Gendering Disability: Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht [1. Aufl.] 9783839413975

Sowohl Geschlecht als auch Behinderung sind gesellschaftliche Konstrukte. Beide werden im Alltag, im Austausch mit ander

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German Pages 240 Year 2014

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Inhalt
Einleitung
I. Grundlegende Aspekte
Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht und Körper
Das Mädchen Ashley oder: Intersektionen von Behinderung, Normalität und Geschlecht
mehrdimensional verletzbar. Eine Schwarze Perspektive auf Verwobenheiten zwischen Ableism und Sexismus
Shifting the Paradigm: »Behinderung, Heteronormativität und Queerness«
Kategorien, die fi esen Biester. Identitäten, Bedeutungsproduktionen und politische Praxis
Diskriminierung ist (fast) immer mehrdimensional: »Rasse«, Geschlecht und Behinderung aus rechtlicher Sicht
II. Anwendungsbezüge
Migrationshintergrund und Beeinträchtigung. Vielschichtige Herausforderungen an einer diskriminierungsrelevanten Schnittstelle
Eine Ohnmacht – Geschlecht und »geistige Behinderung«
Behinderung und Geschlechtergerechtigkeit in der pädagogischen Praxis
Bo(d)yzone – Jungen mit Behinderungserfahrung. Konstruktionen von Geschlecht und Behinderung im Jungenalltag
Körperbilder von Mädchen, Behinderung und Geschlecht
»Wir waren viele und wir waren überall«. Ein persönlicher Rückblick zur Einbeziehung von Frauen in die Behindertenrechtskonvention
Input der Tagungsbeobachterin
Angaben zu den AutorInnen und Herausgeberinnen
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Gendering Disability: Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht [1. Aufl.]
 9783839413975

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Jutta Jacob, Swantje Köbsell, Eske Wollrad (Hg.) Gendering Disability

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2010-04-15 11-56-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e8239113934634|(S.

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Editorial Die weltweiten Transformationen der Geschlechterverhältnisse und Bedeutungszuschreibungen an »Geschlecht« zeigen widersprüchliche Entwicklungen, Kontinuitäten und Wandlungen. Die Veränderung alter und die Konturierung neuer Segmentationslinien stehen in einem komplexen Spannungsverhältnis zueinander. Die Reihe Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung stellt regelmäßig neuere Untersuchungen in diesem Themenbereich vor. Dabei wird der Breite möglicher Zugangsweisen Rechnung getragen: Natur-, technik-, sozial- und kulturwissenschaftliche Sichtweisen werden miteinander verknüpft und die Ansätze verbinden die strukturierende Bedeutung der Kategorie »Geschlecht« systematisch mit der Wirkung anderer sozialer Differenzlinien wie »Klasse«, »Ethnizität«, »Rasse« und »Generation«. Die Schriftenreihe gibt Perspektiven Raum, in denen die radikale Infragestellung der heterosexuellen und auf Zweigeschlechtlichkeit basierenden gesellschaftlichen Ordnung im Zentrum steht und zugrunde liegende Machtverhältnisse reflektiert werden. Ziel der Reihe ist es, wissenschaftliche Beiträge zu publizieren, die Fragen nach Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnissen in Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft aufgreifen und Impulse für weitere Auseinandersetzungen geben. Angesprochen werden sollen alle an Themen der Frauen- und Geschlechterforschung Interessierten aus dem universitären und weiteren wissenschaftlichen Umfeld – Studierende, Lehrende und Forschende. Zugleich sind die Publikationen auch für jene Praxiskontexte interessant, die sich kritisch mit der geschlechterbezogenen Verfasstheit von Kultur, Technik, Wissenschaft und Gesellschaft auseinandersetzen. Die Reihe wird herausgegeben von den Forschungseinrichtungen »Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung« der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg (ZFG) und »Zentrum Gender Studies« der Universität Bremen (ZGS).

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Jutta Jacob, Swantje Köbsell, Eske Wollrad (Hg.)

Gendering Disability Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Swantje Köbsell Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1397-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Eske Wollrad/Jutta Jacob/Swantje Köbsell Einleitung .....................................................................................................

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I. Grundlegende Aspekte Swantje Köbsell Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht und Körper .................

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Anne Waldschmidt Das Mädchen Ashley oder: Intersektionen von Behinderung, Normalität und Geschlecht ...............

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Christiane Hutson mehrdimensional verletzbar. Eine Schwarze Perspektive auf Verwobenheiten zwischen Ableism und Sexismus ...............................................................

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Heike Raab Shifting the Paradigm: »Behinderung, Heteronormativität und Queerness« ............................... 73 Carola Pohlen Kategorien, die fiesen Biester. Identitäten, Bedeutungsproduktionen und politische Praxis .................. 95 Julia Zinsmeister Diskriminierung ist (fast) immer mehrdimensional: »Rasse«, Geschlecht und Behinderung aus rechtlicher Sicht ................. 113

II. Anwendungsbezüge Judy Gummich Migrationshintergrund und Beeinträchtigung. Vielschichtige Herausforderungen an einer diskriminierungsrelevanten Schnittstelle ................................................. 131 Anke Langner Eine Ohnmacht – Geschlecht und »geistige Behinderung« .................... 153 Bettina Bretländer Behinderung und Geschlechtergerechtigkeit in der pädagogischen Praxis ........................................................................ 169 Jo Jerg Bo(d)yzone – Jungen mit Behinderungserfahrung. Konstruktionen von Geschlecht und Behinderung im Jungenalltag ..... 185 Lena Middendorf Körperbilder von Mädchen, Behinderung und Geschlecht ..................... 207 Sigrid Arnade »Wir waren viele und wir waren überall«. Ein persönlicher Rückblick zur Einbeziehung von Frauen in die Behindertenrechtskonvention .......................................................... 223 Sigrid Arnade Input der Tagungsbeobachterin .................................................................. 231

Angaben zu den AutorInnen und Herausgeberinnen .............................. 235

Einleitung Eske Wollrad/Jutta Jacob/Swantje Köbsell

Seit März 2009 ist die Konvention der Vereinigten Nationen (UN) über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch für Deutschland verbindlich. Diese Konvention stellt einen Meilenstein in der Behindertenpolitik dar, da sie das Selbstbestimmungsrecht und umfassenden Diskriminierungsschutz festlegt sowie eine inklusive Gesellschaft fordert. Unter anderem geht sie explizit auf Behinderung und Geschlecht ein, indem sie anerkennt, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind. Doch was bedeutet »mehrfache Diskriminierung« konkret? In welchem Verhältnis stehen Behinderung und Geschlecht zueinander? Welche weiteren Kategorien müssen in der Analyse hinzukommen, um vielfältige Diskriminierungen adäquat erfassen und Maßnahmen ergreifen zu können? Um diese Fragen zu beantworten, ist ein intersektionaler Zugang notwendig, d.h. Differenzkategorien wie Geschlecht, Behinderung, Sexualität, »Rasse«, Ethnizität und Klasse werden als interdependente in den Blick genommen, wobei die Bedeutsamkeit einer jeden Kategorie in einer bestimmten Situation unterschiedlich ausfallen kann. Hinsichtlich der UN-Konvention bedeutet dies, dass mit mehrfacher Diskriminierung nicht eine schlichte Addition von Differenzkategorien (jemand wird beispielsweise als Frau und als Behinderte und als Erwerbslose diskriminiert) gemeint ist, sondern deren Interdependenzen spezifische Formen der Diskriminierung hervorbringen, die an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Situationen eine je eigene Gestalt annehmen (können). Intersektionalität als Analyseansatz eröff net die Möglichkeit, sich der Komplexität interdependenter Gewaltachsen zu nähern, allerdings ohne den Anspruch zu erheben, diese vollständig erfassen zu können. Intersektional arbeitende Ansätze existieren in den deutschsprachigen »Disability Studies« kaum, während in den Gender Studies Intersektionalität zunehmend Beachtung geschenkt wird. Grundlage dieses Bandes ist die Zusammenführung von Erkenntnissen aus den Feldern der Disability Studies und der Gender Studies. Gemeinsam ist beiden Forschungsgebieten der Fokus auf den Körper. Beide setzen sich kritisch mit Körpern als visueller Evidenz verschiedener Machtachsen aus-

8 | Eske Wollrad/Jutta Jacob/Swantje Köbsell einander, indem Körper vermeintlich Ein-Deutiges zu sehen geben – man kann »sehen«, wer Mann ist oder Frau, wer behindert ist und wer gesund. Hegemoniale Körper politiken erklären Körper zu Landkarten, deren Farben und Wölbungen alles über den Wert oder Unwert eines Menschen zu erzählen vermögen und die stets neu beschriftet werden können. Folglich sind Kategorien wie »Geschlecht« und »Dis/Ability« Effekte solcher Körperpolitiken und werden in Prozessen des gendering und der Ver/Behinderung beständig re/produziert. Dabei verlaufen diese Prozesse weder unabhängig voneinander, noch sind sie die einzig maßgeblichen. Körper als Fundamente sozialen Wissens geben ebenso verschiedene »Rassen« zu sehen wie Stufen des Alter(n)s, sind also mehrdimensional »lesbar«. Der vorliegende Band stellt Annäherungen an diese Mehrdimensionalität und somit an die Frage dar, wie Behinderung und Geschlecht mit den Kategorien »Rasse«, Ethnizität, Sexualität und Lebensformen verknüpft sind. Dabei geht es sowohl um die Dekonstruktion von binären Zuschreibungen als auch um die Problematisierung ihrer realen Effekte. Auf diese Weise werden Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik zusammengehalten. Die dekonstruktivistische Dimension fragt nach der Herstellung von visuellen Evidenzen und damit nach den Zurichtungsprozessen, die darauf zielen, mit einem Blick Körper als »normale« oder »abweichende« zu kategorisieren und zu bewerten. Die gesellschaftskritische Dimension fragt nach den Folgen dieser Konstruktionen und damit nach konkreten Diskriminierungen, die in gesellschaftliche Strukturen, in Gesetze, Bestimmungen, in Sprache, Anschauungen und Verhaltensweisen eingelassen sind. Sie problematisiert sowohl gesellschaftliche Privilegien als auch Verteilungsmechanismen materieller und immaterieller Ressourcen. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind notwenig interdisziplinär angelegt und entstammen den Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften, der Rehabilitationspädagogik, Geschlechterforschung, den Rechts- und Politikwissenschaften. Zudem werden sie durch Erkenntnisse unter anderem der Rassismusforschung, der Migrationsforschung und der Queer Studies bereichert. Bereichernd ist diese Multiperspektivität auch im Hinblick auf die Theorie-PraxisVerortung: Der erste Teil des Bandes präsentiert Beiträge, die theoretische Grundlagen formulieren, der zweite Teil umfasst wissenschaftsgestützte Ansätze, die einen Praxisbezug herstellen. Der erste Beitrag von Swantje Köbsell stellt eine Grundlegung zur Verknüpfung von Behinderung, Geschlecht und Körper dar. Köbsell skizziert die Entwicklung der Behindertenbewegung und die Entstehung des sozialen Modells von Behinderung, welches Prozesse des Behindertwerdens kritisch in den Blick nimmt und zwischen »Behinderung« (disability) und »Beeinträchtigung« (impairment) unterscheidet. In einem weiteren Schritt greift Köbsell Entwicklungen aus dem Bereich der Geschlechterforschung auf und beschreibt die Unterscheidung zwischen »sex« und »gender«. Dabei wird deutlich, dass hegemoniale Konstruktionen des »Weiblichen« auf vielfältige

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Weise mit denen von »Behinderung« korrelieren, d.h. behinderte Mädchen bzw. Frauen und Jungen bzw. Männer in ganz anderer Weise der heteronormativen Ordnung unterworfen sind. Ferner erläutert Köbsell parallele Körperkonstruktionen in Prozessen des gendering und des disablements. Hier treten die Mängel des sozialen Modells deutlich zutage, da es den Körper als beeinträchtigten und Erfahrungen von Schmerz und Leiden ignoriert. Köbsell fordert die Anerkenntnis dieser Erfahrungsdimensionen und somit der Bedeutung von impairment innerhalb der Disability Studies. Darüber hinaus muss sich die Forschung für breite intersektionale Zugänge öffnen, welchen Köbsell zufolge auch problematische Aspekte inhärent sind, die es zu diskutieren gilt. Am Beispiel des Mädchens Ashley verdeutlicht Anne Waldschmidt Intersektionen von Behinderung, Normalität und Geschlecht. Bei dem in den USA lebenden Mädchen mit schwerer Beeinträchtigung waren auf Wunsch der Eltern mittels Hormontherapie, Gebärmutter- und Brustdrüsenentfernung das Wachstum und die sexuelle Entwicklung aufgehalten worden, um damit sicher zu stellen, dass das Mädchen auch weiterhin in der Familie versorgt werden konnte. Waldschmidt zeigt mit diesem Beispiel, wie mit dem Körper der Kampf um soziale Teilhabe ausgetragen wird, weshalb er als weitere Analysequelle einbezogen wird. Waldschmidt verdeutlicht an diesem Beispiel, dass die Diskurse der Gender und Disability Studies, die Zweiteilung von Geschlecht und Behinderung in die Differenz Natur/ Kultur zu überwinden und die vermeintlich biologische Ebene des sex bzw. impairment in den Diskurs um die gesellschaftliche Herstellung mit einzubeziehen, im alltäglichen Umgang mit behinderten Menschen noch wenig Wirkung zeigen. Vielmehr verdeutlicht die brutale Normalisierung von Ashleys Körper die Persistenz des individuellen Modells von Behinderung. Sie zeigt auch in drastischer Weise, dass Normalisierung und Normierung verkörpert sind, und wie sich Geschlecht, Behinderung und Normalität im Körper überkreuzen. In exemplarischer Weise zeigt Waldschmidt an diesem Beispiel die Matrix auf, die sich aus dem Zusammenspiel von »sex« und »impairment« sowie »gender« und »disability« ergibt und im Ergebnis auch »sex« und »impairment« nicht natürliche sondern gesellschaftlich hergestellte Phänomene sind. Auf der Grundlage postkolonialer Theorieproduktion formuliert Christiane Hutson in ihrem Beitrag eine Schwarze Perspektive auf Verwobenheiten zwischen Ableism und Sexismus. Sie fragt danach, wie Ableism, Sexismus und Rassismus miteinander verzahnt sind, und wie Krankheit und Behinderung rassifiziert und zugleich vergeschlechtlicht werden. Erschwert wird die Beantwortung dieser Fragen durch die Tatsache, dass die Körper, das Wissen und die Erfahrungen behinderter und kranker People of Color unsichtbar gemacht und zum Schweigen gebracht werden, nicht nur in den Weiß dominierten Behindertenbewegungen, sondern auch innerhalb der jeweiligen Communities of Color. Indem sie eigene Verletzungserfahrungen theoretisiert, entwickelt Hutson den Ansatz der mehrdimensionalen Verletzbarkeit, vermittels dessen deutlich wird, dass »für Schwarze Menschen

10 | Eske Wollrad/Jutta Jacob/Swantje Köbsell und People of Color spezifische Konzeptionen von Heilung und damit auch von Krankheit beziehungsweise Behinderung kreiert wurden und immer noch werden, die sich von denen weißer behinderter oder kranker Menschen strukturell unterscheiden.« Mit der Herausarbeitung dieser Differenz und dem Begriff der mehrdimensionalen Verletzbarkeit wendet sich Hutson im Kern den Gewalterfahrungen von People of Color zu und betont, dass die Versorgung dieser vielschichtigen Verletzungen voraussetzt, dass People of Color selbst sie wahr- und ernstnehmen. Auf der Basis eines intersektionalen Verfahrens, welches auf einen multiplen Behinderungsbegriff rekurriert, diskutiert Heike Raab Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht als gegenseitige Hervorbringungs- und Durchdringungsverhältnisse. Dabei versteht sie Behinderung als eine interdependente Analysekategorie und setzt sie in Bezug zu den Erkenntnissen der Queer Theory. Raab setzt sich unter anderem kritisch mit Judith Butlers Konzept der verqueerenden Körperpolitiken auseinander, welches ihres Erachtens kurzschlüssig ist, da die heteronormative Geschlechterordnung nicht nur entlang von Sexualität und Geschlecht funktioniert, sondern ebenso von Behinderung. Eine Dekonstruktion von Geschlecht durch Queerness ist für Menschen mit Behinderungen schwerlich möglich, da sie häufig als sexuelle und geschlechtliche Neutren behandelt werden, ihnen Geschlechtlichkeit somit abgesprochen wird. Des Weiteren problematisiert Raab mediale und öffentliche Sichtbarkeiten von bislang minorisierten Existenzweisen, zu denen auch Behinderte zählen, und stellt zwei Bilder zur Diskussion, anhand derer sie zeigt, wie emanzipativ wirkende Darstellungen traditionelle minorisierende Geschlechtspositionen affi rmieren können oder auch Heteronormativität und Geschlecht produktiv unterlaufen. Carola Pohlen widmet sich in ihrem Beitrag den Kategorien, den »fiesen Biestern«, die Wissen und Bedeutungen generieren und im Hinblick auf die politische Praxis kritisch hinterfragt werden müssen. Pohlen geht es um die Entzifferung der Norm der Nicht*Behinderung und darum, welche Bedeutungen sie (in Relation zu anderen Normativitäten) transportiert. Pohlen verweist zunächst auf die Fluidität des Behinderungsbegriffs (wo verläuft die Grenze z.B. zwischen chronischer Krankheit und Behinderung?) als auch auf die Gewaltförmigkeit von Klassifi kationen. Gleichzeitig sind sie unumgänglich, beispielsweise für medizinische Diagnosen und damit verbundene finanzielle Zuwendungen. Möglichkeiten politischer Interventionen existieren Pohlen zufolge, weil die »Inhalte« von Kategorien (zumindest in gewissem Maße) verschiebbar sind. In Anschluss an Donna Haraways Konzept des »situierten Wissens« plädiert Pohlen für die Anerkennung von vielen verschiedenen lokalen Wissensformen, die – verdichtet und im kommunalen Prozess – Bedeutungen produzieren. Julia Zinsmeisters Beitrag befasst sich aus der Perspektive des Rechts mit der Frage, wie entlang der Achsen der Differenz von Geschlecht, Heteronormativität, Behinderung, Alter, »Rasse« etc. und vor allem an deren Schnittstellen Diskriminierungen entstehen und wie sich diese mehrdimensionalen Diskriminierungen rechtlich erfassen lassen. Es wird aufgezeigt, dass

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sich diese nicht in additiven Benachteiligungen erschöpfen. Vielmehr entstehen an den Schnittstellen verschiedener Kategorien Diskriminierungen von eigenem Charakter. Diese intersektionellen Diskriminierungen werden als ein besonderer Ausdruck von Dominanzkulturen markiert. Hieraus leitet Zinsmeister Grundprämissen für die Analyse von Ungleichheit ab, um abschließend das Verbot der mehrdimensionalen Diskriminierung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive zu beleuchten. Zum Abschluss wird skizziert, welche Instrumente die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorsieht, um mehrdimensionaler Diskriminierung zu begegnen, sei es durch gesetzliche Diskriminierungsverbote, die gezielte Förderung im Bereich von Bildung und Beschäftigung oder durch den Ausbau staatlicher Maßnahmen zum Schutz behinderter Menschen vor Gewalt. Der zweite Teil des Buchs stellt wissenschaftsgestützte Anwendungsbezüge vor. Den Auftakt bildet der Beitrag von Judy Gummich, die aus einer aktivistischen und praxisbezogenen Perspektive kritisch reflektierte Erfahrungen und innovative Denkansätze zu den spezifischen Interdependenzen von »Migrationshintergrund und Beeinträchtigung« präsentiert. Sie analysiert zunächst die Strategien, die eine Auseinandersetzung mit der Komplexität intersektionaler Betrachtung be- oder sogar verhindern, und erläutert dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf Migrationshintergrund und Behinderung. Gummichs intersektionaler Zugang öffnet den Blick auf Widersprüche unter anderem mit der Frage, was es für eine Schwarze Frau mit Rollstuhl bedeutet, mit zwei gegensätzlichen Klischees konfrontiert zu sein, nämlich der Schwarzen Frau als Objekt sexueller Begierden und dem geschlechtslosen Wesen im Rollstuhl. Ferner verdeutlicht Gummich die Vielschichtigkeit kulturell-religiöser Unterschiede, zum Beispiel hinsichtlich des Verständnisses von Behinderung überhaupt, von kollektiven Verantwortlichkeiten und Umgangsformen. Hier verbieten sich einfache Rezepte für die Praxis; vielmehr muss es darum gehen, die Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung mehrperspektivisch und kontextspezifisch zu analysieren. Gummich plädiert für einen Ansatz, der menschenrechtliche Prinzipien mit der Diversity-Perspektive verknüpft und somit eine gute Grundlage für eine ganzheitliche Herangehensweise bietet. Mit einer bislang in der Diskussion um Behinderung und Geschlecht wenig beachteten Personengruppe befasst sich der Beitrag von Anke Langner. Langner beschreibt die oftmals anzutreffende »Ohnmacht« von Behinderungsfachleuten, wenn es um das Zusammenspiel von Geschlecht und geistiger Behinderung geht. Die Kategorie Geschlecht wird hier nach wie vor tabuisiert was unter anderem zu Hilflosigkeit im Umgang mit Sexualität führt. Ein Grund hierfür ist die noch immer dominante medizinische und damit defizitorientierte Definition von geistiger Behinderung; eine Definition, die auch geistige Behinderung (»geistig Behindertwerden«) als gesellschaftliche Konstruktion auffasst, konnte sich bis heute nicht durchsetzen. So konnten sich auch die Mythen über die – je nach Lesart – »triebhafte«

12 | Eske Wollrad/Jutta Jacob/Swantje Köbsell bzw. »kindliche« Sexualität geistig behinderter Menschen halten und entsprechende Auf klärungsbedürfnisse ignoriert werden. In der Folge wird die Geschlechtlichkeit dieser Personengruppe neutralisiert und die Betroffenen werden in der Suche nach ihrer geschlechtlichen und sexuellen Identität behindert, wie Langner in einer von ihr durchgeführten Studie zur Identitätsarbeit von Menschen, die geistig Behindertwerden, gezeigt hat. Mit der Frage, wie Gendergerechtigkeit in der pädagogischen Praxis erreicht werden kann, beschäftigt sich der Beitrag von Bettina Bretländer. Gesamtgesellschaftlich hat sich das Gender Mainstreaming inzwischen als Verfahren zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit etabliert, wobei die Kategorie »Behinderung« hier in der Regel nicht vorkommt. Die Prinzipien des Gender Mainstreaming eignen sich jedoch, wie Bretländer zeigt, zur Herstellung von Gendersensibilität bzw. Gendergerechtigkeit in der pädagogischen Praxis. Ausgewählte Beispiele illustrieren, wie Gendergerechtigkeit in der pädagogischen Arbeit mit behinderten Mädchen und Jungen aussehen bzw. umgesetzt werden kann. Jo Jergs Beitrag legt den Schwerpunkt auf eine männer-/jungenspezifische Perspektive im Diskurs um Behinderung und Geschlecht. Er bietet Einblicke in das dreijährige Praxisforschungsprojekt Bod(y)zone, in dem Jungen mit Behinderungserfahrung geschlechtsbezogene Räume angeboten wurden, um sich mit ihren Träumen, ihrer Lebenssituation und ihren Bewältigungsmustern auseinander zu setzen. Vor dem Hintergrund der Praxisprojekterfahrungen wird der Lebensalltag von Jungen mit Behinderungserfahrung als von Begegnungen geprägt beschrieben, in denen ihre Beeinträchtigungen/Behinderungen und mögliche Kompensationsleistungen im Vordergrund stehen bzw. den Jungen als Relevanzstrukturen widergespiegelt werden. Der Blick auf männliche Geschlechtsidentität und Aspekte männlicher Lebensrealitäten treten dabei in den Hintergrund. Wahrgenommen werden Männlichkeit ebenso wie die soziale Lage und kulturelle Zugehörigkeit eher dann, wenn sie als problematisch angesehen werden. Dies führt dazu, dass Männlichkeiten und Ungleichheiten wie soziale Lage, kulturelle Zugehörigkeit etc. nur begrenzt ins Blickfeld geraten, obwohl sie für die individuellen Lebensperspektiven relevant sind. Jergs Beitrag widmet sich ebenfalls den Fragen: Was erachten Jungen mit Behinderungserfahrung als bedeutsam? Wie kann eine Entgrenzung und somit Zusammenhänge und Bedeutungen von unterschiedlichen Benachteiligungsdimensionen stärker entwickelt werden? Ausgehend von der Frage nach Gleichheit und Differenz von Mädchen mit und ohne Behinderung beginnt Lena Middendorfs Beitrag mit der Antwort von Mädchen mit Behinderung als Expertinnen ihrer Lebenssituation: »Gleich ist, dass alle anders sind.« Grundlage ihres Beitrages ist die Auseinandersetzung mit diesem Expertinnenwissen bezogen auf vielfältige Körperwahrnehmungen. Ist verkörperte Differenz demnach Normalität für Mädchen mit Behinderung? Welche Rolle spielen Diskriminierungserfahrungen und Normalisierungswunsch für Körper- und Selbstbild von Mädchen mit Behinderung? Welche Bedeutung haben verbal und medial

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vermittelte normative Körper-Bilder und (nicht vermittelte) Vor-Bilder für Identitätskonzepte und Selbst-Bilder von Mädchen mit Behinderung? Wie gehen Mädchen mit Normalisierungsdruck, geschlechtsspezifischen Rollenanforderungen und »marked bodies« um? Im Focus sind dabei nicht nur sogenannte Risikofaktoren im Rahmen behindernder Mädchensozialisation sondern auch Ressourcen und Resilienzen für den Umgang mit geschlechtsspezifischen Behinderungen. Vor dem Hintergrund zweier Praxisprojekte mit Mädchen mit Behinderung geht der Beitrag diesen Fragen nach und formuliert Anforderungen an Handlungsfelder sozialer Arbeit mit Mädchen mit Behinderungen. Dass Behinderung auch auf höchster politischer Ebene immer noch als geschlechtsneutraler Zustand gedacht wird, verdeutlicht Sigrid Arnade in ihrem Bericht über den Entstehungsprozess der UN-Behindertenrechtskonvention. Sie beschreibt, dass in den frühen Entwurfsfassungen so gut wie keine Genderreferenzen zu finden waren – obwohl längst anerkannt war, dass Frauen mit Beeinträchtigungen weltweit in besonderem Maße benachteiligt sind. Zusammen mit anderen behinderten Frauen startete Arnade die Kampagne »Behinderte Frauen in der UN-Konvention sichtbar machen!« und war an der Erarbeitung von Empfehlungen zur Umsetzung der Genderreferenzen in der Konvention beteiligt, die als so genannter »twin-trackapproach« (zweigleisiges Vorgehen mit einem eigenen Frauenartikel und Genderreferenzen in weiteren wichtigen Artikeln) dann auch – nach Überwindung vieler Widerstände – in die Konvention Eingang fanden. Der letzte Beitrag des Bandes wurde ebenfalls von Sigrid Arnade verfasst und evaluiert eine Tagung, die unter dem Titel »Gendering disability. Behinderung und Geschlecht in Theorie und Praxis« im Januar 2009 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg stattgefunden hat. Die Beiträge des vorliegenden Buchs gehen zum Teil auf diese Tagung zurück und wurden für die Publikation vertieft und erweitert. Für die Förderung der Tagung und damit auch dieser Publikation bedanken wir uns bei dem Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, der Bertha-Ramsauer-Stiftung, dem Bezirksverband Oldenburg, der Universitäts-Gesellschaft Oldenburg, der Gleichstellungsstelle der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Bremen, der Zentralen Frauenbeauftragten der Universität Bremen, dem Frauenbüro der Stadt Oldenburg und der Gleichstellungsstelle des Landkreises Ammerland.

I. Grundlegende Aspekte

Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht und Körper Swantje Köbsell

Einleitung In den westlichen Gesellschaften werden alle Kinder in ein System der verpflichtenden Zweigeschlechtlichkeit hineingeboren. Im Augenblick ihrer Geburt – und zunehmend auch schon vorher – erfolgt unausweichlich die Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht. 1 Die Problematik dieses binären Systems wird vor allem deutlich, wenn Kinder geboren werden, die kein eindeutiges biologisches Geschlecht aufweisen, dann aber dennoch eines der beiden zugewiesen bekommen, 2 denn Zweigeschlechtlichkeit ist das »grundlegende soziale Klassifi kationssystem in einer Welt binärer geschlechtlicher Codierung«.3 Die Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter hat weit reichende Konsequenzen für das Leben der Kinder, da die Geschlechtszugehörigkeit für ihre Sozialisation und Lebensgestaltungsmöglichkeiten eine große Rolle spielt. Einem gewissen Prozentsatz der Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer wird zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben zusätzlich das Etikett »behindert« angeheftet – ebenfalls mit weit reichenden Konsequenzen, gehören sie damit doch zu einer Minderheit, deren gesellschaftliche Teilhabe noch längst nicht selbstverständlich ist. Sowohl Geschlecht als auch Behinderung sind gesellschaftliche Strukturkategorien, wobei letztere »eine bestimmte Art der Abweichung von der männlichen bzw. weiblichen Normalität« 4 darstellt. 1 | Vgl. Helga Kelle: »Kinder, Körper und Geschlecht«, in: Heinz Hengst/Helga Kelle (Hg.), Kinder – Körper – Identitäten. Theoretische und empirische Annäherungen an kulturelle Praxis und sozialen Wandel, Weinheim 2003, S. 73-94, hier S. 81. 2 | Vgl. Ulla Fröhling: Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabubereich, Berlin 2003. 3 | H. Kelle: »Kinder, Körper und Geschlecht«, S. 82. 4 | Ulrike Schildmann: »Geschlecht«, in: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (Hg.), Behinderung und Anerkennung, Stuttgart 2009, S. 222-226, hier S. 224.

18 | Swantje Köbsell Grundlage beider Kategorien ist der Körper, ohne den es weder Geschlecht noch Behinderung, also weder weibliche/männliche oder beeinträchtigte/nicht beeinträchtigte Körper gäbe. Diesen Kategorien ist gemeinsam, dass sie lange Zeit als naturgegeben und ahistorisch – weil eben naturgegeben – angesehen wurden. Die wissenschaftlichen Diskurse der letzten Jahre, insbesondere der Gender und Disability Studies, haben jedoch verdeutlicht, dass es sich bei Geschlecht und Behinderung um gesellschaftliche Konstruktionen handelt, und auch der Körper wird inzwischen nicht mehr als »reine Natur« angesehen.

Behinderung Behinderung wurde lange als ein medizinisches Problem, als »Defekt« der betroffenen Person gesehen; diese »Defekte« sollten beseitigt oder zumindest möglichst unsichtbar gemacht werden.5 Wenn dies nicht gelang, musste sich der behinderte Mensch mit dem begnügen, was ihm die Gesellschaft als Almosen gewährte; Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen waren nicht vorgesehen. Diese Sicht auf Behinderung bezeichnet man als das medizinische oder individuelle Modell von Behinderung. »Individuell«, weil Behinderung hier als individuelle Tragödie gesehen und erwartet wird, dass sich das betroffene Individuum verändert bzw. an die vorgefundenen Bedingungen anpasst. Die Auswirkungen der Beeinträchtigung wie schlechtere Bildung und Ausbildung, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, reduzierte Mobilität etc. werden lediglich als quasi-natürliche Konsequenzen angesehen. Mit diesem medizinischen Blick auf Behinderung sind Zuschreibungen und Bewertungen verbunden. Behinderung wird gleichgesetzt mit Abnormalität, Unfähigkeit, Abhängigkeit, Unattraktivität und Passivität und wird als negativ bewertet.6 Nichtbehinderung stellt die Gegenseite dar: Sie wird mit Normalität, Fitness, Kompetenz, Aktivität, Attraktivität und Unabhängigkeit gleichgesetzt und als »Wert an sich« positiv bewertet. Das Geschlecht der behinderten Person spielt in dieser Sichtweise überhaupt keine Rolle; die des Körpers ist, als naturgegebenes »Material« Träger der Behinderung zu sein. Eine andere Sichtweise von Behinderung wurde in den 1970er Jahren u.a. von behinderten Menschen selbst entwickelt: das so genannte soziale Modell von Behinderung, das inzwischen weit verbreitet ist. Danach ist Behinderung eine gesellschaftliche Konstruktion; ein Prozess, der Menschen mit bestimmten Merkmalen – Beeinträchtigungen vielfältigster Art – die gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung und den Respekt vorenthält, die 5 | Vgl. Mark Priestley: »Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise«, in: Anne Waldschmidt (Hg.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, Kassel 2003, S. 23-35, hier S. 32. 6 | Vgl. David Johnstone: An Introduction to Disability Studies, London 2001, S. 17.

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Menschen ohne Beeinträchtigung selbstverständlich zustehen. Eine vorliegende Beeinträchtigung bildet so die Voraussetzung für den gesellschaftlichen Prozess des Behindert-Werdens, den man durch Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen rückgängig machen bzw. verhindern könnte. Umgangssprachlich gesagt: Behindert ist man nicht, behindert wird man. Auf dem Hintergrund dieser Sichtweise von Behinderung erscheint es wenig sinnvoll, die inzwischen als politisch korrekt durchgesetzte Begrifflichkeit »Menschen mit Behinderung« zu verwenden, denn Behinderung ist hier – im Gegensatz zur Beeinträchtigung – kein persönliches Attribut7, keine individuelle Eigenschaft, die man »hat«, sondern das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses, der durch die individuellen Eigenschaften allerdings in Gang gesetzt wird. Dabei bildet der (beeinträchtigte) Körper zwar den Ausgangspunkt des Prozesses der Behinderung, 8 determiniert diesen aber nicht: Eine bestimmte Beeinträchtigung muss nicht zwangsläufig in jeder historischen Phase und in jeder Kultur zu einer Behinderung führen. Das soziale Modell, wie es vor allem in Großbritannien entwickelt wurde und dort sowohl in der Behindertenbewegung wie in den Disability Studies angewandt wird, unterscheidet in Beeinträchtigung (Impairment, die funktionale Einschränkung einer Person aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung) und Behinderung (Disability, der Verlust oder die Beschränkung von Möglichkeiten, am Leben in der Gemeinschaft gleichberechtigt teilzunehmen aufgrund räumlicher und sozialer Barrieren). Im Hinblick auf Selbstverständnis und Widerstand behinderter Menschen verursachte das Soziale Modell gewissermaßen einen Quantensprung: Nicht sie waren »falsch« – sondern die Gesellschaft, in der sie lebten! Und wenn Behinderung von Menschen gemacht war, dann war sie auch überwindbar, dann konnte und musste man gegen behindernde Strukturen kämpfen.

Geschlecht Seit den 1970er Jahren unterteilt man in der Geschlechterforschung im englischen Sprachraum und seit den 1990er Jahren auch bei uns Geschlecht in die Komponenten Sex und Gender. Gender bezeichnet das soziale, historisch-kulturell geformte Geschlecht von Menschen, Sex das biologische. Gender, das sich u.a. in Geschlechterrollen niederschlägt, ist gesellschaftlich konstruiert – also von Menschen gemacht – und damit veränderbar. Mit dem Gender/Sex System wurde die »Natürlichkeit« bzw. Naturgegebenheit 7 | Vgl. Sabine Schäper: Ökonomisierung in der Behindertenhilfe. Praktischtheologische Rekonstruktionen und Erkundungen zu den Ambivalenzen eines diakonischen Praxisfeldes, Münster 2006, S. 27. 8 | Vgl. Anne Waldschmidt: Körper – Macht – Differenz: Anschlüsse an Foucault in den Disability Studies, Vortragsmanuskript Hamburg 2006, S. 8, www. zedis.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2007/03/korper_macht_differenz_anne_waldschmidt.pdf vom 02.April 2009.

20 | Swantje Köbsell von unterschiedlichen Geschlechtsrollen in Frage gestellt und Mann und Frau nicht mehr als sich ergänzend angesehen, sondern ein hierarchisches (Macht-)Gefälle zwischen Mann und Frau festgestellt. Die Trennung in »Sex« und »Gender« ermöglichte nicht nur eine methodische, in allen Bereichen der Geschlechterforschung handhabbare Unterscheidung, sie wurde auch als Instrument der politischen Analyse und Aktion eingesetzt, mit der Zielrichtung der strukturellen Änderung der Geschlechterbeziehungen. Inzwischen wird zunehmend diskutiert und hinterfragt, inwieweit auch das biologische Geschlecht historisch und kulturell konstruiert und nicht nur Biologie ist. Die Geschlechterforschung hat unter anderem herausgearbeitet, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im alltäglichen Handeln, dem sogenannten Doing Gender, an dem alle beteiligt sind, ständig hergestellt werden. Die Rollenerwartungen an Männer und Frauen werden dabei nicht nur unterschiedlich bewertet, sondern auch hierarchisch gegliedert. Männer gelten auch heute noch als stark, aktiv, unabhängig und mutig; Frauen dagegen als schwach, passiv, abhängig und hilfsbedürftig, wobei die männlichen Eigenschaften positiv und die weiblichen negativ bewertet werden. Die Geschlechtsidentität, d.h. sich selbst als Mädchen/Frau bzw. Junge/ Mann zu fühlen und zu begreifen, ist ein wichtiger Bestandteil der Identität eines Menschen. Von dem Augenblick an, an dem das Geschlecht von Kindern bekannt ist, ist es entscheidend an ihren Lebensperspektiven beteiligt, denn sie wachsen in durchgängig geschlechtsstrukturierten Erfahrungsfeldern auf.9 Trotz der Diskussionen der letzten Jahre, die in einigen Bereichen Geschlechtsrollenstereotypien (»typisch Junge«/»typisch Mädchen«) zurückgedrängt haben, zeigt sich im alltäglichen Handeln immer noch der Einfluss traditioneller Geschlechtsrollenbilder – von den Handelnden selbst in der Regel unbemerkt. So werden im Sozialisationsprozess weiterhin an Mädchen andere Erwartungen gerichtet und Anforderungen gestellt als an Jungen. Medien gelten inzwischen neben Familie und Schule als wichtige Sozialisationsinstanz, hier zeigt sich der Einfluss traditioneller Geschlechtsrollenbilder in besonderem Maße, vor allem in der Werbung. Doch so wichtig das Geschlecht für die Identität des Menschen ist: Liegt eine Beeinträchtigung vor, wird das Merkmal »behindert« so dominant, dass Geschlecht oftmals kaum oder keine Berücksichtigung findet. Dies zeigen die Berichte von Männern10 und Frauen, die mit einer Beeinträchtigung aufgewachsen sind, aber auch ein Blick in die heil- und behindertenpädagogische Literatur: Die Genderperspektive ist dort bis auf wenige Ausnahmen nicht angekommen. »Geschlecht behindert«, bringt der Titel eines 9 | Vgl. Petra Focks: Starke Mädchen, starke Jungs. Leitfaden für eine geschlechtsbewusste Pädagogik, Freiburg i.Br. 2002, S. 56. 10 | Vgl. z.B. Karsten Exner: »Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung«, in: Birgit Warzecha (Hg.), Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik: Forschung – Praxis – Identität, Hamburg 1997, S. 67-87.

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Buches von behinderten Frauen diesen Sachverhalt nach wie vor treffend auf den Punkt.11 Die oftmals angenommene Geschlechtslosigkeit behinderter Menschen ändert jedoch nichts daran, dass sie Mädchen und Frauen bzw. Jungen und Männer sind und ihre Lebenssituation in vielen Bereichen durch das Geschlecht beeinflusst wird. Dass das Thema Behinderung und Geschlecht überhaupt als solches wahrgenommen wird, ist vor allem ein Verdienst behinderter Frauen, die seit den frühen 1980er Jahren immer wieder darauf aufmerksam gemacht haben, dass sich ihre Lebenssituation in vielen Bereichen erheblich von der behinderter Männer unterscheidet. 12

Geschlecht und Behinderung Sowohl Geschlecht als auch Behinderung sind also gesellschaftliche Konstrukte. Sie enthalten nicht nur jeweils »in sich« eine hierarchische Bewertung (männlich/weiblich – nichtbehindert/behindert), sondern auch untereinander. Beide werden im Alltag, im Austausch mit anderen Menschen und Institutionen ständig hergestellt. Gender und Behinderung haben mit den gleichen Themen zu tun: dem Körper, der Ungleichheit, der Identität und der Sexualität.13 Im Gegensatz zum Geschlecht wird mit »behindert« allerdings keine homogene, klar abgrenzbare Gruppe von Menschen bezeichnet; vielmehr wirken hier gesellschaftliche Definitions- bzw. Ausgrenzungsprozesse, die an beeinträchtigten Körpern festgemacht werden und historischen und kulturellen Bedingungen – und damit auch Veränderungen – unterworfen sind. Was bedeutet dies nun für behinderte Frauen und Männer bzw. Mädchen und Jungen? Behinderte Mädchen lernen früh, dass sie keine »richtigen Frauen« sein werden, dass sie nicht schön und begehrenswert sind und die klassische Frauenrolle als Partnerin und Mutter für sie nicht in Frage kommt. Diese Nichtanerkennung ihrer Weiblichkeit (in Kombination mit der Annahme einer biologischen »Minderwertigkeit«) führt auch dazu, dass es für behinderte Frauen einfacher war und oftmals noch ist, einen Schwangerschaftsabbruch oder eine Sterilisation durchführen zu lassen, als Unterstützung für das Austragen einer Schwangerschaft zu bekommen. Und obwohl sie nicht als Frauen (im Sinne von Sexualpartnerin und potentieller Mutter) wahrgenommen werden, sind behinderte Mädchen und Frauen in weit höherem Maße von sexualisierter Gewalt betroffen als andere Personengruppen. Behinderte Mädchen lernen auch, dass sie mehr Leistung als andere bringen müssen, um so selbständig wie möglich zu sein und zwar sowohl 11 | Carola Ewinkel/Gisela Hermes u.a. (Hg): Geschlecht behindert – besonderes Merkmal Frau, München 1985. 12 | Vgl. ebd. 13 | Vgl. Bonnie G. Smith: »Introduction«, in: Bonnie G. Smith/Beth Hutchinson (Hg.), Gendering Disability, New Brunswick 2004, S. 1-7, hier S. 1.

22 | Swantje Köbsell hinsichtlich der Selbstsorge wie auch hinsichtlich der finanziellen Unabhängigkeit. »Da Du nicht heiraten wirst, musst Du eine ordentliche Ausbildung bekommen« ist eine Aussage, die viele behinderte Mädchen und Frauen zu hören bekommen haben. Dabei wurde immer wieder festgestellt, dass gerade das Rehabilitationssystem, in dem viele behinderte Jugendliche ihre Ausbildungen absolvieren, behinderte Mädchen und Frauen in besonderem Maße benachteiligt, da es an einer männlichen Normalbiographie orientiert ist: »Die ausgehandelten Nachteilsausgleiche für Behinderte waren und sind weitgehend orientiert an den Strukturen männlicher Erwerbsarbeit und Sozialversicherung und vernachlässigen weibliche Problemlagen […].« 14 Im Ergebnis führt diese Situation dazu, dass behinderte Frauen oftmals nicht finanziell unabhängig, sondern vielmehr von Armut bedroht sind. Geschlechterforschung war lange Zeit Frauenforschung, das gilt auch für die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Behinderung und Geschlecht. So hat es inzwischen einige Forschungsvorhaben gegeben, die sich mit der Situation behinderter Frauen befassten. 15 Behinderte Frauen haben in fast allen Bundesländern Netzwerke gegründet, ihr Dachverband Weibernetz vertritt ihre Interessen bundesweit. Dies hat dazu geführt, dass die Datenlage im Hinblick auf den Themenkomplex »Behinderung und weibliches Geschlecht« relativ gut ist. Im Hinblick auf behinderte Männer und Jungen gibt es jedoch sowohl im deutschen wie auch im englischen Sprachraum kaum Veröffentlichungen. Aber schon aus diesen wenigen lässt sich deutlich ersehen, dass das Geschlecht im Leben von behinderten Männern eine große Rolle spielt, was nicht verwunderlich ist, lassen sich doch die mit Behinderung assoziierten Eigenschaften mit einem traditionellen Bild von Männlichkeit weit weniger in Einklang bringen als mit dem gängigen Bild von Weiblichkeit. D.h. behinderte Jungen müssen ihre Männlichkeit entwickeln, ohne über die meisten der geforderten Geschlechts-Eigenschaften zu verfügen. Und sie müssen lernen, mit der eigenen, »unmännlichen« Hilfsbedürftigkeit zurecht zu kommen. Allerdings gibt es für behinderte Männer die Möglichkeit, durch Übernahme einer aktiven Rolle und Berufstätigkeit sich teilweise der traditionellen Männerrolle anzunähern. 16 Für detaillierte Aussagen bedarf es hier noch weiterer Forschung. Festgehalten werden 14 | U. Schildmann: »Gender«; S. 224. 15 | So z.B. Nicole Eiermann/Monika Häußler/Cornelia Helfferich: LIVE, Leben und Interessen vertreten – Frauen mit Behinderung: Lebenssituation, Bedarfslagen und Interessenvertretung von Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderungen, Köln 2000. 16 | Vgl. Daniel J. Wilson: »Fighting Polio like a Man. Intersections of Masculinity, Disability and Aging«, in: B.G. Smith/B. Hutchinson (Hg.), Gendering Disability, S. 119-133; vgl. Russell P. Shuttleworth: »Disabled Masculinity. Expanding the Masculine Repertoire«, in: B.G. Smith/B. Hutchinson (Hg.), Gendering Disability, S. 166-178; vgl. Steve Robertson: »Men and Disability«, in: John Swain/Sally French/ Colin Barnes/Carol Thomas (Hg.), Disabling Barriers – Enabling Environments, London, Thousand Oaks, New Delhi 2004, S. 75-80.

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muss jedenfalls, dass Behinderung alles andere als ein geschlechtsneutraler Zustand ist, wie die folgende Tabelle 17 verdeutlicht: männlich

behindert

weiblich

stark

schwach

schwach

aktiv

passiv

passiv

unabhängig

abhängig

abhängig

selbständig

unselbständig

unselbständig

mutig

hilfsbedürftig

hilfsbedürftig

»hart«

kindlich

kindlich

potent

machtlos

machtlos

attraktiv

unattraktiv

attraktiv

rational Geist

emotional Körper

Körper

Körper, Behinderung und Geschlecht Auch die Sichtweise auf den Körper hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Lange wurde er als naturgegeben und im historischen Wandel immer gleich bleibend angesehen. In der aktuellen Diskussion gilt er inzwischen als historisch, kulturell und durch individuelle Erfahrung hervorgebracht, 18 wobei sowohl Geschlecht wie auch Behinderung in den Körper eingeschrieben werden. 19 Der Körper ist somit ein »gegendertes« historisches Konstrukt, dessen Zurichtung gemäß der jeweiligen Anforderungen erfolgt. Die bekanntesten und drastischsten Beispiele für das Gendern des weiblichen Körpers sind Praktiken wie die eingebundenen Füße im alten China, die mittels zahlreicher Metallreifen gestreckten Hälse der Frauen der Kayan in Burma oder die Genitalverstümmelung. Es findet allerdings auch ohne derartig drastische Maßnahmen statt und zeigt sich z.B. in der Art sich zu bewegen, sich als weiblich oder männlich zu inszenieren und zu präsentie17 | Swantje Köbsell: »Behinderung und Geschlecht – Versuch einer vorläufigen Bilanz aus Sicht der deutschen Behindertenbewegung«, in: Jutta Jacob/Eske Wollrad (Hg), Behinderung und Geschlecht – Perspektiven in Theorie und Praxis. Dokumentation einer Tagung, Oldenburg 2007, S. 31-49, hier S. 32. 18 | Vgl. Dorothea Dornhoff: »Postmoderne«, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gendertheorien, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 261-284, hier S. 277. 19 | Vgl. Vera Moser: »Geschlecht: behindert? Geschlechterdifferenz aus sonderpädagogischer Perspektive«, in: Behindertenpädagogik, 36/2 (1997), S. 138-149, hier S. 139.

24 | Swantje Köbsell ren, z.B. sich entsprechend zu kleiden, zu schminken, zu schmücken. Zu den aktuellen gegenderten Körper»moden« und -inszenierungen unseres Kulturkreises gehören u.a. das Formen des Körpers im Fitnessstudio, das Piercen und Tätowieren, das inzwischen fast zwingend »vorgeschriebene« Rasieren der Achselbehaarung und der Beine bei Frauen und natürlich die florierende Schönheitschirurgie, mit der Nasen, Brüste und Bäuche in die Form des gegenwärtig favorisierten Ideals gebracht werden. Unser heutiges Körperbild hat sich über einen langen Zeitraum entwickelt und hat dabei die Vorstellung eines intakten, scheinbar unversehrbaren Körpers geschaffen,20 mit dem der Biologisierung und Naturalisierung von Behinderung und Geschlecht Vorschub geleistet wurde. Historisch gesehen war immer der männliche (nichtbehinderte) Körper der »eine«, der der Frau als Abweichung von diesem der »andere«, wie auch der beeinträchtigte Körper.21 Die Darstellung bzw. Beschreibung dieser »anderen« Körper folgt stereotypen Mustern und ist in der Regel abwertend. D.h. diese Körper werden mit »anderen« Blicken bedacht als diejenigen, die nicht offensichtlich »anders« sind. »Andere« Körper sind öffentliche Körper: Frauen werden zum Sexualobjekt gemacht, »mit Blicken ausgezogen«; behinderte Menschen werden angegaff t und mit großer Selbstverständlichkeit danach gefragt, was sie denn »gemacht« hätten, was ihnen zugestoßen sei. Rosemarie Garland Thomson, eine prominente Vertreterin der US-amerikanischen Disability Studies, stellt fest, dass es zahlreiche Parallelen zwischen den Zuschreibungen zu weiblichen wie behinderten Körpern gibt: Beide würden als abweichend von der Norm und minderwertig angesehen; in beiden Fällen sei die Folge ein Ausschluss von der völligen Teilhabe am gesellschaftlichen und ökonomischen Leben.22

Behinderung, Geschlecht und Körper in den Disability Studies Der Körper spielt also sowohl im Hinblick auf Geschlecht wie auf Behinderung eine zentrale Rolle – doch wie wird dies im Diskurs der Disability Studies bzw. der Behindertenbewegung abgebildet? Den Disability Studies wird immer wieder vorgeworfen, den Genderaspekt nicht ausreichend zu berücksichtigen. Forscherinnen der Disability Studies haben über viele Jahre zahlreiche Beiträge zum Zusammenhang von weiblichem Geschlecht und Behinderung veröffentlicht, wer entsprechendes zum männlichen Geschlecht sucht, wird kaum fündig. In den Beiträgen zum Thema »Geschlecht« wur-

20 | Vgl. Benjamin Marius Schmidt/Gesa Ziemer: Verletzbare Orte. Zur Ästhetik anderer Körper auf der Bühne, Zürich 2004, S. 29. 21 | D. Dornhoff: »Postmoderne«, S. 270. 22 | In Ellen Samuels: »Critical Divides: Judith Butler’s Body Theory and the Question of Disability«, in: NWSA, Vol. 14 No. 3, Fall 2002, S. 58-76, hier S. 66.

