte. Die Vernunft des Beobachters war hier nicht mehr der Maßstab der Normalität. Um sich im Kranken selbst reflexiv zu beobachten und seine Subjektivität als Maßstab der Kommunikation zu werten, ging man von einer nicht durch Vernunft legitimierten Gemeinsamkeit des Unverständlichen mit dem Beobachter aus. Die hegemoniale Selbsterweiterung des beobachtenden Subjekts war nun also nicht mehr durch die cartesianische Trennung zwischen Körper und Vernunft abgedeckt. Die sich erst nach Pinel konstituierende Teratologie konnte das Versprechen der kommunikativen Steuerung der als anormal geltenden Missbildung im 19. Jahrhundert zwar nicht einlösen, machte aber durch die von ihr erfundene Begriffstrias des Anormalen, Normalen und der Anomalie die Suche der Norm im für den Beobachter am weitesten abliegenden Anormalen zum Imperativ einer Forschung, wo immer sich unverständliche Fälle wie etwa in der Psychiatrie häuften. Anomalien konnten laut Teratologie gegenüber der Normalität störend oder auch indifferent auftreten. Diese Vermeidung einer scharfen Grenzziehung motivierte jedoch zugleich dazu, Normalität von den beiden Polen Extremen des rein Normalen und rein Anormalen her dynamisch einzugrenzen: Nur diese beiden Grenzwerte konnten als eindeutige Natur eingestuft werden – als maximierendes Exemplar der Normalität zur Steigerung und Maximierung des Lebens oder eben als das andere Ende dieser Polarisierung: der eindeutigen Behinderung. Übertragen auf die Psychiatrie konnten die nicht mehr steuerbaren Fälle nun zu rein natürlichen Behinderungen erklärt werden mit der Konsequenz, dass sie aus dem Bereich einer öffentlichen Kommunikation ausgeschlossen wurden. In der Mitte des Jahrhunderts unterschied der Psychiater August Benedicte Morel nicht nur die unheilbaren von den heilbaren Fällen. Die heilbaren waren zu den wahren Kranken der Anstalt geworden,
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166 | Thomas Becker während die unheilbaren in ihre Familien zurückgeschickt werden sollten. Morel bezeichnete sie als Masse der sozial Wertlosen (»foule de non-valeurs sociales«) (Wojciechowski 1997: 50) und setzte die Rückführung unheilbar Kranker auch in einigen hundert Fällen in die Tat um.16 Bei auffälligen Behinderungen, in die sich die Subjektivität des wissenschaftlichen Beobachters nicht reflexiv erweitern konnte, sollte der Arzt die öffentlichen Institutionen von jeder Verantwortung entbinden können, da sie als durch Natur vollkommen determinierte Dispositionen gewertet wurden. Die Festlegung des Extremen als Natur in Reaktion auf die Auflösung der harten Grenzen zwischen Normalität und Behinderung tauchte schließlich auch in der sich etablierenden Sonderpädagogik auf. Zunächst forderte neben Binet auch der Arzt Bourneville, der mit Charcot zusammenarbeitete, in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, dass Schulen für Zurückgebliebene (»arrièrés«) nicht bloße Verwahranstalten sein dürften. Es wurden zum ersten Mal versuchsweise Klassen mit eigener Förderung für Zurückgebliebene gebildet. Bourneville fasste dazu auch einen Bericht über gleiche Experimente in der Schweiz, England, Belgien und Deutschland ab. 1899 wurde dann die Société Française pour l’Etude Psychologique des Enfants gegründet, in der Binet eine entscheidende Rolle spielte. Diese Gesellschaft bereitete das Gesetz vom 15. April 1909 vor, das eine spezifische Erziehung für anormale Kinder (»enfants anormaux«) forderte. In diesem Zusammenhang wird die Unterscheidung von steuerbaren und nicht steuerbaren Fällen in die als anormale Kinder klassifizierten Fälle eingeführt, um »idiots, crétins, epileptiques« etc. von den erziehbaren Zurückgebliebenen, den »débiles« mit geschwächter Intelligenz, zu unterscheiden. Die Disposition zur Erziehbarkeit wurde Ersteren aberkannt. Auch wenn damit einerseits zum ersten Mal Sonderschulen zum Einsatz kamen, wurde mit dieser Unterscheidung andererseits eine Grenze des Ausschlusses etabliert, die scheinbar nicht vom Beobachter, sondern von der Natur des Gegenstandes allein her rührte.
6. Resümee Der hier vorgestellte Versuch zu einer feldtheoretischen Genealogie beansprucht keineswegs empirische Vollständigkeit. Die erste Psychiatrie Pinels und Esquirols, die Prozesse um Zurechnungsfähigkeit, der Aufbau von ersten Behindertenheimen durch die Phrenologen, Binets Anwendung des Intelligenztests in Schulen etc., dies alles musste zunächst unerwähnt bleiben, um in der gebotenen Kürze zumindest ein erstes Beispiel zur Analyse des Zusammenhangs von Macht und Wissen zu geben, die den Körper des Beobachters als Medium von Macht und Wissen nicht übersieht. Darstellungen von epistemologischen Strukturen verleiten stets dazu, die Binnenperspektive (relativ) autonomer wissenschaftlicher Beobachter zu über-
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nehmen, nach welcher der Effekt der Normalisierung gänzlich im Gegenstand selbst zu liegen scheint. Um dieser Versuchung zu entgehen, musste die Foucault’sche Analyse, welche Normalisierung von der Anwendung der Lebenswissenschaften und damit vornehmlich (aber nicht ausschließlich) vom Gegenstand der Beobachtung her beschreibt, durch die Bourdieu’sche Feldsoziologie ergänzt werden. Gezeigt wurde, dass ein wissenschaftlicher Blick nicht aus sich selbst heraus verstanden werden kann, seine Autonomisierung aber ebenfalls nicht übergangen werden darf. Im 18. Jahrhundert etablierte sich zum ersten Mal die Beobachtung von Monstren als genuin wissenschaftliche Praxis der Klassifikation, die den interesselosen Blick der Schaulust, aus der sie entstanden war, gegen diese selbst radikalisierte. Dieses neue Regime der Sichtbarkeit zielte auf eine Rechtfertigung bestehender wissenschaftlicher Monopole als eines universalen, weil angeblich körperlosen Standpunktes. Die mangelnde Reflexion der eigenen Körperlichkeit brachte die erste entwertende Integration der Behinderung durch eine wissenschaftliche Normalisierung hervor. Im 19. Jahrhundert treten dann statistischer Durchschnitt und Normalität auseinander, indem morphologisch von der Normalität abweichende Formen für den professionellen Beobachter zum Beobachtungsmedium einer im Leben versteckten, nicht mehr unmittelbar sichtbaren normativen Disposition werden. Die Teratologie etablierte dabei zusammen mit der Psychiatrie durch die Begriffstrias normal, anormal und anomal eine neue Form der kommunikativen Selbsterweiterung des Beobachters, welche zwar nicht mehr vom rigiden Maßstab der reinen Vernunft ausging, dafür aber den Fall der extremen Behinderung erfand, der aus sozialen Verpflichtungs- und Kommunikationsverhältnissen herausgehalten werden sollte. Eine performative Kommunikation mit dem Behinderten sollte durch diese Analyse nicht etwa ad acta gelegt werden. Das wäre ein Missverständnis der Kritik. Vielmehr geht es um die Sensibilitätssteigerung für die in jeder kommunikativen Steuerung sich aufdrängende libido dominandi. Das »traitement moral« Pinels bestand ja gerade in einer erfolgreichen, heilenden Anwendung, während ihre zeitgleiche Benennung als Hygiene durch das Machtfeld darauf zielte, den Anteil der libido dominandi zu verstärken. Noch gegen Ende des Jahrhunderts wurde die »selection des meilleurs aptitudes« unter Arbeitern als eine hygienische Maßnahme bezeichnet (Wojciechowski 1997: 133). Und zur gleichen Zeit hielt der Bildungsminister Jules Ferry fest, dass die Integration unterer sozialer Klassen durch das Schulsystem als eine soziale Hygiene anzusehen sei.17 Die Sichtbarmachung der symbolischen Unschärfe einer libido sciendi mit dem Interesse an kommunikativer Selbsterweiterung des Beobachters betrifft daher nie ›nur‹ den als behindert klassifizierten, sondern bis heute ebenso den gesamten sozialen Raum mit seiner Ausdifferenzierung in unterschiedliche soziale Felder der Humanwissenschaften.
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168 | Thomas Becker An dem epistemischen Bruch im Übergang zum 19. Jahrhundert wurde nicht nur deutlich, dass dieser nie vollkommen ausfiel. Die jeweilige Distanzierung zu vorangegangenen Perioden verdeckte die implizite Normativität einer angeblich neutralen Normalisierung. Das Interesse an Autonomisierung in den von Naturwissenschaften geprägten Lebenswissenschaften zielt in der Regel auf die Konstitution neuer Erkenntnisse, welche angeblich mit historisch weit abliegenden Wissensformen vollkommen gebrochen haben. Für eine zukünftige Erforschung wissenschaftlicher Felder und Subfelder, die sich mit Behinderungen beschäftigen, müsste beachtet werden, dass die Distanzierungen der heutigen Wissenschaften gegenüber dem 19. Jahrhundert ebenso wenig einen vollkommenen Bruch mit deren Praktiken darstellen wie die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts gegenüber den Definitionen des 18. Jahrhunderts. In einer zukünftigen qualitativen Feldforschung aktueller Wissenschaftsfelder muss daher das herausgefunden werden, was gerade nicht gesagt wurde, aber durch lange historische Erziehung eines wissenschaftlichen Blicks als habituelle Disposition des Beobachters von Behinderungen in freilich transformierter Form immer noch gespeichert ist.
Anmerkungen 1 2
3
4
Siehe eine erste Aufzählung von älterer und neuer Literatur bei Curran/Graille 1997: 3, Anmerkung 12. In den Vorlesungen am Collège de France von 1975 behauptet Foucault, dass seine Archäologie die Methode, die Genealogie die Strategie einer Machtkritik gewesen sei (Foucault 1999: 17). Macht war jedoch nie das Thema der Archäologie, und die in seiner Genealogie formulierte Kritik an der Normalisierung bezog sich immer auf angewandte Lebenswissenschaften. Ein weiteres Indiz für die Erforschung einer dem Leben zukommenden eigenen Normativität ist die Tatsache, dass Saint-Hilaire sich an den von Blumenbach entwickelten Begriff des »nisus formativus« anlehnte, um Missbildungen zu erklären (Appel 1987: 126). Jürgen Link (1999: 192ff.) behauptet, dass Etienne Geoffroy SaintHilaire noch eine klare Abgrenzung zwischen Norm und Abweichung vorgenommen habe. In der Tat redet Geoffroy von Unregelmäßigkeit der Monster im Sinne des Gattungs-Art-Unterschieds. Aber dies war strategischer Natur: In der Irregularität sollten sich nämlich gerade Regelmäßigkeiten finden lassen, mit denen er Cuviers an Gattungs-ArtUnterschieden orientiertes Ordnungsmodell als vorläufige Methode der Systematisierung bloßzustellen hoffte. Daraus entstand dann nämlich erst der berühmte Akademiestreit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire, der sonst vollkommen unverständlich wäre.
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Dagegen geht Jürgen Link davon aus, dass man den Diskurs der Normalisierung von Norm setzenden Diskursen zu unterscheiden habe (1999: 21f.). Links Diskursanalyse verkennt indes, dass jeder Diskurs strategisch ist. Die Leugnung einer Normativität in der Normalität ist selbst schon ein normativer Akt. 6 Bourdieus erste Theorie stammt von 1971 (»Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe«), wurde also drei Jahre nach der Foucaults publiziert, löst aber die Theorie strategischer Felder als Machtkritik ein, die bei Foucault erst später auftaucht. 7 In Deutschland haben die später geschriebenen, aber früher ins Deutsche übersetzten Feinen Unterschiede die Rezeption dieser Feldtheorie bis heute erfolgreich behindert. Der Begriff des Habitus beispielsweise wird infolgedessen immer nur als gewohnheitsmäßige Reproduktion eines Klassenstandpunktes missverstanden und nicht als »Zustand des Leibes« (Bourdieu 1993: 126), der auf der Basis einer inkorporierten Struktur Strategien der Neuformation seiner Feldposition entwirft. 8 Das Feld der Macht wird von Bourdieu definiert als »Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren oder Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Positionen in unterschiedlichen Feldern […] zu besetzen.« (Bourdieu, 1999: 342) Kapital meint hier nicht allein ökonomische Macht, sondern ebenso soziales Prestige (soziales Kapital) und Wissensformen (kulturelles Kapital). 9 Die Begriffe »Ausstellungswert« und »Kultwert« stammen von Walter Benjamin (1974: 482). Er bezeichnet sie als die zwei Pole der Rezeption von Kunstwerken, die nie vollkommen im reinen Sinn auftreten, sich aber diametral zueinander verhalten. Ich übernehme diese Dichotomie für die Rezeption der Natur als Kult- und Ausstellungsgegenstand, da die Wunderkabinette natürlich keineswegs frei von Kultwerten waren. 10 So Konrad Gesner, Historia animalium, 3 Bde., Zürich 1551ff., Pierre Belon, La nature et diversité des poissons, Paris 1555, und insbesondere: Pierre Boaistuau, Histoires prodigieuses extraictes de plusieurs fameux autheurs grecs et latins, sacrez et prophanes, 6 Bde., Lyon und Paris 1598, zuerst: 1560ff. 11 So z.B.: Guillaume Bouchet, Les serées, 2 Bde., Lyon 1618, zuerst: 1584. Spätere Auflagen folgten 1608 (Paris) und 1615 (Lyon). Anonym: A Helpe to Memorie and Discourse, with Table-Talk, London 1621. 12 Der an der französischen Akademie und am Hof hoch anerkannte Nicolas Boileau prägte den Satz, dass kein Monster abscheulich genug sei, um nicht ästhetisch behandelt zu werden (1979: 169). In Antoine Furetières Dictionnaire universel von 1690 wird das Monster beschrie-
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170 | Thomas Becker ben als Wunder, das nicht nur Angst mache, sondern auch bewundert werde (Furetière 1972). 13 Pinel wurde im Salon der Madame Hélvetius – dem Haupttreffpunkt der »Idéologues« – von den Medizinern Cabanis und Roussel eingeführt (Staum 1980: 245). Philosophische Vertreter der »Idéologues« wie Maine de Biran und Destutt de Tracy zeigten sich überzeugt von Pinels »traitement moral« (ebd.: 238). 14 Willis in England kam ihm zuvor. Pinel aber beanspruchte zu Recht, zuerst eine wissenschaftliche Theorie des »traitement moral« geleistet zu haben (Goldstein 1987: 66). 15 »[…] toutes les folies ont leurs typ primitif dans quelques passions«. (Esquirol 1838: 13) 16 Der Psychiater Edouard Toulouse erneuerte am Ende des 19. Jahrhunderts diese Forderung (Toulouse 1899: 165ff.). 17 In einer Parlamentsrede vom 1. Februar 1884: »Ce n’est pas de la thérapeutique que nous faisons, c’est de l’hygiène sociale.« (Zit. n.: Wojciechowski 1997: 186, Anm. 2)
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Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung Maren Möhring
Eine körperliche Abweichung von der Norm wird in der alltäglichen Interaktion vor allem über den Blick festgestellt. Die Bedeutung des Visuellen in den Interaktionen zwischen so genannten Normalen und Abweichenden hat Erving Goffman in seiner Studie Stigma (1967) sehr detailliert herausgearbeitet. Zwar sei »der allgemeinere Terminus ›Wahrnehmbarkeit‹ genauer« und »›Evidenz‹ noch genauer« (Goffmann 1967: 64), weil damit auch auditiv wahrgenommene Abweichungen, etwa im Fall des Stotterns, erfasst werden. Aber für Goffman ist es »unsere – in der Regel visuelle – Aufmerksamkeit« (ebd.: 26), die eine evidente Abweichung erkennt. Das Sehen wird von ihm zum ›Normalfall‹ der Wahrnehmung erklärt und als zentrale Alltagspraxis vorausgesetzt. Diesen Aspekt möchte ich im Folgenden am Beispiel des Umgangs mit den Kriegsversehrten des Ersten und Zweiten Weltkrieges genauer untersuchen, und zwar auf einem auf den ersten Blick marginal erscheinenden Feld, nämlich der Freikörperkultur. Sie zeichnet sich durch eine besonders weit reichende (semi-)öffentliche Sichtbarmachung des Körpers aus. Der nackte Körper scheint all seine ›Fehler‹ und Abweichungen zu offenbaren. Nacktheit, vor dem Spiegel oder den Augen anderer, macht sichtbar, was ansonsten verborgen bliebe. Sie erlaubt dem normalisierenden Blick eine detaillierte Erfassung des ›Abnormen‹ und zwingt die Individuen in eine im Alltag unbekannte Sichtbarkeit. Goffman hat in Stigma betont, dass nicht alle körperlichen Abweichungen in der Öffentlichkeit sichtbar seien und daher nicht immer oder notwendigerweise zu Irritationen der Interaktion führten. Ein Stigma könne sich beispielsweise auch »auf Körperteile bezieh[en], die die normal Ausgestatteten selber auf öffentlichen Plätzen verbergen müssen« (ebd.: 96). Im Anschluss an Goffman nennt Aiga Seywald in diesem Zusammenhang Hermaphroditen und brustoperierte Frauen, deren Stigmata ver-
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176 | Maren Möhring borgen blieben und daher soziale Situationen nicht zwangsläufig beeinflussten. Sie fügt allerdings hinzu: »Im Nudistencamp freilich würden auch diese intimen Abweichungen sichtbar sein« (Seywald 1978: 23). Das Nudistencamp lässt sich also als ein Ort verstehen, an dem es zu einer enormen Proliferation körperlicher Abweichungen kommt und an dem, gleichsam in verdichteter Form, die sozialen Prozesse körperlicher Normalisierung und Marginalisierung untersucht werden können. Von dem scheinbar abseitigen Ort des FKK-Geländes aus lassen sich, wie ich meine, generelle Muster des diskursiven wie praktischen Umgangs mit ›behinderten‹ Körpern herausarbeiten. Nach einer einleitenden Darstellung der seit Ende des Ersten Weltkrieges unternommenen Versuche, die Kriegsversehrung als spezifische Form körperlicher Abweichung zu kategorisieren, wird im zweiten Teil meines Beitrags mit einem close reading ausgewählter Textstellen aus FKK-Zeitschriften der Umgang mit Kriegsversehrten in der Freikörperkultur der Nachkriegszeit näher untersucht. Dabei werde ich zunächst das für die Konstituierung von Normabweichungen zentrale Feld Sehen – Wissen – Täuschen beleuchten (2.1). Im Zentrum meiner normalismusanalytischen Überlegungen steht anschließend die mit der Kriegsverletzung verbundene Übertretung einerseits ästhetischer (2.2) und andererseits medizinischphysiologischer Normen (2.3).
1. Zur Konstituierung der Kriegsversehrung als besondere Form körperlicher Abweichung Sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren Kriegsversehrte im Straßenbild überaus präsent. Zwar liegen exakte Zahlen über Tote und Verwundete der beiden Weltkriege nicht vor, doch ist im »Sanitätsbericht über das deutsche Heer« für den Ersten Weltkrieg von circa zwei Millionen verletzten deutschen Soldaten die Rede (Hagner 2000: 78), eine Zahl, die ungefähr wohl auch für den Zweiten Weltkrieg zutrifft (Fandrey 1990: 195). Die Geschichte dieser Kriegsversehrten ist bisher vor allem mit Blick auf die sozialen Fürsorgemaßnahmen und die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben geschrieben worden. Erst in jüngster Zeit hat die Geschichtswissenschaft begonnen, sich mit den körper- und erfahrungshistorischen Dimensionen der Kriegsverletzung auseinander zu setzen (vgl. Kienitz 2005; Hagner 2000; Goltermann 1999). Für den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit hat insbesondere Sabine Kienitz herausgearbeitet, welchen unterschiedlichen, durchaus konkurrierenden Interpretationen der kriegsversehrte Körper unterzogen wurde. Als materialisierte Erinnerung an die Gewalt des Krieges konnte er sowohl für pazifistische wie auch nationalistisch-revanchistische Interessen instrumentalisiert werden. Mit modernen Prothesen versehen fungierte er darüber hinaus als
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Beleg für die Innovationskraft deutscher Ärzte und Techniker (Kienitz 2001: 217; vgl. auch Krumeich 1990; Perry 2005) und auch für die Modernität des seine Versorgungspflichten erfüllenden Staatswesens (Kienitz 2004: 340). Als Körper, der im Alltag sichtbar war, forderte er zu umfangreichen Diskursivierungen heraus, die nicht auf der individuellen Ebene verblieben, sondern einen kollektiven (›Volks‹-)Körper im Visier hatten. Der versehrte Männerkörper und die nationale Niederlage wurden diskursiv gekoppelt. Nach dem Ersten Weltkrieg stand der kriegsversehrte Körper für ein verkleinertes, gleichsam amputiertes Deutschland, das der Regeneration bedurfte (Kienitz 2004: 331). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich der kriegsverletzte Körper als »Zeichen des zerrütteten kollektiven Körpers« lesen, so die Historikerin Svenja Goltermann (1999: 85). In dieser Funktion hat er möglicherweise zur »Selbstdeutung der besiegten ›Volksgemeinschaft‹ als Opfergemeinschaft« und damit zur Stabilisierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft beigetragen (ebd.). Aus der Perspektive der Disability Studies gilt es, die skizzierten Deutungen des kriegsverletzten Körpers u.a. daraufhin zu befragen, wie Kriegsverletzungen zeitgenössisch bewertet wurden und auf welche zugrunde liegenden Klassifikationssysteme körperlicher Abweichungen diese Deutungen jeweils rekurrierten. Dass es maßgeblich um Unterscheidungen auf dem Feld der Abweichung von der körperlichen Norm ging, machen die diskursiven Umwertungen und Umbenennungen des ›Kriegsversehrten‹ deutlich. Die Bezeichnung »Kriegskrüppel«, wie sie in der analog zur so genannten »Kinderkrüppelfürsorge« benannten »Kriegskrüppelfürsorge« verwendet wurde, geriet bereits während des Ersten Weltkriegs zunehmend in die Kritik (Ulrich 1993: 127, Anm. 14). Auch die Bezeichnung »Invalide« wurde nicht mehr als passend erachtet, vertrug sich Invalidität doch nicht mit einem nun auf Reintegration in den Arbeitsmarkt abzielenden Umgang mit Verwundeten.1 Ersetzt wurden die herkömmlichen Benennungen durch die semantisch nah verwandten Bezeichnungen »Kriegsversehrter« oder »Kriegsbeschädigter«, die auch noch im Bundesversorgungsgesetz von 1950 zu finden waren. In der 1916 erschienenen Schrift Die Zukunft unserer Kriegsverletzten, die sich mit der Behandlung Kriegsversehrter im und nach dem Krieg beschäftigt, wurde der »Kriegsbeschädigte« wie folgt definiert: »Als Kriegsbeschädigter soll jeder angesehen werden, dessen Erwerbsbeschränkung auf einer körperlichen Beschädigung beruht, die der Betreffende sich während der Kriegszeit im Heeresdienst zugezogen hat. Es kommt also darauf an, ob die Beschädigung durch den Krieg verursacht worden ist.« (Kunstmann 1916: 33)
Wie bei allen körperlichen Abweichungen, die als so genannte Körperbehinderung klassifiziert werden, handelt es sich bei der Kriegsversehrtheit um eine dauerhafte und irreversible Veränderung des Körpers, sie unter-
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178 | Maren Möhring scheidet sich dadurch von vorübergehenden körperlichen Beeinträchtigungen wie etwa Krankheit. Während einerseits die Dauerhaftigkeit der Abweichung ein Merkmal ist, das die Kriegsbeschädigten mit anderen behinderten Menschen teilen, stellt andererseits die spezifische Ursache der körperlichen Beschädigung ein zentrales Unterscheidungskriterium dar. Eine Kriegsverletzung gilt als eine von außen zugefügte, also nicht angeborene und zudem nicht selbstverschuldete körperliche Abweichung. Mittels dieser beiden Kategorien – exogene Ursache und Unschuld – werden die Kriegsversehrten nach dem Ersten und zunächst auch nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Gruppe der übrigen Behinderten herausgehoben und privilegiert. Wird bei Arbeitsunfällen den Verunglückten häufig Unachtsamkeit vorgeworfen, so geht man beim verwundeten Soldaten davon aus, dass ihn keine Schuld trifft, ist doch ein jeder an der Front unwägbaren Gefahren ausgesetzt. Unvorsichtigkeit kann in diesem Fall sogar als Ausdruck besonderer Tapferkeit gewertet werden und somit eine positive Interpretation als männliche Kriegstugend erfahren. Die Schuldfrage, welche nach Michael Hagner (1995a) die gesamte Geschichte körperlicher Abweichungen und ihrer Klassifizierung durchzieht, wird auch im Falle des Kriteriums von Endo- bzw. Exogenität in Anschlag gebracht. So werden im eugenischen Diskurs des 20. Jahrhunderts bei von Geburt an bestehenden Abweichungen meist die Mütter, mitunter auch beide Elternteile, verantwortlich gemacht. Die Verwissenschaftlichung der körperlichen Abweichung hat angeborenen ›Missbildungen‹ – wie bereits der Begriff deutlich macht – ihren Platz im Prozess der Lebensentstehung zugewiesen und sie an Degenerationskonzepte geknüpft, wie Hagner (1995b: 73) herausgestellt hat. Bei den Kriegsversehrten nun – und das ist für ihre Aufwertung gegenüber anderen Behinderten entscheidend – ist die Abweichung nicht auf eine Veranlagung zurückzuführen. Die Bezeichnungen »Beschädigung« und »Versehrung« verweisen darauf, dass es sich bei dieser körperlichen Abweichung um etwas erst nachträglich Erworbenes handelt. Damit können große Teile der Kriegsversehrten der eugenisch-biopolitischen Klassifizierung als ›Degenerierte‹ entgehen. Hingegen sehen sich die so genannten »Kriegszitterer« und andere durch den Krieg psychisch Erkrankte mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Probleme seien auf individuelle Degeneration zurückzuführen. Die psychisch erkrankten Männer, die häufig als hysterisch kategorisiert und damit auch als ›verweiblicht‹ begriffen werden, genießen in keiner Weise die gleiche Reputation wie Kriegsversehrte mit amputierten Gliedmaßen (Kienitz 1999: 64f.; Bourke 1996: 59). Es sind allein die äußerlich sichtbaren Verwundungen, die sich als »Ehrenzeichen« lesen lassen, stellen diese doch die Idee eines unversehrten Inneren nicht zwangsläufig in Frage. Der Erste Weltkrieg stellt insofern eine wichtige Zäsur in der Geschichte körperlicher Abweichungen dar, als er eine enorme quantitative und so-
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ziale Ausweitung des Phänomens der Körperbehinderung nach sich zog. Waren vor 1914 Körperbehinderungen vor allem aufgrund zahlreicher Arbeitsunfälle eher bei den unteren Gesellschaftsschichten zu finden (Fandrey 1990: 165), so veränderten die Kriegsversehrten das vorherrschende Bild entscheidend. Durch ihre zahlenmäßige Stärke und die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, bewirkte ihr Auftreten erhebliche Verschiebungen auf dem gesamten Gebiet der Körperbehinderung und des Umgangs mit ihr. Betrachtet man die Einbeziehung in die verschiedenen Rehabilitationsprogramme als etwas Wünschenswertes, lässt sich zum einen festhalten, dass die zivilen Körperbehinderten von den für die Kriegsversehrten entworfenen Maßnahmen – wie etwa von der im Vordergrund stehenden Wiedereingliederung ins Arbeitsleben – mitunter profitieren konnten (ebd.: 163). Zum anderen lässt sich aber auch ein verschärfter Kampf um die knappen staatlichen Ressourcen beobachten. Die sozialpolitische Schwerpunktsetzung auf die Kriegsversehrten, wie sie in den gesetzlichen Maßnahmen zum Kündigungsschutz und zur Beschäftigungspflicht (1919) und im Reichsversorgungsgesetz (1920) zum Ausdruck kam, implizierte tendenziell einen Transfer der Aufmerksamkeit wie der Ressourcen hin zu männlichen, erwachsenen Körperbehinderten. Bis zum Schwerbehindertengesetz von 1974 sollten sich die Definitionen von Behinderung am männlichen Kriegsversehrten orientieren. Er fungierte als Norm für die juristische und sozialpolitische Einordnung der verschiedenen Formen von Behinderung. Der Kriegsversehrte durchkreuzte also nicht nur die ›Ordnung des Normalen‹, sondern seine starke Präsenz führte auch zu umfangreichen Neuklassifizierungen innerhalb der ›Ordnung der Behinderung‹. Insbesondere die von den Gewerkschaften vor allem in den 60er Jahren geführten Kampagnen, die Wegbereiter für das Schwerbehindertengesetz von 1974 waren, sprachen sich massiv für die Gleichbehandlung aller Behinderten aus und forderten eine Differenzierung je nach körperlicher Abweichung, aber unabhängig von ihrer Ursache (ebd.: 199). Diese tendenzielle Gleichstellung verschiedener Formen körperlicher Abweichung deutet auf ein verändertes Verständnis von Behinderung hin. Zu diesem neuen Konzept gehört es u.a., keine fixen Grenzen zwischen einzelnen Arten von Beeinträchtigung zu ziehen, sondern ein relativ durchlässiges Feld körperlicher Abweichungen zu entwerfen. In diesem Sinne ließe sich von einer flexibel-normalistischen Strategie im Umgang mit Körperbehinderungen sprechen. Dennoch bleibt die körperliche Abweichung per definitionem auf die Norm verwiesen.
2. Kriegsversehrte in der Freikörperkultur Der Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der Lebensreform entstandenen Freikörperkulturbewegung ging es, ähnlich wie der Ernährungsreform
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180 | Maren Möhring oder der Naturheilkunde, um eine Rückkehr zum so genannten natürlichen Körper (vgl. Krabbe 1974; Kerbs/Reulecke 1998). Die Beschreibungen dieses Naturkörpers zeigen, dass dieser letztlich als der »normale« Körper verstanden wird. Ein natürlicher Körper weise eine »normale […] Haltung« auf und besitze »eine normale Leber«, heißt es beispielsweise in den von Nudisten konsultierten Gymnastikanleitungen, mit deren Hilfe man sich einen natürlichen Körper erarbeiten wollte (Winther 1919: 89; Müller 1908: 12). »Natürlich« und »normal« stellen im Diskurs der FKK-Bewegung letztlich austauschbare Begriffe dar. So schreibt etwa der Psychologe Robert Werner Schulte (1897-1933) im Jahre 1928, das Ziel der gesamten Körperkulturbewegung bestehe darin, zu »Natürlichkeit« und »uneingeschränkte[r] Normalität« zurückzufinden (Schulte 1928: 40). Was als natürlich oder normal gilt, ist jedoch historischen Transformationsprozessen unterworfen. Um ihre eigenen Körpervorstellungen zu legitimieren, rekurrierte die FKK-Bewegung auf die Antike und begriff die in der griechischen Statue verkörperten Normen als natürlich und überzeitlich gültig. Ebenso dienten die Naturwissenschaften, insbesondere die Physiologie und die Medizin, als Legitimationsinstanzen, schienen sie doch die unwandelbaren Körpernormen zu liefern, an die es sich anzunähern galt. Eine körperhistorische Analyse der FKK-Bewegung kann jedoch die historische Spezifik dieser vermeintlich transhistorischen Naturnormen aufzeigen und damit den nackten Körper als Produkt einer Naturalisierung sichtbar machen, die sich als eine besondere – mit Jürgen Link (1997) als protonormalistisch zu verstehende – Form von Normalisierung fassen lässt (vgl. Möhring 2004). Gesundheit und Schönheit stellten die Leitbegriffe der Freikörperkultur wie der gesamten Lebensreformbewegung dar. Es waren also sowohl physiologisch-medizinische als auch ästhetische Normen, welche die Körperbildung in der Freikörperkultur regulierten. Sie manifestierten sich einerseits in der antiken Statue und andererseits im physiologischen Modell der reibungslos funktionierenden Körpermaschine. In beiderlei Hinsicht nahm die Nacktheit eine zentrale Stellung ein: Den gesamten Körper beim Sonnenbad den Licht- und Luftreizen auszusetzen, diente zum einen als gesundheitsförderndes Mittel, das den Stoffwechsel anregen und den Körper reinigen sollte (»Warum nackt?« 1911: 20). Gleichzeitig war auch eine umfassende Glättung und Bräunung der Haut intendiert, die eine ästhetische Funktion erfüllte. Vor allem aber ermöglichte Nacktheit eine genaue Beobachtung, eine weit reichende und durchaus wörtlich zu verstehende »Körperbeaufsichtigung« (Mensendieck 1923a: 12). Diese bildete die Voraussetzung für die Entdeckung von körperlichen ›Mängeln‹, die dann – etwa durch nacktgymnastische Übungen – behoben werden sollten. Das richtige Beobachten, vor allem in Form von »Selbstbeobachtungen« (Schreiber 1910: 526), musste erst erlernt werden. Es galt, das »Eigenurteil für
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das Normale« auszubilden, wie es die Nacktgymnastik-Lehrerin Bess Mensendieck (1923b: 39) formulierte. Welchen Umgang mit Kriegsversehrten entwickelt nun eine auf körperliche Normalität bzw. (Selbst-)Normalisierung ausgerichtete Bewegung wie die Freikörperkultur? Anders als Menschen mit angeborenen körperlichen Abweichungen konnte man kriegsversehrte Männer, die ihrer ›Pflicht dem Vaterland gegenüber‹ nachgekommen waren, deren Körper nun aber nicht mehr der Norm entsprach, nicht kategorisch ausgrenzen. Zwar waren Kriegsversehrte auf den FKK-Fotografien – und die Fotografie lässt sich als das Medium der Freikörperkultur begreifen (Schneider 1999: 421) – nicht präsent; ihre massenmediale Sichtbarmachung war nicht erwünscht. Aus moralischen bzw. nationalistischen Gründen ließen sie sich jedoch weder diskursiv noch alltagspraktisch völlig ausgrenzen. Der Erste Weltkrieg war wie von den meisten Teilen der wilhelminischen Gesellschaft auch von Seiten der Nudisten begeistert begrüßt worden. Bisweilen wurde gar das für den Stellungskrieg charakteristische »Leben in Erdhöhlen« als die ersehnte »Rückkehr zur Natur« gefeiert (Frenz 1917: 141). Auch die neue Bedeutung, die dem Körper im Krieg zukam, wurde als Argument für die eigenen körperkulturellen Bestrebungen verwendet. Der Krieg lasse »den Wert eines gesunden, widerstandsfähigen Körpers« klar vor Augen treten (Schoene 1924: 11). Neue ›sportliche‹ Übungen wie der Handgranatenwurf wurden in das Gymnastikprogramm aufgenommen (vgl. Fikenscher 1917: 102). Diese Form militarisierter Körperertüchtigung fand ihre Fortsetzung in Hans Suréns (1885-1972) Deutscher Gymnastik (Surén 1925) und prägte auch die ›Leibeszucht‹, die später in den unter nationalsozialistischer Herrschaft gleichgeschalteten FKKVerbänden praktiziert wurde.
2.1 Sehen – Wissen – (Ent-)Täuschen Um den Ort der Kriegsversehrten in der Freikörperkultur näher zu beleuchten, sei ein längeres Zitat aus dem Beitrag »Kriegsversehrte und Freikörperkultur« angeführt, der 1950 in der Zeitschrift Mensch und Natur erschienen ist. Dieses Zitat ist meines Erachtens insofern zentral, als es die enorme Bedeutung der Sichtbarkeit für das Moment der Verstörung hervorhebt, die sich im Umgang mit den Kriegsversehrten häufig einstellt. Zudem nimmt der Autor Abstufungen auf dem Feld der Sichtbarkeit vor und spricht darüber hinaus den Konnex von Sehen, Wissen und Täuschen an: »Sie leben jetzt mitten unter uns. Sie gehen mit uns zur Arbeit. Sie sind unsere Nachbarn […]. Nicht immer wissen wir, daß es Versehrte sind; denn die Ausmaße und Folgen der Verwundungen sind wohl bei allen verschieden. Einigen sieht man
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182 | Maren Möhring gar nichts an. Nur sie selbst wissen es und ihre nächsten Angehörigen, daß vielleicht die Lunge nicht in Ordnung ist oder die Niere nicht mehr recht will. Aber ein anderer Teil trägt sichtbare Narben oder hat sogar Glieder verloren. Doch selbst hier verdeckt die Kleidung vieles, wenn es sich nicht gerade um Kopf- oder Gesichtsnarben handelt. Und wenn auch eine Prothese ein fehlendes Glied nicht ersetzen kann, so läßt sie doch für Fremde den Verlust nicht so offenbar werden und ermöglicht vor allem manche Bewegung. Aber hat nicht auch der Versehrte – und besonders der Versehrte – das Bedürfnis, einmal nackt und ohne störende Hüllen in der Sonne zu liegen, mit Gleichgesinnten zu spielen oder in der See zu schwimmen? Braucht nicht gerade er eine Gemeinschaft, die ihn aufnimmt und ihm zeigt, daß er kein Ausgestoßener ist? Geht das?! Kann er mit seinem verwundeten und nicht mehr schönen Körper anderen, zum Teil fremden Menschen gegenübertreten, ohne daß Prothesen und Kleider mitleidsvoll verhüllen? Muß nicht der Anblick der gesunden, kraftvollen und unversehrten Gestalten das Schicksal des Verwundeten viel schwerer erscheinen lassen? Und kann man den Gesunden ›zumuten‹, einen Menschen in ihrer Mitte zu haben, der wohl früher einmal gesund und schön gewesen sein mag, dessen Anblick jetzt aber zumindest etwas ungewöhnlich ist?« (Lehmitz 1950: 26; Hervorh. dort.)
Der Autor des zitierten Beitrags, Herbert Lehmitz, beginnt seine Ausführungen damit, dass er die Kriegsversehrten je nach dem Sichtbarkeitsgrad ihrer Verletzungen in drei verschiedene Gruppen einteilt: zunächst solche, denen man »gar nichts an[sieht]«, einen »andere[n] Teil«, der »sichtbare Narben« trägt, die aber durch Kleidung zum Teil verdeckt werden, und schließlich Menschen mit »Kopf- oder Gesichtsnarben«, die keine Möglichkeit zum Kaschieren ihrer Verletzungen haben. Lehmitz macht deutlich, dass es vor allem sichtbare Verletzungen sind, die für die soziale Interaktion relevant werden; er bindet damit Norm und Normverletzung an den Blick und die Sichtbarkeit bzw. Sichtbarmachung. Zugleich führt er eine Differenz zwischen Sehen und Wissen ein: Ist eine Verwundung nicht sichtbar, dann wissen »wir« nichts von ihr.2 Der Betroffene selbst und seine engsten Angehörigen hingegen können über das intime Wissen verfügen, dass beispielsweise »die Lunge nicht in Ordnung ist«. Dieses Wissen basiert auf der körperlichen Erfahrung des Betroffenen, die sich jedoch nicht losgelöst von dem medizinischen Wissen über die Lungenbeschädigung betrachten lässt. Das medizinische Wissen wiederum kommt – neben dem Abhören der Lunge – in hohem Maße durch eine spezifische, technisch vermittelte Form des Sehens zustande, nämlich durch die Röntgenaufnahme. Dieser in die Tiefen des Körpers vordringende Blick konstituiert ein Wissen über die Abweichung, das in Alltagssituationen für die übrigen Akteure nicht verfügbar ist. Der apparativ vermittelte Expertenblick und der mehr oder weniger informierte Laienblick unterscheiden sich vor allem in dieser Hinsicht. Der von Lehmitz explizierte Sichtbarkeitsgrad und der ebenfalls von
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ihm erwähnte Wissensstand über die körperliche Abweichung lassen sich mit Goffmans Unterscheidung von Diskreditierten und Diskreditierbaren in Beziehung setzen. Ihm zufolge ist es für die soziale Interaktion entscheidend, inwieweit das stigmatisierte Individuum davon ausgeht, »daß man über sein Anderssein schon Bescheid weiß oder daß es unmittelbar evident ist«, oder ob es voraussetzen kann, dass seine Abweichung weder bekannt noch »unmittelbar wahrnehmbar« ist (Goffman 1967: 12). An dieser Stelle stellt sich die Frage der Informationssteuerung und des »Stigma-Management[s]« (ebd.: 68). Während Diskreditierte keine Wahl haben, können Diskreditierbare entscheiden, ob sie ihre Abweichungen preisgeben wollen oder nicht. Entscheiden sie sich dagegen, ist schnell der Vorwurf des Täuschens zur Hand, dem die (spezifisch moderne) Annahme zugrunde liegt, erst die Eröffnung des Andersseins bringe die Wahrheit über das Individuum ans Licht. Die Entscheidung, sich nackt auf einem FKK-Gelände aufzuhalten, bedeutet zumindest für die zweite von Lehmitz thematisierte Gruppe der Kriegsversehrten eine Aufdeckung ihrer körperlichen Abweichungen, die ansonsten durch Kleidung verborgen geblieben wären. Wie bereits erwähnt, stellt die Sichtbarmachung des Körpers ein zentrales Moment der Freikörperkultur dar. Seit ihren Anfängen basiert die FKK-Rhetorik auf der Annahme, dass Kleidung täusche und erst nackt der ›wahre Mensch‹ zum Vorschein komme. Entsprechend ist in den Schriften der Freikörperkultur bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Begriff der Kleidung eng mit dem der Verstellung gekoppelt. So ist vom »dumpfen Grab der Lügenmode« (Fritz Diehm, zit.n. Ungewitter 1907: 47) und vom Kleid als »Symbol der Lügner, Heuchler und Duckmäuser« (Lanz-Liebenfels 1913: 7) die Rede. Hingegen zeige der nackte Körper den Menschen, wie er wirklich sei: »Schaue Dich nackt – erst Nacktheit ist Wahrheit«, heißt es 1921 in der Zeitschrift Die Schönheit (Theoros 1921: 517). Der Topos der nackten Wahrheit, mit dem die Freikörperkultur ihr Anliegen zu legitimieren sucht, kann nach Lehmitz für die Kriegsversehrten nicht ohne Abstriche verwendet werden. Denn in ihrem Fall ist nicht ausgemacht, dass sie sich nackt zeigen sollten. Stattdessen ist mit Bezug auf diese Gruppe von »mitleidsvoller Verhüllung« durch Kleidung die Rede oder von Prothesen, die den Verlust von Gliedmaßen zumindest nicht ganz so offenbar werden lassen. »Mitleidsvoll« ist die empfohlene Verhüllung in zweifacher Hinsicht: Zum einen erspart sie dem Versehrten den (neugierigen, abschätzigen oder eben mitleidsvollen) Blick der nicht Versehrten; zum anderen erlaubt sie es den nicht Versehrten, einer ›aufdringlichen‹ Konfrontation mit der Behinderung zu entgehen.3 Lehmitz führt einerseits eine »Scheu« der Kriegsversehrten an, sich nackt zu zeigen: »Wenn von irgendeiner Seite Bedenken gegen die Teilnahme in der FKK angeführt werden, dann zumeist von den Versehrten selbst.« Ihr Zögern erklärt er mit einem »Minderwertigkeitsgefühl, zumindest für den Körper« (Lehmitz
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184 | Maren Möhring 1950: 27). Andererseits fragt er danach, inwieweit es für die übrigen Nudisten »zumutbar« sei, mit Kriegsversehrten in den eigenen Reihen konfrontiert zu werden (ebd.: 26). Der Eintritt in den FKK-Verein und die damit verbundene Sichtbarmachung des Körpers ist also, wenn es sich um einen stark von der Norm abweichenden Körper handelt, in doppelter Hinsicht problematisch. Doch auch der Kriegsversehrte wünsche sich, so Lehmitz, die – und hier greift der Autor auf die gängige FKK-Rhetorik zurück – »störende[n] Hüllen« mitunter abzulegen und nackt ein Sonnenbad zu nehmen (ebd.). Die Entscheidung, die eigenen Verwundungen zu enthüllen, wird von ihm als ein Schritt begrüßt, der zur Akzeptanz der körperlichen Abweichung durch den Versehrten selbst wie auch durch andere führen könne. Für eine gelingende Interaktion sind allerdings einige, von Lehmitz nur indirekt formulierte, Verhaltensregeln zu beachten: Voraussetzung ist zunächst, dass der Kriegsversehrte selbst möglichst souverän mit seiner Abweichung umgeht und nicht ein »gesteigerte[s] Ehrgefühl, Empfindlichkeit oder sogar auch Haß gegen alles Gesunde« an den Tag legt (ebd.: 27). Somit ist es das Verhalten des behinderten Menschen, das für den Erfolg der Interaktion grundsätzlich verantwortlich gemacht wird.4 Des Weiteren wird von den nicht Kriegsversehrten erwartet, dass sie eine gewisse Offenheit zeigen, den Kriegsversehrten in ihre Gemeinschaft aufzunehmen – d.h. auch, ihnen wird zugemutet, über die Behinderung hinwegzusehen. Denn nachdem Lehmitz eingangs Blick und Sichtbarkeit als zentrale Faktoren eingeführt und die Hemmungen von Kriegsversehrten, sich nackt zu präsentieren, benannt hat, formuliert er im Fortgang des Textes die grundlegende These, körperliche Äußerlichkeiten würden in der FKK-Bewegung letztlich kaum beachtet: »So kann es geschehen, daß man erst nach Jahren bei einem Bekannten zufällig feststellt, daß er ein wenig hinkt, daß er an der Seite einen großen Leberfleck hat oder – daß er große Narben von einer Verwundung trägt; obwohl man eben jenen Menschen schon oft in seiner ganzen Nacktheit gesehen hat.« (Ebd.: 29) Statt Nacktheit als extreme Form der Sichtbarmachung zu begreifen, die noch die kleinste Abweichung ans Licht bringt, re-definiert Lehmitz sie nun als ein besonders unauffälliges Körperkleid, das von den Äußerlichkeiten ablenke. Offensichtlich erklärt Lehmitz das Sehen und Gesehen-Werden des nackten Körpers für irrelevant, um das Verhältnis von Kriegsversehrung und Freikörperkultur zu entproblematisieren. Wenn er berichtet, dass auf dem FKK-Gelände niemand einen Kriegsversehrten »mit scheelen Augen« (ebd.: 29) anschaue, dann ist dies zum einen als eine Verhaltensanweisung zu verstehen, zum anderen macht diese Bemerkung deutlich, welch zentrale Rolle dem (wie auch immer gearteten) Blick trotz aller vermeintlichen Irrelevanz von Äußerlichkeiten doch zukommt.5 Der Beitrag, der mit dem Satz »Sie leben jetzt mitten unter uns« begonnen hatte, nimmt eine interessante
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Wendung in dem Moment, in dem sein Autor erklärt, warum er sich überwiegend auf Kriegsversehrte und nicht auf andere »Körperbehinderte« bezieht: »Wenn hier überwiegend von Kriegsversehrten die Rede ist, dann nur, weil sie zahlenmäßig die größte Gruppe der Körperbehinderten darstellen und – weil ich selbst zu ihnen gehöre; weil auch ich mit einer Oberschenkelamputation aus dem Krieg zurückgekommen bin und deshalb genau so mit diesen Problemen fertig werden musste wie so viele andere.« (Ebd.: 26f.)
Lehmitz konstituiert in seinem Beitrag zunächst ein – scheinbar auch ihn einschließendes – Wir, das sich als nicht kriegsversehrt versteht, um dann im weiteren Verlauf des Textes, also nachträglich, aus dieser Gruppe auszuscheren und aus der Perspektive des Betroffenen zu sprechen. Zunächst stellt er eine klare Gegenüberstellung von »uns« und »ihnen« her, um diese dann schließlich zu unterlaufen. Man könnte sagen, dass die Leser vom Autor zunächst getäuscht werden und nach der Enthüllung seiner ›wahren‹ Identität seine Gruppenzugehörigkeit revidieren müssen. Möglich wird die ›Täuschung‹ der Leser dadurch, dass der Autor nicht sichtbar ist. Erst seine Aussage über die eigene Oberschenkelamputation, gewissermaßen sein Coming out, verschafft den Lesern das Wissen über seine körperliche Abweichung. Während die Kriegsverletzung innerhalb der Freikörperkultur diskursiv thematisiert wird, finden sich, wie gesagt, keine Fotos von Kriegsversehrten in den einschlägigen Publikationen. Diesen Sachverhalt erklärt Lehmitz damit, dass »man an die Öffentlichkeit werbend überwiegend nur Bilder von gut gewachsenen Menschen bringen kann, weil auf ihnen die Bewegung ›gefroren‹ ist, die sonst das Wesentliche beim Menschen ist« (ebd.: 29). So zeigen auch die vier seinem Beitrag beigefügten Fotografien keine Menschen mit markanten körperlichen Abweichungen. Interessant ist allerdings die Abbildung eines jungen Mannes, der sich im See erfrischt (Abb. 1), und zwar insofern, als sie den Oberschenkel, den Lehmitz als Ort seiner eigenen Verwundung im Text benannt hat, nicht zu erkennen gibt. Es ist anzunehmen, dass es sich bei dem Fotografierten nicht um Lehmitz selbst handelt – begründet dieser in dem dazugehörenden Text doch gerade die Ausblendung der Kriegsversehrten aus dem Bildrepertoire der Freikörperkultur. Dennoch ist man als Leser versucht, zwischen Text und begleitenden Fotos eine Relation herzustellen, d.h. die beschriebenen und die abgebildeten Körper in Beziehung zueinander zu setzen. Das beigefügte Foto des jungen Mannes verunsichert den Betrachter, da das aufspritzende Wasser eben jenen Körperteil verdeckt, der im Text als amputiert, als nicht vorhanden thematisiert worden ist. Das Wasser fungiert gleichsam als Schleier über dem potenziell Abwesenden. Die Fotografie befriedigt damit
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186 | Maren Möhring gerade nicht die Schaulust der Leser, sondern lässt sie über die An- oder Abwesenheit des betreffenden Körperteils im Unklaren. Der normalisierende Blick wird irritiert. Dass der normalisierende Blick permanent am Werk ist, wird in dem Beitrag von Lehmitz explizit und implizit deutlich: Die Nacktheit auf dem Abbildung 1: Junger Nudist im Wasser. Illustration aus der Zeitschrift Mensch und Natur (1950).
FKK-Gelände macht die Abweichung sichtbar(er) und beeinflusst damit die Interaktion zwischen Versehrten und nicht Versehrten. Der Anblick eines kriegsversehrten Körpers, den Lehmitz als »zumindest etwas ungewöhnlich« (ebd.: 26) charakterisiert, bedarf aufgrund seines Ausnahmecharakters umfassender Diskursivierungen, die im Register der Ästhetik wie der Medizin erfolgen.
2.2 Die Kriegsverletzung als Nichterfüllung ästhetischer Normen Nach 1918 wie nach 1945 entfachte der »ungewöhnliche« Anblick der Kriegsversehrten innerhalb der FKK-Bewegung eine Diskussion darüber, inwiefern Kriegsverletzungen hässlich seien – oder ob sie einer anderen Bewertung unterzogen werden müssten. In dem Artikel »Kriegsverstüm-
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melung und Schönheit«, der 1916 in der Zeitschrift Licht-Luft-Leben erschien, stellt der Autor fest: »Der Verlust von Körperteilen und ihre Umformung entgegen ihrem planmäßigen Bau, sowie auch die Behinderung und Veränderung der Körperbewegung und -betätigung, wie sie durch die Kriegsverwundungen in der mannigfachsten Weise hervorgerufen werden, sind also, streng genommen, Häßlichkeiten.« (Luerssen 1916: 145)
Weiter heißt es jedoch: »Wir empfinden und urteilen aber nicht so streng mechanisch, sondern ziehen – unbewußt schon – stets die Verhältnisse in Betracht« (ebd.). So sei ein Unterschied zu machen zwischen einem »verlebte[n] Gesicht«, das hässlich erscheine, und einem Gesicht, »in das schwere Arbeit und heißer Kampf seine Runen gegraben« hätten und das daher schön zu nennen sei (ebd.: 146). Entsprechend sollten auch die Kriegsverletzungen betrachtet werden: »Selbst durch starke Verstümmelungen, wie sie z.B. durch die Zerstörung von Gliedern oder durch Gesichtsverletzungen entstehen, werden natürlich, tief und stark empfindende Menschen nicht abgestoßen werden. Sie werden Mitleid empfinden, aber dieses Unlustgefühl wird überstrahlt werden von dem Lustgefühl über das Leiden und Kämpfen für ein hohes Ziel.« (Ebd.)
In diesem Sinne sollten insbesondere die Freundinnen und Ehefrauen »die Narben des heimkehrenden Geliebten – mögen sie auch noch so groß sein – nicht als abstoßende Mängel empfinden, sondern voller Verehrung, ja auch voller Stolz wie Schönheiten betrachten« (ebd.: 146). Körpermerkmale, die den ästhetischen Normen nach hässlich sind, erfahren hier eine moralische Aufwertung; die Kriegsverletzungen sollen als »schöne Ehrenzeichen« begriffen werden.6 Erneut geht es hier um eine – insbesondere an Frauen gerichtete – Blickschulung, die aber im Falle der Kriegsversehrten körperliche Abweichungen einer anderen Lesart unterzieht und den erlernten ästhetisch-normativen Blick modifiziert. Die Umdeutung von Kriegsverletzungen in »Ehrenzeichen« verweist auf eine signifikante Verschiebung innerhalb der ästhetischen Betrachtung: In den Diskussionen um die Kriegsversehrten wird nun vor allem die innere Schönheit beschworen,7 die für die Gesellschaft im Allgemeinen wie für die nudistische Gemeinschaft im Besonderen ausschlaggebend sei. Diese Umwertung wird nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt: »Auf den inneren Menschen kommt es an, nicht auf den äußeren […]. Draußen auf dem Gelände […] ist nicht Hauptsache: wie siehst du aus, sondern: was bist du für ein Mensch? Bist du sauber und gerade genug, um in unseren Kreis aufgenommen zu werden?« (Lehmitz 1950: 29)
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188 | Maren Möhring Der Widerspruch von Schönheitsnorm und Kriegsversehrung soll bewältigt werden, indem ästhetische Fragen für letztlich irrelevant erklärt werden. Statt eines geraden Körpers wird nun die sittlich ›gerade‹ Haltung betont. Diese Strategie ist typisch für den Umgang mit Kriegsversehrten in der Freikörperkultur, widerspricht aber eigentlich der in der FKK-Bewegung überaus präsenten physiognomischen Tradition. War die klassische Physiognomie eines Johann Caspar Lavater (1741-1801) vor allem auf das Gesicht, das Profil und die Silhouette ausgerichtet gewesen, so sollte in der Freikörperkultur des 20. Jahrhunderts der gesamte Körper zum Gesicht gemacht werden (Pudor 1906: 18). Diese Verschiebung lässt sich als Ausdruck der mit dem späten 19. Jahrhundert einsetzenden eugenischen Neukonzeptualisierung der Physiognomik verstehen. Ein besonders prägnantes Beispiel für diese Entwicklung stellt die seitens der FKK-Bewegung propagierte so genannte nackte Gattenwahl dar, bei der sich potenzielle Ehepartner vor der Hochzeit gegenseitig mustern sollten, um ästhetische und gesundheitliche ›Mängel‹ am anderen ›rechtzeitig‹ zu entdecken. Die zu entziffernde Wahrheit war die vermeintliche biologische Beschaffenheit des Körpers, insbesondere seine Fortpflanzungsfähigkeit (vgl. Möhring 2002). So heißt es in den »Lehrsätzen für Nacktsport-Werbearbeit« von 1923: »Im Nacktsport-Sonnen-, Luft- und Wasserbad finden sich [sic!] die schönsten und zeugungswertesten Paare zueinander« (zit.n. Linse 1989: 44). Diese eugenisch-rassenhygienische Argumentation sollte später die FKK-Körperpolitik im Nationalsozialismus dominieren. Wurde einerseits am Körper des oder der anderen nach allen erdenklichen ›Entartungszeichen‹ geforscht, so stellten andererseits die Kriegsverletzungen eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Bei ihnen scheint die gängige »medico-moralische[…] Semiologie«, wie Gunnar Schmidt (1994: 58) den Konnex von medizinisch-ästhetischem Blick und moralischer Wertung einmal genannt hat, außer Kraft gesetzt. An dieser Stelle kommen nun die anfangs benannten Spezifika der Kriegsversehrung – Exogenität und Schuldlosigkeit – ins Spiel, die ihr lange Zeit einen herausgehobenen Platz im Klassifikationssystem körperlicher ›Abnormitäten‹ verschafft haben. Der Appellcharakter der beschriebenen diskursiven Aufwertung von (einigen) Kriegsverletzungen lässt jedoch vermuten, dass die tatsächliche Behandlung Kriegsversehrter oftmals anders aussah, als es die Rede vom Ehrfurcht gebietenden Verwundeten nahelegt. Vor allem in den Texten aus den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs findet sich die beschriebene kollektive Heroisierung (Kienitz 2004: 334). Das den Kriegsversehrten zugesprochene hohe Prestige verflüchtigte sich aber im Laufe des Krieges recht schnell (Fandrey 1990: 169).8 Der kriegsversehrte Körper wurde, trotz aller Beschwörungen von Pflichterfüllung und Ehre, als abnorm wahrgenommen; er stellte weder in ästhetischer noch in physiologisch-motorischer Hinsicht einen ›normalen‹ bzw. ›natürlichen‹ Körper dar.
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2.3 Die Kriegsverletzung als Nichterfüllung motorischer und physiologischer Normen Kriegsversehrte werden nicht nur an ästhetischen Idealen, sondern auch an medizinisch-physiologischen Normen gemessen. So spielt bei der Bestimmung und Einstufung einer Kriegsverletzung die Frage nach dem Ausmaß der von ihr verursachten »Erwerbsbeschränkung« eine maßgebliche Rolle. Für das 20. Jahrhundert lässt sich konstatieren, dass alle Definitionen von Behinderung letztlich an das »Normalfeld Leistung« gebunden sind (Schildmann 2004: 26). Erwerbsbeschränkungen werden in Relation zur durchschnittlichen Arbeitsleistung ermittelt. Es ist der Arzt in seiner Funktion als »Normalitätsrichter« (Foucault 1989: 392), der bestimmen muss, »wie viel Prozent Erwerbsfähigkeit […] beim Kriegsverletzten als noch vorhanden« anzunehmen ist (Kunstmann 1916: 35). Entsprechend erfolgt die Einstufung der Kriegsversehrung, die damit, bis heute, in der Tradition des Umgangs mit Arbeitsunfällen steht. Die nach dem Ersten Weltkrieg gezahlte »Verstümmelungszulage« hingegen, die unterschiedliche Sätze vorsah für den Verlust eines Beines, einer Hand oder der Sehkraft, ging über die reine Leistungsorientierung hinaus und bezog im weitesten Sinne ästhetische Kriterien mit ein.9 Hier war es vor allem eine »politics of absence« (Bourke 1996: 63) und damit abermals ein Register des Visuellen, über das die Bewertung der einzelnen (verlorenen) Körperteile vorgenommen wurde. Die Bedeutung der physiologischen Leistungsnorm für den Umgang mit den Kriegsversehrten machen die nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ergriffenen Rehabilitationsmaßnahmen deutlich, stand doch in beiden Nachkriegsphasen die Reintegration in das Arbeitsleben im Vordergrund. Bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden Maßnahmen ersonnen, wie »die Riesenwunden und -schäden in und aus uns selbst [zu] heilen und überwinden« seien, und zwar vor allem auf dem Gebiet der »Kriegskrüppelfürsorge« (Laqueur 1915: 247), die paradigmatisch für die konkrete Bewältigung der Kriegsfolgen stand. Das Interesse richtete sich dabei vornehmlich auf die Wiederherstellung der »Gebrauchsfähigkeit von Muskeln und Gelenken« (Kohlrausch 1916/17: 201), die über gymnastische Übungen und auch Prothesen erreicht werden sollte. Hatten vormals Prothesen überwiegend »Schönheitszwecken« gedient, so sollten sie nun »nicht nur die gleiche Gestalt und das gleiche Ansehen« wie die verlorenen Gliedmaßen aufweisen, »sondern vor allem einen möglichst vielseitigen praktischen Gebrauch« ermöglichen (Kunstmann 1916: 27). Insbesondere Arm- und Beinamputierte wurden für prothesengestützte »tayloristische Optimierungsphantasien« mobilisiert (Hagner 2000: 79). Erklärtes Ziel war die bereits um 1900 von dem Begründer der »Krüppelfürsorge« Konrad Biesalski (1868-1930) angestrebte »Entkrüppelung aller Gebrechlichen« (Biesalski, zit.n. Ulrich 1993: 120), die neben der Anwendung mo-
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190 | Maren Möhring derner Prothesentechnik auch durch den ›eisernen Willen‹ der Kriegsversehrten zustande kommen sollte: »Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden!« (An unsere verwundeten und kranken Krieger 1920: 3).10 Als Norm, an der sich die verschiedenen Reintegrationsmaßnahmen ausrichteten, galt das physiologische Körpermodell der möglichst reibungslos funktionierenden Maschine. Die Physiologie als Lehre von den Stoffwechselprozessen war im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Leitwissenschaft avanciert (vgl. Sarasin/Tanner 1998). Die physiologische Orientierung an einem organisch-funktionalen Gleichgewicht, der Homöostase, rückte die Körperökonomie und mit ihr Fragen nach der effektiven Bewirtschaftung des Körpers in den Vordergrund. Wie Anson Rabinbach (1990) in The Human Motor dargelegt hat, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts Leben mit Arbeit bzw. Energiekonversion gleichgesetzt und der menschliche Körper als (Elektro-)Motor begriffen. War dieser durch eine Kriegsverletzung ins Stocken geraten, so sollte er durch Regenerationsgymnastik oder technische Ersatzteile wieder in Gang gesetzt werden. Die FKK-Bewegung der Weimarer Republik verschrieb sich diesem allgegenwärtigen Regenerationsimperativ. Angesichts des vorausgegangenen Krieges und der Konfrontation mit dem beschädigten Körper – des individuellen Kriegsverletzten wie des versehrten kollektiven Körpers – konnte das lebensreformerische Credo, zum ›natürlichen‹ bzw. ›normalen‹ Körper zurückzukehren, an Überzeugungskraft gewinnen. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebten sowohl die Mitgliederzahlen der FKK-Vereine wie auch allgemein die nudistischen Körperpraktiken der Nacktgymnastik und des Sonnenbadens einen ungeahnten Aufschwung. Sonnen- und Höhensonnenbestrahlung galten als energetisierende Maßnahmen, die gerade im Falle der Kriegsversehrten als sehr hilfreich betrachtet und bereits während des Krieges in Feldlazaretten eingesetzt worden waren (vgl. Kohlrausch 1916/17).11 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Nützlichkeit der ultravioletten Strahlen, gerade für den kriegsverletzten Körper, weiter beschworen und sportliche Betätigung als Instrument der »Leistungssteigerung« und »Steigerung der allgemeinen Spannkraft« des versehrten wie nicht versehrten Körpers begriffen (Lehmitz 1950: 27f.). Das in den 20er Jahren omnipräsente und der Physiologie und Biologie entnommene Schlagwort der Regeneration wurde jedoch nach 1945 allmählich durch den Begriff der Rehabilitation ersetzt. Während Regeneration darauf abzielt, Teile des Organismus, die im Lebensvorgang abgenutzt worden sind, durch neuerliches Wachstum zu ersetzen, und damit an Konzepte von Degeneration geknüpft bleibt, löst der Begriff der Rehabilitation die körperliche Abweichung tendenziell von diesem biologischen Kontext, hält aber an der Ausrichtung auf Funktion und Funktionsfähigkeit fest. Oberstes Ziel blieb
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auch nach 1945 die Wiederherstellung bestimmter Fähigkeiten und die »dauerhafte Eingliederung in Arbeit und Beruf« (Fandrey 1990: 199).
3. Fazit Nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg wird der kriegsversehrte Körper in zweifacher Hinsicht einem normalisierenden Blick unterworfen. Er verstößt gegen ästhetische wie motorisch-physiologische Normen; er entspricht weder dem Modell des schönen Statuenkörpers noch dem Modell der gesunden Körpermaschine. Ist die ästhetische Normalisierung vornehmlich auf die Kontur, die Gestalt und die Form des Körpers fokussiert, so stehen beim physiologischen Modell des Maschinenkörpers die Kraft und die Funktion im Vordergrund. Form und Funktion stellen die zwei zentralen Kategorien dar, mittels derer Körper definiert und normalisiert wurden und werden. Im ästhetischen Diskurs (nicht nur) der Freikörperkultur ist es vornehmlich eine anatomische, auf das Ebenmaß rekurrierende Normalität, im medizinischen Diskurs eine funktionelle, auf dem physiologischen Gleichgewicht aufbauende Normalität, die der Körper aufweisen soll.12 Ebenmaß und Homöostase unterscheiden sich jedoch in normalistischer Hinsicht. Bei der durch physiologische Reihenmessungen ermittelten Norm handelt es sich um einen flexiblen Durchschnittswert, der sich der an Harmonie orientierten ästhetischen Idealnorm gegenüberstellen lässt. Mit den unterschiedlichen Normen korrespondieren differente Normalisierungsstrategien. Ist seit etwa 1900 der flexible Normalismus virulent geworden (Link 1997: 267), so lässt sich das Festhalten an Naturnormen seitens der FKKBewegung als ein protonormalistisches Festschreiben flexibilisierter Normalitätsgrenzen verstehen. Zu fragen wäre allerdings, inwieweit die Referenz auf die Natur tatsächlich Kennzeichen allein des Protonormalismus ist. Arbeitet nicht auch der flexible Normalismus mit Verweisen auf die Natur, indem er mit der Aufspaltung der Norm in Naturnorm und flexible Norm die Idee von der Natur als flexible Größe durch ein Naturkonzept ersetzt, das Natur als kontinuierliches Feld bestimmt? In jedem Fall ist für die FKK-Bewegung und ihren Umgang mit Kriegsversehrten ein Nebeneinander beider Normalisierungsstrategien zu konstatieren (vgl. Möhring 2003). Deren für das normalistische Dispositiv typische Koexistenz und Ambivalenz ist nicht nur kennzeichnend für die Überlegungen innerhalb der Freikörperkultur, sondern prägt bis heute Theorien über Körpernorm und Abweichung (Waldschmidt 2003: 92). Auch die zweifache Normalisierung von Körpern – im Hinblick auf ihre Form einerseits und ihre Funktion(sfähigkeit) andererseits – lässt sich bis in die unmittelbare Gegenwart verfolgen. So definiert die International Classification of Functioning, Disabi-
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192 | Maren Möhring lity and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation von 2001 Behinderung bzw. »impairment« als »problems in body function or structure such as significant deviation or loss«, wobei die Körperfunktion als physiologische wie auch psychologische Funktion und die Körperstruktur als Gesamtheit der anatomischen Teile des Körpers verstanden werden (zit.n. Waldschmidt 2003: 95, Hervorh. MM). Auch die von Goffman herausgestellte Bedeutung der Sichtbarkeit bzw. Sichtbarmachung für Prozesse der Stigmatisierung bezieht sich auf Abweichungen sowohl hinsichtlich der Form als auch der Funktion. Während Arm- und Beinamputierte auf dem FKK-Gelände zu finden sind, fehlt eine bestimmte Gruppe von Kriegsversehrten vollständig, nämlich die Gesichtsverletzten. Bei ihnen handelt es sich um eine in besonderem Maße diskreditierte Gruppe, der kaum Spielraum für ein »StigmaManagement« bleibt. Die von Lehmitz angesprochene »Zumutbarkeit« scheint hier eine harte Grenze zu setzen. Die Bedeutsamkeit dessen, was unter dem Begriff der Zumutbarkeit subsumiert wird, ist nicht zu unterschätzen. Es macht deutlich, dass es auch in einem zunehmend flexibilisierten Normalitätsfeld, das die scharfe Trennung von körperlicher Behinderung und Normalität tendenziell aufhebt, einen Bereich des Verworfenen gibt, der zwar zeitweise in medizinischen Abhandlungen,13 nicht aber in alltäglichen Lebensbereichen sichtbar gemacht werden kann. Wenn manche Körper nackter als andere sind (Barcan 2004: 21), dann scheinen Gesichtsverletzte, die nach dem Ersten Weltkrieg separat in eigens ihnen gewidmeten Heimen untergebracht waren und in deren Nähe keine Spiegel geduldet wurden, auf eine Art und Weise nackt zu sein, die nicht einmal die Selbstbetrachtung erlaubt.
Anmerkungen 1
2
3
4
In der Bezeichnung »Invalide« schlummere »zu sehr der Begriff, den wir uns in früheren Zeiten von dem alten Krieger machten, der mit seinem Stelzbein und dem Leierkasten typisch ist für die überwundene Art der Kriegsverletztenfürsorge des vorigen Jahrhunderts«, meint Kunstmann (1916: 32). Dass es sich um eine ›versteckte‹ Abweichung handelt, von der ›wir‹ nichts wissen, wird zudem durch den einleitenden Satz (»Sie leben jetzt mitten unter uns«) auf problematische Weise in einen narrativen Kontext gestellt, der Angst einflößt und an Zombie-Romane bzw. Filme erinnert. Für diesen Hinweis danke ich Andreas Kraß. So wird 1914 in der Zeitschrift für Krüppelfürsorge empfohlen, dass die »Kleidung des Krüppels unauffällig« sei, »um die Blicke der Neugier nicht auf sich, sondern von sich abzulenken« (Plothow 1914: 45). An den Stigmatisierten richten sich vielfältige Erwartungen: Er soll
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sich nicht schämen, kein Selbstmitleid und keinen Groll zeigen; die Spannungsreduktion innerhalb der Interaktion wird als Aufgabe des behinderten Menschen verstanden (Goffman 1967: 144f.). Zentral ist, dass der Stigmatisierte den ›Normalen‹ ermöglicht, »relativ unbedroht in ihrem Identitätsglauben« zu bleiben (ebd.: 151). 5 Die Bedeutsamkeit des scheinbar die Behinderung nicht registrierenden Blicks macht auch eine in der Wiener Zeit abgedruckte Schilderung eines Kriegsversehrten deutlich: »Ich gehe krumm, […] besonders links. Aber schaut nicht hin! Daß es weh tut, weiß ich selber. Wenn ihr hinschaut, tut’s noch mehr weh, und sei euer Blick noch so ehrlich mitleidsvoll.« (Zit. nach Kunstmann 1916: 12) 6 Ganz ähnlich wurden in Großbritannien die Kriegsverletzungen als »badges of their courage« oder »hallmark of their glorious service« bezeichnet (zit.n. Bourke 1996: 56). 7 Diese Verlagerung hin zur inneren Schönheit findet sich auch in dem Artikel »Die Ästhetik im Leben des Krüppels« von 1914: »Man lehre die Krüppelkinder an den Bildern der großen Meister den seelischen Ausdruck bewundern, den inneren Reiz der Empfindung«; so lernten sie, »daß es eine innere Schönheit gibt«, eine »Herzensreinheit«, die »alle äußeren Mängel und Gebrechen verschwinden« mache (Plothow 1914: 46). 8 Auch hatte sich bereits während des Krieges eine Binnenunterteilung in ›gute‹ und ›schlechte‹ Kriegsversehrte herauskristallisiert. Zu Letzteren gehörten die so genannten Rentenschmarotzer, denen man Faulheit, Simulantentum oder gar absichtsvolle Verstümmelung ihrer selbst vorwarf (Kienitz 2004: 335). 9 Für den Verlust der Hand, des Fußes, der Sprache oder des Gehörs auf beiden Seiten gab es 27 Mark, für die Erblindung 54 Mark (Kunstmann 1916: 35); insgesamt differierten die Kriegsversehrtenrenten jedoch stark, je nach dem militärischen Rang der Betroffenen. 10 Der Wille galt in den Debatten um die Kriegsversehrtenfürsorge als »beste Prothese« (Ulrich 1993: 124). 11 »Sogar Gesunden verschafft eine Bestrahlungskur mit ›Künstlicher Höhensonne‹ ein ausserordentliches Wohlbefinden, ein auffallendes Gefühl der Kräftigung und der Frische«, heißt es in einer Anzeige der Quarzsonnen-Gesellschaft in Hanau (Kunstmann 1916, Anzeigenteil). 12 Die Ästhetik lässt sich jedoch nicht einseitig der Ausarbeitung der Form, die Naturwissenschaften nicht einseitig derjenigen der Funktion zuschlagen. Vielmehr ist ein beständiges re-entry der Differenz von Form und Funktion in den jeweiligen Diskursen zu beobachten. In den Biowissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts waren es vor allem Anatomie und Embryologie, welche die Form zu ihrem Forschungsgebiet machten, während die Physiologie sich vornehmlich mit der Funktion beschäftigte.
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Zu den zu Beginn der Weimarer Republik in medizinischen und auch politisch-pazifistischen Abhandlungen zirkulierenden Fotografien von Gesichts- und Kopfverletzten, die aber bald vollständig aus dem Bilderarsenal verschwanden, siehe Hagner (2000).
Literatur An unsere verwundeten und kranken Krieger! Leitworte, überreicht vom Tätigkeitsausschuß für Kriegsbeschädigtenfürsorge in der Rheinprovinz [1920]. Barcan, Ruth (2004): Nudity. A Cultural Anatomy, Oxford/New York: Berg. Bourke, Joanna (1996): Dismembering the Male. Men’s Bodies, Britain and the Great War, London: Reaktion Books. Fandrey, Walter (1990): Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland, Stuttgart: Silberburg-Verlag. Fikenscher, F. (1917): »Der Handgranatenwurf als sportliche Betätigung«. In: Kraft und Schönheit 17, S. 102-106. Foucault, Michel (1989): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 8. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frenz, V. (1917): »Schönheit im Kriege«. In: Die Schönheit 14, S. 140-141. Goffman, Erving (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goltermann, Svenja (1999): »Verletzte Körper oder ›Building National Bodies‹. Kriegsheimkehrer, ›Krankheit‹ und Psychiatrie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, 1945-1955«. In: WerkstattGeschichte 24, S. 83-98. Hagner, Michael (1995a): »Monstrositäten haben eine Geschichte«. In: ders. (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen: Wallstein, S. 7-20. Hagner, Michael (1995b): »Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens«. In: ders. (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen: Wallstein, S. 73-107. Hagner, Michael (2000): »Verwundete Gesichter, verletzte Gehirne. Zur Deformation des Kopfes im Ersten Weltkrieg«. In: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: DuMont, S. 78-95. Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen (1998) (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal: Peter Hammer. Kienitz, Sabine (1999): »Die Kastrierten des Krieges. Körperbilder und Männlichkeitskonstruktionen in und nach dem Ersten Weltkrieg«. In: Zeitschrift für Volkskunde 95, S. 63-82. Kienitz, Sabine (2001): »›Fleischgewordenes Elend‹. Kriegsinvalidität und Körperbilder als Teil einer Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrie-
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) vakat 198.p 145482606488
IV. Behinderung in Diskursen und Interaktionen. Medizinische Praxis, Selbstbestimmung im Alltag und biographische Erfahrung
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Über die Differenz des Geradeaus. Alltagsinszenierungen von Blindheit Siegfried Saerberg
Der folgende Beitrag diskutiert die alltägliche praktische Herstellung von Blindheit als spezifischen Interaktionszusammenhang und deren Konstitution als eigenständiger Wahrnehmungsstil und eigene Erfahrungsweise. Subjektive Sinnkonstitution und soziale Konstruktion werden als ineinander verwoben verstanden und an empirischem Material rekonstruiert.
1. Da geht’s lang! Ich möchte diesen Beitrag mit einer ethnographischen Beschreibung derjenigen sozialen Begegnungen zwischen mir, einem blinden Fußgänger, und sehenden Passanten im Straßenverkehr eröffnen, deren Ziel das ›Nach-dem-Weg-Fragen‹ und das Erlangen einer treffenden ›Wegauskunft‹ (Klein 1982) ist. Sie verbindet das Erinnerungsprotokoll einer konkreten Begegnung mit einer Reflexion auf typische Probleme solcher sozialen Situationen. »Eben ist wieder einer an mir vorübergegangen, den ich ansprechen wollte. Einfach so, ich habe sogar das Gefühl gehabt, dass er mir ausgewichen ist. Wenn ich in meinen inneren emotionalen Haushalt hineinhöre, dann erscheint mir diese Situation, obwohl sie mir durchaus vertraut ist, noch immer ärgerlich, frustrierend, nervig. Es bleibt dennoch irgendwie eine Kränkung, dass man nicht in der Lage ist, jemanden anzuquatschen, oder dass die einfach weglaufen oder keine Lust oder Zeit haben.« (Protokoll vom 21.7.1992)
Der Schlüssel zur Reziprozität, d.h. zur Wechselseitigkeit des gesellschaftlichen Miteinander, zu seinen Handlungen, seinen Gesprächsweisen und seinen Erwartungen, ist also räumlich: Ich weiß zwar, dass dort ein anderer
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202 | Siegfried Saerberg ist. Ich höre, wie seine Schritte näher und näher kommen, sie werden lauter. Ich versuche, den Raum für eine Gesprächseröffnung ›vorzubereiten‹, indem ich mich in eine möglichst gerade Bahn zu diesem Schrittgeräusch bringe, so, dass ich auf beiden Ohren gleich laut das Geräusch der Schritte höre. Ich spreche dann in diese Richtung. Aber jenen kleinen Punkt im Raum, in dem sich zwei Blicke ineinander spiegeln, den finde ich nicht, oder er wird mir verwehrt. Und wenn der zweite oder dritte Versuch gelungen ist, treten die nächsten Schwierigkeiten auf. Eine davon ist, dass sehende Leute immer in irgendeine Richtung zeigen, um einem diese zu beschreiben. Ich kann mich noch sehr gut an solch eine Begebenheit in den ersten Tagen meiner selbstständigen Mobilität (ohne Begleitung eines Sehenden) erinnern: Ein Angestellter der KVB, der in einem Ticketschalter saß, versuchte mir ungefähr zehn Mal hintereinander durch das Zeigen »Da (!) müssen Sie langgehen«, den Weg zum Bus zu weisen. Es war nichts zu machen, ich bin sehr wütend geworden und davongeeilt, ohne die korrekte Richtung zu wissen. Dies hatte nun wiederum zur Folge, dass der im Ticketschalter Eingesperrte mir nachzurufen begann: »Andere Richtung!« Erneut eine Handlungsweise, die bei mir nur sehr begrenzt Begeisterung hervorrief. Zwar waren dem Angestellten in dieser Situation nicht gerade die Hände gebunden – er konnte sie wohl, wie ich annehme, im Gegenteil gut bewegen. Aber er konnte weder verbal aus seiner Haut noch physisch aus seinem Ticketschalter heraus, um eine alternative Wegauskunft zu erteilen. Diese Erlebnisse erinnern an die »incongruity-experiments«, die Harold Garfinkel (1967), der Begründer der Ethnomethodologie, von seinen Studenten bei ihren Familien durchführen ließ. Als die Studenten z.B. bewusst zu Hause so taten, als wären sie dort mit allen häuslichen Ritualen, gewohnten Orten, zeitlichen Tagesplänen und anderen Gepflogenheiten völlig unvertraut, kurz: als wären sie Fremde, war die Reaktion der Gefoppten ebenfalls Entrüstung und Unverständnis. Hier wird etwas in Frage gestellt, aus dem Tritt alltäglichen Funktionierens gebracht, das zum Bereich des für selbstverständlich Gehaltenen, des alltäglich hochgradig routinisierten Handlungswissens von jedermann und jederfrau gehört und das – im Anschluss an Garfinkels so genannte Ethnomethoden – gewissermaßen dem ›Normalen‹ zugerechnet wird. In meinem Zusammenhang ist für die Erforschung solcher sozialen Alltagspraktiken nun Folgendes wichtig: Sie sind so hochgradig routinisiert, dass sie durch bloße Reflexion oder auch Beobachtung nur schwer bloßzulegen sind. Zwar hilft das Blind-Sein durch seine ›Unangepasstheit‹, das gewohnheitsmäßige Funktionieren von sozialer Interaktion und Kommunikation aus den Angeln zu heben, jedoch ist dadurch erstens eine feine empirische Beschreibung dieses alltäglichen Handelns und Wissens noch nicht geleistet. Ebenso wenig ist dadurch zweitens aufgezeigt, wie
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denn eine alternative ›blinde Gewohnheit‹ dieselben perzeptiv-kognitiven, interaktiven und kommunikativen Probleme, also z.B. das der räumlichen Orientierung oder der adäquaten Wegauskunft, lösen würde. Schließlich ist dadurch drittens noch nicht beschrieben, wie eine mehr oder weniger funktionierende Interaktion und Kommunikation zwischen blinden und sehenden Menschen ablaufen könnte. Somit muss die Konstitution des Raumes im perzeptiven Handeln durch Blinde und Sehende zunächst einzeln untersucht werden, um danach ihren ›Interaktionseffekt‹ als Wechselwirkung aus den räumlichen Orientierungen der einzelnen Beteiligten erkennen und verstehen zu können. Aber mit welchen Methoden kann man welche inhaltlichen Aussagen über die räumliche Orientierung Blinder und Sehender und über deren gemeinsame Interaktion und Kommunikation in der Wegauskunft treffen?
2. Der Standpunkt eines Blinden Wesentlich für diese Studie ist, dass ihr Autor selbst blind ist.1 Dies bedeutet, dass die Zutrittsbedingungen des Forschers zum Feld von vornherein durch ein großes Alltagswissen um seine Relevanzen geprägt sind. Detailreichtum und Mitspielkompetenz sind in diesem Fall zum einen als existenzielles Engagement und existenzieller Hintergrund (Hitzler 1988; Honer 1993) und zum anderen als Vorwissen einer immer schon vorgedeuteten Lebenswelt da. Um die phänomenale Fülle erlebter Erfahrung (Schütz 2004b) und die Dichte der Beschreibung (Geertz 1994) nutzen zu können, beginnt die Untersuchung als Einzelfallstudie. Sie erhebt den Anspruch, das Allgemeine auf eben besondere Weise zu repräsentieren, so dass das Allgemeine im Besonderen mitklingt und resoniert. Es wird somit eine allgemeine Grundstruktur typischer raumorientierender, interaktiver und kommunikativer Herausforderungen für Blinde skizziert, die in Interviews mit weiteren Blinden zum größten Teil verifiziert werden konnte. Um die Alltagserfahrungen des blinden Forschers aus dem phänomenalen Hintergrund wahrnehmenden Routinewissens in standardisierbare und überprüfbare Texte (vgl. Gross 1981) zu überführen, wurden ausführliche Selbstbeobachtungsprotokolle angefertigt. Dazu habe ich meine Wahrnehmungen und Eindrücke simultan zu ihrem Entstehen im Handlungsverlauf auf Kassette gesprochen. Diese akustische Methode hat den Vorteil, dem blinden Erfahren von Welt angemessen zu sein. Die subjektive Perspektive eines Blinden, in welcher das perzeptive Handeln als wichtigster Untersuchungsgegenstand herausragt, möchte ich nun rekonstruieren. Ich nenne sie im Anschluss an Gedanken von Alfred Schütz (Schütz/Luckmann 1979/1984), des Begründers der Mundanphä-
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204 | Siegfried Saerberg nomenologie, und des französischen Leibphänomenologen Maurice Merleau-Ponty (1984) den Wahrnehmungsstil eines Blinden. Sein Pendant bildet der sehende Wahrnehmungsstil. Zur ›Veranschaulichung‹ – metaphorisch korrekter müsste es wohl ›Veranhörbarung‹ oder ›Veranhörlichung‹ heißen – führe ich zunächst das Selbstprotokoll einer ›Begehung‹ des Kölner Hauptbahnhofes an. Es wurde mit einem Diktiergerät in der Hand während des Gehens aufgesprochen. »Ich habe also den Hauptbahnhof betreten und direkt dieses hallige Geräusch gehört, das Brummen des Zuges auf der rechten Seite, wo ich ausgestiegen bin, sodass man also schon genau wusste, wo links und rechts ist. […] Die Rolltreppe rollt nach unten. Den Stock halte ich nach vorne, die Stufe unter mir berührend. Ich stehe, halte mich nicht fest, den Stock in der rechten Hand, links das Diktiergerät. Ich höre schon, dass das Unten näher kommt, ich spüre, dass sich der Senkungswinkel der Treppe verändert, nun spüre ich am Stock den Widerstand der Rolltreppenkante, die ihr Ende bildet, und gehe herunter. So. Ich höre rechts eine Wand, jetzt öffnet sie sich. Ich höre rechts das Summen der Halle. Ich drehe mich um und gehe in diese Richtung mit pendelndem Stock vor mir her. Rechts gehen Leute vorbei, nah an mir zwei Frauen. Sprechen hinter mir, ein paar Leute vor mir, das Hallengeräusch. Ich gehe auf das Hallengeräusch zu, vor mir Stimmen. Rechts von mir auf einmal eine Öffnung mit Geräusch. Ich tippe mal, dass das ein Aufgang zu den Gleisen ist. Jemand spricht mit dem Handy, ich höre das Brummen einer Lok […]«. (Protokoll vom 8.6.2003, »Weg Kölner Hauptbahnhof«/1)
In der subjektiven Perspektive eines Blinden spielen die verschiedenen Sinnesfelder (Hören, Tasten, Riechen, Empfinden etc.) auf jeweils unterschiedliche Weise zusammen. Der Wahrnehmungsstil eines Blinden ist – im Unterschied zu demjenigen Sehender, wie wir in Kapitel 3 hören (sehen) werden – geprägt von einem hochgradig komplexen Ineinandergreifen verschiedener Sinnesfelder, in dem sich die Aufmerksamkeit des navigierenden Subjektes ständig anderen Elementen des wahrnehmbaren Raumes zuwendet. Die Gesamtheit dieser Navigation ist wesentlich am Nah und Fern der Raumorientierung ausgerichtet, daran, wo der Weg ›hier‹ zuerst entlangführt, um danach ›dorthin‹ zu gelangen. Der eigene Leib ist dabei der Ursprung des raumorientierenden Koordinatensystems, von ihm aus wird mit Hilfe eines grundlegenden Orientierungsschemas die Umwelt in Richtungen nach links/rechts, oben/unten und vorne/hinten gegliedert, bezogen auf das jeweilige Bezugssystem der jeweiligen räumlichen Umwelt, in die das Subjekt pragmatisch wirkend eingreifen kann: Das ›Hier‹ ist zunächst – als Verankerung in dem grundlegenden Bezugsschema dieser Umwelt – das Stehen des eigenen Leibes auf einem bestimmten Untergrund, dem auch feste Qualitäten zugeschrieben werden,
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wie z.B. der glatte steinhafte Boden des Bahnsteiges, das riffelige Metall der Rolltreppenstufe oder – in einer anderen Umwelt – auch der dumpf klingende Holzfußboden eines Zimmers, die glatten und hell klingenden Fliesen eines Balkons, der Asphalt einer Straße, ein Wegrand aus kleinen Steinchen, Lehm und Kräutern, eine Wiese etc. Deren Details ergeben sich auf Grund von apperzeptiven Schemata (Husserl 1972: § 83), das sind sowohl leiblich-körperliche als auch kognitive Interpretationsschemata der wahrnehmbaren Umwelt. Das ›Dort‹ des Raumes wird komponiert auf Grund von apperzeptiven Schemata des Geruchs, Luftzugs und taktiler Muster von Hand, Fuß und Langstock. Besonders wichtig sind apperzeptive Schemata des Hörraums wie Schallreflexion und Schalldämmung, Geräuschbahnung, Geräuschverdeckung und Geräuschverstärkung. Hierunter ragen einzelne Geräusche und Grundklänge hervor. Erstere, wie Stimmen, Schritte, Motorengeräusche, Lautsprecheransagen, Geschirrklappern etc., dienen der Personen- und Gegenstandserkennung, zur Identifizierung von Richtung und Entfernung im Raum. Auf dem Hintergrund einer Sphäre von teils gleichzeitig, teils sukzessiv Hörbarem, entsteht ein Koordinatennetz von räumlichen Relationen zwischen Geräuschen. Grundklänge entstehen als Summe allen geräuschhaften Vorkommens als Gesamtklang in einem Raum. Sie sind typisch und haben einen allgemeinen Charakter. Beispiele hierfür sind der mit je verschiedenem Hall gemischte Grundklang eines Bahnsteiges, einer Bahnhofshalle oder einer U-Bahnstation, der Grundklang einer Dorf-, Vorstadt- oder Innenstadtstraße oder von Plätzen der verschiedensten Art. Grundklänge bilden den akustischen Kern dessen, was die kognitiven topologischen Grundtypen (eben Bahnhof, Platz, Straße etc.) ausmacht: Sie deuten eine akustische Umwelt gemäß einem körperlich-leiblich sedimentierten Wissensvorrat. In Grundklängen und Geräuschen zeigen sich weiterhin zwei formale Grundmerkmale des akustischen Raums: seine Sphäralität und seine Gerichtetheit. Zum einen wird im Grundklang deutlich, dass der Raum des Hörens offen in alle Richtungen ist. Jede dieser Richtungen ist zur gleichen Zeit einhörbar, der Raum ist also – im Gegensatz zum visuellen Feld – als Sphäre simultan in allen seinen Raumlagen offen erschlossen. Zum anderen wird zugleich aber in Geräuschen deutlich, dass das Hörfeld hochgradig nach Richtungen differenziert ist, so dass mit großer Genauigkeit die Position eines Geräusches in ihm angegeben werden kann.
3. Die sehende Perspektive Im zweiten Schritt soll nun der sehende Wahrnehmungsstil als Kontrastfolie und als Interaktions- und Kommunikationspartner des Wahrnehmungsstiles eines Blinden dargestellt werden. Mithilfe des »incongruity-ex-
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206 | Siegfried Saerberg periments« einer Dunkelausstellung und nicht standardisierten Interviews mit Sehenden wird dazu zunächst die Perspektive Sehender in ihrem perzeptiven Handeln rekonstruiert.2 Um die Selbstverständlichkeit alltäglich routinisierter Handlungsabläufe zu erschüttern und die eminente Bedeutung optischer Wahrnehmung für die Fertigkeit der navigierend gehenden Fortbewegung (vgl. Ryave/ Schenkein 1974) im sehenden Wahrnehmungsstil zu verdeutlichen, möchte ich hier zunächst Beobachtungen aus Dunkelausstellungen3 anführen: Gehen ist im ›Normalfall‹ für Sehende eine einfache Angelegenheit, eine Fertigkeit im Sinne Schütz’. Sehende haben sie sozialisiert und vollziehen sie routinehaft und zumeist perfekt, ohne dass sie in den Griff des Bewusstseins käme. Über dieser routinehaften Perfektion wird die komplexe Bewegungs- und Wahrnehmungskoordination vergessen, die dieser Fertigkeit zugrunde liegt und gleichsam in jedem Schritt erneuert wird. In Dunkelausstellungen kommt dieser perfekte Lauf der Dinge gewissermaßen aus dem Tritt und gerät ins Stolpern: Hat man auch nur eine oder zwei Führungen als blinder Begleiter gemacht und hört man obendrein noch die auf Tonträger gespeicherten Gehgeräusche ab, so wird sofort ohrenfällig, mit welchem Lärm sich die Blinden auf Zeit fortbewegen: Schnarrend, schabend und reibend schleifen und schlurfen sie über den Boden. Grund für diese vermehrte Geräuschentwicklung ist das Faktum, dass niemand es wagt, den Fuß in gewohnter Weise so weit anzuheben, dass er im Vorwärtsschreiten den Boden überschwebend ihn nur kurz im abgebremsten Absenken berührt, um als Standfläche für die Weiterbewegung des anderen Fußes zu dienen. Im Gegensatz zu dieser gewohnten Weise der Bewegung bleibt hier im Dunklen die Bodenhaftung beider Füße also dauerhaft bestehen. Bereits hieraus lässt sich folgern, dass Sehen bei der Verortung des eigenen Körper-Leibes Sehender im umfassenden Bezugssystem räumlicher Umwelt eine immense Rolle spielt. Nur mit dem ungewohnten Langstock ausgerüstet und ohne den vorauseilenden Blick sind die Blinden auf Zeit auf das Tasten der Füße zurückgeworfen. Diese unsichere Lage ruft bei einigen Besuchern leichte Schwindelgefühle oder Engeangst hervor, die allerdings mit der Zeit fast verschwinden. Hier wird die Zentralität des eigenen Leibes als Ursprung der Raumorientierung für den ersten Moment der Dunkelheitserfahrung ebenso problematisch wie die Verankerung des eigenen Standpunktes in Bezug auf die Umwelt. Sehen ist also innerhalb des sehenden Wahrnehmungsstils in diese grundlegenden raumkonstituierenden Prozesse involviert. Zahlreiche Interviews mit Sehenden über ihr perzeptives Handeln bei Wegauskünften zeigen außerdem: Während der Wahrnehmungsstil eines Blinden eine Integration der raumkonstituierenden Vermögen verschiedener Sinne leistet, weist der sehende Wahrnehmungsstil eine wesentlich geringere Beteiligung verschiedener nicht-visueller Sinnesfelder auf. Er funk-
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tioniert vor allem auf Grund eines mehrdimensionalen Einsatzes des Sehfeldes, das als frontales, fokussierendes Blicken und als ›Registrieren‹ seitlich und in der Ferne den Raum erkundet und sichert. Sehen kann so z.B. im Unterschied zum Hören nicht einen Raum in seiner Gänze erfassen. Es ist zumeist auf etwas fokussiert, kann zwar noch peripher oder in der Tiefe grobe Sachverhalte oder Gegenstände erfassen, aber jenseits dessen ist Sehen immer auch Nicht-Sehen. Was zu weit hinten oder seitlich liegt, entrinnt dem Blick.
4. ›Nach-dem-Weg-Fragen‹ in sozialen Begegnungen zwischen einem Blinden und Sehenden Im Folgenden möchte ich die teils gelingenden, teils scheiternden Konstruktionsversuche einer Blinden und Sehenden gemeinsamen räumlichen Umwelt durch die Beteiligten hermeneutisch-interpretativ rekonstruieren (vgl. Soeffner 1989; Schroer 1997). Dazu werde ich als registrierendes Datenmaterial (vgl. Bergmann 1985) auf Tonkassetten aufgezeichnete soziale Begegnungen zwischen einem Blinden und Sehenden im Straßenverkehr, die den Zweck des ›Nach-dem-Weg-Fragens‹ mit dem Teilziel einer Wegauskunft verfolgten, zugrunde legen. Diese Tondokumente haben den Vorteil, dass sie das soziale Geschehen möglichst ablaufgetreu abbilden. Sie wurden vom blinden Forscher, der somit zum blinden Protagonisten der aufgezeichneten Situationen wurde, mittels eines Walkmans und eines kleinen Mikrofons aufgenommen. Die subjektiven monothetischen Perspektiven (vgl. Hitzler/Soeffner 1994) der Beteiligten (Blinder und Sehende) gehen als notwendige Konstruktionsbedingungen in dieses gemeinsame ›Spiel‹ ein.
4.1 Gesprächsinitiierung Soziale Begegnungen müssen räumlich-leiblich initiiert werden. Für den sehenden Wahrnehmungsstil kann sowohl den sozialethologischen Analysen Adam Kendons (1990) als auch den eigenen explorativen Interviews folgend konstatiert werden, dass für Sehende bei der Initiierung einer sozialen Begegnung vor allem visuelle Zeichen und Gesten, insbesondere der Blickaustausch, von Bedeutung sind. Im Gegensatz hierzu greift der blinde Protagonist auf folgende alternative Strategien der Gesprächsinitiierung zurück: •
Die Berührung mit der Hand bei unmittelbarer Nähe der potenziellen Gesprächspartner, wobei eine Berührung an einer in der Welt der Sehenden als unpassend empfundenen Stelle nicht immer auszuschließen ist.
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Das Ansprechen aus dem Fluss der Bewegung, bei dem sich die Interaktionspartner wie in einer Menschenmenge zumeist bei abgebremster Geschwindigkeit in die gleiche Richtung fortbewegen und die Kontaktaufnahme durch die geringe Entfernung und die gut hörbaren Körpergeräusche (Schritte, Kleider) erleichtert wird. Das ›In-den-Weg-Stellen‹, bei dem der blinde Protagonist versucht, sich potenziellen Gesprächspartnern oder Gesprächspartnerinnen so in den Weg zu stellen, dass er nicht mehr übersehen werden kann. Das Sprechen in die Richtung eines potenziellen Gesprächspartners, bei dem die ›Sprechrichtung‹ die Blickrichtung imitiert. Das andauernde Sprechen, welches akustische Aufmerksamkeit durch die Produktion von möglichst viel Sprachgeräusch hervorrufen will. Beispielhaft wäre hier eine Äußerung wie »Entschuldigung, ich such einen Papierkorb, hier soll irgendwo einer sein, das hat mir eben jemand gesagt, der hat aber nicht genau gesagt, wo der …«, die an die Stelle der eher üblichen kurzen Formel: »Entschuldigung?« tritt, die dann erst auf einen Gegenzug des Gesprächspartners wartet, ehe kurz der Wunsch angefügt wird. Die ›akustische Kontaktanzeige‹ in Form des Selbstgespräches, eine Äußerung, die keinen bestimmten Adressaten hat, sich vielmehr an jeden richtet, der sich angesprochen fühlt. Z.B. an einer Bushaltestelle wartend: »Ob das die Linie 9 ist?« oder: »Ich glaube, ich muss mal jemanden fragen.« Sie signalisiert die Bereitschaft zum Gespräch, überlässt dessen Initiierung aber dem potenziellen Gegenüber. Während im sehenden Wahrnehmungsstil die fokussierende, auf einen bestimmten punktuellen Raumausschnitt, den Blick des anderen, gerichtete Raumorientierung vorherrscht, wendet der blinde Akteur mit der ›akustischen Kontaktanzeige‹ eine in das sphäral offene Hörfeld sprechende Raumorientierung an, die so zur Gemeinsamkeit beider Wahrnehmungsstile wird.
4.2 Die interaktiv-kommunikative Konstruktion eines irgendwie gemeinsamen sozialen Raumes Die Schwierigkeiten bei der Konstruktion einer wie auch immer gemeinsamen räumlichen Umwelt lassen sich daran ablesen, dass Sehende bei dem Versuch, dem blinden Akteur eine Wegauskunft zu übermitteln, auf in diesem Fall inadäquate Routinen sehender Raumkonstruktion wie Zeigen, uneindeutige Richtungsangaben, visuell verankerte Landmarken und Wegbeschreibungen zurückgreifen. Zur Reparatur (vgl. Bergmann 1988/ 1989: 44ff.; Schegloff/Jefferson/Sacks 1977) dieser Inkongruenz müssen dann alternative Strategien der Konstruktion eines wie auch immer gemeinsamen Raumes ausgehandelt werden.
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4.2.1 Das Zeigen Es ist wohl ein typisches Charakteristikum der hier thematisierten sozialen Begegnung, dass Sehende dem Blinden eigentlich immer sofort den Weg zeigen wollen. Dies bedeutet, dass der blinde Protagonist die sprachliche Äußerung ›da‹ oder ›dort lang‹ oder ›hier entlang‹ hört. Das gestische Handeln seiner sehenden Gesprächspartner oder -partnerinnen – nämlich ihr mit Hand, Finger, Arm oder gar ganzem Körper ›In-den-Raum-hinausZeigen‹ – nützt ihm nichts, denn unmittelbar wahrnehmen kann er es nicht. Das Ziel des Zeigens im fernen oder näheren Raum bleibt so unverständlich. Folglich sind Übersetzungsversuche notwendig, die diese Formen annehmen können: •
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Kurios und auf wenig Beifall beim blinden Protagonisten stoßend ist es, wenn er von den Sehenden direkt angefasst und sein Körper in die gemeinte Richtung gedreht wird. Auch wenn die zeigende Person den Arm des Blinden ergreift und mit ihm und dem daran hängenden Stock in die gemeinte Richtung deutet, überschreitet sie gewiss die Grenzen körperlicher Intimität. Eine vom blinden Protagonisten gewählte Strategie besteht darin, mit der eigenen Hand wie ein langsam sich bewegender Uhrzeiger in den Raum hinauszuzeigen, um durch den bestätigenden oder ablehnenden Kommentar der sehenden Person die gemeinte Richtung zu erfassen.
4.2.2 Richtungsangaben Ein weites Feld für Irrungen und Wirrungen sind Richtungsangaben wie etwa ›links‹ oder ›rechts‹. Denn es bleibt stets fraglich, welches der Bezugspunkt ist, von dem aus diese gegeben werden: Ist es der Körper-Leib des Sehenden oder des Blinden? Verwechslungen sind notorisch, mit der Folge, dass sich eine Richtung in ihr Gegenteil verkehrt. Als besonders prekär hat sich die Richtung ›geradeaus‹ herausgestellt. Denn es scheint im sehenden Alltag selbstverständlich zu sein, was unter ›geradeaus‹ zu verstehen ist. Diese Selbstverständlichkeit drückt eine sehende Gesprächspartnerin wie folgt aus: »Es gibt nur ein Geradeaus, nicht!« (Situation Rathaus: Zeile 65)
Für den blinden Protagonisten aber ist fraglich, an welchem Teil seines Körpers oder an welcher seiner Körperhaltungen das Richtmaß ›geradeaus‹ anzulegen ist: an seiner Fußstellung, seiner Gesichtsrichtung oder seinen Schultern? Neben der Unbrauchbarkeit solcher Richtungsangaben für den Prota-
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210 | Siegfried Saerberg gonisten ist auffallend, wie hochgradig irritierend für Sehende oft diese Unbrauchbarkeit erscheint, was darauf hinweist, wie selbstverständlich solche alltäglichen räumlichen Orientierungen im Wahrnehmungsstil Sehender sind. Nur das, was für fraglos gegeben und selbstverständlich gehalten wird, also auf einen hochgradig anonymisierten sozialen Typ ›Jedermann‹ oder ›Jedefrau‹ anwendbar zu sein scheint, vermag solche Irritationen zu erzeugen. 4.2.3 Wegbeschreibende Äußerungen und Landmarken als Merkmale der Orientierung Weiterhin fehlt ein gemeinsames Wissen um besonders markante und relevante Orientierungshilfen innerhalb der gegenständlichen Umwelt. Beschreibungen der Art »Gehen Sie dort am Haus mit dem roten Dach entlang« sind ›offensichtlich‹ untauglich. Qualitäten akustischer (Hupen, Verkehr), taktueller (Kopfsteinpflaster, Hausverputz) oder topographischer (herauf, herunter) Art werden selten oder höchst verwirrend in Beschreibungen genutzt. So gehört es nicht zum für Sehende relevanten Wissen, ab wann ein Weg noch bergauf und ab wann er wieder bergab führt – wie in der Situation ›Rathaus‹, einer Begegnung zwischen E, dem blinden Protagonisten, und zwei Sehenden (I und O), deutlich wird: I: E: I: E: I: O: I: O: I:
Wenn Sie merken, dass Sie dann ziemlich steil wieder runtergehn. Mhm. Das, äh, da da dürfen Sie !nich! runtergehn also. Mhm. Oben auf der Höhe, da müssen Sie RECHTS. Nein, da geht’s. Zum Rathaus muss man doch noch mal son kleines Stückchen rechts? Ne, ersmal geht man äh, erst wenn man ganz oben auf der Höhe is, is man bei Schafen, dann geht man n BISSCHEN runter noch. Noch n bisschen vielleicht runter.
Es fehlt weniger die gemeinsame Sprache als vielmehr das geteilte Wissen, welche typischen Merkmale typischer Umwelten für bestimmte Handlungen und Zwecke relevant sind. 4.2.4 Herkunftsqualität und allgemeine topologische Muster als Minimalbedingungen der sozialen Konstruktion eines gemeinsamen Raumes Es gibt jedoch neben diesen Kommunikationserschwernissen auch Verbindendes. Hierzu gehört die Herkunftsqualität der Sprache und geteilte
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topologische Typen. Carl Bühler (1965) spricht von der Herkunftsqualität des Gesprochenen, die auf die Zeigefunktion der Sprache verweist und in sprachlichen Zeigwörtern wie ›hier‹, ›jetzt‹ und ›ich‹ ihren Ausdruck findet. Wer sagt: »Hier bin ich«, wird für den Zuhörer zu »Dort ist sie«. So wird jede Sprechende zu einem Ort der Orientierung für jeden Zuhörenden. Der sich in seiner Stimme und Geräuschen (Schritte, Kleider) räumlich offenbarende Körper der anderen wird so im Wahrnehmungsstil eines Blinden zum klar umrissenen Ort richtungsmäßiger Orientierung. Während Landmarken kaum zu Wegbeschreibungen genutzt werden, ist der implizite Rückgriff auf allgemeine topologische Typen, wie vor allem Straße, Bahnhof, Bahnsteig, Treppe und Unterführung von größter Wichtigkeit. Sie sind Elemente des Routinewissens, auf das der Wahrnehmungsstil eines Blinden bzw. derjenige Sehender als implizit arbeitendes Mittel der Verständigung zurückgreifen können. Zusammenfassend lässt sich festhalten: •
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Der blinde und der sehende Wahrnehmungsstil finden ›ein Gemeinsames‹ im Zeigfeld der Sprache, das den Raum für beide Seiten strukturiert. Das Zeigen ist als Mittel der Verständigung problematisch. Die Richtungsangabe ›geradeaus‹ erzeugt trennend eine scheinbare Selbstverständlichkeit, die innerhalb der Kommunikation repariert werden muss. Schließlich stützen ›allgemeine topologische Typen‹ im Hintergrund die Wegbeschreibung. Eine dem blinden Wahrnehmungsstil wirklich entsprechende Wegbeschreibung wird aufgrund des Fehlens gemeinsam nutzbarer Landmarken nicht erreicht.