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de der beeinträchtigte Körper, der im Gesamtzusammenhang der Disability Studies sonst kaum eine Rolle spielte, thematisiert, aber nicht analysiert.23 Seit ca. zehn Jahren mehren sich vor allem in Großbritannien die Stimmen derer, die einen verstärkten Einzug des Körpers in den Diskurs der Disability Studies fordern und damit massiv das soziale Modell von Behinderung in Frage stellen, dessen Aufspaltung von Behinderung in »Disability« und »Impairment« als Ursache für das »Vergessen« des Körpers im Diskurs gilt. Das Hauptaugenmerk sowohl der britischen Behindertenbewegung wie auch der dortigen Disability Studies wurde auf Disability und damit auf die Analyse und Bekämpfung ausgrenzender gesellschaftlicher Bedingungen und Strukturen gelegt. Impairment – der beeinträchtigte Körper – wurde keiner Analyse unterzogen, er wurde vergessen, obwohl er in allen politischen und sonstigen Diskussionen zu den verschiedenen Aspekten von Behinderung natürlich anwesend war: in Gestalt der Akteur/-e/-innen, aber auch der Inhalte. Insbesondere die Themen, die seit den 1980ern zunehmend von behinderten Frauen problematisiert wurden, wie Gen- und Reproduktionstechnologie, Mutterschaft, (Zwangs-)Sterilisation und sexualisierte Gewalt hatten unmittelbar mit weiblichen und/oder behinderten Körpern zu tun, ohne dass dies zu einer Analyse der Bedeutung des Körpers in diesem Kontext führte.24 Es waren dann aber behinderte Frauen,25 die in Großbritannien als erste auf die diesbezügliche Unzulänglichkeit des Sozialen Modells von Behinderung hinwiesen und forderten, die erlebten körperlichen Erfahrungen mit Beeinträchtigung und Behinderung in den Diskurs mit einzubeziehen. Die KritikerInnen des Sozialen Modells sind mittlerweile zahlreicher geworden, die Stimmen, die seine Unzulänglichkeiten gerade im Hinblick auf den Körper benennen und auch »Impairment« als sozial konstruierte Kategorie ansehen, werden mehr.26 So regt z.B. Carol Thomas an, eine »materialistische Ontologie der Beeinträchtigung« zu entwickeln, die soziale Einflüsse auf die Biowissenschaften ebenso würdigt wie den nicht zu leugnenden Einfluss des Biologischen auf die Gesellschaft. 27 Und Tremain macht darauf aufmerksam, dass die Diskursgegenstände der »na23 | Vgl. Helen Meekosha: »Body Battles: Bodies, Gender and Disability«, in: Tom Shakespeare (Hg.), The Disability Reader. Social science Perspectives, 2nd Edition (1st 1998), London, New York 2003, S. 163-179, hier S. 165. 24 | Vgl. ebd. 25 | Vgl. Jenny Morris: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Encounters with Strangers. Feminism and Disability. The major issue confronting feminism today, London 1996; vgl. Liz Crow: »Including all of our lives. Renewing the social model of disability«, in: J. Morris (Hg.), Encounters with Strangers, S. 206-226; vgl. Carol Thomas: »Disability and Impairment«, in: J. Swain/S. French/C. Barnes/C. Thomas (Hg.), Disabling Barriers – Enabling Environments, S. 21-27, hier S. 24. 26 | Vgl. C. Thomas: Disability and Impairment, S. 24; vgl. Bill Hughes/Kevin Paterson: »The social Model of Disability and the Disappearing Body: towards a sociology of impairment«, in: Disability and Society, 12/3 (1997), S. 325-340, hier S. 329. 27 | Vgl. C. Thomas: »Disability and Impairment«, S. 25.

26 | Swantje Köbsell turgegebenen Beeinträchtigung« und des »naturgegebenen Geschlechts« historisch zeitgleich hervortreten. Sie folgert mit Bezug auf Foucault, dass es sich bei »Beeinträchtigung« ebenso um ein historisches Artefakt von Macht und Wissen handele wie bei »Geschlecht«, die in der Folge beide als »Natur« und damit als gegeben und politisch neutral behandelt wurden.28 Kritisiert wird weiter, dass in der Aufteilung in »Disability« und »Impairment« die Seite des Impairment nicht aufgegriffen wird, wodurch der Körper aus dem Diskurs um Behinderung verschwunden sei und ein körperloser Behinderungsbegriff etabliert wurde. Im Ergebnis habe das Soziale Modell zwar Behinderung entmedikalisiert, aber gleichzeitig den beeinträchtigten Körper dem medizinischen Feld überlassen.29 Gefordert wird, und hier zeigt sich eine Parallele zur aktuellen Diskussion zum Thema Geschlecht, die duale Einteilung in Beeinträchtigung und Behinderung (respektive Sex und Gender), die diese Ausschlüsse hervorgebracht habe, zu überwinden. Dann könne man zu einer umfassenderen Sichtweise von Behinderung (respektive Geschlecht) kommen, bei der nicht nur der Aspekt des körperlichen Erlebens von Beeinträchtigung und Behinderung berücksichtigt werde, sondern auch, dass die Ebene der Beeinträchtigung eine gesellschaftliche Dimension habe und wie Beeinträchtigung und Behinderung interagieren.30 Auch die deutsche Behindertenbewegung hatte und hat als Grundlage ein Soziales Modell von Behinderung. Es wurde zwar nie so benannt, war aber dennoch handlungsleitend. Auch hier wurde Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion begriffen und gegen aussondernde Bedingungen und Diskriminierungen – zum Teil mit großem Erfolg – gekämpft. Der beeinträchtigte Körper, die Erfahrungen, die jede/r damit macht, wurden jedoch genauso wenig thematisiert wie die Frage des »Superkrüppeltums«: Wer in der Bewegung mitmachen wollte, musste zwar eine Beeinträchtigung haben bzw. die eigene Identität als »behindert« bezeichnen, ansonsten aber fit sein – Schmerzen und geringe körperliche Belastbarkeit mussten im Zweifelsfall ignoriert werden. Man setzte sich selbst unter Druck, einen Gegenentwurf zum gängigen Behindertenbild zu präsentieren, in dem behinderte Menschen vor allem als Leidende angesehen werden. In der Behindertenbewegung war es lange Zeit geradezu verpönt, über das eigene »Leiden«, also die Probleme, Schmerzen etc., die Folgen der Beeinträchtigung sein können, zu sprechen, denn das hätte das Bild, das die nichtbehinderte Öffentlichkeit von Behinderten hat, bestätigt. »Wir [hatten] uns vorgenommen, dem gängigen Bild des hilflosen, abhängigen behinderten Menschen einen Gegenentwurf zu präsentieren: Die Krüppel und Krüppel28 | Vgl. Shelley Tremain: »On the Subjekt of Impairment«, in: Mairian Corker/Tom Shakespeare (Hg.), Disability/Postmodernity, London, New York 2002, S. 32-47, hier S. 34-35. 29 | Vgl. ebd., S. 330. 30 | Vgl. Carol Thomas/Mairian Corker: »A Journey around the Social Model«, in: M. Corker/T. Shakespeare (Hg.), Disability/Postmodernity, S. 18-31, hier S. 28.

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frauen waren kämpferisch, aktiv, mutig und stolz auf sich.«31 Vor diesem Hintergrund fiel und fällt es schwer, öffentlich darüber zu sprechen, dass es tatsächlich Erfahrungen und Empfindungen im Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen gibt, die sich als »Leiden« bezeichnen lassen. Denn natürlich gibt es Probleme, »die eine direkte Folge der Beeinträchtigung sind; Schmerz, Leiden, Frustrationen und Ängste sind oft Begleiterscheinungen von Beeinträchtigung, und kein noch so großer sozialer Wandel wird diese beseitigen«.32 Und in der Tat: Im Gegensatz zu den Körpern von Menschen anderer Minderheiten spielt der beeinträchtigte Körper eine besondere Rolle: Seine Einschränkungen werden auch nach der Überwindung aller gesellschaftlichen Barrieren nicht völlig verschwinden. Einschränkungen durch die Beeinträchtigung – im Hinblick auf Belastbarkeit, auf Schmerzen und evtl. eine verkürzte Lebenserwartung, aber auch z.B. im Hinblick auf Naturerleben – werden auch in der barrierefreiesten und gleichgestelltesten aller Welten noch vorhanden sein. Das heißt, der beeinträchtigte Körper wird durch rechtliche Gleichstellung und zunehmende Barrierefreiheit nicht unwichtiger und muss gerade deshalb thematisiert werden. Er gehört untrennbar zur Behinderung und muss deshalb auch in den Disability Studies seinen Platz haben, damit ihm Bedeutung gegeben werden kann, und zwar nicht in der üblichen abwertenden Weise, sondern als Wertschätzung der mit ihm gemachten Erfahrungen. Misst man den Erfahrungen mit dem beeinträchtigten Körper, die durchaus auch für die oder den Einzelnen zumindest zeitweise Leiden bedeuten können, einen positiven Wert zu, werden sie nicht automatisch pathologisiert und als Beleg dafür gedeutet, dass das Leben mit einer Beeinträchtigung nicht lebenswert ist.

Die Entwicklung geht weiter Die Trennungen in Beeinträchtigung und Behinderung wie auch die in Gender und Sex waren zur Zeit ihrer Entstehung von großer Bedeutung, denn sie ermöglichten sowohl Geschlecht als auch Behinderung als soziale Konstruktionen zu konzeptionalisieren. Dadurch konnten beide Strukturkategorien von ihrer Natur- und Schicksalhaftigkeit befreit und gesellschaftliche Einflüsse herausgearbeitet werden, die die Grundlage des politischen Kampfes gegen Diskriminierung und für die Gleichstellung sowohl von Frauen wie von behinderten Menschen bildeten. Inzwischen ist jedoch deutlich geworden, dass diese duale Herangehensweise dazu geführt hat, den jeweils als nicht-gesellschaftlich hervorgebracht angesehenen Teil zu »vergessen« und ihn als gegebene, ahistorische »Natur« im Diskurs denen zu 31 | Christian Mürner/Udo Sierck: Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung, Neu-Ulm 2009, S. 107. 32 | Simi Linton: Claiming Disability. Knowledge and Identity, New York, London 1998, S. 138; deutsche Übersetzung S.K.

28 | Swantje Köbsell überlassen, die ihn schon immer auf seine »Natur« reduziert haben.33 Auch hat das Denken in Dichotomien diese letztendlich verfestigt und damit die Dichotomie Natur – Kultur.34 Wir leben in einer Zeit, in der suggeriert wird, dass jede/r, die das nur wolle, sich genügend anstrenge und genügend investiere, einen perfekten, alterslosen Körper haben kann. Dies führt jedoch zur vermehrten Produktion »anderer« Körper – nämlich all derer, die diesen Anforderungen z.B. auf Grund ihres Alters nicht entsprechen können. Gleichzeitig befördern die Entwicklungen im Bereich der Biomedizin eine erneute Biologisierung35 und Medikalisierung des menschlichen Körpers und insbesondere seiner »Abweichungen«. So ist es wichtiger denn je, den beeinträchtigten Körper in den Diskurs der Disability Studies einzubeziehen, um hierzu einen Gegenentwurf zu liefern und deutlich zu machen, welche gesellschaftlichen Mechanismen am Prozess der Behinderung beteiligt sind. Die Betrachtung des Zusammenspiels von Behinderung und Geschlecht hat den Blick auf die Lebenslagen von Frauen und Männern, die mit Beeinträchtigungen leben und die Faktoren, die zum Prozess ihres Behindert-Werdens beitragen, erweitert. Zunehmend wird jedoch deutlich, dass diese Herangehensweise der Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen behinderte Menschen leben und ihre Identität entwickeln, nicht gerecht wird. Menschen sind nicht nur Frau oder Mann, behindert oder nichtbehindert, sondern sie haben darüber hinaus eine sexuelle Orientierung, gehören Ethnien, Klassen, Religionen, Altersgruppen etc. an – alles »Relationen gesellschaftlicher Ungleichheit«36, die ebenfalls Einfluss auf Identitäten und Lebensrealitäten haben. Um diese zahlreichen Verflechtungen analysieren und in die Forschung einbeziehen zu können, wird zunehmend auf das Konzept der Intersektionalität verwiesen. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Leitkategorie zur Analyse der Lebenssituationen bzw. Identitäten verschiedener Personen bzw. Gruppen nicht ausreicht, da diese in komplexen, historisch gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen leben. In einem intersektionalen Ansatz werden Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen nicht addiert,37 sondern die Überschneidungen

33 | Vgl. B. Hughes/K. Paterson: »The disappearing Body«. 34 | Vgl. Sigrid Schmitz/Andreas-Leone Wolfrum: »›Sex – Gender‹, ›Natur – Kultur‹. Chancen und Grenzen des interdisziplinären Dialogs zur Dekonstruktion von Dichotomien«, in: Ursula Konnertz/Hille Haker/Dietmar Mieth (Hg.), Ethik – Geschlecht – Wissenschaft. Der »ethical turn« als Herausforderung für die Geschlechterstudien, Paderborn 2006, S. 107-121, hier S. 108. 35 | Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Frankfurt a.M. 2007, S. 169. 36 | Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp: »Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, »Rasse/Ethnizität«, in: Transit – Europäische Revue, Nr. 29/2005. 37 | Nina Degele/Gabriele Winker: »Intersektionalität als Mehrebenenanaly-

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und Wechselwirkungen verschiedenster »Achsen der Ungleichheit«38 im jeweils historischen Kontext39 in die Analyse einbezogen. Aus der historischen Perspektive auf Ungleichheit soll ein komplexes Verständnis der Gegenwart gewonnen werden. Denn: Treffen mehrere »Achsen der Ungleichheit« aufeinander, muss das nicht unbedingt ihre gegenseitige Verstärkung bedeuten, wie das lange verwendete Modell der »Mehrfachdiskriminierung« vermuten lässt, vielmehr können daraus ganz neue Dimensionen von Ausgrenzung und Diskriminierung resultieren. So weist »der Sexismus, den schwarze Frauen erfahren, oftmals geradezu konträre Züge zu demjenigen auf […], vor den sich weiße Frauen gestellt sehen.«40 Und auch die »Doppelte Diskriminierung« behinderter Frauen bedeutet keineswegs die Potenzierung sexistischer Sichtweisen im Hinblick auf die Frau als Sexualobjekt, sondern vielmehr eine Negierung ihrer Sexualität. Anzumerken ist hier allerdings, dass die Kategorie »Behinderung« in den Diskurs um Intersektionalität nur selten einbezogen ist, 41 hier geht es vorwiegend um die »Masterkategorien« Klasse, Geschlecht und Ethnizität, 42 allerdings seien »Kategorien wie Sexualität, Alter, (Dis)Ability; Religion oder Nationalität […] prinzipiell integrierbar.«43 Die deutschsprachigen Disability Studies haben das Konzept der Intersektionalität und seine Potentiale erst vor kurzem »entdeckt«. 44 Auch im Hinblick auf den Körper verspricht der intersektionale Ansatz neue Erkenntnisse, wird doch gefordert, nicht nur »Klassen-, Geschlechter-, Rassen- [sic!], aber auch Körperverhältnisse zu analysieren.«45 Die Rezeption des Intersektionalitätsansatzes in Deutschland wirft bei aller Freude darüber, hiermit die »Komplexität sozialer Ungleichheitslagen adäquat(er) erfassen und konzeptualisieren zu können«, 46 aber auch zahlreiche kritische Fragen auf. Soiland z.B. kritisiert, dass »nicht die Mechanismen der Segregation,

se«, Feministisches Institut Hamburg 2007, www.feministisches-institut.de/inter sektionalitaet.html vom 15. April 2009. 38 | C. Klinger/G. Knapp: »Achsen der Ungleichheit«. 39 | Avtar Brah/Ann Phoenix: »Ain’t I a Woman? Revisiting Intersectionality«, in: Journal of Women’s Studies, 5/3 (2004), S. 75-86, hier S. 76. 40 | Tove Soiland: »Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie«, Querelles-net 26 (2008), www.querelles-net.de/forum/forum26/soiland.shtml vom 20. April 2009. 41 | N. Degele/G. Winker: »Intersektionalität als Mehrebenenanalyse«. 42 | Vgl. C. Klinger/G. Knapp: »Achsen der Ungleichheit«. 43 | Gabriele Winker/Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 11. 44 | Vgl. Heike Raab: »Intersectionality in den Disability Studies – Zur Interdependenz von Disability, Heteronormativität und Gender«, Vortragsmanuskript Hamburg 2006, www.zedis.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2007/01/intersec tionality_raab.pdf vom 20. April 2009. 45 | N. Degele/G. Winker: »Intersektionalität als Mehrebenenanalyse«. 46 | T. Soiland: »Verhältnisse und Kategorien«.

30 | Swantje Köbsell sondern deren Effekte« 47 untersucht werden und befürchtet, dass dies zu einer »Privatisierung« gesellschaftlicher Problemlagen führen könnte. Sie weist darauf hin, »dass hier nicht scharf genug unterschieden wird, ob das, was intersektionell sein soll, die sich in einem Individuum überlagernden Positionierungen von Gruppenzugehörigkeiten sind oder die Mechanismen der Segregation und damit zentrale Organisationsprinzipien gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion.« 48 Klinger und Knapp stellen aufgrund der bislang noch fehlenden Ausarbeitung einer theoretischen Grundlage »eine gewisse […] Leere dieses Diskurses« fest, »die besonders dann zutage tritt, wenn es um die konkrete Bestimmung der Zusammenhänge zwischen Klasse, »Rasse«/Ethnizität und Geschlecht [und Behinderung S.K.] geht.« 49 Voraussetzung für intersektionales Analysieren sei die gleichzeitige »Definition der Eigentümlichkeit bzw. Eigenständigkeit der Kategorien und die Bestimmung ihres Zusammenhangs […]. Das stellt methodologisch und (gesellschafts)theoretisch ein Novum dar, dem es erst noch gerecht zu werden gilt.«50 Auch Winker und Degele konstatieren, dass der intersektionale Ansatz theoretisch weiterentwickelt werden muss, allerdings bescheinigen sie ihm, dass er sich »in seiner kurzen Geschichte zu einem Konzept entwickelt [hat], das über ein Strömungen übergreifendes Potenzial verfügt und Perspektiven für konstruktive Weiterentwicklungen und Anwendungen bietet«51 . Es bleibt also abzuwarten, wie sich der intersektionale Diskurs entwickelt, welche Beiträge die Disability Studies dazu leisten werden und inwieweit dieser Ansatz für die Erforschung der Komplexität des Prozesses des Behindert-Werdens beeinträchtigter Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer fruchtbar gemacht werden kann.

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Ebd. Ebd. C. Klinger/G. Knapp: »Achsen der Ungleichheit«. Ebd. G. Winker/N. Degele, Intersektionalität, S. 14.

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Das Mädchen Ashley oder: Intersektionen von Behinderung, Normalität und Geschlecht 1 Anne Waldschmidt

Vorbemerkung Nach seiner Wahl zum US-amerikanischen Präsidenten hat sich Barack Obama in der Nacht des 5. November 2008 mit diesen Worten an die Welt gewandt: »[…] if there is anyone out there who still doubts that America is a place where all things are possible, […] who still questions the power of democracy, tonight is your answer. […] It’s the answer spoken by young and old, rich and poor, Democrat and Republican, black, white, Hispanic, Asian, Native American, gay, straight, disabled and not disabled.«2

An dieser mittlerweile berühmten Passage ist Folgendes bemerkenswert: Offensichtlich war es den Redenschreibern des designierten Präsidenten ein 1 | Dieser Aufsatz entspricht in großen Teilen nicht meinem Vortrag, den ich auf der Tagung »Gendering Disability: Behinderung und Geschlecht in Theorie und Praxis« am 22. Januar 2009 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gehalten habe. 2 | Eigene Übersetzung: »Wenn es irgendwo dort draußen jemanden gibt, der immer noch daran zweifelt, dass Amerika ein Ort ist, an dem alles möglich ist, […] der die Macht der Demokratie in Frage stellt, heute haben Sie ihm die Antwort gegeben. […] Es ist die Antwort von jung und alt, reich und arm, Demokraten und Republikanern, schwarz, weiß, asiatisch, einheimisch, schwul, heterosexuell, behindert und nicht behindert.« In: New York Times (Hg.), Obama’s Victory Speech: Transcript (November 5, 2008). www.nytimes.com/2008/11/04/us/politics/04textobama.html?_r=1&scp=1&sq=obama %20speech %20november %202008&st=cse vom 26.07.2009.

36 | Anne Waldschmidt Anliegen, der kulturellen Vielfalt des amerikanischen Wahlvolks Tribut zu zollen; auch ist das Bemühen um political correctness bei der Erwähnung der sozialen Gruppen unverkennbar. Aber welche Kategorien werden benannt (und welche nicht)? Alter, sozialer Status, politische Einstellung, Hautfarbe, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Behinderung – sie alle finden sich in der Rede; jedoch wird Religion, ein ebenfalls für die Gleichstellungspolitik wichtiges Merkmal, übergangen, und erstaunlicherweise bleibt außerdem die längst ›klassische‹ trias class, race,3 gender unvollständig: Die Geschlechterfrage ist Obama keiner Erwähnung wert; dies ist umso verwunderlicher, als höchstwahrscheinlich die weiblichen Wähler nicht unerheblich zu seinem Sieg beigetragen haben. Über die Gründe dieser Ignoranz kann nur spekuliert werden; zumindest zeigt die unvollständige Auflistung, dass doing diversity seine Tücken hat und man sich dabei leicht in der Komplexität sozialer Ungleichheit verheddern kann. Während aus feministischer Sicht enttäuscht vermerkt wird, dass offensichtlich Geschlecht als soziale Kategorie »abgedankt« habe, »auch wenn gleichzeitig herrschende Geschlechterstereotype mit weitreichenden Diskriminierungsfolgen wirksam bleiben« 4 , hat die Behindertenbewegung Grund zum Jubeln: Die Erwähnung von »disabled and not disabled« kommt dem Ritterschlag öffentlicher Anerkennung gleich – und doch bleibt ein Wermutstropfen, schließlich ist die von Obama gewählte Formulierung eher antiquiert. Im Diskurs der Behinderung spricht man längst von »Menschen mit Behinderung(en)« oder »behinderten Menschen«; nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen hat die Bezeichnung »die Behinderten« einen paternalistischen Beigeschmack.5 Erweist sich bereits die bloße Auflistung von sozialen Differenzierungsmerkmalen als rhetorische Herausforderung, gilt dies umso mehr für das Bemühen, die einzelnen Kategorien nicht nur additiv, sondern in ihren Wechselwirkungen und Verschränkungen zu denken. Auch empirisch gesehen ist kein Mensch »nur« behindert, sondern immer zugleich dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugehörig. Und nicht nur das: Alter, sozialer Status, Hautfarbe, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Weltanschauung und Religion – all diese Aspekte spielen zusätzlich 3 | Ich benutze im Folgenden entweder den englischen Begriff »race« oder setze das deutsche Wort »Rasse« in Anführungszeichen. Im Unterschied zu Winker/ Degele bin ich der Meinung, dass auch in der Rassismuskritik und im analytischwissenschaftlichen Sprachgebrauch der historische Hintergrund zu dieser Distanzierung verpflichtet; vgl. Gabriele Winker/Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 47-49. 4 | Ebd., S. 10. 5 | In der mailing list der US-amerikanischen »Society for Disability Studies« wurde nach der Rede heftig darüber diskutiert, ob Obama tatsächlich »the disabled« als Substantiv benutzt habe oder nicht doch die Formulierung grammatisch als Adjektiv zu verstehen sei (im Sinne von »Americans who are disabled« oder »disabled people«). Ich habe mich in meiner Übersetzung für die zweite Lesart entschieden.

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in jedem Leben eine Rolle und müssten folglich nicht nur in der Gleichstellungspolitik,6 sondern auch in Wissenschaft und Forschung gebührend berücksichtigt werden. Zusätzlich wären sicherlich Merkmale wie Wohnort und Region, familiärer Status und Bildungsstand zu beachten. Auch müsste darüber nachgedacht werden, warum andere Unterschiede wie etwa Attraktivität oder Körpergewicht, die in der sozialen Interaktion ebenfalls relevant sind, in der Intersektionalitätsdebatte eher selten aufgegriffen werden. Versuche, die verwirrende Vielfalt gesellschafts-politischer und subjektiver Wirklichkeit zu ordnen, haben jedenfalls bislang zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt. Ob zwölf oder dreizehn7 Unterscheidungen, in jedem Falle ist klar, dass sich die Intersektionalitätsforschung – die Analyse der Verwobenheit sozialer Unterschiede – notgedrungen für Komplexitätsreduktion entscheiden muss, um handlungsfähig zu bleiben. Die meisten Studien betrachten folglich entweder nur eine Kategorie – z.B. Geschlecht –, oder sie vergleichen zwei Merkmale, z.B. Geschlecht und ethnische Herkunft. Im Allgemeinen fi ndet sich eine Fokussierung auf die drei zentralen Differenzlinien Klasse, Geschlecht und »Rasse« bzw. ethnische Herkunft. Behinderung dagegen spielt im allgemeinen Diskurs nur eine marginale Rolle; sie rangiert zumeist unter »etc.«, den Merkmalen also, die eigentlich auch zu betrachten wären, die in der Konkurrenz mit anderen Unterscheidungen jedoch zumeist unterliegen. Umgekehrt hat sich der Diskurs der Behinderung bislang vorzugsweise auf sich bezogen und entweder (Nicht-) Behinderung als alleinige Differenz oder höchstens im Zusammenhang mit Geschlecht oder (noch seltener) Migration thematisiert; Arbeiten, die drei- oder auch mehrdimensional angelegt sind, d.h. neben Geschlecht, Behinderung und ethnischer Herkunft beispielsweise Alter und/oder sexuelle Orientierung zusätzlich einbeziehen, sind meinem Überblick nach immer noch höchst selten. In dieser Hinsicht bietet auch der vorliegende Beitrag keine Weiterentwicklung, geht es doch im Folgenden ›nur‹ um die beiden Kategorien Behinderung und Geschlecht. Vor dem Hintergrund, dass im deutschsprachigen Raum die Theoriedebatte zu Intersektionalität erst vor wenigen Jahren startete und selbst die Geschlechterforschung mit ihrer langjährigen Diskursgeschichte – wie Gabriele Winker und Nina Degele konstatieren – »nach wie vor ein gutes Stück davon entfernt [ist], die Spezifi k der einzelnen Herrschaftssysteme klar zu benennen und zueinander ins Verhältnis setzen zu

6 | Die genannten Merkmale werden in den Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union und im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (2006) berücksichtigt. Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes erwähnt außerdem noch die Sprache. Die Aufnahme bestimmter Merkmale in das Gleichstellungsrecht (und anderer nicht) macht im Übrigen deutlich: »class« gilt dem Gesetzgeber zufolge als legitime soziale Ungleichheit, denn Armut oder die Exklusion von Bildung werden nicht als Diskriminierungstatbestände angesehen. 7 | G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 16.

38 | Anne Waldschmidt können« 8, wäre es angesichts dieser »offenen theoretischen Situation« vermessen, »sofort eine Unzahl von Herrschaftsverhältnissen miteinander verbinden zu wollen«9 . Stattdessen habe ich mir vorgenommen, einen theoretischen Beitrag zur Intersektionalitätsdebatte zu leisten, bei dem es darum geht, die Differenzierungskategorie10 (Nicht-)Behinderung als – neben class, race, gender – wichtige Dimension sozialer Ungleichheit ins Spiel zu bringen und mit »Normalität« eine analytische Kategorie zu entwickeln, die sich dazu eignen könnte, die Interdependenz von Behinderung und Geschlecht besser zu verstehen. Im Ergebnis wird – so viel sei vorweg genommen – »Körper« als weitere Analyseebene erscheinen. Offensichtlich stellt der Körper das entscheidende Machtfeld dar, auf dem die Kämpfe um soziale Teilhabe ausgetragen werden. Um das theoretisch anmutende Thema des Aufsatzes anschaulich zu gestalten, habe ich mich dafür entschieden, den aktuellen Fall von Ashley, 11 eines in den USA lebenden Mädchens mit schwerer Beeinträchtigung, aufzugreifen. Nach der Fallbeschreibung werden die Begriffe Behinderung und Geschlecht auf ihre Intersektionalität, d.h. ihre Analogien und Unterschiede hin beleuchtet. Im dritten Schritt erfolgen normalitätstheoretische Überlegungen, die auf die Bedeutung des Körpers in Normierungs- und Normalisierungsprozessen fokussieren. Zum Schluss werden Theorie und empirischer Fall aufeinander bezogen.

Das Mädchen Ashley: eine Fallbeschreibung Im Oktober 2006 erschien in der amerikanischen Fachzeitschrift »Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine«12 ein Beitrag, der von Hormontherapie, Gebärmutter- und Brustdrüsenentfernung an einem Mädchen berichtete, das mit einer schweren Mehrfachbehinderung geboren wurde. Die Eltern der zum Zeitpunkt der Behandlung sechsjährigen Ashley hatten angesichts 8 | Ebd., S. 29-30. 9 | Ebd., S. 30. 10 | Vgl. zu diesem Begriff Karin Gottschall: Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs, Opladen 2000, S. 80-95. Den Terminus »Differenzierungskategorie« verwende ich im Rahmen dieses Aufsatzes als Arbeitsbegriff, ohne auf die soziologische Differenzierungstheorie zurückzugreifen. Ich benutze bewusst nicht den im feministischen Diskurs ebenfalls üblichen Begriff der »Strukturkategorie« (vgl. ebd., S. 165-168), weil meines Erachtens mit ihm zwar die sowohl mit Geschlecht als auch mit Behinderung verknüpfte soziale Positionierung gedacht werden kann, jedoch die Handlungsebene, das »doing difference« unterbelichtet bleibt. 11 | Bei dem Vornamen handelt es sich um ein Pseudonym. 12 | Vgl. Daniel F. Gunther/Douglas Diekema: »Attenuating Growth in Children with profound developmental disability: A new approach to an old dilemma«, in: Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine 160 (2006), S. 1013-1017.

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einer verfrüht einsetzenden Pubertät die Ärzte darum gebeten, das Wachstum und die sexuelle Entwicklung ihrer Tochter aufzuhalten. Die 40-köpfige, paritätisch aus Frauen und Männern bestehende Ethikkommission 13 der University of Washington in Seattle, USA, konnte die elterliche Argumentation nachvollziehen; sie stimmte deshalb den Eingriffen zu. Die Hauptbegründung lautete: »The primary benefit offered by growth attenuation is the potential to make caring for the child less burdensome and therefore more accessible. A smaller person is not as difficult to move and transfer from place to place. Although this may seem to be an advantage that accrues to the caretakers rather than the child, it offers several distinct benefits to the child as well. A child who is easier to move will in all likelihood be moved more frequently. Being easier to move means more stimulation, fewer medical complications, and more social interaction.«14

Zusammengefasst sollte die klinische Intervention eine spätere Heimeinweisung verhindern, die Unterbringung in der Familie gewährleisten und somit den Interessen des Kindes dienen. In der Veröffentlichung denken die beiden verantwortlichen Mediziner darüber nach, ob die kleine Körpergröße im späteren Leben von Ashley ein Nachteil sein könnte. Sie kommen zu dem Schluss, dass sie höchstens für einen »normalen« Erwachsenen stigmatisierende Effekte hätte. Dagegen sei eine Infantilisierung bei einem geistig zurückgebliebenen Menschen eher positiv zu bewerten, da sie zu dem kognitiven Entwicklungsstand passe.15 In ihrem Blog, der am Neujahrstag 2007 ins Internet gestellt wurde und seitdem Hunderte von Kommentaren und Stellungnahmen provoziert hat, argumentieren die Eltern ähnlich. 16 Sie heben hervor, dass Ashley ja nie das Leben einer erwachsenen Frau führen 13 | Nach heftigem öffentlichen Protest hat die verantwortliche Klinik erklärt, dass diese Entscheidung falsch gewesen sei. Die Eltern von Ashley stehen weiter hinter der Behandlung ihrer Tochter und betrachten sie als Erfolg; vgl. hierzu den Wikipedia-Eintrag »Ashley Treatment«, in: http://en.wikipedia.org/wiki/Ashley_Treatment vom 21.07.2009. 14 | Eigene Übersetzung: »Der vorrangige Nutzen, den die Verringerung des Wachstums bietet, ist die Möglichkeit, die Pflege für das Kind weniger belastend und so ansprechender zu gestalten. Es ist nicht so schwierig, eine kleinere Person zu tragen und sie zu verschiedenen Orten zu bringen. Obwohl dieser Aspekt als ein Vorteil erscheint, der mehr den Pflegekräften als dem Kind nutzt, bietet er dem Kind ebenfalls verschiedene Vorteile. Ein Kind, das leichter getragen werden kann, wird aller Wahrscheinlichkeit nach mehr bewegt werden. Ein leichteres Gewicht bedeutet mehr Stimulation, seltenere medizinische Komplikationen und mehr soziale Interaktionen.« Vgl. D.F. Gunther/D. Diekema: Attenuating Growth, S. 1016. 15 | Vgl. ebd. 16 | Vgl. Ashley’s Mom and Dad: »The ›Ashley Treatment‹: Towards a Better Quality of Life for ›Pillow Angels‹«. http://ashleytreatment.spaces.live.com/blog/ cns!E25811FD0AF7C45C!1837.entry?_c=BlogPart vom 07.01.2007.

40 | Anne Waldschmidt und somit ihre Gebärmutter und Brüste nie brauchen werde; insofern habe man Menstruationsbeschwerden und späteren Krebserkrankungen an den Geschlechtsorganen vorbeugen wollen. Um eine spätere Sexualisierung des Kindes zu vermeiden, sollten auch die Brüste nicht wachsen. Einer Schwangerschaft auf Grund von sexualisierter Gewalt, »which to our astonishment does occur to disabled women who are abused«17, sollte mit der Entfernung der Gebärmutter ebenfalls präventiv begegnet werden. Gegenüber dem strafrechtlich relevanten Vorwurf, an dem Kind sei eine Zwangssterilisation vorgenommen worden, hatte man sich abgesichert. Zitiert wird im elterlichen Blog die Stellungnahme eines Medizinjuristen, nach der es sich bei der Behandlung nicht um eine Zwangssterilisation handle, da auf Grund der Schwere der kognitiven Beeinträchtigung eine freiwillige Fortpflanzung gar nicht möglich sei. Unter das in den USA generell geltende Verbot der Zwangssterilisation würden nur leichter behinderte Frauen fallen, die ihr Recht auf Schwangerschaft tatsächlich ausüben könnten. 18 Zudem sei die Sterilisation im Falle von Ashley nur ein Nebenaspekt und nicht das eigentliche Ziel der Behandlung. 19 Letztendlich habe man lediglich ihren Körper dem vorhandenen geistigen Zustand angepasst, schließlich verharre das Mädchen in dem geistigen Zustand eines drei Monate alten Babys und habe sich in all den Jahren kognitiv nicht weiter entwickelt.20 Zur Unterstützung der eigenen Argumentation wird ein Medizinethiker zitiert: »The estrogen treatment is not what is grotesque here. Rather, it is the prospect of having a full-grown and fertile woman endowed with the mind of a baby.«21 Im Unterschied zu den verantwortlichen Medizinern bestreiten die Eltern übrigens, dass es ihnen lediglich um eine leichte Pflege gegangen sei, auch wenn sie – hierzu im Widerspruch – in ihrem Blog erwähnen, dass geeignete Pflegekräfte nicht gefunden werden konnten und die Betreuung erleichtert wird, wenn z.B. eine Standardbadewanne und der Kinderwagen weiter benutzt werden können. Mit großer Emphase argumentieren die Eltern primär mit dem Kindeswohl und der großen Liebe zu ihrer Tochter: Ihnen sei es allein um die Lebensqualität von Ashley gegangen. Entsprechend hat der Text auch die Überschrift »The ›Ashley Treatment‹: Towards a better quality of life for ›pillow angels‹«22 . Den Vorwurf, die Behandlung

17 | Eigene Übersetzung: »die zu unserem Erstaunen tatsächlich bei behinderten Frauen, die missbraucht werden, vorkommt«; ebd., S. 7. 18 | Vgl. ebd., S. 5. 19 | Vgl. ebd. 20 | Vgl. ebd., S. 3, 9. 21 | Eigene Übersetzung: »Nicht die Östrogenbehandlung ist in diesem Fall grotesk. Vielmehr ist es die Aussicht auf eine erwachsene und fruchtbare Frau, die mit dem Verstand eines Babys ausgestattet ist.« Ebd., S. 9. 22 | Eigene Übersetzung: »Die Ashley-Behandlung: Für eine bessere Lebensqualität für ›Kissenengel‹« (ebd.).

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habe lediglich der Bequemlichkeit der Pflegekräfte gedient, weist man entschieden zurück: »A fundamental and universal misconception is that it is intended to convenience the caregiver; rather, the central purpose is to improve Ashley’s quality of life. Ashley’s biggest challenges are discomfort and boredom […]. The ›Ashley Treatment‹ goes right to the heart of these challenges and we strongly believe that it will mitigate them in a significant way and provide Ashley with lifelong benefits.«23

Man muss es so deutlich sagen: Dieser Fall handelt von körperlicher Verstümmelung auf der Basis des elterlichen Willens, im Namen von Fürsorge und Kindeswohl. Er wirft ein grelles Licht auf den spätmodernen Umgang mit behinderten Menschen, der immer noch vom »klinischen Blick«24 geprägt ist und oft genug in gewalttätige Körperdisziplinierung und repressive Fürsorglichkeit mündet. Gleichzeitig eignet er sich dazu, wie in einem Brennglas die Verbindungen zwischen Behinderung, Geschlecht und Normalität zu beleuchten, schließlich ist Ashley nicht allein ein Mensch, der als mehrfachbehindert gilt, sondern auch ein Mädchen, somit ein Mitglied der weiblichen Genusgruppe. Dass sie außerdem einer bestimmten Altersgruppe angehört und als Kind abhängig von den Entscheidungen und der Fürsorgebereitschaft der Eltern ist, müsste bei einer ausführlichen Analyse ebenfalls vertieft werden; der folgende Beitrag wird jedoch aus pragmatischen Gründen die mit diesem Fall verknüpften Dimensionen des adultism25 vernachlässigen müssen. Stattdessen sollen vor allem die beiden Differenzierungskategorien Behinderung und Geschlecht ausbuchstabiert werden.

Zur Intersektionalität von »Behinderung« und »Geschlecht« In einem ersten Schritt bietet es sich an, beide Kategorien vergleichend zu beleuchten und danach zu fragen, ob es möglicherweise bereits auf der Ebene der Begriffssystematik einen inneren Zusammenhang gibt, der darauf schließen lässt, dass Behinderung und Geschlecht nicht nur wie zwei Stra23 | Eigene Übersetzung: »Ein grundlegendes und allgemeines Missverständnis ist, dass [die Behandlung] der Bequemlichkeit der Pflegekraft dient. Vielmehr ist ihr Hauptzweck, die Lebensqualität von Ashley zu verbessern. Ashleys größte Schwierigkeiten sind sich unwohl zu fühlen und Langeweile. […] Die ›Ashley-Behandlung‹ zielt genau auf diese Probleme ab, und wir sind der festen Überzeugung, dass [die Behandlung] sie in deutlichem Umfang vermindern und Ashley lebenslang Vorteile bringen wird.« Ebd., S. 3. 24 | Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973. 25 | Zu diesem Stichwort vgl. den entsprechenden Eintrag in: http://en.wikipedia.org/wiki/Adultism vom 03.07.2009.

42 | Anne Waldschmidt ßen aufeinander zulaufen und sich an bestimmten Punkten überkreuzen (»intersect«), sondern tatsächlich interdependent sind, d.h. wechselseitig aufeinander verweisen.26 Mit Blick auf Behinderung geht es darum, sich zwei konkurrierende Perspektiven zu vergegenwärtigen.27 Während in den Rehabilitationswissenschaften ein individualistischer Ansatz verfolgt wird, konzeptionalisieren die Disability Studies die Kategorie aus gesellschafts-politischer und konstruktivistischer Sicht. Um die Bedeutung der rehabilitationskritischen Sichtweise nachzuvollziehen, muss man sich vor Augen führen, dass zumindest in den westlichen Industrieländern der Gedanke der Rehabilitation nach wie vor dominant ist, nämlich die Vorstellung, man könne mittels Behandlungs- und Arbeitsmarktprogrammen die Gruppe der Behinderten relativ reibungslos (wieder) in die Gesellschaft eingliedern. Das institutionell in Frühförderung, Schule, Ausbildung, Beruf, Wohnen und Freizeit verankerte Rehabilitationsparadigma setzt Behinderung mit der körperlichen Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung gleich und deutet sie als schicksalhaftes, persönliches Unglück oder »Leiden«. Als geeignete Lösungsansätze werden die medizinisch-therapeutische Behandlung, die schulische (Sonder-)Förderung und die sozialpolitische Unterstützung angesehen. Die Gesellschaft kommt bei diesem Modell lediglich als Rahmenbedingung ins Spiel, und zwar insofern, als vom Sozialstaat die Bereitstellung entsprechender Dienstleistungen erwartet und allgemein vorhandene Vorurteilsstrukturen als hinderlich für das individuelle Anpassungsverhalten betrachtet werden. Pointiert formuliert: Auf der Basis einer klinischen Grundorientierung tragen Theorie und Praxis des Rehabilitationssystems zur Naturalisierung der Differenzierungskategorie Behinderung wesentlich bei; postuliert wird nämlich die Kongruenz von Behinderung und medizinisch-biologischer Schädigung oder Beeinträchtigung. Wenn ein führender Neurowissenschaftler im Interview auf die Frage, ob er sich erklären könne, warum Querschnittsgelähmte häufi ger depressiv seien, antwortet, »[e]in Querschnittsgelähmter im Rollstuhl wird ständig mit seinen Defiziten konfrontiert. Er hat Mühe, in den Bus zu steigen, braucht überall einen behindertengerechten Zugang […]«, 28 dann geben sich sowohl der Wissenschaftler als auch der diese Antwort akzeptierende Journalist als 26 | Zur Kritik an älteren Ansätzen von Intersektionalität vgl. G. Winker/N. Degele: Intersektionalität; und Heike Raab: »Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 127-148. 27 | Vgl. Anne Waldschmidt: »Disability Studies: Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell von Behinderung?«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 29 (2005), S. 9-31. 28 | Ulrich Schnabel: »Das Prinzip Hoff nung. Gespräch mit Niels Birbaumer«, in: Die Zeit Nr. 28 vom 02.07.2009, S. 31; Hervorh. AW.

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Vertreter des individualistischen Behinderungsmodells zu erkennen. Vor diesem Hintergrund lautet die nächste Frage: Gelingt es den Disability Studies, diesen Denkansatz zu überwinden? Als Kontrastfolie zum Rehabilitationsansatz wurde bereits in den 1980er Jahren das so genannte soziale Behinderungsmodell entwickelt.29 Aus diesem Blickwinkel handelt es sich bei Behinderung um ein historisch entstandenes, kulturell spezifisches, also gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal. Zentraler Ausgangspunkt ist die These, dass Behinderung nicht einfach vorhanden ist, sondern hergestellt wird, produziert und konstruiert in wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskursen, politischen und bürokratischen Verfahren, subjektiven Sichtweisen und Identitäten. Bei der Entwicklung des sozialen Modells wurden Anschlüsse an den bewegungspolitischen Diskurs hergestellt und Definitionsbemühungen der Behindertenbewegung aufgegriffen. Bereits 1976 war die britische »Union of Physically Impaired Against Segregation«30 davon ausgegangen, dass Behinderung gesellschaftlich verursacht wird: »In our view, it is society which disables […]. Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society. Disabled people are therefore an oppressed group in society.«31

Auf der Basis einer klaren Unterscheidung von Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability) lautet der insbesondere von den britischen Disability Studies vertretene Kerngedanke des sozialen Modells: Behinderung ist kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation; sie entsteht durch systematische Ausgrenzung. Menschen »sind« nicht zwangsläufig auf Grund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen »behindert«, sondern sie »werden«, indem Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet werden, im sozialen System und durch das soziale System »zu Behinderten gemacht«. Aus einem vorhandenen Körperschaden, einer Verhaltensauff älligkeit oder kognitiven Störung, also objektiv feststellbaren »impairments« folgt, so wird postuliert, nicht unabwendbar 29 | Vgl. für einen Überblick Mark Priestley: »Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise«, in: Anne Waldschmidt (Hg.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, Kassel 2003, S. 23-35; vgl. A. Waldschmidt: »Modell von Behinderung«. 30 | Übersetzt lautet der Name der Behindertenselbsthilfeorganisation: »Union der Körperbehinderten gegen Segregation«. 31 | Eigene Übersetzung: »Aus unserem Blickwinkel ist es die Gesellschaft, die behindert […]. Behinderung ist etwas, das uns zusätzlich zu unseren Beeinträchtigungen aufgedrängt wird, indem wir unnötigerweise isoliert und von der vollen Teilhabe in der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund sind behinderte Menschen eine unterdrückte gesellschaftliche Gruppe.« Vgl. A. Waldschmidt: »Modell von Behinderung«, S. 17; Hervorh. A.W.

44 | Anne Waldschmidt eine Behinderung (disability), vielmehr ist der institutionalisierte Prozess der sozialen Benachteiligung entscheidend für die Randgruppenexistenz. Entsprechend ist nach dem sozialen Modell weder »disablement« (der Prozess des Behindertwerdens) eine notwendige Konsequenz von »impairment«, noch stellt diese eine hinreichende Bedingung für »disability« dar. Auch wenn dieser Denkansatz als theoretisches Fundament (nicht nur) der (britischen) Disability Studies gilt, sieht er sich innerhalb des Forschungsfeldes immer wieder durchaus heftiger Kritik ausgesetzt. Das soziale Behinderungsmodell postuliert nämlich in nuce eine Dichotomie zwischen der medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung oder Schädigung (impairment) und der aus ihr resultierenden sozialen Benachteiligung (disability). Beharrt wird darauf, dass körperliche und soziale Ebenen von einander zu unterscheiden sind und es keine kausale Beziehung zwischen »impairment« und »disability« gibt. Dagegen heben insbesondere die Anhänger/innen poststrukturalistischer Theorieansätze in den Disability Studies die Macht von Diskursen hervor, die sich bei der Konstitution von »impairment« ebenfalls bemerkbar macht; ihnen zufolge muss nicht nur »disability«, sondern auch »impairment« als Konstruktion gedacht werden. Doch bevor ich diese Argumentationslinie weiter verfolge, möchte ich zunächst die zweite Kategorie genauer betrachten, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht: Wie wird »Geschlecht«32 gedacht? Wendet man sich dem Geschlechterdiskurs zu, wird man – sicherlich nicht zufällig – auf ein Bild treffen, das der Debatte um den Behinderungsbegriff sehr ähnelt. Auch im Falle von Geschlecht bestimmt in Alltagspraxis und common sense die biologisch-anatomische Ebene, der »sex« die Zugehörigkeit zu einer Genus-Gruppe. Ausnahmslos gelten Penis-Besitzer als Männer; Vagina-Besitzer werden als weiblich definiert. »Hurra, ein Mädchen!« wird erst dann gerufen, wenn der Augenschein sich davon überzeugt hat, dass das Baby die passenden Körperteile besitzt; anschließend wirken Rechtsstatus und Sozialisation, normative Erwartungen und soziale Interaktionen in komplexen Prozessen zusammen, um aus dem Baby erst ein »richtiges« Mädchen und später eine sich ihrer Weiblichkeit (selbst-)bewusste, möglichst heterosexuell orientierte Frau zu formen. Auch wenn Michael Jackson,33 der »king of pop« gezeigt hat, dass es möglich ist, sich als Mann und Frau gleichzeitig zu inszenieren und dabei von einem weltweiten Massenpublikum bejubelt zu 32 | Bei der Begriffl ichkeit Geschlecht bzw. »gender« folge ich G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 44-46, die darunter sowohl das Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau als auch den Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit und die sexuelle Orientierung verstehen. 33 | Man könnte Michael Jackson (1958-2009) auch als die intersektionale Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts bezeichnen: Nicht nur verkörperte er beide Geschlechter; ihm gelang auch der soziale Aufstieg (»class«), und er überschritt die Grenzen von »race«, einer ebenfalls in hohem Maße naturalisierten Differenzierungskategorie, indem er seine schwarze Hautfarbe erbleichen ließ und sich zum Vater dreier, offensichtlich hellhäutiger Kinder machte.

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werden: Gemeinhin wird die Geschlechtszugehörigkeit als eine durch die Natur vorher bestimmte Eigenschaft wahrgenommen, die zwar nachträglich von gesellschaftlichen Einflüssen überformt werden kann, jedoch im Ursprung sich auf biologisch-natürliche Unterschiede zurückführen lässt. Im Vergleich zu Behinderung lässt sich allerdings sagen: Zwar ist auch bei der Geschlechterkategorie die Naturalisierungstendenz unverkennbar; jedoch ist der feministische Kampf für eine gesellschaftsorientierte Konzeptionalisierung ebenfalls nicht ohne Wirkung geblieben. Einen einfachen Determinismus zwischen »sex«, dem anatomisch definierten Geschlecht, und »gender«, der sozialen Konstruktion von Geschlechtsrollen, zu behaupten, gilt heute als naiver Biologismus; dass das Vorhandensein von zwei Geschlechtern als polares Machtverhältnis verstanden werden muss und der weibliche Part häufig mit Abwertung und Benachteiligung verknüpft ist, ist zumindest in den westlichen Industrieländern längst zum Bestandteil offizieller Politik geworden. Auch wenn man kritisch einwenden kann, dass sich gender mainstreaming allzu oft in lediglich symbolischen Maßnahmen erschöpft, so gelten doch – und dies ist sicherlich als Erfolg des feministischen Diskurses zu verbuchen – mittlerweile »sex« und »gender« als zwei getrennte Sphären. Oder in anderen Worten: Ähnlich wie dies UPIAS, der oben erwähnte britische Behindertenverband für »disability« behauptet, kann man mit Bezug auf »gender« formulieren: Weibliches Geschlecht ist eine soziale Kategorie; sie wird auf Grund biologisch-anatomischer Unterschiede »auferlegt« (»imposed«) und geht mit gesellschaftlicher Benachteiligung einher. Nicht der als weiblich codierte Körper ist die zwangsläufige Ursache für Abwertung und Ausgrenzung, sondern die Gesellschaft macht aus Frauen eine diskriminierte Gruppe. Tatsächlich lässt sich empirisch beobachten, dass das traditionelle Geschlechterverhältnis nicht mehr ehern ist und an den Rändern sozusagen »ausfranst«; mehr und mehr wird sichtbar, dass »sex« nicht zwangsläufig die Geschlechterrolle bestimmt.34 Zwar bekommen noch immer die Frauen die Kinder, aber ein großer Teil der Mütter ist nach der Geburt, zumeist in Teilzeit, weiter berufstätig, und mehr junge Väter gönnen sich einige Monate Elternzeit; partnerschaftliche Haushaltsführung und Kinderbetreuung werden zunehmend akzeptiert; längst sehen sich auch Männer mit dem Schönheitsdiktat konfrontiert, und Vergewaltigung in der Ehe gilt als Verbrechen und nicht mehr als Kavaliersdelikt. Bezieht man die Legalisierung homosexueller Partnerschaften und die zunehmende Zahl lesbisch/schwuler Paare mit (leiblichen) Kindern in die Betrachtung mit ein, so könnte man sogar zu dem Schluss kommen, das Ende der Heteronormativität, d.h. der Annahme, bei der Zweigeschlechtlichkeit handle es sich um eine Naturtatsache, sei in Sicht. Auch wenn auf der Ebene von »gender« – zumindest als Trend – Fluidi34 | Ich verzichte nachfolgend auf empirische Belege, um den Aufsatz nicht zu überfrachten. Ohne Weiteres ließe sich für alle aufgeführten Punkte entsprechendes Datenmaterial anführen.