Der Versuch, durch Zeigen, Richtungsangaben und Wegbeschreibungen einen erschlossenen Raum zu vermitteln, bleibt daher das Hauptproblem der sozialen Begegnung und führt oftmals dazu, dass der Blinde von dem Sehenden dort hingebracht wird, wohin er eigentlich selbstständig gehen wollte, oder eben mindestens ein Stück des Weges begleitet wird. Der zurückgelegte Weg tritt dabei als ›Königsweg‹ zur Reparatur dieses Problems in Form einer taktilen, vergegenständlichenden Hilfskonstruktion auf. Die Wegbeschreibung seitens der Sehenden von einem solchen durch Begleitung erreichten ›Hier‹ in das ›Dort‹ des Raumes lautet dann: »… und jetzt immer geradeaus«.
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5. Leibhaftige Erfahrung und kulturelles Wissen An dieser Stelle möchte ich in Bezug auf die Versuche der Konstruktion einer gemeinsamen räumlichen Umwelt von Blinden und Sehenden zwei Ergebnisse festhalten. Zum einen kann gesagt werden, dass es sozial konstruierte Interaktionsrituale und routinemäßige Handlungs- und Kommunikationspraktiken (Ethnomethoden) gibt, welche den hier in Frage stehenden Typ von Handlungen, die Wegauskünfte, im sehenden ›Normalfall‹ regeln. Hier finden sich gestische und mimische Verhaltensweisen wie Blicken, Zeigen oder Grußgesten. Auch verbal gebundene Formen wie Richtungsangaben oder Landmarken fallen in den Bereich sozialer Konstruktion des Raumes. Sie alle sind für den ›Normalfall‹ konstruiert, in dem sehende – allgemeiner könnte man sagen: nicht behinderte – Handlungspartner zusammenkommen. Es handelt sich hierbei um kulturell gestützte Praktiken und in sie eingelagerte, zumeist visuelle Wahrnehmungs- und Deutungsschemata, die von den Gesellschaftsmitgliedern im Verlauf ihrer Sozialisation internalisiert werden (Loew 2001). Auch sind sie soziohistorischem Wandel unterworfen, wie sich an der Herausbildung von perzeptiven Kulturen und Moden zeigt (vgl. Howes 1991; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik 1995). Zum anderen spielt aber auch der subjektiv im Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschehen konstituierte phänomenale Bereich eine Rolle, in dem diese Wahrnehmungsschemata in der subjektiven lebendigen Gegenwart leiblich-körperlich agierender Subjekte angewandt werden. Hier entspringen akustische und taktile Deutungsschemata sowohl leiblichkörperlicher Gegenwart miteinander kommunizierender Mitmenschen (Herkunftsqualität) als auch umweltlicher Strukturen (Geräusche, Grundklänge und taktile Bahnen). Sicherlich haben wir es hier nicht mit bloßen Abdrücken, Spiegelungen oder Echos reiner Wirklichkeit im subjektiven Erleben zu tun, vielmehr sind all diese Deutungen rückbezogen auf kognitiv-leibliche Deutungsschemata. Diese allerdings – das ist meine These – sind zwar zumeist im sozialen Wissensvorrat verankert, müssen dies aber nicht unbedingt sein: Sie können auch aus dem subjektiven Erfahrungsbestand heraus subjektiv kreiert werden und machen daher allererst ein vom ›normalen‹ Erfahrungshaushalt einer Gesellschaft abweichendes körper-leibliches Erleben möglich. Denn sonst wäre gar nicht zu erklären, warum es ein reichhaltiges und differenziertes Erleben blinder Menschen und behinderter Menschen überhaupt geben kann, das vom ›Normalfall‹ abweicht. Dieses eben speist sich aus dem Eigensinn ihrer jeweilig behinderten Leiblichkeit, die aber eben nicht als Mangel an den sozial vorgegebenen Erfahrungsschemata, als Defizit, sondern vielmehr als eigensinniger Erlebnis- und Erfahrungshaushalt, als Wahrnehmungsstil, zu verstehen ist. Was heißt dies nun in Bezug auf soziales Handeln? Nach Schütz sind
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sozial verankerte Wissens- und Erfahrungselemente ausdrücklich rückgebunden an die subjektive Auslegungspraxis leiblich-körperlich und kognitiv handelnder Subjekte und deren soziale Praxis inmitten von intersubjektiver Interaktion und Kommunikation. In der sozialen Begegnung werden der subjektiv perspektivische Eigensinn und die interaktiven und kommunikativen Elemente gemeinsamen sozialen Handelns miteinander abgeglichen. Schütz geht zunächst von der Situation des ›Normalfalles‹ aus: Die Generalthesis der Reziprozität – aufgeteilt in die Idealisierungen der »Kongruenz der Relevanzsysteme«4 und der »Austauschbarkeit der Standpunkte«5 – erzeugt hochgradig Normalität. Aufgrund dieser beiden Idealisierungen werden die faktisch vorhandenen Irreziprozitäten aufgrund der verschiedenen Biographien (selbst Zwillinge teilen nicht die gleiche zeitliche Abfolge von Erlebnissen) und der prinzipiell unterschiedlichen räumlichen Position (zwei Personen können nicht am gleichen Ort im Raum sein) der Handelnden in der ›normalen‹ sozialen Begegnung vernachlässigt. Gewissermaßen ›sieht man darüber hinweg‹. Da diesen Idealisierungen aber die Subjektivität und Perspektivität der einzelnen an der sozialen Begegnung Beteiligten zugrunde liegt, bietet die Generalthesis der Reziprozität ihrer allgemeinen Form wegen auch Raum für die Normalisierung des Nicht-Selbstverständlichen. Schütz gibt der Subjektivität so viel prinzipielle Freiheit, dass auch Ausnahmen vom ›Normalfall‹ als eigensinnig erlebende Subjektivitäten begriffen werden können, auf deren je subjektives Erleben wieder zurückgegangen werden kann: Reziprozität und demnach Normalität können in der sozialen Begegnung dynamisch hergestellt werden (Schütz/Luckmann 1979: 73-81), denn die soziale Begegnung ist in eine Wir-Beziehung eingelagert. Daher ist sie die grundlegende soziale Beziehung. Sie realisiert sich in der jeweiligen lebendigen Gegenwart der an der Kommunikation beteiligten Subjekte. Alle weiteren sozialen Beziehungen sowie die sozialen Typen überhaupt entspringen in dieser ursprünglichen Form einer unmittelbar wechselseitigen Wir-Beziehung. Subjektive Sinnkonstitution und soziale Konstruktion sind also hier ineinander verwoben (vgl. Srubar 1979; 1988). Ausdrucks- und Deutungsschemata entstehen in sozialen Begegnungen, dort leben sie weiter, und dort können sie auch verändert werden. Im Folgenden möchte ich solche Aushandlungsstrategien für eine von miteinander interagierenden und kommunizierenden Akteuren neu zu konstruierende ›Normalität‹ exemplarisch beschreiben.
6. Blindheitsinszenierung in dramatologischer Perspektive Aus der beschriebenen interaktiv-kommunikativen Problemlage erwächst eine eigene Dramaturgie der Blindheitsinszenierung in einer konkreten
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214 | Siegfried Saerberg Situation. Denn bei aller Differenz zwischen den Wahrnehmungsstilen eines Blinden und Sehender geht es im sozialen Handeln auch um die Präsentation eines Selbstbildes, eines klangbildlichen Selbstentwurfs, der dem Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Protagonisten allererst und zu guter Letzt ein humanes Gesicht und einen sozialen Grundklang verleiht. Meine Untersuchung zielt also auch auf die Beantwortung der Frage: »Was tut ein Mensch, um seine Weltsicht und (damit?) ein Bild seiner selbst […] für ihn selbst und für andere a) überhaupt fassbar zu machen, b) zu vermitteln, c) zu plausibilisieren, d) durchzusetzen?« (Hitzler 1996: 31) Der ›normale‹ Sehende neigt (wie aus Interviews mit Besuchern einer Dunkelausstellung hervorgeht) dazu, Blindheit im Straßenverkehr als potenzielle Hilfsbedürftigkeit zu typisieren und zu inszenieren. Blinde verstehen diese Zuschreibung als Dementierung eigener Regiemöglichkeiten (wie die Analyse von Beiträgen eines Kassettenmagazins Blinder ergibt) und entwerfen dagegen die Extreme von Stoizismus und Rebellion als Inszenierungsmöglichkeiten (vgl. Saerberg 2003). Dagegen möchte ich am vorliegenden Textmaterial einen eigenwilligen Weg der Inszenierung rekonstruieren. Hilfsbedürftigkeit und Kompetenz bilden dabei die sozial typisierten Vorgaben im Sinne von sowohl Freiheitsräume begrenzenden als auch diese allererst eröffnenden Handlungsbedingungen, auf deren Grundlage die Akteure eine je situative Inszenierung von Blindheit aushandeln. Diese entwickelt sich vor dem Hintergrund des moralischen Dilemmas des Helfens (wann ist Hilfe erwünscht, und muss man jede Hilfe dankbar entgegennehmen?) und der mit ihm verbundenen Möglichkeiten von Gefährdung, Bewahrung oder Demonstration blinder Kompetenz im Straßenverkehr. Sie geht einher mit dem Finden einer pragmatischen Lösung für die gemeinsame Raumkonstruktion in einem miteinander aushandelnden Spiel. Der blinde Protagonist legt dabei einen ganz bestimmten, in allen Situationen wiederfindbaren Stil an den Tag, nämlich den einer heiter-harmonischen zielgerichteten Zurückhaltung,6 der als seine grundlegende Handlungsstrategie sowohl zur Durchsetzung seines entworfenen Handlungsziels als auch seiner Selbstinszenierung wirkt. Die Wegauskunft nämlich misslingt regelmäßig und ›vorhersehbar‹ wegen der in Abschnitt 4 geschilderten Irreziprozitäten. Aber weit davon entfernt, dieses Scheitern als einen Abbruch möglicher Interaktion zu inszenieren, wird es vielmehr durch den blinden Akteur zum Grundstein seiner Blindheitsinszenierung herangezogen, da er hierin allererst auf die Irreziprozität zweier Perspektiven aufmerksam machen kann. Er führt seinen Gesprächspartnern und -partnerinnen aber nicht etwa einen hilfsbedürftigen blinden Behinderten vor Augen, sondern inszeniert sich als durch selbst nicht zu verantwortendes Unbill – ja vielleicht sogar durch Ungeschicklichkeit der Gesprächspartner – behinderten kompetenten Blinden. Sie hätten ihm ja auch eine adäquate Wegauskunft erteilen kön-
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nen. Die Auskunft gebenden Sehenden werden schließlich erst durch das Scheitern der Wegauskunft zu Begleitern und Helfern eines Blinden. Diese Blindheitsinszenierung möchte ich als Schritt weg von dem Management von Stigma und hin zur Normalisierung von Blindheit verstehen (vgl. Goffman 1975: 169): Blindheit ist nicht mehr per se stigmatisiert (vgl. Manzo 2004), sie ist vielmehr präsentierbar und inszenierbar als eine ›normale‹ soziale Identität. Sie ist lediglich so diskreditierbar, wie jeder Sehende auch diskreditierbar ist, durch widrige Umstände, in denen z.B. eine unnötige und unsachgemäße Hilfe aufgedrängt wird und eventuell zum Verlust eigener Körperbeherrschung führt. Das stereotype Stigma der Hilfsbedürftigkeit löst sich von einer übersituativen und festgelegten Zuordnung eines Sets von Merkmalen und Eigenschaften zu dem sozialen Typus Blinder ab und wandelt sich zu einer individualisierten Merkmalszuschreibung, die sich in je konkreten Situationen zwischen konkreten Individuen dramatologisch handelnd und interpretierend entweder realisiert oder eben nicht realisiert. So eröffnet sich ein individueller Gestaltungsspielraum durch die Aushandlungsprozesse in einer sozialen Begegnung, welche den allzu vereinfachenden subsumtionslogisch argumentierenden Rollen- und Labelingtheorien (vgl. etwa Scott 1969; Thimm 1985) entgegengesetzt werden kann. In den hier interpretierten Situationen wird durch den Abschied vom Selbstverständlichen und durch die Hinwendung zu einem eigenen Interaktionsmuster der Differenz von blind und sehend in einem ersten Schritt Rechnung getragen. Die Begleitung geht über die ›normale‹ Wegauskunft hinaus, ist somit dem Wahrnehmungsstil eines Blinden angemessener. Sie ist eine erste Ad-hoc-Lösung für in dieser konkreten Situation aufgetretene Interaktions- und Kommunikationsprobleme, die zwischen den beiden Parts der sozialen Begegnung ausgehandelt wird. Und sie ist eine erste in intersubjektivem Handeln liegende Objektivation zweier verschiedener subjektiver Wahrnehmungsstile. Dies meint aber nicht, dass dieser erste Schritt schon zum Ziel führt. Wir sind inmitten der Entwicklung einer Normalisierung von Blindheit, und d.h. hier der Normalisierung der Interaktion und Kommunikation zwischen einem Blinden und Sehenden in der sozialen Begegnung. Vielleicht wird sich im Verlauf solcher manchmal langwierigen Begleitungen einmal ein Kommunikationsmuster herausbilden, das das Problem der adäquaten Wegauskunft besser zu lösen vermag als die Begleitung. Nach und nach könnte sich dann so ein typisches Wissen darum herausbilden, was in dieser typischen Situation zwischen typischen Interaktionsteilnehmern als typische Handlungsweise angemessen sein kann. Dann wird sich die Gestaltungsfreiheit allerdings im immer fortlaufenden Prozess sozial typisierenden Handelns später wieder eingeschränkt haben, indem nämlich ein neuer Handlungstyp ›Wegauskunft‹ zusammen mit und für den blinden Straßenverkehrsteilnehmer generiert
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216 | Siegfried Saerberg werden wird, der sukzessive Wege und Methoden der – möglicherweise und hoffentlich auch gelingenderen – sozialen Konstruktion eines gemeinsamen Raumes zwischen Blinden und Sehenden vorgezeichnet haben wird. Somit wäre schließlich aus ersten Objektivationen bereits eine Institutionalisierung7 geworden, die – entstanden aus den Externalisierungen der jeweiligen Wahrnehmungsstile und der Typenbildung durch die Akteure innerhalb der sozialen Begegnungen – nun ihrerseits ein soziales Faktum geworden wäre, das wiederum als eine Rückwirkung und soziale Standardisierung nunmehr von den blinden und den sehenden Gesellschaftsmitgliedern internalisiert und sozialisiert werden könnte. Hier hätte sich dann die von Berger und Luckmann ausgearbeitete dialektische Kreisbewegung von Externalisierung/Typisierung, Objektivation/Institutionalisierung und Internalisierung/Sozialisation einmal geschlossen (vgl. Berger/Luckmann 1969; Knoblauch 2005).
7. Typisierung, Normalität und Differenz Um diesen Prozess von Typisierung und Normalisierung innerhalb der sozialen Begegnung auch theoretisch für die Disability Studies fruchtbar machen zu können, möchte ich nochmals auf Schütz zurückgreifen. Ich meine hier die erste Idealisierung des Alltages, welche eine Kongruenz der subjektiven Relevanzsysteme annimmt. Diese bezieht sich auf das Gesamt der subjektiv relevanten und sinnsetzenden, kognitiven oder verkörperten Verstehensleistungen, die für ein Subjekt zur Auslegung und handelnden Bewältigung seines Alltags ausschlaggebend sind. Diese Relevanzen unterscheiden sich zwar von Subjekt zu Subjekt nach Klassen- und Gruppenzugehörigkeit, Lebens- oder Wahrnehmungsstil, professionellen Standards oder sogar individuellen Vorlieben. Solche biographischen Unterschiede werden aber durch diese Idealisierung aufgehoben und den pragmatischen Zwecken einer alltäglichen sozialen Begegnung angepasst. ›Aufheben‹ heißt hier nicht, dass die biographischen Unterschiede unberücksichtigt blieben. Sie werden entweder für die pragmatischen Zwecke gemeinsamen Handelns ausgeklammert oder im Sinne des von G.H. Mead so genannten »taking the role of the other« mit ins Spiel gebracht. Solche Unterschiede werden dann innerhalb des Wissensvorrates einer Gesellschaft als soziale Typen sedimentiert, die das erwartbare typische Verhalten typischer Zeitgenossen in typischen Situationen typischen anderen gegenüber regeln. Denn Verstehen ist nach Schütz (2004a) immer Verstehen von Typischem, d.h. ein Verstehen mit Hilfe von übersituativen, in ihrem Horizont auf gemachte und noch zu machende Erfahrung bezogene Typen von transsituativer Allgemeinheit. Soziale Typen sind aufgrund ihrer Genese in der sozialen Begegnung
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sowohl an die unmittelbare Erfahrung des Subjekts gebunden als auch sozial vermittelt. Das subjektive Erleben der Sozialwelt spielt sich in einem Kontinuum ab, auf das sich die in Anonymität und Bestimmungsgrad unterschiedlichen Formen der Typik beziehen. Auf der einen Seite befinden sich die lebendigen, unmittelbaren und wechselseitigen Wir-Beziehungen sozialer Begegnungen mit ihren hochgradig bestimmten und nicht anonymen Personaltypen, wie etwa mein stark sehbehinderter Freund Thomas. Ungefähr in der Mitte liegen die bereits weniger bestimmten und stärker anonymisierten Funktionärstypen, wie die für die Ausstellung und Verlängerung des Schwerbehindertenausweises zuständige Sachbearbeiterin im Landschaftsverband. Hier steht die Anonymität sozialer Abläufe bereits im Vordergrund. Am anderen Ende befinden sich die hochgradig anonymisierten und schwer zu bestimmenden Typen von Kollektiva, wie die Weltgesellschaft aller Behinderten dieser Erde. Typen lassen sich mehr oder weniger, zum Teil aber auch gar nicht, in lebendige Wir-Beziehungen zurückführen. In sozialen Begegnungen werden soziale Typen generiert, und umgekehrt nehmen in solchen Typen sedimentierte Elemente des sozialen Wissensvorrats auch Einfluss auf diese Begegnungen. Man hat eine Vorstellung von dem Typ ›Blinder‹, bevor man vielleicht jemals einem Repräsentanten dieses Typus einen Weg beschrieben hat oder sich mit ihm unterhalten konnte. Die Ergebnisse dieser Untersuchung lassen sich nun also erneut und präziser vor dem Hintergrund der Schütz’schen Überlegungen wie folgt formulieren: Das typische Wissen Sehender über Blinde zeigt sich hier an bestimmten Handlungspraktiken wie dem Zeigen, der Verwendung von Landmarken und Richtungsangaben. Das bedeutet, dass dieses Typenwissen auf hochgradig anonyme und unbestimmte, am ›normalen Erwachsenen‹, einem ›Jedermann‹, einer ›Jedefrau‹ orientierte Typen zurückgreift. Es hat also keinen den wirklichen Herausforderungen innerhalb einer sozialen Begegnung zwischen Blinden und Sehenden angemessenen Inhalt. Eigentlich liegt damit überhaupt kein bestimmter sozialer Typus ›Blinder im Straßenverkehr‹ vor. So wird zunächst durch die Unangemessenheit der Interaktion und Kommunikation Behinderung sozial produziert. Hier ist also endlich der soziale Ort gefunden, an dem ein echtes Defizit nachweisbar wird. Und zwar sind nicht Blinde oder allgemein Behinderte defizitär, sondern der soziale Typenhaushalt ist es. Ja, mehr noch: »Normale« Mitglieder der Gesellschaft werden gerade dadurch erst zu Nicht-Behinderten, dass der sozial sedimentierte Typenhaushalt für sie und die Probleme, die im Umgang mit ihnen zwangsläufig entstehen, allererst verbindliche Handlungsleitlinien vorgibt. Das soziale Modell von Behinderung lässt sich also an dieser Stelle kultursoziologisch bzw. – präziser noch – wissens- und körpersoziologisch fundieren. Allerdings kann im Fortgang der konkreten Situation auch weiteres,
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218 | Siegfried Saerberg neues Typenwissen generiert werden. Und zwar dann, wenn auf die bestimmten, dem Wahrnehmungsstil eines Blinden immanenten Bedürfnisse eingegangen wird. Wegauskünfte bergen also auch die Möglichkeit in sich, durchaus eine ›Enthinderung‹ erzeugen zu können. Es wird dann ein neuer, bestimmterer Typus ›Blinde im Straßenverkehr‹ und ›Wegauskünfte für Blinde im Straßenverkehr‹ entwickelt. Der hochgradig anonyme Typus ›Jedermann‹ und ›Jedefrau‹ ist damit einem weniger anonymen und bestimmteren Typus gewichen.
8. Normalität und Differenz in wissenssoziologischer Perspektive Carol Thomas (1999: 101ff.) hat gezeigt, dass innerhalb der Disability Studies das Thema von Normalität, Differenz und Identität anhaltend kontrovers diskutiert wird. Auf der einen Seite steht eine eher essenzialistische Position, die etwa von Jenny Morris (1991) und Susan Wendell (1996) vertreten wird. Sie geht von einem primär biologisch bestimmten Körper aus, dem dann kulturelle Bedeutungen zugeschrieben werden. Morris betont die differente körperliche und kognitive Erfahrung Behinderter in Abgrenzung gegen die Normalität des Durchschnitts (Morris: 17) als positives Merkmal und nicht als negative Abweichung oder Defizit. Wendell diskutiert differente Subjektivität als mehrfach-überlappende Differenzen (Wendell: 70). Einen besonderen Zugang zu Behinderung biete deren körperliche und kognitive Erfahrung, woraus ein diesbezüglicher »epistemic advantage« Behinderter entspringe (ebd.: 5). Auf der anderen Seite findet sich die poststrukturalistisch-dekonstruktivistische Position, die etwa von Margrit Shildrick und Janet Price (1996) vertreten wird. Sie betrachten auch den Körper und leibliche Erfahrung als vollständiges Produkt von Diskursen. Es gebe keine unmittelbare stabile Erfahrung von Körperlichkeit und auch keinen ›epistemic advantage‹ Behinderter in der Erfahrung von Behinderung. Identität sei provisorisch und wandelbar, und empfohlen wird daher die Präsentation einer »transgressive resistance« (Shildrick/Price: 107). Diese ungelösten Widersprüche werden auch innerhalb der Disability Studies realisiert (Davis 2001; Shakespeare/Watson 2001; Barnes/Mercer 2002: 140f.). So wird gefragt, worin bei aller Differenz noch die Einheit und der Zusammenhang von Behinderten und Behinderung zu finden sein kann. Darüber hinaus ist auf der einen Seite unklar, wer was über welche Behinderungsgruppe aussagen kann, auf der anderen Seite aber wird Behinderung als ein tendenziell universelles Phänomen betrachtet. So schreibt Rosemary Garland-Thompson: »Behinderung im weitesten Sinne ist vielleicht die grundlegendste menschliche Erfahrung; jede Familie ist davon berührt, und wenn wir lange genug leben, wird jeder von uns einmal
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behindert sein.« (Garland-Thompson 2003: 421) Obwohl die Disability Studies das soziale Modell von Behinderung betonen, sind sie meines Erachtens auf theoretischer Ebene in eine Zwickmühle geraten: Hier eine emanzipatorisch motivierte Überbetonung entweder sozioökonomischer oder kultureller Faktoren – dort eine diskurskritische, differenzbetonende Auflösung aller Intersubjektivität und Sozialität. Darin bleibt trotz einer partiellen Zuwendung zu phänomenologischen Studien über das subjektive Erleben von Behinderung der Status von Subjektivität im Verhältnis zu sozioökonomischen und kulturellen Faktoren ungeklärt, wie u.a. an dem noch nicht aufgelösten Widerspruch zwischen impairment und disability ablesbar wird (vgl. Hughes/Paterson 1997; Crow 1996). Auch die Kontroverse um Normalität, Identität und Differenz innerhalb der Disability Studies lässt sich durch die Integration der Aspekte Wahrnehmungsstil, soziale Typik und Sozialisation von kulturell standardisierten kognitiven Mustern in ein differenzierteres Konzept von Normalität aufheben. Eine materialgesättigte Reflexion auf mögliche Gemeinsamkeiten von Intersubjektivität und Sozialität zwischen Behinderten und NichtBehinderten im Hinblick auf deren theoretisch allgemeine und interaktiv besondere Umstände vermag sowohl Differenz als auch Normalität theoretisch zu fassen und miteinander zu vermitteln. Dies ist meiner Ansicht nach bedeutsam, um die von den Disability Studies entwickelten Konzeptionen einer positiv zu bewertenden Differenz und der sozialen Konstruiertheit von Behinderung begründen zu können. Im Begriff der jeweiligen Wahrnehmungsstile ist meines Erachtens zum einen eine materiale Basis für die Identität von jeweiligen Formen der Beziehung zur Welt gefunden, worin der Materialismus der englischen Schule der Disability Studies (etwa Shakespeare/Watson 2002) aufhebbar ist. Zum anderen bewahrt der Begriff des sozialen Handelns in typischem Wissen um den je anderen Mitmenschen und sein typisches Handeln in typischen Situationen und des in perzeptiven Handlungen hochgradig routinisierten Alltagswissens die soziokulturelle Prägung im Sinne eines kulturellen Modells von Behinderung (Waldschmidt 2005). Somit sind die Soziologie von Behinderung und die Disability Studies nicht mehr lediglich von der allgemeinen Soziologie abgetrennte Spezialdisziplinen. Vielmehr sind sie durch die mikrosoziologische Detailanalyse sozialen Handelns und dessen soziokultureller Prägung in einer allgemeinen Wissens- und Körpersoziologie fundiert. Sie rekonstruieren daher nicht bloß die »soziale Wirklichkeit von Menschen mit Behinderungen« (Cloerkes 1997: 3), sondern betrachten diese Wirklichkeit als prozesshaft in sozialem Handeln zwischen Gesellschaftsmitgliedern differenter sozialer Typen erzeugt und im sozialen Wissenshaushalt sedimentiert. Hier bilden ›behinderte‹ und ›nicht behinderte‹ Menschen nur ein Beispiel unter vielen.
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Anmerkungen 1
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Dieser Beitrag basiert auf der vom Autor 2005 an der Universität Dortmund vorgelegten Dissertation, die 2006 unter dem Titel Geradeaus ist einfach immer geradeaus erschienen ist. Über die Beschreibung und Rekonstruktion des subjektiv sinnhaften Handlungsentwurfs, in den Wahrnehmung als ein Teil einbezogen ist, soll der Zugang zu einem Bereich auferlegter sinnlicher Struktur gefunden werden, der dem subjektiven Entwurf vorausgeht, aber in ihm als perzeptive Komponente aufgenommen, mitverarbeitet und angeeignet wird. Wahrnehmung soll demnach eine bestimmte Art des Handelns sein, nämlich wahrnehmendes Handeln, das wesentlich von der Wahrnehmung geformt ist und in dessen Handlungsentwurf Wahrnehmung auch routinehaft mitberücksichtigt wird. Seit 1988 präsentiert der »Dialog im Dunkeln« mit immensem Erfolg für sehende Besucher die Erlebniswelt Blinder in völliger Dunkelheit. Andere Veranstalter, wie etwa der Verein Blinde und Kunst seit 1993 oder die blindekuh, ein Restaurant im Dunkeln (seit 1999), variieren dieses Grundkonzept. »Ich und er lernen es als gegeben hinzunehmen, dass Unterschiede der Auffassung und Auslegung, die sich aus der Verschiedenheit meiner und seiner biographischen Situation ergeben […], für unsere gegenwärtigen praktischen Zwecke irrelevant sind.« (Schütz/Luckmann 1979: 74) »Wäre ich dort, wo er jetzt ist, würde ich die Dinge in gleicher Perspektive, Distanz, Reichweite erfahren wie er.« (Schütz/Luckmann 1979: 74) Was keinesfalls heißen soll, dass diese Strategie eines Blinden auch als beste aller Strategien empfohlen werden soll. Institution ist hier nicht im Sinne einer ›totalen Institution‹ gemeint, wie dieser Begriff u.a. für Behindertenheime im Anschluss an Goffman benutzt wird. Vielmehr meint Institution ganz allgemein alle sozialen Einrichtungen, Übereinkünfte und Verabredungen wie etwa Normen, Rollen und Handlungszusammenhänge, die eine allgemein sozial verbindliche Geltung haben und deren Durchsetzung mit sozialen Sanktionen verbunden ist.
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»Sind meine ersten Eier, die ich koche, ja« | 225
»Sind meine ersten Eier, die ich koche, ja«. Zur interaktiven Konstruktion von Selbstbestimmung in der Persönlichen Assistenz körperbehinderter Menschen Karsten Altenschmidt und Lakshmi Kotsch
Der Anspruch, die Selbstbestimmung von körperbehinderten Menschen zu befördern, ist Kernstück eines von der emanzipatorischen Behindertenbewegung entwickelten Unterstützungskonzeptes – dem Modell der Persönlichen Assistenz. Die z.B. angesichts »totaler Institutionen« (vgl. Goffman 1972) der Behindertenhilfe klassische Machtlosigkeit von Menschen, die auf umfassende Unterstützung angewiesen sind, soll dabei durch eine nunmehr weitgehende Kontrolle über die eigenen Belange ersetzt werden. Das Modell der Persönlichen Assistenz sieht vor, dass behinderten Assistenznehmerinnen1 Assistentinnen zur Seite gestellt werden, die Tätigkeiten nach ihren Vorgaben ausführen. Entsprechend beabsichtigt das Assistenzmodell in seinem Kern eine massive Abkehr von bisher in professionellen Hilfesituationen erfahrenen Machtverhältnissen. In diesem Beitrag fragen wir nach der typischen Ordnung, die die Interaktion zwischen körperbehinderten Menschen und ihren Assistentinnen regelt. Dabei steht das Konzept der Selbstbestimmung behinderter Menschen bzw. dessen interaktive Verwirklichung im Mittelpunkt unseres Interesses. Wie verwirklichen die Beteiligten interaktiv die Vorgabe ›Selbstbestimmung der Assistenznehmerin‹, und woran scheitern sie im Zweifelsfall? Was bedeutet Selbstbestimmung der Assistenznehmerin handlungspraktisch? Um diesen Fragen nachzugehen, greifen wir im Wesentlichen auf Überlegungen des amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1922-1982) und dessen Ausführungen zur »Interaktionsordnung« (Goffman 1994) zurück (Kap. 1.), bevor wir das Modell der Persönlichen Assistenz vor dem Hintergrund seiner geschichtlichen Entwicklung und in Ab-
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226 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch grenzung zu herkömmlichen Formen der Behindertenhilfe bzw. von ambulanter Pflege vorstellen (Kap. 2.). Daran anschließend diskutieren wir die Implikationen, die sich aus diesem Modell für die assistierende Interaktion ergeben (Kap. 3.) und analysieren dann eine Interaktionssequenz, die wir videografisch aufgezeichnet haben (Kap. 4.).2
1. Die Ordnung der Interaktion Was immer geschieht, wenn sich zwei (oder mehr) Personen in einem gemeinsamen Aktions- und Wahrnehmungsraum befinden und ihre Handlungen wechselseitig aneinander orientieren bzw. aufeinander ausrichten, wird in der Soziologie gemeinhin als ›Interaktion‹ gefasst. Solche Interaktionen entstehen nicht im luftleeren Raum und schon gar nicht voraussetzungslos: Von der Verrichtung der täglichen Hausarbeit bis zur Diskussion abstrakter Probleme, vom Treffen zwischen Fremden bis zum vertrauten Stelldichein – jedem Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Personen sind gesellschaftliche Strukturen vorgängig, es greifen Regeln und Mechanismen, nach denen sich die soziale Situation ordnet. Diese soziale Ordnung kann nun weder als gesellschaftlich determiniert noch als alleiniges Resultat der Strategien und Handlungen der beteiligten Personen hinreichend begriffen werden; sie hat vielmehr Vorgängiges und Ausgehandeltes, sie überschreitet die konkrete Situation und die beteiligten Personen, obwohl sie nur hier aktuell werden kann. Insofern gleicht diese »Interaktionsordnung« (Goffman 1994: 55) einem Satz von pragmatisch ausgelegten Verkehrs- oder Spielregeln, die in einer Situation Geltung haben (oder auch nicht), die von unterschiedlicher Wichtigkeit sind und die erkannt oder unerkannt gebrochen werden können – ohne die aber jeder Versuch, die Beteiligten zu koordinieren, fehlschlagen muss.3 Während Interaktionsstrukturen also auf der einen Seite der jeweils aktuellen Situation vorgängig sind, werden sie auf der anderen Seite durch die fortwährend erbrachte Leistung der Interaktionspartnerinnen in den konkreten Situationen stets auch aufs Neue entweder aufrechterhalten bzw. abgeändert oder neu hergestellt (vgl. Garfinkel 1967). Durch die einer Interaktion vorgängigen Regeln werden die Handlungen situativ berechenbar, überschaubar und erwartbar. Die Unterstellung jeweils geltender Regeln ermöglicht es, Handlungen koordiniert auszuführen, um anfallende Probleme oder Aufgaben zu bewältigen. Interaktionen sind somit von wechselseitigen Erwartungen an das jeweilige Gegenüber und von einer Orientierung an den Erwartungen der jeweils anderen geprägt. Was die Beteiligten in einer gegebenen Situation von ihrem jeweiligen Gegenüber erwarten bzw. dieses von ihnen, hängt, neben anderem, insbesondere vom jeweils gültigen »Rahmen« (vgl. Goffman 1980) ab. Rahmen im Sinne Goffmans4 sind »Definitionen einer Situation« (ebd.:
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»Sind meine ersten Eier, die ich koche, ja« | 227
19). Sie geben Antwort auf die Fragen: »Was geht hier eigentlich vor?« (ebd.: 16) und: »Was mach ich da jetzt wieder draus?« (Hitzler 1992: 451). Solche Antworten finden die Beteiligten vorwiegend auf der Grundlage vergangener Interaktionserfahrungen. Dementsprechend wird der Rahmen individuell konstruiert, indem bestimmte Merkmale der aktuellen Situation mit den bereits erfahrenen Interaktionen abgeglichen und als typisch angesehen werden. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Typologie werden Situationen und Handlungen sinnhaft eingeordnet und verstanden. Sie bildet den notwendigen Kontext, dessen Handlungen oder Äußerungen bedürfen, um verständlich zu werden. (Äußerungs-)Handlungen führen entsprechende »Signale ihrer Interpretierbarkeit« (Srubar 1994: 100) mit sich, mit denen sie auf den jeweiligen Rahmen verweisen. In diesem Sinne sind die Beteiligten in sozialen Situationen unentwegt damit konfrontiert, »Probleme zu bewältigen, Antworten zu suchen, ja Rätsel zu lösen« (Hitzler 1992: 451); ›der‹ jeweils gültige Rahmen muss erkannt bzw. zwischen den Beteiligten ausgehandelt werden. Handlungen und Rahmen zusammen genommen liefern Personen somit die »soziale Information« (Goffman 1974: 396ff.), die sie benötigen, um sich in sozialen Situationen orientieren zu können (vgl. Srubar 1994). Dabei unterscheiden sich Interaktionssituationen u.a. mit Blick auf das jeweils geltende Set von Regeln und ihre Verbindlichkeit. Die Typik, die sie aufweisen, ist erwart- und rekonstruierbar: Ungeachtet dessen, dass solche Vorstellungen durchaus variieren, kann sich jeder eine typische Gerichtsverhandlung vorstellen, ein typisches romantisches Abendessen, eine typische Bahnfahrt unter Fremden oder einen typischen Aufenthalt im Krankenhaus. Letzterer ist typischerweise neben vielen anderen Elementen (wie z.B. einer sterilen Räumlichkeit und Angst einflößenden Apparaturen) von einer spezifischen Interaktionsstruktur zwischen der kranken Person und der Pflegekraft geprägt, die auch für andere Hilfeleistungssituationen im professionellen Kontext typisch zu sein scheint: Die Pflegekraft verrichtet z.B. an der zu pflegenden Person in routinierter Weise bestimmte Tätigkeiten. Welche Tätigkeiten dies im Einzelnen sind oder sein sollen und auf welche Weise sie ausgeführt werden, definiert gemeinhin die pflegende Person, die kraft professioneller Kompetenz (und ihrer Rolle) hierzu befugt und befähigt ist bzw. zu sein scheint. Diese Definitionsmacht der Pflegekraft kommt auch in ihrer Möglichkeit zum Ausdruck, Handlungen, nach denen die Pflegeempfängerin verlangt, gerade nicht auszuführen. Zumindest mit Pflegesituationen im institutionellen Kontext sind deshalb auf Seiten der Pflegeempfängerin typischerweise Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins verbunden. Solchen Interaktionsstrukturen, in denen die Erfahrung der eigenen Ohnmacht zum alltäglichen Erlebnis wird, sind oder waren behinderte Menschen in Institutionen oft über viele Jahre hinweg oder sogar ein Leben lang ausgesetzt.
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2. Persönliche Assistenz – Entwicklung und Abgrenzung eines Unterstützungskonzepts Bei dem Modell der Persönlichen Assistenz handelt es sich um ein Unterstützungskonzept, das sich explizit gegen diese in der traditionellen Behindertenhilfe erfahrene Ohnmacht, Entmündigung und Fremdbestimmung behinderter Menschen durch professionelle Pflegekräfte richtet. Insofern ist mit seiner Konzeption die Hoffnung auf eine radikale Veränderung bisher üblicher Interaktions- und Machtstrukturen zwischen der Hilfe empfangenden und der Hilfe leistenden Person verbunden. Im Vergleich mit herkömmlichen Unterstützungsformen ist diese im Konzept vorgesehene Umkehr der Machtverhältnisse einigermaßen spektakulär.
2.1 Geschichtlicher Hintergrund der Persönlichen Assistenz Hervorgegangen ist das Konzept der Persönlichen Assistenz aus der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, die sich gegen die vielfältigen Diskriminierungen von behinderten Menschen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen wandte und die vorrangig von körperbehinderten und sinnesbeeinträchtigten Menschen initiiert wurde (vgl. Bröhling 2002; Franz 2002; Kaas 2002: 25ff.; Klee 1981; Köbsell/Waldschmidt 2006; Schubert 1995).5 Das Konzept der Persönlichen Assistenz stand dabei von Anfang an als Idee im Mittelpunkt der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, die ihre Wurzeln wiederum in der bundesdeutschen »Behinderten- und Krüppelbewegung« (Steiner 1999) findet. Außerdem erhielt sie Impulse aus der US-amerikanischen Independent-Living-Bewegung (vgl. z.B. Bröhling 2002; Waldschmidt 2004; Zander 2004)6, als deren Entstehungsjahr in der Regel das Jahr 1962 angeführt wird (vgl. Miles-Paul 1992): In diesem Jahr erkämpfte ein schwer körperbehinderter junger Mann die Zulassung »zur University of California (UC) in Berkeley, obwohl der Dekan dies mit den Worten ›wir haben es mit Krüppeln versucht und es hat nicht funktioniert‹ erst zu verhindern versucht hatte« (ebd.: 29). Aus der Zusammenarbeit mit anderen, dem Beispiel des Studenten nachfolgenden körperbehinderten Menschen entstand das erste Center for Independent Living (CIL). Dort wurden Listen von behindertengerechten Wohnungen geführt, Helferinnen vermittelt sowie Beratungen und Fahrdienste angeboten (vgl. ebd.; Bröhling 2002; Theunissen 2001). Schließlich entstanden überall in den USA Centers for Independent Living.7 So gelang es, diskriminierende Strukturen zunächst in Frage zu stellen und im Ansatz abzubauen. Den Ausgangspunkt der bundesdeutschen Behindertenbewegung datiert Bröhling (2002) auf das Jahr 1968, als mit der Gründung des Hamburger Club 68 zum ersten Mal behinderte Menschen begannen, sich selbst für ihre Interessen und Belange zu organisieren.8 Mit diversen Aktionen wandten sich auch hier verschiedene Behinderteninitiativen und »Krüp-
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pelgruppen« zunächst gegen die alltägliche und verbreitete Diskriminierung behinderter Menschen; so zum Beispiel gegen die zahlreichen architektonischen Barrieren (vgl. ebd.). Für Schlagzeilen sorgten damals u.a. die »Frankfurter Straßenbahnblockade« 1974, Demonstrationen gegen das Frankfurter »Behindertenurteil« 19809 oder Aktionen gegen das UNOJahr der Behinderten 1981 (vgl. ebd.; Mobile 2001a/b). Anfang der 80er Jahre wurde schließlich mit dem Aufbau selbst organisierter ambulanter Dienste für behinderte Menschen begonnen (Bröhling 2002) und somit ein wesentlicher Schritt in Richtung einer Veränderung der als diskriminierend empfundenen Interaktionsstrukturen getan. Eine solche Entwicklung war nur möglich vor dem Hintergrund eines sich ändernden Verständnisses von Behinderung. Der herkömmlichen Sichtweise, Behinderung in erster Linie als Funktionseinschränkung eines menschlichen Organismus zu begreifen, wurde nun eine Auffassung entgegengehalten, die die sozialen Aspekte des Phänomens in den Vordergrund rückte (vgl. z.B. Bröhling 2002). Die Schwierigkeiten behinderter Menschen resultieren danach eben nicht aus ihrer jeweiligen körperlichen Funktionseinschränkung, sondern sind vorrangig durch soziale Hindernisse bedingt, die es ihnen erschweren oder verunmöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Behinderung wird dementsprechend als soziale Konstruktion begriffen (vgl. Bifos 2006). Eine Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen ist deshalb im Sinne des sozialen Modells von Behinderung notwendig, damit behinderte Menschen als voll- und gleichwertige Personen am gesellschaftlichen Leben partizipieren können (vgl. Waldschmidt 2003). Gerade der relativ junge Wissenschaftszweig der Disability Studies soll den erforderlichen »Perspektivwechsel zur Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen« (Bifos 2006) ermöglichen, und zwar u.a. indem behinderte Menschen selbst Wissenschaft betreiben und sich somit aus dem Status des »zu beforschenden Objektes« (ebd.) herausheben. Das Modell der Persönlichen Assistenz wurde nun gerade mit der Absicht konzipiert, der sozialen Behinderung entgegenzuwirken und stattdessen die Integration behinderter Menschen zu befördern, indem »notwendige Hilfe weitestgehend unabhängig von Institutionen und deren fremdbestimmenden Zwängen und von fremdbestimmender, entmündigender Hilfe durch die so genannte Fachlichkeit von Helferinnen organisiert wird« (Steiner 1999).
2.2 Institutionelle Behindertenhilfe und ambulante Pflege Spektakulär war die Forderung nach einer selbstbestimmten Form der Hilfenahme insbesondere vor dem Hintergrund eines vor rund dreißig Jahren noch üblichen Verfahrens, behinderte Menschen in Altenpflegeheimen, z.B. als Zimmergenossinnen von altersdementen Personen, ›unterzubrin-
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230 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch gen‹ (vgl. Klee 1981). Dabei wirkte sich Fremdbestimmung in all den Bereichen, die viele Menschen zu ihrer Privat- oder Intimsphäre zählen durften, ganz alltäglich, dafür aber massiv, aus. Ein Beispiel hierfür ist die Kontrolle der ein- und ausgehenden Post durch die Heimleitung (vgl. ebd.). Aber auch heute noch wirken in Institutionen der Behindertenhilfe »formale Strukturen und Sachzwänge, die den Behinderten übergestülpt werden und sie fremdbestimmen« (ForseA 2001: 24), einem selbst bestimmten Leben ihrer Bewohnerinnen entgegen. Zu solchen Strukturen zählen zum Beispiel festgelegte Essens-, Aufsteh- und Zubettgehzeiten. Mahlzeiten werden häufig in der Großküche gekocht, und die persönliche Wäsche wird in der zentralen Wäscherei gewaschen (vgl. ForseA 2001; Mobile 2001a/b). Der gesamte Tagesablauf der Bewohnerinnen ist in umfangreichem Maße reglementiert. Die Ausbildung einer Identität als selbstbestimmte Person scheint in solchen Einrichtungen, die sich mit Goffman als »totale Institutionen« (vgl. Goffman 1972: 15ff.) bezeichnen lassen, geradezu unmöglich.10 Zu den Merkmalen einer »totalen Institution« zählt nach Goffman zum Beispiel, dass der gesamte Tagesablauf für die Insassen bzw. Bewohnerinnen »exakt geplant« (ebd.: 17) ist und dass diese den gesamten Tag in »unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen« (ebd.) verbringen, »wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen« (ebd.). Im Rahmen derartiger Institutionen sind Interaktionsstrukturen also weitgehend festgelegt; das Heimpersonal übt bereits insofern Macht über die Bewohnerinnen aus, als es sie in tagtäglich wiederkehrenden Interaktionen zu einer Unterordnung unter diese Strukturen bewegt.11 Denn schon aufgrund ihrer körperlichen Behinderung können sich die Bewohnerinnen hiergegen kaum zur Wehr setzen. Allerdings haben auch Menschen, die in keiner totalen Institution im Sinne Goffmans, sondern in einer eigenen Wohnung wohnen und Hilfeleistungen über herkömmliche Sozialstationen erhalten, mit Bedingungen zu tun, die ihre Selbstbestimmtheit über ein wünschenswertes Maß hinausgehend beeinträchtigen. Die über die Pflegeversicherung erbrachten Leistungen sind beispielsweise an bestimmte Zeitvorgaben gebunden und auf bestimmte Tätigkeiten eingegrenzt. Praktisch bedeutet dies, dass Pflegekräfte in bestimmten Zeitabständen bei der unterstützungsbedürftigen Person vorbeisehen und in einem relativ abgesteckten Zeitrahmen vorher definierte Tätigkeiten erbringen. Die vereinbarten Zeiten können jedoch von den Pflegekräften oft nicht eingehalten werden, und häufig klagen Klientinnen über ständig wechselndes Personal. Die individuellen Wünsche von Leistungsempfängerinnen werden gegenwärtig also bei der Pflegeplanung und -durchführung noch zu wenig berücksichtigt. Der Spielraum für eine flexible Handhabung der pflegeversicherungsrechtlichen Vorgaben ist gering, und Hilfeempfängerinnen müssen sich eher an die organisatorischen Abläufe der Sozialstationen anpassen als umgekehrt.
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Allzu häufig bedeutet dies ein tägliches Unterworfensein unter unkalkulierbare Gegebenheiten. Weder kann die Hilfeempfängerin ihren Tagesablauf unter diesen Umständen auf verlässlicher Basis planen, noch kann sie die Hilfeleistungen an spontane Erfordernisse oder Wünsche flexibel anpassen. Daneben beschränkt die professionelle Einstellung von Pflegekräften bzw. Mitarbeiterinnen der Behindertenhilfe im Sinne eines ›Wissen-wasgut-für-die-Klientin-ist‹ die Selbstbestimmtheit von Klientinnen. Denn Pflege ist traditionellerweise auf die Versorgung der pflegebedürftigen Person, nicht auf deren Selbstbestimmtheit ausgerichtet. Hier geht es in erster Linie darum, mittels pflegerischer Kompetenz das Defizit, das die unterstützungsbedürftige Person aufweist, in einem durchaus gut gemeinten Sinne auszugleichen. Dabei kann die Hilfe leicht in Bevormundung münden. Zwar gewinnt die Idee der Selbstbestimmung in der traditionellen Pflege bzw. Behindertenhilfe zunehmend an Bedeutung, doch kommt ihr in der Praxis eine weniger bedeutsame Rolle zu, als im Bereich der Persönlichen Assistenz: Während dort Selbstbestimmung als ein Leitziel neben anderen betrachtet wird, gilt sie im Bereich der Persönlichen Assistenz als erklärtes Ziel des Modells: Als Mittel zum Zweck der Erlangung von Selbstbestimmung soll die Inanspruchnahme von Assistenzleistungen dienen.
2.3 Das Modell der Persönlichen Assistenz Persönliche Assistenz unterscheidet sich von der Heimunterbringung und der traditionellen Pflege in entscheidendem Maße darin, dass sie sich nach den individuellen Wünschen der Assistenznehmerin richtet. Diese nimmt gegenüber der Assistentin die Rolle der Arbeitgeberin ein. Dementsprechend wird das Assistenzmodell auch Arbeitgebermodell genannt (vgl. exempl. BAGH 2004: 205). Das bedeutet, dass unterstützungsbedürftige Personen unter bestimmten Voraussetzungen in ihrem eigenen Haushalt selbst Assistentinnen anstellen oder einen sozialen Dienst mit der Vermittlung und Anstellung von Helferinnen beauftragen können (vgl. zu den rechtlichen Rahmenbedingungen ebd.; Mobile 2001a/b).12 Die Konzeption von Persönlicher Assistenz als Arbeitgebermodell soll dabei die Umkehr von herkömmlichen Machtstrukturen in professionellen Hilfebeziehungen gewährleisten. Dadurch, dass die Assistenznehmerin gegenüber der Assistentin als Arbeitgeberin auftritt, hat sie ein Machtmittel in der Hand, eine Möglichkeit, im Zweifelsfall ihren Willen gegenüber der Assistentin durchzusetzen bzw. bevormundende und unerwünschte Verhaltensweisen von deren Seite zu unterbinden. Damit versetzt Persönliche Assistenz die Assistenznehmerin theoretisch wie praktisch in die Rolle einer Führungskraft – und verlangt von ihr eine beträchtliche Bereitschaft, die eigene Position zu reflektieren und das
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232 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch eigene Verhalten in mehrerlei Hinsicht zu professionalisieren. In der Literatur wird dieser Anspruch wiederholt in unterschiedliche Kompetenzen aufgeschlüsselt, über die die Assistenznehmerin verfügen sollte, um Persönliche Assistenz überhaupt in Anspruch nehmen zu können.13 Damit wird auch die Fähigkeit und Bereitschaft der Assistenznehmerin angesprochen, das eigene Planungs-, Führungs- und Kommunikationsverhalten kritisch zu reflektieren und empathisch wie konstruktiv einzusetzen. Persönliche Assistenz ist dergestalt konzipiert, dass Assistenznehmerinnen über ein Team von Assistentinnen verfügen, die jeweils zu verschiedenen Zeiten, meist über längere Zeitblöcke hinweg (z.B. zehn Stunden oder länger), arbeiten. Dabei übernehmen sie prinzipiell alle Arbeiten, die auszuführen die Assistenznehmerin aufgrund ihrer körperlichen Konstitution selbst nicht in der Lage ist. Es kann sich hierbei um pflegerische Tätigkeiten handeln, aber auch um Aufgaben im Haushalt, das Halten von Gegenständen, das Bewegen von Körperteilen der Assistenznehmerin oder um das stellvertretende Umarmen eines Freundes. Genauso gut können die Assistentinnen Aufgaben übernehmen, die die Assistenznehmerin zwar ausführen könnte, zu einem gegebenen Zeitpunkt aber nicht selbst ausführen möchte. Der Programmatik des Modells zufolge bestimmt grundsätzlich die Assistenznehmerin, ob Assistenz überhaupt erbracht werden soll, und, falls dem so ist, wo, wann und auf welche Weise dies geschieht. Im Gegensatz zum häufig als bevormundend erlebten Vorgehen ›professioneller‹ Pflegekräfte sollen die Unterstützungsleistungen der Assistentinnen von der Assistenznehmerin bestimmt und angeleitet werden (vgl. Bröhling 2002; ForseA 2001; Franz 2002; Kaas 2002: 25ff.; Rothenberg 1997; Steiner 1999). Im Kontext der Persönlichen Assistenz bezieht sich der Begriff der Selbstbestimmung also auf die Kompetenz der Assistenznehmerin, zu entscheiden, was unter welchen Umständen getan werden soll, und nicht auf ihre Fähigkeit, diese Handlungen selbst auszuführen. Gemeint ist also keine – faktisch auch nicht realisierbare – absolute Unabhängigkeit von anderen Menschen, sondern die Möglichkeit, die eigenen Angelegenheiten nach den eigenen Vorstellungen anzugehen bzw. angehen zu lassen (vgl. Mobile 2001a: 629). Die Assistenznehmerin soll dabei als »Expertin in eigener Sache« (ebd.) agieren, indem sie und niemand anderes definiert, was »gut für sie« ist (vgl. ebd.: 621ff.). Im Bereich der Persönlichen Assistenz markiert der Begriff der Selbstbestimmung damit also die explizite Abgrenzung von fremdbestimmten Praktiken, wie sie in der traditionellen Behindertenhilfe erfahren wurden und werden.14 Insofern wird er als »politischer Kampfbegriff« (ebd.: 629) verwendet, der dazu beitragen soll, die Emanzipation behinderter Menschen voranzutreiben. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn »Persönliche Assistentinnen« als »›machtgeminderte Gehilfinnen‹ bei der Pflege, bei Alltagshandlungen jeglicher Art«
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(ebd.: 626) bezeichnet werden: Das aus dem herkömmlichen Behindertenhilfesystem bekannte »Machtgefälle« zwischen Pflegerin und Hilfeempfängerin soll zugunsten der Assistenznehmerin als nunmehr »mächtigerer Arbeitgeberin« (ebd.: 626) verlagert werden. Allgemeiner betrachtet verweist der Begriff der Selbstbestimmung auf die prinzipielle Bezogenheit des Menschen auf den anderen, gerade indem er die Unterscheidung von diesem anderen in den Vordergrund stellt, denn ein Selbst kann nur in Abgrenzung zu diesem existieren. Auch Selbstbestimmung kann demzufolge erst in sozialen Interaktionen Realität erlangen. Hiermit aber stoßen wir auf ein der Forderung nach Selbstbestimmung inhärentes scheinbares Paradox: nämlich dass Selbstbestimmung offensichtlich nicht ohne den anderen möglich und denkbar ist. Insbesondere im Kontext der assistierenden Interaktion erlangt dieser Aspekt Bedeutung, weil hier einerseits die Verwiesenheit auf den anderen in einem besonderen Maße gegeben ist, andererseits aber dieser andere als Person so weit wie möglich in den Hintergrund treten soll.
3. Die assistierende Interaktion – Implikationen Liest man das Modell der Persönlichen Assistenz als Rahmen im Sinne Goffmans (1980), der eine bestimmte Art von Interaktionen typisch vorformt, verweist es auf ein spezifisches Rollenverhältnis und damit verbundene Machtverhältnisse: Die Assistenznehmerin wird mit diesem Konzept zur Führungskraft und mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet. Gegenüber der klassischen, institutionellen Pflege wechselt die Stellung der Assistentin in gleichsam komplementärer Weise: Jeder Zuwachs an Selbstbestimmung, Mobilität usw. der Assistenznehmerin wird kontrastiert durch eine Einschränkung der Bestimmungsgewalt der Assistentin. Der entscheidende Unterschied zwischen den Bedingungen der totalen Institution und denen der Persönlichen Assistenz liegt jedoch in den ordnenden Vorgaben, die von beiden Beteiligten (mindestens qua Arbeitsvertrag) akzeptiert sind: Durch die Installation des Assistenzmodells und die rollenbezogene Bezugnahme darauf begibt sich die Assistentin – im Unterschied zum Insassen der totalen Institution – in eine freiwillige Fremdbestimmung und geht damit prinzipiell die Verpflichtung ein, in der Interaktion entsprechend zu agieren. Die Assistentin ist aufgefordert, im Sinne der Assistenznehmerin zu handeln und insoweit ihre eigene Persönlichkeit zurückzustellen. Andererseits ist eine vollständige Zurücknahme der eigenen Person gar nicht möglich. Schließlich ist die Assistentin keine Maschine oder ein Roboter, sondern eine eigenständig fühlende und denkende, Handlungen planende und ausführende Person: Insofern kann sie niemals vollständig zum ›verlängerten Arm‹ ihrer Arbeitgeberin werden, sondern immer nur annähe-
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234 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch rungsweise. Die dadurch entstehende Spannung muss im interaktiven Zusammenspiel der Beteiligten fortwährend ausgehalten und gemeinsam minimiert werden. In ähnlicher Weise ist auch die im folgenden Beispiel15 aufscheinende Problematik bezeichnend: Angenommen, eine Assistenznehmerin möchte, dass ihre Assistentin aus Modelliermasse kleine Ziegelsteine formt, aus denen ein Wasserturm en miniature gebaut werden soll, den die Assistenznehmerin an eine Freundin verschenken möchte. Nehmen wir weiterhin an, dass die Assistenznehmerin eine ziemlich genaue Vorstellung davon hat, wie das Werk später aussehen soll, so dass sie ihre Assistentin detailliert bei der Modellierarbeit anleitet, ihr vorgibt, auf welche Weise sie die Ziegelsteine in den Händen halten und die einzelnen Seiten glatt streichen soll. In einer solchen Situation ist erwartbar, dass die Assistentin diesen Anweisungen nicht immer folgt, sondern unwillkürlich andere Bewegungen ausführt, die ihren erlernten Bewegungsroutinen entsprechen – dass sie z.B. den Ziegelstein quasi ›automatisch‹ in eine andere Richtung wendet, als es die Assistenznehmerin gerne hätte. Assistentin wie Assistenznehmerin können Handlungsaufforderungen also schlechterdings nicht als selbsterklärend betrachten, sondern sind prinzipiell verpflichtet, auch alltägliche Handlungen so zu reflektieren, dass beide zu einer gemeinsam akzeptierten Form der Ausführung gelangen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Beteiligten nicht über die gleichen körperlichen Voraussetzungen verfügen; vielmehr sind es gerade die körperlichen Einschränkungen der Assistenznehmerin, die diese Form der Interaktion – und damit auch die mögliche Überschreitung körperlicher und auch persönlicher Grenzen – im Grundsatz erforderlich machen. Schon damit kann das prinzipielle Deutungserfordernis jeder Kommunikation, insbesondere im Zusammenhang mit körperbezogenen Tätigkeiten, zu einem Deutungsproblem werden. Denn häufig mangelt es beiden Seiten prinzipiell an der Erfahrung, wie es sich anfühlt, in einem Körper wie dem der anderen zu stecken. So sind Gestik, Mimik, Artikulation und Tonfall u.a. von körperlichen Voraussetzungen abhängig und weisen mitunter eine eigene, gewöhnungsbedürftige Typik auf. Auch Handlungsaufforderungen wie »Könntest Du mir bitte mal beim Husten helfen?« beinhalten eine Reihe von Tätigkeiten, die die Assistentin in enger Koordination mit der Assistenznehmerin erlernen muss. Das erfordert einen sensiblen Umgang der Beteiligten miteinander, bei dem die angemessene Deutung der Handlungen der jeweils anderen von besonderer Bedeutung ist. Beide müssen also in einem kontinuierlichen Verständigungsprozess die Äußerungen und Eigenarten der anderen interpretieren und auf dieser Basis wiederum »Handlungslinien entwerfen« (Blumer 1973: 96). Auch wenn sich solche Erfordernisse grundsätzlich in jeder sozialen Beziehung stellen, scheinen sie im Assistenzverhältnis in gehäufter und besonders ›dichter‹ Form vorhanden zu sein und werden dadurch beein-
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flusst, dass diese Festlegungen in ein formales Arbeitsverhältnis zwischen Assistenznehmerin und Assistentin eingebettet sind; Intimität und körperliche Nähe können nicht als Indikatoren einer persönlichen Bindung begriffen werden, sondern sind Voraussetzung für die sachgemäße Ausführung beruflicher Tätigkeit. In vielfacher Hinsicht ist es demnach (auch) in der assistierenden Interaktion notwendig, Abläufe auszuhandeln und entsprechende Routinen auszubilden. Die Analyse einer Assistenzbeziehung muss daher mit Bezug auf die Interaktionsgeschichte erfolgen (vgl. Goffman 1974: 256ff.). Vor dem Hintergrund des Rahmens ›Assistenzmodell‹ und dessen programmatischer Vorgabe der Selbstbestimmung der Assistenznehmerin stellt sich die Frage, auf welche Weise dieser Rahmen in der konkreten Interaktion aktualisiert wird. Gerade die möglichen Handlungs- und Verhaltensspielräume, die das Assistenzmodell trotz seiner normativen Ausrichtung in seiner grundlegenden Allgemeinheit offen lässt, bedürfen der genaueren Analyse, um das interaktiv jeweils wirksame Verständnis von Selbstbestimmung zu erarbeiten. Dies werden wir im Folgenden anhand eines empirischen Beispiels verdeutlichen.
4. Die empirische Analyse der assistierenden Interaktion 4.1 Methodik Unserer Analyse liegt die Annahme zugrunde, dass bei einer wechselseitigen aufmerksamen Anwesenheit von mindestens zwei Personen in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum jedes beobachtbare Verhalten der Anwesenden kommunikativen Charakter gewinnt und insofern für die Interaktionssituation potenziell bedeutsam ist. Das Grundelement des Verhaltens und damit der Interaktion ist nicht exklusiv Sprache, sondern es »sind Blicke, Gesten, Haltungen und sprachliche Äußerungen, die Leute ständig in die Situation einbringen, unabhängig davon, ob diese Situation erwünscht ist oder nicht« (Goffman 1971: 7).16 Sprachliche Äußerungen erhalten ihre Qualität dabei nicht alleine durch ihren semantischen Gehalt, sondern auch z.B. durch Tonhöhe und Melodie, Mimik, Gestik, Körperhaltung und Blickverhalten sowie die Ausrichtung der Körper im Raum. Interaktion lässt sich in diesem Sinne als multimodales Konzept begreifen (vgl. Schmitt 2004), dessen unterschiedliche »Ausdrucksebenen« (ebd.: 78) vielfältig miteinander verwoben sind (vgl. Pfadenhauer 2003: 126) und stets in ihrem Zusammenspiel interpretiert werden müssen. Während sprachliche Äußerungen im Allgemeinen als intendiert und zurückrechenbar qualifiziert werden, kommt dem nonverbalen Ausdruck eine ungleich subtilere Rolle zu: Gestisch-mimisches, nicht-artikuliertes ›Beiwerk‹ ermöglicht eine differenziertere Einschätzung des Äußernden und seiner Äußerung.
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236 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch Forschungspraktisch ist aus diesem Grund für die empirische Analyse von Interaktionen die Erhebung von audiovisuellen Daten mittels Video17 in Verbindung mit Interview- und Beobachtungsdaten von Nutzen. Digital gespeicherte audiovisuelle Daten ermöglichen es, Interaktionsverläufe unter Einbeziehung von körperlichen, sprachlichen und räumlichen Aspekten detailliert und wiederholt zu analysieren (vgl. Heath/Hindmarsh 2002; Heath/Luff 1992). Kleinste Interaktionssequenzen können so sehr genau untersucht werden. Gleichzeitig bleibt es möglich, vorgenommene Sequenzialisierungen der Daten und damit den Blick auf das Material wiederholt zu verändern. Der prinzipielle Nachteil dieser Methode ist die Möglichkeit einer Verzerrung der Situation durch die Anwesenheit von Kamera und Forscherin. Es kann unterstellt werden, dass die Kamera mindestens zu Beginn – ähnlich suggestiven Fragen im Interview – ein angepasstes oder als formal korrekt empfundenes Verhalten der Beteiligten provoziert. Abgesehen davon, dass dieser Effekt nicht völlig eliminiert werden kann, ist er für unser Forschungsziel möglicherweise sogar förderlich, wenn wir unterstellen, dass sich eine Kamerabefangenheit der Akteurinnen maßgeblich darin äußert, dass sie sich exakter an die Regeln und Verhaltensvorgaben halten, die sie als Teil der geltenden sozialen Ordnung wahrnehmen. Die Regeln, denen die Interaktion folgt bzw. folgen sollte, kommen damit deutlicher zum Ausdruck. Im Gegenzug ist das Beobachtete dann von einer in diesem Sinne ›unbeobachteten‹ Interaktion(sordnung) zu unterscheiden.
4.2 Analyse der assistierenden Interaktion am Beispiel Frühstückssituation Eine konkrete Weise, in der sich die assistierende Interaktion vor dem Hintergrund des Anspruchs der Selbstbestimmung ordnet, möchten wir an den folgenden Gesprächsausschnitten aus einer längeren Frühstückssituation veranschaulichen, die wir 2005 in der Wohnung einer zu diesem Zeitpunkt etwa zwanzigjährigen Assistenznehmerin videografisch aufgenommen haben. Die Forscherin ist während der gesamten Sequenz persönlich anwesend und wird – ob einer bereits bestehenden Bekanntschaft – als Besuch betrachtet und in das Geschehen eingebunden. Die anwesende Assistentin ist eine von sieben über einen Assistenzdienst angestellten Personen, die bei dieser Assistenznehmerin arbeiten. Assistenznehmerin und Assistentin arbeiten bereits seit etwa vier Jahren miteinander. Die Assistenznehmerin lebt mit ihrer berufstätigen Mutter in einem gemeinsamen Haushalt. Rund zwölf Stunden am Tag und manchmal auch nachts erhält sie Unterstützung durch Assistentinnen. Aufgrund einer bereits im Säuglingsalter erlittenen Erkrankung ist sie weitreichend gelähmt und auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen. Möglich ist ihr – im Hinblick auf
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Kommunikations- bzw. Ausdrucksmöglichkeiten – der gezielte Einsatz der Stimme und der Gesichtsmuskulatur, also Sprechen und Mimik. Ihren Kopf vermag sie im Sinne eines »Neins« zu schütteln; ebenso kann sie zustimmend nicken, ist jedoch nicht in der Lage, den Kopf selbst in eine aufrechte Position zu bringen und ihn über längere Zeit hinweg aufrecht zu halten. Sie kann ihre Arme in einem kleineren Radius hin- und herbewegen, sie jedoch nicht eigenständig anheben. Mit den Händen kann sie leichtere Gegenstände wie einen Stift oder einen Pinsel halten und bestimmte Bewegungen ausführen, z.B. ihre Unterschrift setzen. Das Schreiben längerer Texte von Hand ist ihr dagegen nicht möglich, ebenso wenig das Greifen und Halten von schwereren Gegenständen wie beispielsweise einem Küchentopf. Die Frühstücksvorbereitungen finden in der Küche der Assistenznehmerin statt. Der Blick der Kamera richtet sich von der Fensterseite aus in die Küche hinein. Während auf der gegenüberliegenden Seite Tür und Waschbecken zu sehen sind und sich rechts die übrige Küchenzeile befindet, steht links von der Kamera der Küchentisch. Zwischen Küchentisch, Tür und dem übrigen Inventar ist genug Platz für die Assistenznehmerin, um mit dem Rollstuhl etwas hin und herzufahren. Ungefähr in der Mitte der Küche hat sich die Assistenznehmerin positioniert (siehe Abb. 1), während sich die Assistentin in der Nähe der Küchenzeile aufhält. Mit ihrer Stellung im Raum, ab und zu ein wenig hin und herfahrend, nimmt die Assistenznehmerin eine Position ein, die es ihr ermöglicht, die Vorgänge im Blick zu behalten und dabei die Assistentin anzuleiten. Mit einem: »Ja. Wie immer: Teller …« leitet die Assistenznehmerin die Frühstücksvorbereitung ein. Mit dieser Äußerung nimmt sie offenbar Bezug auf einen schon mehrfach stattgefundenen, relativ gleichmäßigen Ablauf, den die Assistentin bereits kennt. Das Stichwort »Teller« genügt, um der Assistentin zu verdeutlichen, was im Moment gewünscht ist, denn diese setzt die Anweisung sofort um, ohne einen Bedarf an detaillierteren Vorgaben zu artikulieren. Während der Frühstücksvorbereitung behält die Assistenznehmerin sowohl die Tätigkeiten der Assistentin als auch die der Forscherin (C) im Blick. Zwischendurch bittet sie die Assistentin, bestimmte Tätigkeiten auszuführen. Gleichzeitig unterhalten sich alle Beteiligten über Alltägliches. Während die Eier kochen, entspinnt sich beispielsweise ein kürzeres Gespräch zwischen der Assistenznehmerin, der Assistentin und der Forscherin über koffeinfreie Getränke. Als die Assistentin (B) persönliche Ausführungen hierzu beginnt, wird sie von der Assistenznehmerin (A) unterbrochen. Folgender Dialog entsteht:18 B: ((steht, die Arme auf der Arbeitsplatte aufgestützt, mit dem Gesicht zu Raum vor der Küchenzeile)) Hatte och früher oft Cola (0.3) ohne Koffein. A: du kannst schon LANGsam zu den Eiern gehen. ((B wendet sich in Richtung
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238 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch Herd, bleibt davor stehen)) es ist zweiundfünfzig. ((schnell)) also AUSmachen kannste se bestimmt schon. ((B stellt den Herd aus)) (3.0) kannste se kalt abspülen? B: ja: ((stellt sich wieder mit dem Rücken zum Waschbecken)) (2.0) ((lächelt)) wir wissen zwar, dass es NICH (.) unbedingt(h) ((macht eine unterstreichende Handbewegung)) A: ((schnell)) jetzt ist dreiundfünfzig. ((B wendet sich wieder dem Herd zu, greift zu einem Handtuch, um es als Topflappen zu verwenden, nimmt den Topf vom Herd und geht damit zum Waschbecken)) (5.0) dis STOPPT den GARprozess hat er gesagt. (1.0) ne? B: ja=und (.) zum Abpellen brauchst du ja ((lässt kaltes Wasser in den Kochtopf mit den Eiern laufen, kippt das Wasser aus)) (0.3) n bisschen kühler.
Abbildung 1: Position von Akteuren und Kamera in der Küche der Assistenznehmerin
Tür Waschbecken
B
Herd
A
C Der thematische Wechsel, der von der Assistenznehmerin zu Beginn dieser Sequenz initiiert wird, ist auffällig. Abrupt unterbricht sie den Beitrag der Assistentin und weist sie an, sich den kochenden Eiern zuzuwenden. Die Assistenznehmerin wendet sich daraufhin unverzüglich dieser Aufgabe zu, deutet mit ihrer Bemerkung (»wir wissen zwar, dass es NICH (.) unbedingt(h)«) und der diese begleitenden Handbewegung aber an, dass sie mit dem Vorgehen nicht vollständig einverstanden ist. Die Assistenznehmerin wiederum reagiert erst mit einem erneuten Hinweis auf die fortschreitende Zeit, scheint dann allerdings zu versuchen, das eigene Verhal-
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ten durch den Verweis auf einen nicht anwesenden »er«, den sie gleichsam als Experten anführt, zu legitimieren. Versteht man den vorhergegangenen Einspruch als ›Entgleisung‹ von der Assistentinnenrolle, zu der ja eigentlich gehört, die eigene Meinung zurückzustellen, so lässt sich die Reaktion der Assistenznehmerin als Versuch interpretieren, die Assistentin wieder auf das gewünschte Rollenverhalten zurückzuführen. Offenkundig gelingt dies auch, da die Assistentin ihren früheren Einwand in gewisser Weise revidiert und nunmehr die Auffassung der Assistenznehmerin bestätigt (»ja=und (.) zum abpellen brauchst du ja n bisschen kühler«). Über den thematischen Rückbezug hinaus weist diese Äußerung eine explizite Reflexion und Anerkennung der Assistenznehmerinnenrolle auf. Insofern werten wir dies als Versuch der Kompensation für vorangegangenes (Fehl-) Verhalten. Der nächste Abschnitt schließt an den vorhergehenden beinahe unmittelbar an: A: ((wendet sich mit dem Rollstuhl nach rechts, an C gewandt)) sind meine ERsten EIER, die ich koche, ja. ((lacht)) B: die werden PER[fekt sein]. ((noch über das Waschbecken gebeugt)) A: ((wendet sich mit dem Rollstuhl nach links, in Richtung B)) [premiere].
Die Assistenznehmerin fährt mit dem Rollstuhl ein kleines Stück nach rechts, so dass sie sich direkt an die Forscherin wenden kann. Sie beschreibt sich selbst als Akteurin, die hier zum ersten Mal eine bestimmte Tätigkeit ausführt, nämlich das Eierkochen (»sind meine ERsten EIER, die ich koche, ja«). Unmittelbar danach kehrt sie wieder in die vorherige Position mit Ausrichtung zur Assistentin zurück. Die Assistentin, weiterhin über das Waschbecken gebeugt, unterstreicht diese Aussage, indem sie eine Äußerung über den voraussichtlichen Zustand der Eier macht (»die werden PER[fekt sein]«). Nahezu zeitgleich wiederholt die Assistenznehmerin, dass es sich um die ersten von ihr gekochten Eier handelt (»[premiere]«), womit sie sich selbst erneut als (Eier kochende) Akteurin definiert. Die Assistenznehmerin erteilt Anweisungen und übernimmt gegenüber der Forscherin unaufgefordert und explizit die alleinige Verantwortung für den Prozess des Eierkochens. Obwohl sie auf der physischen Handlungsebene eingeschränkt ist, obliegt ihr also der Entwurf der Handlungssequenz. Zudem diszipliniert sie die Interaktion mit Blick auf die Handlungsausführung – Versuche, die nur durch ein entsprechend akzeptierendes Verhalten der Assistentin gelingen und gelingen können. Wir lesen die dargestellte Interaktionssequenz deshalb als Hinweis darauf, dass in der konkreten Situation die Weisungsbefugnis der Assistenznehmerin von beiden Seiten anerkannt wird. Mit Blick auf die Machtverhältnisse besteht so eine faktische Überlegenheit der Assistenznehmerin, wenn es da-
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240 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch rum geht zu definieren, was in einer konkreten Situation geschehen soll. Obwohl die Assistentin auf motorisch-ausführender Ebene physisch überlegen ist, setzt sie dies nicht ein, um eigene Interessen gegen den Willen der Assistenznehmerin durchzusetzen, sondern ordnet sich unter und versucht ihr eigenes Fehlverhalten zu kompensieren. Dagegen führt und beobachtet die Assistenznehmerin das Handeln der Assistentin so genau, dass sie sie kaum einen Moment lang aus den Augen lässt. Kurzfristige Rollenentgleisungen der Assistentin werden von ihr freundlich, aber durchaus dezidiert korrigiert. Damit nimmt die Assistenznehmerin genau jene Anleitungskompetenz wahr, die ihr im Sinne des Assistenzmodells zukommt, und die Assistentin fügt sich in die Rolle derjenigen Person, die sich anleiten lässt und den Vorgaben der Assistenznehmerin nachzukommen hat. Mehr noch: Sie widerspricht nicht, als die Assistenznehmerin ihren aktiven Anteil am doch zumindest gemeinsamen Eierkochen sprachlich ignoriert und sich selbst auf diese Weise als alleinig handelnde Person definiert. Die Assistenznehmerin sagt eben nicht: »sind meine ersten Eier, die ich kochen lasse« oder »sind unsere ersten Eier, die wir kochen«. In der tatsächlichen Äußerung (»sind meine ERsten EIER, die ich koche, ja«) kommt somit ein Selbstverständnis der Assistenznehmerin als autonom handelnde Person zum Ausdruck. Die oben angesprochene Spannung zwischen dem Wunsch nach Autonomie einerseits und dem Angewiesensein auf andere Menschen andererseits, die für Assistenznehmerinnen (vgl. Mobile 2001a/b) im besonderen Maße besteht, wird zumindest auf der sprachlichen Ebene von allen Beteiligten ignoriert. Indem die Assistenznehmerin sich allein die Handlung des Eierkochens zuschreibt, drückt sie dieses Verständnis von sich selbst als autonom handelnde Person aus – und konstruiert dieses Selbstverständnis zugleich unter Mitwirkung der Assistentin. Die assistierende Interaktion ordnet sich im vorliegenden Fall also maßgeblich durch die Machtverhältnisse, die den entsprechenden Rollendefinitionen durch die Programmatik des Assistenzmodells eingeschrieben sind und Anweisungen und Themenwechsel erlauben. Die Abhängigkeit der Assistenznehmerin von der Handlungs- und Unterordnungsbereitschaft der Assistentin bei gleichzeitiger Entscheidungs- und Weisungsbefugnis entspricht dem im Modell dargelegten Verständnis von Selbstbestimmung, das sich in eine Autonomie auf der Entscheidungsebene gegenüber einer Heteronomie auf der Ausübungsebene differenzieren lässt. In unserem Beispiel wird diese Ambivalenz allerdings nicht thematisiert. Stattdessen rechnet sich die Assistenznehmerin die Handlung des Eierkochens vollständig zu und ignoriert – ohne deren Widerspruch – die Mitwirkung der Assistentin. In diesem Sinne wird hier interaktiv eine Wirklichkeit konstruiert, die die körperliche Abhängigkeit der Assistenznehmerin ausklammert und sie so gleichsam ent-hindert. Darüber hinaus legt die Selbstbeschreibung als Akteurin die Vermutung nahe, dass das Modell
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Persönlicher Assistenz nicht ohne Auswirkung auf die Identität der Assistenznehmerin bleibt und in diesem Fall tatsächlich sein erklärtes Ziel erreicht.
5. Resümee Bei unserem derzeitigen Forschungsstand ist unsere Analyse natürlich nur eine Lesart, die wir als nicht exklusiv ansehen. Sie stützt sich wesentlich auf die Abwesenheit von Widerspruch und die Beobachtung, dass die Assistenznehmerin die Handlungsverantwortung verbal für sich in Anspruch nimmt. Auch wirft sie beinahe mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Ist die Äußerung Ausdruck eines spezifischen Handlungsverständnisses, oder kommt ihr die gleiche rhetorische Bedeutung zu wie der Aussage »Ich habe ein Haus gebaut« seitens eines Bauherrn? Bezieht sich die aufscheinende Selbstbestimmung auf eine Autonomie unter den Bedingungen des Andersseins, oder hat die Persönliche Assistenz kompensatorische Wirkung in der Hinsicht, dass sie der Assistenznehmerin ermöglicht, sich als gleichsam nicht behindert (also als nicht in körperlichen Funktionen eingeschränkt) zu denken? Dies verweist auf handlungstheoretische Fragen einerseits und eine (Sozial-)Psychologie der Behinderung andererseits. Damit sind bereits Aspekte angeschnitten, mit denen sich die weitere Analyse des Assistenzmodells auseinander setzen wird. Für sich genommen bestätigt das von uns dargestellte Beispiel die praktische Anwendbarkeit des Modells Persönlicher Assistenz im Sinne seiner Programmatik. Es ermöglicht der Assistenznehmerin eine Ausweitung ihrer Selbstbestimmung – und zwingt die Assistentin im Gegenzug zu einer entsprechend fremdbestimmten Durchführung. In unseren Aufnahmen bei anderen Assistenznehmerinnen und Assistentinnen wird bereits deutlich, dass die assistierende Interaktion beileibe nicht in allen Fällen so modellhaft verläuft und eine Autonomie der Assistenznehmerin häufig nicht in gleichem Maße erreicht wird. Zwar scheinen die Beteiligten die Situation stets mit Bezug auf den Rahmen »Selbstbestimmung der Assistenznehmerin« zu entwerfen, jedoch gewinnen wir den Eindruck, dass sie vor diesem Hintergrund unterschiedliche Interaktionsstile aktualisieren. Der Rahmen ›assistierende Interaktion‹ wirkt offenkundig nicht determinierend auf die Interaktionen in der Persönlichen Assistenz. Wir vermuten deshalb, dass es aus analytischer Sicht sinnvoll ist, das im Modell fixierte normative Verständnis von Selbstbestimmung und die damit verbundenen Kompetenzen zu verabschieden und den Blick zu öffnen für die Unterschiede, in denen Persönliche Assistenz realisiert wird.
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Anmerkungen 1
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Der besseren Lesbarkeit halber wird im Folgenden ausschließlich die weibliche Schreibweise benutzt. Sofern Personengruppen im Allgemeinen genannt werden, sind aber Menschen beiderlei Geschlechts gemeint. Die analysierte Interaktionssequenz ist Teil von videografischem Datenmaterial, das im Januar 2005 im Rahmen von Vorarbeiten für das DFG-geförderte Forschungsprojekt »Die Ordnung der assistierenden Interaktion« erhoben wurde, das wir gegenwärtig unter der Leitung von Ronald Hitzler am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Dortmund durchführen. Die teils dramatischen Auswirkungen solch systematischer Regelbrüche sind durch die bekannten Krisenexperimente der Ethnomethodologie eindrucksvoll belegt worden (vgl. etwa Garfinkel 1967; 1973; zum Krisenexperiment einführend und kritisch auch Schütze et al. 1973: 476ff., insb. 478). Hierbei versucht der Forscher, durch hartnäckig abweichendes Verhalten »den routinisierten Ablauf alltagsweltlicher Ereignisketten und damit die eingespielten alltagsweltlichen Erwartungen und Unterstellungen zusammenbrechen« (ebd.: 478) zu lassen, um die mit solchem Verhalten konfrontierte Person zur Explikation ihrer diesbezüglichen Erwartungs- bzw. Erfahrungsbestände zu veranlassen. Goffmans Rahmenkonzept lehnt sich an das des Anthropologen Gregory Bateson (1904-1980) an: »Und natürlich werde ich den Ausdruck ›Rahmen‹ (›frame‹) in Batesons Sinne oft gebrauchen. Ich gehe davon aus, dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich ›Rahmen‹« (Goffman 1980: 19). Mit Einführung der Pflegeversicherung gab es einen Streit darum, auf welche Weise dieses Konzept in die Pflegeversicherung integriert werden könne. Zunächst schien die Möglichkeit eines Einbezugs gefährdet (vgl. Bröhling 2002). Insbesondere Steiner hat sich gegen die Auffassung gewandt, »die Ideen ›Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung‹ und ›Hilfen durch Assistenz‹ wären aus den USA übernommen worden« (1999: Abschnitt »Zur Geschichte und Entwicklung der Behindertenbewegung«). Sie weist demgegenüber auf die bundesrepublikanischen Wurzeln der Selbstbestimmt-Leben-Idee hin. In diesem Punkt folgen ihr Mobile (2001a/b) und, zu weiten Teilen, Bröhling (2002). Seit 1979 sind sie per Bundesgesetz anerkannt und werden seither staatlich gefördert (Miles-Paul 1992: Abschnitt: »Die Independent Living-Bewegung«; Bröhling 2002; Theunissen 2001).
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Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es zunächst in erster Linie Kriegsopferverbände, dann »Elternorganisationen und Spezialvereine für ›zivile‹ Behinderte« (Bröhling 2002: 17), die sich für die Belange von behinderten Menschen einsetzten. 9 Mit dem »Behindertenurteil« gab das Landgericht Frankfurt der Klage einer Münchnerin statt, die sich auf einer Urlaubsreise durch die Anwesenheit einer Gruppe von so genannten geistig behinderten Menschen in ihrem »Urlaubsgenuss« (Bröhling 2002: 20) beeinträchtigt sah. Ihr sollten 50 Prozent der Reisekosten rückerstattet werden. 10 Zu den Merkmalen »totaler Institutionen« zählen nach Goffman (1972: 17) folgende: »1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. 2. Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen. 3. Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben. 4. Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen.« 11 Voraussetzung ist allerdings, dass die Bewohnerinnen die Strukturen nicht gutheißen, dass die Unterordnung also gegen deren Willen erfolgt – jedenfalls, wenn man den Weber’schen Machtbegriff zugrunde legt (vgl. Weber 1980). Denkbar wäre es ja immerhin auch, dass einzelne Personen die Versorgung durch andere, in der einem selbst jegliche Verantwortung abgenommen wird, als angenehm empfinden. 12 Vor allem jüngere Menschen mit Körperbehinderungen nehmen dieses Modell in Anspruch; grundsätzlich sind die Leistungen aber nicht auf diesen Personenkreis beschränkt (vgl. BAGH 2004). 13 So bestimmen z.B. Bröhling bzw. Mobile Personalkompetenz, Organisationskompetenz, Anleitungskompetenz, Raumkompetenz, Finanzkompetenz (vgl. Bröhling 2002; Mobile 2001a/b) als notwendige Kompetenzen, um das Modell verantwortlich umzusetzen. 14 Zum Begriff der Selbstbestimmung im Verständnis von behinderten Menschen sowie zu seinem sprachgeschichtlichen Hintergrund vgl. Waldschmidt (2004; 1999). 15 Auch dieses Beispiel stammt aus dem Datenmaterial, das im Zuge von Vorabexplorationen für das Forschungsprojekt »Die Ordnung der assistierenden Interaktion« erhoben wurde. 16 »Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren; er muss damit entweder
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244 | Karsten Altenschmidt, Lakshmi Kotsch das Richtige oder das Falsche sagen; aber er kann nicht gar nichts sagen« (Goffman 1971: 43). Schmitt (2004) hat am Beispiel einer zwölfsekündigen Gesprächspause gezeigt, wie ausschließlich durch die »gestisch-körperlichen« (Schmitt: 74) Interaktionsleistungen der Beteiligten »relevante strukturelle Eigenschaften der Gesamtsituation auf kleinstem Raum lokal kondensiert« und »widergespiegelt« (ebd.: 75) werden können. Vgl. zu körperlichen Aspekten sozialer Interaktionen unter verschiedenen Gesichtspunkten z.B. auch die Arbeiten von Hahn (1988), Hahn/Jacob (1994), Hahn/Meuser (2002), Hitzler (1997; 2002), Loenhoff (2001) und Pfadenhauer (2002). Einen umfassenden Überblick über die Geschichte und den derzeitigen Stand der Soziologie des Körpers gibt Gugutzer (2004). 17 Zur Video-Interaktionsanalyse vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Knoblauch (2004) sowie Schnettler (2001). 18 Die Transkription erfolgte in Anlehnung an das gesprächsanalytische Transkriptionssystem GAT (vgl. Dittmar 2004; Selting/Auer 2006).
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Diskurs und Biographie. Konstruktion und Normalisierung contergangeschädigter Körper und ihre Bedeutung für die Entwicklung biographisch ›wahren‹ Wissens Walburga Freitag
Gesellschaftliche Konstruktionen des menschlichen Körpers, Versuche der Durchsetzung körperbezogener Normen und Normalisierung sind Themen, die in den vergangenen drei Dekaden mit wachsendem Interesse von den verschiedensten Disziplinen1 reflektiert und empirisch untersucht wurden. Der Sammelband Die Wiederkehr des Körpers (Kamper/Wulf 1982) und die Monographie The Body and Society (Turner 1984) markieren die Anfänge sowohl intensiver wie interdisziplinärer Bearbeitungen. Zahlreiche körper- und medizinsoziologisch orientierte Arbeiten setzen sich dabei mit dem Werk von Michel Foucault auseinander (z.B. Lash 1984; Armstrong 1987; Sawicki 1991; Grosz 1994). Foucault, der für seinen Lehrstuhl den Titel »Professur für die Geschichte der Denksysteme« wählte, macht in seiner poststrukturalistischen Analyse von Diskursen und diskursiven Praktiken den Körper als Ort aus, der Ziel zahlreicher Diskurse der Humanwissenschaften ist und der politischen Organisation der Gesellschaft dient (u.a. 1977; 1978a; 1978c; 1986; 2003). Dieses Verständnis des Körpers ist grundlegend historisch. Der Körper, so Foucaults zentrale These, entwickelt sich innerhalb kulturspezifischer Politik- und Machtverhältnisse. Er unterliegt der Kontrolle der Biomacht, d.h. der »zunehmende[n] Ordnung aller Bereiche im Namen von Wohlfahrt des Individuums und der Bevölkerung« (Dreyfus/Rabinow 1994: 22). Was macht Foucaults Werk so interessant? Es liefert meines Erachtens auf provokante Weise nicht nur einen Beitrag dazu, den menschlichen
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250 | Walburga Freitag Körper als einen politischen Körper zu ›denken‹, sondern bietet gleichzeitig ein machtanalytisches Werkzeug, mit dem erforscht werden kann, in welcher Weise die im Wohlfahrts-, Erziehungs- und Gesundheitssystem tätigen Disziplinen an der Hervorbringung von normalen, abweichenden, kranken, gesunden oder behinderten Körpern sowie an Disziplinar-, Normalisierungs- und Selbsttechnologiepraktiken2 beteiligt sind. Der menschliche Körper, körperliche Abweichungen, Krankheiten und Behinderungen erscheinen aus dieser Perspektive als Ergebnis sozialer Aushandlungs- und somit Machtprozesse3, die gestützt sind durch kulturell und soziohistorisch begrenzt gültige (wissenschaftliche) Wahrheiten. Genau hierin liegt meines Erachtens auch die zentrale Bedeutung der Arbeiten Foucaults für die sich nun auch in Deutschland entwickelnden Disability Studies4. In diesem Aufsatz werde ich an ausgewähltem Material meiner 2005 veröffentlichten Studie über den Zusammenhang wissenschaftlicher Diskurse und biographischer Erfahrungen im Fall von Contergan5 zeigen, wie ich eine Foucault’sche Diskursanalyse empirisch umgesetzt habe und machtanalytisch der Frage nachgegangen bin, auf welche Weise und mit welcher Begründung orthopädische, sonder- und heilpädagogische Disziplinen ihr Objekt, den contergangeschädigten Körper, konstituierten, bezeichneten und zu seiner Habilitation6 Normalisierungspraktiken entwickelten. Bei meiner Studie habe ich mich jedoch nicht an die Foucault’sche Vorgabe7 gehalten, gebührend Abstand zum konstituierenden Subjekt zu wahren. Nach wie vor ungeklärt erscheint mir das wissenschaftliche Verständnis der Wirkungsweise von Diskursen, die sich, anders als bei den von Foucault bearbeiteten großen Diskursen (z.B. über Sexualität oder Wahnsinn), innerhalb kürzerer Zeit entwickeln und nicht an weite Teile der Bevölkerung, sondern an kleinere Gruppen richten. Im Rahmen der theoretischen Ansätze des interpretativen Paradigmas und symbolischen Interaktionismus, die dem Konzept der biographischen Analyse (Schütze 1981; 1983; 1984) zugrunde liegen, lässt sich die Frage stellen nach der Bedeutung eines Diskurses für die, denen er galt. Vertreter des symbolischen Interaktionismus gehen davon aus, »dass Menschen ›Dingen‹ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Dinge für sie besitzen« (Blumer 1973: 81). Das interpretative Paradigma betont die Bedeutung der Sprache, Interaktion und Symbolsysteme für die Herstellung kultur- und milieuspezifischer Bedeutung, geht von unterschiedlichsten Identitätsbildungsprozessen in den unterschiedlichen Lebens- und Alltagswelten der Mitglieder ein und derselben Gesellschaft aus und versucht, genau dieser Differenz methodisch Rechnung zu tragen (Mead 1973; Blumer 1973; Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973). Auf diesem Hintergrund erschien es mir empirisch und theoretisch weiterführend, den konstituierenden Subjekten, contergangeschädigten Frauen und Männern, das Wort zu geben und durch eine biographische Analyse die
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Bedeutungszuweisungen und biographischen Konstruktionen der contergangeschädigten Frauen und Männer in den Blick zu nehmen: Wie bezeichnen sie sich selbst? Sprechen sie von sich als behindert? Haben sie die von den Disziplinen entwickelten Praktiken wahrgenommen? Haben sie sich mit ihnen auseinander setzen müssen? Welche biographische Bedeutung haben diese Praktiken aus der Perspektive derjenigen gewonnen, für die sie entwickelt wurden? Auch hiervon soll in diesem Aufsatz die Rede sein.
1. Die Suche nach Diskursen und Dispositiven Foucault unterscheidet Diskurse von Sprechakten im Alltagsleben. Ein Diskurs wird von ausgewählten und zugelassenen ›Experten‹ geschaffen, indem sie als Experten sprechen. Sie zeichnen sich als solche aus, wenn sie von anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen8 gehört, kommentiert, kritisiert, zitiert und empfohlen werden. Dabei stellt nicht die unermessliche Menge, die zu einer gegebenen Zeit über ein Ereignis oder einen Gegenstand gesagt worden ist, den Diskurs dar, sondern die Regelmäßigkeit der Aussagen in einem bestimmten Feld (Maasen 1999: 31). Foucault behandelt Diskurse als generatives Prinzip und Ordnungsprinzip gesellschaftlich anerkannter Wahrheiten, als ›wahres‹ Wissen.9 Macht und Wissen sind für ihn untrennbar verbunden, sie erzeugen sich gegenseitig: Wissen ist dort, wo Macht ist, und Macht ist dort, wo Wissen hergestellt werden kann. Foucault ist davon überzeugt, der Geschichte, innerhalb derer Menschen zu Subjekten werden, dadurch näher zu kommen, dass er nach den Regeln und der Erzeugung von diesem ›wahren‹ Wissen in soziohistorisch relevanten Diskursen forscht und die Regeln analysiert, aufgrund derer Diskurse ihre Macht entfalten können (ebd.: 30). Eine sich durchsetzende, immer stärker vernetzende und vernetzte diskursive Praxis eines (Wissenschafts-)Feldes stellt die Grundlage dar für ein Wissen, das von Foucault als »Dispositiv« bezeichnet wird. Dispositive sind »Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden« (Foucault 1978b: 123). In der Regel sind mehrere Disziplinen an dem Ausbau und der Unterstützung eines Dispositivs beteiligt. Entsprechend stützt sich meine diskursanalytische Studie auf mehr als 200 Aufsätze aus medizinischen, heil-, sonder- und schulpädagogischen, psychologischen und soziologischen Fachzeitschriften, zahlreiche Monographien, Dissertationen, Protokolle und Forschungsberichte, die in den Jahren 1957 bis ca. 2000 in der BRD publiziert und von bundesdeutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zur Kenntnis genommen wurden. Nach einer ersten Systematisierung des Materials nach Phasen, Disziplinen und Gegenständen zeigte sich, dass sich Aussagen von Experten häufen und sich zunächst vier noch vorläufige Felder ›wahren‹
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252 | Walburga Freitag Wissens abzeichneten: die Konstruktion des ›Dysmelie-Kindes‹, medizinische und psychosoziale Habilitationspraktiken sowie ein Berufsbildungsdiskurs. Der ersten Sortierung schloss sich eine erneute Befragung des Materials und weitere Materialsuche an. Hierbei habe ich versucht sicherzustellen, dass alle wichtigen Expertinnen und Experten vertreten sind: Wer wird zitiert, wessen Ansätze werden diskutiert, und wer ist auf relevanten Tagungen vertreten? Diesen Prozess habe ich so lange fortgesetzt, bis die Publikationen keinen neuen Beitrag mehr zu den Aussagen leisteten und das Material gesättigt schien. Gleichzeitig verdichteten sich die vier zunächst noch als vorläufig bezeichneten Felder, von denen ich im Folgenden die Konstruktion des ›Dysmelie-Kindes‹ und aus dem Feld der medizinischen Habilitationspraktiken die Dispositive der Frühprothetisierung und Frühredression10 darstellen werde.
1.1 »Ein charakteristischer Missbildungstyp«. Die Konstruktion des ›Dysmelie-Kindes‹ Auf der Grundlage der Foucault’schen Diskursanalyse, der zufolge der Körper, körperliche Abweichungen, Krankheiten und Behinderungen als Ergebnis sozialer Aushandlungs- und somit Machtprozesse von historisch begrenzt gültigen (wissenschaftlichen) Wahrheiten geprägt sind, möchte ich zunächst der Frage nachgehen, welche Aushandlungs- und Machtprozesse der Konstruktion des ›Dysmelie-Kindes‹ zugrunde liegen. 1.1.1
Praktiken der Anerkennung und des Ausschlusses von Zeichen
Bereits bevor alle thalidomidhaltigen Medikamente vom Markt genommen werden, beginnen Pädiater, Gynäkologen und Humangenetiker, die Symptome einer zunehmenden Zahl gliedmaßengeschädigter Säuglinge zu systematisieren. Mit wenigen Ausnahmen sind sich die Experten des Diskurses einig in der Frage, dass die Fehlbildungen der Neugeborenen einen »neuen Typ« (Lenz/Knapp 1962) darstellen. Als Begründung führen sie die nie zuvor beobachtete Kombination von Gliedmaßenfehlbildungen mit Fehlbildungen der inneren Organe und Ohren, die Besonderheit der Fehlbildung der oberen Extremitäten (»Robbengliedrigkeit« genannt) und die Beobachtung an, dass die unteren Gliedmaßen nur äußerst selten allein betroffen sind. Im Lauf der Jahre 1961 und 1962 werden die Grundlagen entwickelt, anhand derer – bis heute gültig – die Frage beantwortet wird, was medizinisch legitimiert als durch Contergan/Thalidomid verursachte Schädigung dem Phänomen zugeordnet werden darf. Über die dem Syndrom zuzuordnenden Fehlbildungen und Symptome gibt es keine öffentlich ausgetragene Kontroverse, lediglich je nach Fachdisziplin unterschied-
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liche Schwerpunktsetzungen und mehr oder weniger ausführliche Beschreibungen. Es handele sich – so der Pädiater Petersen – um »einen charakteristischen Mißbildungstyp bzw. -komplex, ein Syndrom, dessen Sonderstellung gerade auch im Vergleich mit den bisher […] bekannten exogenen Mißbildungssyndromen nicht übersehen werden kann« (Petersen 1962: 753).
Im Gegensatz zu Petersen, der die Sonderstellung insbesondere mit den exogenen – also sichtbaren – Veränderungen begründet, weist der Pathologe Pliess (1962: 1568) darauf hin, dass eine Vielzahl von Organen geschädigt sein kann. Das Syndrom umfasse »mindestens 50 Anomalien an fast 30 Organen und bezeichnet ca. 30 Symptome als Kardinalsymptome« (ebd.). Obschon die charakteristische Kombination von Gliedmaßenfehlbildungen mit Fehlbildungen der Ohren und inneren Organe die Begründung für die Konstitution des neuen Phänomens ist, wird in der Folge nicht nach den dreißig von Pliess benannten Kardinalsymptomen differenziert, sondern nur von einem Leitsymptom – den kurzen Gliedmaßen – und einem nachgeordneten Symptom – fehlenden Ohrmuscheln – ausgegangen. Hierfür lassen sich mehrere – vor allem forschungspraktische – Gründe finden. So werden z.B. bei Umfragen, wie sie in den Jahren 1962 und 1963 in Familien mit missgebildet geborenen Kindern durchgeführt wurden, so genannte »Begleitmissbildungen« ausgeklammert, um vergleichbare Gruppen bilden zu können. Geringere Veränderungen der Ohren werden ebenso wenig registriert wie Missbildungen innerer Organe, die die Eltern nicht genau benennen können (vgl. Weicker/Hungerland 1962). Deutlich ist die bevorzugte Anerkennung sichtbarer Zeichen und der Ausschluss nicht sichtbarer, innerer Symptome, sofern sie nicht mit sichtbaren Zeichen kombiniert vorliegen. 1964 vermuten Lenz, Theopold und Thomas bereits rückblickend, dass »Fälle mit nur inneren Mißbildungen häufig nicht als Thalidomid-Fälle anerkannt worden (sind)« (Lenz/ Theopold/Thomas 1964: 2039). 1.1.2 Bezeichnungspraktiken Während sich die am Diskurs beteiligten Mediziner und Medizinerinnen weitgehend darin einig sind, dass von einem neuen Typ oder Syndrom gesprochen werden müsse, zeigen sie keine Einigkeit, wie sie ›ihn‹ oder ›es‹ benennen sollen, was es oder was es eben nicht bezeichnen soll. Vor allem wird um die Frage gestritten, ob eine morphologische oder ätiologische Nomenklatur verwendet werden soll. Die morphologische Nomenklatur verweist auf die Gestalt des Körpers oder Körperteils und stellt die Abweichungen, die Differenzen der Gestalt des Körpers von der Norm in den
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254 | Walburga Freitag Mittelpunkt. Die ätiologische Nomenklatur hingegen verweist auf die Ursache der Abweichungen: auf Contergan als Medikament, Thalidomid als Inhaltsstoff und Chemie Grünenthal als Hersteller. Ob die ätiologische Nomenklatur befürwortet oder abgelehnt wird, hängt davon ab, ob man Thalidomid eine embryonalschädigende Wirkung zuschreibt oder nicht. Ihr stärkster Verfechter ist der Humangenetiker und Pädiater Widukind Lenz. Von seiner These der embryotoxischen Wirkung von Contergan/Thalidomid rückt er nie ab. Deutlich erkennbar ist, dass Lenz und weitere mit ihm publizierende Pädiater durch ihre Bezeichnungspraxis politisch gegen die Behauptung von Chemie Grünenthal (Sievers 1962; 1963; 1964) Stellung beziehen, der Zusammenhang zwischen der Einnahme von Thalidomid und der Geburt eines geschädigten Kindes sei nicht geklärt. Ebenso politischer Natur ist die Bevorzugung einer morphologischen Nomenklatur, z.B. Dysmelie oder Dysmelie-Syndrom, durch eine Gruppe von Gynäkologen und Pädiatern, die überwiegend im norddeutschen Raum praktizieren und den Zusammenhang von thalidomidhaltigen Medikamenten und Missbildungen bei Kindern bezweifeln. »Umschriebener Missbildungstyp« ist die völlig neutrale Bezeichnung des einflussreichen Teams um den Chefarzt der Gynäkologie der Städtischen Frauenklinik Lübeck, Werner von Massenbach. Die Teammitglieder bezweifeln die alleinige Beteiligung von Thalidomid und sprechen sich noch 1964 für eine multikausale Ätiologie aus (Jurczok/Schollmeyer 1962; Hörmann/Massenbach 1962; Mildenstein/Massenbach/Rüther 1964: 18). Sie begründen die Position mit dem Ergebnis ihrer Umfrage bei Müttern, nach der in weniger als einem Drittel der Fälle Thalidomid während der Frühschwangerschaft genommen worden sein soll (Mildenstein/Massenbach/Rüther 1964: 15). Neben diesen beiden Bezeichnungsweisen finden sich Versuche, den ›neuen Typ‹ nach dem Wissenschaftler zu benennen, der ihn zuerst beschrieben haben will. Dies betrifft vor allem Hans-Rudolf Wiedemann, der die Erstbeschreibung für sich beansprucht (vgl. Pliess 1962: 1568). Dabei handelt es sich aber wohl vornehmlich um ein Ränke- und Machtspiel zwischen den Wortführern des Diskurses. In einem Punkt sind sich die Wissenschaftler einig: »Contergan« wird als Bezeichnung von ihnen mit vordergründig moralischen Argumenten – genannt werden Schuldkomplexe – abgelehnt (siehe hierzu z.B. Lindemann in BMG 1967: 7). Die morphologischen Begriffe »Dysmelie« und »Dysmelie-Syndrom« setzen sich schließlich in den Aufsätzen, Enzyklopädien und wenigen Fachbüchern über die Thalidomid-Embryopathie durch. Dies hat einerseits mit der bis in die 70er Jahre anhaltenden Diskussion um den angeblich fraglichen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Thalidomid und der Embryopathie zu tun, andererseits damit, dass sich parallel zur Ursachenforschung Behandlungspraktiken entwickeln und die Orthopädie schnell zur Wortführerin des Behandlungsdis-
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kurses wird. Während für Nierenspezialisten oder HNO-Ärzte die Ätiologie eine wichtige Frage bleibt, richten sich Orthopäden und Beschäftigungstherapeuten, ob nun Anhänger oder Gegner der ›Thalidomid-Hypothese‹, mit dem Begriff der Dysmelie ein. Die von 1964 bis 1967 jährlich stattfindenden Arbeitstagungen werden »Dysmelie-Arbeitstagungen« genannt, in den Stichwortverzeichnissen medizinischer Zeitschriften finden sich unter den Begriffen »Contergan« und »Thalidomid« nur noch Verweise auf die Begriffe »Dysmelie« und »Missbildungen«, und im Laufe der Jahre verschwinden sie ganz. In der Münchener Medizinischen Wochenschrift (MMW) bleibt bereits im Jahr 1966 nur noch der Begriff der Missbildung übrig. In der Folge werden relevante Publikationen nahezu unauffindbar. Die Firma Chemie Grünenthal greift noch mehrere Jahre direkt und indirekt in diese Diskussion ein. Sie gibt den Zweifeln an dem kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Contergan und der Geburt missgebildeter Kinder immer wieder Nahrung (vgl. Sievers 1962; Scheuch 1967). Die medizinische Konstruktion des Phänomens und die damit verbundenen Ein- und Ausschlusspraktiken haben starken Einfluss auf die Identität der Personen, die durch diese medizinische Konstruktion Teil einer Gruppe werden; gleichzeitig nehmen sie anderen die Möglichkeit, sich juristisch als contergangeschädigt anerkennen zu lassen. Vor allem für die Ausgestaltung der juristischen Anerkennung in den 70er Jahren wird die medizinische Konstruktion des Phänomens in hohem Maße bedeutsam. Die medizinischen Disziplinen haben sowohl die Macht zu entscheiden, welche Fehlbildungen mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate in Verbindung gebracht werden können, als auch welche Personen mit diesen Fehlbildungen legitimer Weise in Verbindung gebracht werden können. Dieses ›wahre‹ Wissen fließt in ein Bundesgesetz ein, mit dem die Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder gegründet wird. Die juristische Anerkennung der Kinder, deren Missbildungen in einem möglichen Zusammenhang mit der Einnahme thalidomidhaltiger Medikamente stehen (vgl. Böhm 1973: 35), erfolgt von 1973 bis 1976 im Rahmen eines großen und zum Teil mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projektes (vgl. DFG 1972-1976), das auf der Grundlage der oben beschriebenen Ein- und Ausschlusskriterien agiert. In der amtlichen Begründung heißt es, dass Rechtsanspruch auf Leistungen besteht. Jedoch werde »ein genauer Nachweis, daß die Mutter während der sensiblen Phase tatsächlich thalidomidhaltige Präparate der Firma Chemie Grünenthal eingenommen hat, nicht verlangt. Es genügt, daß nach dem Erscheinungsbild der Mißbildungen und den sonstigen tatsächlichen Umständen nicht auszuschließen ist, dass die Mutter in der empfindlichen Phase insbesondere Contergan eingenommen hat« (vgl. ebd.: 175; Hervorh. WF). Die Macht zu bestimmen, was und wer als contergangeschädigt anzuerkennen ist, wird somit vollständig in die Hände der Medizin gelegt.