46 | Anne Waldschmidt tät, Vieldeutigkeit und Variabilität zu erkennen sind, an einer Stelle triff t man auf ein Haltesignal: Die Phänomene Intersexualität und Transsexualität zeigen die Widersprüchlichkeit der Geschlechterkategorie auf. Einerseits dokumentieren sie, dass die Annahme, »sex« sei ausschließlich binär strukturiert und »gender« hiervon lediglich abgeleitet, nicht stimmen kann. Gleichzeitig offenbaren sie das geschlechtsspezifische Machtspiel: Die mit der Erwartung eindeutiger Geschlechtlichkeit konfl igierenden Körper werden mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen pathologisiert und möglichst einem der beiden Geschlechter zugeordnet; auch personenstandsrechtlich ist die Entscheidung für ein »drittes Geschlecht« (noch) nicht möglich. Insofern, so lässt sich schlussfolgern, regiert doch der (heteronormative) »sex« und bestimmt die Strukturen und das Handlungspotential von »gender«. In anderen Worten: Geschlechtszugehörigkeiten werden qua »sex« zugeschrieben, sie können nicht frei gewählt werden, und vor allem müssen sie eindeutig sein – das ist die herrschende Norm. Konsequenterweise wird ein mehrdeutiger »sex« dem klinischen Blick und Therapiewillen unterworfen. Soweit meine – zugegeben kursorischen – Betrachtungen der Differenzierungskategorien Behinderung und Geschlecht, bei denen hoffentlich aufgefallen ist, dass beide von der »Differenz Natur/Gesellschaft« geprägt sind, »als Scheidemarke zwischen dem, was als veränderbar oder sogar machbar gilt, und jenem, was menschlicher Einflussnahme bzw. gesellschaftlichem Zugriff als entzogen betrachtet wird.«35 »Sex« und »gender«, »impairment« und »disability« – offensichtlich liegt sowohl Geschlecht als auch Behinderung eine Zweiteilung zugrunde, bei der jeweils die erste Ebene der Natur zugeordnet und die zweite als eher gesellschaftlich bedingt angesehen wird. Prinzipiell kann die Binarität in zwei Richtungen gedacht werden: Erstens lässt sich behaupten, dass »sex« bzw. »impairment« die entscheidende Determinante für »gender« bzw. »disability« ist. Während für die Kategorie des Geschlechts gilt, dass sich diese Position gegenwärtig in der Defensive befindet (wobei ein backlash immer möglich ist), erweist sich der natural fix im Falle von Behinderung als bemerkenswert stabil, ja, resistent gegenüber Kritik. Zweitens – und hier setzen sowohl die Gender Studies als auch die Disability Studies an – kann das Verhältnis als gesellschaftlich konstruiert begriffen werden; aus dieser Sicht sind »gender« und »disability« Kategorien gesellschaftlicher Strukturierung, die auf biologische Unterschiede zurückgeführt werden und im Nachhinein eine eigene Dynamik entfalten. In den Worten von Ilona Ostner: »Biol[ogische] Unterschiede (sex) werden sozial fi xiert und zum Ausgangspunkt für eine weitgehende Durchregelung von dann als ›typisch weiblich‹ oder ›männlich‹ [bzw. behindert oder nichtbe35 | Cornelia Klinger: »Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Münster 2003, S. 14-48, hier S. 28.

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hindert, AW.] zu geltenden Verhaltensweisen (gender) genommen.«36 Diese zweite Position darf als common sense des kritischen Geschlechterdiskurses gelten; im Falle von Behinderung sind die Disability Studies mit dem Problem konfrontiert, dass sich ihre Durchsetzung als schwierig erweist. Indes, der Diskurs macht an dieser Stelle nicht halt; er bietet eine dritte Denkrichtung, der es darum geht, über die beiden beschriebenen Positionen hinauszugehen. Nicht allein die These vom biologischen Determinismus, sondern auch die vorrangige Betrachtung von »gender« bzw. »disability«, ohne die als natürlich wahrgenommene Ebene zu hinterfragen, soll problematisiert werden. Es gilt, die sowohl Geschlecht als auch Behinderung eingeschriebene Dichotomie von Natur und Gesellschaft – zumindest auf der theoretischen Ebene – zu überwinden und auch die vermeintlich wertneutralen, objektiv vorhandenen biologischen Merkmale bzw. Auff älligkeiten, d.h. »sex« und »impairment«, in die Reflexion einzubeziehen. In den Disability Studies steht vor allem Shelley Tremain37 für diesen konsequent dekonstruktivistischen Ansatz. Die Werkzeugkästen von Michel Foucault und Judith Butler benutzend, geht es ihr darum zu zeigen, dass »impairment« – ähnlich wie der als natürlich wahrgenommene »sex« – mittels diskursiver Praxis naturalisiert wird, um als nichthistorisches, biologisches Merkmal des menschlichen Körpers zu erscheinen. Indem die beiden Ebenen voneinander getrennt und indem »sex« und »impairment« jeweils als vorgängige, »natürliche« Ebene gedacht werden, werden sie gleichzeitig der sozialen Praxis und damit auch der Kritik entzogen. Tatsächlich ist sowohl »impairment« (und nicht nur »disability«) als auch »sex« (und nicht nur »gender«) ein Diskursprodukt, auch wenn sie üblicherweise nicht als soziokulturelle Kategorie wahrgenommen werden. Oder in anderen Worten: Die Ungleichheitskategorien »disability« und »gender« dienen auch dem Zweck, »impairment« bzw. »sex« als Interventionsebene herzustellen; sie sind nicht bloß Effekte von Naturerscheinungen, sondern stellen in der Gestalt von »sex« oder »impairment« selbst »Natur« her. Im Sinne der Diskurstheorie bringt Tremain also die Macht ins Spiel, um zu zeigen, dass auch Natur ein Produkt menschlicher Einflussnahme bzw. gesellschaftlichen Zugriffs ist: Der Annahme, dass Gesellschaft und Kultur den körperlichen Merkmalen bloß ihre Stempel aufdrücken, sie jedoch als Phänomene an sich in ihrer Substanz unberührt lassen, hält sie entgegen, dass es sich bei den als »impairment« (bzw. »sex«) bezeichneten, vermeintlich natürlichen Tatsachen um Effekte historischer Machtverhält36 | Ilona Ostner: »Geschlecht«, in: Bernhard Schäfers/Jürgen Kopp (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, Wiesbaden 2006, S. 84-87, hier S. 85. 37 | Shelley Tremain: »Foucault, Governmentality, and the Critical Disability Theory: An Introduction«, in: Dies. (Hg.), Foucault and the Government of Disability, Ann Arbor 2005, S. 1-24; vgl. Shelley Tremain: »On the Government of Disability«, in: Social Theory and Practice 27 (2001), S. 617-636; vgl. Shelley Tremain: »On the Government of Disability: Foucault, Power, and the Subject of Impairment«, in: Lennard Davis (Hg.), The Disability Studies Reader, New York 2006, S. 185-196.

48 | Anne Waldschmidt nisse handelt, die, indem sie »impairment« (bzw. »sex«) voraussetzen, diese überhaupt erst produzieren.38 Die überaus wirkmächtige, im Falle von »impairment« bzw. »sex« erfolgreich vollzogene Naturalisierung führt in der Konsequenz zur Neutralisierung und Entpolitisierung der verkörperten Merkmale. Den deutschsprachigen Gender Studies ist diese Lesart des Zusammenhangs von »sex« und »gender« seit der auch hierzulande erfolgten Rezeption der Werke von Judith Butler und Michel Foucault bereits bekannt; im Falle der Disability Studies steht eine vertiefte Auseinandersetzung noch aus. Nicht nur haben sich die kritischen Studien zu Behinderung bislang mit dem Ausbuchstabieren des sozialen Modells begnügt, auch der Diskursgegner erscheint allzu mächtig: Im Bereich von »Behinderung« findet sich – in vermutlich weitaus stärkerem Maße als bei der Geschlechterkategorie – ein dominantes, im Wesentlichen unumstrittenes Diskursmuster, das medizinisch kategorisierbare Körperdifferenzen außerhalb des Soziokulturellen stellt und auf diese Weise deren Konstruktionsweisen gegen Kritik immunisiert. Dass auch das soziale Modell, indem es hartnäckig an der Spaltung zwischen »impairment« und »disability« festhält, sich an eben diesem Machtspiel beteiligt, obwohl es sich eigentlich als Kontrastfolie zum Rehabilitationsparadigma versteht, leuchtet als Kritikpunkt ein. Dennoch – und hier setzt meine Kritik der Kritik ein – gibt es auch in Tremains nominalistisch geprägter Argumentation einige Leerstellen: Zum einen vermisst man körpertheoretische Reflexionen. Dies ist umso verwunderlicher, als ja die Arbeiten Michel Foucaults einen wichtigen Bezugspunkt für sie darstellen. Wie im nächsten Schritt zu erläutern sein wird, hat Foucault nicht nur die Diskurstheorie entwickelt, sondern auch eine Soziologie des Körpers,39 die sich als hilfreich erweist, um dem Zusammenspiel von Natur und Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Nicht nur bei der Sexualität, der Foucault verschiedene Studien 40 gewidmet hat, sondern auch bei Behinderung gilt: Der Ausgangs- und Ansatzpunkt von Kategorisierung und Differenzierung, »der wirkliche Ankerpunkt« 41 , wie Foucault sagt, ist der menschliche Körper. Zum anderen fällt bei der Argumentation Tremains auf, dass die Normalitätsfrage im Wesentlichen ausgeblendet bleibt. Ihr zufolge baut das soziale Modell auf der impliziten Prämisse auf, dass »impairment« eine notwendige Bedingung von »disability« ist; aus diesem Grund würden auch Abweichungen wie etwa schwarze Hautfarbe, fremde Herkunft und Homosexualität nicht als Behinderungen betrachtet. Auch werde Intersexualität nicht als Be38 | S. Tremain: »Government«, S. 623. 39 | Vgl. zum Körper im Foucault’schen Werk auch Robert Gugutzer: Soziologie des Körpers. Bielefeld 2004. 40 | Vgl. insbesondere Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983; vgl. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989. 41 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 181.

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hinderung angesehen, obwohl auch hier medizinische Deutungsmacht und soziale Stigmatisierung zum Tragen kommen. 42 Was aber unterscheidet die verkörperten Differenzen Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Herkunft, Alter, Intersexualität von den anderen, gleichfalls verkörperten Differenzen, die »Behinderung« genannt werden, zu denen außerdem Gehörlosigkeit, Verhaltungsauff älligkeiten, Lernbehinderung oder kognitive Beeinträchtigungen gezählt werden, allesamt Merkmale mit oftmals nicht eindeutiger Wahrnehmbarkeit oder unklarer Symptomatik? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage die beiden Kategorien Behinderung und Geschlecht genauer: Zum einen kann man demografisch argumentieren. Da mehr als die Hälfte der Menschheit aus Frauen besteht, kann eigentlich schon allein aus quantitativen Gründen nicht von der Unnormalität des weiblichen Geschlechts gesprochen werden. (Dies schließt, wie empirisch ersichtlich, nicht aus, dass das Geschlechterverhältnis hierarchisch ist und die Frau im Vergleich zum Mann abgewertet wird.) Auch im Falle von Behinderung wird mit Zahlen hantiert, und der Verweis auf einen hohen Anteil behinderter Menschen an der Gesamtbevölkerung ist eine gängige Diskursstrategie. Ob 8, 12 oder 20 Prozent, im Unterschied zur Geschlechterkategorie fällt die demografische Rate jedoch deutlich geringer aus, und außerdem ist die quantitative Erfassung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine komplizierte Angelegenheit, die bisher noch nicht zu befriedigenden Resultaten geführt hat. Entscheidender als die Quantität scheint aber zu sein, dass die jeweiligen Vergesellschaftungsmodi und damit auch die sozialen Felder verschieden sind. So weist die These von der »doppelten Vergesellschaftung«43 darauf hin, dass Frauen gesellschaftlich tragende Funktionen zu erfüllen haben: sowohl im Bereich von Produktion und Erwerbsarbeit als Arbeitskraftreserve als auch in der Sphäre reproduktiver »Liebesarbeit« im Sinne unentgeltlicher Fürsorge für Kinder, Partner und andere Familienangehörige. Dagegen ist der Vergesellschaftungsprozess bei Behinderung viel prekärer und widersprüchlicher. Die Zuschreibung von Behinderung impliziert, dass Funktions- und Leistungsfähigkeiten gerade auch in den beiden gesellschaftlich zentralen Feldern Arbeit und Generativität/Sexualität zur Disposition stehen, und zwar (im Unterschied zur Krankheit) für einen längerfristigen Zeitraum und unter Umständen sogar dauerhaft. In der Konsequenz verorten die Auff älligkeiten, Schädigungen, Defizite und Beeinträchtigungen, die in medizinischen Begriffen beschreibbar sind, die solcherart Kategorisierten in das »Normalfeld« 44 der Gesundheit. Aus funktionalistischer Sicht lässt sich zugespitzt formulieren: Frauen werden in der und von der Gesellschaft »gebraucht«, behinderte Menschen dagegen nicht. Entsprechend 42 | S. Tremain: »Introduction«, S. 10. 43 | Vgl. für einen Überblick über diesen Theorieansatz K. Gottschall: Soziale Ungleichheit und Geschlecht, S. 171-184. 44 | Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 2006, S. 51.

50 | Anne Waldschmidt gibt es nicht die Unnormalität des (weiblichen) Geschlechts, wohl aber geschlechtsspezifische Normalitäten. Dagegen sind behinderte Menschen im Normalitätsspektrum am negativen Pol positioniert; sie gelten als »nicht normal« und sollen – als logische Konsequenz dieses Verdikts – »normal« gemacht werden.

Normierte und normalisierte Körper Letztendlich sind dies die zentralen Fragen: Auf welche Weise konstituiert sich ein bestimmter Tatbestand als prononciertes Gegenteil des Normalen? Wie wird Normalität hergestellt? Im Anschluss an Michel Foucault gehe ich im Folgenden davon aus, dass Normierungs- und Normalisierungsprozesse immer auch körperlich sind und verkörpert werden und im eigentlichen Sinne In-Korporierungen darstellen, deren konkret-materielle Effekte sich nachweisen lassen. Methodologisch geht es also darum, den Körper nicht als Strukturkategorie zu konzeptionalisieren, wie dies etwa Winker/Degele tun. Da die meisten Differenzierungsmerkmale verkörpert sind, kann schon allein aus begriffssystematischen Gründen 45 der Körper nicht als eine eigene, vierte Kategorie neben class, race, gender gestellt werden. Körper ist eben nicht eine spezifische »Gesellschaft strukturierende Kategorie« 46, sondern eine durch Gesellschaft, nämlich durch class, race, gender wie auch Gesundheit, Leistung, Ästhetik etc. strukturierte Kategorie: Vergesellschaftung geht gewissermaßen durch den Körper hindurch; Gesellschaft findet in Körpern, durch Körper und mit ihnen statt. Als Feld der Macht und Medium sozialer Ungleichheit muss somit der Körper in der Intersektionalitätsforschung – ähnlich wie Institution, Wissen, Subjekt – einen vornehmlich analytischen Status erhalten. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass der Körper zugleich mehr ist als ein Ort; er ist auch ein (zuweilen widerspenstiger) Akteur und zugleich Quelle subjektiver Erfahrung. 47 Im Folgenden gilt es mit Foucault »[…] zu zeigen, wie sich Machtdispositive direkt an den Körper schalten – an Körper, Funktionen, physiologische Prozesse, Empfindungen, Lüste. Weit entfernt von jeder Ausradierung des Körpers geht es darum, ihn in einer Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische nicht wie im Evolutionismus der alten Soziologen aufeinander folgen, sondern sich in einer 45 | Klinger macht darauf aufmerksam, dass Kategorien sich erstens voneinander unterscheiden und zweitens miteinander vergleichen lassen müssen. Drittens dürfen sie nicht in eins fallen, müssen also jeweils spezifisch sein; vgl. C. Klinger: »Ungleichheit«, S. 26. 46 | G. Winker/N. Degele: Intersektionalität, S. 40. 47 | Robert Gugutzer/Werner Schneider: »Der ›behinderte‹ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung«, in: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 31-53.

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Komplexität verschränken, die im gleichen Maße wächst, wie sich die modernen Lebens-Macht-Technologien entwickeln. Also nicht eine ›Geschichte der Mentalitäten‹, die an den Körpern nur die Art und Weise in Rechnung stellt, in der man sie wahrgenommen und ihnen Sinn und Wert verliehen hat. Sondern eine ›Geschichte der Körper‹ und der Art und Weise, in der man das Materiellste und Lebendigste an ihnen eingesetzt und besetzt hat.« 48

Die Körperpolitik, auf die Foucault sein Augenmerk richtet, beinhaltet im Wesentlichen diese vier Facetten: Diskursivierung, Disziplinierung, Normierung und Normalisierung. Von diesen Prozeduren seien die ersten beiden nur kurz und die beiden letzteren etwas ausführlicher beschrieben; außerdem wird jeweils der Bezug auf Behinderung und Geschlecht hergestellt. Beginnen wir mit der Diskursivierung des Körpers. Eine Grundannahme der Foucault’schen Körpertheorie ist, dass Körper nicht a priori, als einfache Naturtatsachen vorhanden sind, sondern durch Diskurse und in Diskursen konstruiert werden. Insbesondere die Wissenschaften, in denen »der Mensch« im Mittelpunkt steht, Disziplinen wie Anthropologie, Humanbiologie und Medizin, Psychologie und Pädagogik produzieren Wissensordnungen, die entscheidend mit bestimmen, wie Körper wahrgenommen und behandelt werden. Sie regulieren und beschränken das Wissen vom Körper, konstruieren Körperbilder und beeinflussen Körpererfahrung; gleichzeitig generieren sie – im Sinne der Produktivität von Macht – immer auch Neues, beispielsweise neuartige Grenzziehungen zwischen dem, was als »typisch weiblich« oder »typisch männlich«, als »ganz normal«, »noch normal« oder »anormal« zu gelten hat. Parallel zur Diskursivierung haben sich im Laufe der Moderne minutiöse Disziplinartechniken des menschlichen Körpers bemächtigt; er ist Zielscheibe einer politischen Ökonomie und Mikrophysik der Macht geworden. Mittels konkreter Techniken werden gefügige Körper geschaffen, die vor allem eines sein sollen: produktiv, effektiv und effizient. Praktiken wie der nicht medizinisch indizierte Kaiserschnitt, die ästhetisch motivierte Intimchirurgie, der Trend zu immer dünneren Körpern und die Fitness-Bewegung können ebenso der Körperdisziplinierung zugerechnet werden wie das Anpassen von Prothesen, die Verschreibung von Ritalin bei Verhaltensstörungen und standardisierte Abläufe in Pflegeeinrichtungen. Nicht nur ist der »zwingende Blick« 49 der Disziplinarmacht mit dem »klinischen Blick«50 der Diskursivierung verknüpft, die Disziplinarmacht umfasst auch die Körpernormierung. Die hierfür maßgebliche Disziplinartechnik, die normierende Sanktion hat Foucault so beschrieben:

48 | M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 180-181. 49 | Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1989, S. 221-229. 50 | Vgl. M. Foucault: Die Geburt der Klinik.

52 | Anne Waldschmidt »Im System der Disziplinarmacht zielt die Kunst der Bestrafung nicht auf Sühne und auch nicht eigentlich auf die Unterdrückung eines Vergehens ab. Sie führt vielmehr fünf verschiedene Operationen durch: sie bezieht die einzelnen Taten, Leistungen und Verhaltensweisen [sowie Befunde, AW.] auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist. Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ›Natur‹ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ›wertenden‹ Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität. Als Unterschied zu allen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber dem Anormalen gezogen […]. Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend.«51

Mit Blick auf (heterosexuelles) Geschlecht fällt es schwer, eine »Kunst der Bestrafung« am Wirken zu sehen; geht es um den gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität, macht die Assoziation der Sanktion schon mehr Sinn, auch wenn das Toleranzspektrum im Laufe des 20. Jahrhunderts größer geworden ist; im Falle von Intersexualität wird man umfassende Praktiken der Normierung zu konstatieren haben, allerdings nicht im Strafsystem, sondern in der Klinik. Bei der Bezugnahme auf Intersexualität wie auch auf Behinderung muss man berücksichtigen, dass diese Abweichungen nicht »Vergehen« im engeren Sinne (d.h. kriminelle Taten) sind, bei denen Schuldige zur Verantwortung zu ziehen wären. Eher handelt es sich um »schuldlose« Vergehen (im Sinne von Devianz), die nicht individuellen Entscheidungen zugerechnet werden (können). Folglich geht es um eine allgemeine »Kunst« der Normierung und Normalisierung, in anderen Worten: um soziale Kontrolle, die Produktion von Konformität und das »Normalmachen«. Tatsächlich kann man in der gesellschaftlichen Praxis die genannten fünf Verfahren der Disziplinarmacht – der Vergleich, die Differenzierung, die Hierarchisierung, die Homogenisierung und die Ausschließung – deutlich am Wirken sehen. Schauen wir uns den Fall Behinderung genauer an: Zum einen werden Körper, um sie als behindert etikettieren zu können, laufend mit anderen Körpern verglichen, z.B. in Intelligenztests und medizinischer Diagnostik; auch werden sie differenziert, nämlich als unterschiedlich – leistungs- und erwerbsgemindert, förder-, hilfs- und pflegebedürftig – eingestuft; des Weiteren werden sie – z.B. nach dem sozialrechtlich festgelegten »Grad der Behinderung« oder den »Stufen der Pflegebedürftigkeit« – in eine hierarchisierende Rangordnung eingegliedert; außerdem werden die 51 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 236; Hervorh. dort. Diese drei Ausdrücke stammen von dem Übersetzer Walter Seitter, der mit ihnen den französischen Begriff »normalise« wiedergegeben hat; vgl. J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 117.

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als behindert Klassifizierten in homogene Gruppen – der Lernbehinderten, Hörgeschädigten, Mehrfachbehinderten etc. – eingeteilt; nicht zuletzt werden sie in Sonderschulen, Wohnheimen und Behindertenwerkstätten exkludierenden Strategien unterworfen. In anderen Worten: Mit Foucault gerät in den Blick, dass als behindert definierte Körper Regimen der Normierung und der Normalisierung ausgesetzt sind; mit chirurgischen Eingriffen, Prothesen und Implantaten werden sie korrigiert und »normal gemacht«; ein ganzes Arsenal an Rehabilitationstechniken sorgt für ihre möglichst reibungslose Eingliederung in Kommunikations-, Konsumtions- und Produktionsabläufe, kurz, für ihre Ein- und Anpassung an eine »nichtbehinderte« Ordnung. Allerdings lässt sich an dieser Stelle einwenden: Auch wenn in der sozialen Praxis die Dichotomie zwischen Normalität und Behinderung immer wieder neu hergestellt wird, heißt dies nicht, dass das klassifikatorische Tableau, einmal fi xiert, auf lange Zeit statisch bleibt, sich sozusagen durch eine longue durée auszeichnet. Eher das Gegenteil ist der Fall: Im Unterschied etwa zur Differenzkategorie Geschlecht weist die Landschaft der Behinderung eine auffällig große Kontingenz, Vielgestaltigkeit und Unschärfe auf, die es nur mit einiger Mühe erlaubt, so etwas wie eine lebensweltlich oder sozialpolitisch handhabbare Oberkategorie Behinderung überhaupt zu bilden. Denn was eigentlich haben psychisch Kranke, Rollstuhlfahrer, Nierenkranke, Gehörlose, Brustamputierte, Kleinwüchsige und aufmerksamkeitsgestörte Kinder tatsächlich gemeinsam? Sicherlich werden sie alle diskursiviert, diszipliniert und normiert – jedoch alle auf jeweils unterschiedliche Weise. Wie das eben benutzte, längere Zitat über die »Kunst der Bestrafung«52 dokumentiert, hat Foucault selbst nicht trennscharf zwischen normierenden und normalisierenden Strategien unterschieden. An anderer Stelle hat er zum Zusammenhang von Normierung und Normalisierung etwas genauer formuliert: »Noch allgemeiner läßt sich sagen, daß das Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft und sich auf dieselbe Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht und zugleich die Kontrolle der disziplinären Ordnung des Körpers und der Zufallsereignisse einer biologischen Vielfalt erlaubt, daß dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, die ›Norm‹ ist. […] Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden.«53

Die »Norm der Disziplin« und die »Norm der Regulierung« – das sind Foucault zufolge offensichtlich zwei verschiedene Dinge; allerdings wird die Divergenz nicht expliziert. Um die beiden Normbegriffe eindeutiger zu trennen und für analytische Zwecke nutzen zu können, macht es Sinn, mit 52 | M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 236. 53 | Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt a.M. 1999, S. 293.

54 | Anne Waldschmidt der Normalismustheorie von Jürgen Link54 auf einen Ansatz zurückzugreifen, dem es ebenfalls darum geht, die Macht von Normalität in der spätmodernen Gesellschaft zu verstehen. In der gebotenen Kürze lässt sich das Konzept des Normalismus, eine von Foucault und dessen Diskurstheorie inspirierte Normalitätstheorie, so zusammenfassen: Zum einen geht Link davon aus, dass die vergleichende Beschreibung der Menschen, ihres Verhaltens und ihrer Merkmale, die mit Hilfe der Statistik vorgenommen wird, den Dreh- und Angelpunkt der Normalisierungsgesellschaft bildet, in Foucaults Worten: dass nicht die Norm der Disziplin, sondern die Norm der Regulierung die zentrale Machttechnik darstellt. Die auf die statistische Normalität rekurrierenden Normalisierungstrategien üben keinen im engeren Sinne repressiven Zwang aus. Sie halten die Menschen »lediglich« dazu an, ihr Verhalten danach auszurichten, was die Mehrheit fordert; allein auf diese Weise wirken sie disziplinierend. Zum anderen ist es nach Link sinnvoll, zwei normalisierende Strategien zu unterscheiden: erstens den Protonormalismus und zweitens den flexiblen Normalismus.55 Protonormalistische Strategien lassen sich folgendermaßen kennzeichnen: Sie sind an der Normativität ausgerichtet, bauen auf der strikten Trennung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen auf, rekurrieren auf Biologismen, um Abweichung zu legitimieren, und beinhalten die dauerhafte Ausgrenzung der solcherart stigmatisierten Gruppen. Protonormalistische Verfahren sind beispielsweise dort am Werk, wo die Isolierung und Anstaltsverwahrung von psychisch kranken Menschen propagiert wird und Schüler mit Lernschwierigkeiten als von Natur aus dumm gelten. Dagegen sind die flexiblen Normalisierungsstrategien weicher und durchlässiger. Sie gehen von dem Ideal einer »frei durchgeschüttelten« Verteilung der Menschen im sozialen Raum aus, die immer auch wieder veränderbar ist. Sie lassen sich von der Annahme leiten, dass die Individuen zufällig an den Rand geraten sind, dass sie die Grenzbereiche oder den Pol der Anormalität auch wieder verlassen und zurück in die Mitte der Gesellschaft gelangen können. Die im flexiblen Normalismus ebenfalls bestehende Trennlinie zwischen den Normalen und dem Unnormalen ist nur gültig für eine mittelfristige Zeitdauer und kann immer wieder neu festgelegt werden. Das Spektrum des Normalen wird auch nicht stark eingegrenzt, sondern kann sich bis zu den Grenzwerten ausdehnen. Innerhalb des normalistischen Feldes bestehen kontinuierliche Normalitäten und bewegliche Normalitätsgrenzen. Zusammenfassend lässt sich die Grundthese der Normalismustheorie so formulieren: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist in den westeuropäischen Gesellschaften der Protonormalismus, der durch die Dichotomie von normal/gesund und abnorm/krank gekennzeichnet ist und die starre 54 | Vgl. J. Link: Versuch über den Normalismus; vgl. Anne Waldschmidt: »Normalität«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 190-196. 55 | Vgl. J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 51-59.

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Ausgrenzung der Abweichenden beinhaltet, auf dem Rückzug. Gleichzeitig haben sich flexibel-normalistische Strategien verstärkt durchgesetzt. Mit ihnen sind innerhalb der normalistischen Felder größere Normalitätsspektren und variable Grenzziehungen möglich. Schaut man sich das Beispiel Behinderung56 genauer an, so kann man tatsächlich die Wirkmächtigkeit regulierender Normen und flexibelnormalistischer Strategien identifizieren. Für die Konjunktur des flexiblen Normalismus gibt es zahlreiche Anhaltspunkte. Wo es in »Behindertenarbeit« und Rehabilitationssystem bis in die 1980er Jahre hinein um Betreuung und Fürsorge ging, werden heute gesellschaftliche Teilhabe und die Angleichung der Lebensbedingungen angestrebt. Es ist weithin akzeptiert, dass geistig behinderte Menschen, die früher in großen Anstalten ausgegrenzt wurden, normale Wohnungen in der Gemeinde beziehen; für Menschen mit umfänglichen Assistenzbedarfen werden persönliche Budgets und ambulante Unterstützungsangebote bereitgestellt. Die deutsche Gebärdensprache ist offiziell anerkannt; Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und im Internet sind allgemeine Anliegen. Auch das Normalisierungsprinzip wie die auf Inklusion ausgerichtete Pädagogik (»eine Schule für alle Kinder«) und die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung sind Beispiele für flexibelnormalistische Verfahren. Nicht zuletzt ist Behinderung mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und der UN Konvention für die Rechte behinderter Menschen als Diskriminierungstatbestand und Menschenrechtsfrage anerkannt. Kurz, in den letzten Jahrzehnten ist das Feld der Behinderung – wenn auch nicht an seinen Polen, so doch zumindest in den Übergangsbereichen – dynamischer und durchlässiger geworden.57 Indes, von einer eindeutigen Tendenz zur flexiblen Normalisierung kann nicht gesprochen werden. Neben flexibel-normalistischen Reformen lassen sich nämlich in der Behindertenpolitik weiterhin protonormalistische Beharrungstendenzen ausmachen. Die minutiösen Zeitvorgaben der Pflegedienste, die Begutachtungskriterien des Medizinischen Dienstes und die knappen Kassen der Sozialhilfeträger schieben den Wünschen und Bedürfnissen behinderter Menschen nach persönlicher Assistenz außerhalb von stationären Einrichtungen oft genug mächtige Riegel vor. Das in Deutschland fest etablierte Sonderschulwesen und die Tatsache, dass in der Folge von PISA und ähnlichen Testverfahren Leistungsdenken und schulische Selektion wieder ganz oben auf der Bildungsagenda stehen, verweisen auf Ausgrenzungsmechanismen, gegen die sich das Konzept einer Schule für alle Kinder (noch) nicht durchsetzen kann. Zudem hält sich trotz aller Förderprogramme die 56 | Vgl. hierzu auch Jürgen Link: »›Irgendwo stößt die flexibelste Integration schließlich an eine Grenze‹ – Behinderung zwischen Normativität und Normalität«, in: Sigrid Graumann u.a. (Hg.), Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel, Frankfurt a.M. 2004, S. 130-139. 57 | Vgl. Anne Waldschmidt: »Flexible Normalisierung oder stabile Ausgrenzung: Veränderungen im Verhältnis Behinderung und Normalität«, in: Soziale Probleme 9 (1998), S. 3-25.

56 | Anne Waldschmidt Arbeitslosenquote behinderter Menschen konstant auf der doppelten Höhe im Vergleich zu der Rate Nichtbehinderter; Ausbildungslosigkeit ist für behinderte Jugendliche zu einem großen Problem geworden. Nicht zuletzt erhöhen die unzureichende Grundsicherung für Arbeitslose, allgemeine Prekarisierungstendenzen und sozial unausgewogene Gesundheitsreformen das Armutsrisiko insbesondere von behinderten Menschen.

Das Mädchen Ashley: Schlussfolgerungen Kehren wir zu dem eingangs vorgestellten Fall zurück. Wie nun passen diese Überlegungen zu dem oben geschilderten Schicksal von Ashley? Auf den ersten Blick bestürzen sicherlich Eingriffstiefe und Totalität des hier erfolgten »Körpermanagements«. Dem Mädchen werden, ohne dass ihr eine informierte Zustimmung möglich wäre, ganze Organe irreversibel entfernt und eine lebenslange Hormontherapie zugemutet. Die medizinische Behandlung ist im schlechten Sinne »ganzheitlich«, denn sie greift in die gesamte physische, geistige und psychische Entwicklung des Kindes ein, dem damit die Möglichkeit einer offenen Zukunft genommen wird. In allgemeiner Hinsicht zeigt dieses Beispiel, dass es tatsächlich der Körper ist, in dem sich die Differenzlinien Geschlecht, Behinderung und Normalität überkreuzen. Er ist einerseits das Interventionsfeld, somit das entscheidende Medium; andererseits verweist die verfrüht einsetzende Pubertät, der durch die medizinischen Eingriffe vorgebeugt werden soll, auf das Vorhandensein des körperlichen Eigensinns: Nur durch radikal anmutende Einschnitte mittels Chirurgie und Hormontherapie kann Ashleys Körper zur Raison gebracht werden – aber ob die Interventionen auf Dauer sind oder sich nicht doch später, beispielsweise wegen unvorhergesehener Nebenwirkungen oder Entwicklungen, weitere Eingriffe als notwendig erweisen werden, bleibt ungewiss. Unmittelbar einsichtig ist auch, dass die Behandlung des Mädchens ein Ausdruck des medizinischen Modells ist. Chirurgie und Endokrinologie dienen dem Zweck, der körperlichen Entwicklung Einhalt zu gebieten; die Ebene des »impairment« wird im Wesentlichen mit »disability« gleichgesetzt. Zudem gehen Eltern wie Mediziner offensichtlich davon aus, dass Ashleys Beeinträchtigungen, ihre kognitiven und körperlichen Defizite das eigentliche Problem darstellen, und nicht etwa die unzureichenden Rahmenbedingungen der häuslichen Betreuung. Auch wenn Ashleys Eltern bestreiten, dass dies ihre Hauptintention war, so scheinen doch, zumindest für die Ärzte, die pflegerischen Gesichtspunkte den Ausschlag gegeben zu haben; künftig könnten diese in ähnlich gelagerten Fällen im Mittelpunkt stehen. Im Endeffekt wird die Behandlung des Mädchens unternommen, um technische Aspekte der persönlichen Assistenz, wie etwa das Heben und Bewegen eines schwerbehinderten Körpers, auf Dauer besser bewältigen zu können. Dabei betrachtet man das Problem aus dem Blickwinkel des medical fix: Es wird nicht etwa die pflegerische Versorgung der Person an-

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gepasst, indem z.B. technische Hilfsmittel wie Lifter benutzt werden oder nach Pflegekräften gesucht wird, die über ausreichend Körperkraft verfügen. Auch die in den USA, der Heimat Ashleys, notorisch unzureichende Gesundheits- und Assistenzversorgung wird nicht kritisiert. Vielmehr wird der umgekehrte Weg gewählt: Der widerspenstige Körper von Ashley wird neu geformt und auf die pflegerischen Erfordernisse hin ausgerichtet; im wortwörtlichen Sinne wird er »pflegeleicht« gemacht. Kurz: Der Fall Ashley führt schlaglichtartig vor Augen, dass auch »impairment« produziert wird, und er verdeutlicht die Persistenz des individuellen Modells: »Impairment« regiert, und nicht »disability«. Des Weiteren erweist sich die Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« als hilfreich, um die Tragweite der Behandlung zu verstehen. Da Ashleys Umfeld nicht erwartet, dass sie, obwohl ein Mädchen und somit als weibliches Wesen identifiziert, jemals zu einem »doing gender« in der Lage sein wird, sieht man ihren »sex« als überflüssig und lästig, ja, als potenzielles Risiko an. Mit Hilfe der Medizin wird das anatomisch-hormonelle Geschlecht weggeschnitten und neutralisiert, denn ohne ein »gender«, das bewusst ausgeübt werden kann, erscheint auch der »sex« als grotesk. Folglich wird Ashley dauerhaft entsexualisiert; sie bleibt ein »es«, anstatt eine »sie« zu werden. Dass die Infantilisierung, die mit der Entsexualisierung einher geht, ebenfalls Gefahren birgt, nämlich Ashley zum leichten Opfer für pädophile Übergriffe machen könnte, wird nicht reflektiert; sowohl Eltern als auch Mediziner scheinen allein heterosexualisierte Gewalt im Blick zu haben. Mit der dauerhaften Verkindlichung von Ashley wird zugleich die paternalistische Macht von Eltern, Familienangehörigen und Pflegekräften legitimiert; etabliert wird eine Beziehung engster, personalisierter Abhängigkeit, eine intensive »fürsorgliche Belagerung« – und zwar zum vermeintlichen Wohle von Ashley, in ihrem besten Interesse. Bezeichnenderweise findet nämlich die umfassende Körpernormierung statt, weil die Eltern eigentlich nur das Beste für ihre Tochter wollen. Es geht ihnen, so formulieren sie in ihrer öffentlichen Stellungnahme, allein um die Lebensqualität des Kindes, sie wollen Ashley die Teilhabe am Familienleben und eine liebevolle Betreuung ermöglichen; die institutionelle Unterbringung soll verhindert werden: »Ashley’s smaller and lighter size makes it more possible to include her in the typical family life and activities that provide her with needed comfort, closeness, security and love: meal time, car trips, touch, snuggles etc. Typically when awake, babies are in the same room as other family members, the sights and sounds of family life engaging the baby’s attention, entertaining the baby. Likewise, Ashley has all of a baby’s needs, including being entertained and engaged, and she calms at the sounds of family voices. Furthermore, given Ashley’s mental age a nine and a half year old body is more appropriate and more dignified than a fully grown female body.«58 58 | Eigene Übersetzung: »Ashleys kleinere und leichtere Körpergröße ermög-

58 | Anne Waldschmidt In anderen Worten, legitimiert wird die Entsexualisierung nicht primär mit der Mehrfachbehinderung des Kindes, sondern mit dem Vorhaben flexibler Normalisierung. Die Infantilisierung ist offensichtlich der Preis, den Ashley zahlen muss, um auch künftig am Familienleben teilhaben zu können und nicht in einer Institution untergebracht zu werden. Die Barriere, die beseitigt werden musste, um diese Teilhabe zu ermöglichen, war ein behinderter Körper, der sich auf unvorhergesehene, nicht sehr praktikable, ja, eigensinnige Weise entwickeln wollte und der deshalb – gerade noch ›rechtzeitig‹ – zurechtgestutzt werden musste. »Irgendwo stößt die flexibelste Integration schließlich an eine Grenze«59 – diese Aussage des common sense, die Jürgen Link für einen Artikel über die flexible Normalisierung behinderter Menschen als Überschrift gewählt hat, hätten auch Ashleys Eltern formulieren können; sie entschieden sich dafür, den Körper ihrer Tochter, der zu schwer, zu wenig handlich und zu schnell erwachsen (im Sinne von »Geschlechtsreife«) zu werden drohte, Einhalt zu gebieten, ihn im wortwörtlichen Sinne zu »beschneiden«, und zwar im Namen »gut gemeinter« Normalisierung. Zusammenfassend: Nicht ohne Grund hat der Fall Ashley weltweit empörte Reaktionen hervorgerufen.60 Sicherlich handelt es sich um ein extremes Beispiel von medizinisch-paternalistischer Gewalt – und gleichzeitig offenbart es eine allgemeine Rationalität im gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen. Für die Intersektionalitätsdebatte ist der Fall relevant, weil er in exemplarischer Weise darauf hinweist, dass sich Geschlecht und Behinderung nicht als getrennte Kategorien gegenüber stehen, sondern vielmehr das Zusammenspiel von »sex« und »impairment«, »gender« und »disability« im Ergebnis eine Matrix ergibt: Alle vier Ebenen verweisen aufeinander und überschneiden sich; alle vier Ebenen, d.h. auch »sex« und »impairment« als vermeintlich natürliche Phänomene sind gesellschaftlich hergestellt. Die Logik der Wechselwirkungen wird offensichtlich von der Macht der Normalität bestimmt, und auch sie offenbart sich als ambivalent: Die licht es ihr, am typischen Familienleben teilzunehmen sowie an Aktivitäten, die ihr die benötigte Geborgenheit, Nähe, Sicherheit und Liebe geben: Mahlzeiten, Autofahrten, Berührungen, Kuscheln etc. Typischerweise sind Babys, wenn sie wach sind, im gleichen Zimmer wie andere Familienmitglieder; der Anblick und die Geräusche des Familienlebens ziehen die Aufmerksamkeit des Babys auf sich und unterhalten es. Ganz ähnlich hat Ashley all diese Bedürfnisse eines Babys; einschließlich Unterhaltenwerden und Beteiligtsein; auch ist das Geräusch von vertrauten Stimmen für sie beruhigend. Zusätzlich ist, wenn man Ashleys kognitives Alter berücksichtigt, der Körper eines neuneinhalbjährigen Kindes angemessener und würdevoller als ein voll erwachsener weiblicher Körper.« Ashley’s Mom and Dad: The ›Ashley Treatment‹, S. 3. 59 | Vgl. J. Link: »Integration«. 60 | Gibt man bei Google die Schlagwortkombination »Ashley Treatment« ein, erhält man aktuell (23.07.2009) 14.700 Treffer. Auch bei Wikipedia fi ndet sich eine Fallbeschreibung: http://en.wikipedia.org/wiki/Ashley_Treatment vom 21.07.2009.

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flexible Normalisierung geht Hand in Hand mit der Normierung; es gibt sie nicht, ohne dass ein Preis zu zahlen wäre, und sei es den der Körperdisziplinierung.

Literatur Ashley’s Mom and Dad: »The ›Ashley Treatment‹: Towards a Better Quality of Life for ›Pillow Angels‹«. http://ashleytreatment.spaces.live.com/blog/ cns!E25811FD0AF7C45C!1837.entry?_c=BlogPart vom 07.01.2007. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1983. Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 1989. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 8. Aufl., Frankfurt a.M. 1989. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt a.M. 1999. Gottschall, Karin: Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs, Opladen 2000. Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004. Gugutzer, Robert/Schneider, Werner: »Der ›behinderte‹ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung, Bielefeld 2007, S. 31-53. Gunther, Daniel F./Diekema, Douglas: »Attenuating Growth in Children with Profound Developmental Disability: A new approach to an old dilemma«, in: Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine 160 (2006), S. 1013-1017. Klinger, Cornelia: »Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Münster 2003, S. 14-48. Link, Jürgen: »›Irgendwo stößt die flexibelste Integration schließlich an eine Grenze‹ – Behinderung zwischen Normativität und Normalität«, in: Sigrid Graumann/Katrin Grüber/Jeanne Nicklas-Faust/Susanna Schmidt (Hg.), Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel, Frankfurt a.M., New York 2004, S. 130-139. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3. erg., überarb. u. neu gest. Aufl., Göttingen 2006. New York Times (Hg.): Obama’s Victory Speech: Transcript (November 5, 2008). www.nytimes.com/2008/11/04/us/politics/04text-obama.html?_

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mehrdimensional verletzbar Eine Schwarze Perspek tive auf Ver wobenheiten z wischen Ableism und Sexismus Christiane Hutson

»[…] I am not wrong: Wrong is not my name My name is my own my own my own and I can’t tell you who the hell set things up like this but I can tell you that from now on my resistance my simple and daily and nightly self-determination may very well cost you your life« June Jordan1

Rassismus, Ableism und Sexismus haben einschneidende Auswirkungen auf die Realitäten von behinderten und kranken Frauen of Color. Ich möchte im Folgenden den Fragen nachgehen, wie sich zum einen die Verwobenheit zwischen diesen Machtdimensionen in meinen Alltag einschreibt. Zum anderen möchte ich anhand dieser Alltagserfahrungen die theoretische Konzeption von Verwobenheit vertiefen.

Ableism Ableism ist eine Ableitung des englischen Verbs »to be able«, was auf Deutsch »fähig sein« bedeutet. Die Endung »-ism« markiert, dass es sich um eine Ideologie, um ein in sich geschlossenes Gedankensystem handelt, welches gesellschaftliche Realitäten mit Gewalt hervorbringt. Damit ist unter anderem gemeint, dass menschliche Körper sowie unser Denken und Fühlen auf eine vorgegebene Weise zum Funktionieren gebracht werden und kontrollierbar sein müssen. Menschen, die diesen Vorgaben entsprechen kön1 | June Jordan: »Poem About My Rights«: www.poetryfoundation.org/archive/ poem.html?id=178526

62 | Christiane Hutson nen und wollen, verfügen über gesellschaftlich mehr Macht. Nur ihre Leben und Körper werden als schön, erstrebenswert und sinnvoll angesehen, ihre Gedanken gelten als »rational« und ihre Erfahrungen als allgemeingültig. Doch all dies ist nur deshalb möglich, weil die Körper, das Wissen und die Erfahrungen behinderter und kranker Menschen unsichtbar gemacht und zum Schweigen gebracht werden. Dieses unsichtbare Schweigen kann tödlich sein und trifft kranke und behinderte People of Color in besonderer Weise. Denn unsere Lebensrealitäten werden sowohl von weiß dominierten Behindertenbewegungen als auch innerhalb unserer jeweiligen Communities ausgeblendet. Wir brauchen uns, um unseren Überlebensstrategien und Erfahrungen das lebensnotwendige Vertrauen zu schenken. Für mich sind dabei zwei Punkte entscheidend: erstens, dass kranke und behinderte People of Color2 sich füreinander bemerkbar machen; zweitens, dass wir uns fragen, was es bedeutet, in einer rassistischen und sexistischen Gesellschaft krank oder behindert zu sein. Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Es ist mir dabei wichtiger, Räume zur Selbstreflexion offen zu halten, als abschließende Antworten zu geben.

Verwobenheiten Ich erfahre die Verwobenheit von Ableism und Sexismus aus einer Schwarzen Perspektive. Um diese Erfahrungen auszudrücken, fehlen Worte. Auf der theoretischen Ebene werden Verbindungen zwischen Rassismus, Sexismus und Ableism zwar durchaus für möglich gehalten, jedoch zumeist nicht innerhalb der eigenen Erfahrungen gesucht. Auf der subjektiven Ebene hingegen werden die eigenen Erfahrungen oft eindimensional dargestellt.3 Das bedeutet, die Gewalt nur einer Machtdimension zu reflektieren. Wenn ich etwa ausschließlich über Rassismus schreiben würde, könnte unterstellt werden, dass ich keine Erfahrungen mit Sexismus oder Ableism hätte oder aber Erfahrungen sexistischer oder ableistischer Gewalt angesichts rassistischer Gewalt unwichtig wären. Sie sind es nicht. Denn wir alle werden durch die Gewalt verschiedener Machtdimensionen verletzt – ganz gleich, ob wir in der Lage sind, dies mitzuteilen oder nicht.4 2 | »[…] teilen […] die gemeinsame, in vielen Variationen auftretende und ungleich erlebte Erfahrung, aufgrund körperlicher und kultureller Fremdzuschreibungen der Weißen Dominanzgesellschaft als ›anders‹ und ›unzugehörig‹ defi niert zu werden.« Kien Nghi Ha/Nicola Lauré al-Samarai/Sheila Mysorekar: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007, S. 12. 3 | Vgl. Maureen Maisha Eggers: »Kritische Überschneidungen: Die Kollektivierung von (interdependentem) Eigen-Sinn als identitätspolitische Herausforderung«, in: K. N. Ha/N. Lauré al-Samarai/S. Mysorekar (Hg.), re/visionen, S. 243-257, hier S. 244-246. 4 | Wichtig hierbei ist, dass die subjektive Schwierigkeit, mehrdimensionale

mehrdimensional verletzbar | 63

Mehrdimensionale Verletzbarkeit Um eine Möglichkeit zu haben, verschiedene und gleichzeitig wirkende Machtdimensionen in meinen Erfahrungen auszudrücken, verwende ich den Begriff mehrdimensionale Verletzbarkeit. Um zu zeigen, was ich damit meine, möchte ich eine exemplarische Situation genauer betrachten, die die Schwarze lesbische Dichterin und Aktivistin Audre Lorde in ihrem Krebstagebuch Auf Leben und Tod beschreibt: »Von dem Augenblick an, als ich ins Sprechzimmer des Arztes geführt wurde und er meine Röntgenaufnahmen sah, behandelte er mich mit offensichtlich routinierter Methode wie ein Kind. Als ich ihm sagte, ich wolle über eine Leberbiopsie erst einmal in Ruhe nachdenken, warf er einen Blick auf meine Karteikarte. Rassismus und Sexismus reichten sich über seinen Schreibtisch hinweg die Hände, als er sah, dass ich an einer Universität lehrte. ›Sie sehen aus wie ein intelligentes Mädchen‹, sagte er, und während er sprach, starrte er die ganze Zeit auf meine eine Brust. ›Wenn Sie diese Biopsie nicht sofort machen lassen, dann heißt das, Sie stecken den Kopf in den Sand.‹ Er fuhr fort, er wäre nicht verantwortlich, wenn ich eines Tages in der Ecke seines Sprechzimmers schreiend vor Schmerzen krepierte!«5

Der Arzt übt in dieser Situation Gewalt aus; unter anderem dadurch, dass er eine Schwarze Frau mit Krebs verkindlicht. Verkindlichung verweist auf eine adultistische Struktur und damit auf eine gesellschaftlich sanktionierte Machtform, mit der Erwachsene Kinder abwerten, um sich selbst zu privilegieren.6 Als Abwertungsstrategie greift sie jedoch auch in anderen Hierarchiedimensionen. Verkindlichung wertet zum Beispiel • innerhalb rassistischer Strukturen People of Color gegenüber Weißen ab • innerhalb sexistischer Strukturen Frauen, Lesben, Schwule, Trans und Queers gegenüber Hetero-Männern ab • innerhalb ableistischer Strukturen behinderte oder kranke Menschen gegenüber nicht behinderten und nicht kranken Menschen ab. Gewalterfahrungen zu reflektieren, unmittelbar mit machtvollen Ausgrenzungsstrukturen innerhalb subalterner Schutzräume und emanzipatorischer Bewegungen verstrickt ist. Eine genauere Skizzierung dieser Dynamik steht noch aus und kann deshalb an dieser Stelle nicht geleistet werden. 5 | Audre Lorde: Auf Leben und Tod. Krebstagebuch, Berlin 1994, S. 138. 6 | Diese und andere Gewaltformen von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen gründen auf der strukturellen Machtlosigkeit von Kindern und Jugendlichen gegenüber Erwachsenen. Diese wird generell als Adultismus bezeichnet. Vgl. ManuEla Ritz: »Adultismus – ein (un)bekanntes Phänomen: ›Ist die Welt nur für Erwachsene gemacht?‹«, in: Petra Wagner (Hg.), Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung, Breisgau 2008, S. 128-136.