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1.2 Frühprothetisierung und Frühredression. Durchsetzung des Dispositivs zur Normalisierung abweichender Körper Entsprechend der Foucault’schen Diskursanalyse möchte ich in Bezug auf den Contergan-Diskurs in der Orthopädie der Frage nachgehen, warum die Frühprothetisierung sich als Behandlungsdispositiv durchgesetzt hat. Welche Qualifikationen und Positionen haben die Personen, die legitimiert sind, dieses Dispositiv als ›wahres‹ Wissen zu produzieren? Welcher Kontrolle unterliegt ihr Diskurs, welche alternativen Diskurse wären denkbar? Den Diskurs der Orthopädie interpretiere ich primär als Versuch der Normalisierung abweichender Körper, der sich in Praktiken der Vermessung und Bestimmung von Abweichungen, der Registratur und des Vergleichs zeigt, ebenso wie in Kontrollmaßnahmen, Formen der Aussonderung sowie der Entwicklung und Zuschreibung weiterer Abnormitäten. Innerhalb eines Jahres entwickeln die orthopädischen Disziplinen das Behandlungsdispositiv der Frühprothetisierung und Frühredression. Zu Wortführern des orthopädischen Diskurses werden die Professoren Lindemann und Hepp der Kliniken Heidelberg und Münster. Beide zeichnen sich durch eine langjährige Erfahrung in der ›Prothesenversorgung‹ Erwachsener – vor allem Kriegsverletzter – aus. Haben die beiden Professoren in den 1962 publizierten Aufsätzen die Fachwelt bereits darauf eingestimmt, dass die ›Prothesenversorgung‹ bei Kindern vor einer Wende stehe, so untermauert die Buchveröffentlichung Behandlung und Versorgung bei Fehlbildungen und Amputationen der oberen Extremitäten des aus der Heidelberger Orthopädie stammenden Autorenteams Jentschura, Marquardt und Rudel (1963) den Richtungswechsel in der prothetischen ›Versorgung‹ von Kindern. Von der bis 1961 gültigen Praxis, Kinder erst nach Abschluss des Wachstums, frühestens im Alter von 18 Jahren, mit Prothesen zu versorgen, wird zu einer Praxis der Früh- bzw. Frühestversorgung gewechselt: Der Termin könne »bei entsprechender körperlicher und geistiger Entwicklung des Kindes in den 8. Lebensmonat vorverlegt« werden (Jentschura/Marquardt/Rudel: 30). Den zur Behandlung ihrer Kinder in die Heidelberger Klinik kommenden Eltern wird zur ›Prothesenversorgung‹ geraten, wenn die Kinder ohne Arme geboren wurden, mit ihren Armen nicht zum Mund gelangen oder die Arme sich gegenseitig nicht erreichen können (ebd.: 9). Begründet wird die Frühprothetisierung mit den »günstigen Erfahrungen«, die in den 50er Jahren in den USA gesammelt wurden, außerdem wird die »plötzliche Zunahme der Zahl der Kinder mit angeborenen Mißbildungen« angeführt. Die große Zahl fordere zur Überprüfung der bisherigen Einstellung heraus (ebd.: 1). So weit den Publikationen zu entnehmen ist, basiert das Behandlungsdispositiv der Frühprothetisierung lediglich auf zwei von der Heidelberger Orthopädie durchgeführten ›Pro-
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thesenversorgungen‹: Die erste wird 1957 an einem fünfjährigen, aus unbekannten Gründen armlos geborenen Mädchen aus den USA durchgeführt, die zweite an einem 1959 in Deutschland geborenen contergangeschädigten Mädchen, das kurz nach der Geburt in orthopädische Behandlung kommt (vgl. Marquardt 1962; 1963). Dieser Behandlungsansatz wird jedoch in Heidelberg wie in Münster untermauert durch einen Austausch mit Medizinern und Therapeuten US-amerikanischer Behandlungszentren, die in der Behandlung von Kindern weitaus erfahrener sind. In den USA werden schon in den 1950er Jahren Prothesen für Kinder entwickelt. Das Versprechen, eine altersgerechte Entwicklung zu ermöglichen, wird zur Begründung eines ehrgeizigen Prothesenprojektes, bei dem Säuglinge, die soeben sitzen, aber noch nicht laufen können, beidseitig mit Armprothesen ›versorgt‹ werden. Form und Funktion der Prothesen sollen den Kindern die altersgemäße Eroberung der gegenständlichen Welt ermöglichen – wenn nötig durch Spezialanpassungen wie Rollen zum Krabbeln (vgl. Marquardt 1962; 1963). Begreifen durch Greifen mit künstlichen Patschhändchen stellt in den Augen der Orthopädie die bestmögliche Annäherung an die Funktion des normalen kindlichen Körpers dar. Die Integration der Prothesen ins Körperschema wird dabei zu einer weiteren häufig verwendeten Legitimationsfigur, ohne dass genauer erläutert würde, was die Orthopädie unter diesem Konzept versteht. Zum Dispositiv der Frühprothetisierung gibt es keine Gegenreden, erkennbar sind nur Versuche anderer Kliniken, sich an der Umsetzung des Dispositivs zu beteiligen. So beginnt die Orthopädische Universitätsklinik Friedrichsheim in Frankfurt erst 1963, unterstützt durch Mittel des Bundesministeriums für Gesundheit, mit der Einrichtung eines Forschungslabors für Orthopädietechnik und der Entwicklung von Armprothesen (BMG 1967: 35). Die Frühprothetisierung wird insbesondere von Seiten des Bundesgesundheitsministeriums ideologisch, finanziell und politisch stark unterstützt. Die Zahl der Veröffentlichungen über die Behandlung der Beine und Füße ist viel geringer als die über die Behandlung der oberen Extremitäten. Lindemann – der uns als Hauptvertreter des Dispositivs der Frühprothetisierung bereits bekannt ist – sowie sein ehemaliger Schüler, der Tübinger Oberarzt Walter Blauth, werden zu Wortführern des Diskurses. Sehr früh entwickelt sich auch in diesem Bereich ein Behandlungsdispositiv: Frühredression der Beine und – gegebenenfalls auch operative – Vorbereitung der Füße und Beine für die Anpassung von orthopädischen Schuhen oder Prothesen. Lindemann und Blauth verbreiten von Anfang an Optimismus hinsichtlich des Behandlungserfolgs. Selbst bei doppelseitigen Missbildungen der Beine, so Lindemann zuversichtlich, bereite es keine Schwierigkeiten, die Kinder »gehfähig zu machen« (Lindemann 1962: 302). »Offene Operationen« sollten erfolgen, wenn diese Redressionen erfolglos seien (ebd.).
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258 | Walburga Freitag Die chirurgische Behandlung wird maßgeblich von Blauth bestimmt. 1964, auf der ersten von vier so genannten »Dysmelie-Arbeitstagungen«, berichtet er bereits von Erfahrungen, die er während 236 so genannter »Unterstelloperationen« habe sammeln können (BMG 1965: 145). Bei den Operationen werden die Schien- oder Wadenbeine verkürzt, verlegt, verdrahtet, die Achillessehnen vernäht und andere Sehnen verkürzt. Nach der Operation wird das Kind über vier bis sechs Wochen mit Gips fixiert, anschließend wird es mit Nachtschienen und mit Gehapparaten versorgt. Bei den Diskussionen auf den Arbeitstagungen geht es um die Frage, ob das Bein so »eingestellt« werden soll, dass es möglichst gut für eine prothetische Versorgung zu gebrauchen ist, oder eher anatomisch. Ebenso wie bei den zum Gesicht hin gewinkelten Armen ist auch eine Spitz-Klumpfußstellung bei Kindern mit kurzen Armen günstiger zum Greifen und, vieles spricht dafür, aus diesem Grunde zu erhalten (vgl. ebd.). Wird bei der Diskussion über die Operation der Hände und Finger zumindest hin und wieder die Sensibilität der eigenen Körperteile erwähnt, so gewinnt dieses Argument für die Füße so gut wie keine Bedeutung. Niedergelassene Ärzte raten den Eltern vielfach, den Unterschenkel des Kindes amputieren zu lassen, um die Prothesenanpassung zu erleichtern (Köchling 1963). In Münster gilt die Maxime, Gliedmaßen dann zu operieren, wenn sie »keinen Nutzen erfüllen« können (ebd.). Wichtiges Operationsargument ist eine einfachere und kosmetisch bessere Prothesenversorgung (Arbeitsgemeinschaft für Technische Orthopädie und Rehabilitation 1974: 204). Der Diskurs der Behandlung der Beine und Füße unterscheidet sich auch in anderer Hinsicht von dem der Behandlung der Arme und Hände. Das Kind ist noch stärker Behandlungsobjekt, die Chirurgie ist bei einer Operation auf seine Mitarbeit noch weniger angewiesen als die technische Orthopädie bei dem Versuch der Anpassung einer Armprothese. Schmerzen und soziale Folgen der Eingriffe werden nicht thematisiert; die Chirurgie ist zufrieden, wenn das Ergebnis nicht schlechter ist als die Funktion vor der Operation (vgl. Blauth in BMG 1965). Außerdem spielen die Eltern in diesem Diskurs keine Rolle mehr. Werden die Amputation von Fingern und die Verordnung einer kosmetischen Hand mit den Wünschen der Eltern legitimiert, wird bei der Diskussion über die Behandlung der Beine und Füße mit den Eltern nicht gesprochen. Allerdings wird ihnen bei misslungenen Eingriffen eine Mitschuld zugewiesen. So schreibt Blauth, drei seiner fünf Misserfolge seien dadurch bedingt, »daß diese Fälle alle zum Teil über Monate zu Hause ohne Nachtschienen gelegen haben« (ebd.: 175).
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1.3 Strategien, Funktionen und Legitimationen des orthopädischen Diskurses Das Dispositiv der Frühprothetisierung ermöglicht der orthopädischen Disziplin, die Entwicklung von Kinderprothesen zu forcieren und ihre Expertise auf diesem Gebiet zu entwickeln. Die Chirurgie bekommt die Möglichkeit, Erfahrungen mit der Amputation und dem Versetzen von Gliedmaßen zu sammeln. Die Professionalisierung der orthopädischen und chirurgischen Disziplinen zählt zur deutlichsten Strategie des Diskurses. Gleichzeitig konstituiert das Behandlungsdispositiv sein Objekt, den ›falschen Körper‹: fehlgebildete Arme und Beine, fehlende Ohren, Muskeln und Gliedmaßen. Dieses Objekt muss ›normalisiert‹ werden, um gesellschaftlich integrationswürdig zu sein und die Zugangsberechtigung zu Schule und Beruf zu erhalten. Darüber hinaus ist der gesundheitspolitische Effekt nicht zu unterschätzen: Mit der Frühprothetisierung kann den betroffenen Eltern und der Bevölkerung der Eindruck vermittelt werden, dass das Bestmögliche für die Kinder getan wird. Als erstrebenswertes »Endziel« von Rehabilitation wird – erstaunlicherweise bereits bei der Behandlung von Säuglingen – die in der fernen Zukunft liegende Arbeitsfähigkeit und der Erwerb eines »Dauerarbeitsplatzes« genannt (Jahrbuch der Fürsorge für Körperbehinderte 1962: 20). Arbeitsfähigkeit wird zur zentralen Legitimation der Normalisierungspraktiken, die sich an die contergangeschädigten Kinder richten. Dieses Ziel lässt sich in den allgemeinen Zusammenhang des Spätkapitalismus einordnen, des zentralen politökonomischen Dispositivs Westdeutschlands der 60er und 70er Jahre, bei dem es um die Herstellung und Durchsetzung von Arbeitsfähigkeit, Arbeitsdisziplin und Arbeitsethik geht.
2. Biographische Erfahrungen Wie werden die Bezeichnungs- und Normalisierungspraktiken der Disziplinen von den betroffenen Kindern wahrgenommen? Wie stellen die Subjekte ihre Erfahrungen und Bedeutungszuweisungen, Widerstände und Entscheidungsprozesse dar? Sieben biographisch narrative Interviews11 mit contergangeschädigten Frauen und Männern, die zum Zeitpunkt des Interviews 33 bis 38 Jahre alt sind, bilden die Materialgrundlage für meine biographieanalytische Studie (Freitag 2005), aus der ich für diesen Aufsatz exemplarische Erzählpassagen ausgewählt habe und deren Ergebnisse ich im Folgenden zusammenfasse. Um die Feinanalyse der biographischen Erzählungen auf mein Forschungsinteresse zu fokussieren und dabei sowohl die erzählerisch dargestellten (Macht-)Beziehungen zwischen involvierten Personen, Objekten und Prozessen als auch die Ereignisverkettung in den Blick nehmen zu
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260 | Walburga Freitag können, bin ich von folgenden Fragen ausgegangen: Von welchen biographisch relevanten Erfahrungen, Aushandlungen und Entscheidungsprozessen erzählt die interviewte Person? Was wird von der Erzählerin als dazugehöriger Prozess charakterisiert? Welche Personen oder anderen Ereignisträger – Tiere, Prothesen, Bäume, Rollstuhl, weitere materielle Umwelt etc. – sind in den Interaktionsprozess involviert? Wie kann die Beziehung zwischen der Erzählerin, der Aushandlung/Entscheidung und dem Ergebnis beschrieben werden? In welcher Weise beeinflussen und/oder kontrollieren andere die Interaktion und/oder Entscheidung? Wie begründet die Erzählerin, dass die Entscheidung für sie den Status von ›Faktizität‹ hat? Die letzte Frage liegt in meiner These begründet, dass relevante Entscheidungen und Konstruktionen der Akteure den Status von biographischer Wirklichkeit gewinnen, zu biographisch ›wahrem‹ Wissen werden. So führt z.B. die Entscheidung gegen Beinprothesen zur unhintergehbaren biographischen Wirklichkeit, in der Öffentlichkeit auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein. Auf diesen Punkt komme ich noch zurück.
2.1 »Ich bin ’nen bißchen anders«. Biographische Konstruktion von Selbst- und Fremdbezeichnungen und biographischer Identität »E: […] ich war – wohnte in ’nem kleinen Städtchen – da war ich die einzige Contergangeschädigte und folgedessen waren meine Spielkameraden alle nichtbehindert und das gab überhaupt keine Probleme damit die erste Zeit. So äh – daß ich gemerkt hätte – daß die nicht mit mir hätten spielen wollen oder so – gab es nicht. Das erste wo ich merkte – oh die ist ’nen bißchen anders – oder ich bin ’nen bißchen anders – das war eigentlich als ich in die Schule kam.« (Vera Nickel12, in: Freitag 2005: 259, Hervorh. dort)
Vera Nickel, so wird im Verlaufe ihrer Erzählung deutlich, wächst in dem Glauben auf, ihre im Vergleich zu anderen Kindern kurzen Arme und jeweils drei Finger an zu klein geratenen Händen seien von Gott gemacht. Im Spiel mit den anderen Kindern empfindet sie sich als gleich. Erst als sie in der Schule nur mit großer Vorsicht die gebohnerten Stufen des Treppenhauses hinabsteigen kann, dadurch das Mitleid einer Lehrerin weckt, die sie die Treppe hinunter trägt, kommt ihr in den Sinn, vielleicht ein bisschen anders zu sein als die anderen Kinder. Die Analyse der biographischen Erzählungen auch der weiteren Interviewten zeigt, dass die im medizinischen Diskurs verwendeten Begriffe Dysmelie und Thalidomid-Embryopathie nicht in den Wortschatz der Subjekte aufgenommen wurden. Stattdessen sind die Erzählerinnen und Erzähler ›contergangeschädigt‹. Auf der Basis subjektiver Erfahrungen und des – mehr oder weniger schmerzhaften – Erlebens fügen die ErzählerInnen ihre eigenen Symptome und Syndrome zu dem Phänomen ›conter-
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gangeschädigt sein‹ hinzu, ohne jedoch einen Überblick über die Bezeichnungspraxis derjenigen zu haben, die das ›wahre‹ Wissen geschaffen haben. Die Betroffenen entwickeln eine eigene Kultur von Bezeichnungspraktiken, sprechen in den Interviews von sich und anderen als »Langarmer«, »Kurzarmer« und »Ohnarmer«, von nicht contergangeschädigten Personen als »Normi« und von sich selbst als »Conti«. Die Entwicklung dieser Kultur ist möglich, so meine These, weil viele contergangeschädigte Frauen und Männer im Laufe ihrer Kindheit persönliche Beziehungen zueinander aufbauen und als (politische) Gruppe agieren. Die ErzählerInnen, so ein weiteres Ergebnis der biographischen Analyse, unterscheiden zwischen Bezeichnungen, welche die Ursache der Schädigung anzeigen und Selbstbezeichnungen, die unterschiedliche Identitätsaspekte – Frau, Mann, ›Normale‹ oder ›Behinderte‹ – ansprechen. Die temporär dominierenden biographischen Identitäten stehen in starker Abhängigkeit von der Reaktion der Bezugsgruppe, deren anerkanntes Mitglied die Interviewten sein möchten, und divergieren von den Bezeichnungen der wissenschaftlichen Disziplinen. Für die Phase der Kindheit, als die ErzählerInnen den stärksten Normalisierungspraktiken ausgesetzt waren, bezeichnen sie sich als »normal«, »fast normal« und »nicht behindert«. In der Pubertät verstärkt sich dann das Gefühl, »behindert« zu sein, und in der Phase der beruflichen Orientierung, in der medizinische Normalisierungspraktiken fast nicht mehr wirksam sind, wirkt sich identitär die Macht der gesellschaftlichen Norm der Arbeitsfähigkeit aus. Vor allem bei den Interviewten, die der Erwerbsarbeit einen großen Stellenwert in ihrer Biographie beimessen, steigert die mit der Arbeitslosigkeit verbundene Nichtanerkennung der eigenen Arbeitsfähigkeit das subjektive Gefühl, behindert oder gar schwerbehindert zu sein. Verschiebungen und Entwicklungen von Identität – auf einer Bandbreite von »fast normal« bis »schwerstbehindert« – werden ausgelöst durch Schlüsselerlebnisse, durch einschränkende, aber auch ermöglichende Handlungsbedingungen, die alle mit Fragen gesellschaftlicher Anerkennung bzw. Ausgrenzung verbunden sind.
2.2 »Als Kind hat man es mal mit Prothesen versucht«. Orthopädische Normalisierungspraktiken »E: Äh als Kind hat man es mal mit Prothesen versucht – aber – – äh – also letztlich sind sie auch daran gescheitert – daß also die technische Entwicklung äh – nicht so weit war daß man – – jetzt sagen kann – die Armprothesen würden die Füße ersetzen […] hab ich es auch gleich sein lassen danach – beziehungsweise also meine Eltern haben dann auch sein lassen – weil sie gesehen haben – auf Dauer bringt das nichts – und wenn ich also nur versucht hätte mit den Prothesen was zu machen dann eh – wäre mit Sicherheit die Gelenkigkeit der Beinarbeit in Mitleidenschaft
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262 | Walburga Freitag geraten und – deswegen haben sie von vornherein Wert darauf gelegt – daß ich dann alles mit den Füßen halt mache – – I: Hm hm E: Und dabei ist es dann auch geblieben – – – und heute ist es auch so daß ich also – (mir) Prothesen gar nicht mehr vorstellen kann« (Bernd Kreienbrink, in: Freitag 2005: 363).
In sehr knapper und abstrakter Weise beschreibt Bernd Kreienbrink den ihn betreffenden Entscheidungsprozess gegen Armprothesen. Er erinnert sich kaum und wahrscheinlich auch nicht gerne an diese Zeit; sein damaliges Alter kann er nicht benennen. Durch das Indefinitpronomen »man« und das ohne Bezug verwendete »sie« verstärkt er den Eindruck, selbst (oder vertreten durch die Eltern) an dem Versuch der Prothesenanpassung kaum beteiligt gewesen zu sein. Die verantwortlichen Personen und Institutionen bleiben anonym. Man hat es versucht, und sie sind gescheitert. In welcher Weise Bernd Kreienbrink selbst es versucht hat, bleibt an dieser Stelle unklar. Deutlich wird hingegen, dass die mit »man« bezeichnete technische Orthopädie keine ausreichende technische Lösung geschaffen hat, um die Arme zu ersetzen. Früh scheint ebenfalls klar gewesen zu sein, dass die vorhandene Technik keine Alternative zum Gebrauch seiner Beine und Füße darstellt. So wie Bernd Kreienbrink haben sich alle Erzählerinnen und Erzähler nach Phasen, die zwischen wenigen Wochen und zehn Jahren lang sind, von den Arm- wie auch Beinprothesen getrennt. Ohnehin werden diese nie in den Alltag integriert. Ihre Anwendung kommt über den Status von Übungsobjekten nicht hinaus. Sobald es ihnen möglich ist – im Alter zwischen ca. sechs und vierzehn Jahren – entscheiden sie sich in Absprache mit den Eltern gegen Arm- und Beinprothesen. Dabei hatten die ErzählerInnen die Möglichkeit, ihre Entscheidungen auf der Grundlage eigener Erfahrungen zu treffen. Die medizinischen Disziplinen finden hingegen bei der Beschreibung der Entscheidungsprozesse keinerlei Erwähnung. Auf der Ebene der biographischen Analyse lässt sich erkennen, dass der hinter dem Dispositiv der Prothetisierung steckende Normativitätstypus – lange Arme oder gerade Handgelenke – von den ErzählerInnen nicht akzeptiert wird. Dies bringt Elisabeth Henze deutlich zum Ausdruck: »E: – – – – Irgendwann in diesen ganzen Krankenhausgeschichten is natürlich äh – is mir dann auch aufgefallen […] – daß die Ärzte mich direkt als kleines Kind so mit sechs sieben oder so auch schon angesprochen haben – ähm – sach mal – sollen wir deine Hände nicht grade machen – – das geht. (I: hm hm) E: Dann bleiben aber deine Handgelenke steif. Und – ich hatte damals schon immer – – das (I: hm hm) E: Gefühl – irgendwie ich fand das ganz komisch diese Frage – oder diesen Vorschlag. Ich fand das völlig komisch – ich dachte – was soll das – also wenn ich das mal mit meinen heutigen Worten so ausdrücke – was soll das – was hab ich von graden Händen wenn die Handgelenke steif sind – ich komm doch äh – ich kann doch alles so – in Anführungszeichen – also – das war mir immer – und diese Frage tauchte
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Diskurs und Biographie | 263 dann eben auch gerade von Ärzten auch die mich nicht kannten – tauchte das immer wieder auf – und das – das hab ich nie kapiert« (Elisabeth Henze, in: Freitag 2005: 195, Hervorh. dort).
Elisabeth Henze schildert ein Erlebnis, das sie den ›Krankenhausgeschichten‹ zuordnet. Um ihre Erfahrung plausibel darstellen zu können, muss sie die Akteure der Kinderstation und ihre Beziehungen zueinander skizzieren. Krankenschwestern und Elisabeth bilden die konstanten Akteure, die Kinderstation ist ihr zweites Zuhause. Die Stationsärzte hingegen wechseln sehr häufig, bei jedem Krankenhausaufenthalt begegnet Elisabeth ihr unbekannten Ärzten. Obschon sie mit der Situation vertraut ist, aufgrund ihrer abgewinkelten Hände in der Öffentlichkeit aufzufallen, erscheint ihr der Vorschlag der Orthopädie nahezu absurd, ihre Handgelenke aus kosmetischen Gründen versteifen zu lassen. Der Umwelt würde damit Normalität vorgegaukelt werden, ihr selbst aber die funktionelle Normalität genommen. Die Entscheidung gegen Prothesen wird in allen biographischen Erzählungen von der Frage funktioneller Normalität bestimmt. Kosmetische Normen haben dagegen keine Bedeutung. Die Ablehnung von Prothesen kann jedoch nur erfolgen, weil die Erzählerinnen – trotz der Prothesenversorgung – im Laufe ihrer biographischen Entwicklung nicht daran gehindert wurden, ihren Körper auf eine Weise zu entwickeln, welche die Funktion der Prothese übertrifft. Die eigenen Finger, Füße und kurzen Arme, mögen sie auch verkürzt oder unvollständig sein, besitzen gleichwohl eine unnachahmliche Sensibilität, die durch den Gebrauch von Prothesen verloren geht. Aus diesem Grund haben die Eltern der beiden interviewten ›Ohnarmer‹ – angeregt von der Orthopädie – ihre Kinder dabei unterstützt, die Füße als Handersatz zu benutzen: Auf diese Weise haben sie eine ungewöhnliche Gelenkigkeit entwickeln können. Als ›falscher Körper‹ stellte der contergangeschädigte Körper eine gesellschaftliche Provokation dar. In dem Entscheidungsprozess gegen die Prothesen entwickeln die Erzählerinnen eigene Theorien über die Funktion ihres Körpers, z.B. über die Bedeutung von Muskelkraft und Fußsensibilität. Auf dieser Grundlage haben die contergangeschädigten Frauen und Männer weitgehend positive Körperbilder und Selbstkonzepte entwickeln können. Angemessen einzuschätzen sind diese Entwicklungen nur dann, wenn man sich vor Augen hält, dass sie trotz der in den Normalisierungsversuchen liegenden Missachtung des eigenen Körpers stattgefunden haben. Aber gerade die Tatsache, von einer angebotenen Möglichkeit – den Prothesen – keinen Gebrauch gemacht zu haben, kann als weiterer Einfluss des medizinischen Diskurses auf die biographische Wirklichkeit der Erzählerinnen und Erzähler angesehen werden. Sie beeinflusst ausgesprochen positiv die Weise, wie sich die Erzähler und Erzählerinnen auf ihren Körper und seine Stärken beziehen.
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3. »Was hab ich von graden Händen, wenn die Handgelenke steif sind?« Abschließende Überlegungen zur biographischen Bedeutung der medizinischen Normalisierungspraktiken Die medizinischen Disziplinen, so viel kann an dieser Stelle festgehalten werden, haben den Anschluss an »die Lust und das Begehren« (Deleuze 1996) der contergangeschädigten Kinder und Jugendlichen nicht geschafft. Selbst als »freudloser Utilitarismus« (Detel 1998: 41) kann das Projekt der Orthopädie nicht bezeichnet werden, da für die Erzählerinnen und Erzähler auch die Nützlichkeit nicht gegeben war. Fasst man die in den biographischen Erzählungen zum Ausdruck kommenden Entscheidungen gegen die von der Orthopädie favorisierte prothetische Normalisierung zusammen, lässt sich sagen, dass das Tragen von Prothesen, egal ob Bein- oder Armprothesen, die contergangeschädigten Frauen und Männer in ihrer Kindheit frustriert hat. Die von den Orthopäden prophezeite Integration der Gliedmaßen in das Körperschema ist ausgeblieben: »[…] und irgendwann hab ich entschieden daß die – also daß der Aufwand zu groß also für das Ergebnis zu groß ist. Also das Ergebnis war nicht befriedigend und der Aufwand war so groß dafür. Da hab ich gesagt nä ich möcht nicht mehr« (Heiner Offel, in: Freitag 2005: 230).
Die Ablehnung der Prothesenbehandlung wurde nicht negativ sanktioniert. Weder die orthopädische Disziplin noch die Eltern der interviewten Frauen und Männer haben versucht, das Tragen der Prothesen gegen den Willen der Kinder durchzusetzen. Darüber hinaus knüpften weder Kindergarten noch Schule die Aufnahme bzw. Einschulung an eine Beherrschung der Prothesen. Im Gegenteil: Kindergarten und Schule waren mit den Problemen überfordert, die die Prothesen beim Tragen bereiteten. Es wäre jedoch verkürzt, wollte man die Frage der biographischen Bedeutsamkeit der Normalisierungspraktiken auf das Tragen oder Ablehnen von Prothesen oder auf Akzeptanzfragen bei Operationen reduzieren. Auch im Falle der Ablehnung sind die Dispositive der Normalisierung biographisch bedeutsam geworden. Diese Bedeutsamkeit liegt auf verschiedenen Ebenen. Wenn in den Interviews die Erfahrungen mit dem medizinischen System ohne Erwähnung irgendeiner Person geschildert werden und die Kindheitserzählung dominieren, drängt sich die Frage auf, welche biographischen Auswirkungen die lang andauernde frühkindliche Trennung von den Eltern (gehabt) hat und welche Bedeutung den mehrfachen und mehrmonatigen Krankenhausaufenthalten in den ersten Lebensjahren zukommt (Freitag 2005: 221ff.; 377ff.). Beschrieben werden zudem Auswirkungen von Operationen, die nicht rückgängig gemacht werden können, aber das »Zur-Welt-Sein« (Merleau-
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Ponty 1965) der ErzählerInnen stark beeinflussen. Trennungsphasen durch Krankenhausaufenthalte verändern die Beziehung zu den Eltern, defekte Armprothesen und starke mütterliche Zuwendung durch regelmäßiges Armprothesentraining sind Anlass für Streit und Eifersucht, die das Verhältnis zwischen den Geschwistern nachhaltig negativ beeinflussen. Biographische Bedeutsamkeit gewinnen auch die von den medizinischen Disziplinen geäußerten günstigen oder ungünstigen Entwicklungsprognosen. Sie beeinflussen die retrospektive Bewertung dessen, was in der Schule, der Ausbildung und im Beruf erreicht wurde. Die Einstellung der contergangeschädigten Frauen und Männer zum ›wahren‹ Wissen der medizinischen Disziplinen reichen von kritischer Bewertung bis zu Ablehnung und Widerstand. Ihre eigenen Gefühle sind bei der Beurteilung das relevante Kriterium. Denn ihr biographisch ›wahres‹ Wissen bedeutet: Die Prothesen bereiten Schmerzen, und mit der Kombination von Hand und Fuß kann ich schmerzlos agieren; mit den Prothesen kann ich nichts fühlen, meine Finger sind hingegen sehr viel sensibler; die Prothesen schränken den Aktionsradius ein, mit dem Rollstuhl bin ich viel schneller; mit den Armschienen kann ich die Gegenstände nicht greifen, die ich gerne halten möchte; die Funktion meiner abgewinkelten, aber beweglichen Hände ist mir wichtiger als die Ästhetik gerader Hände mit steifen Handgelenken. Abgelehnt werden die Normalisierungspraktiken immer dann, wenn sie die Schmerzen verstärken, Mobilität einschränken, einen hohen technischen und körperlichen Aufwand mit sich bringen und die funktionale Differenz zu anderen Kindern vergrößern. Das von der Medizin in den Vordergrund gestellte ›Anreizsystem‹, die Arbeitsfähigkeit zum Erwerb eines Dauerarbeitsplatzes, lag in ungewisser Ferne und war daher unwirksam. ›Wahres‹ Wissen der medizinischen Disziplinen wird immer dann anerkannt, wenn sich die ErzählerInnen Schmerzlinderung, mehr Mobilität und somit insgesamt eine Verbesserung ihrer subjektiven Lebensqualität davon versprechen. Akzeptiert werden z.B. Ohr-, Augen- und Herzoperationen. »Es gibt einen Kampf ›um die Wahrheit‹, oder zumindest ›im Umkreis der Wahrheit‹, wobei nochmals gesagt werden soll, daß ich unter Wahrheit nicht ›das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind‹, verstehe, sondern ›das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird‹« (Foucault 1978c: 53).
Dieses Zitat von Foucault möchte ich aufgreifen und biographisch gewendet zur Formulierung der diesen Aufsatz abschließenden These verwenden: Das Ensemble der Regeln, nach denen Subjekte das Wahre vom Falschen scheiden und ihr biographisch ›wahres‹ Wissen mit spezifischen
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266 | Walburga Freitag Machtwirkungen ausstatten, unterscheidet sich vom Ensemble der Regeln, nach denen die wissenschaftlichen Disziplinen das Wahre vom Falschen scheiden. Wichtige Regeln, die für die Herstellung biographisch ›wahren‹ Wissens für die contergangeschädigten Frauen und Männer Gültigkeit besitzen, sind: Ich fühle (mich) gut; ich kann; ich bin (werde) anerkannt; was ich tue, ist sinnvoll. Das biographisch ›wahre‹ Wissen wird durch die Gefühle der Subjekte reguliert und gleichzeitig produktiv. Brechungen, Verschiebungen und Verwerfungen von wissenschaftlich ›wahrem‹ Wissen und Dispositiven der Normalisierung sind somit in den biographischen Erfahrungen der Subjekte zu suchen. Es zeigt sich ein starker biographischer Eigensinn.
Anmerkungen 1
Disziplinen werden von Foucault als Gesamtheiten von Aussagen bezeichnet, die sich durch gemeinsam benutzte wissenschaftliche Modelle organisieren (1981: 253). 2 Dies sind die von Foucault beschriebenen Diskurspraktiken, die den gesellschaftspolitischen Organisationsformen der Biopolitik, der Biomacht und Gouvernementalität entsprechen (vgl. Foucault 1994: 243ff.). 3 Macht wird von Foucault nicht negativ, sondern positiv und produktiv verstanden. Zu seinem Machtverständnis siehe insbesondere Foucault 1994. 4 Disability Studies kennzeichnen sich meines Erachtens durch eine ebenso starke analytische wie reflexive Perspektive auf die Konstruktionsprozesse, in deren Folge Krankheiten, körperliche Schädigungen, Behinderungen oder Abweichungen als Realitäten betrachtet, bearbeitet und/oder erlebt werden. Die Ergebnisse der Analyse bieten die Grundlage für Dekonstruktionen und Dekontextualisierungen. 5 Contergan, dessen Wirkstoff die internationale Bezeichnung Thalidomid trägt, ist ein von der Firma Chemie Grünenthal GmbH entwickeltes, hergestelltes und seit Oktober 1957 vertriebenes Medikament, das Ende November 1961 vom deutschen Arzneimittelmarkt genommen werden musste. Es bestand der Verdacht, dass zwischen der Einnahme von Contergan während der frühen Phase der Schwangerschaft und der Geburt eines missgebildeten Kindes ein Zusammenhang besteht. Neben Contergan waren »Algosediv« und »Grippex« Handelsnamen thalidomidhaltiger Medikamente der Firma Chemie Grünenthal. In Westdeutschland wurden von Oktober 1957 bis November 1961 ca. 1,2 Milliarden dieser rezeptfrei erhältlichen Tabletten in Apotheken gekauft (Wenzel/Wenzel 1969: 241f.). Es wirkt schmerzlindernd und beruhigend und wurde von Kindern und Erwachsenen aller Altersgrup-
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pen eingenommen. Bei Langzeiteinnahme wurden Veränderungen der Sensibilität der Finger und Zehen (sog. Neuropathien) beobachtet. Die Einnahme auch geringster Mengen während der ersten 40 Tage der Schwangerschaft kann zu Missbildungen des Fötus führen. Die Angaben zur Zahl der missgebildet geborenen Kinder variieren zwischen 5000 und 10000. Viele starben innerhalb der ersten Lebenswochen. Ca. 2900 Eltern ließen ihr Kind von 1973 bis 1976 als contergangeschädigt anerkennen. 6 Habilitation ist der von mir bevorzugte Begriff, da es um die Herstellung und nicht um die Wiederherstellung eines ›Normalzustands‹ des Körpers geht. Die medizinischen Disziplinen sprechen durchgängig von Rehabilitation und ordnen ihre Praktiken auch in den Rehabilitationskontext ein. 7 Als ehemaliger Schüler des Phänomenologen Merleau-Ponty ist Foucault mit der Phänomenologie bestens vertraut. Seine Generation, so äußert er in einem Interview, stehe ihr jedoch eher ablehnend gegenüber. So weist Foucault Anfang der 60er Jahre entschieden die Möglichkeit zurück, vom Sinn und der Bedeutung, die Subjekte ihren Erfahrungen geben, wissenschaftlich Gebrauch machen zu können. »Für die Angehörigen meiner Generation erscheint der Sinn nicht mehr von selber, er ist nicht ›immer schon da‹ oder vielmehr, er ist schon da, aber nur wenn gewisse formale Bedingungen gegeben sind. Und von 1955 an haben wir uns hauptsächlich der Analyse der formalen Bedingungen des Erscheinens von Sinn gewidmet« (Foucault 1974: 7f.). 8 Zur meiner Umgangsweise mit dem grammatischen Geschlecht: Ich wechsele unsystematisch zwischen der weiblichen und männlichen Form und der Verwendung des großen I, sofern nicht eine konkrete Person gemeint ist. 9 Die einfachen Anführungszeichen zeigen die Machtprozesse an, die mit der Konstitution des Wissens einhergehen. Durch ihre permanente Verwendung soll dieser unsichtbar werdende Prozess dauerhaft transportiert werden. 10 Es gibt keine Definition des Begriffs »Redression«. Praktiziert wird eine manuelle oder apparative ›Beseitigung‹ von ›Fehlstellungen‹ der Gliedmaßen, häufig durch nächtliches Anlegen von Gipsschienen über viele Monate oder gar Jahre hinweg. 11 Die Interviews begannen mit einer zeitlich und thematisch offen gehaltenen Aufforderung zum Erzählen der Lebensgeschichte. Diese Erzählung wurde nicht mit Fragen gesteuert oder durch Kommentare unterbrochen, um den ErzählerInnen die Möglichkeit zu geben, die Themenschwerpunkte selbst zu setzen. 12 Personen-, Tier- und Ortsnamen wurden in der Studie anonymisiert. Die Abkürzung »E« bedeutet Erzählerin, »I« Interviewerin.
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) vakat 272.p 145482606928
V. Behinderung und sozialer Status. Institutionen der Inklusion/Exklusion
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) T01_11 RESPEKT V.p 145482606992
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) vakat 274.p 145482607000
Behinderung: Inklusions- oder Exklusionsfolge? | 275
Behinderung: Inklusions- oder Exklusionsfolge? Zur Konstruktion paradoxer Lebensläufe in der modernen Gesellschaft Gudrun Wansing
In allen (west-)europäischen Ländern vollzieht sich derzeit ein grundlegender ökonomischer, demografischer und politischer Wandel, der soziale Problemlagen und die Richtung sozialer Fragestellungen strukturell verändert. Ging es in der traditionellen Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit um die Beobachtung und Beschreibung von Lebenschancen anhand einer ›Oben/Unten‹-Skala, bildet sich aktuell eine neue Differenz des gesellschaftlichen ›Innen‹ und ›Außen‹ heraus. Weil die Lebensumstände insgesamt unsicherer werden, sich die Chancen auf Erwerbsarbeit und materiellen Wohlstand polarisieren und der Einbezug eines wachsenden Teils der Bevölkerung in die vielfältigen Leistungssysteme der Gesellschaft nicht mehr garantiert werden kann, avanciert Zugehörigkeit zu einer neuen sozialen Frage und verschafft den Kategorien Teilhabe/Ausgrenzung bzw. Inklusion/Exklusion in den Sozialwissenschaften eine beachtliche Karriere (vgl. exemplarisch Kronauer 2002; Stichweh 2005). Dabei wird Behinderung im Unterschied zu sozialen Problemen wie Armut und Arbeitslosigkeit bislang wenig beachtet. Dies kann zum einen auf eine (medizinische und sonderpädagogische) Tradition einer individualisierenden Sicht auf Behinderung zurückgeführt werden, welche Behinderung über einen langen Zeitraum als personenbezogenes Faktum verstand und die gesellschaftliche Dimension weitgehend außer Acht ließ. Zum anderen thematisiert die soziologische Forschung Behinderung bislang insgesamt wenig (vgl. Waldschmidt/Schneider 2003). Der folgende Beitrag möchte die sozialstrukturellen Analysekategorien Inklusion/Exklusion für eine Soziologie der Behinderung ertragreich ma-
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276 | Gudrun Wansing chen und ›Behinderung‹ als soziale Konstruktion in gesellschaftlichen Prozessen der Ein- und Ausschließung verorten. Auf der Grundlage des systemtheoretischen Gesellschaftsmodells von Luhmann sollen zunächst die modernen Bedingungen der Inklusion und Exklusion dargestellt und vor diesem Hintergrund Risiken der ›Lebenslage Behinderung‹ in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen auf der Basis empirischer Daten konkretisiert werden. Dabei wird die zentrale Annahme zu entfalten sein, dass die moderne Gesellschaftsstruktur im Kontext von Behinderung Lebensläufe hervorbringen kann, die durch eine Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion gekennzeichnet sind.
1. Inklusion: Normalfall moderner Gesellschaft Sich über Teilhabe an bzw. Ausgrenzung aus der Gesellschaft zu verständigen, setzt zunächst die Klärung voraus, auf welche der inzwischen kaum mehr zu überblickenden Gesellschaftsentwürfe sich die Kategorien der sozialen Zugehörigkeit beziehen sollen. Als analytischer Rahmen mit großem gemeinsamem Nenner eignet sich die Idee der ›modernen Gesellschaft‹, auch wenn damit keine eindeutige Diagnose verbunden ist, wie Armin Nassehi bemerkt: »Unstrittig mag vielleicht sein, dass moderne Gesellschaften eine demokratische Staatsform bevorzugen, dass sie einen hohen Grad an Arbeitsteilung aufweisen und für Vollinklusion ihrer Bevölkerungen in ihre Bildungssysteme sorgen, dass sie positives Recht als Konfliktregulationsstrategie benutzen, dass sie zunehmend universalistische Werte ausbilden, inzwischen auch: dass ihre Ökonomie kapitalistisch organisiert ist. Aber dies ist wenig tiefenscharf und präzise.« (Nassehi 2001: 208)
Im Folgenden soll der Begriff der modernen Gesellschaft für die kulturelle Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Epoche verwendet werden, die seit Ende des 18. Jahrhunderts von radikalen gesellschaftlichen Umwälzungen wie Industrialisierung, Technisierung, Demokratisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen geprägt wird. Für die soziologische Betrachtung der modernen Gesellschaft spielen Differenzierungsansätze eine zentrale Rolle (vgl. Schimank 1996), die davon ausgehen, dass die moderne Gesellschaft durch eine fortschreitende Ausdifferenzierung der Sozialstruktur gekennzeichnet ist. Niklas Luhmann entfaltet die differenzierungstheoretische Perspektive im Rahmen seiner Systemtheorie. Ihm zufolge haben sich sukzessive funktionale Teilsysteme wie Politik, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Religion, Recht, Gesundheit, Medien usw. herausgebildet, die jeweils gemäß ihren eigenen Entscheidungskriterien gesellschaftliche Teilaufgaben bearbeiten. Die funktional ausdifferenzierte Sozialstruktur stellt den Hintergrund dar, vor dem Luhmann die Bedin-
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gungen von Teilhabe in der modernen Gesellschaft beschreibt. Dabei geht er in seinem umfassenden systemtheoretischen Gesellschaftsentwurf (vgl. Luhmann 1999) von drei zentralen Prämissen aus. Erstens bilden sich die gesellschaftlichen Funktionssysteme nicht aus spezifischen Zusammenschlüssen von Individuen; sie sind somit nicht mit sozialen Handlungs- und Organisationssystemen gleichzusetzen. Sie stellen vielmehr Kommunikationssysteme1 dar, die sich jeweils an einem zweiwertigen Code und einem spezifischen Programm orientieren, nach denen entschieden wird, was in die Zuständigkeit des jeweiligen Funktionssystems fällt und was als nicht relevant betrachtet wird. So besteht beispielsweise das Rechtssystem nicht aus Gerichten, Anwälten, Angeklagten, Prozessen usw., sondern stellt die Summe aller Kommunikationen dar, die sich an der Codierung Recht/Unrecht sowie an etablierten Verfahrensregeln, Gesetzen und ihren Interpretationen ausrichten. Zweitens handelt es sich bei den Funktionssystemen nicht nur um einen bestimmten Ausschnitt, eine Art Unterkategorie von Gesellschaft, sondern um die ausschließlichen Elemente, aus denen sich Gesellschaft produziert und reproduziert, das heißt Wirtschaft, Recht, Bildung usw. sind als Vollzug von Gesellschaft zu verstehen. Drittens führt die systemtheoretische Konzeption von Gesellschaft als Gesamtheit aller erwartbaren (funktionalen) Kommunikationen zu der Konsequenz, dass man nicht mehr davon ausgeht, Gesellschaft bestehe aus Menschen. Zwar wird gesellschaftliche Kommunikation wesentlich durch Menschen (systemtheoretisch formuliert: »psychische Bewusstseinssysteme«) mitkonstituiert; als lebende Wesen können sie aber nicht Kommunikationssystemen zugerechnet werden. »Es bleibt nur die Möglichkeit, den Menschen voll und ganz, mit Leib und Seele, als Teil der Umwelt des Gesellschaftssystems anzusehen.« (Luhmann 1999: 30) Auch wenn diese theoretische Verortung des Menschen jenseits von Gesellschaft kontrovers diskutiert wird (vgl. Fuchs/Göbel 1994), ist ihr analytischer Gewinn nicht von der Hand zu weisen: Wenn nämlich nicht der Mensch als integrales Element von Gesellschaft verstanden wird, dann wird der analytische Blick frei für die Beziehung des Menschen zur Gesellschaft, für seine Teilhabe an der Kommunikation der Funktionssysteme, seine Inklusion in die Gesellschaftssysteme. Inklusion bezieht sich in diesem Zusammenhang also »auf die Art und Weise […], in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden« (Luhmann 1994a: 20). So ereignet sich Inklusion von Menschen mit Behinderung immer dann, wenn sie als »Personen«2 in der themenspezifischen Kommunikation einzelner Gesellschaftssysteme berücksichtigt werden: als Konsumenten im Wirtschaftssystem, als Kläger im Rechtssystem, als Partner in Liebesbeziehungen, als Zeitungsleser im Mediensystem, als Katholiken im Religionssystem, als Wähler im Politiksystem usw. Peter Fuchs (1997;
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278 | Gudrun Wansing 2003) hat für diese Form, wie Gesellschaft auf ihre psychische Umwelt Bezug nimmt, den Begriff der »sozialen Adresse« in die Systemtheorie eingeführt. Ähnlich dem soziologischen Rollenbegriff beschreibt eine soziale Adresse eine bestimmte Erwartungsstruktur gegenüber einzelnen Menschen, die jedoch nicht durch andere Menschen formuliert, sondern jeweils in der Kommunikation der einzelnen Funktionssysteme konstruiert wird. Dabei unterscheiden sich die sozialen Adressen der verschiedenen Funktionssysteme nicht nur erheblich voneinander, sondern sie sind teilweise auch inkompatibel. So kann sich z.B. die sozialrechtliche Adresse ›Schwerbehinderter‹ negativ auf die Wahrscheinlichkeit der Adressierung der Person als Erwerbstätiger im Wirtschaftssystem auswirken (vgl. Kap. 3.4.1). Weil personale Teilhabe folglich nicht mehr an einem einzigen Sozialsystem (wie Familie, Stand, Dorf), sondern an vielen unterschiedlichen funktionalen Zusammenhängen orientiert ist, gibt es keine gesellschaftliche Einheit mehr, an der sich die soziale Integration von Personen(gruppen) wie Menschen mit Behinderung ausrichten könnte. Die Bedingungen ihrer sozialen Berücksichtigung werden jeweils von den einzelnen Funktionssystemen und ihren Kommunikationsregeln vorgegeben: So entscheidet etwa das Wirtschaftssystem über Teilhabechancen am Arbeitsmarkt und ihre ökonomische Partizipation, und das Bildungssystem gibt die Bedingungen vor, unter denen sie Zugang zu Bildung haben und Bildungsabschlüsse erwerben können. Durch das teil- und zeitweise Einbezogenwerden in verschiedene Funktionssysteme gleichzeitig eröffnen sich vielfältige Spielräume für die individuelle Lebensführung und die Ausgestaltung individualisierter Inklusionsprofile (vgl. Burzan/Schimank 2004); es wird die elementare Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich pluralisierte Lebensstile entwickeln und Menschen sich als selbstbestimmt erfahren können (und auch müssen). Zugleich werden strukturelle Abhängigkeiten generiert. So ist jeder zum Überleben bzw. zur Realisierung eines gewissen Lebensstandards darauf angewiesen, am Wirtschaftskreislauf teilzunehmen, jeder benötigt als Voraussetzung für eine Leistungsrolle im Erwerbssystem eine soziale Adresse im Bildungssystem, und jeder ist als Bürger von politischen Entscheidungen betroffen. Aus dem Blickwinkel der Systemtheorie bzw. der gesellschaftlichen Funktionssysteme beschreibt Inklusion also kein (positives) gesellschaftliches Ziel, das auf der Grundlage gemeinsamer Handlungsperspektiven oder Solidaritätserwartungen angestrebt wird, sondern charakterisert wertneutral das moderne Passungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. die Voraussetzung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der differenzierten Gesellschaftsstruktur – mit anderen Worten: Aus Sicht der Systemtheorie gilt Inklusion als der Normalfall moderner Gesellschaft.