64 | Christiane Hutson Der Arzt bezeichnet Audre Lorde – eine erwachsene Frau – als »intelligentes Mädchen«. Lorde selbst macht deutlich, in welchen Dimensionen sie dadurch verletzt wird. Einmal in Bezug auf Ableism: »Als ich ins Sprechzimmer des Arztes geführt wurde und er meine Röntgenaufnahmen sah, behandelte er mich mit offensichtlich routinierter Methode wie ein Kind.« Dann in Bezug auf Rassismus und Sexismus: »Rassismus und Sexismus reichen sich über seinen Tisch hinweg die Hände, als er sah, dass ich an einer Universität lehrte. ›Sie sehen aus wie ein intelligentes Mädchen‹, sagte er […]«. Und schließlich in Bezug auf alle drei Machtdimensionen gleichzeitig: »Während er sprach, starrte er die ganze Zeit auf meine eine Brust.« Zusammengefasst wird dabei deutlich, dass eine gewaltvolle Strategie – nämlich Verkindlichung – nicht nur mehrdimensional mit anderen Gewaltachsen wie Rassismus, Sexismus, Ableism verknüpft ist, sondern diese multiplen Verknüpfungen zugleich eine Vielschichtigkeit von Verletzungen erzeugen.

Mehrdimensionaler Verletzbarkeit Aufmerksamkeit schenken Die Dynamik zwischen einer mehrdimensional wirkmächtigen Strategie und einer dadurch entstehenden mehrdimensionalen Verletzbarkeit scheinen wir in unseren Alltagserfahrungen allerdings schwer zu durchschauen. Das wiederum führt dazu, dass wir unseren vielschichtigen Gefühlen von Verletztheit keine oder zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Diese Unaufmerksamkeit schadet uns. Ein Beispiel: Aufgrund der Krankheit, die ich habe, sind meine Ohrspeicheldrüsen angeschwollen. Diese Schwellung ist äußerlich an meinen Wangen, dem Übergang zwischen Nacken und Ohren und zum Teil auch an meinem Hals sichtbar. Ich bin mit einem meiner Kinder in der Innenstadt unterwegs. Eine Gruppe weißer männlicher gesunder Jugendlicher geht an uns vorbei. Ihre Blicke treffen auf meinen. Ich bekomme ein ungutes Gefühl und sehe den Jungen hinterher. Sie stoßen sich gegenseitig an, kichern, drehen sich zu mir um. Einer von ihnen formt mit seinen Händen meine geschwollenen Wangen nach. Ich wende mich meinem Kind zu und sage: »Bleib genau hier stehen. Ich bin gleich wieder da!« Dann laufe ich den Jungen hinterher und schlage zweien von ihnen auf den Rücken. Als sie sich zu mir umdrehen, rufe ich: »Ihr seid echt Arschlöcher!« und gehe zurück zu meinem Kind. Wenn ich von dieser Situation erzähle, werde ich meist für meinen Mut und mein offensives Verhalten bewundert und gelobt. Aber ich habe mich in der gesamten Situation weder offensiv noch mutig gefühlt, sondern entwertet, verletzt, unsicher, verspottet, wütend und schutzlos. Bereits durch den ersten Blickkontakt mit den Jungen fühlte ich mich entwertet, weil ich spürte, dass ihre Blicke mich als »krank« markierten und sie mich aufgrund dessen weder attraktiv noch ernst zu nehmen schienen.

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Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, dass ich überhaupt Wert darauf legte, von diesen Jungen als Hetera ernst genommen zu werden. Ich fühlte mich angesichts ihrer abwertenden Blicke machtlos. Dieses Gefühl wollte ich so schnell wie möglich loswerden, wobei mein erster Impuls darin bestand, selbst Macht auszuüben. Die Option, die mir einfiel, war, adultistisch zu handeln, das heißt so zu tun, als wäre mir als Erwachsener die Meinung von Jugendlichen egal. Diese Strategie funktionierte jedoch nicht, denn ich höre nicht auf, mich selbst machtlos zu fühlen, indem ich mein Gegenüber entmächtige. Viel entscheidender ist, dass ich aufhöre, meinem Gegenüber Macht über mich zu geben. Hinsichtlich der beschriebenen Situation zwischen den Jungen und mir bedeutet das, dass ich mich als kranke Schwarze nicht schlecht und hässlich fühlen muss, weil »gesunde« weiße Jungen mich so wahrnehmen. Anders ausgedrückt: Die Meinung von »Gesunden« Weißen braucht für mich nicht handlungsweisend zu sein, und zwar deshalb, weil Denkprozesse, Reaktionen und Wünsche aus unreflektiert »gesunden« bzw. »nicht-behinderten« weißen männlichen Perspektiven keinerlei Informationen beinhalten, die für mein Überleben als Schwarze kranke Frau wichtig wären. Diese Erkenntnis kam mir allerdings erst später. Zum jenem Zeitpunkt misstraute ich lediglich der adultistischen Vorstellung, mächtiger zu sein als die Jugendlichen und erinnerte mich stattdessen an rassistische Beschimpfungen, wie sie mir in meiner Jugendzeit von weißen gesunden Mitschülern an den Kopf geworfen worden sind. Damals spürte ich ebenfalls das verletzende Gefühl, entsexualisiert zu werden, und das war der eigentliche Grund, die Jungen zur Rede zu stellen. Ich wollte fordern, dass sie sich nicht länger über eine Krankheit lustig machen sollten, die ich habe und sie nicht, aber ich hatte Angst, daraufhin von ihnen rassistisch angegriffen zu werden. Also versuchte ich, diese unangenehmen Gefühle und Erinnerungen zu übergehen und redete mir ein: »Ach, die haben vielleicht gar nicht mich angeschaut. Oder vielleicht haben sie schon mich angeschaut, aber ohne böse Absicht.« Doch auch da war ich mir unsicher. Der Blick zurück bestätigte meine Ahnung, denn ich sah, wie schon beschrieben, dass einer der Jungen die Umrisse meines Gesichts mit seinen Händen an seinem Gesicht nachahmte. Abgesehen davon, dass die Jugendlichen sich mir gegenüber offen gewaltvoll verhielten, schienen sie davon auszugehen, dass ich ihre Gewalt kommentarlos hinnehmen würde. Während es sie belustigte, mir gegenüber Macht auszuüben, konnte ich kaum glauben, wie sehr mich eben das verletzte. Über diese Unverhältnismäßigkeit wurde ich so wütend, dass ich die Kontrolle über mich verlor, mein Kind allein stehen ließ und die Jungen schlug und beschimpfte. Als ich zu meinem Kind zurückging, bekam ich Angst. Ich fühlte mich schutzlos, denn mein Verhalten hatte mich einer gefährlichen Situation ausgeliefert. Die Jungen waren in der Überzahl. Was hätte ich tun können, wenn sie auf meinen körperlichen Angriff reagiert hätten? Hätte ich auf die Hilfe umstehender Leute hoffen können? Warum war mir meine Rache an den Jungen wichtiger gewesen, als bei meinem Kind zu bleiben? Hatte mein

66 | Christiane Hutson Verhalten meinem Kind Angst gemacht? Auch wenn ich die letzte Frage mit einem klaren »nein« beantworten kann, hinterließen alle anderen bei mir das ungute Gefühl, dass irgendetwas für mich schief gelaufen war. Am schlimmsten war für mich, so lange in dieser gewaltvollen Situation zu bleiben, denn bereits durch den ersten Blickkontakt mit den Jungen fühlte ich mich verletzt. Und dann fing ich an darüber nachzudenken, ob ich überhaupt das Recht habe, mich verletzt zu fühlen. Aber warum sollte ich kein Recht darauf haben, von Jugendlichen als erwachsene heterosexuelle Frau anerkannt zu werden, wenn augenscheinlich die meisten anderen Frauen um mich herum eine solche Anerkennung beanspruchen konnten? Indem ich mir mein Recht auf Unverletztheit absprach, war ich nicht nur unfähig, meine Machtposition als Erwachsene gegenüber den Jungen als gegeben anzuerkennen, sondern erinnerte mich direkt an rassistisch-sexistische Beschimpfungen in meiner Jugendzeit. Im Grunde hatte ich die Mehrdimensionalität meiner Verletzbarkeit in dieser Situation erfasst. Mir war klar, dass das Aufeinandertreffen zwischen den Jungen und mir in einem machtvollen, von den Koordinaten Adultismus, Ableism, Sexismus und Rassismus bestimmten Raum stattfand. Unglücklicherweise ging ich davon aus, dass ich meine Verletzbarkeit gering halten könnte, wenn ich die Jungen lediglich schweigend beobachtete. Das heißt, mir war nicht klar, dass meine mehrdimensionale Verletzbarkeit unabhängig von der konkreten Absicht meines Gegenübers existiert. Ich bin mehrdimensional verletzbar, weil ich in einer Gesellschaft lebe, deren Strukturen unter anderem adultistisch, ableistisch, rassistisch und sexistisch unterlegt sind. Diese Einsicht entging mir in der geschilderten Situation aus zwei Gründen: Zum einen war ich unsicher, ob die Blicke der Jungen »tatsächlich« gewaltvoll waren, weil ich Klarheit irrtümlich mit Eindimensionalität gleichsetzte. Da ich mich bereits verletzt fühlte, waren die Blicke der Jungen tatsächlich gewaltvoll, obwohl unklar bleibt, ob die Jungen mich bewusst in Bezug auf mehrere Machtdimensionen verletzen wollten. Zum anderen dachte ich, erst dann verletzbar zu sein, wenn ich weiß, wodurch eine Handlung für mich gewaltvoll wird, das heißt, ich zweifelte daran, dass Blicke mich so verletzen konnten. Aufgrund dieses Zweifels habe ich weiter Gewalt über mich ergehen lassen – so lange, bis ich schließlich die Kontrolle über mich verlor. Obwohl ich es fühlen konnte, war ich in dieser Situation unfähig zu verstehen, dass Gewalt mein Selbst verletzt; dass ich mit allem, was mich ausmacht, verletzt werde. Auch wenn ich tatsächlich »nur« aufgrund meiner Krankheit von irgendwelchen Leuten auf der Straße angestarrt würde, dann starren sie dennoch mich an – und verletzen damit eine ErwachseneSchwarze-Frau-Mutter-Hete, die unter anderem eine Krankheit hat. Zusammengefasst hoffe ich, dass dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig und schwierig es ist, den vielschichtigen Verletzungen, die wir erfahren, Aufmerksamkeit zu schenken. Mit dem Begriff der mehrdimensionalen Verletzbarkeit wende ich mich deshalb im Kern unseren Erfahrungen von Ge-

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walt zu. Nur das, was wir wahrnehmen können, sind wir in der Lage, auch zu versorgen. Und ich finde es nahe liegender, meine Verletzungen zu versorgen, als darüber zu spekulieren, mit welcher Absicht Gewalt gegen mich ausgeübt wurde oder wird. Meinen Erfahrungen Aufmerksamkeit zu schenken, bedeutet auch, mich zu erinnern. Denn Erfahrung entsteht erst, wenn ich das, was ich erlebe, mit Dingen, die ich schon weiß und erlebt habe, in Beziehung setze und kontextuell verknüpfe.

Rassistisch verletzende Erfahrungen von Behinderung und Krankheit Bereits in den 1990er Jahren verweist die Schwarze Deutsche Dichterin, Akademikerin und Aktivistin May Ayim in ihrem Essay Weißer Stress und Schwarze Nerven darauf, dass Rassismus für Schwarze Menschen ein allgegenwärtiger Stressfaktor ist und es für Schwarze Menschen in »akuten Krisensituationen keinen Ort gibt, der frei von Rassismus ist.«7 Sie führt aus: »Die meisten der bisher vorliegenden Untersuchungen zur psychosozialen Situation von MigrantInnen und Schwarzen Deutschen […] sind medizinisch und symptomorientiert ausgerichtet. Höchst selten bringen WissenschaftlerInnen ihr Forschungsinteresse offen zum Ausdruck und reflektieren selbstkritisch ihre Position und Untersuchungsmethoden. […] Häufigkeit und Ausprägung einzelner Krankheitsbilder stehen im Blickpunkt des Interesses, nicht aber die persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungszusammenhänge, innerhalb derer diese Krankheiten entstehen.« 8

Das wiederum bedeutet, dass Erfahrungen von Krankheit und Behinderung unauflöslich und häufig unreflektiert mit rassistischen Verletzbarkeiten verbunden sind. Ein Beispiel: Mit ungefähr vierzehn Jahren wurde bei mir eine – wie man mir sagte – »seltene, aber nicht bösartige« Krankheit diagnostiziert und festgestellt, dass mein Vater (der ebenfalls Schwarz ist) wohl auch dieselbe Krankheit hätte. Mein Vater war bis dahin schon längere Zeit krank, ohne dass genau klar war, was ihm überhaupt fehlte. Wie wir von dieser Krankheit kuriert werden könnten, wusste niemand. Man teilte uns lediglich mit, dass eigentlich kaum etwas über die Krankheit bekannt sei, außer, dass sie »eher bei Menschen aus der Karibik« auftreten würde. Sicherlich kann es sein, dass bei »Menschen aus der Karibik«, also 7 | May Ayim: »Weißer Stress und Schwarze Nerven«, in: Dies., Grenzenlos und unverschämt, Frankfurt a.M. 2002, S. 111-132, hier S. 129. 8 | Ebd.

68 | Christiane Hutson Schwarzen Menschen, diese Krankheit »eher« in Erscheinung tritt. Ich frage mich allerdings, warum es den Ärztinnen und Ärzten so wichtig war, meinen Vater und mich immer wieder darauf hinzuweisen. Welche Informationen liefert dieser Hinweis? In welchen Zusammenhängen stiftet er Sinn? Im Kontext von Heilung – die ja bisher ausgeschlossen wird – jedenfalls nicht. Anders ist es in Bezug auf die Machtdimensionen Rassismus und Ableism, die in dieser Aussage fest miteinander verwoben werden. Mein Vater und ich werden durch rassifizierende Blicke als »Menschen aus der Karibik« gesehen, und spezifische Krankheitssymptome direkt an unser Schwarzsein gekoppelt. Infolgedessen erscheinen wir innerhalb der Machtdimensionen von Rassismus und Ableism als krank, weil wir Schwarz sind bzw. als Schwarz, weil wir eine spezifische Krankheit haben. Auf diese Weise erklären sich die Konstruktionen von »Rasse« und »Krankheit« wechselseitig für wahr. Genau diese Verknüpfung macht es notwendig, Verletzbarkeit mehrdimensional zu denken, denn ich erfahre Ableism auch als rassistische Gewalt.

»Schwarze Menschen gefügig machen«: Heilen in der Gegenwart der kolonialen Vergangenheit Eine Möglichkeit, um zu verstehen, warum der Erfahrungsbezug zwischen rassistischer und ableistischer Gewalt so eng ist, bieten postkoloniale Theorieansätze. Diese verstehen Kolonialismus als unabgeschlossenes weißes Herrschaftsprojekt. Davon ausgehend wird überprüft, ob und wie gegenwärtige Denk-, Erfahrungs- und Verhaltensmuster koloniale Herrschaft fortführen. Auf diese Weise können umfassende gesellschaftspolitische Maßnahmen und banal erscheinende Alltagssituationen als gewaltvolle Gegenwart einer kolonialen Vergangenheit offen gelegt werden. Verdeutlichen lässt sich dies beispielsweise anhand der Arbeit Regina Banda Steins. In ihrem Aufsatz Schwarze deutsche Frauen im Kontext kolonialer Pfl egetraditionen oder Von der Alltäglichkeit der Vergangenheit zeigt sie den Zusammenhang zwischen einem kolonialen Verständnis von Krankenpflege und den gegenwärtigen Erfahrungen von Schwarzen deutschen Krankenschwestern auf. Für mich ist ihr Hinweis, dass Heilen im »weißen missionarischen Pflegekonzept« eine doppelte Bedeutung umfasste, vor diesem Hintergrund besonders wichtig: »Heilen als Prozess umfasste nicht nur jene pflegerische Tätigkeit, die den weißen Menschen gesund machen sollte, sondern […] der Schwarze Mensch musste, bevor er ›gesunden‹ konnte, christianisiert und damit im übertragenen Sinne kulturell ›gebrochen‹, ›zahm‹ und ›gefügig‹ gemacht werden.« 9 9 | Regina M. Banda Stein: »Schwarze Frauen im Kontext kolonialer Pflegetraditionen oder von der Alltäglichkeit der Vergangenheit«, in: Maureen Maisha Eggers/ Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte.

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Rassistische Gewalt ist damit grundlegend in den »Heilungsprozess« von Schwarzen Menschen eingebunden. Das bedeutet, dass für Schwarze Menschen und People of Color spezifische Konzeptionen von Heilung und damit auch von Krankheit beziehungsweise Behinderung kreiert wurden und immer noch werden, die sich von denen weißer behinderter oder kranker Menschen strukturell unterscheiden. Kranke und behinderte People of Color können dadurch ableistischen und rassistischen Strukturen ausgesetzt sein, die weder weiße kranke oder behinderte Menschen noch »gesunde« nichtbehinderte People of Color erfahren. Ein letztes Beispiel: Während meiner ersten gewollten Schwangerschaft wurde meine Entscheidung, mit Krankheit ein Kind zu bekommen, seitens der mich behandelnden Ärzte und Ärztinnen offen missbilligt. In einer Situation eskalierte das Gespräch zwischen meinem weißen gesunden Hausarzt und mir. Er schrie mich an, • dass ich den Kopf nicht in den Sand stecken solle (das scheint eine unter MedizinerInnen recht verbreitete Einschüchterungsstrategie zu sein), • dass er und seine Frau aufgrund ihres Alters auch getestet hätten, ob ihr Kind gesund werden würde, • dass ich aufgrund von Komplikationen, die meine Krankheit im Zusammenhang mit der Schwangerschaft verursachen könnte, sterben könne und mein (weißer deutscher) Mann dann alleine mit dem Kind dastünde. Die Erinnerung an diese Situation hinterlässt bei mir zwei miteinander verknüpfte Eindrücke. Während der Arzt meine Entscheidung für irrational, unverantwortlich und egoistisch hält, habe ich das Gefühl, Krankheit mit anderen Erfahrungen zu verknüpfen als er, was von ihm darüber hinaus gänzlich abgelehnt wird. Beides verdeutlicht sich für mich darin, indem er mir mittels einer metaphorischen Redewendung das aus »Menschenperspektive« unverständliche Verhalten vorwirft, einer Gefahr entgehen zu wollen, indem man vorgibt, sie nicht zu sehen. Der Arzt versteht in dieser Situation Krankheit also als Gefahr. Aber Krankheit ist eine Alltäglichkeit. Sie ist existent und unumgänglich. Wir haben folglich keine Wahl, sondern unterschiedliche Positionen hinsichtlich unserer Verletzbarkeit innerhalb der Machtdimension Ableism. Denn: Sobald ich beispielsweise außer Haus bin, muss ich damit rechnen, mit gewaltvollen Blicken als »krank« markiert zu werden. Ich finde diese Situationen verletzend, oftmals habe ich auch Angst oder vermeide es, draußen zu sein. Aber – und das ist der Kernpunkt meines Beitrages – wenn ich schon verletzt werde, dann halte ich es für notwendig, meinen Verletzungen Aufmerksamkeit zu schenken. Der Arzt scheint hingegen die Vorstellung zu Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 189-202, hier S. 190.

70 | Christiane Hutson haben, seine Verletzbarkeit in Bezug auf Ableism kontrollieren zu können, doch wird auch er durch Ableism verletzt. Und zwar in dem Moment, in dem Krankheit ihm soviel Angst macht, dass er ein gesundes Kind möchte. Da er jedoch seine eigene Verletzbarkeit innerhalb von Ableism verneint, kann er seinerseits ableistische Gewalt anwenden und meine Erfahrungszusammenhänge als irrational sowie mich selbst als verantwortungslos und egoistisch abwerten. Diese Situation erlebte ich in abgeschwächter Form auch mit anderen Ärztinnen und Ärzten, weshalb ich mich dafür entschied, das Kind ausschließlich mit der Unterstützung von Hebammen zur Welt bringen. Doch als das Baby in meinem Bauch wenige Wochen vor dem Geburtstermin weiterhin mit dem Kopf nach oben lag, drängten mich die Hebammen zu einen Kaiserschnitt im Krankenhaus. Ich war enttäuscht und fühlte mich ausgeliefert. Meine Angst davor, das Kind gänzlich ohne professionelle Unterstützung zur Welt bringen zu müssen, war so groß, dass ich in den Kaiserschnitt einwilligte. Am Operationstermin lag ich mit betäubten und gespreizten Beinen im gynäkologischen Stuhl. Es verunsicherte mich, in diesem Stuhl zu liegen. Ich konnte meine Arme kaum bewegen. Um meinen linken Arm lag eine Blutdruckmanschette. An meinem rechten Finger klemmte ein Pulsmessgerät. In derselben Hand steckte eine Kanüle. Aus meiner Position konnte ich den Raum und die Leute darin nur teilweise sehen. Niemand sprach mit mir. Also hörte ich den Gesprächen des Personals zu. Ein Arzt schien gerade aus dem Urlaub zurückgekommen zu sein. Das Gespräch wanderte in meine Richtung, bis schließlich eine Krankenschwester und der Arzt über mir standen. Verschmitzt fragte die Krankenschwester den Arzt: »Und, haben Sie eine rassige Griechin mitgebracht?«

Ableistische Privilegierung durch rassistische und sexistische Gewalt? Für meine Erfahrung dieser Situation ist es belanglos, ob ich mit »rassiger Griechin« gemeint bin oder nicht. Wesentlicher ist, dass sich das in dieser Situation von mir Gehörte innerhalb meines Verständnisrahmens sofort mit einem gängigen Dominanzmuster kolonialen Ursprungs verknüpfte. Ob ich wollte oder nicht: Im übertragenen Sinne fühlte ich mich in diesem Moment als exotisch-erotisches Objekt. Bedeutsam ist hierbei, dass die Krankenschwester mit ihrer Frage eine koloniale Geste wiederholt, in der weiße Frauen Schwarze Frauen abwerten, um am kolonialen Machtgewinn weißer Männer teilhaben zu können. Koloniale Macht wird dabei nicht nur insbesondere durch die sexualisierte Gewalt weißer Männern gegenüber Schwarzen Frauen versinnbildlicht, sondern zugleich werden dadurch die Überlebens- und Widerstandsstrategien Schwarzer Frauen verschüttet. Letztere erscheinen weißen Männern gegenüber entweder als willig oder handlungsunfähig. Die Vergegenwärtigung dieses Aspektes der kolonialen

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Vergangenheit geschieht in einer Situation, in der ich mich zum einen in einer gleichermaßen erotisch wie schambesetzten Haltung befi nde. Zum anderen ist meine Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Aufgrund dessen erfahre ich mich in dieser Situation in den Machtdimensionen Rassismus, Sexismus und Ableism verletzbar. Oberflächlich betrachtet könnte meine Verletztheit gerade in Bezug auf Ableism aufgrund der an mich angeschlossenen Apparaturen und der Taubheit in meinen Beinen bestehen, denn dadurch bin ich in der Tat unbeweglich. Etwas anderes erscheint mir an dieser Stelle jedoch viel entscheidender: Für mich ist mein mit dem Kaiserschnitt verbundener Aufenthalt im Operationssaal eines Krankenhauses ein äußerst unwilliges und erzwungenes Fügen in ableistische Gewalt. Nicht die bei mir diagnostizierte Krankheit stellt eine Bedrohung meiner Schwangerschaft dar, sondern die ärztliche Infragestellung meiner Entscheidung, ein Kind zu bekommen. Und genau in der Situation, in der ich mich schließlich notgedrungen unter ärztliche Aufsicht begeben muss, werde ich auf eine sehr intensive Weise rassistisch und sexistisch verletzt. Das heißt, die Machtdimension Ableism zeichnet sich für mich gerade dadurch aus, dass ich »gefügig« gemacht werden soll. Ich soll rassistische und sexistische Gewalt kommentarlos über mich ergehen lassen. Wenn ich das tue, so wird mir versprochen, bleibe ich gesund. Wobei »gesund bleiben« meint, darauf zu warten, dass ich innerhalb der Machtdimension Ableism privilegiert werde. Angesichts der Gewalt, der ich mich aussetzen muss, wenn ich selbst diese Privilegierung erwarte, hoffe ich, dass es mir noch oft möglich ist zu sagen: Nein, danke!

Literatur Ayim, May: »Weißer Stress und Schwarze Nerven«, in: Dies., Grenzenlos und unverschämt, Frankfurt a.M. 2002, S. 111-132. Eggers, Maureen Maisha: »Kritische Überschneidungen: Die Kollektivierung von (interdependentem) Eigen-Sinn als identitätspolitische Herausforderung«, in: Kien Nghi Ha/Nicola Lauré al-Samarai/Sheila Mysorekar (Hg.), re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007, S. 243-257. Ha, Kien Nghi/Lauré al-Samarai, Nicola/Mysorekar, Sheila (Hg): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007. Jordan, June: »Poem About My Rights«: www.poetryfoundation.org/archive/ poem.html?id=178526 Lorde, Audre: Auf Leben und Tod. Krebstagebuch, Berlin 1994. Ritz, ManuEla: »Adultismus – ein (un)bekanntes Phänomen«, in: Petra Wagner (Hg.), Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung, Breisgau 2008, S. 128-136.

72 | Christiane Hutson Stein, Regina M. Banda: »Schwarze Frauen im Kontext kolonialer Pflegetraditionen oder von der Alltäglichkeit der Vergangenheit«, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 189-202.

Shif ting the Paradigm: »Behinderung, Heteronormativität und Queerness« Heike Raab

Diesen Beitrag möchte ich mit einer kurzen Zeitdiagnose über die neuartige mediale und öffentliche Sichtbarkeit von bislang minorisierten Existenzweisen in spätkapitalistischen Gegenwartsgesellschaften beginnen. Den Startschuss hierfür gab sicherlich die öffentliche Auf- um nicht zu sagen Zubereitung der neuen Frauenbewegung durch massenmediale Darstellungsweisen der so genannten emanzipierten Frau. Mittlerweile haben weitere Randgruppen gleichgezogen bzw. scheinen auf dem besten Weg einer medialen Öffentlichkeit und Sichtbarkeit angelangt zu sein. So mutieren inzwischen Menschen mit Behinderung zu Fernseh-, Opern- oder Popstars, sie gehören sozusagen zum gängigen Darstellungsrepertoire von Film, Fernsehen sowie den Printmedien. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei Lesben und Schwulen konstatieren. Man denke etwa an die TV-Serie Lindenstraße oder daran, dass inzwischen in der US-amerikanischen Filmindustrie selbst in einem Genre-Klassiker wie dem Cowboyfi lm (Western) Homosexualität weder tabuisiert noch unsichtbar gemacht wird. In den folgenden Ausführungen sollen die Ambivalenzen dieser neuartigen Sichtbarkeit 1 von bislang minorisierten Existenzweisen diskutieren werden. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Bedeutung von Behinderung als kulturellem Phänomen. Dabei wird eine aus dem US-amerikanischen Kontext stammende Forschungsperspektive aufgegriffen, die unter dem Motto »Queer Theory meets Disability Studies«2 Verbindungslinien zwischen Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht analysiert.

1 | Vgl. Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, Bielefeld 2008. 2 | Vgl. Robert McRuer/Abby L. Wilkerson: »Desiring Disability: Queer Theory Meets Disability Studies«, in: GLQ – A Journal of Lesbian and Gay Studies, 1-2 (2003), S. 1-23.

74 | Heike Raab D.h. zunächst werden Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht als gegenseitige Hervorbringungs- und Durchdringungsverhältnisse diskutiert, die zudem in ebenso komplexe wie paradoxe Macht- und Herrschaftsbezüge eingelassen sind. Eine kritische Diskussion der Triade Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht bietet dabei neue Einsichten in Behinderung als Analysekategorie und Untersuchungsfeld. Meiner Meinung nach ist es insbesondere ein daraus resultierender intersektionaler Forschungsansatz, der die Forschungen zu Behinderung bereichert und eine neue Perspektive einführt. Versteht man Behinderung als kulturelle Problematisierungsweise, so bietet gerade ein intersektionales Verfahren, das auf einem multiplen Behinderungsbegriff basiert, ein geeignetes methodisches Handwerkszeug zur Analyse von Behinderung in medialen Inszenierungen. D.h. erst die Anwendung einer intersektionalen Perspektive erlaubt es, die verschiedenen, sich mitunter widersprechenden Ebenen von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht in den medialen Darstellungsweisen von Behinderung adäquat zu erfassen. Darauf auf bauend werde ich auf das innerhalb queerer Theoriebildung entwickelte Konzept von Queerness eingehen. Queerness steht in der Queer Theory für die politische Praxis verschiebender Körpernormen bzw. von Körperpolitiken. Jenes Konzept der verqueerenden Körperpolitiken soll dabei in den Kontext aktueller Körpertheorien gestellt werden, denn in diesen Theorien wird der Körper als maßgeblicher Bestandteil bzw. als Grundlage sozialer Ordnung konzipiert. In diesem Sinne verkörpern Körper im wahrsten Sinne des Wortes soziale und kulturelle Normen. Nicht zuletzt aus diesem Grund streben Körperpolitiken wie Queerness über die Techniken der Entnormalisierung des Körpers eine Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung an. Gerade Sichtbarkeit und Öffentlichkeit gelten hierbei als ein Mittel zur und ein Versprechen auf Selbstermächtigung bzw. als eine Form von Selbstbestimmung, um Gesellschaft zu verändern. Körperpolitiken als öffentliche Inszenierungen des Selbst sind somit eine – wie sich noch herausstellen wird – widersprüchliche Form des Eingreifens in soziokulturelle Normen. Hauptsächlich Foucault arbeitet in seinen machttheoretischen Studien diese Paradoxie und Doppeldeutigkeit von Körperpolitiken heraus. Wie Foucault darlegt, sind körperliche Praxen unauflöslich in jene soziokulturellen Normen, Differenzen und Ungleichheiten verstrickt, gegen die eigentlich angegangen werden soll. Insofern wandeln Körperpolitiken auf einem schmalen Grad zwischen emanzipatorischer Selbstermächtigung, der Gefahr von Selbstunterwerfung und neoliberaler Selbstführung.3 Körper als Praxis sind somit im

3 | Vgl. Paula Irene Villa: »Habe den Mut dich deines Körpers zu bedienen«, in: Dies. (Hg.), schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 245-273, hier S. 267.

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Spannungsfeld der, von Foucault so bezeichneten, Selbst- und Fremdtechnologien im Zeitalter der neoliberalen Gouvernementalität zu analysieren. Wenn verkörperte Einschreibungen in medialen Inszenierungen entlang der Triade Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht kritisch untersucht werden sollen, gilt es somit, die unhinterfragte Kausalität zu hinterfragen, die davon ausgeht, dass ein Mehr an Sichtbarkeit und Öffentlichkeit zugleich auch ein Mehr an Emanzipation bedeutet. 4 D.h. es steht zur Disposition, ob das Unterfangen einer medialen Öffentlichkeit von markierten, sprich minorisierten Körpern in der Lage ist, hegemoniale Vorstellungen von Behinderung anzufechten. In dieser Hinsicht gilt es einmal zu fragen, inwieweit kontemporäre Bildproduktionen von Behinderung bzw. von behinderten Körpern vorherrschende Normen und minorisierte Positionen tendenziell eher affi rmieren, anstatt diese produktiv zu unterlaufen. Dies bedeutet: Es ist eine normenkritische Analyse nötig. Zum anderen ist zu diskutieren, welche Darstellungsweisen von Behinderung in welcher Öffentlichkeit überhaupt zum Einsatz kommen. D.h. es ist außerdem eine repräsentationskritische Analyse erforderlich. Anhand zweier Bildanalysen über Darstellungen körperbehinderter Frauen, die ich als eine Variante von Körperpolitik verstehe, möchte ich diese Fragen mit Bezug auf die komplexe Verwobenheit von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht aufgreifen.

Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht Um eine Verhältnisbestimmung von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht vornehmen zu können, soll zunächst auf die feministische Intersektionalitätsdebatte eingegangen werden. Historisch betrachtet steht die feministische Intersektionalitätsforschung einerseits in der Tradition des Streits um Differenz5 unter Frauen, der in seiner jüngsten Ausrichtung zur Krise der Kategorie Geschlecht6 mutierte und eine Debatte um Identitäten, Identitätskategorien und Identitätspolitiken im akademischen wie bewegungspolitischen Feminismus auslöste. Im Kern ging es in der Diskussion über Identität um die Erkenntnis, dass Identitäten keine homogenen Einheiten sind und deswegen z.B. nicht von einem feministischen Kollektivsubjekt Frau ausgegangen werden kann. Die durch Judith Butler7 entfachte Debatte um Identitätskonzepte des Feminismus machte deutlich, dass die homogen und kollektiv gedachten feministischen Identitätskategorien wie Frau, Lesbe und Geschlecht potentiell 4 | Vgl. J. Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, S. 51. 5 | Vgl. Seyla Benhabib/Drucilla Cornell/Nancy Fraser (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1993. 6 | Vgl. Feministische Studien: Kritik der Kategorie Geschlecht, 2 (1993). 7 | Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991.

76 | Heike Raab auf dem Ausschluss von Pluralität und Differenz beruhen und andere gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse wie beispielsweise Homophobie analytisch nicht erfassen können. Die Debatte demonstrierte die Perspektivenverengung einer Ein-Differenz-Disziplin, wie es der akademische Feminismus weitgehend aufgrund des ausschließlich auf Geschlecht konzentrierten Untersuchungsgegenstandes ist.8 Es wurde deutlich, dass Analysekategorien, die auf Vorstellungen homogener Identitäten beruhen, weder der Komplexität von Geschlechterverhältnissen gerecht werden noch deren widersprüchliche Regulation in spätkapitalistischen Gesellschaften analysieren können. Gleichwohl hat sich Intersektionalität als ein Ansatz etabliert, der überwiegend auf die Erforschung der Triade »Rasse«, Klasse, Geschlecht fokussiert. Diese Fokussierung hängt damit zusammen, dass der Begriff im Rahmen der innerfeministischen Auseinandersetzung um den Ausschluss von Frauen aus Bewegung und Forschung aufgrund von »Rasse« bzw. Ethnizität entstand.9 Insofern liegt ein weiterer historischer Ursprung von Intersektionalität im anglo-amerikanischen Sprachraum, in dem vor allem in den 1970er und 1980er Jahren schwarze Frauen und Women of Colour die Leerstellen feministischer Theorien und Politiken kritisierten. 10 Innerhalb dieser innerfeministischen Auseinandersetzung um die Verwobenheit von Rassismus und Sexismus etablierte sich Intersektionalität als Analysemodell. Der Begriff Intersektionalität wurde hierbei international stark von der US-amerikanischen Jura-Professorin Kimberlé Crenshaw11 geprägt. Kurzum: Intersektionalität hat seine Wurzeln in der feministischen Identitätsdebatte und der feministischen race/gender Diskussion. Im Mittelpunkt stehen Fragen zu dem Ausschluss von Differenz und Ungleichheit sowie das Verhältnis unterschiedlicher Differenz bzw. Ungleichheit generierender Achsen des Sozialen zueinander. Angesichts des begriffsgeschichtlichen Kontextes von Intersektionalität wird jedoch hauptsächlich um die theoriepolitische Konzeptionalisierung von »Rasse«, Klasse, Geschlecht in der feministischen Debatte um Pluralität, Heterogenität, Differenz und Ungleichheit gerungen. Bislang stehen Hete8 | Vgl. Gabriele Dietze: »Race, Class, Gender. Differenzen und Interdependenzen am Amerikanischen Beispiel«, in: Die Philosophin 23 (2001), S. 30-49. 9 | Vgl. Heike Raab: »Intersektionalität in den Disability Studies«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielfeld 2007, S. 127-151. 10 | Vgl. Kathy Davis: »Intersectionality in Transatlantic Perspective«, in: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp (Hg.), ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008, S. 19-38; Heike Raab: »Intersektionalität in den Disability Studies«, S. 127-148. 11 | Vgl. Leslie McCall: »The Complexity of Intersectionality«, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 3 (2005), S. 1771-1800.

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ronormativität und/oder Behinderung zumeist nicht im Zentrum der Intersektionalitätsdebatte, auch wenn eine zögerliche Aufweichung der Triade Rasse, Klasse, Geschlecht zu bemerken ist.12 Intersectionality, so der US-amerikanische Begriff, wurde im deutschsprachigen Bereich mit »Überkreuzungen« übersetzt, wobei das Produktive an diesem Ansatz ist, dass der Begriff deutungsoffen bleibt, denn er sagt zunächst nichts darüber aus, was sich kreuzt: Kategorien, Differenz- bzw. Ungleichheitsachsen oder Identitäten.13 Damit sind genau jene Aspekte angesprochen, die für eine intersektionale Erforschung von Behinderung von Belang sind. D.h. eine am Konzept der Intersektionalität orientierte Theorie integriert zum einen unterschiedliche aber dennoch miteinander verflochtene Achsen der Differenz und Ungleichheit. Zum anderen veranschaulicht ein intersektionaler Ansatz, dass Analysekategorien relational und interdependent sind. Es wird davon ausgegangen, dass eine einzige Leitkategorie nicht ausreicht, um der Komplexität gegenwärtiger Macht- und Herrschaftskonfigurationen in spätkapitalistischen Gegenwartsgesellschaften zu erfassen. Schlussendlich verweist das Intersektionalitätskonzept darauf, dass Identitäten in vielschichtige und historisch bedingte Macht- und Herrschaftsverhältnisse involviert sind. Insofern ist Identität selbst von Pluralität und Heterogenität durchzogen und auch nicht herrschaftsfrei zu denken. Als Analyseinstrument begründet der Intersektionalitätsgedanke damit ein multiples Verständnis von Behinderung, da die Erforschung von Behinderung alle jene genannten Ebenen und Aspekte umfasst: Behinderung als multiples Konzept bedeutet davon auszugehen, dass Behinderung durch verschiedene gesellschaftliche Achsen wie z.B. Rassismus, Homophobie, Klasse oder Sexismus (mit-)reguliert wird und umgekehrt. Der Hinweis auf die historische Bedingtheit und die Vielfältigkeit von Behinderung zeugt hingegen davon, dass analytische Verfahren auf der Grundlage homogenisierender Identitäten die Heterogenität und entsprechend die vielschichtigen Konstruktionsprozesse von Behinderung konzeptionell nicht zu bestimmen vermögen. Aus intersektionaler Sicht ist Behinderung als Masterkategorie der Disability Studies deshalb nicht identitätsparadigmatisch ausgerichtet. Vielmehr wird von Behinderung als einer interdependenten Analysekategorie ausgegangen. Erst eine intersektionale Herangehensweise ermöglicht es, jene oben genannte Pluralität und Interdependenz von Behinderung zu untersuchen. Für ein Beispiel einer intersektionalen Perspektive möchte ich auf jene Personen rekurrieren, die aufgrund unterschiedlicher aber simultaner 12 | Im Rahmen der Diskussion um die Relevanz von bestimmten Kategorien wird in jüngster Zeit auch Körper und Alter angeführt. 13 | Vgl. Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt/Kerstin Palm: »Einleitung«, in: Dies., Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/Farmington Hills 2007, S. 7-22, hier S. 9.

78 | Heike Raab soziokultureller Differenzmerkmale im Allgemeinen als minorisierte Existenzweisen klassifiziert werden, deren minorisierte Position jedoch nicht allein auf ein einziges Differenzmerkmal zurückgeführt werden kann. Anders formuliert: Inwieweit wird eine behinderte lesbische Frau mit Migrationshintergrund wegen ihrer Behinderung, ihrer ethnischen Herkunft, aufgrund von Geschlecht oder wegen ihrer Homosexualität diskriminiert? Gibt es gar eine gesellschaftliche Diskriminierungshierarchie, die dazu führt, dass z.B. Behinderung als soziokulturelles Differenzmerkmal grundsätzlich immer im Vordergrund steht, während den anderen genannten Differenzmerkmalen eine nachrangige Rolle zukommt? Oder spielen je nach Kontext und Situation verschiedene Differenzmerkmale eine abwechselnd dominante Rolle, die sich jedoch unter gewissen Umständen aber auch gegenseitig verstärken können? Außerdem gilt es zu fragen, ob sich diese Frau in ihrem Selbstbild in erster Linie als Lesbe, als Migrantin oder als Behinderte definieren würde. Gleichwohl bilden intersektionale Ansätze in der Erforschung von Behinderung eher die Ausnahme als die Regel. Eine der wenigen Ausnahmen sind die feministischen Disability Studies und die Queer Disability Studies. So betont Rosemarie Garland Thomson die historischen Parallelen in der soziokulturellen Bestimmung von Weiblichkeit und Behinderung. In einem Beitrag über feministische Disability Studies schreibt sie: »[…] both the female body and the disabled body are cast within cultural discourse as deviant and inferior; both are excluded from full participation in public as well as economic life; both are defined in opposition to a valued norm which is assumed to possess natural corporal superiority.« 14

Hierbei bezieht sich Garland Thomson auf die Körperformenlehre von Aristoteles. Schon in den Schriften des antiken Philosophen werden körperliche Variationen in ein System übersetzt, das von einem normativen Idealtypus und dessen Abweichungen ausgeht. Auf der Grundlage einer Hierarchie der Körper entwickelt Aristoteles so einen Diskurs über das Normale und das Abnormale. Entlang einer körperlichen Skala bestimmt Aristoteles den weiblich geformten Körper als erste Devianz, den er in Bezug zum männlich geformten Körper stellt. Am Ende dieser Skala steht der monströse Körper, der, in der heutigen Sprache ausgedrückt, dem behinderten Körper entspricht. Auch in diesem Fall ist der nicht-behinderte männliche Körper der Maßstab des Normalen. Feminität wird infolgedessen von Aristoteles als »mutilated male«15, d.h. als verstümmelte Männlichkeit definiert. Wie Garland Thomson ausführt, legt Aristoteles damit den Grundstein eines bis in die Gegen14 | Vgl. Rosemarie Garland Thomson: »Feminist Theory, the Body, and the Disabled Figure«, in: Lennard J. Davis (Hg.), The Disability Studies Reader, New York, London 1997, S. 279-295, hier S. 279. 15 | Ebd., S. 280.

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wart hineinwirkenden Diskurses, der Weiblichkeit und Behinderung durch eine hierarchische somatische Ordnung der Differenz miteinander verkoppelt. Zudem, so Garland Thomson, entfalte Aristoteles mit diesem Ansatz eine grundlegende Logik des Otherness, indem er den weißen nicht-behinderten Mann als natürliche Norm bestimmt, während demgegenüber Frauen, Migranten, Homosexuelle und Behinderte16 als deviante Abweichung erscheinen. Innerhalb dieser Diskurse um Männlichkeit, Weiblichkeit und Behinderung verschwindet die behinderte Frau völlig aus dieser somatischen Ordnung der Differenz. Insofern nimmt der »normale« (nicht-behinderte) weibliche Köper für Rosemarie Garland Thomson eine janusköpfige kulturelle Rolle ein: Einmal signalisiert die Figur des weiblichen Köpers den abgewerteten Gegensatz zum männlichen Köper und ist entsprechend negativ konnotiert. Gleichzeitig handelt es sich um eine privilegierte Position im Vergleich zum behinderten weiblichen Körper. Garland Thomsons Diskussion des intersektionalen Verhältnisses von Männlichkeit, Weiblichkeit und Behinderung zeigt die verschiedenen Durchkreuzungslinien, die den Status der behinderten Frau innerhalb einer androzentrisch hierarchischen Anordnung körperlicher Variationen regulieren. Letztlich dient die Figur der behinderten Frau als normative Abgrenzungsfolie gegenüber normalen weiblichen und männlichen Körpern. In diesem Sinne ist Behinderung als interdependent zum Körper(-Geschlecht) zu sehen. Gleichzeitig verdeutlicht Garland Thomsons Diskussion der Körperformenlehre von Aristoteles, dass somatische Ordnungen erstens eng mit der gesellschaftlich asymmetrisch organisierten Geschlechterordnung verwoben sind, dass diese zweitens auf einer langen historischen Tradition beruhen und dass sie drittens bei allen geschichtlichen Wandlungsprozessen bis in die Gegenwart wirksam sind. Was nun die Analogien zwischen Homosexualität und Behinderung anbelangt, so ist nicht nur das allzu Bekannte zu nennen: nämlich, dass Homosexualität die längste Zeit als Krankheit bzw. im Falle von Transsexuellen als psychische Störung galt. Für Robert McRuer, einem der Mitbegründer der Queer Disability Studies, 17 sind es darüber hinaus die (soziokulturellen) Systeme von »compulsory able-bodiedness« und »compulsory heterosexuality«18 , die Homosexualität und Behinderung als gesellschaftliche Anormalität erst hervorbringen und produzieren. In McRuers intersektionaler Analyse der Verbindungslinien zwischen Behinderung und (Hetero-)Sexualität steht – ähnlich wie bei Rosemarie Garland Thomson – der Körper bzw. die Kritik an Körpernormen im Mittelpunkt. Normen funktionieren für den Autor im Sinne von Foucaults Disziplinierungsgesellschaft. D.h. sie normalisieren Existenz16 | Vgl. ebd., S. 279-280. 17 | Vgl. Robert McRuer: Crip Theory. Cultural Signs of Queerness and Disability, New York 2006, S. 10. 18 | Ebd.

80 | Heike Raab weisen, indem sie eine disziplinierende Wirkung entfalten. Maßgeblich ist für McRuer hierfür eine »able-bodied heterosexuality«-Hegemonie 19, damit meint er, dass im Allgemeinen körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit mit (Hetero-)Sexualität verbunden wird und in diesem Sinne eine hegemoniale Norm darstellt. Als solche entfaltet »able-bodied heterosexuality«20 ihre Wirkkraft, indem alle körperlichen Variationen und Praxen entlang dieser soziokulturellen Norm ausgerichtet bzw. diszipliniert werden. McRuer beschreibt damit letztlich, wie über die Hegemonie spezifischer Normen Behinderung als kulturelles Phänomen entsteht. Sowohl Robert McRuer als auch Rosemarie Garland Thomson betonen die Bedeutung des Somatischen in ihren Erörterungen über Behinderung, wobei das Körperliche von beiden Autoren als soziokulturelles Konstrukt interpretiert wird. D.h. die unterstellte Natürlichkeit des Körpers wird als normativer Anspruch von soziokulturellen Körperkonzeptionen enttarnt.21 Garland Thomson betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Geschlechterordnung, McRuer den maßgeblichen Einfluss von (Hetero-) Sexualität. Wie fruchtbar es ist, feministische und queere Disability Studies für eine intersektionale Analyse von Behinderung zusammenzuführen, zeigt ein kritischer Blick auf das von Judith Butler entworfene Modell der Körperpolitiken. Über das Konzept der Körperpolitiken entfaltet Butler eine weitreichende Kritik am (soziokulturellen) System der Zwangsheterosexualität.22 Im Rahmen dessen entwickelt Butler ein intersektionales Verständnis von Sexualität und Geschlecht. D.h. sie geht davon aus, dass Sexualität und Geschlecht nicht unabhängig voneinander wirken: Für Butler ist die binäre Organisation von Sexualität und Geschlecht in der Hauptsache eine Zwangsordnung, die zudem Heterosexualität privilegiert. Die heteronormative Organisation von Zweigeschlechtlichkeit und Sexualität wird dabei über Körpernormen reguliert, die wiederum als eine somatische Gesellschaftsordnung von Frau-Sein und Mann-Sein funktioniert. Um diese heteronormative Zwangsordnung zu unterlaufen, wird bei Butler der Körper zum zentralen Ausgangspunkt politischer und kultureller Interventionen.23 Körperpolitiken stellen somit für Butler eine Form von Queerness dar, d.h. von Geschlechterverschiebung und -überschreitung. 19 | Vgl. Robert McRuer: »Compulsory Able-Bodiedness and Queer/Disabled Existence«, in: Sharon L. Snyder/Brenda Jo Brueggemann/Rosemarie Garland Thomson (Hg.), Disability Studies. Enabling The Humanities, New York 2002, S. 88-109. 20 | R. McRuer: Crip Theory, S. 10. 21 | Vgl. Hilge Landweer: »Konstruktion und begrenzte Verfügbarkeit des Körpers«, in: Annette Barkhaus/Anne Fleig (Hg.), Grenzverläufe. Der Körper als Schnittstelle, München 2002, S. 47-65. 22 | Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 199-204. 23 | Vgl. Nina Degele: Gender/Queer Studies. Eine Einführung, München 2008.

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Mittels des Verqueerens von Geschlecht kann, nach Ansicht von Butler, die heteronormative Geschlechterordnung dekonstruiert werden. Gleichzeitig kritisiert die Autorin mit dem Konzept des Verqueerens von Geschlecht die patriarchalisch-sexistische Organisation der binären Geschlechterordnung, die nicht nur andere Formen von Geschlechtlichkeit jenseits heterosexueller Mann/Frau-Konfigurationen für anormal erklärt, sondern auch Weiblichkeit minorisiert. Insofern beinhaltet Butlers Ansatz ebenfalls eine feministische Kritik an einer hierarchischen Geschlechterdifferenz. Wenn man jedoch die Perspektive der Disablity Studies einbezieht, wird deutlich, dass Butlers Konzept der verqueerenden Körperpolitiken kurzschlüssig ist, denn die heteronormative Geschlechterordnung funktioniert nicht nur entlang von Sexualität und Geschlecht. Als ein weiterer Heteronormativität produzierender Schauplatz ist der Bereich der Behinderung zu nennen. Gleichwohl geschieht dies auf unterschiedliche Art und Weise: Während Heteronormativität einerseits heteropatriarchalische Zweigeschlechtlichkeit aufrechterhält, besteht im Falle von Behinderung die Gefahr, völlig aus dieser binären Geschlechterordnung herauszufallen. Zweierlei ist hierbei zu schlussfolgern: Erstens wird deutlich, dass erst ein intersektionaler Zugang die wechselseitige Verschränkung von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht aufzeigen kann. D.h. Behinderung konstituiert sich mit und durch eine heteronormative Geschlechterordnung. Zugleich lassen sich unterschiedliche Wirkebenen von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht beschreiben. Mit Bezug auf die Geschlechterordnung erfasst Behinderung Konstruktionsweisen von Asexualität und Ageschlechtlichkeit. Hingegen kritisiert Heteronormativität heterosexuelle Geschlechter- und Körpernormen. Gleichwohl besteht zwischen den genannten soziokulturellen Differenzierungsweisen ein gegenseitiges Hervorbringungs- und Durchdringungsgefüge. Zweitens erweist sich Butlers Konzept der verqueerenden Körperpolitiken als begrenzt. Da Menschen mit Behinderung häufig als sexuelle und geschlechtliche Neutren behandelt werden, ist eine Dekonstruktion von Geschlecht durch Queerness schwerlich möglich. Denn um ein Geschlecht dekonstruieren zu können, muss man erst über Geschlechtlichkeit verfügen, die – wie bereits gesagt – Menschen mit Behinderung oftmals verweigert wird. Demzufolge sollten verqueerende Körperpolitiken im Sinne der Disability Studies eher ein strategisches Konfiszieren von Geschlecht anstreben. Damit meine ich eine Form des Einschreibens von Geschlechtlichkeit in die Geschlechterordnung, die zugleich die paradoxe Option bereitstellt, heteronormative Körpernormen zu subvertieren und Geschlechterhierarchien anzufechten. D.h., das Konzept des strategischen Konfiszierens von Geschlecht zielt auf Geschlechterdifferenz jenseits der hegemonialen Gender-Ordnung. So könnte z.B. ein strategisches Konfiszieren von Geschlecht durch die gelebte Vielfalt körperlicher Variationen in den Crip Cultures24 24 | Gemeint sind die im Szene-Jargon so bezeichneten »Krüppel-Subkulturen«.

82 | Heike Raab erfolgen, in denen alternative Formen von Erotik und Geschlechtlichkeit gelebt werden. Crip Cultures stellen somit einen potentiellen Ort dar, um Geschlechtlichkeit anzueignen und sich kritisch gegen die Geschlechterordnung zu wenden. Bezug nehmend auf Butler lässt sich schlussendlich sagen: Butlers Konzept der Körperpolitiken zielt darauf ab, gesellschaftliche Körpernormen zu entnormalisieren. Das Konzept steht damit ganz in der langjährigen Tradition der Frauen-, Lesben/Schwulen- wie auch der Behindertenbewegung. Genau diese sozialen Bewegungen fokussieren schon lange Zeit auf öffentliche Inszenierungen alternativer Körperformen, um gesellschaftliche Normen und Dominanzverhältnisse anzuklagen. Dies geschieht oftmals in Gestalt medialer Darstellungsweisen wie z.B. in Fotoausstellungen oder Szene-Zeitungen. Allerdings stellt sich angesichts der neuartigen Medienpräsenz von Lesben, Schwulen, Behinderten und emanzipierten Superfrauen die Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt jener öffentlichen Selbstermächtigungspolitiken mit Mitteln körperlicher Selbstdarstellung. Oder, wie die feministische Soziologin Paula Irene Villa schreibt: (Queere) Körperpolitiken sind schon längst nicht mehr nur radikale Praxis avantgardistischer Konstruktivist_innen.25 Vielmehr, so möchte ich hinzufügen, sind sie ebenso eingelassen in medial inszenierte Alltagspraxen neoliberal deregulierter Körperzonen. Doch was heißt das?

Der Körper im Feld der Macht Wenn Foucault schreibt, die »Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere«26, dann meint er, dass sich moderne Formen von Macht und Herrschaft im wahrsten Sinne des Wortes eine verkörperte Ordnung geben. Mit anderen Worten: Der Körper ist bei Foucault quasi als Medium der Einbzw. Verkörperung soziokultureller Machttechnologien konzipiert. Auf der individuellen Ebene bedeutet dies, dass Körper über Machttechniken wie disziplinierende Normen und soziokulturelle Deutungsmuster, Geschlechterverhältnisse, Zwangsheterosexualität etc. wahrgenommen werden. Körper sind nämlich für Foucault im Wesentlichen durch gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse sozial verfasst und nicht dem Sozialen vorgängig. Auf der politischen und gesamtgesellschaftlichen Ebene kann Foucault einen ähnlichen Zusammenhang aufzeigen: Mit dem Entstehen moderner Gesellschaften bildet sich nicht nur der moderne Staat heraus, sondern auch eine als national verstandene Bevölkerung, die über Körper verwaltet und gesteuert wird. Dies geschieht durch Institutionen wie Schule, Fabriken, Kliniken ebenso wie durch Sozial-, Gesundheits- und Bevölkerungspoli25 | Vgl. P. I. Villa: »Habe den Mut Dich Deines Körpers zu bedienen!« S. 267. 26 | Vgl. Michel Foucault: »Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere«, in: Ders., Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 104-118, hier S. 104.

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tiken. Wer z.B. als krank, pervers, kriminell oder verrückt gilt, wird in Kliniken, Gefängnissen, Psychiatrien oder Therapien durch Exklusion inkludiert.27 Denn die Aussonderung dient nicht zuletzt dazu, Verhaltensweisen der Bevölkerung zu disziplinieren und die betroffen (anormalen) Bevölkerungsgruppen durch diese Maßnahmen (wieder) zu kontrollieren. Mit Foucault lässt sich also nachweisen, wie mittels soziokultureller Machttechnologien anormale Körper entstehen. Gleichzeitig werden dadurch Kategorien wie normal/anormal bzw. behindert/nichtbehindert historischkulturell relativiert. Aus körpersoziologischer Sicht beschreibt Robert Gugutzer diesen Mechanismus. Gugutzer bezeichnet Körper hierbei gleichermaßen als Produkt wie Produzent von Gesellschaft. In diesem Sinne sind körperliche Repräsentationen Symbolträger für gesellschaftliche Normen und Differenzen. 28 Beispielsweise lässt sich in dieser Lesart die Repräsentation geschlechtlich codierter Körper als symbolische Manifestationen einer jeweils historisch gegebenen Geschlechterordnung verstehen. Gleichwohl ist der Körper nicht nur ein passives Objekt, an dem sich soziokulturelle Normen materialisieren. Im Vollzug körperlicher Praxen können gesellschaftliche Ordnungen sowohl stabilisiert als auch destabilisiert werden. Dies geschieht etwa immer dann, wenn – mit Butler gesprochen – Körperpraxen hegemoniale geschlechtliche Codes bestätigen oder diese in Frage stellen. Den Stellenwert körperlicher (Selbst-)Repräsentationen veranschaulichen zudem Studien zur Transsexualität. So hat etwa Hirschauer29 herausgearbeitet, wie bedeutsam Körperpraxen für Transsexuelle sind, da über diese soziokulturell anerkannte Geschlechtsdarstellungen und Geschlechterzuweisungen erfolgen und hergestellt werden. Transsexualität ist in diesem Sinne eine körperliche Praxis, die die soziale Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit offen legt und veranschaulicht, wie über Geschlechtsnormen die Zugehörigkeit zur Gesellschaft reguliert wird. Diese Beispiele belegen die Relevanz von praxeologischen Körpertheorien in der Untersuchung von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. Sie sind zentraler Modus und Mittel von Differenz- und Ungleichheitsachsen im Feld des Sozialen.

27 | Vgl. Paula Irene Villa: »Körper, ›Körper‹«, in: Nina Baur/Hermann Korte/ Martina Löw/Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologie, Wiesbaden 2008, S. 201219, hier S. 213. 28 | Vgl. Robert Gugutzer: »Der Body Turn in der Soziologie«, in: Ders. (Hg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 9-53. 29 | Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt a.M. 1993.

84 | Heike Raab Mittels einer körpersoziologischen Sicht auf Gesellschaft lässt sich also • erstens spezifizieren, wie die Verkörperung des Sozialen funktioniert. D.h. es lässt sich darlegen, warum Körper eine solch gewichte Rolle30 in der Organisation gesellschaftlicher Ordnungen haben. • Zweitens lässt sich zeigen, dass Körper erst innerhalb eines intersektionalen Systems wie Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht zu somatischen Ausdruckweisen des Sozialen werden, auf deren Grundlage soziokulturelle Normen entstehen. • Schließlich lässt sich drittens verdeutlichen, dass Körper in Prozesse soziokultureller Veränderungen eingelassen sind. Körper, Körperwahrnehmungen sowie Formen körperlicher (Re-)Präsentationen sind kulturhistorisch bedingt und keine »natürlichen Tatsachen«. • Viertens können soziologisch motivierte Körpertheorien das Verhältnis zwischen Körper, Individuum und Gesellschaft durch einen praxeologischen Ansatz konkretisieren. Körper als Praxis sind ein wichtiger Motor in der Repräsentation der sozialen Ordnung. Es ist wiederum Foucault, der in diesem Zusammenhang einen bedeutenden Modus neuartiger Machttechnologien herausarbeitet. Wesentlich ist hierbei das Konzept der Führung durch Selbst- und Fremdtechnologien, das Foucault zudem mit dem Auftauchen einer neuen neoliberalen Gesellschaftsformation (Gouvernementalität) verbindet.31 Das Spezifische neoliberaler Machtmechanismen ist für Foucault die Etablierung gouvernementaler Machttechniken, die das Verhältnis von Körper(Subjekten) zu sich selbst und anderen verändern. Dazu schreibt er: »Diese Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst nenne ich Kontrollmentalität [Gouvernementalität, H.R.]«32 . Selbsttechnologien sind, wie Foucault sie charakterisiert, Praxen, »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks […] erlangt.«33

30 | Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht, Berlin 1995. 31 | Thomas Lemke: »Die politische Theorie der Gouvernementalität: Michel Foucault«, in: André Brodocz/Gary Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart I. Eine Einführung, Opladen 2002, S. 471-501. 32 | Michel Foucault: »Technologien des Selbst«, in: Michel Foucault/Rut Martin/Luther R. Martin u.a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993, S. 24-62, hier S. 26; Der Begriff »Kontrollmentalität« ist ein früherer Übersetzungsversuch von »Gouvernementalität«. Mittlerweile hat sich der Terminus »Gouvernementalität« als eigenständiger Fachbegriff durchgesetzt. Im Original erschien dieses Interview 1988 in der University of Massachusetts Press. 33 | Ebd.

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Im Rahmen der neoliberalen Gouvernementalität signalisieren die damit verbundenen Begriffe wie Selbstbestimmung, Autonomie, Wahlfreiheit, Verantwortung, die letztlich alle den sozialen Bewegungen entstammen, jedoch nicht mehr (ausschließlich) Grenzziehung und Kritik an allen Formen gesellschaftlicher Diskriminierung wie Behindertenfeindlichkeit, Homophobie und Sexismus, sondern auch eine neue Form der Selbstsorge34 und Selbstführung, die z.B. die Ökonomisierung des Sozialen (mit) legitimieren.35 Die Soziologin Sabine Maasen beschreibt diesen Prozess als kulturelle Praxis der Selbstherstellung, die sich vortreffl ich in die Ökonomisierung des Sozialen einschreibt. Denn jede/r ist zunehmend gehalten, die Risiken des eigenen Lebens selbst zu managen.36 In diesem Sinne kommt es im Neoliberalismus zu veränderten Selbstverhältnissen, Selbstrepräsentationen, Subjektivierungsformen und soziokulturellen Modi der Ein- und Verkörperung, die den intelligiblen Rahmen des Sozialen (z.B. Körper[-Normen], Wahrnehmungsraster, Repräsentationsformen, Rationalitätsformen) neu ausrichtet. Führung mutiert hier insofern zu einer neuen Qualität von Macht, als dass sie eine Technologie darstellt, die ohne Zwänge und Verbote auskommt. D.h. neoliberale Gouvernementalität besticht durch ein sehr offenes Feld von Handlungsmöglichkeiten.37 Das daraus resultierende Mehr an Handlungsoptionen wird jedoch durch neuartige Formen freiwilliger Selbstunterwerfung und der freiwilligen Selbstkontrolle begrenzt, die, so möchte ich hinzufügen, auch körperliche Ausdrucksformen besitzt. Daraus resultiert eine doppelte Paradoxie: Einerseits werden die Handlungsspielräume erweitert. Es entsteht z.B. ein Mehr an öffentlicher Wahrnehmung von bislang minorisierten Existenzweisen. Gleichzeitig werden jedoch Politiken der Selbstermächtigung – wie z.B. Körperpolitiken – ambivalenter und prekärer. Denn die neuartige Sichtbarkeit und Öffentlichkeit von Lesben, Schwulen und Behinderten ist an neuartige Selbst- und Fremdtechnologien gekoppelt, die Köper neuerlich normen und formen. Im Anschluss an Foucault lässt sich also untersuchen, inwieweit spezifische Verköperungsmodi und körperbezogene Selbsttechnologien (z.B. Köperpolitiken) als Ausdruck einer neuen Form von Herrschaft im Sinne der neoliberalen Gouvernementalität zu deuten sind und wie diese sich mit Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht verschränken. 34 | Vgl. Michel Foucault: Die Sorge um sich selbst, Frankfurt a.M. 1991. 35 | Vgl. Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000. 36 | Vgl. Sabine Maasen: »Schönheitschirurgie. Schnittflächen flexiblen Selbstmanagements«, in: Barbara Orland (Hg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik, Zürich 2005, S. 239-261, hier S. 240-241. 37 | Vgl. Michel Foucault: »Das Subjekt und die Macht«, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow/Michel Foucault, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994, S. 243-265.

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Body Politics zwischen Selbstermächtigung und Selbstkontrolle Mit Bezug auf mediale Darstellungsweisen von Körpern als auch auf den Wandel ihrer Repräsentationsformen im Zeitalter der neoliberalen Gouvernementalität möchte ich deshalb zunächst auf die aktuelle feministische Debatte über die neuartige Öffentlichkeit und Sichtbarkeit von Schönheitsoperationen bei Frauen eingehen.38 Denn die medialen Inszenierungen der plastischen Chirurgie an Frauen im Fernsehen und den Printmedien sind im wahrsten Sinne des Wortes Schnittstellen entlang der Triade Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht. Einmal zeugt die mediale Aufbereitung der boomenden Schönheitschirurgie von einem Wandel medizinischer Legitimationstechniken. Nach wie vor in der Tradition des medizinischen Machbarkeitswahns stehend, werden weibliche Körper für die Norm eines (imaginären) gesellschaftlichen Schönheitsideals zurechtgestutzt. Insofern sehe ich in den medialen Darstellungsweisen von plastisch-chirurgischen Eingriffen an Frauen eine Fortsetzung der normalisierenden Tendenz des Medizinischen, aus pathologischen Körpern normale Körper machen zu wollen, was die bis heute vorherrschende Umgangsweise mit behinderten Körpern im Bereich der Medizin ist. Simultan wird durch die scheinbare Harmlosigkeit einer Nasen- oder Busenkorrektur nicht nur die Geschichte der plastischen Chirurgie, sondern auch die Geschichte der allgemeinen Medizin als die einer Normalisierungs- und Disziplinierungswissenschaft geschichtslos gemacht. Durch die medialen Inszenierungen von Schönheitsoperationen kommt es stattdessen zu einer neuartigen Akzeptanz von spezifischen Körpernormen und medizinischen Normalisierungspraxen. Denn im Allgemeinen werden die chirurgischen Maßnahmen in dem medialen Setting mit einem Versprechen auf persönliches Glück und Wohlbefi nden sowie besseren Berufsaussichten verbunden. Ähnlich wird nach wie vor bei Operationen an Menschen mit körperlichen Behinderungen oder Zwittern etc. argumentiert. So betrachtet können mediale Repräsentationen von Körpern konsensuelle Zustimmung zu bestimmten Rationalitäten, Normen und Werten erzeugen und sind so maßgeblich an der Produktion und Reproduktion von Wirklichkeitskonstruktionen und Deutungsmustern beteiligt. Sie stellen Angebote bereit, mit denen Existenzweisen, Körperpraxen, Geschlechterbilder und sexuelle Vorstellungen beeinflusst werden. In diesem Sinne sind sie Teil gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsprozesse, z.B. indem die beschriebene mediale Auf bereitung der Schönheitschirurgie sich ausschließlich an nichtbehinderte Frauen richtet und heteronormativ konnotiert ist. Die neuartige Sichtbarkeit und Öffentlichkeit von Schönheitsope38 | Vgl. dazu S. Maasen: Schönheitschirurgie, S. 240-241; Paula Irene Villa: »Endlich normal! Soziologische Überlegungen zur medialen Inszenierung der plastischen Chirurgie«, in: Ulla Wischermann/Tanja Thomas (Hg.), Medien – Diversität – Ungleichheit. Zur medialen Konstruktion sozialer Differenz, Wiesbaden 2008, S. 87-103; Paula Irene Villa (Hg.): schön normal, Bielefeld 2008.

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rationen docken damit erstens direkt an das weibliche Körper(-Subjekt) in der Form der Foucaultschen Selbst- und Fremdtechnologien an und sind zweitens sowohl Effekt wie Konstrukteur der heteronormativen Geschlechterordnung. Behinderung wird hier quasi durch die Hintertür der öffentlich zur Schau gestellten plastischen Chirurgie als medizinisch beherrschbares Schönheitsproblem interpretierbar, während Homosexualität zur unsichtbaren Anti-Norm des weiblichen Körpers mutiert. Paula Irene Villa diskutiert vor diesem Hintergrund in ihren Arbeiten feministische Körperpolitiken, d.h. die kritische Reflexivierung und praxeologische Politisierung von (Frauen-)Körpern durch die neue Frauenbewegung.39 So stellt sie fest, dass körperbezogene Aktionen und Slogans wie öffentliche BH-Verbrennungen oder die Kampagne »mein Bauch gehört mir« zu den sichtbarsten und nachhaltigsten Reflexivierungstrategien der neuen Frauenbewegung gehörten. Mittels des Körpers wurde nicht nur das Private politisch gemacht, sondern der Körper wurde auch der Ort, sich selbst zu (er)finden und zwar kollektivistisch im Rahmen einer sozialen Bewegung. Gleichwohl verfängt sich das körperbezogene feministische Autonomieverständnis in einigen problematischen Abgrenzungen, wie nicht zuletzt der Streit mit der behinderten Frauenbewegung um den § 218 beweist. Auch wenn der innerfeministische Schwesternstreit zwischen behinderten und nichtbehinderten Frauen nicht das Recht auf Abtreibung in Frage stellte, ging es doch um eine Kritik an feministischen Körpervorstellungen und feministischen Körperrepräsentationen. Denn der Kampf um die körperliche Selbstbestimmung der Frau gegen die medizinische Pathologisierung ihres Körpers ging einher mit zum Teil problematischen körperbezogenen Entnaturalisierungsstrategien, wie rückblickend festzustellen ist. Der Körper wurde in der neuen Frauenbewegung nicht nur zum Ort des Politischen, sondern auch zu einer politischen Ressource, die mit Machbarkeitsglauben und Vorstellungen vom Körper als Besitz, über den man selbst bestimmen kann, besetzt war. 40 Im Zeitalter der neoliberalen Gouvernementalität kommt es, so Villa, zu einer ungewollten Konvergenz zwischen feministischen Körperpolitiken und den medialen Inszenierungen von Schönheitsoperationen. 41 Aus der feministischen Selbstbefreiung von Körpernormen wird eine kommerzialisierte und hochgradig individualisierte körperliche Selbstbeherrschung bzw. Stilisierung des Selbst, die ein völlig gegenteiliges Normalitätskonzept propagiert. Anstelle der Selbstermächtigung durch die Befreiung von und Kritik an Körpernormen ist nun eine kommerzialisierte Normalisierung qua 39 | Vgl. P. I. Villa: »Endlich normal!«, S. 87-103. 40 | Ebd.; im Vergleich zu anderen sozialen Bewegungen, wie die der Lesben und Schwulen, der Migranten aber auch der der Behinderten scheint tatsächlich der politische Feminismus zunächst den Körper als Ort politischer Auseinandersetzung besetzt zu haben. Gleichwohl wurden in den anderen genannten sozialen Bewegungen ebenso Körperpolitiken zu wichtigen politischen Instrumenten. 41 | Vgl. P. I. Villa: »Endlich normal!«, S. 89.

88 | Heike Raab Körpergestaltung getreten, die durch neuartige Öffentlichkeit und Sichtbarkeit von Schönheitsoperationen hergestellt bzw. (mit)produziert wird. Das Beispiel der Schönheitschirurgie zeugt von komplexen Veränderungen der somatischen Ordnungen des Sozialen, innerhalb derer die Körperpolitiken der sozialen Bewegungen agieren: Unsichtbare Körper werden sichtbar, indem die zuvor heimlich praktizierten Schönheitsoperationen nun öffentlich zelebriert und als Arbeit an sich selbst vermarktet werden (Repräsentationen). Es kommt zu einer hochgradigen Kommerzialisierung und Individualisierung von Körpern, die zwar normativ ausgerichtet sind, zugleich aber bisher minorisierte Körper in neuer Weise einschließen (Normen). D.h. auch andere Existenzweisen werden in diese neue Form von Öffentlichkeit und Sichtbarkeit mit einbezogen. Das erste Bild einer behinderten Frau veranschaulicht dies im wahrsten Sinne des Wortes.

Das schöne Geschlecht

Das Bild zeigt die an beiden Beinen amputierte Aimee Mullins, es stammt aus den späten 90er Jahren. 42 Aimee Mullins ist ein US-amerikanischer Sportstar (Sprinterin) und ein Fotomodell, welches als Mannequin sämtliche bekannten Modemagazine in den USA zierte. Wie auf dem Bild zu sehen ist Aimee Mullins eine weiße, blonde Frau. Im konkreten Fall liegt sie, auf den Armen abgestützt, auf einem Bett (vermutlich) mit ebenfalls weißem Bezug. Sie trägt dazu eine Mischung zwi42 | http://gandt.blogs.brynmawr.edu/fi les/2009/01/aimeemullins.gif 6.6.2009.

vom

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schen Negligee und Hochzeitskleid, wobei die Arme unbekleidet sind und ebenfalls die Beine. Das Model scheint sich auf dem Bett zu räkeln und streckt kokett die Beine, an denen Prothesen zu sehen sind. Im scharfen Kontrast zum erotischen Outfit handelt es sich jedoch um Sportprothesen, die üblicherweise behinderte Sportläufer_ innen verwenden. Während Rosemarie Garland Thomson in ihrem Aufsatz »The Politics of Staring: Visual Rhetorics of Disability in Popular Photography«43 solche Fotos als »licence to stare«44 interpretiert, die in jener historischen Tradition stehen, in der Menschen mit Behinderung schon immer ausgestellt und angestarrt wurden, möchte ich eine andere Lesart anbieten. Gleichwohl weist Garland Thomson zu Recht daraufhin, dass Repräsentationen stets an Darstellungskonventionen 45 , d.h. an Normen gebunden sind. Um also Sichtbarkeit und Öffentlichkeit zu erlangen, müssen die Normen der allgemeinen Repräsentierbarkeit erfüllt werden, die, wie das Beispiel aus der Schönheitschirurgie zeigt, Wandlungsprozessen unterliegen. In Bezug auf verkörperte Einschreibungen in Massenmedien, so verdeutlicht dieses Foto, kommt es zu einem paradoxen Ineinandergreifen von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht, die die Bedingung der Möglichkeit für massenmediale Öffentlichkeit und Sichtbarkeit bislang minorisierter Existenzweisen darlegt. Denn die perfekte Adaption heteronormativer Schönheitsnormen scheint hier der Preis für die Anerkennung von Geschlecht – trotz Behinderung – zu sein. Gleichzeitig trägt die Art und Weise, wie Behinderung hier sichtbar gemacht wird, dazu bei, Behinderung in paradoxer Weise unsichtbar zu machen. Im Grunde genommen kommt es zu einer Mutation, um nicht zu sagen zu einem Enteignungsprozess von selbstermächtigenden Körperpolitiken in den massenmedialen Darstellungsweisen von Behinderung. Anstelle eines strategischen Konfiszierens von Geschlechtlichkeit, welche die heteronormative Geschlechterordnung verschiebt, werden hier traditionelle minorisierende Geschlechtspositionen affi rmiert. Weiblichkeit wird als passive Feminität und Frau-Sein als (Begehrens-)Objekt inszeniert, die Frau ist nicht aktives Subjekt ihres eigenen Begehrens. Schlussendlich verweist die paradoxe Repräsentation von Behinderung auf eine weitere Veränderung von Körperpolitiken in der neoliberalen Gouvernementalität. Es sind gerade die Sprinterprothesen, die von neuartigen verkörperten Formen und Normen freiwilliger Selbstunterwerfung zeugen. Die Arbeit an sich selbst, am eigenen Körper durch Sport, wird zur Voraussetzung, um Geschlechternormen entsprechen zu können – und um Behinderung überwinden zu können. Hier sind deutliche Parallelen zur öf43 | Vgl. Rosemarie Garland Thomson: »The Politics of Staring: Visual Rhetorics of Disability in Popular Photography«, in: Sharon Snyder/Brenda Jo Brueggemann/Rosemarie Garland Thomson (Hg.), Disability Studies. Enabling The Humanities, New York 2002, S. 56-76. 44 | Ebd. 45 | Vgl. J. Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, S. 77.

90 | Heike Raab fentlichen Inszenierungen von Schönheitsoperationen an Frauen zu bemerken. Auf diese Weise werden selbstermächtigende Körperpolitiken zu einer Frage individualisierter Selbstkontrolle im Sinne Foucaults, die von Fragen sozialer Ungleichheit und Differenz entkoppelt wird.

Weiblichkeit als Maskerade

Selbstermächtigungspolitiken sind also bei den medialen Versuchen, Körper zu entnormalisieren, mit allerlei Fallen und Stolpersteinen konfrontiert, insbesondere dann, wenn sie auf hegemoniale Repräsentationsordnungen treffen. Genau aus diesem Grund gelangen häufig nur bestimmte Darstellungsweisen von Behinderung in die Medien und damit in die Öffentlichkeit. Im scheinbaren Gegensatz dazu steht das zweite Foto. 46 Es stammt aus einer Zeitschrift der US-amerikanischen Behindertenbewegung. Die Zeitung trägt den Namen »Mouth – Voice of the Disability Nation«. Ich habe das

46 | www.mouthmag.com/johnnypoem.htm vom 6.6.2009.

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Foto der Sonderausgabe zum Thema »Sex« dieser Zeitschrift aus dem Jahr 2000 entnommen. Auf der Homepage von »Mouth« lässt sich folgende Beschreibung für das Bild finden: »Here’s the cover of the notorious ›Trouble with Sex‹-Issue of Mouth. It’s a photograph of one person in a wheelchair being enwrapped – lovingly/joyfully […] by another. It’s hard to tell what sex they are. Probably for women.« 47

Auch wenn hier ganz offensichtlich ist, dass die Triade Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht völlig anders – im wahrsten Sinne des Wortes – in Szene gesetzt wird, möchte ich nicht auf eine krude Gegenüberstellung von Mainstream und Subkultur hinaus. Vielmehr ist das Verhältnis von Mainstream und Subkultur als ein gegenseitiger Verweisungszusammenhang zu verstehen. D.h. zwischen hegemonialen Normen und der Opposition dazu besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. 48 Gleichwohl wird mit diesem Foto deutlich, dass es sich hierbei um verschiedene Produktionsstätten von Sichtbarkeit und Öffentlichkeit handelt, innerhalb derer Körperpolitiken unterschiedliche Wirkungen entfalten. Es wird außerdem deutlich, dass nicht alle minorisierten Existenzweisen den gleichen Zugang zur allgemeinen Öffentlichkeit und Sichtbarkeit haben. Im konkreten Fall z.B. werden vorherrschende Darstellungsweisen von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht produktiv unterlaufen. Geschlechtlichkeit wird hier nicht durch die Adaption eines heteronormativen Settings hergestellt, sondern durch eine bislang tabuisierte Form der Sichtbarkeit und Öffentlichkeit von Behinderung und Homosexualität. Es ist gerade das Zusammenspiel von Behinderung und Homosexualität in der medialen Inszenierung der Erotik zwischen zwei Frauen, die es ermöglicht, differente Geschlechter- und Körperformen in die hegemoniale Geschlechterordnung einzuschreiben. Diese Form des Konfiszierens von Geschlecht stellt zudem die heteronormative zweigeschlechtliche Ordnung in Frage, gerade weil Behinderung Teil der medialen Inszenierung ist und nicht als Randerscheinung in den Hintergrund tritt. Zugleich wird mit dieser Form der verqueerenden Körperpolitik eine doppelte Intervention in soziokulturelle Normen vorgenommen, denn es werden gleichermaßen subkulturelle wie hegemoniale Repräsentationsordnungen angefochten. Bleibt somit weiterhin eine allgemeine gesellschaftliche Unsichtbarkeit von Lesben und Schwulen mit Behinderung zu konstatieren, so wird dieses Thema mittlerweile in den bereits erwähnten Queer Disability Studies diskutiert. Insofern stellt Queerness auch einen Versuch dar, differente homoerotische Kulturen und Körper in die vorherrschenden queeren und Krüp-

47 | www.mouthmag.com/home.htm vom 6.6.2009. 48 | Vgl. J. Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit, S. 121.

92 | Heike Raab pel-Subkulturen einzuschreiben. 49 Queerness zielt folglich nicht nur auf die hegemoniale gesellschaftliche Ordnung und ist – wie dieses Beispiel zeigt – auch nicht nur als produktiver Teil gouvernementaler Körpertechnologien zu betrachten. Vielmehr ist die entnormalisierende Wirkung von Queerness im hohem Maße kontextabhängig. Nichtsdestotrotz, so möchte ich zum Schluss anmerken, sind subkulturelle Körperpolitiken nicht nur selbstermächtigend und entnormalisierend. Wie alle Versuche entnormalisierender Körper-Einschreibungen durch Sichtbarkeit und Öffentlichkeit bergen auch sie die Gefahr einer neuerlichen Festschreibung von Repräsentationen – und sei es bloß als subkulturelle Szene-Norm.

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94 | Heike Raab Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin: »Einleitung«, in: Dies., Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/ Farmington Hills 2007, S. 7-22.

Kategorien, die fiesen Biester. Identitäten, Bedeutungsproduktionen und politische Praxis Carola Pohlen

Wie normal sind die Normalen? Diese Frage wird auf einem der Plakate der 1000-Fragen-Kampagne der Aktion Mensch1 gestellt. Auf dem Plakat 2 ist eine Frau abgebildet, die scheinbar gerade einen Schönheitswettbewerb gewonnen hat. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf lächelt sie in die Kamera. Ihr Gesicht ist deutlich geschminkt, in ihrem Ausdruck spiegelt sich das Wissen darüber, dass sie gerade fotografiert wird. Sie trägt ein hellblaues, besticktes, trägerloses Kleid und eine rote Schärpe, auf der »Beauty Queen« zu lesen ist. Mit einer Hand präsentiert sie eine glitzernde Krone. Im Hintergrund ist ein roter Vorhang zu sehen, und links neben ihr steht ein üppiger Strauß rosaroter Blumen. Es könnte sein, dass sie sich auf einer Bühne befindet, das Szenario wirkt eindeutig komponiert. Die junge Frau ist blond, weiß, schlank und als Nichtbehinderte 3 dargestellt. Das Plakat ist Teil einer Kampagne, deren Ziel darin besteht, bioethische Fragestellungen öffentlich zu diskutieren.4 Seit Beginn des Projektes im 1 | Vgl. www.1000fragen.de vom 10. März 2009. 2 | www.1000fragen.de/projekt/anzeigen/detail.php?did=48 vom 10. März 2009 3 | Während Behinderung als Begriff recht etabliert ist, hat sich auch in den deutschsprachigen Disability Studies noch keine Bezeichnung für das »Gegenteil« von Behinderung durchgesetzt. Um deutlich zu machen, dass sowohl Behinderung als auch Nichtbehinderung im gleichen Maße untersuchbar und hinterfragbar sind, habe ich mich dazu entschieden, ihre Benennung anzugleichen. Ich spreche daher von Behinderung und Nichtbehinderung (anstelle von Nicht-Behinderung oder »Normalität«) sowie von behinderten und nichtbehinderten (anstelle von nicht behinderten) Individuen. 4 | Ich werde mich hier nur mit einem Plakat beschäftigen. Anne Waldschmidt u.a. haben die Website des 1000Fragen Projekts sehr viel ausführlicher unter diskurstheoretischen Gesichtspunkten untersucht. Sie nehmen insbesondere partizi-

96 | Carola Pohlen Jahre 2002 wurden Plakate, Kinospots und Anzeigen publiziert. Im Internet gibt es ein Forum, auf dem Fragen gesammelt und öffentlich diskutiert werden, Prominente aus Politik, Wissenschaft, Religion, Kultur und anderen Bereichen haben Patenschaften für einige der Fragen übernommen. Angesichts der Entwicklungen in den Biowissenschaften und in der Medizin gelte es, einen gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess anzustoßen, auf dessen Grundlage dann politische Entscheidungen getroffen werden sollen (z.B. im Bereich der Embryonenforschung, vorgeburtlichen Diagnostik und Sterbehilfe), so stellt sich die Kampagne auf ihren Internetseiten vor. In bioethischen Debatten, so steht dort weiter, werde unter anderem das Menschenbild einer Gesellschaft verhandelt: »Besonders betroffen von dieser Debatte sehen sich Menschen mit Behinderungen, denn auch alte Träume von der Perfektionierung des Menschen werden wieder wach.«5 So sprechen auch viele der auf den Plakaten gestellten Fragen Behinderung an, mal mehr, mal weniger offensichtlich.6 Wenn es um Behinderung geht, was ist dann aber mit Behinderung gemeint? Wie stellt die Kampagne Behinderung dar, welches Bild von Behinderung wird gezeichnet? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht so offensichtlich, wie es zunächst scheinen mag. Das Zitat präsentiert Behinderung als Gegenmodell des perfektionierten Menschen. In der Rede von »Menschen mit Behinderungen« liegt der Schwerpunkt zudem nicht auf den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einigen das Leben leichter machen und andere mitunter direkt diskriminieren, Behinderung wird vielmehr im Individuum lokalisiert. Das ist keine besonders emanzipatorische Vorstellung davon, was Behinderung sein könnte. In diesem Artikel werde ich mich mit der Frage auseinander setzen, wie eine Form der politischen Intervention aussehen könnte, die verbreitete Vorstellungen von Behinderung als einem schlimmen Schicksal, das sich aus einem biomedizinisch defi nierten Fehler ableitet, hinterfragt oder durchbricht. Ich interessiere mich für politische Projekte, die gesellschaftlich intervenieren und andere Perspektiven auf Behinderung und Nichtbehinderung eröffnen wollen. Zu diesem Zweck ist es wichtig, sich zunächst einmal darüber klar zu werden, dass Bedeutungen von Identitätskategorien nicht feststehen, sondern beständig verhandelt werden. Das Wissen darüber, was Behinderung bedeutet, ändert sich und ist veränderbar. Der Schwerpunkt meines Artikels liegt auf der Frage, welche Herangehensweise sich für poli-

pationstheoretische und wissenssoziologische Fragen in den Blick. Vgl. Anne Waldschmidt/Anne Klein/Miguel Tamayo Korte: Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet, Wiesbaden 2009. 5 | www.1000fragen.de vom 10. März 2009. 6 | Eine Auswahl: »Gibt es ein Grundrecht auf gesunde Kinder?«, »Wären Sie beim Vorgeburts-Check durchgekommen?« (www.1000fragen.de/projekt/anzeigen/index.php vom 10. März 2009), »Beginnt Behinderung schon bei der falschen Haarfarbe?« (www.1000fragen.de/projekt/anzeigen/index.php?pid=2 vom 10. März 2009).

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tische und reflexiv orientierte Projekte vor diesem Hintergrund als hilfreich erweisen könnte. Mit dem eingangs beschriebenen Plakat fange ich an.7

Wie normal sind die Normalen? Das ist zunächst einmal eine gute Frage, die Normalität 8 als unhinterfragbaren Mechanismus zu überschreiten scheint. Auf einem Plakat mit der Abbildung einer Schönheitskönigin verbunden verwirrte sie mich allerdings. Ich fragte mich, wie Frage und Bild zusammen passen. Wie kann eine Schönheitskönigin Normalität darstellen? Als Bebilderung der Frage wäre die Schönheitskönigin als Repräsentantin »der Normalen« zu interpretieren.9 Das ist interessant, besteht der Witz des Konzeptes von Schönheitswettbewerben schließlich darin, dass nur eine Person gewinnen kann. Normalität im Sinne einer statistisch ermittelten Norm kann eine Schönheitskönigin also nicht darstellen. Klassischerweise wird Normalität zudem häufig eher über den weißen, nichtbehinderten, heterosexuellen Mann dargestellt. Warum also kann die Schönheitskönigin hier als Bebilderung der Frage dienen? Die Zusammenstellung von Frage und Bild ergibt Sinn, wenn die Schönheitskönigin als Nichtbehinderte wahrgenommen wird. Wenn angenommen wird, dass sie nichtbehindert ist, dann wird die Frage möglich, ob sie möglicherweise behindert sein könnte. Ist sie vielleicht nicht normal? Stimmt irgendwas nicht mit ihr? Diese Fragen ordnen Behinderung und Nichtbehinderung als Gegensätze an, wobei Behinderung die Abweichung und das Gegenteil von Normalität darstellt. Nichtbehinderung war und bleibt unproblematisch mit Normalität identifiziert. Behinderung kommt weder in der Frage noch auf dem Bild vor, sie ist durch ihre Abwesenheit präsent. Dass die Frage und das Bild mit Behinderung überhaupt nichts zu tun haben, liegt im Zusammenhang mit der Kampagne fern. Behinderung kann als die 7 | Für hilfreiche Hinweise und Diskussionen in Bezug auf diesen Artikel bedanke ich mich bei Rebecca Maskos und Sven Bergmann. 8 | Normalität ist ein problematischer Begriff, unter anderem weil häufig nicht klar ist, in welcher Weise er benutzt wird. Dieser Artikel leistet keine Diskussion des Konzeptes der Normalität. Für eine Auseinandersetzung insbesondere mit dem Zusammenhang von Behinderung und Normalität vgl. z.B. Anne Waldschmidt: »Behinderte Menschen zwischen Normierung und Normalisierung«, in: Dies. (Hg.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, S. 129-137. 9 | Selbstverständlich ist das Plakat für andere Lesarten offen. Die Darstellung eines Wettbewerbs könnte als kritischer Verweis auf die gesamtgesellschaftlich durch Konkurrenzverhältnisse charakterisierte Herstellung von Normalität gelesen werden. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass eher als die dargestellte Situation, die auf dem Plakat abgebildete Person als »beispielhaft« für »Normalität« rezipiert wird.

98 | Carola Pohlen Kategorie verstanden werden, die der ganzen Montage Sinn verleiht, obwohl sie nicht explizit auftaucht. Das Plakat lädt dazu ein darüber nachzudenken, an welcher Stelle die Unterscheidungslinie zwischen Behinderung und Nichtbehinderung gezogen werden sollte. Es transportiert die Botschaft, dass Normalität und ihr Anderes, dass Nichtbehinderung und Behinderung voneinander trennbar seien und schlägt vor, diese Unterscheidung auszuhandeln und damit wieder neu zu bestimmen und einzusetzen. Es liefert kein emanzipatorisches Bild von Behinderung, es bietet nicht die Möglichkeit, Behinderung als etwas anderes als das Gegenteil von Normalität zu verstehen. Normalität wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Auch wenn das Plakat vermutlich darauf hinweisen will, dass Normalität eine Konstruktion ist und niemals (dauerhaft) verkörpert werden kann, bietet es eine Reihe von Möglichkeiten, sich dieser kritischen Perspektive zu entziehen. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn ich meine Überlegungen noch ein bisschen ausdehne und mich selbst in die Analyse einbeziehe. Schließlich bin ich eine derjenigen, die das Plakat ansprechen soll.10 Was passiert, wenn ich mir das Poster angucke, und welche Denkbewegungen erlaubt es mir? Ich bin der abgebildeten Frau in Hinblick auf einige der Identitätskategorien, die wir teilen, nicht vollkommen unähnlich: Ich bin weiblich, weiß, fast ebenso blond und nichtbehindert. Trotzdem fällt es mir leicht, mich nicht mit ihr zu identifizieren: Schönheitswettbewerbe reizen mich nicht, ich könnte sogar weit ausholen in meiner Kritik an ihnen. Insofern wirkt das Bild distanzierend: Ich nehme es wahr und positioniere mich außerhalb. Ohne große Probleme kann ich mich als Nichtbehinderte weiterhin als normal wahrnehmen, obwohl ich gerade aufgefordert wurde, Normalität kritisch zu reflektieren. Habe ich mich vorher schon als normal wahrgenommen, so muss ich an meiner Selbstwahrnehmung nichts ändern. Ich frage mich, wie das Plakat aus behinderter Perspektive interpretierbar wäre. Spricht es Behinderte, Nichtbehinderte und alle dazwischen auf die gleiche Weise an? Welche Distanzierungs- und Identifikationsmomente ergeben sich aus anderen Identitätspositionen? Bisher habe ich hauptsächlich über Behinderung und Nichtbehinderung nachgedacht. Das Plakat ist aber noch in anderer Hinsicht interessant. Eigentlich kommt man gar nicht darum herum, auch über die Kategorie Geschlecht nachzudenken. Das Poster regt dazu an, Schönheitsköniginnen aus der Gruppe »der Normalen« auszuschließen. In meiner Argumentation habe ich das bereits getan. Wenn Normalität etwas Erstrebenswertes ist – und ich würde argumentieren, dass so häufig gehandelt, gefühlt und gesprochen wird –, dann wird über das Poster eine bestimmte Form von Weiblichkeitsinszenierung delegitimiert. Bei Schönheitswettbewerben handelt es sich 10 | Selbstverständlich kann letztendlich nur die Befragung einer größeren Anzahl von unterschiedlichen Menschen verlässliche Hinweise darauf geben, wie das Plakat gelesen wird und welche Reflexionsprozesse es anstößt. Ich stelle hier exemplarisch Überlegungen aus meiner Position vor, um mögliche Fragerichtungen zu skizzieren.

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zudem um ein Moment der Zelebrierung einer bestimmten »Version« von Weiblichkeit, das sich durchaus (mehr oder weniger) kritisch angeeignet wurde und wird. 11 Was ist gewonnen, wenn bestimmte Formen weiblicher Existenz außerhalb des Normalen positioniert werden? Es gibt eine Reihe von Fragen, über die es sich hier nachzudenken lohnte. Wenn auf dem Plakat eine Form von Weiblichkeit gewissermaßen entwertet wird, welche Konsequenzen hat das für andere Arten, Weiblichkeit zu verkörpern und zu leben? Welche Rolle spielt Männlichkeit auf dem Poster? Könnte nicht behauptet werden, dass über die Hervorhebung der »Nichtnormalität« von gewissen Weiblichkeitsversionen Männlichkeit als »Kern« von Normalität unkritisch wieder eingesetzt wird? Männlichkeit wird hier schließlich erst einmal überhaupt nicht als »anormal« problematisiert. Die Überlegungen hören beim Geschlecht noch lange nicht auf. Es würde sich ebenso lohnen zu fragen, inwiefern Klassenverhältnisse unterschiedliche Formen vergeschlechtlichter Existenz strukturieren. Welche Frauen nehmen an Schönheitswettbewerben teil? Anwältinnen oder Kassiererinnen?12 Ich habe auf diese Fragen keine Antwort, aber ich halte es für eine relativ weit verbreitete und durchaus problematische Ansicht, dass in Wettbewerben dieser Art meist nicht Frauen in gut bezahlten Führungspositionen miteinander konkurrieren. Neben Behinderung, Geschlecht, oder Klasse gibt es eine Reihe weiterer Kategorien, auf die das Plakat untersucht werden könnte. Sicher werden Aussagen über Weißsein gemacht, und vermutlich lohnt es sich auch, nach Informationen über Alter(n) zu fragen. Nach der einleitenden kurzen und beispielhaften Analyse kategorialer Verstrickungen von Behinderung, Nichtbehinderung und Geschlecht werde ich mich im Folgenden auf die Perspektive konzentrieren, mit der ich mir das Poster angeguckt habe. Denn dort liegt der eigentliche Vorschlag verborgen, den ich in diesem Artikel machen möchte. Ich will für eine Art zu denken werben, die darauf achtet, wie bestehende Identitätskategorien mit Bedeutungen gefüllt und wie sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.13

11 | Eine ausführliche Diskussion um Aneignungen oder Weiblichkeit führte an dieser Stelle zu weit. Als Beispiele können queere Schönheitswettbewerbe oder Drag-Performances dienen. 12 | Diese Fragen sind wie viele ihrer Art implizit sexistisch. Das Interesse, das einige Frauen an »gutem Aussehen« haben, erscheint so von Qualifikation, Intelligenz oder Erfolg im Beruf getrennt. Die Kritik richtet sich dann häufig nicht mehr an die Normativität von Schönheitsidealen, sondern an einzelne Frauen, denen die Internalisierung dieser Standards vorgeworfen und ihre Intelligenz aberkannt wird. Stereotype von dummen Models und hässlichen Politikerinnen werden so perpetuiert. 13 | Tanya Titchkosky verfolgt in vielen ihrer Arbeiten einen ähnlichen Ansatz. Vgl. z.B. Tanya Titchkosky: Reading & Writing Disability Differently. The Textured Life of Embodiment, Toronto, Buffalo, London 2007.

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Behinderung, Nichtbehinderung und Bedeutungsproduktion. Was ist damit gemeint? Behinderung ist ohne Bezug auf Nichtbehinderung nicht denkbar, genau wie Nichtbehinderung ohne Verweis auf Behinderung keinen Sinn ergibt. Im Folgenden werde ich daher von Nicht*Behinderung 14 sprechen. So soll deutlich werden, dass nicht essentialisierende und an Individuen geknüpfte Kategorisierungen gemeint sind, sondern Nicht*Behinderung als regulatorischer Apparat 15 Körper, Identitäten und Gesellschaft organisiert und wieder von diesen strukturiert wird. Ähnlich wie andere Strukturierungskategorien (z.B. race und gender) spielt auch Nicht*Behinderung eine zentrale Rolle sowohl im Prozess der Subjektformierung als auch in der Deutung von unterschiedlichen Formen von Verkörperung. Nicht*Behinderung strukturiert die Art und Weise, in der sich Individuen aufeinander beziehen und beeinflusst, wie sie sich selbst und andere wahrnehmen. Unter anderem an diesem Punkt wird die jeweils spezifische Form von Nicht*Behinderung sichtbar. Nicht*Behinderung ist eine analytische Kategorie und begegnet niemandem in ihrer »reinen Form« draußen auf der Straße. Aber als sozialer Prozess16 findet sie ihren Ausdruck in zahlreichen Aushandlungsprozessen, deren Teil auch das Plakat der 1000Fragen Kampagne ist. Behinderung und Nichtbehinderung existieren als Begriffe in einer Welt, die intersubjektiv immer wieder erfahren und interpretiert wird. 17 Sie existieren in Kontexten, in denen ihnen beständig Bedeutungen gegeben werden (und schon vorher wurden). Wer auch immer sie als Begriffe benutzt, muss sie in Hinblick auf das über sie bereits verbreitete Wissen benutzen. 18 Was Behinderung und Nichtbehinderung als Kategorien jeweils bedeuten und wie 14 | Michael Schillmeier benutzt den Begriff »dis/ability«, um etwas Ähnliches auszudrücken. Ich bevorzuge Nicht*Behinderung, weil so neben Behinderung auch Nichtbehinderung als soziale Kategorie sichtbar wird und ich mir vom »Stolpern« im Lesen erhoffe, dass der Begriff als analytische Kategorie und nicht als Identitätsbezeichnung erinnert wird. Vgl. Michael Schillmeier: »Zur Politik des BehindertWerdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuem Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 79-99. 15 | Den Begriff des regulatorischen Apparates entnehme ich Judith Butlers Auseinandersetzungen mit dem Geschlechterverhältnis. Sie versteht Gender als einen solchen Apparat und verwahrt sich damit gegen ein Verständnis, das Gender als Femininität oder Maskulinität missversteht. Vielmehr stelle Gender Maskulinität und Femininität in ihrem spezifischen Verhältnis als natürlich erscheinende Oppositionen erst her. (Vgl. z.B. Judith Butler: Undoing Gender, New York, London 2004.) 16 | Vgl. Lennard Davis: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness, and the Body, London, New York 1995. 17 | Vgl. Alfred Schütz: On Phenomenology and Social Relations, Chicago 1970. 18 | Vgl. T. Titchkosky: Reading & Writing Disability Differently.

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sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden steht also nicht fest, sondern ist Gegenstand impliziter und expliziter Auseinandersetzungen. Margrit Shildrick und Janet Price fassen in ihren Überlegungen Körperlichkeit im Hinblick auf Nicht*Behinderung prozesshaft: »[…] the body as abled/disabled has historicity and is constructed, not by onceand-for-all acts, nor yet by intentional processes, but through the constant reiteration of a set of norms. It is through such repetitive practice that the body as abled/ disabled is both materialized and naturalized.«19

Behinderung oder Nichtbehinderung lassen sich also mit einem objektivierenden Blick auf den einzelnen Körper nicht sinnvoll beschreiben. Nur in Bezug auf die beständige soziale Regulierung vieler Körper und Identitäten lässt sich etwas darüber aussagen, was Behinderung und Nichtbehinderung (gerade hier und jetzt) bedeuten. Diese Regulierungen können dabei viele unterschiedliche Formen annehmen. Sie werden sichtbar in Treppen, die manchen Menschen Zugang verschaffen und anderen nicht, sie werden spürbar im persönlichen Budget, das einigen mehr Selbstbestimmung erlaubt und anderen nicht, und sie haben Konsequenzen, wenn Personalchef_ innen20 denken, sie wüssten, wer was kann. So werden Nichtbehinderung und Behinderung häufig nicht als gleichwertige Existenzweisen hervorgebracht, viele dieser sozialen Regulierungen sind nicht besonders effektiv darin, allen Menschen gleichberechtigten Zugang zum gesellschaftlichen Leben zu verschaffen. Nicht*Behinderung wirkt also nicht nur prozesshaft, sondern ist zudem intern hierarchisch strukturiert und hat in seiner jetzigen Form für viele Menschen klare Diskriminierung zur Folge. Nichtbehinderung stellt gegenwärtig die gesellschaftlich eindeutig privilegierte Position dar. Wer jemals versucht hat, kritisch über Nicht*Behinderung zu sprechen oder zu schreiben, wird festgestellt haben, dass es nicht einfach ist, sie als sozialen und asymmetrischen Prozess sichtbar zu machen. Es ist möglich, über Körper zu sprechen und darüber, wie sie aufeinander bezogen sind. Es ist auch nicht schwierig festzustellen, dass Körper medizinisch als behindert oder nichtbehindert bestimmt werden. Aber sobald Behinderung oder Nichtbehinderung etwas anderes bezeichnen sollen, ergeben sich Schwie19 | Margrit Shildrick/Janet Price: »Breaking the Boundaries of the Broken Body«, in: Body and Society 2/4 (1996), S. 93-113, hier S. 94. 20 | Um im Schriftbild deutlich zu machen, dass Geschlechtlichkeit auch jenseits der Kategorien von Weiblichkeit und Männlichkeit prozesshaft verkörpert wird und auch »innerhalb« der Kategorien durch eine große Vielfalt ausgezeichnet ist, verwende ich den Unterstrich, sofern sich geschlechtliche Markierungen nicht vermeiden lassen. Für eine ausführliche Argumentation vgl. Steffen Kitty Hermann: »Performing the Gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignungen«, in: A.G. Gender Killer (Hg.), Das Gute Leben. Linke Perspektiven auf einen besseren Alltag, Münster 2007, S. 195-203.