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2. Exklusion: Auch ein Normalfall moderner Gesellschaft? Die funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur produziert zum Teil erhebliche soziale Folgeprobleme für das moderne Individuum, nämlich immer dann, wenn ›Personen‹ trotz Angewiesenheit auf Leistungen keinen Zugang zu einzelnen Gesellschaftssystemen finden bzw. es ihnen nicht gelingt, von diesen tatsächlich einbezogen zu werden, weil sie nicht über relevante Ressourcen wie Macht, Kreditfähigkeit, Netzwerke oder Bildungszertifikate verfügen.3 Die selektive Dynamik der einzelnen Funktionssysteme erzeugt nicht nur enorme Ungleichheiten in der Verteilung von Ressourcen, sondern toleriert sie auch aus systembedingten Gründen und produziert zugleich soziale Ausgrenzungen. Exklusionseffekte bilden sich dabei nicht etwa nur in Entwicklungsländern, sondern lassen sich auch in europäischen Industriestaaten im Kontext der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen (wie steigende Arbeitslosigkeit, prekäre Erwerbsverläufe und die Krise der Wohlfahrtsstaaten) beobachten (vgl. Muffels et al. 2002; Kronauer 2002). So sehen sich in Deutschland neben Bevölkerungsgruppen wie alleinerziehenden Frauen und Personen mit Migrationshintergrund vielfach auch Menschen mit Behinderung der Erfahrung ausgesetzt, von grundlegenden Partizipationschancen und biographischen Perspektiven ausgeschlossen zu werden (vgl. Bundesregierung 2005). Aus systemtheoretischer Perspektive, d.h. aus dem Blickwinkel von Funktionssystemen bleibt die individuelle Erfahrung versperrter Zugangschancen allerdings im Bereich der ›psychischen Umwelt‹ und wird damit kommunikativ nicht relevant – anders ausgedrückt: In Luhmanns Gesellschaft bleiben nicht inkludierte bzw. exkludierte ›Personen‹ unsichtbar. Dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen von Menschen auch in der funktional differenzierten Gesellschaft gibt, wird von Luhmann grundsätzlich nicht bestritten, diese sozialen Phänomene seien allerdings nicht mit den Theoriemitteln seines Gesellschaftsentwurfs zu beschreiben. So bezieht sich der systemtheoretische Begriff der Exklusion nicht etwa auf problematische, durch soziale Ausgrenzung gekennzeichnete Lebenslagen, sondern Exklusion steht als ›logischer Schatten‹ des Formbegriffs4 Inklusion lediglich »für das, was fehlt, wenn Inklusion nicht zustande kommt« (Luhmann 1995: 18), und bleibt deshalb weitgehend unbestimmt. »Mit den Modi der Inklusion beschreibt die Gesellschaft das, was sie als Teilnahmebedingung setzt bzw. als Teilnahmechance in Aussicht stellt. Exklusion ist demgegenüber das, was unmarkiert bleibt, wenn diese Bedingungen bzw. Chancen formuliert werden. Sie ergibt sich gleichsam aus der Operation der Selbstbeschreibung als Nebeneffekt – so wie jede Fixierung einer Identität etwas außer Acht lässt, was nicht dazugehört.« (Ebd.: 26)
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280 | Gudrun Wansing Vor diesem Hintergrund können selbst Menschen, die in Armut oder lebenslanger Haft leben, nicht als exkludiert bezeichnet werden, da sie als Personen immer noch in gesellschaftlicher (hier: wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher) Kommunikation thematisiert, d.h. inkludiert werden. Ebenso lassen sich mit dem systemtheoretischen Konstrukt von Inklusion/Exklusion keinerlei Abstufungen bzw. Benachteiligungen innerhalb einzelner Funktionssysteme beschreiben, wie sie sich im Kontext von Behinderung empirisch beobachten lassen (vgl. Kap. 3.). Ein Sonderschüler ist nicht weniger in das Bildungssystem inkludiert als ein Universitätsprofessor, und ein langzeitarbeitsloser, schwerbehinderter Mensch ist ebenso in das Wirtschaftssystem inkludiert wie ein erfolgreicher Unternehmer. Exklusion stellt sich also in diesem Theoriekontext wertneutral dar als strukturelle Voraussetzung für den Prozess, wie sich die moderne Gesellschaft produziert und aufrechterhält, und damit gleichsam für Inklusion als Normalfall moderner Gesellschaft. »Von Inklusion kann man also sinnvoll nur sprechen, wenn es Exklusion gibt.« (Ebd.: 20) Nach seinen Beobachtungen von extremen Soziallagen der brasilianischen Favelas Mitte der 90er Jahre hat Luhmann Exklusion hingegen explizit als humanes Folgeproblem, als »direkte Folgen der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems« (Luhmann 1999: 631) thematisiert. Er beschreibt hier Exklusionseffekte, die zu einem kumulativen Ausschluss aus den Funktionssystemen führen. »Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtschutz […] – beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist«. (Ebd.: 630)
Damit erhält der Begriff der Exklusion eine völlig neue, nämlich empirische und sozialdiagnostische Bedeutung und gerät in erhebliche Widersprüche zu dem ersten Exklusionsbegriff, der als theoretischer Gegenbegriff zu Inklusion verwendet wurde (vgl. Malowitz 2002; Wansing 2005: 49ff.). Geht man etwa von Luhmanns These der »Interdependenzunterbrechungen« zwischen Funktionssystemen aus, derzufolge die einzelnen Funktionssysteme prinzipiell unabhängig voneinander operieren, dann dürfte es keine Kumulation von Ausgrenzungen aufgrund der »Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen« (Luhmann 1999: 631) geben. Dass sich die beiden von Luhmann in unterschiedlichen Zusammenhängen entwickelten Exklusionsbegriffe theoretisch kaum vereinbaren lassen, zeigen auch Bemühungen anderer, der Systemtheorie nahestehender Autoren, eine ›problematische‹ Exklusion (etwa »Hyperinklusion« bei Göbel/Schmidt 1998, »Exklusionsdrift« bzw. »doppelte Exklusion« bei Hillebrandt 1999) von der ›normalen‹ Exklusion begrifflich abzugrenzen. Schließlich wird die Frage, ob und wie der systemtheoretische Exklusions-
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begriff angemessen zu verstehen und zu handhaben sei, bis heute kontrovers diskutiert (vgl. Göbel/Schmidt 1998; Nassehi 2000; Kronauer 2002: 126ff.; Malowitz 2002) und kann auch im Rahmen dieses Beitrages nicht abschließend gelöst werden. Damit im Folgenden mit Blick auf Behinderung dennoch Ausgrenzungsprozesse im Kontext der funktional differenzierten Gesellschaft sichtbar gemacht werden können, ohne auf die systemtheoretischen Annahmen verzichten oder in Vorstellungen einer Lebenslage außerhalb von Gesellschaft verfallen zu müssen, soll von einer statischen Bestimmung von Exklusion als reinem Oppositionsbegriff zu Inklusion (im Sinne eines sich wechselseitig ausschließenden ›Drinnen‹ oder ›Draußen‹) Abstand genommen werden. Eine gewisse theoretische Unschärfe in Kauf nehmend, soll vielmehr ein dynamisches Verständnis von Exklusion zugrunde gelegt werden, wie es von Luhmann in seinen späteren Arbeiten mit Bezug auf kumulierende Exklusionen angedeutet, aber nicht weiter ausgearbeitet worden ist. Einem Vorschlag von Nassehi und Nollmann (1997) folgend soll dabei der analytische Blick insbesondere auf die Organisationen der Funktionssysteme gerichtet werden, da sich auf dieser Ebene der sozialen Systembildung Mechanismen der Exklusion durchaus beschreiben lassen. »Funktionssysteme behandeln Inklusion, als Zugang für alle, als den Normalfall. Für Organisationen gilt das Gegenteil: sie schließen alle aus mit Ausnahme der hochselektiv ausgewählten Mitglieder.« (Luhmann 1999: 844)
3. Exklusionsrisiko Behinderung Als Exklusionsrisiko Behinderung wird im Folgenden die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, von grundlegenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Partizipationschancen der modernen Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Unter den dargelegten gesellschaftlichen (Inklusions-)Bedingungen, insbesondere den Kommunikationserwartungen der Funktionssysteme und den modernen Anforderungen an eine selbstbestimmte und flexible Lebensführung, sind Menschen mit Behinderung besonders hohen bzw. mehrfachen Exklusionsrisiken ausgesetzt, weil sie vielfach nicht über die materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen verfügen, die erforderlich sind, um die strukturell gegebenen Teilhabeoptionen zu realisieren.
3.1 Risiken im Bildungssystem Das Bildungsniveau ist (in den westlichen Industriegesellschaften) nach wie vor einer der neuralgischen Punkte, die wesentlich über Lebens- bzw. Teilhabechancen entscheiden. Die umfassenden Bildungsreformen und bildungspolitischen Aktivitäten im Deutschland der 60er Jahre und eine
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282 | Gudrun Wansing damit einhergehende Bildungsexpansion haben zwar die allgemeinen Zugangschancen für alle Bevölkerungsgruppen erheblich erweitert. Es lassen sich allerdings nach wie vor nennenswerte Unterschiede feststellen, wenn es darum geht, diese Bildungschancen auch zu realisieren. So belegen die Ergebnisse der PISA-Studie der OECD für das Jahr 2000 erneut einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung, der sich insbesondere beim Gymnasialbesuch niederschlägt: »Unübersehbar ist, dass der Gymnasialbesuch, der bei 15-Jährigen aus Familien der oberen Dienstklasse 50 Prozent beträgt, mit niedriger werdender Sozialschicht auf 10 Prozent in Familien von ungelernten und angelernten Arbeitern sinkt.« (Artelt et al. 2001: 35) Welche Personen für die unterschiedlichen Bildungsorganisationen jeweils relevant sind bzw. mit welchen Erfolgsaussichten Personen die formal zunächst gleichen Inklusionschancen realisieren können und welches kulturelle Kapital5 sie hierbei erwerben können, entscheiden die Bildungseinrichtungen mittels hochselektiver Verfahren (vgl. Powell in diesem Band). Im deutschen Bildungssystem sind insbesondere Kinder und Jugendliche mit so genanntem sonderpädagogischen Förderbedarf von den institutionellen Selektionen betroffen. Zwar sind sie über die Schulpflicht, versehen mit der sozialen Adresse des Schülers bzw. der Schülerin, in das Bildungssystem inkludiert – dies gilt (für Westdeutschland)6 seit den 70er Jahren auch für Kinder mit umfassenden Beeinträchtigungen. Die funktionale Vollinklusion täuscht jedoch über tatsächliche Ausgrenzungsprozesse hinweg, die ihren Ausdruck in einem spezialisierten und separierten Sonderschulzweig finden. Obwohl die institutionelle Etikettierung einer Sonderschulbedürftigkeit mit den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zur sonderpädagogischen Förderung 1994 aufgehoben und die automatische Zuweisung zu einer Sonderschule nicht mehr gilt, wird die Mehrzahl der förderbedürftigen Kinder nach wie vor in Sonderschulen unterrichtet. So wurden im Jahr 2003 von insgesamt 492.700 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf 87 Prozent in Sonderschulen und nur 13 Prozent in allgemeinen Schulen unterrichtet (vgl. KMK 2005: XII). Die meisten Absolventen (80 Prozent) von Sonderschulen verlassen die Schule ohne (Haupt-)Schulabschluss (vgl. KMK 2005: XV)7 und haben deshalb im starken Wettbewerb um einen Ausbildungsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt heute kaum Chancen. Dies betrifft insbesondere Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt ›geistige Entwicklung‹; ihre berufliche Bildung findet ebenfalls überwiegend in speziellen Organisationen wie den Berufsbildungs- und -förderungswerken oder dem Bildungsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) statt. »Die geringe Partizipation von Menschen mit geistiger Behinderung an Lehrgängen, die auf eine anerkannte (Teil-)Qualifikation bzw. Vermittlung abzielen, legt nahe, dass diesem Personenkreis von vornherein kaum
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Chancen auf eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt eingeräumt werden.« (Schüller 2003: 10) Insgesamt weisen Menschen mit Behinderung (im Alter von 30 bis 45 Jahren) ein deutlich niedrigeres Ausbildungsniveau auf als gleichaltrige Personen ohne Behinderung: Lediglich vier Prozent von ihnen hatten im Jahre 2003 einen Hochschulabschluss (im Vergleich zu zehn Prozent), hingegen waren 27 Prozent der Personen mit Behinderung (im Vergleich zu 13 Prozent) ohne Berufsabschluss (vgl. Pfaff 2004: 1189). Für viele Jugendliche mit Behinderung sind auch die Chancen, ihren Bildungsanspruch außerhalb der schulischen und beruflichen Bildung zu realisieren, verschlossen. Die Angebote beispielsweise von Volkshochschulen berücksichtigen Menschen mit Lernschwierigkeiten immer noch eher selten; in ihren Inhalten sind sie wenig an den Herausforderungen gesellschaftlich relevanter Adressen bzw. einer modernen Lebensführung (etwa Eltern sein, mit Geld wirtschaften, seine Rechte wahrnehmen und durchsetzen, Informationstechniken nutzen usw.) orientiert (vgl. Hoffmann et al. 2000).
3.2 Risiken im Wirtschaftssystem Die ökonomische Eigenlogik des Wirtschaftssystems erweist sich als zentraler Exklusionsmechanismus für Personen, bei denen die Erwartbarkeit ökonomisch verwertbarer Leistungen herabgesetzt ist, zwangsläufig führt sie zu ihrem Ausschluss von Leistungsrollen im Wirtschaftssystem. So liegt die Erwerbsbeteiligung von Menschen mit (Schwer-)Behinderung im erwerbsfähigen Alter mit etwa 48 Prozent (vgl. BA 2004: 210) deutlich unter der Erwerbsquote von etwa 73 Prozent nicht behinderter Menschen (vgl. StBA 2002: 159). Die Arbeitslosenquote von Menschen mit (Schwer-)Behinderung liegt mit 17 Prozent erheblich über der allgemeinen Arbeitslosenquote von 10,5 Prozent (vgl. BA 2004: 154, 134); nach wie vor erfüllen Arbeitgeber die gesetzlich festgelegte Beschäftigungspflicht (nach § 71 SGB IX) nicht bzw. nicht in ausreichendem Umfang (vgl. BA 2006). Die prekäre Beschäftigungssituation am Arbeitsmarkt steht wiederum im engen Zusammenhang mit dem erreichbaren materiellen Lebensstandard. Zwar ist nicht pauschal davon auszugehen, dass Behinderung und (Einkommens-)Armut in einem prinzipiellen Wirkungszusammenhang stehen. Eine differenzierte Betrachtung der sozioökonomischen Situation von Menschen mit (Schwer-)Behinderung nach Haushaltsstruktur und demografischen Merkmalen zeigt jedoch, dass das moderne Wirtschaftssystem insbesondere für Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter, die nicht in den ersten Arbeitsmarkt integriert sind, sowie für Familien mit behinderten Kindern und für Personen, die in Einrichtungen leben, erhebliche ökonomische Risiken produziert (vgl. Hanesch et al. 2000; Schiener 2005). Diese wirtschaftlichen Nachteile können sich wiederum
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284 | Gudrun Wansing negativ auf den sozialen Status, auf Aspekte des Wohnens, der Mobilität und der Teilhabe an kulturellen Angeboten sowie schließlich auf den Lebensstandard im Alter auswirken.
3.3 Risiken in sozialen Beziehungen Die Auflösung sozialer Zugehörigkeiten im Zuge der Individualisierungsprozesse hat in der modernen Gesellschaft nicht generell zum Bedeutungsverlust sozialer Verbindungen geführt (vgl. Keupp 1987). Private Beziehungen, die auf emotionalen Bindungen beruhen, spielen im alltäglichen Leben und in psychosozialen Krisensituationen nach wie vor eine wichtige Rolle. Neben diesen privaten Nahbeziehungen erweisen sich insbesondere formelle Beziehungen und Kontakte auf der Grundlage von beruflichen Gemeinsamkeiten, Partei- oder Vereinszugehörigkeiten als strategisch relevant, wenn es um die Steigerung von Inklusionschancen geht. Die Regeln und Gunsterweise innerhalb von beruflich relevanten Netzwerken und Nutzfreundschaften ermöglichen es dem Einzelnen, bei (Stellen-)Ausschreibungen bevorzugt zu werden, begehrte Mietobjekte zu erhalten oder eine politische Karriere zu realisieren. Luhmann zufolge beginnen diese Verbindungen, gegen die gesellschaftliche Differenzierung ›parasitär‹ zu operieren und die Steuerung von Inklusion und Exklusion zu übernehmen: »Das Netz der wechselseitigen Dienste erzeugt seinen eigenen Exklusionsmechanismus, der bewirken kann, dass man zur Unperson wird, die niemand kennt, und die eben deshalb trotz aller formalen Berechtigungen auch keinen Zugang zu den Funktionssystemen findet.« (Luhmann 1994a: 32)
Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass der Erfolg notwendiger Beziehungsarbeit im engen Zusammenhang mit der sozialen Lebenslage eines Menschen und seinen verfügbaren Ressourcen steht. So sind viele Menschen mit Behinderung in erhöhtem Maße auf gut funktionierende Netzwerke angewiesen, um ihre Unterstützungsbedarfe zu decken. Gleichzeitig zeigen Studien, dass sie im Vergleich zu nicht behinderten Personen insgesamt in kleinere Netzwerke eingebunden sind, die zudem vor allem durch verwandtschaftliche Beziehungen gekennzeichnet sind bzw. sich aus Menschen in gleicher benachteiligter Lage zusammensetzen (vgl. Hamel/Windisch 1993). Die reduzierten Chancen behinderter Menschen, stabile Netzwerke herzustellen und aufrechtzuerhalten, begründen nicht nur ein erhöhtes Risiko sozialer Isolation (welches mit zunehmendem Hilfebedarf und der zeitlichen Verweildauer in stationären Einrichtungen zunimmt), sondern können sich auch negativ auf die Partizipationschancen in anderen Lebensbereichen auswirken.
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Behinderung: Inklusions- oder Exklusionsfolge? | 285 »Intimbeziehungen und Arbeit teilen die Gemeinsamkeit, dass sie Bedingungen des Zugangs zu vielem anderem sind und dass Personen, denen das eine oder gar beides fehlt, auch über die an sich auch für sie vorgesehenen komplementären Rollenstrukturen der Funktionssysteme nicht mehr ohne weiteres in gesellschaftliches Geschehen zu inkludieren sind.« (Stichweh 1988: 274)
Zudem bedeutet der beschränkte Zugriff auf informelle Unterstützungssysteme für Menschen mit Behinderung eine erhöhte Abhängigkeit von professionell organisierten Angeboten, deren institutionelle Nebenwirkungen die soziale Isolation weiter verschärfen können (vgl. Kap. 3.4.2).
3.4 Risiken im Rehabilitationssystem Teilhabechancen und Ausgrenzungsrisiken im Kontext von Behinderung lassen sich kaum angemessen beschreiben, ohne das Prinzip der Wohlfahrtsstaatlichkeit zu berücksichtigen. Der Wohlfahrtsstaat selbst ist integraler Bestandteil der modernen Sozialstruktur und bildet einen wichtigen Ausschnitt von Gesellschaft im Kommunikationsbereich von Recht und Politik ab. »Wohlfahrtsstaat, das ist realisierte politische Inklusion.« (Luhmann 1981: 27) Als Reaktion auf die fortschreitende Differenzierung der Gesellschaft und ihre systembedingte Produktion von sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung greift der Wohlfahrtsstaat – seinem politischen Programm der Gewährleistung sozialer Sicherheit und gleicher Lebensbedingungen folgend – immer dort ein, wo die Eigendynamik der gesellschaftlichen Leistungssysteme und ihrer Organisationen nicht die Inklusion der Gesamtbevölkerung gewährleistet, sondern Exklusionprozesse auftreten und kumulieren. »Insbesondere erfordert ein ›natürlich‹ gegebener Ausschluss aus allgemein als relevant erachteten Tätigkeitsbereichen und Beziehungsweisen einen ›gesellschaftlichen‹ Ausgleich.« (Bude 2004: 13) So sollen die reduzierten Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung sowie ihre Ausgrenzungserfahrungen durch Leistungen der Rehabilitation wie die Verbesserung ihres rechtlichen Status, monetäre Leistungen sowie die Bereitstellung von (medizinischen und sozialen) Einrichtungen und Diensten kompensiert werden. Zentrales Ziel dieser Maßnahmen ist es gemäß der Fürsorgetradition des Rehabilitationssystems, die Ausgegrenzten zu versorgen bzw. (wieder) in die Gesellschaft einzugliedern. Die kommunikative Berücksichtigung, d.h. die Inklusion von Menschen mit Behinderung durch das Rehabilitationssystem und die Eigendynamik seiner Organisationen, produziert jedoch wiederum eigene Mechanismen der Ausgrenzung, wie im Folgenden am Beispiel der sozialrechtlichen Konstruktion von (Schwer-)Behinderung und Hilfebedarf (Kap. 3.4.1) sowie der Risikobearbeitung in Sondersystemen (Kap. 3.4.2) aufgezeigt werden soll.
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286 | Gudrun Wansing 3.4.1 Sozialrechtliche Konstruktion von (Schwer-)Behinderung und Hilfebedarf Um Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe (nach Sozialgesetzbuch IX) erhalten zu können, müssen Personen zunächst als ›ausgegrenzt‹ bzw. als ›behindert‹ und ›hilfebedürftig‹ adressiert werden, damit sich die fachliche Hilfekommunikation der Verwaltungs- und Unterstützungssysteme anschließen kann. So prüfen etwa die Träger der Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit oder die Sozialhilfeträger, ob eine grundsätzliche Anspruchsvoraussetzung vorliegt und welche Hilfebedarfe anerkannt werden können. Als verwaltungstechnische Kategorien beziehen sich dabei ›Anspruch‹ und ›Bedarf‹ nicht auf individuell wahrgenommene Unterstützungserfordernisse, sondern auf die systemeigene Programmlogik des Sozialrechts und den darauf bezogenen Code ›anspruchsberechtigt‹/›nichtanspruchsberechtigt‹. Die Inanspruchnahme bestimmter Schutzrechte und Nachteilsausgleiche (nach SGB IX, Teil 2) setzt zudem eine rechtliche Anerkennung als Schwerbehinderter voraus. Auch diese wird nicht mit Blick auf die Wechselwirkung von persönlichen Voraussetzungen, den Anforderungen der Gesellschaftssysteme und daraus resultierenden Schwierigkeiten sozialer Teilhabe entschieden, sondern auf der Basis ärztlicher Gutachten. »Die Bereiche des naturwissenschaftlichen bzw. medizinischen Wissens erscheinen dabei als eine Art kommunikationsfreier Raum einer authentischen, unverzerrten Abbildung natürlicher Gegebenheiten, um die Kontingenzen des Entscheidungsverfahrens abzudunkeln.« (Bendel/Rohrmann 2003: 2) Erhält eine Person auf diesem Wege eine Anerkennung als ›Schwerbehinderter‹, so ist dies durchaus mit verschiedenen Vorteilen wie einem besonderem Kündigungsschutz und Steuerbegünstigungen verbunden. Zugleich birgt die soziale Adresse ›Schwerbehinderter‹ jedoch Risiken bezüglich der Verwirklichung grundlegender Partizipationschancen. So kann der Zugang zum Arbeitsmarkt hierdurch erheblich einschränkt werden, nämlich dann, wenn der Status Schwerbehinderung auf Einstellungsvorbehalte seitens der Arbeitgeber trifft. Insbesondere für junge Menschen, die noch am Anfang ihres Beruflebens stehen und einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz suchen, kann die Anerkennung einer Schwerbehinderung so kontraproduktive Wirkungen entfalten. 3.4.2 Risikobearbeitung in Sondersystemen Die Verwaltungsbehörden bewilligen auf Grundlage der ermittelten Bedarfe und Anspruchsberechtigungen eines oder mehrere der rehabilitativen Leistungsprogramme (Eingliederungshilfe, Pflege, berufliche Bildung usw.). Die Entscheidung darüber, mit welchen konkreten Mitteln das Ziel der bewilligten Leistung erreicht werden soll, wird in der Tradition des
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Sachleistungsprinzips nicht dem anspruchsberechtigten Menschen zugetraut, sondern an die sozialen Einrichtungen und Dienste (zumeist der freien Wohlfahrtspflege) delegiert.8 Diese Organisationen kommunizieren die Exklusionsprobleme der Menschen mit Behinderung wiederum in einem selbstreferenziellen Prozess gemäß ihren pauschalen Hilfeprogrammen und politisch vereinbarten Vorgaben: Sie stellen standardisierte Formen der Unterstützung bereit, typisieren Fallgruppen, rekrutieren Personal und legen fest, wer wann welche Unterstützungsleistung erhält. »Die Problemvorzeichnung, auf die die Organisation verlässlich reagiert, findet sich in ihrer eigenen Struktur. […] Probleme werden ›gesehen‹, soweit organisierte Routinen zu ihrer Lösung bereit stehen oder soweit neue Routinen an die vorhandenen angegliedert werden können.« (Luhmann 1973: 34) Dabei erfolgt in der Rehabilitation die Problembearbeitung trotz deutlicher Impulse in Richtung Deinstitutionalisierung und Differenzierung der Hilfen vielfach immer noch als stellvertretende Inklusion in besonderen Sozialsystemen der Bildung, der Beschäftigung, des Wohnens und der Freizeitgestaltung (wie Berufsbildungswerke, Wohnheime, Werkstätten) – mit teils erheblichen negativen Folgewirkungen. Als Ergebnis der Leistungsgewährung zeigt sich häufig nicht die (Re-)Inklusion der Menschen durch die gesellschaftlichen Funktionssysteme bzw. ihre Organisationen, sondern ihre dauerhafte Integration in die Organisationen des Hilfesystems. So gestaltet sich etwa der Wechsel von meist überbetrieblich durchgeführten Rehabilitationsangeboten der beruflichen Bildung und Förderung auf freie Stellen im öffentlichen Dienst oder der Privatwirtschaft sowie der Übergang von Arbeitsplätzen der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in reguläre Beschäftigungsverhältnisse als schwierig (vgl. Schüller 2003: 9), so dass insbesondere Menschen mit so genannter geistiger Behinderung nicht selten bis zum Rentendasein in Sondereinrichtungen der beruflichen Rehabilitation verbleiben. Auch das Leben in stationären Wohneinrichtungen kann den Zugang zu sozialen, kulturellen und politischen Ressourcen und Prozessen und die Realisierung einer selbstbestimmten und gesellschaftlich anerkannten Lebensführung erheblich einschränken, weil im Kontext von Pauschalversorgung, organisatorischen Erfordernissen und selbstbezüglichen Entscheidungsprogrammen individuell relevante Ressourcen in der Lebenswelt aus dem Blick geraten (vgl. Wacker et al. 1998; Wansing 2005: 125ff.). So verhindert z.B. die dominant professionelle Leistungserbringung, dass vorhandene soziale Beziehungen und Netzwerke mobilisiert und gestärkt werden, welche als soziales Kapital die Zugangschancen zu vielen Lebensbereichen erhöhen würden (vgl. Kap. 3.3).
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4. Behinderung: Inklusions- oder Exklusionsfolge? Die dargestellten Risiken von Behinderung in verschiedenen Funktionssystemen liefern bereits deutliche Hinweise auf den paradoxen Charakter von sozialen Problemen im Kontext der modernen Gesellschaftsstruktur: Menschen mit Behinderung sind eben nicht sozial exkludiert in dem (systemtheoretischen, dichotomen) Sinne, dass sie sich außerhalb von gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhängen befänden – im Gegenteil: Bildungsnachteile in Form fehlender Schulabschlüsse sind das Ergebnis von Operationen des Bildungssystems, Arbeitslosigkeit und ökonomische Risiken können nur im Kommunikationsbereich von Wirtschaft stattfinden, und soziale Isolation zeigt sich nur da, wo Beziehungen und Netzwerkregeln kommunikativ vorausgesetzt werden. Die oben beschriebenen sozialen Phänomene, die sich aus Sicht der Lebenslage Behinderung bzw. sozialpolitisch als Exklusion darstellen, erscheinen gesellschaftstheoretisch, d.h. in der Kommunikation von Funktionssystemen als Inklusion. Es scheint also nicht ein prinzipieller Mangel an Inklusion die Problemlage von Menschen mit Behinderung zu kennzeichnen, sondern vielmehr die Art und Weise ihrer Inklusion. Man sollte vor diesem Hintergrund mit Nassehi darüber nachdenken, soziale Probleme wie Behinderung nicht als Exklusionsfolgen, sondern als Inklusionsfolgen zu diskutieren: »Inklusion ist nicht die Lösung, sondern der Generator von sozialen Problemen.« (Nassehi 2000: 21) Folgeprobleme der (unvermeidbaren) Inklusion für die Lebenslage Behinderung werden dabei insbesondere durch die kommunikativen Vorgänge der Organisationen erzeugt. »Innerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe lässt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit scheitern. Sie wandelt sie gleichsam um in Grundsätze der Zukunftsoffenheit, nach denen immer noch und immer wieder anders entschieden werden kann, wie unterschieden wird.« (Luhmann 1994b: 193) Durch diese selektiven Mechanismen entsteht eine eigentümliche Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion, die am Beispiel der wohlfahrtsstaatlichen Reaktion auf Behinderung sehr deutlich wird. So sind die Zuschreibung einer ›Schwerbehinderung‹ im Rechtssystem, die rechtlichen Ansprüche auf Leistungen der Rehabilitation und die Bearbeitung der Problemlage Behinderung im Hilfesystem zweifellos Ausdruck gesellschaftlicher Berücksichtigung (Inklusion). Zugleich können der Status der Schwerbehinderung, die pauschalen Entscheidungsprogramme der organisierten Hilfe und die separierende Leistungserbringung in Sondereinrichtungen die Erwartbarkeit der sozialen Berücksichtigung in den allgemein anerkannten Organisationen (des Arbeitsmarktes, der Bildung) erheblich behindern (Exklusion). Zugespitzt bedeutet dies: Der Wohlfahrtsstaat erzeugt durch die Art und Weise der Inklusion in das Rehabilitationssystem zum Teil selbst jene Exklusionsrisiken, auf die er reagiert. »Man ge-
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horcht den Imperativen der Inklusion und verfängt sich gerade deshalb in den Fallstricken der Exklusion.« (Bude 2004: 14)
5. Exklusionskarriere Behinderung – Lebensläufe in der Sackgasse Die skizzierten Mechanismen der Inklusion und Exklusion im Kontext von Behinderung lassen in einer Zusammenschau ein gewisses Risikomuster erkennen, das sich vor allem deshalb als problematisch für individuelle Lebenslagen erweist, weil es in der Zeitdimension Exklusionskarrieren erzeugen kann. Diese Dynamik lässt sich aus der Perspektive von Lebensläufen gut sichtbar machen. Lebenslauf steht in der Soziologie für »die gesellschaftliche Ordnung der Lebenszeit, für das den einzelnen Personen vorgegebene Programm, das Gesellschaften für das menschliche Leben bereithalten und das den soziokulturellen Rahmen für den Austausch Subjekt-Gesellschaft wiedergibt« (Schefold 2001: 1122). Soziale Beziehungen, schulische und berufliche Bildung, ökonomische Partizipation über Erwerbsarbeit und Konsum, wohlfahrtsstaatliche Regelungen – alles, was durch die jeweils autonome Zuständigkeit der einzelnen Funktionssysteme sozialstrukturell getrennt ist, wird vom Individuum in einer bestimmten zeitlichen Sequenz durchlaufen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Art und Weise, wie eine Person von einem Funktionssystem kommunikativ berücksichtigt wird, welche soziale Adresse sie jeweils einnimmt und welche Ressourcen und Fähigkeiten sie hierbei erwerben und einsetzen kann, Auswirkungen auf ihre soziale Relevanz in anderen Funktionssystemen hat (vgl. Schwinn 2000). Mit der Systemtheorie kann zwar grundsätzlich angenommen werden, dass sich in der Moderne durch die operative Autonomie der einzelnen Gesellschaftssysteme die schicksalhafte Verkettung von Rollen (bzw. sozialen Adressen) in verschiedenen Lebensbereichen und Lebensphasen wesentlich gelockert hat, so dass z.B. Reichtum nicht bedeuten kann, »dass sich damit quasi automatisch der politische Einfluss oder der Kunstverstand oder auch das Geliebtwerden der Reichen einstellen« (Luhmann 1994a: 29). Allerdings gilt diese wechselseitige Unabhängigkeit nicht für alle Gesellschaftsbereiche in gleichem Maße. So findet die Ungleichheitsforschung nach wie vor eine hohe kumulative Verkettung insbesondere von familiärer Herkunft, Bildung und Beschäftigung, die sich im Lebenslauf deutlich bemerkbar macht (vgl. Mayer/Blossfeld 1990). Es scheint vieles darauf hinzuweisen, dass sich Optionen und Risiken insbesondere in jenen Gesellschaftsbereichen über Systemgrenzen hinweg verketten, die institutionell geregelt sind. So durchlaufen – wie oben beschrieben – auch Menschen mit Behinderung die zentralen Lebenslauf-
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290 | Gudrun Wansing institutionen wie Schule, Ausbildung und Erwerbstätigkeit und werden hier mit der gleichen Erwartungsstruktur konfrontiert wie andere ›Personen‹ (ohne Behinderung) auch. Da sie die Leistungsanforderungen aufgrund ihrer Ressourcenlage jedoch vielfach nicht erfüllen können, werden sie durch die institutionellen Selektionen z.B. des Bildungs- und Beschäftigungssystems ›exkludiert‹. Der Wohlfahrtsstaat reagiert auf die strukturell vollzogene Exklusion mit seinem auf das Individuum bezogenen Programm der (Wieder-)Eingliederung: Er versieht die ›Ausgegrenzten‹ mit der sozialen Adresse ›hilfebedürftig‹ und ›behindert‹, an welche sich die soziale Berücksichtigung durch die Hilfesysteme der Rehabilitation anschließen kann. Hier werden die ›Personen‹ allerdings nicht mit den relevanten Ressourcen (wie Schulund Ausbildungsabschlüssen, Netzwerken, Einkommen) ausgestattet, um die Anforderungen der Funktionssysteme bewältigen zu können. Vielmehr erzeugen die (Re-)Inklusionsbemühungen des Wohlfahrtssystems neue, kumulativ wirkende Ausgrenzungsrisiken, die an institutionellen Schnittschnellen von Schule, Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Rente beschleunigt werden. So ist bereits die häufig mangelhafte oder – was den Erwerb von Bildungsabschlüssen betrifft – weitgehend erfolglose Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in das schulische Bildungssystem (vgl. Kap. 3.1) mit Chancenminderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und ökonomischen Risiken (vgl. Kap. 3.2) verbunden, die sich bis ins Rentenalter negativ auf Optionen im Lebenslauf auswirken können. Heike Solga (2003) hat solche »Maßnahmenkarrieren« von Jugendlichen ohne Schulabschluss und ihr »ständiges Scheitern an der Normalbiografie« eindrucksvoll empirisch nachgezeichnet. Diese dynamischen Effekte lassen sich nur schwer kompensieren. Behinderung scheint in der modernen Gesellschaft trotz der Freisetzung des Subjekts aus vorgegebenen Sozialformen, trotz flexibler Erwerbsverläufe und wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme und trotz der strukturellen Optionen einer insgesamt individuellen und selbstbestimmten Lebensführung in vielen Fällen Karrieren der Ausgrenzung zu erzeugen, die kaum einen Ausweg zulassen. »Im Zuge der sozialen Differenzierung der modernen Gesellschaft kann insofern von einer spezifischen Form der Modernisierung für Menschen mit Behinderung gesprochen werden, die sich durch eine ausgeprägte Institutionalisierung des Lebenslaufs bei gleichzeitigem Fehlen von Möglichkeiten aktiver Lebensstilisierung auszeichnet.« (Bendel 1999: 305)
Insbesondere die »Hyperinklusion« (vgl. Göbel/ Schmidt 1998) in so genannten Komplexeinrichtungen der Behindertenhilfe, welche integrierte Angebote der Bildung, der Beschäftigung, des Wohnens und der Freizeit unter einem Dach erbringen, geht mit einer erheblichen Reduktion von In-
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klusionrollen im Lebenslauf einher. »Die Person wird hier in ihrer Gesamtbiografie relevant, und erst von hier aus ergeben sich Inkompatibilitätsgesichtspunkte zu anderen Rollen.« (Ebd.: 113) Die moderne Gesellschaft, so lässt sich festhalten, erzeugt Behinderung durch einen spezifischen Mechanismus der Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft, oder systemtheoretisch formuliert: als eine eigene soziale Adresse, welche die Formen des Zugangs zu Bereichen wie Bildung, Erwerbsleben, Einkommen und soziale Beziehungen nachhaltig determiniert und Exklusionskarrieren nach sich zieht. Die kommunikative Form ›Behinderung‹ verweist dabei nicht nur auf ein besonderes Risiko bei der Startposition im Leben oder bereits vollzogene Ausgrenzung, sondern immer auch auf einen Mangel an Handlungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven: »Exkludiert zu sein bedeutet nicht nur ›draußen‹ zu sein, sondern zugleich am ›Hineinkommen‹ gehindert zu werden. Exkludierte befinden sich in der Sackgasse, sie stehen vor verschlossenen Türen.« (Callies 2004: 32)
6. Resümee Das soziologische Konstrukt Inklusion/Exklusion stellt ein interessantes, komplexes Analyseraster zur Verfügung, das interdisziplinär anschlussfähig ist und eine neue Sichtweise auf Behinderung im Rahmen einer Soziologie der Behinderung eröffnet. Vor dem Hintergrund der modernen, funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur erscheint Behinderung nicht länger als individuelles Merkmal bzw. Status, sondern kann als soziale Konstruktion in gesellschaftlichen Prozessen der Inklusion und Exklusion bestimmt werden. Dabei reicht es nicht, den analytischen Blick auf Aspekte der Exklusion zu richten, sondern die Art und Weise der Inklusion lohnt ebenfalls einer genauen Betrachtung. Die systemtheoretischen Kategorien Inklusion/Exklusion erlauben nicht nur, die Mechanismen sozialer Ausgrenzung und ihre Folgen für individuelle Lebenslagen theoretisch zu fassen, sondern auch gesellschaftliche Reaktionen auf Behinderung bzw. wohlfahrtsstaatliche Methoden der Exklusionsbearbeitung. Weil nicht (wie häufig in den Rehabilitationswissenschaften) in erster Linie Selbstbestimmungs- und Teilhabeoptionen von Hilfeempfängern und -empfängerinnen innerhalb einer institutionellen Versorgungskette in den Blick genommen werden, sondern Wirkungen von Rehabilitationsleistungen auf soziale Adressen im Kontext der modernen Gesellschaftstruktur, lassen sich nicht intendierte (paradoxe) Nebenwirkungen der wohlfahrtsstaatlichen Steuerung identifizieren, welche das (Exklusions-)Problem in Lebensverläufen verstärken bzw. beschleunigen können. Auch wenn der systemtheoretische Ansatz der Inklusion/Exklusion insgesamt noch unsicher und präzisierungsbedürftig ist – sowohl was sei-
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292 | Gudrun Wansing nen theoretischen Gehalt als auch was seine empirische Überprüfung betrifft –, bietet er doch im Vergleich zu Klassen- und Schichtmodellen sozialer Ungleichheit bzw. zu eindimensionalen medizinischen oder sonderpädagogischen Erklärungsmustern von Behinderung weit reichende analytische Vorteile, die Heinz Steinert in seinem Essay über »die kurze Geschichte und offene Zukunft« des Begriffs soziale Ausschließung trefflich zum Ausdruck bringt: »Denken in Strukturen und Situationen statt in Personen, Denken in Dynamiken und Verläufen statt in Zuständen, Denken in Konflikten, in Gegenwehr und Eigenaktivität statt in passivem Ausgeliefertsein […], Denken in (vorenthaltenen) Beteiligungen und Ressourcen statt in (kumulierenden) Defiziten, Nachdenken und Forschen über die verschiedenen Ausschließer […] statt über die Ausgeschlossenen.« (Steinert 2003: 283)
Anmerkungen 1
Die systemtheoretische Konzeptualisierung von Kommunikation als grundlegende Operation sozialer Systeme unterscheidet sich grundlegend von den herkömmlichen Vorstellungen über Kommunikation als Medium zum Transport von Botschaften zwischen Akteuren (vgl. hierzu ausführlich Luhmann 1984). 2 Der Begriff der Person zielt bei Luhmann nicht auf die Bezeichnung eines bestimmten Menschen, sondern beschreibt eine kommunikativ erzeugte Form, mit der Individuen bzw. (Teil-)Aspekte von Individuen gemäß dem jeweiligen Kommunikationszusammenhang durch einzelne Funktionssysteme beobachtet werden (vgl. hierzu ausführlich Luhmann 1995: 148). 3 Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von »Erfolgsmedien« bzw. von »symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien«, welche die Chancen der kommunikativen Berücksichtung in den einzelnen Funktionssystemen erhöhen (vgl. Luhmann 1999: 202ff.). 4 Luhmann verwendet den Formbegriff in Anlehnung an den Mathematiker George Spencer Brown für das Postulat, »dass Operationen, soweit sie Beobachtungen sind, immer die eine Seite einer Unterscheidung [nämlich Inklusion, GW] bezeichnen, aktualisieren, als Ausgangspunkt für weitere Operationen markieren – und nicht die andere Seite [nämlich Exklusion, GW], die im Moment gleichsam leer mitgeführt wird« (1995: 240). 5 Der traditionell in ökonomischen Zusammenhängen gebrauchte Kapitalbegriff wird hier in Anlehnung an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu verwendet, der ihn erweitert und mit ihm Ressourcen in verschiedenen Erscheinungsformen (ökonomisch, sozial, kulturell)
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erfasst (vgl. Bourdieu 1983). Kulturelles Kapital tritt dabei nicht nur in Form von Bildung als »verinnerlichter Zustand« in Erscheinung, sondern auch in Form von Gütern wie Büchern oder Bildern sowie als »institutionalisierter Zustand« in Form von schulischen oder akademischen Titeln. 6 In der DDR war »schulbildungsunfähigen« Kindern die Teilnahme am öffentlichen Bildungs- und Erziehungssystem verwehrt. Sie wurden stattdessen durch das Gesundheitssystem inkludiert und in speziellen (Pflege-)Einrichtungen untergebracht (vgl. Fuchs et al. 1994). 7 Allgemeine Vergleichswerte zum Schulabschluss von Menschen mit und ohne Behinderung finden sich im Mikrozensus. Demnach hatten im Jahr 2003 15 Prozent der Menschen mit Behinderung zwischen 25 und 45 Jahren keinen Schulabschluss; bei der Vergleichsgruppe ohne Behinderung waren lediglich 2 Prozent ohne Abschluss (vgl. Pfaff 2004: 1187). 8 Erst seit Einführung des Persönlichen Budgets im SGB IX erhalten Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, über Geldleistungen die für sie passende Unterstützung selbst zu wählen und in Eigenregie zu organisieren (vgl. Wacker et al. 2005).
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) vakat 298.p 145482607088
Behinderung als Ungleichheitsphänomen | 299
Behinderung als Ungleichheitsphänomen – Herausforderung an Forschung und politische Praxis Michael Maschke
Behinderung ist ebenso wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung eine Form horizontaler Ungleichheit. Horizontale Ungleichheiten ziehen sich sozusagen ›quer‹ zu vertikalen Ungleichheiten, wie Einkommens-, Vermögens-, Berufs- oder Bildungsschichten, durch alle Gesellschaftsschichten. Während vertikale Ungleichheiten immer mit sozialer Ungleichheit, der dauerhaften Einschränkung des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und zu sozialen Positionen verbunden sind (vgl. Kreckel 1997: 17), ist dies bei horizontalen Ungleichheiten nicht zwingend der Fall. Erst wenn horizontale Ungleichheiten statusmindernd oder -erhöhend wirken, werden horizontale Ungleichheiten auch zu sozialer Ungleichheit transformiert, wobei ihre statusmindernde Wirkung abhängig ist von der vertikalen sozialen Position. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Bedeutung von horizontalen Ungleichheiten im Verhältnis zu vertikalen Ungleichheiten hinsichtlich ihrer gesellschaftsstrukturierenden Wirkung zugenommen. Wie empirische Untersuchungen zur Lebenslage behinderter Menschen zeigen (vgl. Maschke 2003; Weil 1996), ist Behinderung in unserer Gesellschaft, vermittelt durch soziale Mechanismen und Institutionen, eine zentrale Form sozialer Ungleichheit. Wie genau einzelne behinderte Personen mit Macht- und Interaktionsmöglichkeiten und damit mit Lebenschancen ausgestattet sind, ist neben individuellen Dispositionen jedoch vor allem von ihrer vertikalen sozialen Position abhängig. Dass die statusmindernde Wirkung horizontaler Ungleichheiten problematisiert und ihre quasi ›natürliche‹ Relevanz auch für soziale Ungleichheit thematisiert und in Frage gestellt wurde, geschah in einem langen und noch andauernden gesellschaftlichen Bewusstwerdungs- bzw. Definitionsprozess, der maßgeblich
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300 | Michael Maschke durch die betroffenen Gruppen selbst (z.B. der Frauen- oder Behindertenbewegung) und die ihnen verbundenen Forschungsrichtungen (Gender Studies und Disability Studies) angestoßen und erkämpft wurde. Innerhalb dieses Definitionsprozesses wird Behinderung je nach Paradigma, je nach Sichtweise als eine unterschiedliche Form von Verschiedenheit wahrgenommen (vgl. Cloerkes 1997; Pfeiffer 2001). Entsprechend dem medizinischen Modell ist Behinderung eine Personeneigenschaft. Auch wenn theoretisch mit dieser Personeneigenschaft noch keine Wertung einhergehen muss, sind in der Praxis – ebenso wie bei anderen horizontalen Ungleichheiten – mit Behinderung gesellschaftliche Bewertungen verbunden. Die Weltgesundheitsorganisation spricht in ihrem alten Modell von Behinderung, der ICIDH von 1980 an dieser Stelle auch von Schädigung (impairment) – eine Bezeichnung mit einer klar negativen Konnotation.1 Nach dem medizinischen Modell von Behinderung sind alle weiteren Einschränkungen quasi ›natürliche‹ Folgen dieser Personeneigenschaft. Ganz im Gegensatz zum medizinischen Modell wird im sozialen Modell (Oliver 1996) Behinderung als eine soziale Interaktion und eine gesellschaftlich erzeugte Struktur verstanden, bei der die Verschiedenheit in eine soziale Ungleichheit transformiert wird. Dieser Beitrag geht nun der Frage nach, wie Behinderung als eine Form von sozialer Ungleichheit die Lebenschancen behinderter Menschen einschränkt und in welchem Maße diese Einschränkungen als illegitim zu sehen und zu bekämpfen sind. Hierzu werden erstens die Konzepte Armut und Deprivation, zweitens das Konzept sozialer Exklusion sowie drittens das Konzept Diskriminierung erläutert und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf behinderte Menschen diskutiert. Diese Konzepte sozialer Ungleichheit wurden ausgewählt, da die hier untersuchten Einschränkungen entweder in ihrem Ausmaß oder in ihrer Selektivität so gravierend sind, dass sie den in modernen Sozialstaaten generalisierten Anspruch auf Teilhabe an den Lebenschancen der Gesellschaft verletzen (vgl. Kaufmann 1997). Der korrigierende Eingriff des Staates wird daher nicht nur legitimiert, sondern ist sogar geboten. Die in diesem Beitrag vorgebrachte These lautet, dass je nach Art der Analyse sozialer Ungleichheit sich das ›Problem Behinderung‹ anders konstituiert, die Ungleichheiten von den beteiligten Akteuren als verschieden legitim bzw. illegitim eingeschätzt und unterschiedliche Formen staatlichen Handelns präferiert werden.
1. Konzepte sozialer Ungleichheit als Teil des politischen Prozesses Die Definition eines Problems bestimmt immer auch den Ansatz seiner Lösung. Behinderte Menschen sind und werden in ihren Lebenschancen beträchtlich eingeschränkt. In den verschiedenen Konzepten der Analyse
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sozialer Ungleichheit werden unterschiedliche Aspekte dieser Einschränkungen betrachtet. Aus sozialpolitischer Perspektive gelten vor allem drei Fälle sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften als problematisch und als illegitime Fälle von Ungleichheit. Der erste Fall ist in der Regel mit vertikalen Ungleichheiten wie Klasse oder Schicht verbunden. Dieser Fall tritt ein, wenn die Unterschiede so groß sind, dass die Lebenschancen über ein gewisses Maß hinaus eingeschränkt werden. In diesem Fall wird von Armut und Deprivation gesprochen. Der zweite Fall ist sowohl mit vertikaler als auch horizontaler Ungleichheit verbunden und zieht den teilweisen oder kompletten Ausschluss aus gesellschaftlichen Institutionen, wie der Schule oder dem Arbeitmarkt, nach sich. In diesem Fall wird von sozialer Exklusion gesprochen. Der dritte Fall ist in der Regel mit horizontalen Ungleichheiten wie Geschlecht, Nationalität oder ethnischer Zugehörigkeit verbunden. Auch hier werden Lebenschancen eingeschränkt. Im Gegensatz zu den ersten beiden Fällen wird aber nicht zwingend ein bestimmtes Maß an Ungleichheit überschritten, sondern die signifikante Einschränkung von Lebenschancen kann klassenübergreifend stattfinden. Entscheidend ist, dass die Benachteiligung aufgrund horizontaler Ungleichheit erfolgt, sich die Einschränkung aus dieser aber nicht kausal ableiten lässt. So kann beispielsweise Personen, obwohl sie die gleiche Qualifikation in einer Tätigkeit haben, aufgrund einer horizontalen Ungleichheit unterschiedlicher Lohn bezahlt werden. In diesem Fall als illegitim erachteter Benachteiligung wird von Diskriminierung gesprochen. In Regierungs- und Parteiprogrammen sowie politischen Äußerungen zur Behindertenpolitik von verbandlichen Akteuren wird auf die oben genannten problematischen Fälle sozialer Ungleichheit implizit Bezug genommen, wenn Kompensation, Rehabilitation, Integration, Partizipation und Inklusion oder Gleichberechtigung gefordert werden. Häufig werden diese Begriffe wenig trennscharf oder sogar synonym verwandt, obwohl ihnen verschiedene Probleme und Konzepte zu Grunde liegen sowie unterschiedliche politische Forderungen mit ihnen verbunden sind. Pauschalisierend betrachtet, versuchen Vertreter des medizinischen Modells, einerseits durch medizinische und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen, z.B. spezielles Arbeitstraining oder Lohnkostenzuschüsse, die Verschiedenheit entweder aufzuheben oder zumindest zu reduzieren, sowie andererseits durch Kompensationsleistungen, z.B. Invaliditätsrenten oder Mindestsicherungsleistungen, die soziale Ungleichheit auf ein erträgliches Maß nach ›unten‹ hin zu begrenzen. Dabei werden sowohl die Behinderung als auch die bestehenden Marktmechanismen als gegeben und quasi ›natürlich‹ gesehen und die Legitimität der so entstandenen Ordnung und der damit verbundenen Lebenschancen nicht reflektiert. Hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen Hilfen stellt sich lediglich die Frage, wie einerseits zwischen ›würdigen‹ und ›unwürdigen‹ Empfängern zu unterscheiden ist und andererseits unter den ›würdigen‹ Empfängern durch entsprechende Klassifika-
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302 | Michael Maschke tionen Leistungen differenziert werden sollen. Vertreter des sozialen Modells hingegen stellen bereits diese Ausgangsordnung in Frage, verweisen auf ihre historische wie gesellschaftliche Dimension und treten im politischen Prozess für Gleichstellung und den Abbau exkludierender Strukturen sowie die Sicherstellung von Partizipation ein. Mit der Darstellung dieser drei problematischen Fälle von sozialer Ungleichheit in den folgenden Abschnitten werden gleichzeitig die bereits genannten Begriffe Kompensation (als Antwort auf Armut), Rehabilitation und Integration (als Antwort auf Deprivation), Partizipation und Inklusion (als Antwort auf Exklusion) sowie Gleichstellung (als Antwort auf Diskriminierung) geklärt.
1.1 Armut und Deprivation – Behinderung als wohlfahrtsstaatliches Problem Die Existenz von Armut und Deprivation in Wohlfahrtsstaaten ist ein politisch hoch brisantes Thema, da es die Funktionsfähigkeit selbiger in Frage stellt; ist doch die Verhinderung von Armut ein wichtiges, wenn nicht sogar das primäre Ziel von Wohlfahrtsstaaten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Armut – die Abwesenheit von Wohlfahrt – auch in der Sozialforschung auf unterschiedlichen Ebenen und auf verschiedene Arten gemessen wird. So ist zu unterscheiden, ob Armut (1) indirekt anhand der objektiven Indikatoren Einkommen und Vermögen oder (2) direkt anhand objektiver Indikatoren zu Lebensstandards und Lebenslagen oder (3) direkt anhand subjektiver Indikatoren zur allgemeinen Zufriedenheit und zum erlebten Glück gemessen wird. Im Gegensatz zu vermeintlich objektiven Einschätzungen können subjektive Indikatoren die Lebenssituation aus der Perspektive der Individuen beschreiben. So können von Dritten als ähnlich beobachtete Lebensbedingungen von den Betroffenen ganz unterschiedlich bewertet werden oder objektiv Schlechtergestellte zufriedener als Privilegierte sein. Die Untersuchung von Armut führt auf den drei Ebenen zu unterschiedlichen Erkenntnissen. Es ist daher sinnvoll, sich die Vor- und Nachteile der Betrachtungsebenen zu verdeutlichen. Während für die Beschreibung von individuellen Lebenssituationen auch subjektive Indikatoren hilfreich sind (vgl. Bulmahn 1996; Glatzer 1984; Veenhoven 2001; Zapf 1984), ist die Beschreibung von Armut als soziale Kategorie kaum von individuellen, subjektiven Einschätzungen abhängig zu machen, da Armut in diesem Zusammenhang als gesellschaftlich erzeugt und relational zur Gesamtbevölkerung definiert ist. Die quantitative Armutsforschung nach dem Ressourcenansatz stützt sich daher vor allem auf die Untersuchung objektiver Indikatoren. Die Zuweisung von Armut bzw. Einkommensarmut erfolgt über unterschiedliche Schwellenwerte. Hier ist zwischen absoluten Armutskonzepten, die sich auf das physische Überleben beziehen, und relativen Armutskonzepten, die
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sich auf ein soziokulturelles Minimum beziehen, zu unterscheiden. Bei Letzteren, die für die Beschreibung von Armut in Wohlfahrtsstaaten vor allem relevant sind, können die Armutsschwellen auf der Basis von Anteilen (40, 50, 60, 75 Prozent) des durchschnittlichen Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens (unterschiedliche Äquivalenzskalen und Durchschnittswerte) der Bevölkerung (Europas, der Nation, der Region) auf der Basis von standardisierten Warenkörben oder auf der Basis politisch bestimmter Werte (Sozialhilfe2) festgelegt werden.3 Allein durch die unterschiedlichen Kombinationen dieser Elemente der Armutsschwelle lässt sich eine große Bandbreite von Armutsquoten für die Bevölkerung eines Gebietes berechnen. Abbildung 1: Messung von Wohlfahrt und Armut auf verschiedenen Ebenen
Persönliche Interpretationsweise und gesellschaftliches Umfeld
Erlebte Wohlfahrt bzw. Armut
Direkte Messung der erlebten Wohlfahrt bzw. Armut (Zufriedenheit)
Lebenslagen: Güter und Standards in zentralen Bereichen
Lebenslagenansatz: Direkte Messung der Wohlfahrt bzw. der Armut
Persönliche Präferenzen und gesellschaftliche Strukturen Einkommen und Ressourcen
Ressourcenansatz: Indirekte Messung der Wohlfahrt bzw. der Armut
Messung anhand subjektiver Indikatoren
Messung anhand objektiver Indikatoren
Eigene Darstellung in Anlehnung an Strengmann-Kuhn (2004)
Ein Defizit der klassischen Armutsforschung war die statische Betrachtung von Armut. Die dynamische Armutsforschung hat daher die zuvor statischen Querschnittsaufnahmen von Armut durch individuelle und zeitliche Verläufe von Armut (Längsschnitte) ergänzt (vgl. Andreß/Burkatzki 1999; Leibfried et al. 1995; Ludwig et al. 1995). Als häufige Armutsursachen werden neben Arbeitslosigkeit, geringer Entlohnung, fehlender oder geringer Schul- und Berufsausbildung, Trennung oder Scheidung und unzureichenden Versicherungs- und Versorgungsleistungen auch Behinderung und Krankheit bzw. Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit angeführt. Daher werden bei der Gruppe der Armen neben neueren Gruppen wie ›Working poor‹, Kindern, Langzeitarbeitslosen, Alleinerziehenden stets auch traditionelle Armutsgruppen wie Rentner, Obdachlose oder behinderte Menschen aufgezählt (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 2001, Hanesch et al. 2000). Was die Beschreibung der Lebenssituation behinderter Menschen nach
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304 | Michael Maschke dem Ressourcenansatz angeht, ist die Fokussierung auf Einkommensarmut aber nur bedingt hilfreich. Einkommenssicherheit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Vermeidung von Notlagen, da der Zugang zu Lebensbereichen wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Kultur, Sport oder sozialen Beziehungen eben nicht nur von den finanziellen Möglichkeiten abhängig ist, sondern ebenso durch weitere Barrieren begrenzt wird. Diese Barrieren können sowohl institutionell verankert sein als auch in den Einstellungen der Akteure liegen oder sich in physischer Art (insbesondere durch Umweltfaktoren) manifestieren. In Bezug auf behinderte Menschen konnte außerdem gezeigt werden, dass die gewöhnlichen Verfahren der Armutsmessung nur einen Teil des tatsächlichen Mangels an ökonomischen Ressourcen abbilden. So werden in der Regel zum einen erhöhte Aufwendungen behinderter Menschen, beispielsweise für Transport, Wohnen und insbesondere Gesundheit, nicht besonders berücksichtigt (vgl. Hanesch et al. 2000; Schneekloth 1994; Zaidi/Burchardt 2003), und zum anderen fließen die finanziellen Erleichterungen durch staatliche Sach- und Dienstleistungen nicht in die Berechnungen mit ein. Da das Ausmaß dieser kostenlos zur Verfügung gestellten Sach- und Dienstleistungen zwischen Nationalstaaten stark schwankt, sind rein monetäre Indikatoren nur bedingt aussagekräftig. Die Lebenssituation behinderter Menschen ausschließlich über Einkommensarmut zu beschreiben, wäre daher wenig hilfreich. Dennoch bleibt die Verfügung über ausreichende finanzielle Ressourcen zentral, da in marktwirtschaftlichen Gesellschaften ein Großteil realisierbarer Lebenschancen von der Verfügbarkeit über diese Ressourcen abhängt (vgl. Hanesch et al. 1994). Neben theoretischen Überlegungen spricht für die Verwendung von Armutsquoten die praktische Erwägung, dass sie gerade aufgrund ihrer Eindimensionalität und ihrer Berechnung auf Basis von repräsentativen Datenbanken einfach und glaubwürdig politisch zu vermitteln sind. Der Lebenslagenansatz greift die oben genannte Kritik bezüglich der Eindimensionalität auf und ergänzt andere zentrale Dimensionen, in denen Menschen in Deprivation4 geraten können. Dabei wird in den empirischen Untersuchungen eine Reihe von Lebenslagen ausgemacht, die für ein soziokulturell angemessenes Leben als zentral angesehen werden, vor allem Arbeit und Beschäftigung, Wohnen, Finanzen (Einkommensverteilung und Armut), schulische und berufliche Bildung, soziale Kontakte (Familie, Freunde und Bekannte), Gesundheit und Freizeit (vgl. z.B. Hanesch et al. 2000; Zapf et al. 1996). In allen diesen Lebenslagen interveniert der Wohlfahrtsstaat, indem er in die Distribution von Ressourcen eingreift. Die objektiv messbaren Indikatoren in diesen Lebenslagen werden durch subjektiv messbare Indikatoren, wie z.B. Zufriedenheit mit den Lebensumständen, ergänzt (vgl. Habich 1996). Dieses multidimensionale Verständnis von Lebenslagen ist aber, wie in Abbildung 1 dargestellt, nicht
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nur eine Fortschreibung der Betrachtung von Einkommen und Armut, denn Individuen verwenden die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nach ihren Präferenzen in den einzelnen Lebenslagen. »Gleiche Ressourcenausstattung führt daher nicht zu identischen Lebensstandards« (Andreß/Burkatzki 1999, 73). So können beispielsweise zwei Haushalte mit identischen finanziellen Mitteln aufgrund von unterschiedlicher Wirtschaftsweise sehr unterschiedliche Lebensstandards und -situationen haben. Auch die Möglichkeiten des Zugriffs auf andere Ressourcen, die unentgeltlich über private Netzwerkstrukturen (Familie, Freunde etc.) bzw. öffentliche Angebote (öffentliche Verkehrsmittel, Infrastruktur etc.) zur Verfügung stehen, können sehr divergieren. Die einzelnen Lebenslagen stehen in Wechselwirkung zueinander, d.h. Veränderungen in einem Bereich wirken sich auf andere aus (vgl. Iben 1989). Da die Situation in den einzelnen Lebenslagen von den Präferenzen und Verwendungsentscheidungen des Individuums abhängt, muss mit Unterversorgung in einem Bereich nicht automatisch eine insgesamt schlechte soziale Lage einhergehen. Defizitäre Versorgungs- und Lebenslagen werden innerhalb des Lebenslagenansatzes durch tatsächlich kumulierte Unterversorgung von Personen, Haushalten oder sozialen Gruppen in mehreren Bereichen angezeigt (Döring et al. 1990). Dennoch, so Glatzer und Hübinger (1990: 36), ist Einkommen die zentrale Lebenslage, weil es den Zugang zur Befriedigung zahlreicher anderer Bedürfnisse in anderen Lebenslagen gewährt. In Bezug auf behinderte Menschen ist im Lebenslagenansatz zu klären, ob Behinderung die Lebenslage Gesundheit per se negativ beeinflusst und automatisch eine Unterversorgungslage entsteht. So wird in einigen Untersuchungen Behinderung als ein Indikator neben anderen für den Gesundheitszustand angesehen (vgl. z.B. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1999: 7). Viele behinderte Menschen würden aber von sich behaupten, ›kerngesund‹ zu sein. Hier kommen die unterschiedlichen Definitionen und Sichtweisen von Behinderung zum Tragen. Nach dem sozialen Modell ist Behinderung eben nicht mit Krankheit gleichzusetzen, während im medizinischen Modell die Behinderung eng mit Krankheit und Schädigung verbunden ist. Für andere Lebenslagen kann es bei der Bewertung der Qualität von Teilhabe zu Schwierigkeiten kommen. So kann Segregation durchaus mit guter materieller Ausstattung verbunden sein, wie qualitativ hochwertige Wohnheime mit angegliederten Arbeitsbereichen in ländlichen Lagen zeigen, die dennoch aufgrund des Zwangs, dort zu leben, eine starke Einschränkung persönlicher Freiheit bedeuten.5 Im Kontext von Behindertenpolitik sind mit Armut und Deprivation die Funktionen Kompensation, Rehabilitation und Integration verbunden. Entsprechend dem medizinischen Modell von Behinderung ist die Notlage durch das Schicksal der Schädigung bzw. die mit ihr einhergehende Produktivitätseinschränkung herbeigeführt. Aus humanitären Gründen haben sich Wohlfahrtsstaaten verpflichtet, ihren Bürgern ein würdiges Leben si-
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306 | Michael Maschke cherzustellen und insbesondere Personen, die unverschuldet in eine Notlage gekommen sind, den würdigen Armen (vgl. Stone 1985), zu helfen. Durch monetären Transfer ist der an die Behinderung gebundene Einkommensausfall zu kompensieren und Armut zu verhindern. Durch medizinische, soziale, schulische und berufliche Rehabilitation sollen fehlende Ressourcen (u.a. auch Humankapital) zur Verfügung gestellt und so der Zugang zu den verschiedenen Lebenslagen ermöglicht werden. Neben monetären Transfers treten Sach- und Dienstleistungen, die Deprivation verhindern und die behinderte Person wieder in die Gesellschaft (re-)integrieren sollen. Diese staatlichen Interventionen werden aber nicht in jedem Fall als gleichermaßen legitim angesehen, sondern abhängig von der Ursache der Behinderung. Je mehr die Ursache für die Behinderung nicht im Verantwortungsbereich der betroffenen Person liegt, umso mehr scheint die Leistung legitimiert zu sein und steigt auch in ihrem Umfang an, wie die gute Versorgung von Kriegsveteranen oder Arbeitsunfallopfern zeigt. Sowohl die Höhe angemessener Leistungen als auch der Kreis der würdigen Empfänger werden zwischen den Interessengruppen politisch ausgehandelt. Wie die national sich stark unterscheidenden Regelungen sowohl im Zugang als auch in der Leistungshöhe zeigen, herrschen hier zwischen den Staaten starke Differenzen in den Vorstellungen über ungerechtfertigte Ungleichheiten.
1.2 Soziale Exklusion – Behinderung als institutionelles Problem Der ursprünglich vor allem in Frankreich verbreitete Begriff der Exklusion hat in den vergangenen Jahren in der Sozialforschung in ganz Europa einen zentralen Stellenwert bekommen. Damit hat das relativ neue Konzept sozialer Exklusion oder auch sozialer Ausgrenzung bzw. Ausschließung die frühere Forschungsperspektive auf Einkommensarmut ergänzt und teilweise sogar ersetzt (vgl. Vobruba 2000: 2). Doch so verbreitet wie der Begriff der sozialen Exklusion mittlerweile ist, so heterogen und schwierig erweist sich seine Verwendung (vgl. Castel 2000; Goodin 1996). Im Gegensatz zu selbst gewählter Exklusion ist soziale Exklusion in der Regel nicht freiwillig; die Rolle der Ausgeschlossenen ist negativ konnotiert, und die ausgeschlossenen Akteure verfügen über deutlich weniger Einfluss und Macht. Der Exklusionsansatz erweitert die klassische Armutsforschung, indem er »multidimensionale und dynamische Prozesse von Einschluss und Ausschluss in der Gesellschaft unter Beachtung der akteurseigenen Deutungen und Handlungspotentiale in diesen Prozessen« (Vobruba 2000: 3) untersucht. Soziale Exklusion ist nach Berghman (1995) das weiteste Konzept, das die Teildimension Einkommensarmut als dessen ökonomischen Kern mit einschließt (vgl. Jordan 1996; Kern 2002; Silver 1994). Durch ihre
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Verzeitlichung von Ungleichheit leistet die Exklusionsforschung in Bezug auf die Lebenslagen das, was die dynamische Armutsforschung für die Betrachtung von Einkommen geleistet hat. Dem Ansatz der Theorie sozialer Schließung folgend, werden Inklusion und Exklusion als Konsequenz sozialer Schließungsprozesse begriffen, »in denen strategisch handelnde kollektive Akteure um die Partizipation an knappen gesellschaftlichen Gütern und damit um Zugehörigkeit kämpfen« (Mackert 2003: 70). Es geht in dieser dynamischen Perspektive nicht mehr um die Beschreibung eines Exklusionszustandes als biographischer Endstation, sondern um Prozesse der Aus- und Einschließung, um die Konzentration auf charakteristische Entscheidungssituationen, »in denen Exklusionsprozesse sich stark beschleunigen, aufgehalten werden oder rückgängig gemacht werden« (Vobruba 2000: 3). Diese Exklusionsprozesse finden aber nicht abstrakt statt, sondern in Relation zu Institutionen, in denen Akteure aufeinander treffen. Hinsichtlich der Auswahl der entscheidenden Institutionen herrscht Konsens darüber, dass auch innerhalb von Exklusionsprozessen monetäre Ressourcen meist die notwendige, wenn auch nicht hinreichende, Bedingung für Teilhabe sind (vgl. Kern 2002: 90f.). Daher sind der Arbeitsmarkt und das System der sozialen Sicherung als die beiden bedeutendsten Einkommensquellen sowie das dem Arbeitsmarkt vorgelagerte Bildungssystem die zentralen Institutionen für Exklusionsprozesse. Innerhalb dieser Institutionen repräsentieren so genannte ›gatekeeper‹ die institutionell fixierten Bedingungen, an die der Zugang geknüpft ist, und begrenzen diesen gegenüber den an Inklusion Interessierten (Goodin 1996: 347). In dieser dynamischen Perspektive werden die Empfänger wohlfahrtsstaatlicher Leistungen nicht mehr als Opfer, sondern als Akteure behandelt, was sozialwissenschaftlich den »Ausstieg aus dem Unterlegenheitsdiskurs« bedeutet und damit die Perspektive auf Institutionen frei macht (vgl. Vobruba 2000: 3). Das bedeutet, dass behinderte Menschen nicht mehr als soziale Problemgruppen untersucht werden, also keine rein personalisierte Sozialpolitikforschung mehr betrieben wird. Stattdessen müssen für einzelne gesellschaftliche Teilbereiche die Institutionen, Gatekeeper und Prozesse, die zu Exklusion führen, benannt und exemplarische Handlungsoptionen entwickelt werden. Behinderte Menschen und ihre Vertretungen werden so als rational und strategisch agierende Individuen und Organisationen wahrgenommen. Tabelle 1 gibt aus dieser Perspektive einen ersten Überblick über die verschiedenen Aspekte der Exklusion behinderter Menschen in zentralen gesellschaftlichen Teilbereichen. Jede empirische Forschung hierzu erfordert jedoch ein hohes Maß an Detailkenntnis und eine intensive Beschäftigung mit dem Feld, die neben quantitativen auch qualitative Daten berücksichtigt.6
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308 | Michael Maschke Tabelle 1: Exklusion behinderter Menschen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen Gesellschaftlicher Teilbereich
Institution
Gatekeeper
Prozess
Exemplarische Handlungsoptionen
Arbeit und Erwerbstätigkeit
1., 2. und 3. Arbeitsmarkt
Arbeitgeber, Verwaltungsangestellte in Arbeitsämtern, Leiter von geschützten Arbeitsbereichen
Kein Austritt aus Erwerbslosigkeit und Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzverlust
Quotierung, Fortbildung, spezielle Arbeitsschutzrechte
Bildung
Schulen, berufliche Bildung, Universitäten
Lehrer, Ausbil- Segregation der, Dozenten
Staatsbürgerschaft (politische und bürgerliche Rechte)
Geschlossene Anstalten, Rechtssystem
Psychiater, Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter
Entmündigung, Verlust von Rechten
Einkommen
System sozialer Transfers
Verwaltungsangestellte, Amtsärzte und Sozialarbeiter in kommunalen Behörden
Einschränkungen im Konsum, Verlust des Zugangs zu Transfer-, Sach- und Dienstleistungen
Soziale Kontakte
Familien-/ Gemeinschaftssystem
Beteiligte Akteure
Eingeschränkte Universelles Mobilität, Design, AssisWahrnehmung tenz von Behinderung, Beziehungsverlust
Wohnen
Wohnungsmarkt, Wohnheime, staatliche Wohnungsbauförderung
Heimleiter, Wohnungsämter, Vermieter, Architekten
Wohnungsmangel, Wohnen bei den Eltern, schlechte Wohnausstattung
Universelles Design, betreutes Wohnen
Gesundheit
Gesundheitswesen
Ärzte, Architekten
Schlechte Versorgung aufgrund von Zeitmangel
Verändertes Vergütungssystem, Arztausbildung, Accessibility
Integrativer Unterricht, Inklusion der Schüler mit besonderem Förderbedarf
Rechtsberatung, Insistieren, Klagen, Budgetierung, Verbandsklage
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Diese Analyse sozialer Exklusion – konsequent zu Ende gedacht – zeigt, dass das Problem von Exklusion in der inkludierenden Gesellschaft besteht. Es gibt kein Außen ohne ein Innen, Exklusion impliziert stets auch Inklusion und umgekehrt. Daher bestünde die wirkliche Lösung des Problems von Exklusion darin, die Grenzen abzubauen und weniger inklusiv und damit gleichzeitig weniger exklusiv zu sein. Diese Vorstellung ist jedoch, wie Goodin bemerkt, weit entfernt von jeder politischen Diskussion. Daher schlägt er als zweitbeste Lösung Inklusion vor (vgl. Goodin 1996: 357). Aus dieser Perspektive wäre Sozialpolitik dafür verantwortlich, dass das Übergreifen von Exklusionsfolgen in Form verminderter Zugangschancen zu anderen Funktionssystemen blockiert, ›Spill-over-Effekte‹ verhindert und Inklusionschancen regeneriert werden (vgl. Vobruba 2000: 4). Trotz seines großen analytischen Potenzials in der Forschung ist mit dem Begriff der Exklusion in der Praxis paradoxerweise häufig der Übergang einer Politik der Umverteilung zu einer Politik isolierter sozialer Probleme in einzelnen Bereichen verbunden (vgl. Steinert 2003: 281). Damit werden die Zielvorstellungen von Sozialpolitik neu definiert und deutlich niedriger angesetzt. Es scheint, als wären in Anbetracht der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der Globalisierung (vor allem Europäisierung) der Märkte die Mittel für Umverteilung zusammengeschrumpft und als wäre es nun allenfalls noch möglich, ein Minimum an sozialem Zusammenhalt zu retten oder wiederherzustellen. Damit wird die Bearbeitung der sozialen Probleme an die Ränder der Gesellschaft verschoben, anstatt kostspieligere umfassende und politisch schwieriger durchzuführende Präventivmaßnahmen zu favorisieren (vgl. Castel 2000: 18f.). Die zur Bekämpfung von Exklusion ergriffenen Maßnahmen mit reparativer Zielsetzung ersetzen allgemeine sozialpolitische Maßnahmen mit präventiven Zielsetzungen. Diese politische Vereinnahmung des Begriffes Exklusion geht mit der Diagnose, dass Ausgrenzung durch Ausbeutung ersetzt wurde, einher (vgl. Dubet/Lapeyronnie 1994; Häußermann 1997). Im Rahmen dieser Entwicklungen hat auch die Behindertenpolitik an Bedeutung gewonnen. Doch die Verwendung der Begriffe soziale Exklusion (bzw. seine Abwesenheit), Partizipation und Inklusion ist widersprüchlich, und es drängt sich der Eindruck auf, dass diese häufig mehr von semantischen Moden und Political Correctness als von inhaltlicher Differenzierung bestimmt sind. Fast erscheint es, als wären die Begriffe absichtlich so unklar gehalten, damit sich unter den Sammelbegriffen unterschiedlichste Ziele und Verständnisse von Behindertenpolitik wiederfinden können. Nimmt man den Begriff Exklusion im hier aufgezeigten Sinne wirklich ernst, so entsteht die Notlage nicht als Schicksal, sondern ist – entsprechend dem sozialen Modell von Behinderung – Folge einer gesellschaftlichen Ordnung, in die Behindertenpolitik und ihre wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, wie Sonderschulen, Werkstätten für Behinderte oder Wohn-
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310 | Michael Maschke heime eingebunden sind (siehe Tabelle 1). Auch wenn diese Einrichtungen heute keine geschlossenen Anstalten mehr sind, so ist ihr schließender Charakter doch durchaus erhalten geblieben. Nicht umsonst werden seit Jahren die Auflösung der Sonderschulen (hierzu stellvertretend Eberwein 1998) und die Umwandlung von Großeinrichtungen in ambulant betreutes, selbstständiges Wohnen gefordert sowie Sinn und Zweck von Werkstätten für Behinderte in Frage gestellt (hierzu stellvertretend Klee 1980). Auch der erleichterte und bedingt freiwillige Zugang zu Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten exkludiert behinderte Menschen aus dem Arbeitsleben. Eine auf Inklusion ausgerichtete Behindertenpolitik müsste daher mit dem radikalen Umbau der Institutionen beginnen. In Abgrenzung zu dem im vorangegangenen Abschnitt benutzten Begriff Integration wird bei Inklusion Wert darauf gelegt, dass die zu Inkludierenden bereits Teile der Gesellschaft sind, dass die Institutionen, die sie ausgrenzen, verändert werden müssen. Anders als bei multipler Deprivation bzw. Integration geht es bei sozialer Exklusion bzw. Inklusion im Kontext von Behinderung also nicht um vielfältige Maßnahmen und Leistungen zur Integration behinderter Personen, sondern um das Einwirken auf den Prozess der Ausgrenzung und die hierzu notwendigen Veränderungen der historisch-institutionellen Begebenheiten. Die Aufhebung der Einschränkung von Lebenschancen legitimiert sich nicht aus der Humanität, sondern die Legitimität staatlichen Handelns ergibt sich aus der Problemanalyse. Letztere ist aber, da sie die bestehende Ordnung und auch deren wohlfahrtsstaatliche Institutionen in Frage stellt, politisch häufig umstrittener als Handlungen, die sich auf der Basis von Humanität legitimieren.
1.3 Diskriminierung – Behinderung als zivilrechtliches Problem Der in der Einleitung erwähnte dritte problematische und als illegitim erachtete Fall sozialer Ungleichheit bezieht sich auf horizontale Ungleichheiten. Solche horizontalen Ungleichheiten könnten hinsichtlich sozialer Ungleichheit an sich unproblematisch sein, in der Realität wirken sie sich aber häufig stark negativ aus. Dieser Fall wird als Diskriminierung bezeichnet. Diskriminierung ist jede Form von Benachteiligung, Nichtbeachtung, Ausschluss oder Ungleichbehandlung aufgrund horizontaler Ungleichheiten. Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Nationalität, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit oder eben Behinderung verletzt damit den in marktwirtschaftlichen Gesellschaften wichtigsten normativen Maßstab der Rechtfertigung sozialer Ungleichheit: den am Markterfolg gemessenen individuellen Leistungsertrag (vgl. Beckert 2004: 317). Für das Vorliegen von Diskriminierung ist es im Gegensatz zu Armut, Deprivation und sozialer Exklusion nicht zwingend notwendig, dass eine bestimmte Schwelle an Lebenschancen unterschritten wird. Entscheidend ist, dass die Einschrän-
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kung der Lebenschancen der Personengruppe aufgrund (generell) zugeschriebener und/oder in diesem bestimmten Zusammenhang nicht relevanter Merkmale erfolgt. Diskriminierung kann die Ursache für Armut oder Deprivation sein und ist in der Praxis oft mit sozialer Exklusion verbunden. Diskriminierung kann auf direkte bzw. unmittelbare oder auf indirekte bzw. mittelbare Weise erfolgen. Direkte bzw. unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn die Benachteiligung eindeutig und ausdrücklich aufgrund der Personeneigenschaft erfolgt. Ein Beispiel für direkte Diskriminierung wäre die unterschiedliche Bezahlung von behinderten Männern und behinderten Frauen im Rahmen von Tarifverträgen oder auf gleichen Stellen. Indirekte bzw. mittelbare Diskriminierung liegt hingegen vor, wenn eine neutral wirkende Maßnahme tatsächlich aber eine Personengruppe mit einer Eigenschaft benachteiligt. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn Zeit, Ort und Ablauf von Fortbildungsseminaren nicht für (behinderte) Frauen geeignet wären, weil diese in der Realität häufig Arbeiten im Haushalt und Kinderbetreuung übernehmen müssen. Beide Formen von Diskriminierung können sowohl in Einstellungen und Verhalten von Privatpersonen zu Tage treten, als auch in institutionellen Strukturen und der Selektionsfunktion von Gatekeepern verankert sein. Im zweiten Fall hat die Diskriminierung die soziale Exklusion zur Folge. Gegen beide Formen von Diskriminierung wenden sich Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze.7 Neben diesen Gesetzen existieren zur Bekämpfung der Folgen von Diskriminierung und zur Herstellung gleicher Chancen eine zweite Gruppe staatlicher Interventionen, die ›affirmative action‹ oder auch positive Diskriminierung genannt werden. Diese Instrumente sollen Minderheiten bessere Chancen einräumen und durch bewusste Bevorzugung von Mitgliedern einer Gruppe zum Ausgleich von existierenden Nachteilen dienen. Einige Beispiele für ›affirmative action‹ sind Quotenregelungen für behinderte Personen bei Arbeitgebern, besondere Arbeitsschutzrechte, erleichterter Zugang zu Universitäten für Minderheiten oder auch das so genannte ›contract compliance‹, die Vergabe staatlicher Aufträge an Firmen, die Minderheitengruppen überproportional beschäftigt haben. Affirmative action ist umstritten, da sie zumindest eine formale Diskriminierung der Menschen umfasst, die das entsprechende Merkmal nicht aufweisen, und im Einzelfall aus Perspektive der Benachteiligten zu ungerechten und sachfremden Entscheidungen führen kann. Instrumente der affirmative action stehen im Widerspruch zu Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzen, da sie den Gleichheitsgrundsatz verletzen und indirekt zu einer Verfestigung der Segregation und Segmentierung der Minderheitengruppen führen können. Daher sind affirmative actions durch Rechtsprechung in ihrer Wirkung eingeschränkt worden. Wenn Instrumente der affirmative action trotzdem im politischen Einklang mit
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312 | Michael Maschke Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzen stehen, müssen diese aus deren Geltungsbereich explizit ausgeklammert werden. Begründet wird diese inhaltlich widersprüchliche Koexistenz mit dem Unterschied zwischen legaler und realer Gleichheit. Durch die ungleiche Privilegierung soll vorgeschalteter oder historisch gewachsener Diskriminierung so lange begegnet werden, bis die diskriminierte Gruppe auch real in allen gesellschaftlichen Bereichen entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung präsent ist. Dabei wird Diskriminierung an Orten bekämpft, an denen sie möglicherweise gar nicht entstanden ist.8 Dies ist notwendig, da Diskriminierung eben auch in kulturellen Bereichen und Lebenslagen verankert ist, auf die Gesetze keinen Einfluss haben, und Diskriminierungen in einer Lebenslage negative Folgen in anderen Lebenslagen nach sich ziehen können. Werden diese ›Spill-over-Effekte‹ nicht gestoppt, kommt es zu Deprivation und kumulativer Benachteiligung im Lebenslauf (vgl. Mayer 1991). Abweichungen von den als ›normal‹ definierten körperlichen Funktionen und Strukturen werden häufig automatisch als negativ und weniger wert wahrgenommen, obwohl dies nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Quasi ›natürlich‹ werden mit der Behinderung eine reduzierte Produktivität und damit reduzierte Zugangschancen assoziiert. In der Folge werden Einschränkungen der Lebenschancen von behinderten Personen aufgrund dieser medizinischen und ökonomischen Sichtweise nicht als Problem von Diskriminierung wahrgenommen. Durch die Wahl der Gestaltung des öffentlichen Raumes, sowohl staatlicher als auch privater Institutionen, und das konkrete Verhalten von Akteuren wird die Teilhabe behinderter Menschen eingeschränkt. Die ersichtlichsten Formen dieser direkten wie indirekten Diskriminierung sind sicherlich der Gebäude- und Verkehrsmittelzugang oder auch Kommunikationsbarrieren. Aber auch negative Formulierungen in Gesetzen, der gesetzliche Ausschluss behinderter Personen aus Berufsgruppen, die Verweigerung des Zugangs zu allen Schulformen oder Schadenersatzklagen wegen Minderung des Erholungswertes aufgrund der Anwesenheit von behinderten Menschen, um nur einige gängige Beispiele aufzuzählen, sind Formen von Diskriminierung. Und auch im Fall von Behinderung lassen sich kumulative Benachteiligungen aufzeigen; so wirken sich die Einschränkungen im Zugang zu Schulen auch im weiteren Lebenslauf aus (vgl. Powell 2007). Mit der zunehmenden Wahrnehmung von Diskriminierung und dem Einzug des sozialen Verständnisses hat sich die Behindertenpolitik grundlegend verändert. Neben der Forderung nach Teilhabe und Partizipation findet sich heute in politischen Aussagen zu Behindertenpolitik stets auch die Aufforderung zur Gleichstellung und zur Vermeidung von Diskriminierung. Ebenso wie bei sozialer Exklusion ist die durch die Diskriminierung entstandene Einschränkung von Lebenschancen – entsprechend dem sozialen Modell von Behinderung – kein Schicksal, sondern sie entspringt
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interessegeleiteten Handlungen. Daher bezieht die Bekämpfung der Diskriminierung ihre Legitimation auch nicht aus einer humanitären Zielsetzung, sondern entspricht dem Gleichheitsgrundsatz. Aber auch in diesem dritten Fall sozialer Ungleichheit ist die Legitimität der Bekämpfung – zumindest in ihrem Umfang – umstritten, wie die heftigen Auseinandersetzungen um Antidiskriminierungsgesetze in verschiedenen Staaten zeigen. Zum einen liegt dies daran, dass solche Gesetze in die bestehende rechtliche und institutionelle Ordnung eingreifen, zum anderen aber auch an den nicht zwingend, aber häufig mit Gleichstellung und Antidiskriminierung verbundenen Gruppenrechten (affirmative action).
2. Zukünftige Ungleichheitsforschung als wissenschaftliche und politische Herausforderung Im Kontext der dargestellten Konzepte sozialer Ungleichheit wird das ›Problem Behinderung‹ unterschiedlich konstituiert. Je nach Art der Analyse sozialer Ungleichheit und je nach Wahrnehmung der Probleme zieht Behinderung unterschiedliche Formen staatlichen Handelns nach sich. Während bei den Konzepten Armut und Deprivation der Fokus ausschließlich auf die betroffenen Personen gerichtet ist, heben die Konzepte soziale Exklusion und Diskriminierung den sozialen Kontext hervor und machen deutlich, dass die Einschränkung der Lebenschancen keinesfalls ›natürlich‹, sondern im gesellschaftlichen und historischen Kontext entstanden und damit veränderbar ist. Die politischen Reaktionen beziehen sich daher auch nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, auf den behinderten Menschen selbst, sondern setzen an institutionellen Regulierungen und dem Verhalten nicht behinderter Personen an. Dies können, wie im Fall von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzen, die Verhältnisse zwischen Staat und Bürgern bzw. zwischen Bürgern untereinander oder, wie im Fall von Inklusion, der Umbau von Institutionen wie Schulen oder Arbeitsplätzen und schließlich Maßnahmen im Hinblick auf die Gatekeeper sein. Zu den unterschiedlichen Sichtweisen auf soziale Ungleichheit im Kontext von Behinderung gibt es jeweils auf der politischen Ebene ein Pendant. Für Armut ist dies Kompensation, für Deprivation (z.B. in den Lebenslagen Schule und Beruf) Rehabilitation und Integration, für soziale Exklusion Partizipation und Inklusion sowie für den Fall von Diskriminierung Gleichstellung und Antidiskriminierung. Die Analysekonzepte und die politischen Antworten sind keineswegs neutral, sondern mit jeweils spezifischen Interessen verbunden. In ihnen liegen unterschiedliche Möglichkeiten und Chancen für die gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen, sie besitzen aber auch unterschiedliche Grenzen und Risiken im politischen Kontext. Obwohl in allen drei aufgezeigten Fällen sozialer Ungleich-
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314 | Michael Maschke heit der korrigierende Eingriff des Staates geboten ist, wird die Legitimität der (sozial-)staatlichen Interventionen von den beteiligten Akteuren unterschiedlich bewertet. Interventionen auf der Basis von Humanität sind häufig politisch leichter durchzusetzen als Interventionen auf der Basis von gleichem und fairem Zugang oder struktureller Gleichheit, da sie die bestehende Ordnung, insbesondere die Ordnung des Arbeitsmarktes, nicht in Frage stellen. Wie oben aufgezeigt, sind aus der Sicht der Disability Studies insbesondere Analysekonzepte zu sozialer Exklusion und zu Diskriminierung zu forcieren, da hier die politischen Lösungsstrategien weniger an behinderten Menschen und mehr an behindernden Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen ansetzen. Beide Konzepte bergen aber die politische Gefahr, dass sie genutzt werden, um die Budgets für Kompensationsleistungen zurückzufahren. Da jedoch gerade der Umbau von Institutionen, z.B. dem Bildungssystem, erst mit großen zeitlichen Verzögerungen wirkt und zur Zeit auch im internationalen Vergleich die Chancen behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt trotz zahlreicher Integrationsmaßnahmen durchgängig ungünstig sind, könnten solche Budgetkürzungen zu Einkommensarmut der Haushalte von behinderten Menschen führen. Der Autor plädiert daher an dieser Stelle dafür, neben diesen beiden Konzepten für die Beschreibung der Lebenssituation behinderter Menschen weiterhin – nicht nur, aber eben auch – das Lebenslagenkonzept zu verwenden, um im politischen Diskurs die notwendige Unterstützung für Interventionen zu erhalten. In der empirischen Forschung ist für die genannten problematischen Bereiche sozialer Ungleichheit (Armut und Deprivation, soziale Exklusion und Diskriminierung) zu klären, welche Auswirkungen speziell Behinderung im Sinne des sozialen Modells auf die Lebenschancen von Menschen hat. Analog zu der in der Frauenforschung entwickelten Geschlechtsklassenhypothese ist dabei zu fragen, ob behinderte Menschen gemeinsame Merkmale haben, die sie sozialklassenübergreifend als ›logische Klasse‹ kennzeichnen, oder ob Behinderung analog zu der Klassengeschlechtshypothese innerhalb sozialer Klassen jeweils spezifische Bedeutung und Auswirkungen hat (vgl. Frerichs/Steinrücke 1993: 193f.; Ruhm 1999). Für die erste Hypothese, die ›Behinderungsklassenhypothese‹, würde sprechen, dass gemäß der Individualisierungs- und Entstrukturierungsthese (Beck 1986)9 traditionelle Ungleichheitskategorien wie Ressourcenausstattung oder Herkunft an Einfluss verloren haben, während andere Ungleichheitskategorien, die für den individuellen Lebensstil entscheidend sind, an Einfluss gewonnen haben. Die Behinderungsklassenhypothese würde damit auf die starke Wirkung von Behinderung als Personeneigenschaft bzw. auf an die Person gebundene, zugeschriebene Stigmata abheben. Für die zweite Hypothese, die Klassenbehinderungshypothese, würde sprechen, dass die Auswirkungen der Behinderung entscheidend von den
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Umweltbedingungen abhängig sind. Beide Hypothesen lassen sich weiterentwickeln und ausdifferenzieren, wenn die Annahme der Konsistenz der Gruppe der behinderten Menschen als monolithischer Block fallen gelassen wird.10 So könnten sowohl über Klassen hinweg als auch innerhalb von Klassen spezifische Behinderungen, differenziert nach Art, Ursache, Eintrittsalter und Wahrnehmbarkeit, die gesellschaftliche Stellung bedingen. Hier eröffnet sich ein weites und wichtiges Feld der quantitativen wie qualitativen Sozialforschung für die kommenden Jahre. Die Bearbeitung dieses Feldes sollte aus der Perspektive der Disability Studies erfolgen, um bei der Problemkonstruktion Einfluss zu üben und so auch die politischen Antworten mitzubestimmen. Um die Bedeutung der historisch-institutionellen Bedingungen bei diesen Analysen herauszuarbeiten und damit eine dynamische und auf Prozesse gerichtete Perspektive zu stärken, sollten die Untersuchungen in diesem Feld international vergleichend durchgeführt werden.
Anmerkungen 1
Die WHO hat in ihrem neuen Modell von Behinderung, der ICF von 2001, durch eine neutralere Sprache versucht, diese impliziten Bewertungen zu vermeiden; so wurde »impairment« durch »body functions and structures« ersetzt (vgl. WHO 2001). 2 Hier ist dann jeweils zu unterscheiden, ob es sich bereits um bekämpfte oder noch existierende Armut handelt. Auch existiert hier das Problem der verdeckten Armut von Menschen, die Anrechte auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen hätten, diese aber nicht in Anspruch nehmen (vgl. Hauser 1995). 3 In der Regel werden Haushalts- und nicht Individualeinkommen als Basis der Berechnung benutzt, da von einem Einkommensausgleich innerhalb des Haushaltes ausgegangen wird. Für weitere Überlegungen zur Berechnung von Armutsquoten siehe Döring et al. 1990 und Klocke 2000. 4 In Abgrenzung zum Begriff Armut beschreibt Deprivation nach Townsend (1987; 1993) relative Versorgungsmängel in verschiedenen Dimensionen, wie Arbeit, Gesundheit, Wohnen oder Freizeit, anhand objektiver Faktoren. 5 Sen (1983: 153) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass mit der Teilhabe in den Lebenslagen nicht automatisch auch Handlungsmöglichkeiten einhergehen. Relative Deprivation bezogen auf materielle Ressourcen kann absoluter Deprivation bezogen auf die Fähigkeiten (capabilities) einer Person entsprechen. Sen plädiert daher für die Betrachtung der Handlungsmöglichkeiten. Für behinderte Menschen
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bedeutet dies, dass Handlungsmöglichkeiten trotz ausreichender Teilhabe in den angeführten Lebenslagen eingeschränkt sein können, weil Barrieren die Nutzung behindern. Beispielhaft hat diesen Ansatz Powell (2007) für den Bereich der Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf angewendet. Beide Begriffe (Gleichstellungsgesetz und Antidiskriminierungsgesetz) werden häufig synonym gebraucht. Im Deutschen wird unter Gleichstellungsgesetz ein Gesetz im öffentlichen (Verwaltungs-)Recht, das die Verhältnisse zwischen Bürgern und Staat regelt, verstanden. Dagegen ist ein Antidiskriminierungsgesetz ein zivilrechtliches Gesetz, das auf die Verhältnisse zwischen den Bürgern untereinander eingeht (zu den unterschiedlichen Formen von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetzen siehe Degener/Quinn 2002). Ein viel diskutiertes Beispiel hierfür ist die Diskussion um Studienzugänge in den USA. Die Generalisierbarkeit dieser These wird häufig bezweifelt, da weiterhin Ort und Zeit sowie soziale und ökonomische Determinanten für die Herausbildung bestimmter Lebensstile entscheidend sind (vgl. Bourdieu 1991; Kern 2002). Auch wurde der These der Pluralisierung und Individualisierung von Lebenslagen entgegengehalten, dass sie eher geeignet scheint, die Lebensumstände privilegierter als sozial benachteiligter Schichten zu beschreiben (vgl. Leisering 1997: 148). Wie aus der quantitativen empirischen Forschung bekannt, ist die Gruppe der als behindert kategorisierten Personen sehr heterogen, und trotz offizieller gemeinsamer Klassifikation gibt es substanzielle Unterschiede.
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Behinderung in der Schule, behindert durch Schule? Die Institutionalisierung der ›schulischen Behinderung‹ 1 Justin J.W. Powell
Die prinzipielle Exklusion von als behindert wahrgenommenen Kindern aus der Schule wurde in Deutschland und den USA erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwunden. Der verspätet realisierte Einbezug in die allgemeine Schulpflicht und die Beschulung in öffentlichen Schulen bedeutet jedoch nicht, dass damit die vollständige schulische Inklusion im Sinne einer Schule für alle Kinder erreicht worden wäre, wie in diesem Beitrag anhand der sonderpädagogischen Fördersysteme im deutsch-amerikanischen Vergleich gezeigt wird.2 Die sonderpädagogische Profession spielte bei der Überwindung der schulischen Exklusion einerseits eine wichtige Rolle, indem sie die Förderung der als behindert klassifizierten Kinder sicherstellte; andererseits definierte sie aber auch stigmatisierende Kategorien – und begründete ›besondere‹ schulische Organisationsformen. Trotz der unbestreitbaren Erfolge in den Bemühungen, auch behinderten Kindern den Zugang zu Bildung zu ermöglichen, wurde letztlich nur eine Teilinklusion in das Bildungswesen erreicht, denn man institutionalisierte die sonderpädagogischen Fördersysteme in den beiden hier untersuchten Ländern vornehmlich als aussondernde Einrichtungen, anstatt in allgemeinen Klassen zusätzliche Unterstützung anzubieten. Diese Teilinklusion in das Bildungswesen, die in den deutschen und amerikanischen Schulsystemen etabliert, verallgemeinert und verteidigt wurde, blockiert gleichzeitig eine vollständige Inklusion in allgemeine Klassen, insofern wird hier von einer ›schulischen Behinderung‹ gesprochen. Schulische Behinderung ist demnach definiert als ein kontinuierlich sich ausbreitender Prozess des Behindertwerdens durch eine offizielle Klassifizierung und Beschulung in räumlich getrennten und stigmatisierenden Einrichtungen. Behinderung wird dabei primär als soziale Kon-
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322 | Justin J.W. Powell struktion und zugeschriebenes Merkmal verstanden. Schulische Behinderung resultiert entsprechend auf der institutionellen wie auf der individuellen Ebene aus den Interaktionen von Menschen in historisch und rechtlich spezifischen Kontexten. Sozial-politischen Modellen (z.B. Hahn 1985) oder sozialen Modellen von Behinderung (z.B. Oliver 1990) folgend, wird der Fokus in dieser Untersuchung zu schulischer Behinderung weniger auf die individuellen Schädigungen und Beeinträchtigungen, sondern vielmehr auf die schulischen Strukturen gelegt, durch die ein wachsender Anteil der Schulkinder behindert wird (Powell 2007). Zwar mögen die heute üblichen sonderpädagogischen Fördersysteme für den Einzelnen eine Verbesserung gegenüber dem kompletten Ausschluss aus dem Bildungssystem bedeuten – und ggf. auch identitätsfördernd sein. Dennoch, vielfältige Barrieren, wie reduzierte Erwartungen, Aussonderung sowie Stigmatisierung, limitieren die Lernmöglichkeiten und -motivation der größer werdenden Gruppe von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf.3
1. Von der Exklusion zur Inklusion? In dem sozialen und politischen Prozess von der schulischen Exklusion hin zur vollständigen Inklusion können die kritischen Perspektiven der Disability Studies wie auch der Soziologie der Behinderung wichtige Hilfestellungen leisten, da in diesen Diskursen zentrale Orte gesellschaftlicher Konstruktion von ›Behinderung‹ benannt und deren reale Konsequenzen untersucht werden. Einer dieser Orte des Behindertwerdens ist die Schule, da dort Generationen von Lehrern, Eltern und Schülern mit dem bereits genannten klinischen Modell der Behinderung in Kontakt kommen und Vorurteile, negative Stereotypen und Diskriminierungen im Hinblick auf behinderte Menschen reproduziert werden (vgl. Powell 2003a). Zudem konstituiert das Fehlen von Lernmöglichkeiten und anerkannten Zertifikaten eine schulische Behinderung, die weitreichende negative Konsequenzen für diese Kinder und Jugendlichen nach Verlassen der Schule mit sich bringt, wie u.a. Marginalisierung auf dem Arbeitsmarkt und erhöhtes Armutsrisiko (vgl. Maschke 2006). Eine Antwort auf die Frage, wie schulische Behinderung institutionalisiert wurde, soll hier mit Hilfe des Ansatzes des durch die amerikanische Organisationsforschung geprägten soziologischen Neo-Institutionalismus entwickelt werden (z.B. Meyer/Rowan 1992; Powell/DiMaggio 1991; Hasse/Krücken 2005; Meyer 2005). Diese auf die Bedeutung von Ideen und Symbolen für die Entwicklung von Institutionen und Organisationen fokussierende Perspektive wird mit den neueren Ansätzen einer Soziologie der Behinderung, welche sich auf die kulturellen Kontextfaktoren von Behinderung und auf das Behindertwerden bestimmter Personengruppen konzentriert, verbunden (z.B. Cloerkes 2003; Waldschmidt 2003). Auf die-
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se Weise können die Wechselwirkungen zwischen dem historischen Wandel von Behinderungskategorien und der Entwicklung der sonderpädagogischen Fördersysteme im Bildungswesen analysiert werden (vgl. Powell 2007). Durch offizielle Klassifizierung werden in der sonderpädagogischen Förderung symbolische und soziale Grenzen gezogen, die sichtbare Auswirkungen auf die individuelle Entwicklung von Schulkindern haben (Powell 2003b). Benachteiligungen innerhalb des Schulsystems können dazu führen, dass Bildungsabschlüsse nicht erreicht werden, sie haben damit insbesondere in ›Bildungsgesellschaften‹ tief greifenden Einfluss auf spätere Lebenschancen (vgl. Solga 2005; Wagner 2005). In der Beleuchtung solcher zumeist nicht intendierten lebenslangen Folgekosten der Stigmatisierung und des Bildungsmisserfolgs liegt ein Beitrag der kritischen Analyse der Institutionalisierung von Bildungssystemen. Diese historische Analyse der schulischen Behinderung gibt Aufschluss über den Wandel von kategorialen Grenzziehungen innerhalb des klinischen Modells von (A-)Normalität und darüber hinaus. Trotz der anhaltenden Dominanz dieses Modells sowie der auf Kompensation von festgestellten individuellen Defiziten zielenden Fördermaßnahmen werden in länderspezifischen und historisch vergleichenden Untersuchungen signifikante kulturelle Unterschiede deutlich, die sich in den kategorialen und organisatorischen Grenzen zwischen allgemeiner und sonderpädagogischer Förderung wie auch innerhalb der jeweiligen Sonderpädagogik zeigen. Schulische Behinderung entsteht dort, wo Benachteiligungen nur partiell entgegengewirkt oder gar weitere hinzugefügt werden. Die Antwort auf die Frage, welche Benachteiligungen von wem wann und wie kompensiert werden sollten, hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts grundlegend verändert, wobei aktuell über Leistungsstandards und individuelle Kompetenzen sowie die sich noch entwickelnde ›Schule für alle‹ diskutiert wird. Auch die vielfältigen Reformen der letzten Jahre verdeutlichen, dass die sonderpädagogischen Fördersysteme weder unhinterfragt noch unbeeinflussbar bleiben müssen. Dennoch, wenn schulische Inklusion in einer ›Schule für alle‹ – in welcher die Lehrer alle Schulkinder in der Erreichung ihrer individuellen Lernziele unterstützen – nicht nur eine rhetorische Forderung bleiben soll, muss sich diese gegen kognitive, normative und rechtliche Beharrungskräfte der immer noch national konstituierten Institutionen und Organisationsformen durchsetzen, die für Schüler mit festgestelltem Förderbedarf entwickelt worden sind. Deshalb zielt dieser Beitrag auf die Frage: Wie wurde schulische Behinderung mit so viel Erfolg institutionalisiert, dass sie bis vor kurzem unhinterfragt blieb, als notwendig akzeptiert und in allen Regionen der beiden untersuchten Länder verallgemeinert wurde? Antworten auf diese Frage würden gleichzeitig Wege aufzeigen, die Barrieren der schulischen Inklusion abzubauen. Gerade in Zeiten einer Bildungskrise dürfte die hier angebotene vertiefende Analyse der Trägheit der besonderen und behindern-
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324 | Justin J.W. Powell den Schulstrukturen gewinnbringend sein. Denn seit der Veröffentlichung der internationalen Schulleistungsstudien PISA zeichnet sich in Deutschland eine erneute »Bildungskatastrophe« ab (Solga/Powell 2006). Ähnliche Turbulenzen haben die jüngsten US-amerikanischen Bildungsreformen auf Bundesebene um Standardisierung und Rechenschaft ausgelöst (Pfahl/Powell 2005). Das Phänomen schulische Behinderung und seine sowohl räumlich wie auch zeitlich variierende Institutionalisierung und die sich darauf beziehenden sonderpädagogischen Fördersysteme führen zu unterschiedlichen Größen und Arten der klassifizierten Gruppen der schulischen Behinderung, die äußerst unterschiedliche Lerngelegenheiten bekommen. Zur Beantwortung der Frage nach den entscheidenden Unterschieden zwischen diesen Ländern und zwischen den regional verschiedenen Bildungssystemen dieser Länder wird die Institutionalisierung schulischer Behinderung im Folgenden in drei Dimensionen analysiert: erstens die Behinderungsparadigmen als kulturell-kognitive Dimension, zweitens die sonderpädagogische Profession und sonderpädagogische Organisationen als normative Dimension und drittens die Bildungspolitik und Rechtsprechung als regulative Dimension. Um die Bedeutung dieser Dimensionen zu veranschaulichen, wird in jedem Abschnitt anhand einiger Beispiele aus dem deutsch-amerikanischen Vergleich gezeigt, wie die jeweilige Institution entstanden ist und wie sie sich verändert hat. Um die Analyse zu fundieren, werden im folgenden Abschnitt kurz allgemeine Trends und Perspektiven auf Behinderung nachgezeichnet, welche die historischen Ursprünge schulischer Behinderung und der Schulstrukturen im 20. Jahrhundert beeinflusst haben. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und Empfehlungen für Umstrukturierungen der Bildungssysteme, die nötig wären, um Kinder weniger schulisch zu behindern.