102 | Carola Pohlen rigkeiten: Wie wäre es z.B. möglich, von Behinderung zu sprechen und damit eine Form verkörperter Existenz zu beschreiben, die begehrenswert sein kann?21 Wie könnten unterschiedliche verkörperte Bezüge auf die Welt in ihrer Vielfalt und Veränderlichkeit gesehen und geschätzt werden? Diese Fragen sind nicht einfach und erst recht nicht endgültig zu beantworten. Sie sind aber hilfreich, um nicht zu vergessen, dass es andere Möglichkeiten gibt, über Nicht*Behinderung nachzudenken und dass die Lebensrealitäten einzelner Menschen mitunter weit von den Bedeutungen entfernt sind, die mit Behinderung und Nichtbehinderung vorwiegend assoziiert werden. Auch emanzipatorische politische Praxis ist Teil der Aushandlungsprozesse von Nicht*Behinderung. Es stellt sich also die Frage, wie von Behinderung und Nichtbehinderung gesprochen werden kann, ohne im notwendigen Bezug auf bestehende Bedeutungen die Problematiken der gegenwärtigen Struktur und Wirkweise von Nicht*Behinderung unkritisch zu wiederholen und damit zu stärken. Dass Behinderung und Nichtbehinderung als binäre Kategorien erscheinen, ist schließlich nicht Ausdruck »realer Verhältnisse«, sondern Konsequenz und Bedingung zahlreicher Praktiken, die sie als solche einsetzt. Die eigene Praxis in Hinblick darauf zu reflektieren, mit welchen Bedeutungen Behinderung und Nichtbehinderung verknüpft und wie sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, bietet die Chance auf die Entwicklung von Interventionen, die problematische und kritikwürdige Dimensionen von Nicht*Behinderung überschreiten. Es lohnt sich also, mit einer einfachen Frage zu beginnen: »Was ist damit gemeint?« Sowohl beim Blick auf die eigene Praxis als auch in Bezug auf die Gestaltung der Welt gilt es zunächst einmal, das gesellschaftlich bereits vorhandene Wissen zu entziffern. Was wissen wir über die Bedeutungen von Behinderung und Nichtbehinderung? Welche Bedeutungen transportieren unsere Projekte? Dabei darf nicht vergessen werden, dass Wissen und Bedeutungen nicht nur über die Verwendung von Sprache transportiert und hergestellt werden, sondern auch über alltägliche Erfahrungen in Gesellschaften, in denen Barrierefreiheit gegen Denkmalschutz diskutiert wird und in denen Selbstbestimmung nicht für alle das Gleiche bedeutet. Diskussionen im Bereich der Pränataldiagnostik oder Sterbehilfe um die Frage, welches Leben lebenswert sei, haben mitunter dramatische und sehr materielle Konsequenzen.

Wie weiter, wenn es ohne Kategorien nicht geht? Behinderung und Nichtbehinderung sind Kategorien, die historisch und kulturell spezifische (umstrittene) Bedeutungen haben, die beständig ausgehandelt werden. Ihre jeweiligen Bedeutungen haben Konsequenzen. Kate21 | Vgl. z.B. Eli Clare: Exile & Pride. Disability, Queerness, and Liberation, Cambridge 1999.

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gorien werden zur Klassifizierung22 von Menschen benutzt und sind damit wirkmächtige Technologien, die immer unsichtbarer werden, je besser sie in Infrastrukturen eingebettet sind.23 Wie Individuen sich selbst wahrnehmen und wie sie wahrgenommen und behandelt werden, hat, wie Irving Zola zeigt, oft mehr mit den Bedeutungen der auf sie »angewendeten« Kategorien zu tun als mit ihren konkreten Handlungen.24 Susan Koppelman weist darauf hin, dass Behinderung als Kategorie Komplexität reduziert: »When considering disability, it is important to bear in mind that the same differences exist among people with disabilities and chronic illnesses, including people with the same disability or chronic illness, as exist among people temporarily without disabilities or chronic illnesses.«25

Das Label »behindert« sagt also erstmal nicht sehr viel, genauso wenig wie die Bezeichnung nichtbehindert oder chronisch krank. Was unterscheidet diejenige, die Treppen steigt von derjenigen, die im Unterricht nicht folgen kann? Wenn ich Probleme habe, mich in öffentlichen Räumen zu bewegen, zu welcher Gruppe gehöre ich? Um diese Fragen zu beantworten, müssten zunächst ein paar weitere Fragen gestellt werden: Welcher Art sind die Probleme, sich im öffentlichen Raum zu bewegen? Sind sie temporär oder dauerhaft? Wodurch werden sie ausgelöst? Handelt es sich bei der Person, die Treppen steigt, auch um die Person, die sich nicht problemlos in der Welt bewegt? Antworten auf diese Fragen zu finden ist immer Teil eines Prozesses, in dem Menschen zu Behinderten und Nichtbehinderten gemacht werden. Und wenn Antworten gefunden wurden, so ist noch immer fraglich, wie ähnlich sich Menschen sind, die nach einem solchen Fragenkatalog in derselben »Gruppe« gelandet sind. Es kommt schließlich sehr darauf an, welche Fragen gestellt werden. Und dann gibt es ja noch diejenigen, über die nichts gefragt wird. Sind sie deswegen alle gleich? Unterscheiden sie sich von den Befragten? Kategorisierungen wohnt immer ein Stück Gewalt inne: Die Klassifizierung von Menschen in verschiedene Gruppen geschieht nicht aus einer 22 | Ich unterscheide zwischen Kategorisierung und Klassifizierung, wobei Ersteres sich auf die Identifi kation und Einteilung von Individuen anhand von Identitätskategorien bezieht. Als Klassifizierungen bezeichne ich die Sortierung von Individuen mit Bezug auf medizinische Diagnosen sowie hierarchisch angeordnete Kategorisierungen. An dieser Stelle spreche ich von Klassifizierung, um auf die den Kategorisierungen häufig innewohnenden Wertungen zu verweisen. 23 | Vgl. Geoff rey C. Bowker/Susan Leigh Star: Sorting Things Out. Classification and Its Consequences, Cambridge, London 1999, S. 319. 24 | Vgl. Irving Kenneth Zola: »Self, Identity and the Naming Question. Reflections on the Language of Disability«, in: Social Science and Medicine 36 (1993), S. 167-173. 25 | Susan Koppelman: »Thinking about Disability«, in: off our backs (2002), S. 16-17, hier S. 17.

104 | Carola Pohlen freiwilligen Entscheidung heraus, sondern läuft entlang eines bestimmten gesellschaftlichen Verständnisses »geteilter Merkmale«.26 Wenn es viele Unterschiede zwischen den so zusammengefassten Menschen gibt, dann werden mit dem unkritischen Bezug auf eine als homogen präsentierte Identitätskategorie einige dieser Erfahrungen und Lebensrealitäten unsichtbar. Trotzdem ist es unmöglich, nicht in Kategorien zu denken oder ohne sie zu arbeiten. In meiner Auseinandersetzung mit dem Poster habe ich untersucht, wie einer Reihe von Identitätskategorien wie Behinderung, Nichtbehinderung, Weiblichkeit und Männlichkeit Bedeutungen verliehen werden. Dabei wurde deutlich, dass diese Kategorien bei weitem nicht so homogen sind, wie sie erscheinen. Was Koppelman schreibt, gilt also nicht nur für Behinderung, sondern ebenso für andere Identitätskategorien. Es gibt nicht nur eine Form von Weiblichkeit und nicht nur eine soziale Klasse.27 Niemand ist nur behindert, nur weiblich, nur Student_in oder nur Arbeiter_in. Nicht alle genießen in Deutschland das Privileg, über ihre Hautfarbe nicht nachdenken zu müssen. Zudem können weder Behinderung noch Nichtbehinderung dauerhaft kohärent verkörpert werden.28 Körper verändern sich im Laufe der Zeit ebenso wie die Gesellschaften, in denen sie existieren. In verschiedenen Kontexten wird dieses Problem schon lange theoretisch zu fassen versucht, dabei wurde unter anderem das Konzept der Intersektionalität entwickelt.29 Dieser Begriff soll deutlich machen, dass sich Kategorien vielfach überschneiden. Das Bild der Kreuzung, das dem Intersektionalitätskonzept zu Grunde liegt, ist aber nicht ganz unproblematisch. Sie legt nahe, dass die Kategorien jenseits ihrer Überkreuzungen klar eingrenzbar und bestimmbar seien. Solche Eingrenzungen sind aber schwierig, wie in meinen Überlegungen zum Plakat gut sichtbar wurde. Meine Gedanken zur Darstellung 26 | Vgl. Rebecca Maskos: »Von Monstern zu Heldinnen. Der Wandel des Blicks auf die Subjektivität behinderter Menschen«, in: Initiative Not a Lovesong (Hg.), Subjekt (in) der Berliner Republik, Berlin 2003, S. 151-163. 27 | Auch wenn ich im Rahmen dieses Textes nicht ausführlich darauf eingehe, ist es wichtig zu bemerken, dass diese Kategorien selbstverständlich nicht nur als Identitätskategorien existieren, sondern auch strukturell wirksam sind. Eine etwas polemische Kritik, die sowohl einen Überblick über Intersektionalitätsdebatten als auch ein Plädoyer für die Diskussion von Strukturkategorien bietet, liefert Tove Soiland in ihrem Eröffnungsbeitrag einer Diskussion bei querelles-net. Vgl. Tove Soiland: »Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie«, in: Querelles-Net 26 (2008), www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/694/702 vom 20. April 2009. 28 | Vgl. z.B. Robert McRuer: »Compulsory Able-Bodiedness and Queer/Disabled Existence«, in: Sharon L. Snyder/Brenda Jo Brueggemann/Rosemarie Garland Thomson (Hg.), Disability Studies. Enabling the Humanities, New York 2002, S. 8899. 29 | Als Beispiel für einen der zentralen Texte dieser Debatte vgl. Leslie McCall: »The Complexity of Intersectionality«, in: Signs 30/3 (2005), S. 1771-1800.

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von Behinderung und Nichtbehinderung führten zur Darstellung von Geschlecht und schließlich zur Frage, wie Klassenverhältnisse Formen vergeschlechtlichter Existenz strukturieren. Als kritische Weiterentwicklung des Intersektionalitätskonzepts wurde daher der Begriff der interdependenten Kategorien entwickelt.30 Um zu zeigen, dass Kategorien keinen genuinen Kern haben, sondern sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse auch innerhalb von Identitätskategorien überschneiden, soll der Begriff der Interdependenzen auf die gegenseitige Abhängigkeit von Kategorien untereinander hinweisen. Aber zurück zur politischen Praxis. Wie können diese Gedanken hier hilfreich sein? Die Erkenntnis, dass Kategorien vereinheitlichend wirken und Kategorisierungen gewaltförmige Prozesse sind, ist wichtig, aber es ist nicht ganz klar, was daraus folgt. Identitätskategorien sind manchmal auch nützlich. Zum Beispiel, wenn auf ihrer Grundlage bestimmte Verhältnisse kritisiert werden sollen. Beispielsweise muss festgelegt werden, wer von Antidiskriminierung profitieren soll. Und überhaupt, ohne Kategorien wäre Denken und Sprechen ja gar nicht möglich, warum ist es wichtig, sich an dieser Stelle so lange mit ihnen aufzuhalten? Es ist wichtig, weil die Bedeutungen der Kategorien verhandelbar sind. Zumindest in gewissem Maße sind die »Inhalte« von Identitätskategorien verschiebbar, und gerade hier bietet sich die Möglichkeit zur politischen Intervention. Das Wissen um die Komplexität von Kategorien sowie um ihre (begrenzte) Flexibilität erlaubt es, sich anders auf sie zu beziehen, sie zu öffnen und zu ändern, was mit ihnen gemeint ist. Das ist nicht immer unkompliziert. Diese Ambivalenz von Kategorisierungen und das Problem ihrer Aushandlung lässt sich exemplarisch an den Auseinandersetzungen um die medizinische Diagnose »Gender Identity Disorder« (auf deutsch »Geschlechtsidentitätsstörung«) darstellen.31 »Geschlechtsidentitätsstörung« ist seit 1994 die formale medizinische Bezeichnung für Menschen, 30 | Vgl. Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt/Kerstin Palm: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen, Farmington Hills, 2007. 31 | Auch in Hinblick auf Behinderung finden immer wieder solche Aushandlungen statt. Besonders interessant sind hier vielleicht die sog. neuen soziomedizinischen Störungen. Claudia Malacrida beschreibt in einem ethnographischen Artikel sehr anschaulich die Strategien von Müttern, deren Kinder mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) diagnostiziert wurden. Sie sind gezwungen, aus einer relativ untergeordneten Machtposition für ihre Kinder zu »sorgen«. Vor dem Hintergrund mächtiger medizinischer, psychiatrischer und erzieherischer Diskurse treten sie als handelnde und wissende Subjekte in Verhandlungen darüber ein, was ADS ist und wie es »behandelt« werden sollte. Malacrida untersucht vor allem, wie Wahrheit verhandelt wird und aus welchen Positionen heraus welche Strategien erfolgreich sind. Vgl. Malacrida, Claudia: »Motherhood, Resistance and Attention Deficit Disorder: Strategies and Limits«, in: Canadian Review of Sociology and Anthropology 38/2 (2001), S. 141-165.

106 | Carola Pohlen die sich nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, dem sie bei ihrer Geburt zugeordnet wurden.32 Transgender33 kritisieren die Diagnose einerseits als Pathologisierung, andererseits ist sie für diejenigen, die ein Interesse an medizinischen Eingriffen haben, ein wichtiges Instrument. Durch die Diagnose ergeben sich Möglichkeiten zur Übernahme von (Teil-)Kosten durch Krankenversicherungen. So gibt es Ablehnung, aber auch Reformierungsbemühungen.34 So wie ich es anfangs mit dem Poster getan habe, kann auch in diesem Kontext nach Bedeutungsproduktionen gefragt werden: Was ist damit gemeint? Wenn über Männlichkeit und Weiblichkeit geredet wird, was ist gemeint? Wenn von einer Störung gesprochen wird, was heißt das? Es geht also nicht mehr um die Frage, ob Identitätskategorien gut oder schlecht sind, sondern darum, was wir eigentlich über die Kategorien wissen, die wir benutzen. Bevor es also darum geht, politisch mit Identitätskategorien zu arbeiten, gerät das gesellschaftlich vorhandene Wissen über sie in den Blick. Wenn sie beständig ausgehandelt und mit Bedeutungen versehen werden, dann partizipieren wir daran und können das bewusst tun. Politische Interventionen, die vor dem Hintergrund einer solchen Auseinandersetzung stattfinden können, sollten sich nicht nur auf die Analyse von Plakaten und einer darauf folgenden Erstellung besserer Plakate beschränken.35 Bedeutungen werden auch über die Einrichtung der materiellen Welt hergestellt und über bestimmte politische Regelungen. In Hinblick auf die Diskussion um »Geschlechtsidentitätsstörung« wären z.B. die Möglichkeiten, die sich für die Bezahlung von Operationen finden lassen, einflussreich für die Lebensbedingungen als Transgender. Was Behinderung und Nichtbehinderung betriff t, so haben die Einrichtung des öffentlichen Verkehrsnetzes einer Stadt oder die Art und Weise, wie persönliche Assistenz finanziert wird, einen starken Einfluss darauf, was es bedeutet, behindert oder nichtbehindert zu sein/werden. Über die Einrichtung der materiellen Welt wird unter anderem bestimmt, wer sich wo bewegen kann, und darüber wird Wirklichkeit strukturiert. So haben und produzieren nicht nur Bilder und Geschichten Bedeutungen. Genau wie es möglich ist, ein Plakat zu analysieren, wäre es beispielsweise möglich, die Einrichtung eines Arbeitsplatzes zu untersuchen auf die Bedeutungen, die dort produziert werden. Die Art und Weise, wie er eingerichtet ist, sagt etwas darüber aus, wer darin arbeiten soll. Damit ist eine Aussage darüber gemacht, wessen Arbeitskraft als gesellschaftlich wertvoll gilt. 32 | Die medizinische Bezeichnung »Geschlechtsidentitätsstörung« wurde so im DSM-4 festgelegt, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, einem Klassifi kationssystem der American Psychiatric Association. 33 | http://en.wikipedia.org/wiki/Transgender vom 16. April 2009. 34 | Vgl. http://gidreform.org/vom 10. März 2009. 35 | Es ist selbstverständlich, dass es das »perfekte Plakat« nicht geben kann. Ebenso wenig möchte ich Provokation als Stilmittel verbieten. Momente der Unauflösbarkeit, Verwirrung und Widersprüchlichkeit können sehr produktiv sein.

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Das Nachdenken über Bedeutungsproduktionen ist aber nicht sehr hilfreich, wenn die Macht- und Herrschaftsverhältnisse, innerhalb derer Kategorien verhandelt und mit Bedeutungen versehen werden, nicht reflektiert werden. Denn diese Aushandlungen finden ja nicht jenseits gesellschaftlicher Verhältnisse statt. In Bezug auf die Auseinandersetzungen um die Diagnose »Geschlechtsidentitätsstörung« gibt es eine Reihe von Fragen,36 die über die Problematisierung von Kategorien hinausgehen: Wem hilft es, wenn »Geschlechtsidentitätsstörung« als Krankheit anerkannt ist? Welche Bedeutung hat der Zugang zu einer queeren Szene? Wie sieht es ohne Anbindung an eine Szene aus? Welche Effekte ergeben sich aus der finanziellen Situation Einzelner? Ist es legitim, gegen die Kategorisierung zu kämpfen, wenn ich es mir leisten kann, auch ohne finanzielle Unterstützung einer Krankenversicherung wichtige Operationen durchführen zu lassen? Alle diese Fragen erlauben es, über die sozialen, materiellen und kulturellen Bedingungen nachzudenken, innerhalb derer Verhandlungen um Kategorien stattfinden. Ein direkter Blick auf einzelne Debattenbeiträge führte wieder zu Fragen nach den Bedeutungen der hier verhandelten Identitätskategorien zurück. Die Perspektive auf Bedeutungsproduktionen kann für politische Praxis sehr hilfreich sein, wenn sie mit Blick auf die Machtverhältnisse, die diese Produktion bestimmten, gestellt wird.

Who are you to say that? Ist es eigentlich legitim, dass ich über derlei Fragen nachdenke, wenn nicht so richtig klar ist, wie mein eigener Bezug zu ihnen ist? Was habe ich zu tun mit einer Einschätzung von Diagnosen, die Geschlechtlichkeit regulieren? Ich stelle diese Frage nicht, weil ich meine, ich dürfte darüber nicht nachdenken, sondern weil ich es für zentral halte, dass reflektiert wird, wie nachgedacht wird. Derlei Reflexionsarbeit wird häufig dethematisiert, so zum Beispiel wenn Nichtbehinderte darüber nachdenken, wie Behinderten »geholfen« werden sollte. Was hier vergessen wird ist die Tatsache, dass jede Identitätsposition, egal in welcher Weise, in Machtverhältnisse verstrickt ist. Das bedeutet nicht, dass das Denken Einzelner durch ihre Identitätspositionen determiniert wäre. Aber ebenso wenig ist es davon unbeeinflusst. Und verkompliziert wird das Ganze dadurch, dass niemand nur einer Identitätskategorie angehört und diese jeweils auch noch intern strukturiert sind. Identitätspositionen sind in Machtverhältnisse verstrickt. Das bedeutet, auch der Impuls, politisch zu handeln, existiert nicht jenseits davon. Identitätspositionen sichtbar und reflektierbar zu machen ist ein wichtiger Schritt, aber wenn Identitätskategorien nicht notwendig feststehen und auch ihre Bedeutungen sich ändern, dann ist die Frage, wie hilfreich es ist, wenn ich hier schreibe, dass ich weiß bin und nichtbehindert. Was sagt meine weib36 | Einige meiner Gedanken zu dieser Frage entnehme ich J. Butler: Undoing Gender, insbesondere S. 75-101.

108 | Carola Pohlen liche Sozialisation in einer Mittelklassefamilie über mich und die Projekte, die ich interessant finde, aus? Wie unterscheide ich mich von denjenigen, die alle diese Identitätskategorien teilen, und in welcher Hinsicht gleichen wir uns? Die Nennung einer Reihe solcher »Identitätsmarker« taucht immer häufiger auf, oft bleibt sie dabei aber seltsam kontextfrei und auch der Vorwurf, dass problematische Identitätskategorien so eher gestärkt als hinterfragt werden, triff t nicht ins Leere. Statt sich in entlarvenden Sprachspielen um Kategorien zu verlieren, stellt Donna Haraways Konzept des Situierten Wissens eine Möglichkeit dar, mit einem feministischen Objektivitätsbegriff zu arbeiten, der weder essentialistisch noch radikaldekonstruktivistisch oder relativistisch argumentiert.37 Sie fragt, wie eine Wissenschaft funktionieren kann, die nicht alles zur Konstruktion erklärt, sondern sich auf die Welt und die Dinge in ihr bezieht, ohne sie dabei als unveränderliche, »natürliche« und abgeschlossene Einheiten zu begreifen. Wenn Wissensproduktion nicht nur an Universitäten stattfindet, sondern auch in den vielen alltäglichen Praxen, in denen Identitätskategorien wie Behinderung, Geschlecht oder DeutschSein mit Bedeutungen gefüllt werden, dann sind Haraways Fragen auch im Kontext der Frage nach politischen Interventionsformen interessant. Wenn jeden Tag und immer im Kontext bereits bestehender Bedeutungen und in Interaktion mit materiellen Gegebenheiten Wissen produziert wird, dann bietet Haraway möglicherweise einen Vorschlag, wie das passieren könnte, ohne dass kritisierte Herrschaftsverhältnisse ungebrochen reproduziert werden. Haraway plädiert für die Etablierung von Netzwerken und Diskussionszusammenhängen, in denen eine Vielfalt an begrenzten und verortbaren kritischen Perspektiven existiert. Indem Wissensansprüche und Subjekte in ihrem Kontext begriffen würden und die Unterschiede in den vielen verschiedenen lokalen Wissensformen anerkannt werden, wird eine Beschreibung der Welt – und damit auch die Produktion von Bedeutungen – möglich, in der die Wissensproduzent_innen zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Das bedeutet, dass niemand aus sich heraus Zugang zur Wahrheit haben kann, sondern dass eine Beschreibung der Welt nur in Kommunikation mit anderen möglich ist. Das hieße für die politische Praxis, sich in Netzwerken zu organisieren und die Begrenztheit der eigenen Perspektive zu akzeptieren und sich gleichzeitig darüber bewusst zu sein, dass der gesellschaftliche Hintergrund und die materielle Einrichtung der Welt nicht unbeteiligt an den Prozessen der Bedeutungsproduktion sind. Auch Dinge – wie Aufzüge, Brillen, Kleidung usw. – sind aktiv in der Produktion von Wissen und Bedeutungen. Wenn ich eine Kampagne vorbereite, aber die Treffen in einem teuren Restaurant im ersten Stock eines Gebäudes ohne Fahrstuhl stattfinden, dann hat auch dies Auswirkungen auf die Durchführung und Ergebnisse meiner Initiative. In diesem 37 | Vgl. Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Dies., Die Neuerfi ndung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M., New York 1995, S. 73-97.

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konstruierten Beispiel treten bereits zwei sehr klare Exklusionsformen auf: Wer kann den Plenumsort überhaupt erreichen, und wer kann es sich finanziell leisten, zu diesen Treffen zu kommen?38 Wieder würden Aussagen darüber produziert, wer in der Organisation der Kampagne als hilfreiche_r Mitstreiter_in gilt. Wenn Haraway von partialen und verortbaren Perspektiven spricht, dann sind damit nicht fi xe Identitätspositionen gemeint, und das ist wichtig. Situiertes Wissen bedeutet nicht einfach nur, dass jede Person aus ihrer Perspektive denkt und handelt. Positionierung ist bei Haraway immer als ein Prozess zu verstehen und niemals als abgeschlossen. Positionalität als Praxis ist verknüpft mit dem Anspruch, die eigene Verflochtenheit in jedem Projekt immer wieder und in Bezug auf die spezifischen Bedingungen zu reflektieren. Welche der vielen Identitätskategorien von Bedeutung sind, muss dabei immer in Hinsicht auf das jeweilige Projekt bezogen bestimmt werden. Mit jeder neuen Positionierung geht die Verantwortung für das einher, was wir aus unserer von gesellschaftlichen Machtverhältnissen strukturierten Position heraus tun. Homi Bhaba argumentiert für eine Art der Theoriebildung, die nicht danach strebt zu stabilisieren oder zu fi xieren, sondern danach, Wissen, das es bereits gibt, zu öffnen und zu überschreiten. Er schreibt: »[…] the transformational value of change lies in the rearticulation, or translation, of elements that are neither the One […] nor the Other […] but something else besides, which contests the terms and territories of both«39 . Um überschreiten zu können, was über Behinderung und Nichtbehinderung gewusst wird, ist es wichtig, den Praktiken Aufmerksamkeit zu schenken, die Nicht*Behinderung alltäglich herstellen. Sowohl Haraways Konzept des Situierten Wissens als auch mein Plädoyer für die Aufmerksamkeit für Bedeutungsproduktionen messen Praktiken und Prozessen dabei gesteigerte Bedeutung zu. Beides verstehe ich als einen Aufruf, bereits vorhandenes Wissen und etablierte Vorstellungsweisen auf ihre Verstrickungen in Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu untersuchen, um dann strategisch und spezifisch intervenieren zu können.

38 | Fragen im Zusammenhang mit Barrierefreiheit sind sehr viel komplexer, als es hier dargestellt werden kann, vor allem, wenn der Abbau von Barrieren für die Einen den Ausschluss Anderer bedeutet. In meiner Erfahrung ist das allerdings eher selten ein Grund für den weiterhin häufig vorkommenden Ausschluss derjenigen, die meistens ausgeschlossen werden. 39 | Homi K. Bhaba: The Location of Culture, New York 1994, S. 41.

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Literatur Bhaba, Homi K.: The Location of Culture, New York 1994. Bowker, Geoffrey C./Leigh Star, Susan: Sorting Things Out. Classification and Its Consequences, Cambridge, London 1999. Butler, Judith: Undoing Gender, New York, London 2004. Clare, Eli: Exile & Pride. Disability, Queerness, and Liberation, Cambridge 1999. Davis, Lennard: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness, and the Body, London, New York 1995. Haraway, Donna: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M., New York 1995, S. 73-97. Hermann, Steffen Kitty: »Performing the Gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignungen«, in: A.G. Gender Killer (Hg.), Das Gute Leben. Linke Perspektiven auf einen besseren Alltag, Münster 2007, S. 195-203. Koppelman, Susan: »Thinking about Disability«, in: off our backs (2002), S. 16-17. Malacrida, Claudia: »Motherhood, Resistance and Attention Deficit Disorder: Strategies and Limits«, in: Canadian Review of Sociology and Anthropology 38/2 (2001), S. 141-165. Maskos, Rebecca: »Von Monstern zu Heldinnen. Der Wandel des Blicks auf die Subjektivität behinderter Menschen«, in: Initiative Not a Lovesong (Hg.), Subjekt (in) der Berliner Republik, Berlin 2003, S. 151-163. McCall, Leslie: »The Complexity of Intersectionality.«, in: Signs 30/3 (2005), S. 1771-1800. McRuer, Robert: »Compulsory Able-Bodiedness and Queer/Disabled Existence«, in: Sharon L. Snyder/Brenda Jo Brueggemann/Rosemarie Garland Thomson (Hg.), Disability Studies. Enabling the Humanities, New York 2002, S. 88-99. Schillmeier, Michael: »Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 79-99. Schütz, Alfred: On Phenomenology and Social Relations, Chicago 1970. Shildrick, Margrit/Price, Janet: »Breaking the Boundaries of the Broken Body«, in: Body and Society 2/4 (1996), S. 93-113. Titchkosky, Tanya: Reading & Writing Disability Differently. The Textured Life of Embodiment, Toronto, Buffalo, London 2007. Tove Soiland: »Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie«, in: Querelles-Net 26 (2008), www.querelles-net.de/index.php/qn/article/ view/694/702 vom 20. April 2009.

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Waldschmidt, Anne/Klein, Anne/Tamayo Korte, Miguel: Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet, Wiesbaden 2009. Waldschmidt, Anne: »Behinderte Menschen zwischen Normierung und Normalisierung«, in: Dies. (Hg.), Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel 2003, S. 129-137. Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen, Farmington Hills 2007. Zola, Irving Kenneth: »Self, Identity and the Naming Question. Reflections on the Language of Diability«, in: Social Science and Medicine 36 (1993), S. 167-173.

Links http://www.1000fragen.de vom 10. März 2009. http://www.1000fragen.de/projekt/anzeigen/index.php vom 10. März 2009. http://www.1000fragen.de/projekt/anzeigen/detail.php?did=48 vom 10. März 2009. http://www.1000fragen.de/projekt/anzeigen/index.php?pid=2 vom 10. März 2009. http://en.wikipedia.org/wiki/Transgender vom 16. April 2009. http://gidreform.org/ vom 10. März 2009.

Diskriminierung ist (fast) immer mehrdimensional: »Rasse«, Geschlecht und Behinderung aus rechtlicher Sicht Julia Zinsmeister

Zum 1.1.2009 wurde die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) in der Bundesrepublik für verbindlich erklärt. Das entsprechende Bundesgesetz trat am 26.3.2009 in Kraft.1 Die Konvention würdigt Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens und garantiert Menschen mit Behinderungen ihre bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Sie verbietet ihre Diskriminierung in allen Lebensbereichen, verpflichtet die Vertragsstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um bestehende Ungleichheiten zu beseitigen. In Art.6 Abs.1 CRPD heißt es: »Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und ergreifen in dieser Hinsicht Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können.«

Mit dieser Regelung wurde im Internationalen Recht ein weiterer bedeutender Schritt zur Anerkennung der Tatsache vollzogen, dass Diskriminierungen häufig mehrdimensional wirken. Hiervon sind nicht nur, vor allem aber Frauen gesellschaftlicher Minderheiten betroffen.

1 | Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 35 v. 31.12.2008, S. 1419-1457. Vgl. auch die Schattenübersetzung des Netzwerk Artikel 3 unter http://www.nw3.de vom 5.5.2009 und das Abkommen in englischer Sprache unter http://www.ohchr.org/english vom 5.5.2009; zur Entstehungsgeschichte der Konvention vgl. Sigrid Arnade in diesem Band sowie Theresia Degener: »Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen«, in: Vereinte Nationen 3/2006, S. 104-110.

114 | Julia Zinsmeister Doch wann genau liegt eine mehrdimensionale Diskriminierung vor? Die Beiträge in diesem Band gehen sehr instruktiv auf die Relationen von Geschlecht, Heteronormativität, Behinderung, Alter und Rassismus ein. Dabei geht es zum einen um die Problematik, Individuen durch die Beschreibung ihrer Person als Mitglieder bestimmter Gruppen aufzufassen und sie in dieser Weise zu kategorisieren. Bereits ihre Benennung als Frauen, Männer, Schwarze, Behinderte, Homo- oder Heterosexuelle erweist sich schließlich, um mit Bourdieu zu sprechen, als Ergebnis einer »expliziten und öffentlichen Durchsetzung einer legitimen Sicht von sozialer Welt«2 , vollzogen von denjenigen, die die gesellschaftliche Macht haben, ihre Sichtweise zu legitimieren. Zum anderen wurde dargelegt, wie sich entlang der verschiedenen Achsen der Differenz individuelle und Gruppenidentitäten ausbilden. Aus der Perspektive des Rechts interessiert nun, wie entlang dieser Achsen der Differenz und vor allem an deren Schnittstellen Diskriminierungen entstehen und wie sich diese mehrdimensionalen Diskriminierungen rechtlich erfassen lassen. Nachfolgend soll aufgezeigt werden, dass sich mehrdimensionale Diskriminierungen nicht in additiven Benachteiligungen erschöpfen. Vielmehr entstehen an den Schnittstellen verschiedener Kategorien Diskriminierungen von eigenem Charakter (intersektionelle Diskriminierung), und diese intersektionelle Diskriminierung ist ein besonderer Ausdruck von Dominanzkulturen. Hieraus leite ich Grundprämissen für die Analyse von Ungleichheit ab, um abschließend das Verbot der mehrdimensionalen Diskriminierung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive zu beleuchten. Zum Abschluss soll skizziert werden, welche Instrumente die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorsieht, um mehrdimensionaler Diskriminierung zu begegnen.

Additive oder intersektionelle Diskriminierung? Jeder Mensch erfährt im sozialen Kontakt Zuschreibungen und damit verbunden Vor- oder Nachteile aufgrund seiner Hautfarbe, des Geschlechts, Lebensalters, seiner mutmaßlichen sexuellen Identität oder Herkunft. In der soziologischen Ungleichheitsforschung lässt sich dies zum einen qualitativ, zum anderen quantitativ durch den Vergleich der Lebenslagen anhand der Basisdimensionen sozialer Ungleichheit, insbesondere anhand des Bildungsstatus, der Arbeits- und Erwerbslosenquote und des Einkommens nachvollziehen. Bildet man Vergleichsgruppen nicht nur einer Kategorie, wie beispielsweise des Geschlechts, sondern bezieht gleichzeitig auch das Lebensalter, die Ethnizität oder den Status als »nichtbehindert« oder »behindert« mit ein, eröff nen Sozialstatistiken den Blick auf die Wechselwirkungen zwischen diesen Kategorien und ihren Folgen für die Betroffenen. 2 | Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a.M. 1985, S. 23.

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Die Lebenslagen von Mädchen und Frauen marginalisierter Bevölkerungsgruppen kennzeichnet häufig eine Kumulation von Diskriminierungsrisiken. Mädchen und Frauen mit Behinderung oder Migrationshintergrund sind oft in besonderem Maß von Armut, Arbeits- und Erwerbslosigkeit und Gewalt betroffen.3 Frühere Analysen führten dies darauf zurück, dass die Frauen nicht nur denselben behinderungs- oder migrationsspezifischen Nachteilen ausgesetzt sind wie Männer der gleichen Minderheit, sondern zusätzlich frauenspezifischer Diskriminierung. 4 Ein solch additives Verständnis von mehrdimensionaler Diskriminierung (ethnische oder behinderungsspezifische Diskriminierung plus sexistische Diskriminierung) liegt den Begriffen der »doppelten« oder »Mehrfachdiskriminierung« zugrunde. Das additive Modell begreift soziale Unterschiede wegen des Geschlechts, der ethnischen Herkunft oder Behinderung als gleichzeitig wirksame, aber jeweils unabhängige, d.h. eindimensional wirkende Phänomene. Mögen sich auch manche Nachteile statistisch als Vermehrung von Diskriminierung abbilden lassen, so liefert doch das additive Modell keine Erklärung, warum Nachteile nicht notwendig kumulieren, sondern sich auch relativieren oder überlagern können. Bei der Bewerbung auf eine Leitungsposition wird der statistische Vorteil eines Bewerbers, männlichen Geschlechts zu sein, möglicherweise durch sein fortgeschrittenes Lebensalter oder seine dunkle Hautfarbe relativiert und deshalb einer dreißigjährigen weiblichen Bewerberin mit heller Hautfarbe der Vorzug gegeben. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass sich viele zentrale Aussagen über typische Nachteile und Problemlagen »der Frauen«, »der Migranten« oder »der Behinderten« nicht eins zu eins auf die Gruppe der Migrantinnen oder behinderten Frauen übertragen lassen. So bezog sich die tradierte und einst auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vertretene Ansicht, wonach die Mutterschaft der Bereich der Frau sei, »in dem ihr Wesen am tiefsten wurzelt und sich entfaltet«5 , offenbar stets nur auf das Wesen nichtbehinderter Frauen. Während diese in 3 | Vgl. Deutsches Jugendinstitut e.V./Statistisches Bundesamt: 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Fassung, München 2005, S. 212-214; 563-573; 576-582; Julia Zinsmeister: »Einführung«, in: Dies. (Hg.), Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen und das Recht. Gewaltprävention und Opferschutz zwischen Behindertenhilfe und Strafjustiz, Opladen 2003, S. 13-17; Monika Schröttle/Nadja Khelaifat: Gesundheit – Gewalt – Migration. Eine vergleichende Sekundäranalyse zur gesundheitlichen und Gewaltsituation von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland, Berlin 2007, S. 46-76. 4 | Übersicht bei Bettina Stötzer: InDifferenzen. Feministische Theorie in der antirassistischen Kritik, Hamburg 2004; Dagmar Schultz: »Unterschiede zwischen Frauen – ein kritischer Blick auf den Umgang mit ›den Anderen‹ in der feministischen Forschung weißer Frauen«, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 13. Jg. Heft 27, (1990), S. 45-57. 5 | BVerfGE 10, S. 59 und 78 (»Stichentscheid«).

116 | Julia Zinsmeister den 1970er Jahren mit spektakulären Selbstbezichtigungskampagnen (»Wir haben abgetrieben«)6 für ihr Recht auf eine selbstbestimmte Entscheidung gegen ein Kind kämpften, wurden viele behinderte Mädchen und Frauen sterilisiert oder zur Abtreibung gedrängt.7 Behinderte Frauen sahen und sehen sich mit großen Vorbehalten in Bezug auf ihren Kinderwunsch oder ihre Eignung als Mütter konfrontiert, denn eine Behinderung wird gemeinhin mit Fürsorgebedürftigkeit gleichgesetzt, und es wird gleichzeitig angenommen, dass Frauen, die selbst Hilfe benötigen, anderen nicht helfen können.8 Bis heute erhalten viele behinderte Heimbewohnerinnen von Ärztinnen und Ärzten prophylaktisch die Drei-Monatsspritze oder Pille zur hormonellen Verhütung verordnet, darunter selbst solche Frauen, die im Heim gar keine Sexualkontakte pflegen wollen oder können.9 Geschlechtsstereotype wie das der hilfebedürftigen asexuellen Behinderten oder des hypersexuellen schwarzen Mannes belegen, dass an den Schnittstellen der Kategorien Zuschreibungen von eigenem Charakter entstehen. Führen diese Zuschreibungen zu einer spezifischen Form der Ungleichbehandlung, handelt es sich nicht mehr um eine additive, sondern intersektionelle Diskriminierung. Diese Form der Diskriminierung fand in der Analyse der Geschlechter-, »Rassen«- und Behindertendiskriminierung und in den hierauf aufgebauten Gleichheitskonzeptionen und -politiken lange Zeit kaum Berücksichtigung. Beispiel Asylrecht: Sexuelle Gewalt und andere Formen frauenspezifischer Verfolgung, sei es durch repressive religiöse Normen und Bekleidungsvorschriften, Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen und -abtreibungen sind oft Ausdruck intersektioneller Diskriminierung. Die Vereinten Nationen (UN) haben die Massenvergewaltigungen in Bosnien, im Kosovo, in Burundi und Ruanda zutreffend als »rassistische Übergriffe mit explizit geschlechtsspezifischer Ausrichtung« 10 charakterisiert. Sie galten aber lange Zeit nicht als asylerheblich. Die Flüchtlingsprogramme der westlichen Zufluchtsländer orientierten sich lange Zeit einseitig an männlichen Verfolgungsschicksalen. 2005 fanden diese frauenspezifischen Flucht-

6 | Titelzeile des Magazins STERN vom 6.6.1971. 7 | Carola Ewinkel/Gisela Hermes/Silke Boll et al.: Geschlecht: Behindert, besonderes Merkmal: Frau, München 1985, S. 71. 8 | Gisela Hermes: Behinderung und Elternschaft leben – kein Widerspruch, München 2004. 9 | Karin Jeschke/Nora Wille/Jörg M. Fegert: »Die Sicht des Fachpersonals auf sexuelle Selbstbestimmung«, in: Jörg M. Fegert/Karin Jeschke/Helgard Thomas/ Ulrike Lehmkuhl (Hg.), Sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Gewalt. Ein Modellprojekt in Wohneinrichtungen für junge Menschen mit geistiger Behinderung, Weinheim, München 2006, S. 245-256. 10 | United Nations: Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Rassendiskriminierung, 2001.

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gründe in Deutschland erstmals gesetzliche Anerkennung (§ 60 Abs. 1 S. 2 Aufenthaltsgesetz). 11

Intersektionelle Diskriminierung und Dominanzkultur Die US-amerikanische Rechtstheoretikerin Kimberlé W. Crenshaw hat sich eingehend mit der Entstehung intersektioneller Diskriminierung von schwarzen Frauen befasst. 12 Sie beschreibt, dass die schwarze Bürgerrechtsbewegung stets rassistische Formen der Unterdrückung, die Frauenbewegung in den USA hingegen sexistische Formen der Unterdrückung als zentralen Ansatz ihrer Politik ansahen und andere Diskriminierungsgründe als Nebenwiderspruch betrachteten. Die Möglichkeit der Diskriminierung innerhalb der eigenen Reihen wurde deshalb nicht ausreichend reflektiert, Dominanzverhältnisse in Bezug auf andere als die als zentral angesehenen Kategorien konnten ungehindert fortbestehen. So wurde die schwarze Bürgerrechtsbewegung von afroamerikanischen Männern, die amerikanische Frauenbewegung von weißen Frauen dominiert. Abweichende Diskriminierungserfahrungen schwarzer Frauen fanden hier wie dort keine angemessene Berücksichtigung. Dieses Phänomen kann nicht nur in den USA, sondern auch in der Bundesrepublik an den Schnittstellen verschiedener Politiken beobachtet werden. So wurden Unterschiede zwischen nichtbehinderten und behinderten Frauen in der Frauenpolitik lange als behinderungsbedingte Problematik angesehen. Die Behindertenpolitik wiederum betrachtete die Familienplanung und Elternschaft behinderter Menschen und die gegen sie gerichtete sexuelle Gewalt nicht als behindertenspezifische Angelegenheit, sondern als »Frauenthemen« und damit als Aufgabe der Frauen- und Familienpolitik. Gruppenbezogene Identitätspolitik birgt also – neben allen emanzipatorischen Chancen – immer auch Risiken. Will man mehrdimensionaler Diskriminierung Rechnung tragen, muss man einerseits von geschützten Gruppen ausgehen, andererseits aber auch der Diversität innerhalb der Gruppe Rechnung tragen. 13

11 | Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung bei Inka Jensen: Frauen im Asyl- und Flüchtlingsrecht, Baden-Baden 2003, S. 143-217. 12 | Kimberlé W. Crenshaw: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine«, in: D. Kelly Weisberg (Hg.), Feminist Legal Theory. Foundations, Philadelphia 1993, S. 383-395. 13 | Instruktiv zum beschriebenen Dilemma aus rechtlicher Perspektive: Martha Minow: Making All the Difference: Inclusion, Exklusion, and American Law, Ithaka, New York 1990; aus gesellschaftstheoretischer und feministischer Perspektive Gudrun-Axeli Knapp: »Dezentriert und viel riskiert. Anmerkungen zur These vom Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht«, in: Dies./Angelika Wetterer (Hg.), Soziale Verortung der Geschlechter, Münster 2001, S. 15-62.

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Grundprämissen in der Analyse von Ungleichheit Daher gilt es in der Analyse von Ungleichheit folgende Grundprämissen zu beachten: 1. Soziale Kategorien sind stets gleichzeitig wirksam. Sie entfalten spezifische Wechselwirkungen. Hierdurch können mehrdimensionale Formen der Diskriminierung entstehen. 2. Die Analyse sozialer und rechtlicher Ungleichheit erfordert deshalb sowohl die Kategorisierung von Menschen zur Gruppe von sog. Merkmalsträgern, seien es »die Frauen«, »die Behinderten«, »die Homosexuellen« oder »die Kinder«, als auch die Differenzierung innerhalb dieser Gruppen. Nur so kann dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es je nach Geschlecht unterschiedliche Erfahrungen mit Diskriminierungen wegen des Alters, der sexuellen Identität, Behinderung und Ethnizität gibt oder sich ethnische, rassistische und religiöse Diskriminierung wechselseitig bedingen können. 3. Um feststellen zu können, ob und in welcher Form einzelne Kategorien Einfluss auf die unterschiedliche Behandlung von Menschen haben, ist in der Analyse von Ungleichbehandlungen zunächst stets von der Gleichwertigkeit aller in Betracht kommenden Diskriminierungsrisiken auszugehen. 4. Analysen, die nicht von der Gleichwertigkeit ausgehen, sondern von vornherein die Priorität einzelner Diskriminierungsgründe unterstellen, laufen Gefahr, einseitig die Diskriminierungserfahrungen derjenigen abzubilden, die eine Gruppe von Merkmalsträgern dominieren. 5. Die Wechselwirkungen zwischen den Kategorien erschließen sich erst aus der Perspektive derjenigen Individuen und Gruppen, die sich an den Schnittstellen bewegen.14

Die mehrdimensionale Diskriminierung im Recht Nicht jede Form sozialer Ungleichheit ist auch justiziabel. Anders als in der Sozialforschung lassen sich rechtliche Benachteiligungen nicht alleine durch den Vergleich sozialer Lebenslagen ermitteln, sondern können nur in Bezug auf Ungleichbehandlungen, d.h. einzelne Rechtsakte oder Handlungen festgestellt werden. Nicht jede Form der Ungleichbehandlung stellt eine rechtliche Benachteiligung dar. Unterschiedliche Interessenlagen können es vielmehr erforderlich machen, Gruppen von Menschen ungleich zu behandeln. Unter dem Einfluss der UN-Menschenrechtskonventionen und dem Recht der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union hat sich 14 | Julia Zinsmeister: Mehrdimensionale Diskriminierung. Das Recht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung und seine Gewährleistung durch Art.3 GG und das einfache Recht, Baden-Baden 2007, S. 51-53.

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das Antidiskriminierungsrecht in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich weiter entwickelt. Nach den in Deutschland adaptierten Definitionen des Europäischen Gemeinschaftsrechts unterscheiden wir drei Formen der rechtlichen Diskriminierung bzw. Benachteiligung: Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person ungünstiger behandelt wird als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation, ohne dass ein sachlicher Grund dies rechtfertigen würde. Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn sich dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren auf eine Personengruppe ungünstiger auswirken als auf eine andere, ohne dass dies durch sachliche Gründe gerechtfertigt wäre. Eine Benachteiligung in Form der Belästigung liegt vor, wenn sozial unerwünschte Verhaltensweisen darauf gerichtet werden, die Würde eines Menschen zu verletzten, zum Beispiel indem ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. Mehrdimensionale Diskriminierungen sind in allen drei Erscheinungsformen möglich. Unmittelbare Diskriminierungen sind in der deutschen Rechtspraxis allerdings selten geworden. 15 ArbeitgeberInnen z.B. wissen, dass sie BewerberInnen nicht wegen ihres Geschlechts, einer Behinderung oder aus rassistischen Gründen ablehnen dürfen und begründen folglich ihre Entscheidung gegen eineN BewerberIn (diesem oder dieser gegenüber, möglicherweise auch vor sich selbst) in der Regel merkmalsneutral. Der männliche weiße Bewerber erhält das Stellenangebot nicht (mehr), weil er männlich und weiß ist, sondern weil seine Führungsqualitäten höher eingeschätzt werden als die seiner weißen Konkurrentin oder weil er vermeintlich über mehr Kooperationsfähigkeit verfügt als sein schwarzer Mitbewerber. Von höherer praktischer Relevanz sind gegenwärtig mittelbare Diskriminierungen. Mittelbare Diskriminierungen, seien sie ein- oder mehrdimensional, vollziehen sich allerdings oft unbemerkt, weil sie nicht direkt an das verbotene Differenzierungsmerkmal anknüpfen und vielfach nicht einmal mehr auf entsprechend intendierte Handlungen und Entscheidungen Einzelner zurückgeführt werden können. Die Schwierigkeit, Regelungen und Rechtsakte als mehrdimensionale mittelbare Diskriminierungen zu identifizieren, möchte ich am Beispiel des § 1905 BGB erläutern, der die Sterilisation einwilligungsunfähiger Erwachsener regelt. § 1905 Abs.1 BGB lautet: »Besteht der ärztliche Eingriff in einer Sterilisation des Betreuten, in die dieser nicht einwilligen kann, so kann der Betreuer nur einwilligen, wenn die Sterilisation dem Willen des Betreuten nicht widerspricht, 15 | Ute Sacksofsky: Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Art.3 Abs.2 des Grundgesetzes, 2. erw. Aufl age, BadenBaden 1996, S. 156.

120 | Julia Zinsmeister der Betreute auf Dauer einwilligungsunfähig bleiben wird, anzunehmen ist, dass es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft kommen würde, infolge dieser Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren zu erwarten wäre, die nicht auf zumutbare Weise angewendet werden könnte, und die Schwangerschaft nicht durch andere zumutbare Mittel verhindert werden kann.«

Eine neuere Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 7.2.200816 soll die Relevanz dieser Norm veranschaulichen: In diesem Verfahren wollte eine rechtliche Betreuerin zunächst auf der Grundlage des § 1905 BGB die Sterilisation einer Betreuten veranlassen und wandte sich an das zuständige Amtsgericht (Vormundschaftsgericht), um in einem ersten Schritt die hierfür gesetzlich erforderliche Sterilisationsbetreuung einrichten zu lassen: »Die Betroffene steht unter Betreuung. Die Diagnose lautet: chronisch paranoide, halluzinatorische Psychose, Diabetes mellitus Typ I, intellektuelle Minderbegabung vermutlich aufgrund eines frühkindlichen Hirnschadens. Die Betreuung erstreckt sich auf die Aufgabenkreise Vermögenssorge, Sorge für die Gesundheit und Aufenthaltsbestimmung. […] Die Betroffene hat regelmäßig sexuellen Kontakt mit Männern. Sie hat mehrfach geäußert, sie wolle Kinder bekommen. Die Betreuerin regte mit Schreiben vom 10. Januar 2006 (AS 941) an, eine Sterilisationsbetreuung einzurichten. […] Sie [die Betreuerin, Anm. Verf.] machte geltend, die Betroffene habe regelmäßig Kontakt zu Männern und habe den erklärten Wunsch, unbedingt ein Kind zu bekommen. Die Betroffene lehne sämtliche Verhütungsmittel vehement ab. Eine Schwangerschaft wäre für die Betroffene lebensbedrohend. Zum Nachweis legte die Betreuerin ein ärztliches Attest des Dr. med. R. vom 14. Dezember 2005 (AS 943) vor.«17

Das zuständige Amtsgericht wies damals die Betreuerin darauf hin, dass eine Sterilisation gegen den Willen der Betroffenen nicht möglich ist. Daraufhin hielt die Betreuerin ihren Antrag, eine Sterilisationsbetreuung einzurichten, nicht mehr aufrecht. Sie beantragte stattdessen, eine freiheitsentziehende Maßnahme gemäß § 1906 Abs.4 BGB zu genehmigen. Der Betroffenen solle eine Drei-Monatsspritze zur Verhütung einer Schwangerschaft mittels körperlichen Zwangs durch Festhalten verabreicht werden. Nach Anhörung der Betroffenen genehmigte das Amtsgericht »die Fixierung der Betroffenen zum Zwecke der Verabreichung einer Drei-Monatsspritze«, zunächst befristet auf ein Jahr. Hiergegen legte die Betroffene Beschwerde beim Landgericht und gegen dessen ablehnenden Beschluss sofortige weitere Beschwerde ein. 16 | OLG Karlsruhe 19. Zivilsenat, 19 Wx 44/07, Beschluss vom 07.02.2008. 17 | Ebd.

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Die sofortige weitere Beschwerde der Betreuten hatte Erfolg. Das OLG Karlsruhe wies den Antrag der Betreuerin, die Fixierung zu genehmigen, zurück. Die Vorinstanzen hätten nicht ausreichend geprüft, ob eine Schwangerschaft tatsächlich eine erhebliche Gefahr für die Betroffene darstellen würde. Das OLG bezweifelte, dass der Arzt, der diese Gefahr in seinem ärztlichen Zeugnis attestiert hatte, als Internist über ausreichend Sachkunde verfügte, die Folgen einer Schwangerschaft für die Betroffene abzuschätzen. In seinem Attest, so das Gericht, seien auch keine Gründe dargelegt, die diese Prognose belegen könnten. Zudem können Zwangsbehandlungen nach § 1906 Abs.4 BGB allenfalls dann genehmigt werden, wenn sie dazu dienen, eine unmittelbare Lebensgefahr für die Betroffene abzuwenden oder einen erheblichen Gesundheitsschaden zu verhindern. Im vorliegenden Fall, so das OLG Karlsruhe zutreffend, diente die beantragte Fixierung jedoch dem Ziel, mittels einer Drei-Monatsspritze eine Schwangerschaft zu verhüten. Das Gericht kam folgerichtig zum Ergebnis, dass weder die Sterilisation noch die zwangsweise Injektion einer Drei-Monatsspritze genehmigt werden kann. Dafür musste die Betroffene aber durch drei gerichtliche Instanzen gehen. Es liegt auf der Hand, dass viele Menschen, für die eine gesetzliche Betreuung angeordnet ist, hierzu kaum oder nicht in der Lage sind. Sie werden gerade in Fragen der Schwangerschaft und Familienplanung auch selten von ihrem sozialen Umfeld darin ermutigt und unterstützt, ihre Rechte geltend zu machen und zu verteidigen. § 1905 BGB diente bei seiner Einführung 1992 dem Schutz behinderter Menschen vor der bis dato recht bedenkenlos praktizierten Sterilisation ohne oder gegen ihren Willen. Der Beispielfall belegt anschaulich, warum eine solche Regelung erforderlich ist. Der Gesetzgeber wollte die Sterilisation derjenigen auf das erforderliche Mindestmaß beschränken, die sich nicht selbst für oder gegen einen solchen Eingriff entscheiden können, sodass Dritte an ihrer Stelle entscheiden müssen. Doch wie bestimmt man das erforderliche Mindestmaß? Diese Frage bietet viel Anlass zu ethischer und rechtlicher Diskussion, denn die Sterilisation ohne den Willen der Betroffenen ist einer der schwersten Eingriffe in die Grundrechte eines Menschen, die unsere Rechtsordnung kennt. Ich muss und möchte mich nun einzig und alleine auf die Frage konzentrieren, ob es sich in der vom Gesetzgeber in § 1905 BGB geregelten Möglichkeit, Menschen ohne ihre Einwilligung zu sterilisieren, um eine Form der mehrdimensionalen Diskriminierung behinderter Frauen handelt. Eben mit diesem Argument haben sich behinderte Autorinnen einst gegen die Regelung des § 1905 BGB ausgesprochen. 18 Eine Diskriminierung setzt zunächst eine Ungleichbehandlung voraus. Nun regelt § 1905 BGB die Sterilisation von Menschen (scheinbar) ganz unabhängig von ihrer Behinderung und ihrem Geschlecht. Es ist von »dem 18 | Vgl. Ulrike Lux: »Frauen-Körper-Politik«, in: Gerlinde Barwig/Christiane Busch (Hg.), Unbeschreiblich weiblich? Frauen unterwegs zu einem selbstbewussten Leben mit Behinderung, München 1993, S. 9-11.

122 | Julia Zinsmeister Betreuten« die Rede und dieser muss nicht behindert, sondern dauerhaft einwilligungsunfähig sein. Tatsächlich wird aber nach § 1896 BGB nur für diejenigen eine Betreuung bestellt, die aufgrund einer psychischen Erkrankung, körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen können. Die Begriffe der Krankheit und Behinderung werden im BGB nicht definiert. Legt man die Behinderungsdefinitionen anderer nationaler Gesetze, insbesondere § 2 SGB IX und § 3 BGG zugrunde, ist eine psychische Erkrankung als Behinderung zu qualifizieren, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate eintritt und hierdurch die Teilhabe des erkrankten Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Da § 1905 BGB eine dauerhafte Einwilligungsfähigkeit voraussetzt, fallen Menschen, die nur vorübergehend erkrankt sind, nicht in den Anwendungsbereich der Norm. Im Ergebnis können nach § 1905 BGB also nur Betreute mit Behinderungen sterilisiert werden. Damit ist die Behinderung ein verstecktes Merkmal und eine Ungleichbehandlung zumindest wegen der Behinderung zu bejahen. Aber werden Frauen mit Behinderungen nach dieser Norm anders behandelt als ihre männliche Vergleichsgruppe? Die Vorschrift verwendet mit »dem Betreuten« die sprachliche Form des »männlichen Neutrums«, der Gesetzgeber wollte bewusst die Sterilisation sowohl von Frauen als auch Männern regeln. Wenn sowohl Frauen als auch Männer nach § 1905 BGB sterilisiert werden können, verstößt die Norm nicht gegen das Verbot der unmittelbaren Benachteiligung wegen des Geschlechts. Tatsächlich werden Sterilisationen nach § 1905 BGB aber mit 91 % ganz überwiegend an Frauen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung vorgenommen. 19 Die Vorschrift knüpft also an ein nur scheinbar geschlechtsneutrales Merkmal an, triff t in ihren Auswirkungen (genehmigte Sterilisationen) aber ganz überwiegend Frauen. Aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Auswirkungen könnte sie daher gegen das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts verstoßen. Zu prüfen wäre nun in einem nächsten Schritt, ob es sich in der festgestellten Ungleichbehandlung behinderter Frauen durch § 1905 BGB darüber hinaus um eine mehrdimensionale Diskriminierung handelt oder ob die Ungleichbehandlung nicht gegebenenfalls durch die besondere Lebenssituation oder körperliche bzw. mentale oder psychische Konstitution behinderter Frauen sachlich gerechtfertigt ist und ihrem (mutmaßlichen) Wohl entspricht. Um dies beurteilen zu können, müsste man der Frage nachgehen, ob sich einwilligungsfähige Frauen, die sich in der in § 1905 BGB beschrieben Notlage befinden, ebenfalls sterilisieren lassen würden oder aber im Falle einer Schwangerschaft die Beeinträchtigung der eigenen Gesundheit und eine mögliche Lebensgefahr entweder in Kauf nehmen oder einem Abbruch der Schwangerschaft den Vorzug geben würden. Ein Abbruch be19 | Bundestagsdrucksache 13/3822 – Bericht der Bundesregierung über praktische Auswirkungen der im Betreuungsrecht enthaltenden Regelungen zur Sterilisation, 1998.

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deutet ebenfalls eine erhebliche Belastung. Im Unterschied zur Sterilisation erhält er der betroffenen Frau aber in der Regel ihre Reproduktionsfähigkeit und damit die Freiheit, sich zu einem späteren Zeitpunkt für ein Kind entscheiden zu können. Die beschriebene Notlage begründet eine medizinische Indikation, der Abbruch wäre mithin nach § 218a Abs.2 StGB auch über die zwölfte Schwangerschaftswoche hinaus straflos möglich. Interessanterweise wird die Frage, wie sich einwilligungsfähige Frauen in einer vergleichbaren Lage entscheiden (würden), gegenwärtig von den Gerichten nicht geprüft. Es fehlt vor allem an empirischen Daten, die es überhaupt erst ermöglichen würden, einen entsprechenden Vergleich anzustellen. In Deutschland werden seit 1993 auf der Grundlage des § 1905 BGB jährlich im Schnitt zwischen 50 und 200 Sterilisationen an einwilligungsunfähigen Menschen, überwiegend behinderten Frauen, gerichtlich genehmigt.20 Grundlage jeder dieser Entscheidungen bildet die – wissenschaftlich nicht überprüfte – Vermutung der Gerichte, dass diese Sterilisation dem mutmaßlichen Wohl der betroffenen behinderten Frauen entspricht. Ob diese Entscheidungspraxis beziehungsweise die zugrunde liegende Rechtsnorm behinderte Frauen mittelbar mehrdimensional diskriminiert, ließe sich nur anhand entsprechender empirischer Untersuchungen überprüfen. Im Ergebnis ist also festzustellen, dass sich mehrdimensionale Diskriminierungen, gerade wenn sie mittelbaren Charakter haben, meist nur durch eingehende Analysen ermitteln und beweisen lassen und hierzu gerade an den Schnittstellen verschiedener Diskriminierungskategorien weitere Forschung zur strukturellen Diskriminierung der betroffenen Bevölkerungsgruppen veranlasst ist.

Die Überwindung mehrdimensionaler Diskriminierung: Neue Vorgaben durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Der deutsche Gesetzgeber ist dem Risiko mehrdimensionaler Diskriminierungen zunächst im Sozialrecht begegnet, indem er die Sozialleistungsträger unter anderem verpflichtete, die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zu berücksichtigen (§ 9 SGB VIII) oder den »besonderen« Bedürfnissen behinderter Frauen oder Kinder in der Rehabilitation Rechnung zu tragen, vgl. § 1 S. 2 SGB IX. Die Pflicht zur Berücksichtigung der Belange behinderter Frauen fand zudem Eingang in das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG) von 2002. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet seit 2006 Diskriminierungen wegen des Alters, der Behinderung, des Geschlechts, der sexuellen Identität, Religion oder aus rassistischen Gründen. 20 | Bundesamt für Justiz: Rechtspflegestatistik Stand 2.7.2008: Verfahren nach dem Betreuungsgesetz, Zeitreihen 1992-1997 Ziff.5.

124 | Julia Zinsmeister Nach § 4 AGG kann eine Benachteiligung wegen mehrerer Gründe sachlich nur gerechtfertigt werden, wenn die Ungleichbehandlung in Bezug auf jedes der Merkmale gerechtfertigt werden kann.21 Auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene wird der mehrdimensionalen Diskriminierung Rechnung getragen.22 Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen erlangte in Deutschland zum 26.3.2009 den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Sie steht damit in der Normenhierarchie unterhalb der Verfassung und auf gleicher Ebene wie das BGG und das AGG. Bund, Länder und Kommunen sind verpflichtet, die Bestimmungen der Konvention umgehend in nationales Recht umzusetzen. Die bundesdeutsche Gesetzgebung ist auf mögliche konventionswidrige Bestimmungen hin zu überprüfen, kollidierende Normen müssen korrigiert werden. In Deutschland gilt der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und der niederrangigen Gesetze, sodass auch Rechtsprechung und Verwaltung das nationale Recht im Lichte der UN-Konvention auszulegen haben.23 Die Mitgliedstaaten haben darüber hinaus aktiv andere diskriminierende Handlungen und Praktiken von öffentlichen Stellen, einzelnen Personen, Organisationen oder privaten Unternehmen zu unterbinden (Art.4 und Art.6 CRPD). Interessenvertreterinnen behinderter Frauen aus Deutschland haben bei der Entwicklung des Konventionsentwurfs in New York erheblich dazu beigetragen, dass die UN-Konvention international wie national neue Maßstäbe für die staatliche Pflicht zur Überwindung mehrdimensionaler Diskriminierung wegen des Geschlechts und der Behinderung setzt. 24 Die Konvention berücksichtigt spezifische Diskriminierungsrisiken behinderter Mädchen und Frauen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen.25 Sie verlangt beispielsweise aktive Maßnahmen zum Schutz behinderter Menschen vor 21 | Dagmar Schiek zu § 4 Rn. 5., in Dies.: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. Ein Kommentar aus europäischer Perspektive, München 2007; Julia Zinsmeister: »Mehrdimensionale Diskriminierungen«, in: Theresia Degener/Susanne Dern/Heike Dieball et al. (Hg.), Antidiskriminierungsrecht. Handbuch für Lehre und Beratungspraxis, Frankfurt a.M. 2008, S. 206-208. 22 | Dagmar Schieck/Victoria Chege (Hg.): European Union Non-Discrimination Law. Comparative Perspectives on Multidimensional Equality Law, Abingdon, Oxo 2009. 23 | Theresia Degener: »Rechtswissenschaftliche Grundlagen«, in: Dies./S. Dern/H. Dieball et al. (Hg.), Antidiskriminierungsrecht, S. 78-79. 24 | Vgl. Sigrid Arnade/Sabine Häfner: Vorschläge von NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. und Sozialverband Deutschland e.V. zur Ergänzung des Konventionsentwurfes, um die Prinzipien des Gender Mainstreaming zu realisieren, Stand: 19.11.2004 unter http//www.nw3.de vom 5.5.2009, sowie Sigrid Arnades Beitrag in diesem Band. 25 | Sigrid Arnade/Sabine Häfner: Kurzfassung aus einem Interpretationsstandard der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) aus Frauensicht, Stand 6.3.2009, unter http://www.nw3.de vom 5.5.2009.

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häuslicher und sexualisierter Gewalt (Art.16 CRPD), sie garantiert ihnen das Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und sie verpflichtet die Staaten, Sorge zu tragen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten (Art. 23 Abs.1 CRPD). Aus diesem Grund ist die Bundesregierung nicht nur gefordert, § 1905 BGB erneut auf den Prüfstand zu stellen, sondern darüber hinaus zu ermitteln, in wieweit Frauen und Männer mit der Diagnose einer geistigen Behinderung, die grundsätzlich einwilligungsfähig sind, von Angehörigen, Ärztinnen oder rechtlichen und pädagogischen Betreuern ohne angemessene Auf klärung oder durch Fehlinformationen und psychischen Druck dazu bewegt werden, einer hormonellen Behandlung oder Sterilisation zuzustimmen, in die sie bei gehöriger Aufklärung nicht eingewilligt hätten. Die Konvention erweitert in Art.23 den bislang in Deutschland geltenden Schutz behinderter Eltern(teile) vor Sorgerechtseingriffen. Diese sind nur noch im Interesse des Kindeswohls zulässig, eine Behinderung allein rechtfertigt hingegen niemals Beschränkungen oder den Entzug der elterlichen Sorge. Der Gesetzgeber hat daher zu prüfen, ob § 1673 Abs.1 BGB konventionswidrig ist. Die Vorschrift bestimmt, dass das Sorgerecht eines geschäftsunfähigen Elternteils ruht und zwar ungeachtet der Frage, ob das Kindeswohl gefährdet ist. »Ruhen« bedeutet, dass der betreffende Elternteil die elterliche Sorge nicht selbst ausüben kann und daher an seiner Stelle entweder der andere Elternteil oder aber ein Vormund die rechtlichen Entscheidungen für das Kind zu treffen und dieses rechtlich zu vertreten hat. Die Vertragsstaaten verpflichten sich in Art.23 CRPD des Weiteren, behinderte Eltern in angemessener Weise bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung zu unterstützen. Damit wird der Forderung behinderter Eltern nach bedarfsgerechter Unterstützung in Form von »Elternassistenz« bzw. »begleiteter Elternschaft« Nachdruck verliehen.26 Auch im Bereich der Bildung, Arbeit und Beschäftigung birgt die UN-Konvention ein erhebliches Innovationspotential, das es nun zu nutzen gilt.

Fazit Die Erkenntnis, wonach Diskriminierungen nicht nur eindimensional, sondern häufig mehrdimensional wirken, hat in den vergangenen Jahren Eingang in das internationale wie nationale Recht gefunden. Die deutsche Gesetzgebung trägt der mehrdimensionalen Diskriminierung in verschiedenen Gesetzen Rechnung. Je nach Diskriminierungskategorie und Regelungsbereich gelten allerdings unterschiedliche Schutzniveaus. Mehrdimensionale 26 | Julia Zinsmeister: »Staatliche Unterstützung behinderter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages. Rechtsgutachten im Auftrag des Netzwerks behinderter Frauen Berlin e.V., 2006 unter http://bidok.uibk.ac.at/Zinsmeister-rechtsgutachten.html vom 5.5.2009; Ursula Pixa-Kettner (Hg.): Tabu oder Normalität? Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder, Heidelberg 2008.

126 | Julia Zinsmeister Diskriminierungen vollziehen sich häufig in Form mittelbarer Diskriminierungen. Ob sich einzelne Rechtsakte mittelbar diskriminierend auswirken, lässt sich erst an deren strukturellen Auswirkungen erkennen. Für diese Rechtsfolgenabschätzung sind die Rechtswissenschaften auf sozial-, politikund wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkungsweisen sozialer und ökonomischer Ungleichheit angewiesen. Der weitreichende Schutz vor mehrdimensionaler Diskriminierung in Deutschland wird Mädchen und Frauen mit Behinderung künftig durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen garantiert. Bund, Länder und Kommunen sind verpflichtet, die Maßgaben der UN-Konvention durch geeignete legislative, exekutive, politische und soziale Maßnahmen umzusetzen. Das Innovationspotential der UN-Konvention wie auch anderer Menschenrechtsgarantien und Antidiskriminierungsvorschriften erschöpft sich nicht in der Möglichkeit der individuellen Rechtsdurchsetzung der Einzelnen. Die Vorgaben bilden den Ausgangspunkt für Strukturveränderungen, politische Kampagnen, neue Fördermaßnahmen und soziale Projekte. Sie ebnen den Weg zur Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt und Inklusion.

Literatur Arnade, Sigrid/Häfner, Sabine: Kurzfassung aus einem Interpretationsstandard der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) aus Frauensicht, Stand 6.3.2009, http//www.nw3.de vom 5.5.2009. Boll, Silke/Ewinkel, Carola/Hermes, Gisela et al.: Geschlecht (Hg.): Behindert, besonderes Merkmal Frau, München 1985. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a.M. 1985. BT-Drs. 13/3822 – Bericht der Bundesregierung über praktische Auswirkungen der im Betreuungsrecht enthaltenden Regelungen zur Sterilisation, 1998. Bundesamt für Justiz: Rechtspflegestatistik Stand 2.7.2008: Verfahren nach dem Betreuungsgesetz, Zeitreihen 1992-1997, Ziff. 5. Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 35 v. 31.12.2008, S. 1419-1457. BVerfGE 10, S. 59 und 78 (»Stichentscheid«). Crenshaw, Kimberlé W.: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine«, in: D. Kelly Weisberg (Hg.), Feminist Legal Theory. Foundations, Philadelphia 1993, S. 383-395. Degener, Theresia: »Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen«, in: Vereinte Nationen 3/2006, S. 104-110. Degener, Theresia: »Rechtswissenschaftliche Grundlagen«, in: Dies./Susanne Dern/Heike Dieball et al. (Hg.), Antidiskriminierungsrecht. Handbuch für Lehre und Beratungspraxis, Frankfurt a.M. 2008, S. 78-79.

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Fegert, Jörg M./Jeschke, Karin/Wille, Nora: »Die Sicht des Fachpersonals auf sexuelle Selbstbestimmung«, in: Jörg M. Fegert, Karin Jeschke, Helgard Thomas, Ulrike Lehmkuhl (Hg.), Sexuelle Selbstbestimmung und sexuelle Gewalt. Ein Modellprojekt in Wohneinrichtungen für junge Menschen mit geistiger Behinderung, Weinheim, München 2006, S. 245-256. Hermes, Gisela: Behinderung und Elternschaft leben – kein Widerspruch, München 2004. Jensen, Inke: Frauen im Asyl- und Flüchtlingsrecht, Baden-Baden 2003. Knapp, Gudrun-Axeli: »Dezentriert und viel riskiert. Anmerkungen zur These vom Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht«, in: Dies./ Angelika Wetterer (Hg.), Soziale Verortung der Geschlechter, Münster 2001, S. 15-62. Lux, Ulrike: »Frauen-Körper-Politik«, in: Gerlinde Barwig/Christiane Busch (Hg.), Unbeschreiblich weiblich? Frauen unterwegs zu einem selbstbewussten Leben mit Behinderung, München 1993, S. 9-11. Minow, Martha: Making All the Difference: Inclusion, Exklusion, and American Law, Ithaka, New York 1990. Pixa-Kettner, Ursula: Tabu oder Normalität? Eltern mit geistiger Behinderung und ihre Kinder, Heidelberg 2008. Sackofsky, Ute: Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes, 2. erw. Aufl age Baden-Baden 1996. Schieck, Dagmar/Chege, Victoria (Hg.): European Union Non-Discrimination Law. Comparative Perspectives on Multidimensional Equality Law, Abingdon, Oxo 2009. Schiek, Dagmar: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. Ein Kommentar aus europäischer Perspektive, München 2007. Schröttle, Monika/Khelaifat, Nadja: Gesundheit – Gewalt – Migration. Eine vergleichende Sekundäranalyse zur gesundheitlichen und Gewaltsituation von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland, Berlin 2007. Schultz, Dagmar: »Unterschiede zwischen Frauen – ein kritischer Blick auf den Umgang mit ›den Anderen‹ in der feministischen Forschung weißer Frauen«, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 13. Jg. 1990, Heft 27, S. 45-57. Stötzer, Bettina: InDifferenzen. Feministische Theorie in der antirassistischen Kritik, Hamburg 2004. Zinsmeister, Julia: »Einführung«, in: Dies. (Hg.), Sexuelle Gewalt gegen behinderte Menschen und das Recht. Gewaltprävention und Opferschutz zwischen Behindertenhilfe und Strafjustiz, Opladen 2003, S. 13-17. Zinsmeister, Julia: »Mehrdimensionale Diskriminierungen«, in: Theresia Degener/Susanne Dern/Heike Dieball et al. (Hg.), Antidiskriminierungsrecht. Handbuch für Lehre und Beratungspraxis, Frankfurt 2008, S. 206-208.

128 | Julia Zinsmeister Zinsmeister, Julia: »Staatliche Unterstützung behinderter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages. Rechtsgutachten im Auftrag des Netzwerks behinderter Frauen Berlin e.V.«, 2006 unter http:// biodok.uibk.ac.at/Zinsmeister-rechtsgutachten.html vom 5.5.2009. Zinsmeister, Julia: Mehrdimensionale Diskriminierung. Das Recht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung und seine Gewährleistung durch Art. 3 GG und das einfache Recht, Baden-Baden 2007.

II. Anwendungsbezüge

Migrationshintergrund und Beeinträchtigung Vielschichtige Herausforderungen an einer diskriminierungsrelevanten Schnittstelle Judy Gummich

»Das Phänomen der Mehrfachdiskriminierung bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Doppelte oder dreifache Diskriminierung hat besonders schwerwiegende Auswirkungen, denn sie lässt sich vielfach nur schwer aufdecken oder nachweisen und ist offenbar häufig anders geartet als Diskriminierung aus bestimmten Einzelgründen.« 1

Auch wenn hier nicht der Begriff Intersektionalität verwendet wird, spricht die EU wesentliche Aspekte dieser Form der Diskriminierung(en) an: ihre Erkennbarkeit(en), ihre Ausprägung(en) und ihre spezifischen Auswirkungen. So wird auch die Kombination Migrationshintergrund und Beeinträchtigung nach wie vor selten in ihrer komplexen Verwobenheit wahrgenommen, obwohl sie die Lebensrealitäten der betreffenden Personen wesentlich beeinflusst. Diskurse, rechtliche Rahmenbedingungen, Förderpolitiken und Unterstützungs- bzw. Selbst-Organisationsstrukturen fokussieren zumeist nur einen der beiden Aspekte. Mit der zunehmenden Diskussion um »Intersektionalität« rücken beide sowie weitere Diskriminierungsmerkmale, die über den monokategorialen Ansatz hinausgehen, zunehmend in den Fokus von Wissenschaft und sozialer Praxis. Dieser Beitrag soll eine Annäherung an das vielfältige Thema bzw. die Verknüpfung zweier sehr komplexer Themenbereiche Migrationshintergrund/rassistische Erfahrungen und Beeinträchtigung sein. Im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen werde ich anhand von Beispielen auf 1 | Europäische Kommission – GD Beschäftigung und Soziales: Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierung 2001 bis 2006. Kompendium. Transnationale Aktionen für den Austausch von Informationen und bewährte Verfahren, Juli 2002.

132 | Judy Gummich Gender Bezug nehmen, allerdings nicht zusätzlich auf die Verwobenheit mit Aspekten wie sexuelle Identität, sozialer Status und gesellschaftliche Verortung eingehen können, die darüber hinaus Einfluss auf die Dynamik an dieser Schnittstelle haben. Ich möchte mit diesem Aufsatz dennoch dazu beitragen, den Blick für die spezifischen Lebensrealitäten von Menschen mit Migrationshintergrund/rassistischen Erfahrungen und Beeinträchtigung zu erweitern. Dies soll dabei unterstützen, übliche Sichtweisen zu hinterfragen und eine intersektionelle Herangehensweise zu entwickeln, um insbesondere spezifische Formen von Diskriminierung aufdecken zu können. Ich – Schwarze Deutsche und Mutter einer Tochter mit Down Syndrom – schreibe diesen Artikel aus einer Perspektive als Menschenrechtsaktivistin, Diversity-Trainerin und Vertreterin von Selbstorganisationen.

Anmerkungen zu einigen Begriffen Begriffe werden oft unterschiedlich verstanden und eingesetzt. Daher möchte ich vorab darstellen, wie ich einige in diesem Aufsatz zentrale Begriffe verstehe bzw. welche Position ich zu ihnen habe.

Beeinträchtigung/Behinderung Entsprechend der UN-Behindertenrechts-Konvention2 differenziere ich zwischen Beeinträchtigung und Behinderung. Behinderung entsteht demnach durch das Zusammenwirken der Beeinträchtigung (d.h. individueller körperlicher, psychischer und/oder kognitiver Faktoren) mit verschiedenen Barrieren, die gesellschaftliche Teilhabe verhindern bzw. einschränken. Nach dieser Definition ist Behinderung also ein soziales und kein gesundheitliches Konzept.

Migrationshintergrund/Migrationserfahrung »Migrationserfahrung« ist der neuere der beiden Begriffe. Dieser sagt jedoch nichts über die (tatsächliche, zugeschriebene oder vermutete) geografisch-kulturelle Herkunft aus. Er beschreibt lediglich, dass ein Mensch migriert ist. Zudem umfasst er ausschließlich nur die erste Generation der eingewanderten Menschen, nicht mehr deren Kinder. Meines Erachtens schränkt er den hier relevanten Personenkreis nicht eng genug ein. Der »Hintergrund« im Wort »Migrationshintergrund« ist durchaus kritisch zu betrachten. Niemand redet vom Sesshaften-, Deutschen-, Bayerischen oder sonstigem Hintergrund. Ich fi nde es bezeichnend, dass unsere Gesellschaft für einen so bedeutenden und weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungsprozess keine Sprache fi ndet. Trotzdem bleibe ich aus 2 | Vgl. Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Artikel 1 – Zweck.

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Ermangelung einer treffenden und sinnvollen Alternative zunächst bei dem Begriff »Migrationshintergrund«. Wenn ich ihn in diesem Artikel verwende, beziehe ich mich in der Regel auf Migrationshintergrund und/oder rassistische Erfahrungen bzw. Verletzbarkeit durch rassistische Diskriminierung. »Migrationshintergrund« wird durchaus widersprüchlich verwendet. Zum Beispiel wird er einerseits als Behelfsbegriff herangezogen, um rassistische Diskriminierung zu beschreiben (zu Rassismus selbst gibt es in diesem Land kaum Daten); andererseits wird er auch als Ausweichbegriff eingesetzt, gerade um Diskussionen um bzw. die Auseinandersetzung mit Rassismus zu vermeiden. Im Kontext von Migrationshintergrund spielt hinsichtlich der Partizipations- und Handlungsräume der Aufenthaltsstatus oft eine zentrale Rolle. Im Kontext von rassistischen Erfahrungen ist es meist die Hautfarbe/ Haarstruktur, aufgrund derer Menschen zu »Anderen« (z.B. Zuschreibung: nicht deutsch) gemacht und diskriminiert werden.

Intersektionalität/Mehrfachdiskriminierung Mehrfachdiskriminierung hat sehr unterschiedliche Facetten. So macht es einen Unterschied, ob eine Person mal wegen des einen und/oder des anderen Persönlichkeitsaspektes diskriminiert wird.3 Intersektionalität kann als eine spezifische Form von Mehrfachdiskriminierung bzw. -zugehörigkeit 4 verstanden werden und beschreibt die komplexen Wechselwirkungen und die Verwobenheit von sozial konstruierten und ungleichheitsgenerierenden gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken.5 Sie sind kontextspezifisch und situationsabhängig. Jedes Persönlichkeitsmerkmal ist dabei mit dem anderen interdependent. Die Theorie der intersektionellen Diskriminierung wurde in den 1980er Jahren von der US-amerikanischen Juristin und Professorin Kimberlé Crenshaw6 entwickelt. Sie fand heraus, dass Schwarze Frauen in den USA spezifischen Formen von Diskriminierung ausgesetzt sind, die weder Schwarze

3 | Vgl. Judy Gummich: »Schützen die Antidiskriminierungsgesetze vor mehrdimensionaler Diskriminierung?«, in: Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (Hg.), QUEbERlin – Mehrfachzugehörigkeit als Bürde oder Chance? Berlin 2004, S. 8-12. 4 | Die Formulierung »Mehrfachzugehörigkeit« ermöglicht es, Erfahrungen jenseits von Diskriminierung zu beschreiben, so z.B. Ressourcen, Fähigkeiten, gesellschaftliche Impulse und Beiträge. 5 | Vgl. Gabriele Winker, Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 14. 6 | Vgl. Kimberlé Crenshaw: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, www.hsph.harvard.edu/grhf/WoC/ feminisms/crenshaw.html vom 15.8.2005, S. 2.

134 | Judy Gummich Männer noch weiße Frauen erfahren und die aufgrund des Zusammenwirkens der Einzelfaktoren (Schwarz und Frau) entstehen.

Mögliche Zugangsbarrieren zum Thema Intersektionalität/ Mehrfachdiskriminierung 7 Nicht-Diskriminierung ist ein fundamentales Menschenrecht. Dennoch ruft das Engagement gegen Diskriminierung Widerstände hervor. In der Auseinandersetzung mit Mehrfachdiskriminierung/Intersektionalität scheinen sich diese jedoch zu potenzieren. Ich erachte es als wichtig, diese Widerstände zu erkennen, zu benennen und sie, wo möglich, zu beseitigen bzw. einen Umgang mit ihnen zu finden. Die Nichtbeachtung von intersektioneller bzw. mehrdimensionaler Diskriminierung vor allem in wissenschaftlichen und politischen Diskursen und Praktiken hängt meines Erachtens mit nachfolgenden Faktoren zusammen, die häufig miteinander in Verbindung stehen:

Vereinfachung und Generalisierung Vereinfachung und Generalisierung sind erforderlich, um komplexe Lebenssituationen verständlicher und leichter handhabbar zu machen. Sie bilden jedoch die Lebensrealitäten nur unvollständig und zum Teil verfälscht ab. Sie dienen auch dazu, politische Interessen besser durchsetzen zu können.

Spannungsfeld zwischen Spezifischem und Differenz Soll das Spezifische der Lebensrealitäten von z.B. Menschen mit Beeinträchtigung herausgearbeitet werden, so wird das Ganze umso unspezifischer, je mehr Unterschiede innerhalb dieser Gruppe berücksichtigt bzw. zugelassen werden.

Kategorisierung Das Definieren von festen, klar abgegrenzten Kategorien mit Ein-/Ausschlusskriterien hat ebenfalls den Zweck, komplexe Sachverhalte handhabbar zu machen. Bei genauerer Betrachtung sind diese Grenzen jedoch nicht starr und nicht eindeutig (Wo z.B. fängt Behinderung an? Wo hört sie auf?). So sind die Kategorien mehr oder weniger variabel, mehr oder weniger durchlässig. Sowohl die Kategorienbildung als solche als auch deren Abgrenzungen zueinander werden aus einer Position der Macht heraus definiert, meist nach hegemonialen Vorstellungen der dominanten Mehrheitsgesellschaft. 7 | Vgl. J. Gummich: Schützen die Antidiskriminierungsgesetze vor mehrdimensionaler Diskriminierung? S. 6-7.

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Entweder/Oder-Prinzip (duales Prinzip) Das »Entweder/Oder-Prinzip« (z.B. auch: wer nicht für uns ist, ist gegen uns), die klare Zuordnung, ist meines Erachtens grundsätzlich und stark in den westlichen Denk- und Machtstrukturen verankert. Ein »sowohl als auch« oder noch schlimmer »weiß nicht« wird in bestimmten wissenschaftlichen Diskursen sowie sozialen und politischen Praxen sehr schwer akzeptiert. Wesentlich scheint mir dabei, dass es nicht nur um das Zuordnen als solches geht, sondern um Vereindeutigungen, d.h. dass mensch sich für eine »Kategorie« – und nur für eine – entscheiden muss bzw. zu einer zugeordnet wird8 (Schwarz oder deutsch/Frau oder Mann/Ethno oder Homo etc.). Dabei werden die aus der Machtposition heraus zur Wahl gestellten Kategorien meist als Gegensätze konstruiert. Auf diese Weise wird sicher gestellt, dass implizit eine Zuordnung zu beiden gleichermaßen nicht möglich sein kann. Auch beim Vorliegen mehrerer Kategorien bleibt die Systematik von Widersprüchlichkeiten erhalten und funktioniert diese Logik. Diese Konstruktion trägt meines Erachtens dazu bei, bestehende (Macht-)Strukturen aufrecht zu erhalten. Es erschwert oder verhindert sogar auch Solidaritäten über die eigenen Zuschreibungen hinaus.

Gegenseitige Abgrenzung Die gegenseitige Abgrenzung (Voraussetzung hierfür sind beide oben genannten Aspekte) dient dazu, das eigene Profi l zu schärfen. Sie beinhaltet häufig, dass es (vermeintlich) keine gemeinsamen Interessen geben kann.

Anzahl der Beteiligten einer Gruppe Je größer eine Gruppe, je mehr hinter einer Forderung stehen, umso stärker und gewichtiger wird eine Organisation wahrgenommen und umso leichter lassen sich – vor allem in der Lobbyarbeit – gruppenspezifische Forderungen durchsetzen.

Mentalität der Besitzstandswahrung Man hat es als Minderheit und/oder benachteiligte Gruppe endlich geschaff t, sich in der Gesellschaft eine Nische einzurichten (einschließlich Institutionalisierung mit Jobs) und ein paar Rechte zu sichern. Doch nun gibt es bewusste oder unbewusste Befürchtungen, dass diese Privilegien (einschließlich finanzieller Mittel) im »Intersektionalitäts-Nebel« verschwinden könnten und somit »Eigeninteressen« nicht mehr durchsetzbar sind.

8 | Fremd- und Eigenzuordnung können sich dabei gegenseitig bedingen.

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Komplexer Ansatz von intersektioneller Diskriminierung Ein komplexer Ansatz erfordert komplexes Denken und zwingt eher zur Selbsthinterfragung bzw. Selbstkritik. Mit einem komplexen Ansatz fühlen sich viele, oft auch aufgrund der Spezialisierungen und mangelnder Vernetzung, überfordert (»Ach, muss ich da jetzt auch noch mitdenken?«).

Vielfalt als Störfaktor Die verschiedenen Lobbyorganisationen/-gruppen im Antidiskriminierungsbereich sind identitätspolitisch ausgerichtet9, z.B. Frauen, Lesben/ Schwule, AfrikanerInnen, Menschen mit Beeinträchtigungen etc. und vertreten »Gesamtgruppen«-Interessen. Die Interessen von Untergruppen werden nicht als Gesamtgruppen-Interessen, sondern eher als Störfaktor der homogenen Einheit wahrgenommen. Lassen sich die Untergruppen nicht mehr ignorieren, wird zu der Strategie gegriffen, dass man davon ausgeht, dass diese Untergruppen nur für sich sprechen und nicht für die Gesamtgruppe. Die Vielfalt innerhalb einer Gruppe kann zu inneren Widersprüchen führen und auch zu Diskriminierung innerhalb dieser Gruppe – denn für Lobbyarbeit gilt nach wie vor das Motto: »United we stand – divided we fall« (wobei die Frage offen bleibt, wer das »we« ist).

Thematische Annäherungsschritte In Workshops frage ich TeilnehmerInnen danach, wie viele Menschen mit Beeinträchtigungen oder alternativ mit Migrationshintergrund sie in ihrem engeren sozialen Umfeld antreffen. Gemeint sind Partnerschaften, Freundeskreise, befreundete Kinder der eigenen Kinder, Kontakte mit der Nachbarschaft bzw. bei Freizeitaktivitäten u.ä., aber auch das Arbeitsumfeld. Im Anschluss frage ich nach »weder noch« und »sowohl als auch«, bei letzterem zusätzlich noch, wie viele Personen zu beiden Gruppen zählen. Meist ist festzustellen, dass für eines der beiden Identitätsmerkmale sich einige TeilnehmerInnen im Raum melden10, für beide aber kaum noch, und noch seltener (meist gar nicht) für beide Merkmale in einer Person. Die Nicht-Präsenz im engeren Umfeld wird als Indikator für segregierende Gesellschaften gesehen. Insofern kann das Ergebnis solcher – wenn auch nicht repräsentativer – Befragungen als ein Hinweis auf Ausgrenzungen von Menschen mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung interpretiert werden. Dabei ist Migrationshintergrund nicht gleich Migrationshintergrund, und Beeinträchtigung ist nicht gleich Beeinträchtigung. Es ist ein Unter9 | Dies gilt auch innerhalb von allgemeinen Menschenrechts-Organisationen. 10 | Angesichts des Inhalts der Tagung »Gendering Disability« vom 22. und 23.01.2009 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg war es nicht überraschend, dass die Anzahl dort vergleichsweise hoch war.

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schied, ob ein weißer EU-Bürger oder ein sudanesischer Flüchtling betroffen ist, und ob eine leichte Hörbeeinträchtigung oder eine starke Mehrfachbeeinträchtigung vorliegt. Ein erster Schritt, sich den Ausprägungen und Auswirkungen der Verknüpfung von Migrationshintergrund und Beeinträchtigung zu nähern ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider kategorisierter Gruppen zu betrachten. Nachfolgende Ausführungen sollen zu dieser Reflexion anregen.

Migrationshintergrund und Behinderung – Gemeinsamkeiten/Parallelen •

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Bei beiden, sowohl Migrationshintergrund als auch Beeinträchtigung, wird eine konstruierte Normalität zugrunde gelegt, die bestimmte Menschen(gruppen) als anders definiert, vielfach stigmatisiert und ausgrenzt. Es besteht eine Tendenz zur räumlichen bzw. physischen Ausgrenzung (Sondereinrichtungen, Ghettoisierung). Behinderung und Migrationshintergrund sind keine statischen Konzepte, sondern werden entsprechend gesellschaftlicher Entwicklungen und Diskurse verändert. Bei beiden Bevölkerungsgruppen handelt es sich zahlenmäßig um Minderheiten.11 Die kategorisierten Gruppen werden oft als Problem wahrgenommen und als erheblicher gesellschaftlicher Kostenfaktor. Sie werden als Bedürftige und somit eher als Nehmende denn als Gebende gesehen, und ihr gesellschaftlicher Beitrag wird verschwiegen. Diskriminierung findet auf individueller, struktureller (z.B. Wohnungsmarkt) und institutioneller Ebene statt (z.B. Behörden, Träger). Die Lebensbereiche, in denen ausgegrenzt wird, decken sich: Schule, Wohnen, Arbeit, Alltag. Ein- und Ausschlusskriterien bzw. Zugangsbarrieren bestimmen die Partizipationsmöglichkeiten und Handlungsräume. Beide Gruppen berichten von Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitssystem und mit Behörden. Es gibt jeweils eine Klassifizierung und Hierarchisierung innerhalb der kategorisierten Gruppen. (z.B. EU versus Drittstaaten bzw. körperliche Beeinträchtigung versus kognitive Beeinträchtigung).

11 | Statistiken sprechen im Bundesdurchschnitt von ca. 18 % Menschen mit Migrationshintergrund (www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2008/03/PD08__105__12521,templateId=renderPrint.psml vom 10.10.2009) und ca. 10 % Menschen mit Beeinträchtigung (www.destatis.de/jetspeed/ portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2008/10/PD08__406__227,templateId=renderPrint.psml vom 10.10.2009).

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Beide Gruppen beklagen fehlende Selbstvertretungsrechte und mangelnde Repräsentation.12 Kurse und Programme sollen die Integration fördern, sei es in die Arbeitswelt, in das Quartier, in das Bildungssystem oder – allgemein – in die Gesellschaft. Häufig werden die Personen auf ein Merkmal bzw. dessen Zuschreibungen reduziert. Über beide kategorisierten Gruppen gibt es wenig Wissen und wenig Verständnis für die Lebenswirklichkeiten dieser Menschen. Nachteilsausgleich13 wird häufig als Privilegierung interpretiert. Beide Gruppen bilden ein großes Arbeitsfeld für soziale Einrichtungen und Träger. Paternalismus und Fürsorge sind häufig leitendes Motiv im Umgang mit Menschen beider Gruppen. Von beiden wird Dankbarkeit und Unterstützung erwartet sowie angepasstes Verhalten. Die Kommunikationsstrukturen gegenüber VertreterInnen beider Gruppen ähneln sich. Kommunikation findet oft nicht auf gleicher Augenhöhe statt. Mitbewohner werden zu Klienten, Nachbarn werden zu Polen/ Türken etc. (Stigmatisierung, Ethnisierung). Die Mehrheit der Bevölkerung hat kaum persönliche Kontakte zu diesen Personenkreisen. Wenn doch, dann sind diese Personen mit Beeinträchtigung bzw. Migrationshintergrund häufig »die Ausnahmen«, »die Besonderen«, »die Guten« (»Die Türken sind so und so, Mehmet nicht« oder »Menschen mit Down Syndrom sind so und so, Lena nicht«). Der Kontakt zu diesen Menschen wird dann gerne als Beweis von den Mehrheitsangehörigen angeführt, dass mensch selbst nicht diskriminiert. Reaktionen auf die Ausgrenzung seitens der kategorisierten Gruppen sind der Kampf um Rechte und Teilhabe/Teilsein, die Bildung von Selbstorganisationen, Entwicklung von Empowerment-Strategien und Bildung von Netzwerken, um nur einige Gegenstrategien zu nennen.

12 | Der Slogan »Nichts über uns ohne uns« des Europäischen Jahrs der Menschen mit Behinderung 2003 drückt dies auf klare und einfache Weise aus. 13 | Ich vermeide den Begriff »positive Maßnahmen«, denn Maßnahmen, insbesondere solche zum Abbau von Diskriminierung, sollten grundsätzlich positiv sein. »Nachteilsausgleich« benennt viel genauer, worum es bei den Maßnahmen geht, nämlich Nachteile auszugleichen bzw. zu verhindern.

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Migrationshintergrund und Behinderung – Unterschiede Ein Blick auf die Unterschiede zeigt u.a.: • »Behinderung« ist rechtlich definiert, »Migrationshintergrund« statistisch. Aus einer rechtlichen Definition leiten sich – selbstredend – Rechte14 ab, wie z.B. Zugang zu bestimmten Leistungen. • MigrantInnen werden als nicht zur deutschen Gesellschaft gehörig betrachtet – sind fremd. Menschen mit Beeinträchtigung gehören dazu, werden aber »am Rande« der Gesellschaft verortet. Auch wenn letzteren oft mit Befremden begegnet wird, wird ihnen die Mitgliedschaft zur deutschen Gesellschaft in der Regel nicht abgesprochen. • MigrantInnen haben oft eingeschränkte Rechte, Menschen mit Beeinträchtigung haben meist alle bürgerlichen Rechte. Zum Beispiel haben Menschen mit Migrationshintergrund oft kein Wahlrecht, Ausbildungen, die im Ausland absolviert wurden, werden nicht anerkannt, der Zugang zum Arbeitsmarkt ist begrenzt, zum Teil sogar unmöglich und vieles andere mehr. • Die Formen und das Ausmaß der Ausgrenzung unterscheiden sich in den unterschiedlichen Lebensbereichen. So kann Ausgrenzung rechtlich festgelegt sein (Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben meist keinen Zugang zu den Regelleistungen des JobCenters). Es gibt weitere Unterschiede: • beim Zugang zur Schule (Sonderschulen, Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund – bei gleichzeitig unzureichenden Rahmenbedingungen), • beim Zugang zur Bildung (eingeschränkte Zugangs- und Wahlmöglichkeiten aufgrund von Beeinträchtigung bzw. Migrationshintergrund und Aufenthaltsstatus), • bei der Nutzung des öffentlichen Verkehrs und öffentlicher Einrichtungen (keine Braille-Schrift, nur deutsche Sprache u.a.), • bei der Repräsentation in Politik, Wirtschaft, Werbung und Medien und vieles andere mehr. • Die (Un-)Sichtbarkeit bzw. (Nicht-)Wahrnehmbarkeit und Verbergungsmöglichkeiten unterscheiden sich ebenfalls. Sie hängen von verschiedenen Faktoren ab wie z.B. wahrnehmbare und nicht-wahrnehmbare Beeinträchtigungen bzw. tatsächlicher oder zugeschriebener Migrationshintergrund. Bei beiden wird in der Regel auf sichtbare (z.B. Rolli) bzw. wahrnehmbare (z.B. Sprache) Aspekte geachtet, an die auch individuelle Diskriminierung anknüpft. Je nach Ausprägung können sie – und dies versuchen auch einige – die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen verbergen, meist um nicht Diskriminierungen ausgesetzt zu sein. • Bilder (Images) über die kategorisierten Gruppen unterscheiden sich ebenfalls. Einige der Vorstellungen sind: Menschen mit Behinderung 14 | Dies auch, wenn diese Rechte oft schwer erkämpft und mit Nachdruck eingefordert werden müssen.

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können15 sich nicht – aktiv – integrieren, MigrantInnen wollen sich nicht integrieren; Menschen mit Beeinträchtigung können selbst nichts dafür und sind bedauernswert, Menschen mit Migrationshintergrund sind an ihrer Lage selbst schuld. Die kategorisierte Gruppe »MigrantInnen« wird als Störung, sogar bis hin zur Gefahr für die Gesellschaft wahrgenommen. Ihr wird die Kraft, die Gesellschaft zu stören und zu zerstören zugeschrieben (nicht jedoch, positiv zu verändern), und sie wird auf diese Weise zum Risikofaktor stigmatisiert. Menschen mit Beeinträchtigungen gelten hingegen als gesellschaftlich eher irrelevant. Ihnen wird nicht zugetraut, gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang zu setzen.16 So genannte problematische Parallelgesellschaften werden daher nur MigrantInnen zugeschrieben. MigrantInnen kann man ggf. ins Ausland abschieben, Menschen mit Beeinträchtigung »nur« in Heime aussondern. Menschen mit Beeinträchtigung erhalten nach Pränataldiagnostik der Mutter meist nicht einmal eine Lebenschance.17 Menschen mit Migrationshintergrund erhalten je nach Herkunftsland, Bildungsstatus und finanziellem Potential eventuell keine Einreiseerlaubnis. Beiden wird damit auf unterschiedliche Weise der Zugang zur hiesigen Gesellschaft verwehrt. Hinsichtlich der Zuschreibung von Geschlechterrollen reicht das Bild von klaren Geschlechterrollen (Frau – Mann) bei MigrantInnen bis hin zur Ignoranz des Geschlechts bei Menschen mit Beeinträchtigung. Die Ursachen von Beeinträchtigung werden als naturgegeben, gottgegeben, als Schicksal oder medizinisch interpretiert. Beim Migrationshintergrund gelten Flucht oder Vertreibung, Arbeit oder Aus- und Weiterbildung als treibende Kraft.

Die Betrachtung von Gemeinsamkeiten/Parallelen und Unterschieden kann ein Element auf dem Erkenntnispfad sein, um die Ereignisse und Prozesse an diskriminierungsrelevanten Schnittstellen besser zu verstehen. Welche zusammentreffenden (Macht-)Faktoren auf welche Weise wirken, kann meiner Meinung nach nur situationsabhängig und unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlichen und hegemonialen Kontextes analysiert werden.

15 | Im Sinne von: Sie haben nicht die Fähigkeit, es selbst zu tun. 16 | Auf individueller Ebene können Menschen aus beiden kategorisierten Gruppen als bedrohlich wahrgenommen werden. 17 | Die Quote der Schwangerschaftsabbrüche bei z.B. Verdacht auf Down Syndrom beträgt nach unterschiedlichen Quellen 90 %-98 %, z.B. Martin Spiewak: Die stille Selektion, www.zeit.de/1999/01/Die_stille_Selektion: 90 % ; oder 98 %, vgl. Christina Berndt: Bluttest auf das Down Syndrom, www.sueddeutsche.de/wissen/187/313095/text/ jeweils vom 10.10.2009.

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Erkennbarkeiten, Ausprägungen und Auswirkungen von Diskriminierung an der Schnittstelle Migrationshintergrund und Beeinträchtigung 18 Bei genauerer Betrachtung handelt es sich nicht nur um eine, sondern um viele Schnittstellen, bedingt durch vielfältige Migrationshintergründe und unterschiedlichste Beeinträchtigungen. Unter anderem dadurch stellen sich – bisher – mehr Fragen, als Antworten vorhanden sind. Im Nachfolgenden werde ich einige Fragen und Überlegungen anführen, mit denen ich ein paar Aspekte und Dynamiken an diesen Schnittstellen beleuchten möchte.

Fokus: Schwarze Löcher im Universum der Lebenswirklichkeiten Als Schwarze Frau und Mutter einer Tochter mit Down Syndrom bewege ich mich sowohl in Migrations-, Schwarzen Community- und Anti-Rassismuszusammenhängen als auch in Kreisen zum Thema Beeinträchtigung/Behinderung. Diejenigen, die viel auf Tagungen und Veranstaltungen unterwegs sind, wissen, dass man über kurz oder lang immer wieder denselben Leuten begegnet. Ich stellte jedoch fest, dass sich diese nur innerhalb der »eigenen« thematischen Kontexte bewegen. Ich traf – abgesehen von einer Ausnahme19 – in Migrationszusammenhängen nie VertreterInnen der Behindertenzusammenhänge und umgekehrt. Meist bin ich auf Veranstaltungen rund um das Thema Behinderung die einzige Schwarze Frau, oft sehe ich nicht einmal andere People of Color. Und in MigrantInnenzusammenhängen treffe ich keine Menschen mit für mich wahrnehmbaren Beeinträchtigungen. Auch mein Auftreten als Expertin im Bereich Behinderung/ Beeinträchtigung scheint bei etlichen Leuten immer noch und immer wieder Irritationen auszulösen.20 In Gesprächen mit MitarbeiterInnen von Unterstützungsorganisationen oder VertreterInnen von Selbstorganisationen der beiden kategorisierten Gruppen höre ich wiederholt Sätze wie »Die – gemeint sind Personen mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung – kommen nicht zu uns« oder 18 | Dieser Abschnitt enthält vorwiegend Ergebnisse bzw. Erkenntnisse aus persönlichen Beobachtungen und Gesprächen aus meinen verschiedenen Arbeitszusammenhängen sowie Erinnerungsstücke aus der Sekundärliteratur. 19 | Hier handelt es sich um die Abschlussveranstaltung in Potsdam zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit 2007. Zu dieser Tagung wurden entsprechend den im AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) aufgeführten Merkmalen – Alter, Religion/Weltanschauung, Hautfarbe/Herkunft, Geschlecht und sexuelle Identität – bewusst Personen aus unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen eingeladen. 20 | Von einer Schwarzen Frau wird erfahrungsgemäß erwartet, dass sie Expertin zum Thema Rassismus ist, vor allem wenn, sie in Menschenrechts- und AntiDiskriminierungszusammenhängen auftritt.