2. Historische Phasen der Institutionalisierung schulischer Behinderung In den deutschen und amerikanischen Bildungsgesellschaften, in denen zertifizierte intellektuelle und soziale Qualifikationen immer wichtiger werden, wächst nicht nur der Anteil an hoch qualifizierten Personen kontinuierlich, sondern auch die Rate von als schulisch behindert geltenden Kindern und Jugendlichen: Die Gruppengröße der als behindert klassifizierten Schulkinder hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts von nahezu null bis auf über fünf Prozent aller Schüler und Schülerinnen in Deutschland und über zwölf Prozent in den USA erhöht (Powell 2007). Die sonderpädagogischen Fördersysteme wuchsen aufgrund der Verfestigung und Ausdifferenzierung der schulischen Behinderung als Institution. Heute gibt es in beiden Ländern hoch differenzierte institutionelle und organisatorische Grenzen der schulischen Behinderung. Um diese expansive und
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divergierende Entwicklung zu verstehen, sollen im Folgenden die Phasen der Entstehung, der Expansion und der Persistenz dieser Systeme kurz skizziert werden.4 Die erste Phase vor und um 1900 zeigt eine Übernahme von Leitbildern und Strukturprinzipien des allgemeinen Schulsystems. Diese Periode, in der die ersten sonderpädagogischen Bildungsangebote entstanden, kann als Epoche der Institutionalisierung von Anstalten gelten (vgl. Möckel 1988; vgl. Goffman 1961 zu den »totalen Institutionen« des Anstaltswesens). Am Ende dieser Phase wurde in Deutschland die Hilfsschule als eigenständige Schulform gegründet, um vermeintlich schwach begabte oder lernunwillige Kinder aufzunehmen, während amerikanische Schulen eher Sonderklassen einrichteten. Diese organisatorische Differenz der interschulischen versus intraschulischen Verteilung reflektiert die Übernahme der Leitprinzipien des deutschen, vertikal gegliederten Schulwesens im Vergleich zu der innerschulisch hoch variablen Verteilung der Schüler und Schülerinnen in die Kurssysteme der amerikanischen Gesamtschulen. D.h., die gängigen schulischen Strukturen waren in Deutschland von Anfang an in Form getrennter Schulen und in den USA hauptsächlich als separate Klassenverbände für als behindert geltende Schulkinder etabliert worden. Die zweite Periode, von der Eugenik zur Expansion sonderpädagogischer Fördersysteme, reicht von etwa 1900 bis in die 70er Jahre und ist durch die beginnende Behindertenpolitik, durch Rehabilitation sowie den Ausbau der Schulformen und die Differenzierung der sonderpädagogischen Profession im Zuge der Bildungsexpansion gekennzeichnet. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, also zu Beginn der langen zweiten Phase, verstärkten sich parallel die eugenische Wissenschaft und eine internationale Eugenik-Bewegung, die sich auf oft zweifelhafte empirische Ergebnisse stützte, jedoch kulturelle Ideen über Behinderung maßgeblich bestimmte (vgl. Snyder/Mitchell 2006). Auch wenn die vollständige Exklusion vom Bildungssystem graduell erfolgreich abgebaut wurde, wurden behinderte Kinder nach wie vor zumeist in segregierenden Einrichtungen eingeschult. Die Notwendigkeit, sie zumindest in einem Sonderschulwesen zu integrieren, entstand, weil die Norm der Bildungsbeteiligung und das Konzept der ›Bildungsfähigkeit‹ verallgemeinert wurden und Bildungsstandards kontinuierlich anstiegen. Je mehr Bildung als Menschenrecht anerkannt wurde, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, desto weniger legitim wurde die Exklusion aus dem Bildungswesen. Als behindert wahrgenommene Personen bilden die letzte Gruppe, der Bürgerrechte, u.a. Bildung, zugestanden wurde (vgl. Janoski 1998). Von Anfang an diskutierten soziale und politische Reformer alternative Organisationsformen der besonderen Beschulung, jedoch stellten sie die Notwendigkeit einer solchen Institution immer weniger in Frage. Sie veränderten die Organisationen gemäß der Entwicklung des Berufsbildes der
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326 | Justin J.W. Powell Pädagogen und Pädagoginnen und auf der Basis von deren Vorstellungen sowohl von relevanten Behinderungskategorien als auch von geeigneten Fördermaßnahmen wie Sonderklassen, Sonderschulen oder Anstaltsunterbringung. Auf regionaler und kommunaler Ebene antworteten Politiker und Entscheidungsträger mit der Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln für Schulkinder, die einer Sonderförderung bedurften. So wurde das Recht des Einzelnen auf Zugang zu dem gemeinschaftlichen Gut ›Bildung‹ immer mehr ausgeweitet, zugleich wurde es den Bürgern aber auch als Pflicht auferlegt. Zuletzt und erst allmählich wurden als behindert wahrgenommene Personen in diese politischen Maßnahmen miteinbezogen, was insbesondere Elternvereinigungen in ihrem Anspruch bestärkte, gegen die Exklusion der Kinder aus dem öffentlichen Bildungswesen und für die Verwirklichung ihres Bürgerrechts auf Bildung zu kämpfen. Behindertenorganisationen und Vereine für Menschen mit Behinderung entstanden, von denen die meisten sich aber zunächst auf eine der bestehenden medizinisch und psychologisch geprägten Kategorien bezogen. Insbesondere in den 60er Jahren wurden im Zuge der Bildungsexpansion etwa mehr als zehn Sonderschularten im eigenständigen Sonderschulwesen Deutschlands oder Sonderklassen in amerikanischen Schulen entwickelt, jedoch regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, quantitativ wie qualitativ (vgl. Hofsäss 1993; Richardson 1999). Tatsächlich wurde die Ausweitung der Teilhaberechte auf Bildung für behinderte Kinder erst in den 60er und 70er Jahren flächendeckend implementiert, trotzdem wurden viele Kinder in beiden Ländern auch in dieser Phase immer noch von öffentlichen Schulen ihrer Gemeinden ausgeschlossen (vgl. Powell 2007). Die dritte, aktuelle Phase, die in den 70er Jahren begann, ist gekennzeichnet durch soziale und politische Konflikte bezüglich schulischer Integration und Inklusion. Diese Zeit ist geprägt von der selbst organisierten Behindertenbewegung in den USA (z.B. Scotch 2001; Shapiro 1994) und in Deutschland (Drewes 2003; Köbsell 2006) und von der mit ihr eng verbundenen Entwicklung sozialpolitischer Modelle der Behinderung sowie schulischer Integration und Inklusion (vgl. z.B. Sander 2002). Diese Modelle fassen Behinderung als Unterdrückung auf, nehmen die Gruppe behinderter Menschen als Minderheit wahr und hinterfragen die politischen Entscheidungen, die Barrieren entstehen lassen oder ungenügend auf die Bedürfnisse behinderter Menschen eingehen. Erst in den USA, zeitversetzt auch in Deutschland, wurden Schulintegration und -inklusion durch die Sicherung von Bildung als Bürgerrecht, durch technologische Fortschritte und durch Gesetze zur kommunikativen und architektonischen Barrierefreiheit unterstützt, Letzteres weltweit repräsentiert im ›international symbol of access‹ (Ben-Moshe/Powell 2007) – auf dem Weg zum ›Design für alle‹, auch in Schulgebäuden. Aufbauend auf den Erfolgen anderer Bürgerrechtsbewegungen konnte die amerikanische ›Disability-Rights‹-Bewegung Antidiskriminierungsge-
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setze wie die schulische Integration durchsetzen (Powell 2004). Im Einheitsschulsystem der USA ist die Partizipation einzelner Kinder das primäre Ziel. Diese Integration erfolgt aber zumeist in separaten Klassen (intraschulische Separierung). Hingegen führte die sonderpädagogische Bildungsexpansion Deutschlands im letzten Jahrhundert zu einem hoch differenzierten Sonderschulwesen der interschulischen Segregation. Seit den 60er Jahren öffneten sich die öffentlichen Bildungssysteme zunehmend für behinderte Kinder, und die schulische Integration benachteiligter und behinderter Kinder wird sowohl rhetorisch als auch rechtlich häufiger als Ziel gesetzt (z.B. in Empfehlungen der Kultusministerkonferenz oder in dem amerikanischen »Individuals with Disabilities Education Act«). In beiden Ländern erhalten immer mehr Schulkinder eine sonderpädagogische Förderung, sowohl in den jeweils üblichen räumlich getrennten Organisationsformen als auch integrativ. Während in den USA seit den 70er Jahren integrative und inklusive Angebote immer häufiger bereitgestellt werden, blieb diese Entwicklung in Deutschland zumeist auf Grundschulen beschränkt; zudem mit großen Länderunterschieden (vgl. Powell 2007). Gleichzeitig gibt es in beiden Ländern eine deutliche Überrepräsentanz von männlichen Schülern, ethnischen Minoritäten und sozial Benachteiligten in den sonderpädagogischen Maßnahmen. Dennoch bleiben auch bedeutende Unterschiede in den individuellen Schülerkarrieren und den institutionellen Strukturen der sonderpädagogischen Förderung erhalten. Resümierend lässt sich festhalten, dass die in den ersten zwei Phasen institutionalisierten Fördersysteme sich nur äußerst schwer reformieren lassen, insbesondere aufgrund der Korrespondenz mit dem jeweiligen Bildungswesen insgesamt. In den letzten Jahrzehnten wurden die pfadabhängige, eigendynamische Entwicklung, die Persistenz und die Reformresistenz dieser Fördersysteme überdeutlich in der Abwehr vielfältiger Inklusionsbestrebungen, wobei die Gesamtschulstrukturen in den USA sehr viel mehr Integration, Inklusion und Durchlässigkeit ermöglichen, jedoch weniger als in den inkludierenden Bildungssystemen nordischer Länder wie Island oder Norwegen (Powell 2006). Auch wenn vielfältige schulische Inklusionsmodelle in den letzten Jahrzehnten in sehr vielen amerikanischen wie deutschen Schulen erfolgreich erprobt wurden, sind sie nicht in allen Regionen der beiden Nationen erfolgreich implementiert worden. Fragen für die neo-institutionelle Analyse, die sich aus diesem historischen Abriss entwickeln lassen, lauten etwa: Welche kulturellen Barrieren verhindern die schulische Inklusion? Welche Faktoren haben diese ursprünglich ähnlich exkludierenden Bildungssysteme sich strukturell divergent entwickeln lassen? Um diese Entwicklungen und den Widerstand gegen schulische Inklusion besser zu verstehen, sollen in der folgenden Analyse die vielfältigen institutionellen Faktoren, die zur schulischen Behinderung geführt haben, herausgearbeitet werden.
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3. Eine neo-institutionalistische Analyse der schulischen Behinderung Die sonderpädagogischen Fördersysteme, die für das Lernen ›schulisch behinderter‹ Kinder und Jugendlicher verantwortlich sind, bieten in Bezug auf Entstehung, Expansion und Persistenz ein paradigmatisches Beispiel für eigendynamische institutionelle Prozesse der Verstärkung existierender Organisationsformen im Bildungswesen (vgl. Lundgreen 2003). In der letzten Phase zeigt sich zudem sehr deutlich die bildungspolitische »Todsünde der institutionellen Trägheit« (Richter 2001: 10ff.). Im Weiteren geht es auch darum, diese Beharrungstendenzen mit Hilfe der Dimensionen der Institution schulischer Behinderung zu untersuchen. Dabei wird nicht nur auf Entwicklungen im Recht oder in der sonderpädagogischen Profession eingegangen, sondern es werden auch, dem Neo-Institutionalismus folgend, insbesondere die kognitiven, präreflexiven Aspekte der schulischen Behinderung als kulturell bedingte Bewertungsmaßstäbe und Kategorien der schulischen Leistung sowie des (Lern-)Verhaltens hervorgehoben. Es geht also um die Einbettung vielfältiger sonderpädagogischer Organisationen in kulturell geprägte Institutionen der schulischen Behinderung. Die neo-institutionelle Theorie bietet eine Reihe analytischer Konzepte an, die für ein Verständnis von Institutionen als Erwartungszusammenhänge und Organisationen als Beziehungen zwischen Personen mit ähnlichen Interessen oder Zielen relevant sind. Institutionen reduzieren die Unsicherheit in menschlichen Beziehungen, was insbesondere bei Normabweichungen wie Behinderung von großer Bedeutung sein kann; sie strukturieren die Erwartungen der Beteiligten in Interaktionen. Institutionen können wir präziser nach Jepperson als »higher-order constraints imposed by socially-constructed realities« und »stable designs for chronicallyrepeated activity sequences« (Jepperson 1991: 141-163) definieren, Strukturen, die anderweitig als Produktionssysteme oder Sozialprogramme, auch als ermöglichende Strukturen oder performative Skripte bezeichnet werden (vgl. Powell/DiMaggio 1991). Das Erreichen institutionell bestimmter Ziele erfolgt in hohem Maße durch Organisationen. Um die vielfältigen sich wandelnden Organisationsstrukturen der sonderpädagogischen Fördersysteme zu verstehen, bedarf es deshalb einer Analyse der schulischen Behinderung, um die oben kurz geschilderten komplexen und langfristigen sozialen Prozesse der Institutionalisierung als empirisch analysierbare Dimensionen fassbar zu machen. Kennzeichnend für den soziologischen Neo-Institutionalismus sind folgende Annahmen (vgl. Hasse/Krücken 2005: 18-19): Erstens bestimmen nicht nur formale Vorgaben, sondern auch unhinterfragte Ideale und Grundüberzeugungen das Handeln (im hier diskutierten Fall etwa das Ideal einer ›der Begabung‹ entsprechenden Beschulung). Zweitens bleiben in
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der Praxis Freiräume bestehen, und sie wird oft durch Routinen und Angemessenheitskriterien geleitet (z.B. ist schulische Behinderung nicht ein objektiv statischer Zustand, sondern entsteht in Schüler-Lehrer-Interaktionen, die politisch gesetzte Rahmenbedingungen und persönliche Erfahrungen wie Präferenzen widerspiegeln, mit der Konsequenz, dass es große räumliche Disparitäten in der Identifikation von Förderbedarfen gibt). Drittens bestimmen die Orientierungen der Akteure und nicht Normen allein die Erwartungen und das Handeln (gemeinsamer Unterricht wird oft von überzeugten Lehrerinnen und Lehrern gegen allgemeine Normen im Bildungswesen durchgesetzt). Viertens haben institutionelle Vorgaben oft unintendierte Folgen und nicht immer die gewünschten positiven Funktionen (trotz der Annahme, dass die zusätzlichen Ressourcen einer Förderung dem Schulkind helfen werden, zeigt sich, dass Stigmatisierung und Segregation als negative Folgen die positiven Aspekte überwiegen können). Fünftens muss von einer Prozessualität von Institutionen ausgegangen werden, von der Begründung über die Genese bis zur Erosion (dieser Fokus auf historischen Entwicklungen wurde und wird aus Beispielen des deutsch-amerikanischen Vergleichs demonstriert). In solchen Analysen können Organisationsformen und -praxen auf der Basis von institutionellen Mechanismen der Nachahmung, der Normen und des Zwangs untersucht werden (vgl. DiMaggio/Powell 1983). Organisationen folgen bekannten und erfolgreichen Beispielen, die Interpretationsmöglichkeiten und -hilfen liefern und zugleich die originale formale Struktur von Organisationen wie auch ihre Überlebensfähigkeit und ihre Legitimation beeinflussen (vgl. Meyer/Rowan 1992). Um der Unsicherheit zu begegnen und die Wahl geeigneter Strukturen zu gewähren, richten sie sich nach professionellen Handlungsweisen, die durch Berufsverbände verbreitet und in Schulsystemen angewandt werden, und passen diese den politischen Regeln des Staates an. Wenn Bildungsorganisationen die Erfolge anderer zu kopieren versuchen (etwa ›best practices‹), gehören Berater und Beraterinnen, wissenschaftliche Konferenzen, professionelle Zeitschriften und personelle Mobilität zu den wichtigen Mechanismen der Nachahmung. Auf diese Weise wird eine schnelle Diffusion von Ideen und Konzepten zwischen den organisatorischen Ebenen in Bildungssystemen ermöglicht (Hanson 2001: 649). Normative Mechanismen werden primär durch die (Sonder-)Pädagogik mit ihren Ausbildungsprogrammen an Hochschulen, in professionellen Verbänden und Akkreditierungsagenturen geregelt. Als ›gatekeepers‹ agieren diese Agenten, indem sie die Grenzen der Profession bestimmen; sie sozialisieren alte wie neue Mitglieder und erlegen ihnen Werte und Standards auf. Im Folgenden werde ich die Diffusion grundlegender Ideen und Einstellungen über schulische Behinderung, die Organisationen und Interessen sowie politische und rechtliche Kräfte, die mit schulischer Behinderung verbunden sind, untersuchen. Dabei werde ich das Konzept W. Ri-
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330 | Justin J.W. Powell chard Scotts (1995; 2003) auf den Fall der sonderpädagogischen Fördersysteme beziehen und eruieren, welche »Regeln, die die Natur der Realität bilden, und welche verschiedenen Rahmen, durch die Bedeutung entsteht« (Scott 1995: 40, Übers. JP), dort wirksam sind. Sowohl die kulturell-kognitive Dimension (Paradigma) der Institutionalisierung schulischer Behinderung als auch die normative Dimension (Profession) und die regulative Dimension (Politik) tragen zur Gestaltung und Verfestigung der Relevanz schulischer Behinderung bei. Für diese drei Dimensionen soll jeweils die Basis der Zustimmung, der Ordnung wie der Legimitation der Institution sowie deren Logik und die Indikatoren der schulischen Behinderung erläutert werden (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Dimensionen der Institution schulische Behinderung Kulturell-kognitiv
Normativ
Regulativ
Anwendung
Paradigmen der Behinderung
Organisationen der sonderpädagogischen Fördersysteme
Bildungspolitik (Rechte, Ressourcen); Rechtsprechung
Basis der Zustimmung
Behinderung = Defizit: soll ›behandelt‹ werden
Hilfen sollen den Bedürfnissen ›angemessen‹ sein
Effizienz der allgemeinen Pädagogik muss gewährleistet sein; Chancengleichheit als Ideal
Ordnungsbasis
Behinderung = Anormalität (binäre Kategorien)
Teilung von Sonder- Nationale und und allgemeiner regionale BildungsPädagogik politiken
Logik
Klinisches Modell (individuelle Defizite)
Nur ausgebildete Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen können angemessen fördern
Garantie vermehrter Ressourcen und/ oder spezialisierte Assistenz
Indikatoren
Vorurteile, (negative) Stereotypen, Stigmatisierung; Segregation
Profession der Sonderpädagogik; kategoriale Ausbildungsprogramme
Unterstützung abhängig von Implementierung der Politik, Einhalten der Regeln, Erreichen der Ziele
Legitimationsbasis
Klinische Professionen; Glauben an ›natürliche bzw. genetische‹ Begabung/ Können
›sonderpädagogischer Förderbedarf‹; Kompensation als logische Grundlage
Bildungspolitik im Bereich der Sonderpädagogik; Rechtssprechung um individuelle Rechte und Ressourcen zu schlichten/vermitteln
Quelle: Powell (2007).
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3.1 Kulturell-kognitive Dimension der Institution schulische Behinderung Die kulturell-kognitive Dimension der Institution schulische Behinderung umfasst die vorhandenen Behinderungsparadigmen in einer Gesellschaft. Von den dominanten klinischen (und funktionalistischen) Paradigmen wird vorausgesetzt, dass einer Behinderung individuelle Defizite zugrunde liegen und diese an der Person korrigiert werden können und müssen. Obwohl das klinische Paradigma von Behinderung meist wenig Relevanz für die Gestaltung von schulischen Lernprozessen hat, haben »mimetische Mechanismen« (DiMaggio/Powell 1983) – also die Macht schon etablierter Theorien und Praxen und ihre Diffusion – die Übernahme auch in pädagogische Bereiche möglich gemacht. Aufgrund der Dichotomie binärer Kategorien, etwa Normalität/Anormalität und Kompetenz/Inkompetenz, werden Vielfalt, Variabilität und Temporalität der Konzepte schulischer Behinderung verdeckt. Die Autorität dichotomer Behinderungskonzepte basiert auf der Definitionsmacht der klinischen Professionen und ihrer defizitorientierten Diagnosen. Sie besitzen eine enorme kulturelle Legitimität und liefern Modelle von natürlicher bzw. genetischer und auch messbarer ›Begabung‹ wie ›Behinderung‹. Die relevanten Indikatoren der neueren Fördersysteme ähneln denen der Krankenhaus- und Anstaltsunterbringung im 19. Jahrhundert, denn Vorurteile, negative Stereotypisierungen, Stigmatisierung und Segregation sind auch heutzutage entscheidende Faktoren der schulischen Behinderung. Die Sonderpädagogik kann wie jede Disziplin dann politische und ökonomische Ressourcen gewinnen und ihren Status aufbauen oder erhalten, wenn sie überzeugende Theorien und Strategien entwickelt (Freidson 2001: 105). Die grundlegenden Strategien der Sonderpädagogik in Bezug auf die Teilhabe behinderter Kinder im Bildungswesen zielen lediglich auf Teilinklusionen: durch die Separierung von Schulkindern in amerikanischen Sonderklassen und durch die Segregation in deutschen Sonderschulen. Beide Vorgehensweisen verlangen autorisierte, legitimierte organisatorische Grenzen. Die Förderstrategie des klinischen Modells, die ein individuelles Defizit mit besonderem Förderbedarf gleichsetzt, mag in beiden Ländern weit verbreitet sein, dennoch sind die Mechanismen der Feststellung und Bemessung von Förderbedarf höchst unterschiedlich. In Deutschland spielen Schulnoten und Lehrerempfehlungen die primäre Rolle bei der Begutachtung und Verteilung der Schulkinder. Im Gegensatz dazu werden im Bildungssystem der USA seit Anfang des 20. Jahrhunderts enorm häufig psychometrische Tests als Basis für den Bildungsverlauf bestimmende Schulentscheidungen eingesetzt (vgl. Lemann 1999). Solche Tests werden nicht nur zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs eingesetzt, sondern auch für die Kurswahl innerhalb der Gesamtschule bis hin zum Zugang zur Hochschulbildung. Wie schulische
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332 | Justin J.W. Powell Behinderung wahrgenommen und vermessen wird, hängt jedoch nicht nur von der kulturell-kognitiven Dimension ab, sondern auch von den Interpretationshilfen der beteiligten Professionen (z.B. kulturell höchst unterschiedlich definierten Kategorien des sonderpädagogischen Förderbedarfs wie ›Lernbehinderung‹) und der von ihnen strukturierten und verwalteten Organisationen, also der normativen Dimension.
3.2 Normative Dimension der Institution schulische Behinderung Die soziale Verpflichtung, d.h. die professionelle Norm für Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen besteht in der Bereitstellung von angemessener und relevanter Hilfe, um den individuellen Lernbedürfnissen behinderter Kinder gerecht zu werden. Während die Ordnungsbasis in der klar definierten Grenzziehung zwischen allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik besteht, wird vorausgesetzt, dass nur entsprechend ausgebildete und spezialisierte Lehrer und Lehrerinnen angemessene sonderpädagogische Unterstützung anbieten können. Die Professionalisierung sonderpädagogischer Förderung ist ein zentraler Indikator für deren Institutionalisierung, denn hoch entwickelte Gesellschaften sichern Expertenwissen institutionell ab, auch wenn dies sowohl innerhalb von Organisationen (z.B. Sonderschulen) als auch im Beamtentum (z.B. Lehrerschaft) verortet werden kann (vgl. Abbott 1988). Spezialisierte Ausbildungsprogramme und Bildungsgänge sind Indikatoren für erfolgreiche Professionalisierung, insbesondere weil diese Arbeitsautonomie, sozialen Status und Marktmonopol implizieren (Larson 1977: 49f.). Die Konstruktion von Wissen, die Ausbildung von Lehrern und die Entwicklung von Organisationsformen sollen den Zweck erfüllen, Macht zu konsolidieren und klare Abgrenzungen zu anderen Feldern zu etablieren. Eine zentrale Norm der Sonderpädagogik als Profession ist die Wohltätigkeit, welche aus der kompensatorischen, philanthropischen Grundidee resultiert, die als eine originäre Begründung der Disziplin gelten kann (vgl. Moser 1995). Historisch ausgestaltete Normen, die die Grenzen der sonderpädagogischen Profession ziehen, bestimmen nicht nur die Rekrutierung von Mitgliedern der Profession und ihre Denkweisen (kognitive Dimension), sondern auch die organisatorische Teilung der Pädagogik wie die Logik des professionellen Monopols (soziale Dimension), der zufolge angeblich nur ausgebildete Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen ›anormale‹ Schüler und Schülerinnen unterrichten können. Offensichtlich sind jedoch solche Normen in der Praxis weder objektiv noch systematisierbar. So zeigten die empirischen Erhebungen beispielsweise für Deutschland, dass der Sonderschüleranteil im Jahr 2000 regional variiert, von unter drei Prozent aller Schüler im Saarland bis beinah sieben Prozent in Sachsen-Anhalt, während die Integrationsraten von förderbe-
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dürftigen Schülern von nur einem Prozent in Sachsen-Anhalt bis zu einem Drittel in Berlin reichen (Krappmann/Leschinsky/Powell 2003). In den USA hingegen lag im selben Jahr der Anteil aller Schulkinder mit einem »individualized education program« zwischen acht Prozent in Hawaii und 15 Prozent in Rhode Island. Während in Delaware nur 25 Prozent der Schüler zu mehr als vier Fünfteln ihres Schultages gemeinsam mit ›nicht behinderten‹ ›peers‹ unterrichtet wurden, wurden in Vermont bereits 80 Prozent der klassifizierten Kinder in inklusiven Klassen unterrichtet (Powell 2007). Diese großen regionalen Unterschiede lassen deutliche Zweifel daran aufkommen, dass es eine stabile, objektiv feststellbare Gruppe von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gibt, die nicht von allgemeinen Pädagogen und Pädagoginnen unterrichtet werden könnten, insbesondere wenn inklusive Schulen gesellschaftlich gewollt und unterstützt werden. Dennoch macht die sonderpädagogische Profession ihre Ansprüche weiterhin geltend. In Deutschland sind Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen verbeamtet (mit höheren Gehältern als Grund-, Haupt- und Realschullehrer). Sie profitieren damit von der Autorität des Staates, und sie können direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Der Verband deutscher Sonderschulen (VDS) hatte schon im Jahr 1954 in einer Denkschrift über das heilpädagogische Sonderschulwesen erfolgreich eine administrativ-organisatorische Klassifikation von schulischer Behinderung entwickelt, welche die Legitimität und Notwendigkeit eines eigenständigen Sonderschulwesens in den Richtlinien der Kultusministerkonferenz (KMK) konsolidierte – die so genannte ›Sonderschulbedürftigkeit‹. Danach sollte zwar die individuelle Förderung unterstützt werden, jedoch wurde nur auf einen einzigen der vielen möglichen Förderorte Bezug genommen: Die in Sonderschulen tätigen Lehrkräfte allein galten als kompetent, um diese Kinder besonders zu fördern. Auch die Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen in den USA haben sehr erfolgreich ihre Interessen mit Hilfe des »Council for Exceptional Children« (CEC) durchsetzen können, einer Organisation, die im amerikanischen Kongress Lobbytätigkeiten für Gesetze wie das »Individuals with Disabilities Education Act« (IDEA) koordiniert. Im starken Kontrast zu der in Deutschland herrschenden, auf Sonderschulen ausgerichteten Art der normativen Institutionalisierung hat jedoch die amerikanische Profession subsidiäre Unterabteilungen und Sonderklassen an nahezu allen Schulen durchgesetzt. Im Endeffekt hat diese Strategie allerdings zu einem sehr großen Anteil von als behindert klassifizierten Schulkindern geführt. Mittlerweile gibt es in den USA mehr als doppelt so viele ›schulisch behinderte‹ Kinder und Jugendliche wie in Deutschland (Powell 2006). Allerdings werden die amerikanischen Schulkinder nach individuellen Förderplänen an allgemeinen Schulen unterrichtet, während die meisten Kinder in den deutschen Bundesländern immer noch auf die Sonderschultypen verteilt
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334 | Justin J.W. Powell werden, obwohl seit 1994 nicht der Ort der Förderung entscheidend sein soll, sondern sonderpädagogische Förderschwerpunkte, die auf individuelle Lernbedürfnisse zielen. In den USA besteht zwar auch die Grenzziehung zwischen Sonderpädagogik (als subsidiäre Abteilung) und allgemeiner Pädagogik, aber die organisatorische Nähe der Bereiche reduziert die »Klassifizierungshemmschwelle« (Powell 2003b). So unterschiedlich die Orte der Förderung sind, so haben doch beide Länder nicht nur starke sonderpädagogische Berufsverbände, Ausbildungsprogramme und gut ausgebaute sonderpädagogische Fördersysteme. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die föderale Struktur der beiden Bildungssysteme mit komplexen Machtverteilungen und Entscheidungsprozessen, die Schulreformen schwer durchsetzbar machen bzw. nicht intendierte Konsequenzen mit sich bringen.
3.3 Regulative Dimension der Institution schulische Behinderung Zur regulativen Dimension der schulischen Behinderung zählen auch Mechanismen des staatlichen Zwangs, insbesondere die Bildungspolitik und die Rechtsprechung bezüglich des individuellen Rechts auf Bildung sowie die bereitgestellten Ressourcen. Gerichte werden in die Pflicht genommen, um die (allerdings nahezu unlösbare) Problematik der Adjustierung der Grenzen der schulischen (Nicht-)Behinderung sowie die Zuteilung von Schulkindern an Förderorte zu bestimmen (vgl. Minow 1990). Juristische Verfahren zielen auf ein Entweder-oder der schulischen Behinderung, obwohl sie hochgradig relativ ist, wie die oben genannten regionalen Unterschiede in der Differenzierung und Allokation der Schüler verdeutlichen. Die Ordnung im Feld der schulischen Behinderung wird durch Bildungspolitik auf mehreren Ebenen gewährleistet, etwa wenn die Programme lokaler Schulen durch Finanzierungsmodi auf Länder/›state‹-Ebene oder per Gerichtsentscheidungen auf nationaler Ebene mitbestimmt werden. Voraussetzung für die Gewährung zusätzlicher Ressourcen ist, dass die Effizienz der allgemeinen Pädagogik gewährleistet bleibt. Gleichzeitig spielt aber auch die Chancengleichheit als Ideal eine große Rolle, denn von ihrem Anspruch her soll die Sonderpädagogik kompensatorisch wirken und die Bildungschancen klassifizierter Schüler sichern helfen. Prinzipiell stellen sonderpädagogische Fördersysteme in Deutschland und den USA angemessene Unterstützung bereit, die in Umfang und Art abhängig vom Wissensstand und der verfügbaren Technologie jeder speziellen Kategorie der schulischen Behinderung ist. Jedoch sind die Indikatoren des Erfolgs, der Ressourcenzuweisung und Legitimität gewährleistet, eher die Einhaltung von Regeln, Gesetzen und Sanktionen als die realen Ergebnisse (z.B. Noten oder Schulabschlüsse) einzelner Schulkinder. In den USA wird dieses Paradox besonders sichtbar durch den wachsenden Standardisierungsdruck
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in Folge des »No Child Left Behind Act« (2001), nach dem jede Schule an den Schulleistungen aller Schüler gemessen werden soll. Eine häufige Reaktion darauf ist aber, dass immer mehr Schüler und Schülerinnen als besonders förderbedürftig etikettiert und somit oft aus der Rechenschaftspflicht exkludiert werden (Pfahl/Powell 2005). Obwohl in beiden Ländern die Mehrheit schulisch behinderter Jugendlicher die Schule ohne Abschluss verlässt, entzieht dies den Fördersystemen nicht ihre Legitimitätsbasis, und zwar offenbar deshalb, weil auf der rechtlichen Ebene die Kontrolle der individuellen Rechte und Gruppenressourcen von größerer Bedeutung ist als die individuellen Schicksale der Stigmatisierung und des schulischen Misserfolgs, die aus der schulischen Behinderung resultieren. Die Förderstrategie, der die regulative Dimension folgt, ist die Bereitstellung vermehrter Ressourcen und/oder spezialisierter Assistenz für individuelle Schulkinder. Jedoch sind diese Formen der Unterstützung abhängig von der erfolgreichen Implementierung der Politik, dem Einhalten der Regeln sowie dem zumindest partiellen Erreichen der im Gesetz festgehaltenen Ziele. Die Basis der Legitimität sind eben eine Bildungspolitik, die sonderpädagogische Fördersysteme gliedert (etwa KMK-Empfehlungen) und mit staatlichen Mitteln finanziert, sowie eine Rechtssprechung, die individuelle Bildungsrechte und Ressourcen sichert und Konflikte zwischen den Beteiligten schlichtet. Staatlicher Druck auf diese Systeme kann indirekt sein, z.B. durch die Verabschiedung von Antidiskriminierungsgesetzen. Er kann aber auch direkt wirken, etwa indem die Entwicklung von individuellen Förderplänen in den Bildungspolitiken festgeschrieben wird. Die Rolle der Sonderpädagogik ist während der andauernden Bildungsexpansion bestätigt worden, weil deren Veränderungen sowohl auf der Basis sozialer Evaluationen von Effizienz oder Egalität als auch durch die Zustimmung durch Parlamente oder Professionsagenturen, die Schulsysteme prägen, unterstützt worden sind (vgl. Meyer/Rowan 1992). Nicht nur fördern Bildungspolitiken explizit bürokratische Ordnungen, sondern indem sie sich mit den Theorien eines Feldes beschäftigen, legimitieren sie auch deren Sichtweisen, z.B. wenn diagnostische Verfahren oder kategoriale Grenzziehungen in Gesetzestexten auf Basis von Expertengutachten festgelegt werden. Insofern spiegeln Schulstrukturen wie das separierende amerikanische und das segregierende deutsche sonderpädagogische Fördersystem den Glauben an deren Angemessenheit wider (vgl. Rowan 1982: 260). Bestimmte kulturgebundene Ideen über die relevanten Orte der Förderung haben damit Priorität vor spezifischen Interessen bestimmter Gruppen – darauf zielt die ›kognitive Wende‹ der neo-institutionalistischen Perspektive. Dem jeweiligen Glauben an den Sinn und die prophezeite – weniger die empirisch nachweisbare – Wirkung dieser sehr unterschiedlichen Schulformen ermöglichte erst deren erfolgreiche Aufnahme in die staatlichen Regelwerke, was jedoch nicht ohne starke Auseinandersetzungen geschieht.
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336 | Justin J.W. Powell In den USA wird nicht nur an dem Recht auf Bildung, sondern auch an dem Recht auf schulische Integration (als Bestandteil von Chancengleichheit) festgehalten; in der Folge kommt es zu ständigen Konflikten zwischen Eltern und Schulverwaltungen sowie zu einer starken Verrechtlichung von Schulsystemen (Powell 2004). Dagegen wird in Deutschland eine ›angemessene Förderung‹ in Schularten gewährleistet, die für bestimmte Schülergruppen vorgesehen sind. Sowohl die Etablierung von Gesamtschulen wie auch Versuche, die schulische Integration behinderter Kinder organisatorisch zu verbreitern, hatten in Deutschland gesellschaftliche Kämpfe zur Folge, die wegen der Kulturhoheit der Länder nicht auf Bundesebene gelöst werden konnten. Und diese Trägheit besteht trotz der Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe in beiden Ländern, die schulische Inklusion zu priorisieren (vgl. Powell 2004). Der Bildungsföderalismus hat regionale Disparitäten gefördert, wobei Bildungspolitik auf allen politischen Ebenen mitbestimmt wird. Die Sonderpädagogik hat einen mehr oder weniger verbindlichen Rahmen zum Verständnis von schulischer Behinderung geschaffen. Als Institution wurde schulische Behinderung definiert und rationalisiert durch die sonderpädagogische Profession, die Interessengruppen, Politiker und Bildungsagenturen beeinflusst hat. In der Konsequenz gelang die Diffusion sonderpädagogischen Wissens, gefolgt von Stabilität durch Legitimität und Verankerung der sonderpädagogischen Fördersysteme in den Schulen (vgl. Rowan 1982: 259). Meyer (1977) unterstreicht, dass die Gewährleistung von Persistenz einer Institution nicht notwendigerweise aktives Handeln erfordert, vor allem dann nicht, wenn ihre Strukturen und Praktiken so tief in Prozessen verankert sind, dass eine Veränderung Anpassungen in vielen anderen Bereichen erzwingen würde. »It is the combination of the constitutional rules with the associated moral and ethical codes of behavior that underlies the stability of institutions and makes them slow to change« (North 1981: 205). Demnach sind es nicht nur die Paradigmen, sondern auch die Professionen und die Politik, die institutionelle Entwicklungen unterstützen und diese während ihrer Genese verteidigen. Das zentrale theoretische Verständnis institutioneller Analysen, ob sie persistente Unterschiede oder das Fehlen von Disparitäten im Längsschnitt oder Querschnitt zu erklären versuchen, ist gleich: »[T]he patterning of social life is not produced solely by the aggregation of individual and organizational behavior but also by institutions that structure action« (Clemens/Cook 1999: 442). Deshalb spiegeln die Strukturen der sonderpädagogischen Fördersysteme nicht nur die institutionalisierten Klassifikationen der schulischen Behinderung wider; vielmehr stabilisieren sie die Grenzen auf individueller, organisatorischer und institutioneller Ebene.
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4. Ausblick Im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderte sich in den Bildungssystemen Deutschlands und der USA die Praxis schulischer Exklusion von behinderten Kindern und Jugendlichen: Schulkinder mit dem Etikett ›schulische Behinderung‹ wurde die Teilnahme an den Schulsystemen ermöglicht, allerdings nur in Organisationsformen mit niedrigstem Status. Wenn überhaupt, wurden schulische Integration oder gar Inklusion regional auf sehr unterschiedlichem Niveau erreicht. Hindernisse für die flächendeckende Implementierung eines durchgängigen gemeinsamen Unterrichts, dem sich die untersuchten Bildungssysteme mittlerweile rhetorisch wie auch zunehmend rechtlich verpflichtet haben, wurden in konkurrierenden gesellschaftlichen Bildungs- und Behinderungsparadigmen gesucht, in bildungspolitischen Entscheidungsstrukturen, in der selbstverstärkenden Entwicklung und Persistenz der ausdifferenzierten Schulstrukturen sowie in den Interessen und Praxen von Professionen, Bürgerbewegungen und Elterngruppen. Die Forderung nach einer inklusiven Bildungspolitik besteht nach wie vor; das Ziel, die bestehende Segregation und Stigmatisierung durch die Deinstitutionalisierung der schulischen Behinderung und eine inklusive Pädagogik zu ersetzen, ist noch nicht realisiert, auch wenn regionale Unterschiede darauf hindeuten, dass es in beiden Ländern durchaus möglich ist, die Bedingungen für gemeinsamen Unterricht zu schaffen. Hierzu sind Schulen erforderlich, in denen alle Kinder gemeinsam, möglichst in gleichen Klassen zusammenkommen und miteinander lernen. Dass solche Modelle erfolgreich sein können, ist in den letzten Jahrzehnten in Praxis und Wissenschaft auch in Deutschland und den USA bestätigt worden (vgl. z.B. Eberwein/Knauer 2002; Preuss-Lausitz 2001; Ware 2004). Jedoch sind – in beiden Ländern – viele dieser Schulversuche weder weitergeführt noch in anderen Schulen fortgesetzt worden. Sie scheinen Opfer mangelnder föderalistischer Koordination zu sein, wobei insbesondere in Deutschland im Zuge der jüngsten Föderalismusreform die Zukunft vieler Bildungsinnovationen gefährdet scheint (vgl. Solga/Powell 2006). Dabei böte sich gerade in föderalen Bildungssystemen die Chance, unterschiedliche Inklusionsmodelle unter verschiedenen politisch-ökonomischen und sozial-räumlichen Gegebenheiten zu prüfen. Eine an Inklusion ausgerichtete nationale Bildungspolitik könnte die gewonnenen Erfahrungen berücksichtigen und dazu beitragen, die Reformen allgemein umzusetzen. Dies scheint insbesondere angesichts der Tatsache geboten, dass durch schulische Behinderung hohe gesellschaftliche Folgekosten entstehen, etwa wenn schulischer Misserfolg, Demotivation und fehlendes Selbstvertrauen im späteren Lebensverlauf durch kostspielige arbeitsmarkt- bzw. sozialpolitische Maßnahmen kompensiert werden sollen (vgl. Pfahl 2006). Welches sind nun die wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen
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338 | Justin J.W. Powell Schlussfolgerungen, die aus dieser Untersuchung schulischer Behinderung zu ziehen sind? Zum einen kann bestätigt werden, dass es einer Soziologie der Behinderung bedarf, die die historischen, kulturellen und räumlichen Kontexte, in denen benachteiligte Kinder und Jugendliche schulisch behindert werden, tiefer greifend analysiert und Strategien entwickelt, die Partizipationsmöglichkeiten und Bildungschancen benachteiligter Kinder besser zu fördern. Ohne ein Verständnis für die historischen Ursprünge und komplexen Kräfteverhältnisse in den sonderpädagogischen Fördersystemen werden die auf Inklusion ausgerichteten Versuche grundlegender Bildungsreformen weiter zum Scheitern verurteilt bleiben. Die hier präsentierte institutionalistische Analyse unterstreicht die Wirkmächtigkeit historisch überlieferter Ideen (wie klinische Modelle von Behinderung) und die Persistenz der auf deren Basis implementierten schulischen Organisationen. Zum anderen kann in Bezug auf die gesellschaftspolitische Ebene festgehalten werden, dass wesentliche Barrieren für die heutige schulische Integration und Inklusion gerade in der langfristigen Institutionalisierung der schulischen Behinderung liegen. Der Paradigmenwandel hin zu einem Verständnis von Behinderung in Schule und Gesellschaft, das die Konsequenzen der schulischen Behinderung für den individuellen Lebensverlauf und die soziale Teilhabe berücksichtigt, ist noch nicht vollzogen. Trotz tief greifender gesellschaftlicher Zäsuren (wie dem Zweiten Weltkrieg) sowie vielfältiger Reformversuche in den letzten Jahrzehnten wurden sonderpädagogische Organisationen und die pädagogische Profession noch nicht grundlegend umgewandelt: Die Sonderschulen Deutschlands und die Sonderklassen der amerikanischen Schulen sind auch heute die Hauptorganisationsformen sonderpädagogischer Förderung (Powell 2007). Die Trägheit der Institution schulische Behinderung erfordert in beiden Ländern weitere Anstrengungen seitens der Behindertenbewegung und der Verfechter schulischer Inklusion, um die weitere Deinstitutionalisierung schulischer Behinderung voranzutreiben. Auch die Erfolge der letzten Jahrzehnte sind auf solche Aktivitäten zurückzuführen. Ohne sie würde es heute noch viel weniger schulische Inklusion geben. Die empirischen Befunde zeigen durchaus, dass einige Bundesländer/›states‹ bereits weiter auf diesem Weg vorangeschritten sind und Modelle entwickelt haben, denen andere Bundesländer/›states‹ folgen könnten. Diese regional unterschiedlichen Bildungssysteme wurden durch sich verändernde Behinderungsparadigmen, durch kulturelle Leitideen, insbesondere in Bezug auf Bildung, und Gleichheitsprinzipien sowie politische und gesellschaftliche Bewegungen geprägt. Die Förderbedürfnisse der Gruppe behinderter Kinder lassen sich nicht allein durch ihre Heterogenität, ihre Bildungswege und Lern(miss-)erfolge erklären. Vielmehr ist die schulische Behinderung von historisch gewachsenen Schulsystemen abhängig. Die Institution schulische Behinderung, wie wir sie heute erleben,
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wurde im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte etabliert. Insbesondere in den letzten fünfzig Jahren wurden die sonderpädagogischen Fördersysteme ausdifferenziert und ausgebaut. Wie lange die schulische Inklusion braucht, um die schulische Behinderung als Institution zu ersetzen, hängt von uns allen ab.
Anmerkungen 1
Für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Version dieses Beitrags bedanke ich mich bei Michael Maschke und bei den Herausgebern. 2 Wie Stichweh (2002) referiert, ist der Exklusionsbegriff schnell in öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Diskursen etabliert worden. Dies ist jedoch weniger den Soziologen Luhmann, Foucault, Collins oder Sarfatti Larson zu verdanken, die zwar in ihren Werken Exklusionsphänomene beleuchtet haben, diesen Begriff aber eher informell oder implizit benutzt haben. Vielmehr war es der französische Staatssekretär René Lenoir, der Exklusion als Ausschluss aus mehreren gesellschaftlichen Bereichen definierte und in der französisch sprechenden Welt enorm populär machte. In empirischen Analysen müssen die Begriffe Exklusion und Inklusion spezifischer operationalisiert werden, um die vielfältigen, sich weiterentwickelnden Organisationsformen der sonderpädagogischen Förderung akkurat darstellen zu können. Der Übergang von der Exklusion zur vollständigen Inklusion vollzieht sich in Hinblick auf die Förderorte entlang eines Kontinuums von Segregation (Trennung zwischen Gebäuden), über Separation (Trennung innerhalb eines Gebäudes) und Integration (teilweise gemeinsamer Unterricht) hin zu vollständiger Inklusion (gemeinsamer Unterricht) (vgl. Powell 2007). Die prinzipielle Exklusion zu überwinden ist demnach nur der erste Schritt hin zur größtmöglichen Teilhabe an organisierten Lernmöglichkeiten. 3 Zudem gelten viele Jugendliche, die in Schulen als ›lernbehindert‹ klassifiziert werden, nach Verlassen der Schule nicht mehr als ›behindert‹, obwohl sie oft im weiteren Lebenslauf als niedrig qualifiziert eingestuft und weiter benachteiligt werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass nicht alle behinderten Kinder im Schulsystem als ›sonderpädagogisch förderbedürftig‹ klassifiziert sind – somit erhalten sie keine besondere Förderung und gehören auch nicht offiziell zu der Gruppe, die ›schulisch behindert‹ wird. Außerdem kommt gemeinsamer Unterricht wegen der damit verbundenen Erfahrungen mit menschlicher Vielfalt und dem positiven Umgang mit individuellen Stärken und Schwächen allen Schülern und Schülerinnen zugute, denn die meisten von uns werden im Verlauf unseres Lebens behindert (vgl. Zola 1989). 4 Es gibt eine Reihe von Periodisierungen der Geschichte von Behinde-
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340 | Justin J.W. Powell rung in Bezug auf spezifische Aspekte, die an dieser Stelle nicht ausgeführt werden können. Z.B. untersuchen Barnartt/Scotch (2001) soziale Bewegungen und Protestaktivitäten; Braddock/Parish (2001) geben einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung von Anstalten; Cameron/Valentine (2001) erläutern die Relevanz von Föderalismus für Behindertenpolitik; Quinn/Degener (2002) systematisieren Menschenrechtsentwicklungen weltweit. Weitere Differenzierungen finden sich z.B. bei Carlson (2005) zur Kategorie ›geistiger Behinderung‹ oder bei Kirchner (2005) zu soziologischen Theorien der Behinderung.
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Behinderung in der Schule, behindert durch Schule? | 343
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Autorinnen und Autoren | 345
Autorinnen und Autoren
Karsten Altenschmidt, M.A., seit 2005 Projektmitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Dortmund und Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen; Studium der Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Anglistik an der Universität Essen und der University of Wales, Bangor. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Behinderung, Kommunikationssoziologie, Interaktionstheorie. Thomas Becker, PD Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin; Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Tübingen und Berlin; Promotion an der FU Berlin; mehrere Stipendien und Teilnahme an Forschungsseminaren Bourdieus an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris; 2003 Habilitation am kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Clemens Dannenbeck, Dipl.-Soz., Dr. phil., seit 2002 Professor für Soziologie und Sozialwissenschaftliche Methoden und Arbeitsweisen in der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Landshut, University for Applied Sciences; 1988-2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut in München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies, Disability Studies, Biographieforschung, Jugendforschung, kulturelle Differenzen. Walburga Freitag, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im HochschulInformations-System (HIS), BMBF-Initiative »Anrechnung beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge«; Studium der Erziehungswissenschaften und Soziologie; 1995/1996 DAAD-Stipendiatin und Visiting Fellow am Centre for the Body & Society, Deakin University, Geelong, Australien; 1996-2001 Forschung und Lehre an der Universität Bielefeld, anschließend Projektarbeit zu Macht- und Geschlechterverhältnissen in der
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346 | Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung gesundheitlichen Versorgung; 2003 Promotion an der Universität Bielefeld. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Michel Foucault, Körper, kritische Diskursanalyse. Robert Gugutzer, Dipl.-Soz., Dr. phil., seit 2002 wissenschaftlicher Angestellter an der Fakultät für Sportwissenschaft der TU München; Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft an der Universität Tübingen und der Ludwig-Maximilians-Universität München; Promotion im Graduiertenkolleg »Identitätsforschung« an der Universität Halle-Wittenberg, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB »Reflexive Modernisierung« an der Universität Augsburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Körper- und Sportsoziologie, Kultur- und Modernisierungssoziologie, soziologische Theorie (v.a. Mikrosoziologie), sozialwissenschaftliche Identitätsforschung, Leibphänomenologie, qualitative Sozialforschung. Lakshmi Kotsch, Dipl.-Soz., seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Dortmund; Studium der Soziologie, Rechtswissenschaften und Psychologie an der FU Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Behinderung, Soziologie der Pflege, Rechtssoziologie, Soziologie des Alters, Lebenslaufsoziologie, sozialwissenschaftliche Hermeneutik und Ethnographie, Handlungstheorie. Michael Maschke, Dr. phil., seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin; 1996 Diplom in Erziehungswissenschaft; 1997 Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Sonderschulen an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M.; 1997-1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Frankfurt; 1999-2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hans-Böckler-Stiftung; 2000 Diplom in Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt; 2007 Promotion an der Humboldt-Universität. Maren Möhring, Dr. phil., seit 2002 wissenschaftliche Assistentin am Historischen Seminar der Universität zu Köln; Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Hamburg und am Trinity College, Dublin; 2002 Promotion im Rahmen des Graduiertenkollegs »Geschlechterdifferenz & Literatur« an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mitherausgeberin der Reihe »Geschlecht – Kultur – Gesellschaft« (LIT-Verlag, Münster). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Geschlechter- und Körpergeschichte, Postcolonial Studies, Migrationsforschung, Geschichtstheorie.
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Autorinnen und Autoren | 347
Justin J.W. Powell, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen; Studium der Soziologie am Swarthmore College (B.A. 1992), an der Universität Heidelberg, der University of North Carolina at Chapel Hill und der Humboldt-Universität zu Berlin (M.A. 1999); 1993-1998 Koordinator für deutsch-amerikanische Austauschprogramme am Social Science Research Council, New York; 2004 Promotion an der Freien Universität Berlin; 2000-2005 Research Fellow am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung; 2006 Irving K. Zola Award for Emerging Scholars der Society for Disability Studies. Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Bildungssoziologie, Disability Studies. Heike Raab, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck; Verwaltungsausbildung, Studium der politischen Wissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M.; z.Zt. Promotion am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien; engagiert in queer-feministischen und globalisierungskritischen Bewegungen sowie der behinderten Frauen-/Lesbenbewegung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Feministische Theoriebildung, Staatstheorie, Queer Studies, Disability Studies. Siegfried Saerberg, Dr. phil., Dozent an der Universität Dortmund, Autor, Ausstellungsgestalter und Komponist; Studium der Soziologie und Philosophie an den Universitäten Köln und Konstanz; 1990-1992 wiss. Mitarbeit an der Universität Konstanz; 1990-1993 Mitarbeit im Projekt »Dialog im Dunkeln«; Mitbegründer des Vereins Blinde und Kunst und 19931999 künstlerische Direktion, Konzeptentwicklung und Projektleitung; 1999-2000 Erarbeitung einer akustischen Ausstellung zur NaturKultur des Ruhrgebiets für das Ruhrmuseum Essen; 2005 Promotion an der Universität Dortmund. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Disability Studies, Soziologie der Behinderung Michael Schillmeier, Ph.D., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaften an den Universitäten Regensburg und München; 2005 Promotion an der Lancaster University (England). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Science, Technology and Society (STS), Disability Studies, Soziologie der Körper und Sinne, Akteur-Netzwerk-Theorie, Kultur/Natur, empirische Philosophie. Werner Schneider, Dipl.-Soz., Dr. phil., Univ.-Prof. für Soziologie an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg; 1988-2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für
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348 | Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Wissenssoziologie, Medizin-/Gesundheitssoziologie, Thanatosoziologie, Körpersoziologie, soziologische Theorie (v.a. Diskurstheorie und -analyse), qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Anne Waldschmidt, Dr. rer. pol., Univ.-Prof. für Soziologie in der Heilpädagogik, Sozialpolitik und Sozialmanagement an der Universität zu Köln, Leitung der Internationalen Forschungsstelle Disability Studies (iDiS); 1978-1984 Studium der Sozialwissenschaften an der Universität Bremen und der University of Edinburgh (Schottland); 1995 Promotion an der Universität Bremen, 1992-1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Vertretungsprofessorin an der Universität Siegen, 1997-2000 wiss. Mitarbeit in der DFG-Forschergruppe »Flexibler Normalismus« an der Universität Dortmund; 2000-2002 Professorin an der Evang. Fachhochschule Nürnberg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Behinderung und Rehabilitation, Bioethik/Biopolitik, Normalität und Abweichung, Wissenssoziologie, Körpersoziologie, europäische Behindertenpolitik, Disability Studies, Diskurstheorie und -analyse. Gudrun Wansing, Dr. phil., seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Rehabilitationssoziologie der Universität Dortmund; Studium der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Universität zu Köln, 1997 Dipl.-Heilpädagogin; 1997-1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Köln; 2004 Promotion an der Universität Dortmund. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Teilhabe an der Gesellschaft (Inklusion/Exklusion), Lebensqualität von Menschen mit Behinderung, Behinderung im Wohlfahrtsstaat, Rehabilitationspolitik, Neue Steuerung in der Rehabilitation/Persönliches Budget, Qualitätsmanagement in Einrichtungen der Behindertenhilfe, Frühförderung.
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»Körper« bei transcript Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung Juni 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-227-6
Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.) Das barrierefreie Museum Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch
Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.) Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld Mai 2007, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-486-7
Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte
Juni 2007, ca. 450 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-576-5
Februar 2007, 374 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-579-6
Felicitas Lowinski Bewegung im Dazwischen Ein körperorientierter Ansatz für kulturpädagogische Projekte mit benachteiligten Jugendlichen
Robert Gugutzer (Hg.) body turn Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports
Juni 2007, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-726-4
Markus Dederich Körper, Kultur und Behinderung Eine Einführung in die Disability Studies
2006, 370 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-470-6
Stiftung Niedersachsen (Hg.) »älter – bunter – weniger« Die demografische Herausforderung an die Kultur 2006, 232 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-505-5
Mai 2007, 208 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-641-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
»Körper« bei transcript Antje Stache (Hg.) Das Harte und das Weiche Körper – Erfahrung – Konstruktion
Heike Hartung (Hg.) Alter und Geschlecht Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s
2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-428-7
2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-349-5
Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse
Claudia Franziska Bruner KörperSpuren Zur Dekonstruktion von Körper und Behinderung in biografischen Erzählungen von Frauen
2006, 358 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-427-0
2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-298-6
Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen 2006, 496 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-464-5
Gabriele Alex, Sabine Klocke-Daffa (Hg.) Sex and the Body Ethnologische Perspektiven zu Sexualität, Körper und Geschlecht 2005, 156 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-282-5
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