142 | Judy Gummich »Wir unterstützen zwar die Familie, die Beeinträchtigung des Kindes war allerdings bisher kein Thema« bzw. im Kontext Beeinträchtigung: »… der Migrationshintergrund der Familie wurde bisher nicht thematisiert.«21 Menschen mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung werden – abgesehen von vereinzelten Ausnahmen – weder in Berichten noch in Statistiken zur Lage von Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Beeinträchtigungen erwähnt, egal ob auf lokaler oder Länderebene, nationaler oder gar EU-Ebene. Studien über genau diesen Personenkreis sind bisher die absolute Ausnahme.22 Dies alles scheinen mir klare Hinweise zu sein, dass in Diskursen, in der Wissenschaft und Politik wie auch Praxis und bei den AkteurInnen selbst meist keine thematischen Verknüpfungen bestehen, keine Zusammenarbeit existiert und auch keine Vernetzung und schon gar keine intersektionelle Herangehensweise an die jeweiligen Fragestellungen in Bezug auf Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung. Sie sind weder Thema noch sind sie vertreten. Durch die separierende Vorgehensweise entsteht der Eindruck, es gäbe diese Menschen nicht. Dass dies nicht der Realität entspricht, muss ich hier nicht weiter betonen. Doch was passiert an der Schnittstelle Migrationshintergrund und Beeinträchtigung, wenn Menschen beiden kategorisierten Gruppen angehören, sei es per Fremd- oder Eigendefinition? Menschen afrikanischer Herkunft mit einer Beeinträchtigung zum Beispiel bestätigen mir schon seit mehr als 20 Jahren, dass sie sich weder in den Schwarzen Communities noch in Selbstorganisationen von Menschen mit Behinderungen aufgehoben fühlen. Nicht nur, weil sie meistens vereinzelt repräsentiert sind, sondern auch, weil ein wesentlicher Teil ihrer Persönlichkeit nicht wahrgenommen oder aktiv ignoriert wird. Sie passen mit einem als konkurrierendes Merkmal wahrgenommenen Persönlichkeitsaspekt nicht in die »eigene« Gruppe.23 Eventuell werden sie toleriert, gelegentlich voll akzeptiert, häufi g jedoch aus21 | Ähnliche Aussagen waren auch in der Auswertungsrunde zu hören bei der Vorstellung der Ergebnisse der Befragung »Zugänge und Einblicke in das Gesundheitssystem von Migranten/Migrantinnen mit Beeinträchtigungen« des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg, Juli 2009, erstellt von Federas Beratung Deutschland AG. 22 | H.-Günter Heiden/Christiane Srna/Katarina Franz: Zugangswege in der Beratung chronisch kranker/behinderter Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Feldstudie, Stiftung LEBENSNERV Berlin, Februar 2009 und http://lebensnerv.de/misc/Feldstudie-Zugangswege %20in %20der %20Beratung.pdf; Federas Beratung Deutschland AG (Hg.): Auswertung Fragebogen zum Projekt »Zugänge und Einblicke in das Gesundheitssystem von Migranten/Migrantinnen mit Beeinträchtigungen«, Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin Juli 2009. Beide Studien beschäftigen sich mit Zugangswegen. 23 | Siehe hierzu auch das Kapitel »Mögliche Zugangsbarrieren zum Thema Intersektionalität«.

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gegrenzt. Daher neigen sie dazu, abhängig vom jeweiligen Zusammenhang, mal den einen, mal den anderen Persönlichkeitsaspekt selbst zunehmend auszublenden. Als Reaktion ziehen sich viele zurück oder tauchen erst gar nicht in einem der Zusammenhänge auf, sind auf Veranstaltungen und Versammlungen nicht (mehr) präsent, in MigrantInnen- bzw. BehindertenSelbstorganisationen kaum vertreten sowie auch nicht in Wissenschaft und Politik. Sie sind unsichtbar und damit quasi nicht-existent! Die gegenseitige Bedingtheit von Nicht-wahrgenommen-werden und Nicht-präsent-sein in Wissenschaft, Politik und Sozialer Praxis unterstreicht ihre Unsichtbarkeit innerhalb der »eigenen« Organisationen und verstärkt sie darüber hinaus auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten. Das Zusammenwirken verschiedener Ausgrenzungsmechanismen wird nicht beachtet, und deren Einfluss auf die spezifischen Lebensbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigung und Migrationshintergrund wird nicht wahrgenommen. Folglich werden keine (neuen) Erkenntnisse generiert und Wissen nicht (weiter-)entwickelt, die diese spezifischen Lebenssituationen widerspiegeln. Somit können auch keine Strategien entworfen werden, um diese sehr spezifische Form der intersektionellen Diskriminierung an der Schnittstelle Migrationshintergrund und Beeinträchtigung abzubauen oder zu verhindern. Es werden auch keine Konzepte entwickelt, damit sie ihre – wie ich vermute – sehr komplexen Kompetenzen in die immer vielfältiger und verwobener werdende Gesellschaft einbringen können.

Fokus: Dynamiken an den Schnittstellen Es gibt viele Fragen zu den Überschneidungssituationen und -prozessen: Verstärken oder schwächen sich z.B. aufeinander treffende Machtachsen gegenseitig, oder entsteht, wie u.a. Crenshaw24 herausfand, etwas völlig Neues, etwas, das weder in das eine noch in das andere Schema passt? Wird etwas Unsichtbares sichtbar gemacht? Was bedeutet es z.B. für eine Schwarze Frau mit Rollstuhl, wenn zwei gegensätzliche Klischees aufeinander treffen: die Schwarze Frau als Objekt sexueller Begierden und die Frau im Rollstuhl als geschlechtsloses Wesen? Was bedeutet diese Art der Verflechtung für die Identität(sentwicklung) dieser Frau? Für ihr Selbstkonzept? Für ihr Verhalten gegenüber anderen Menschen? Gegenüber Frauen oder Männern? Es ist zu vermuten, dass durch die Verflechtung zweier widersprüchlicher Konzeptionen eine starke Dynamik entsteht, die (siehe oben) oft für Außenstehende in der Unsichtbarkeit stattfindet, die jedoch für die betreffende Person enorme Bedeutung und Auswirkungen haben kann. In der Konsequenz kann dies zu starker Verunsicherung führen und/oder dazu, enorm widerständige Kräfte zu entfalten. Was bedeutet es für das kollektive Selbstbild von betreffenden MigrantInnen-Communities, sowohl für die SchülerInnen wie für die Eltern, wenn 24 | vgl. K. Crenshaw: Mapping the Margins, S. 2.

144 | Judy Gummich ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz ihrer Kinder (meist aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen) in Schulen25 für so genannte Lernbehinderte konzentriert wird? Was bedeutet dies zukunftsperspektivisch für die Gesellschaft, in der der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund weiter zunehmen wird?26 Was bedeutet es psychologisch für die Identität und das Selbstbild eines Schwarzen Kindes mit einer Beeinträchtigung, wenn es ausschließlich von Weißen therapiert wird? Hier treffen zwei Konzepte von Normalität (»Weißsein« und »keine Beeinträchtigung haben«) aufeinander. Auf welche Weise beeinflussen sie sich gegenseitig? Und welche Rolle spielt dabei der historische Kontext? Welche Auswirkungen hat diese Kombination auf andere Aspekte der Persönlichkeit, z.B. auf die Geschlechteridentität, noch dazu, wenn TherapeutInnen oft Frauen sind? Was bedeutet die Kollision von zwei Gesellschaftsmodellen, z.B. dem vorwiegend individualistischen und dem tendenziell kollektivistischen? In Deutschland herrscht eher die Ideologie vor, als Erwachsene/r möglichst unabhängig zu leben. Dies gilt auch für Menschen mit Beeinträchtigungen. In mehr kollektivistisch orientierten Gesellschaften unterstützen sich die Mitglieder eher gegenseitig. Der Aspekt der Sorge füreinander ist stärker als der der Selbstbestimmung. Wie gehen wir an dieser Konfrontationsstelle mit dem Anspruch des Empowerments und dem Ziel, größtmögliche Selbständigkeit von Menschen mit Beeinträchtigung zu erreichen, um?

Fokus: Beeinträchtigung/Behinderung – Erklärungsansätze Das Verständnis von dem, was als Beeinträchtigung definiert wird, ist in unterschiedlichen kulturell-religiösen Kontexten sehr verschieden. Es gibt Sprachen, in denen kommt das Wort »Behinderung« gar nicht vor, in einigen gibt es keine Bezeichnungen für bestimmte Beeinträchtigungen (z.B. so genannte »geistige Behinderung«27). In einigen Kulturen werden nur einige Beeinträchtigungen (nach unserer Definition) als solche gesehen. Menschen mit gewissen Beeinträchtigungen (u.a. Blindheit und Schizophrenie) haben in einigen religiösen und spirituellen Gemeinschaften einen gesellschaft25 | Auf die generelle Problematik des segregierenden deutschen Schulsystems kann ich hier nicht näher eingehen. 26 | An dieser Stelle wird nochmals die Notwendigkeit deutlich, eine andere Benennung für »Migrationshintergrund« zu fi nden, weil abzusehen ist, dass dieser Begriff künftig überhaupt nicht mehr greifen wird. 27 | Die Bezeichnung »geistige Behinderung« lehne ich grundsätzlich ab. Was soll das heißen: »Der Geist ist behindert«? Ich kenne nicht nur unter PolitikerInnen gewisse Menschen, auf die diese Bezeichnung eher zutriff t als auf Menschen mit z.B. Down Syndrom. Die Selbstorganisation People First – Mensch zuerst setzt sich vehement für die Bezeichnung »Menschen mit Lernschwierigkeiten« ein (www. people1.de vom 6.9.2009).

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lich besonders geachteten Stellenwert. Andererseits werden in einigen Gesellschaften Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen verachtet, versteckt und aus der Familie bzw. Gemeinschaft ausgeschlossen. Weltweit ist Behinderung häufig ein Tabu-Thema. Die Erklärungsansätze, wie es zu einer Beeinträchtigung kommt, sind ebenfalls extrem unterschiedlich. Sie werden medizinisch oder durch einen Fluch oder bösen Blick erklärt, durch die Strafe einer Gottheit, als schicksalhaft interpretiert oder als durch die Schuld der Mutter verursacht gesehen, die etwas Böses getan haben soll. Oder aber die Beeinträchtigung entstand, weil der Mensch in seinem früheren Leben etwas Unrechtes getan haben soll und andere Botschaften mehr. Generell hat das jeweilige Verständnis von Gesundheit und Krankheit28 (z.B. keine Trennung von Körper und Psyche) Einfluss auf Erklärungsmodelle und den Umgang mit Beeinträchtigungen/Behinderungen.

Fokus: Beeinträchtigung/Behinderung – Bewältigungsstrategien Was bedeutet es, wenn die Beeinträchtigung bei der Tochter egal ist, nicht aber beim erstgeborenen Sohn? Welche Auswirkungen hat das Nicht-Wahrnehmen-Wollen der Beeinträchtigung des Kindes oder eine – aus welchen Gründen auch immer – nicht rechtzeitig begonnene oder verpasste Therapie im Kindesalter? Hier herrscht der Anspruch vor, ein Kind (allgemein der Mensch) muss sich entwickeln und soll dabei so weit wie möglich unterstützt werden. Vielleicht existiert aber die Vorstellung in der Familie und/ oder Herkunftsgesellschaft, dass ein Kind glücklich und gut behütet und versorgt ein Leben lang in der Familie leben soll. Was ist dagegen zu sagen? Dies berührt auch die Frage nach Lebenszielen von/für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, mit und ohne Migrationshintergrund. An dieser Stelle tut sich außerdem die Frage nach unterschiedlichen Vorstellungen über Rollen und Zuständigkeiten innerhalb der Familie und in den Communities auf. Wer ist generell für die Pflege und Betreuung in der Familie, für die gesundheitliche Versorgung, die Bildung usw. verantwortlich? Verändern sich diese im Hinblick auf das Kind bzw. das Familienmitglied mit Beeinträchtigung? Verstärken sie sich oder verkehren sie sich sogar? Doch Vorsicht beim Griff in die Klischee-Kiste! Ich kenne eine arabische Familie, in der sich der Vater mit großer Hingabe vor allem um das stark beeinträchtigte Kind der Familie kümmert. Die Strukturen von Familien in MigrantInnen-Communities ähneln zunehmend den in Deutschland dominierenden Kleinfamilien und individualistischen Lebensentwürfen. In MigrantInnenfamilien gibt es immer mehr ältere Menschen, die nicht mehr in der Familie leben. Auch die Zahl der Menschen mit Beeinträchtigung in dieser Bevölkerungsgruppe nimmt vermutlich zu. Denn früher kamen vor allem die jungen »fitten« Menschen. 28 | Auf diese kann ich in diesem Rahmen nicht weiter eingehen.

146 | Judy Gummich Inzwischen werden viele Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund hier geboren. Folglich – so ist zu vermuten – wird sich der Anteil von Menschen mit Beeinträchtigung unter ihnen erhöhen. Vereine und Träger übernehmen zunehmend die Pflege und Unterstützung. Doch sind sie darauf genügend vorbereitet? Worauf müssen sie sich einstellen? Was müssen sie verändern, um den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht zu werden? In einigen Ländern gibt es Unterstützungssysteme für Menschen mit Beeinträchtigungen, in vielen aber nicht. In wieweit hat das Eingebundensein bzw. Nicht-Eingebundensein in MigrantInnen- bzw. Behinderten-Communities vor Ort Einfluss auf die jeweilige Lebenssituation, auf die jeweilige Unterstützung des Menschen mit Beeinträchtigung? Besteht der Anspruch, ohne staatliche Hilfe oder Unterstützung von Trägern klar zu kommen und sich ausschließlich auf das enge soziale Umfeld zu verlassen? Von wem wird das pflegende Familienmitglied unterstützt und entlastet? Es gibt eine Vielzahl von Bewältigungsstrategien, die an dieser Schnittstelle zusammen kommen und die zum Teil konkurrieren oder sich ergänzen können.

Fokus: Herkunft – Einflüsse und Auswirkungen Manche Menschen, so z.B. Schwarze Deutsche, die unter anderem aufgrund des permanenten und alltäglichen Rassismus mit psychischen Folgen zu kämpfen haben, werden bei Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe genau wieder mit den rassistischen Klischees und Vorurteilen konfrontiert, weshalb sie die – meist weißen – TherapeutInnen (es gibt kaum Schwarze) aufgesucht haben. Welche Konsequenzen hat diese ziemlich auswegslose paradoxe Situation für diese Menschen? Wie soll ein Vater verstehen, dass sein Kind mit Beeinträchtigung nicht in die gleiche Schule gehen darf wie die anderen Geschwisterkinder, sondern in eine so genannte Förderschule gehen muss, wenn ein derart segregiertes Schulsystem im Herkunftsland nicht existiert? Woher sollen Familien wissen, dass Unterstützungsleistungen möglich sind, wenn es im Herkunftsland solche nicht gibt und gleichzeitig die hiesigen Versorgungs- und Behördenstrukturen nicht bekannt und zu undurchsichtig sind (was übrigens auch viele hier geborene – Deutsche – so sehen)? Verständlich sind auch die Ängste von Familien, staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen aus Furcht, den Aufenthaltsstatus zu verlieren oder nicht eingebürgert zu werden, oder weil bereits im Heimatland schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht wurden. Wie soll das Jugendamt als unterstützende staatliche Instanz für das beeinträchtigte Kind wahrgenommen werden, wenn es gleichzeitig immer wieder Probleme mit der Ausländerbehörde wegen des Aufenthaltes gibt. In welch einer Konfliktsituation befindet sich möglicherweise eine Familie, wenn der Aufenthaltsstatus der gesamten Familie vom Kind mit Beeinträchtigung abhängt und eine Besserung des Zustandes (eventuell durch Therapie) möglicherweise negative Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus hat?

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Schwierig ist es für Flüchtlinge, die lediglich eine Duldung haben und daher nur einen Anspruch auf eine medizinische Akut-Versorgung. Therapien wie Logopädie oder Ergotherapie werden nicht finanziert oder scheitern an der Höhe der Zuzahlung. Was bedeutet dies insbesondere für traumatisierte Flüchtlinge? Besonders prekär ist auch die Situation von illegalisierten MigrantInnen. Für sie gibt es weder unabhängige Beratungsmöglichkeiten noch medizinisch-therapeutische Unterstützung bei einer Beeinträchtigung oder chronischen Erkrankung.29 Ich verstehe diese Form des NichtHandelns, diese Art der unterlassenen Hilfeleistung als massive Menschenrechtsverletzung.

Fokus: Kommunikation – eine Schlüsselbarriere Welche Auswirkungen hat es insbesondere für Nicht-Deutsch-(Herkunfts-) Sprachige für die Inanspruchnahme bzw. Nicht-Inanspruchnahme von medizinischen und sozialen Leistungen, wenn in unverständlichem Mediziner- oder Behördendeutsch kommuniziert wird? Wie unterhält mensch sich mit einem gehörlosen Menschen, in dessen Herkunftsland keine Gebärdensprache existiert oder kein/e DolmetscherIn für die Gebärdensprache des Herkunftslandes zu finden ist? Gibt es Regelungen für Gehörlose, wenn sie den Einbürgerungstest 30 absolvieren müssen oder für Menschen, die nie eine verbale Sprache erlernen werden? Wo findet mensch diese Informationen und dazu noch verständlich? Häufig werden in der direkten Kommunikation Machtverhältnisse offen ausagiert31 und Menschen unmittelbar mit Vorurteilen über sie als Mitglied einer kategorisierten Minderheit oder Gruppe offen konfrontiert und damit diskriminiert. Diese Art der Kommunikation, die einem wertschätzenden und respektvollen Umgang völlig widerspricht, kann dazu führen, dass von dem betreffenden Menschen bestimmte Unterstützungsleistungen und Therapien nicht in Anspruch genommen werden, um sich dieser unmittelbaren Diskriminierung und Verletzung nicht weiter aussetzen zu müssen. Dies wiederum kann sich auf den gesundheitlichen Zustand oder die persönliche Entwicklung auswirken. In der Konsequenz können solche Mechanismen darüber hinaus zu struktureller Diskriminierung führen bzw. diese verstärken. Die Kommunikation erweist sich offensichtlich neben rechtlichen Rahmenbedingungen sowie Versorgungs- und Behördenstrukturen als eine wesentliche Schlüsselbarriere im Kontext von Migrationshintergrund und 29 | Die Lebensbedingungen in der Illegalität können dabei wiederum selbst Ursache für die Beeinträchtigung oder chronische Erkrankung sein. 30 | Auf die (Un-)Sinnhaftigkeit dieses Tests sowie auf dessen Inhalt kann ich in diesem Rahmen nicht eingehen. 31 | Macht wird auf unterschiedliche Weise offenbart, mal offener – mal subtiler, mal aktiver – mal passiver, mal direkter – mal indirekter.

148 | Judy Gummich Beeinträchtigung. Und Kommunikation meint hier, das sollte deutlich geworden sein, mehr als die bloße sprachliche Übersetzung oder das Dolmetschen.

Zwischenresümee Die vielen unterschiedlichen Erfahrungshintergründe, Vorstellungen, Erklärungsmuster und bekannten Bewältigungsstrategien treffen auf unser Gesundheits- und Bürokratiesystem und auf eine Gesellschaft, die sowohl Menschen mit Beeinträchtigung als auch solche mit Migrationshintergrund als anders definiert und von gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation ausgrenzt. Gleichzeitig bietet das System auch in gewissem Maße Unterstützung an – vorausgesetzt, man kennt und überwindet die Hürden. Menschen mit Migrationshintergrund und Beeinträchtigung befinden sich also in einer vielschichtig verwobenen, teils widersprüchlichen Situation. Zurück zu der Frage: Was passiert an den Schnittstellen? Dies ist – wie ich beispielhaft versucht habe aufzuzeigen – eine Frage nach hochkomplexen Dynamiken und Prozessen und kann nur jeweils bei Betrachtung der jeweiligen Situation(en) im jeweiligen Kontext beantwortet werden. Denn auf z.B. ein Diskriminierungsereignis selbst haben äußerst viele Faktoren Einfluss, die auf komplexe Weise mehrdimensional und dynamisch zusammenwirken und die sich gegenseitig beeinflussen und gegebenenfalls auch verstärken. Auch die Unterschiedlichkeit von Menschen mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten, ihren individuellen Bewältigungsstrategien und Handlungsweisen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Daher muss auch jede Situation, jedes (Diskriminierungs)Ereignis differenziert und individuell betrachtet werden. Noch gibt es mehr Fragen als Antworten, wobei viele Fragen noch nicht einmal gestellt sind.

Was ist zu tun? Handlungsansätze Voraussetzung, um das Ausmaß, die komplexen Ausprägungen und Auswirkungen der spezifischen Diskriminierungen, aber auch ihre individuellen und kollektiven Potentiale zu erkennen, ist, die Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Beeinträchtigung und Migrationshintergrund mehrperspektivisch zu analysieren. Für die Entwicklung von Handlungsansätzen, die notwendige gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang setzen und gleichzeitig individuell ausgerichtete Unterstützungskonzepte ermöglichen, bedarf es einer menschenrechtlichen Perspektive. Diese basiert auf den Prinzipien der Nicht-Diskriminierung, der Chancengleichheit, der gesellschaftlichen Teilhabe und der Barrierefreiheit (im weitesten Sinne) und berücksichtigt dabei strukturelle und institutionelle Ebenen. Hat der menschenrechtliche Ansatz eher die Abwehr von Diskriminierung zum Ziel, so ist der Diversity-Ansatz ein eher ressourcen-orientierter.

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Letzterer unterstreicht dabei den Paradigmenwechsel, der von der defizitorientierten und medizinisch- bzw. wohlfahrtsgeprägten Betrachtungsweise weg geht hin zum Blick auf Stärken, Kompetenzen und gesellschaftliche Beiträge. Die Kombination beider Ansätze bietet eine gute Grundlage für eine ganzheitliche Herangehensweise. Denn Migrationshintergrund und Beeinträchtigung lassen sich zwar analytisch, nicht aber in der Praxis auseinander nehmen. Denn ich bin nicht Schwarz oder Frau, sondern eine Schwarze Frau. Nicht nur ein Fragment eines Menschen mit Beeinträchtigung muss in der Werkstatt arbeiten, sondern die ganze Person. Diskriminierung verletzt den ganzen Menschen, nicht nur einen Teil von ihm. Zu entwickelnde Strategien und Konzepte, die Nicht-Diskriminierung und Wertschätzung zum Ziel haben, sollten sich an den Lebenswirklichkeiten ausrichten und nicht an der Zuordnung zu Kategorien. Denn es geht nicht darum, wie hoch der Grad einer Beeinträchtigung ist, sondern darum, welche Auswirkungen diese Zuordnung hat, welche Partizipationsmöglichkeiten und Handlungsräume sich daraus für die einzelnen und die Gruppen ergeben.32 Kategorien können dabei – generell – lediglich als Orientierungshilfe betrachtet werden, Handlungsperspektiven zu entwickeln, die das Ziel haben, Menschenrechte zu verwirklichen. Es braucht die Entwicklung inklusiver Politiken, d.h. eine Veränderung von Strukturen und Machtverhältnissen. Die Unterstützung von Selbstorganisationen und Selbstempowerment ist meines Erachtens in diesem Prozess unabdingbar. Unterstützt werden kann dies durch Crossover-Kooperationen, -Austausch und -Netzwerke von Trägern, Behörden und vor allem mit MigrantInnen- und Behinderten-Selbstorganisationen, vorzugsweise mit entstehenden Selbstorganisationen von MigrantInnen mit Beeinträchtigung. Daneben ist die Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Stereotypen und Ausgrenzungsmechanismen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnissen von Bedeutung. Auch das Wissen um und das Verständnis von Lebenswirklichkeiten und -bedingungen von Menschen mit Beeinträchtigung und/ oder Migrationshintergrund muss erweitert werden. Nicht zuletzt sollte der Umgang mit Widersprüchlichkeiten und dem Nicht-Wissen (besser) gelernt werden.

32 | Diese Frage sowie viele andere Fragen zu Diskursen, Mechanismen, Prozessen und Praktiken stellen sich im Übrigen nochmals völlig neu, wenn (wie in Artikel 3 – Allgemeine Grundsätze der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert) in Zukunft Beeinträchtigung und in Übertragung der Logik auch Migrationshintergrund nicht mehr als Abweichung, sondern als Teil der Norm verstanden werden (»… Menschen mit Behinderungen als Teil menschlicher Vielfalt und des Menschseins…«).

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Resümee Ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die Ziel oder Opfer von – intersektioneller – Diskriminierung und Unterdrückung wurden und heute werden, sich ihrer jeweils spezifischen Situation sehr bewusst waren bzw. sind, seien es die versklavten und vergewaltigten Frauen in den deutschen Kolonien, die Hausangestellten und Bergarbeiter im Südafrika der Apartheid oder die im heutigen Berlin illegalisiert lebenden MigrantInnen. Intersektionelle Mechanismen und Prozesse beeinflussen das Leben eines jeden Menschen. Je nach Situation und Kontext werden die unterschiedlichen Machtverhältnisse an den Schnittstellen sichtbar, wirksam und auf unterschiedliche Weise ausagiert. Es gilt daher in erster Linie, einen Umgang mit Intersektionalität zu finden, insbesondere an stark diskriminierungsrelevanten Schnittstellen wie Migrationshintergrund und Beeinträchtigung, der menschenrechtlichen Zielsetzungen entspricht. Dafür erachte ich es als wichtig, das methodisch und analytisch noch nicht ausgereifte Konzept der Intersektionalität in diesem Sinne weiter zu entwickeln.

Literatur Berndt, Christina: »Bluttest auf das Down Syndrom«, in: Süddeutsche.de 7.10.2008, www.sueddeutsche.de/wissen/187/313095/text/ vom 10.10.2009. Crenshaw, Kimberlé: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color, www.hsph.harvard.edu/grhf/ WoC/feminisms/crenshaw.html vom 15.8.2005. Europäische Kommission – GD Beschäftigung und Soziales: Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen 2001 bis 2006. Kompendium. Transnationale Aktionen für den Austausch von Informationen und bewährte Verfahren, Juli 2002: Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Gummich, Judy: »Schützen die Antidiskriminierungsgesetze vor mehrdimensionaler Diskriminierung?«, in: Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (Hg.), QUEbERlin – Mehrfachzugehörigkeit als Bürde oder Chance? Berlin 2004, S. 8-12. Spiewak, Martin: »Die stille Selektion«, in: Zeitonline.de 01/1999, www.zeit. de/1999/01/Die_stille_Selektion vom 10.10.2009. Winker, Gabriele/Degle, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

Linkliste Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V.: www.people1.de vom 10.10.2009. Menschen – das Magazin: www.menschen-das-magazin.de.

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Statistisches Bundesamt Deutschland: Leichter Anstieg der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Pressemitteilung Nr. 105 vom 11.03.2008: www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2008/03/PD08__105__12521,templateId=renderPrint.psml vom 10.10.2009. Statistisches Bundesamt Deutschland: Lebenslagen von Menschen mit Behinderung. Pressemitteilung Nr. 406 vom 30.10.2008: www.destatis. de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2008/10/ PD08__406__227,templateId=renderPrint.psml vom 10.10.2009.

Sekundärliteratur Federas Beratung Deutschland AG (Hg.): Auswertung Fragebogen zum Projekt »Zugänge und Einblicke in das Gesundheitssystem von Migranten/ Migrantinnen mit Beeinträchtigungen«, Bezirksamt FriedrichshainKreuzberg, Berlin Juli 2009 – unveröffentlicht. Heiden, H.-Günter (verantw.)/Srna, Christiane/Franz, Katarina: Zugangswege in der Beratung chronisch kranker/behinderter Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Feldstudie, Stiftung LEBENSNERV Berlin, Februar 2009 und http://lebensnerv.de/misc/Feldstudie-Zugangswege% 20in%20der%20Beratung.pdf. Hofe, Jutta: »Von erkälteten Köpfen und geplatzten Gallenblasen«, in: Menschen – Das Magazin, 3/2008, S. 32-39. Kauczor, Cornelia/Lorenzkowski, Stefan/Al Munaizel, Musa (Hg.): Migration, Flucht und Behinderung, Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V., Essen 2003. Kolb, Beate/Hennige, Ute/Jerg, Jo: »Familien ausländischer Herkunft mit einem assistenzbedürftigen Kind: Zwei Einzelfallstudien«, in: Zeitschrift Behinderung und Dritte Welt, 1/2004, S.30-36 und www.zbdw. de/projekt01/media/pdf/2004_1.pdf. Reichert, Janina: »Patient Migrant«, in: Zahnärztliche Mitteilungen – zm 98, Nr. 15, 1.8.2008, S. 26-30 und www.zm-online.de/zm/15_08/pages2/ titel1.htm.

Eine Ohnmacht – Geschlecht und »geistige Behinderung« Anke Langner

Der Impuls für diesen Beitrag entstand in dem Workshop »Geschlecht und geistig Behindertwerden« auf dem Kongress »Gendering Disability«1 und aus dem Verlauf des Abschlusspodiums dieser Konferenz. In dem Workshop wurde die bestehende Ohnmacht durch WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen verbalisiert. Die TeilnehmerInnen des Workshops thematisierten die methodische Hilflosigkeit bei der Analyse des Verhältnisses von Geschlecht und »geistiger Behinderung«. Auf dem Abschlusspodium hingegen herrschte beredtes/hilfloses Schweigen im Hinblick auf die Frage, wie die bestehende Forschungslücke geschlossen werden könnte. Wie dieses Schweigen entsteht und wie die methodische Hilflosigkeit zu verstehen ist, sind Fragen, mit denen sich dieser Beitrag auseinandersetzen wird. Bevor Antworten auf diese Fragen gefunden werden können, müssen die zentralen Begriffe wie »geistige Behinderung« und Geschlecht kurz charakterisiert werden. Beide Begriffe bezeichnen soziale Konstrukte, die im Laufe des Beitrages näher skizziert werden. Für eine gemeinsame Ausgangsannahme sollte eindeutig sein, dass Geschlecht zwei Dimensionen besitzt: sex – das biologische Geschlecht und gender – das soziale Geschlecht, die jedoch im doing gender eng miteinander verbunden sind. Diesem Zusammenspiel des doing gender wird in diesem Beitrag gefolgt. Der Begriff »geistige Behinderung« ist unmöglich eindeutig zu definieren. Es soll an dieser Stelle eine klassisch defizitäre Sichtweise auf die »geistige Behinderung« der Charakterisierung dienen, die im Laufe des Beitrages jedoch in Frage gestellt wird. Das weitverbreitete gesellschaftliche Bild von »geistiger Behinderung« sagt Menschen mit einer »geistigen Behinderung« unterdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten und Einschränkungen im affektiven Verhalten nach. Dieses Bild wird im Laufe des Beitrages durch die Herleitung des geistig Behindertwerdens statt der »geistigen Behinderung« 1 | »Gendering Disability. Behinderung und Geschlecht in Theorie und Praxis«, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 22.-23.01.2009.

154 | Anke Langner widerlegt. Zur Entwicklung eines Verständnisses vom »geistig Behindertwerden« und vom Schweigen über das Geschlecht in Verbindung mit der »geistigen Behinderung« müssen im Folgenden wissenschaftliche Aspekte genauer betrachtet werden. Begonnen wird mit der Thematisierung der Mechanismen, mit denen die Tabuisierung von »geistiger Behinderung« innerhalb der Behindertenpädagogik 2 vollzogen wird und wurde. Im Anschluss daran wird nach dem Gendering Disability gefragt.

1. Tabuisierung in der Behindertenpädagogik Die Tabuisierung des Geschlechts innerhalb der Behindertenpädagogik hat ihre Wurzeln zum einen in der soeben skizzierten gesellschaftlichen Perspektive auf Menschen mit »geistiger Behinderung« und zum anderen in der innerhalb der Behindertenpädagogik immer noch vorherrschenden medizinischen Definition von Behinderung. Die Idee einer Konstruiertheit von Behinderung konnte sich dort noch nicht gänzlich durchsetzen. Die Konstruiertheit konsequent gedacht, würde auch zu einem anderen Umgang mit Sexualität auffordern und führen. Durch den bestehenden defizitären Blick auf »geistige Behinderung« entwickelt sich hingegen eine Hilflosigkeit im Umgang mit einem menschlichen Grundbedürfnis – der Sexualität.

1.1 Perspektiven auf »geistige Behinderung« Die immer noch dominante medizinische Defi nition bestimmt »geistige Behinderung« als »unterdurchschnittliche Allgemeinintelligenz, die während der Entwicklungsperiode in Erscheinung getreten ist und mit einer Minderung des adaptiven Verhaltens einhergeht«3 . Nach dieser medizinischen Einteilung impliziert ein IQ unter 70 eine geistige Behinderung und gilt als Abweichung von der Norm. Diese Anomalität wird dem jeweiligen Individuum zur Last gelegt. Dies findet sich auch wieder in der letzten Fassung des Krankheits- und Behinderungsmodells der World Health Organization – der ICIDH-2 (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps). Mit dem letzten Modell nahm sich die WHO der Kritik an, ihr Behinderungsmodell sei ein Stufenmodell, welches Behinderung als individuelles Leid betrachte. In der Folge wurden in die ICIDH-2 die Begrifflichkeiten »activity« und »participation« neu eingefügt. Mit diesen beiden Begriffen sollte eine Berücksichtigung von sozialen Austauschprozessen als Komponenten 2 | Behindertenpädagogik steht in diesem Text synonym für Heil-, Sonder- und Rehabilitationspädagogik. 3 | Vgl. American Association of Medical Dosimetrists 1973 zit.n. Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher: verabschiedet auf der 34. Sitzung der Bildungskommission am 12./13. Oktober 1973 in Bonn, Bonn 1973, S. 10.

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der Konstruktion von Behinderung möglich werden. Jedoch konnte mit ihnen die bestehende Kausalität, dass ein »impairment« (Beeinträchtigung) zu einem »handicap« (Behinderung) führt, nicht negiert werden, vielmehr bleibt die Idee der Herausbildung von Behinderung als individuellem Phänomen bestehen. So wird im internationalen Klassifi kationssystem (ICD-10) der WHO von einer Intelligenzminderung bei einer »geistigen Behinderung« gesprochen. 4 Die Anfänge der Behinderten-, Heil- und Sonderpädagogik haben ausgehend von diesem defizitären Blick auf Behinderung nach therapeutischen Ansätzen gesucht, um Kinder mit »geistiger Behinderung« zu »heilen«. In den 1970er Jahren gab es erste Kritik an diesem pädagogischen Ansatz durch die sich konstituierende kritische Behindertenpädagogik, verbunden mit dem Namen Wolfgang Jantzen. Er leitete über eine Soziogenese die »geistige Behinderung« als ein soziales Konstrukt her, was u.a. durch die Industrialisierung stärker an Bedeutung gewonnen hat. So kommt Jantzen zu dem Schluss, geistige Behinderung »als Leistungskraft minderer Güte« 5 zu definieren. »Behinderung kann nicht als naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale oder Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt werden zu gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten« 6. Diese Definition von Behinderung war innerhalb der Disziplin lange heftig umstritten, erst sehr langsam wurde in den 1990er Jahren eine konstruktive Diskussion über die Idee von Behinderung als soziales Konstrukt möglich. Durch den Einfluss der Disability Studies aus den USA und Großbritannien ab den 1990er Jahren vollzieht sich allmählich ein Perspektivwechsel in Richtung eines Verständnisses von Behinderung als soziales Konstrukt, da die Disability Studies sowohl politisch als auch wissenschaftlich Behinderung in ihrer kulturell-sozio-ökonomischen Konstruiertheit thematisieren. Spezifisch für die »geistige Behinderung« stehen Analysen bezüglich ihrer historisch gewachsenen Konstruiertheit noch aus. Es existiert die Hypothese, dass die »geistige Behinderung« sowohl sozioökonomisch bedingt ist und auch durch kulturelle Faktoren konstruiert wird und wurde. An diese Hypothese wird im Folgenden angeknüpft.

4 | World Health Organization: »Internationale Klassifi kation der Schädigung, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen«, in: Rolf-Gerd Matthesius/Kurt-Alphons Jochheim/Gerhard S. Barolin (Hg.), ICIDH, Berlin/Wiesbaden 1995, S. 213413. 5 | Wolfgang Jantzen: Allgemeine Behindertenpädagogik (Band 1), Basel 1992, S. 17. 6 | Ebd., S. 18.

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1.2 Die Konstruiertheit der »geistigen Behinderung« Die von der kritischen Behindertenpädagogik und den Disability Studies formulierte These, dass es sich bei einer »geistigen Behinderung« um ein soziales und kulturelles Konstrukt handelt, kann durch unterschiedliche theoretische Erklärungsmodelle nachvollzogen werden. Im Rahmen dieses Beitrages sollen zwei zentrale theoretische Ansätze zur Erklärung des Phänomens »geistige Behinderung« aus entwicklungspsychologischer Perspektive kurz dargestellt werden. Der Ansatz von Vygotskij7 steht in einer kulturhistorischen Tradition und jener von Dietmund Niedecken in einer psychoanalytischen. Mit Letzterem soll begonnen werden. Niedecken thematisiert in ihrem Buch »Namenlos«, dass es sich bei der »geistigen Behinderung« um eine Institution des »Geistigbehindertseins« handelt, die »auf der Abschiebung kollektiver Tötungstendenzen auf einzelne« 8 gründet. Sie ist der Meinung, dass die Institution des »Geistigbehindertseins« sich in drei Stufen organisiert. Kein Mensch kann geistig behindert geboren werden, was für Niedecken impliziert, dass erst durch die Auseinandersetzung zwischen dem Säugling und seiner Mutter sich dieses Behindertsein konstituiert.9 Auf der zweiten Stufe verortet Niedecken die Diagnose. Sie etabliert die gesellschaftlichen Phantasmen vom »Geistigbehindertsein« und zugleich institutionalisiert sie die Techniken der Rehabilitation und Integration. Gleichzeitig dient die Diagnose als Schuldentlastung, indem bestehende gesellschaftliche Mordtendenzen 10 unbewusst gemacht und auf die Mutter abgewälzt werden. Den dritten Organisator bestimmt Niedecken mit den Behandlungstechnologien, sie dienen dazu, »die Realität der Therapierten noch perfekter so auszurichten, wie Diagnosen und Phantasmen uns sie wahrzunehmen erlauben«11 . Mit diesen drei benannten Organisatoren zeigt Niedecken, dass die geistige Behinderung nicht naturgegeben ist, sondern es sich um ein gesellschaftliches Phänomen handelt, welches über Tötungsfantasien agiert. Vygotskij verweist mit seinem entwicklungspsychologischen Modell auf die Konstruiertheit von »geistiger Behinderung«, indem er in seinem defektologischen12 Modell von geistiger Behinderung auf die notwendige 7 | In älteren Veröffentlichungen Wygotski, s.a. im Literaturverzeichnis. 8 | Dietmut Niedecken: Namenlos – geistig Behinderte verstehen, Berlin 1998, S. 22. 9 | Ebd., S. 29. 10 | Mit Mordtendenzen spitzt Niedecken die gesellschaftliche Ablehnung von Menschen mit »geistiger Behinderung« zu. Für sie gilt, dass Menschen mit »geistiger Behinderung« von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden, daher wird von der Mutter auch eingefordert, dass sie z.B. ihr Kind hätte abtreiben können. Zu welchen Morden die Gesellschaft bei Menschen mit »geistiger Behinderung« fähig ist, hat sich in den Gräueltaten der NS-Zeit gezeigt. 11 | D. Niedecken: Namenlos – geistig Behinderte verstehen, S. 29. 12 | Der Begriff der Defektologie wurde von Vygotskij geprägt. Er verfolgte ein

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Unterscheidung zwischen einem primären, einem sekundären und einem tertiären Defekt verweist. Eine Grundlage für sein Modell stellt das Entwicklungsprinzip der »Zone der nächsten Entwicklung« dar. Darin geht Vygotskij von einer nicht linearen Entwicklung aus, die auf die Herausbildung höherer psychischer Funktionen aus niederen psychischen Funktionen abzielt. 13 Charakteristisch für sein Modell ist die Annahme von Krisen, die die Entwicklungsübergänge prägen, und dass die individuelle Entwicklung eine soziale Entwicklung sein muss. Das bedeutet, dass nach Vygotskij keine menschliche Entwicklung ohne einen sozialen Austausch möglich ist. Sehr eindeutig zeigt er dies an der Entwicklung von Sprache. Die Bedeutung von Sprache erlernen Menschen sehr frühzeitig über Zeigegesten. Die Geste steht zunächst erst einmal »an sich«, und durch den sozialen Austausch mit anderen wird sie zur Geste »für sich«. Ausgehend von dieser Theorie konstatiert er bei Menschen mit sogenannter »geistiger Behinderung« Erschwernisse im sozialen Interaktionsprozess in Folge einer medizinischen Diagnose »geistige Behinderung«. Der primäre Defekt umfasst nach Vygotskij die biologische »Andersartigkeit« und die mit ihr direkt in Zusammenhang stehenden Veränderungen. Der sekundäre Defekt besteht in allen notwendigen Kompensationsleistungen, die aus der erschwerten Entwicklungssituation erwachsen, und der tertiäre Defekt bringt das Misslingen der notwendigen Kompensation zum Ausdruck. 14 Diese Perspektiven von Vygotskij und Niedecken zeigen den Prozess des geistig Behindertwerdens auf, konnten jedoch in der Arbeit mit Menschen mit »geistiger Behinderung« noch nicht als allgemeingültige Grundlage installiert werden, wie sich auch in der folgenden Darstellung über die Hilflosigkeit zeigen wird.

1.3 Hilflosigkeit in der Behindertenpädagogik Das Thema Sexualität und Geschlecht wird in der Behindertenpädagogik immer noch vernachlässigt bzw. es wird ihm aus dem Weg gegangen, wie eine Studie aus den 1990er Jahren von Pircher und Zemp zur sexuellen Gewalt bei Menschen mit Behinderung belegt. Die beiden Autorinnen konnten festhalten, dass bei ca 50 % der befragten Frauen keine Sexualauf klärung stattgefunden hatte. Bei den anderen 50 % der Frauen bestand ein Wissen in einzelnen Bereichen (Verhütung/Geburt/Unterschied Mann und Frau interdisziplinäres Forschungsvorhaben, mit dem die Bedingungen und Gesetze der psychischen und physiologischen Entwicklung des Menschen untersucht wurden. 13 | Vgl. Wolfgang Jantzen: »Vygotskijs defektologische Konzeption«, in: Mitteilungen der Luria-Gesellschaft, I/II (1997), S. 24-50. Vgl. Wolfgang Jantzen: »Auf dem Weg zu einem Neuverständnis der ›Zone der nächsten Entwicklung‹«, in: Birger Siebert (Hg.), Kulturhistorische Integrationspädagogik. Arbeiten zur integrativen Pädagogik im Kontext der Vygotskij-Schule (im Erscheinen). 14 | Vgl. Lew Vygotski: »Pädagogik der kindlichen Defektivität«, in: Die Sonderschule 20 (1975), S. 65-72.

158 | Anke Langner etc.). 15 Für den Bereich der Pädagogik bei Menschen mit »geistiger Behinderung« gibt es keine spezifischen Zahlen für Deutschland und auch keine neuen Zahlen. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Aufklärungsrate gleich oder sogar niedriger ist, denn das Thema hat in der Praxis noch immer keinen Platz inne. Die Tabuisierung in diesem Bereich hat sowohl pädagogische Gründe als auch ihre Ursache in bestehenden gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen 16 bezogen auf das Geschlecht und die Sexualität von Menschen mit »geistiger Behinderung«. Es bestehen extreme Ängste über »Auswüchse« der Sexualität von Menschen mit »geistiger Behinderung«, gern wird ihnen nachgesagt, dass sie triebhafter als andere seien. Das Nachsagen solcher »Auswüchse« der Sexualität bei Menschen mit »geistiger Behinderung« erwächst aus den kulturell verankerten, fest bestehenden und bestimmenden Moralvorstellungen über Sexualität. Diese sind an Normalvorstellungen (z.B. Vorstellungen über den Körperbau, Annahmen über Intelligenz und Reife etc.) gebunden, die Menschen mit »geistiger Behinderung« gern und nur zu oft abgesprochen werden, denn Menschen, die geistig Behindertwerden, weichen aufgrund der Zuschreibung des Behindertseins immer schon von dem Normalen ab. Aus der Zuweisung zum Anomalen erwächst der Mythos, dass Menschen mit »geistiger Behinderung« eine anomale Sexualität hätten. Dieser Mythos wird zum einen bestärkt durch den Faktor, dass Menschen mit »geistiger Behinderung« zum Teil scheinbar weniger schamhaft, weniger zurückhaltend und gefühlvoller sind. Sie leben oft ein für die Mehrheit der anderen Menschen als sozial nicht kompetent geltendes NäheDistanz-Verhältnis. Dies lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass Menschen mit »geistiger Behinderung« triebhafter als andere Menschen sind. Diese Idee resultiert vielmehr aus der Vorstellung, dass Menschen mit »geistiger Behinderung« lebenslang unreif bleiben, d.h. ihnen wird allenfalls eine kindliche Sexualität zugesprochen. Dies widerspricht jedoch dem sexualbiologischen Wissen über die Entwicklung der Sexualität bei Menschen, die geistig Behindertwerden. Sie entwickelt sich mit nur wenigen Ausnahmen altersgemäß unabhängig von den bestehenden Entwicklungserschwernissen; das bedeutet, dass das Sexualalter mehr oder weniger dem Lebensalter entspricht. 17 Dieser Mythos einer triebhaften Sexualität von Menschen mit »geisti15 | Vgl. Aiha Zemp: »Subjektwerdung als Voraussetzung für betroffene Kompetenz«, in: Wolfgang Jantzen (Hg.), Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. Subjekt/Objekt-Verhältnisse in Wissenschaft und Praxis, Luzern 1997, S. 29-39. 16 | Vgl. Ulrike Schildmann: »Sonderpädagogik. Kritische Reflexion über ein Fach aus der Sicht der feministischen Frauenforschung«, in: Birgit Warzecha (Hg.), Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik, Hamburg 1997, S. 6-23. 17 | Vgl. Joachim Walter: »Sexualität und geistige Behinderung. Referat in der Lehranstalt für heilpädagogische Berufe in Götzi«, http://bidok.uibk.ac.at/libary/ walter-sexualitaet.html vom 08.Juli 2002.

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ger Behinderung« wird auch durch die Pädagogik genährt. Sie tabuisiert das Thema Sexualität bei Menschen mit »geistiger Behinderung«, weil sie sich der pädagogisch-methodischen Herausforderung, welche mit diesem Thema einhergeht, nicht gewachsen sieht. In der Praxis führt dies zu zwei unterschiedlichen Handlungsmustern: Entweder wird dem Thema aus dem Weg gegangen mit der Begründung, es bestehe für das Thema bei den Jugendlichen kein Interesse oder es wird eine einmalige biologische Aufklärung durchgeführt, die nicht nachhaltig ist. Beides geht eindeutig an den Bedürfnissen der Menschen mit »geistiger Behinderung« vorbei, wie auch möglicherweise die bestehenden (dogmatischen) methodischen Prinzipien »handlungsorientiert, kleinschrittig und lebenspraktisch«. Diese Prinzipien wandeln die pädagogische Frage »Wie sag ich es meinem Kind?« in eine didaktisch-methodische Frage »Wie zeige ich es meinem Kind?« um.18 Eine Antwort auf diese Frage zu geben, ist kaum noch möglich unter der Berücksichtigung, dass es sich bei Sexualität um einen sehr intimen Akt handelt und diese Intimsphäre gewahrt werden will. Der so bestimmte Rahmen lässt die pädagogische Strategie, das Thema Sexualität zu tabuisieren, als sinnvoll erscheinen. Die PädagogInnen sollten sich jedoch bewusst sein, dass dieses pädagogische Schweigen oder das Nichtverhalten zum Thema Sexualität bei Menschen mit »geistiger Behinderung« die bestehenden Mythen über die triebhafte Sexualität von Menschen mit »geistiger Behinderung« bestätigt und täglich von neuem aufrechterhält, denn so erfahren Menschen mit »geistiger Behinderung«, dass ihre sexuellen Bedürfnisse ignoriert bzw. negativ konnotiert werden. So erleben sie ihr Bedürfnis als nicht normal und werden gezwungen, ihre Lust ohne Wissen, um was es sich handelt, und ohne Bestätigung für die Natürlichkeit ihrer Bedürfnisse, auszuleben. In der Pädagogik erfolgt diese Tabuisierung nicht nur im Hinblick auf sexuelle Bedürfnisse, sondern auch auf die sozialen Geschlechterrollen; in der Folge werden diese Rollenbilder bei Menschen mit »geistiger Behinderung« neutralisiert. So erfahren Menschen mit »geistiger Behinderung« keine Anerkennung als Frau bzw. als Mann. Oft werden ihnen soziale Erwartungshaltungen »Du als Frau« oder »Du als Mann« vorenthalten. Dennoch kennt eine Reihe von Menschen mit »geistiger Behinderung« ihre jeweilige geschlechtliche Zugehörigkeit. Da ihnen die Möglichkeit der Identifi kation im Rahmen von geschlechtlichen Zuschreibungen innerhalb von Interaktionen häufig genommen wird, versuchen sie durch die Inszenierung von Geschlechterklischees ihre Identifi kation auszuleben. 19

18 | Vgl. Udo Wilken: »Sexualpädagogische Aufgaben bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit mentalen Beeinträchtigungen«, in: www.down-syndrom-netzwerk.de/bibliothek/pdf/wilken3.pdf vom 22. April 2009. 19 | Vgl. Moser, Vera: »Geschlecht: behindert? Geschlechterdifferenz aus sonderpädagogischer Perspektive«, in: Behindertenpädagogik, 36 (1997), S. 138-149.

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1.4 Geschlecht und Institutionen Wichtige Institutionen für die Aufklärung sind für Menschen mit »geistiger Behinderung« neben der Familie und der Schule auch die Wohneinrichtungen. In einer Vielzahl von Wohneinrichtungen wird noch immer nicht die Privat-/Intimsphäre gewahrt, wenn an der Zimmertür nicht angeklopft wird. Nicht immer gibt es Einzelzimmer mit zugehörigem Bad. Oft müssen sich die BewohnerInnen mit anderen ein Zimmer oder zumindest das Bad teilen. Häufig haben sie keinen Einfluss darauf, mit welchen Menschen sie notgedrungen ein Stück Privatheit teilen müssen. Eine Tabuisierung von Geschlecht und Sexualität erfolgt in Wohneinrichtungen durch die Nichtthematisierung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern, von individuellen sexuellen Bedürfnissen und durch Überschreitungen von Schamgrenzen, was die Geschlechterverhältnisse zwischen BetreuerInnen und BewohnerInnen betriff t, wenn z.B. männliche Pfleger Bewohnerinnen waschen etc. Dieses Schweigen über bestehende Unterschiede führt nicht selten zu sexueller Gewalt. Eine Vielzahl von ExpertInnen äußert immer wieder die Vermutung, dass sexuelle Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit »geistiger Behinderung« nicht selten Alltag ist. Doch bisher fehlt es an zuverlässigen Zahlen, um genauere Aussagen treffen zu können. Neben strukturellen Faktoren und den Einstellungen von PädagogInnen zu ihren KlientInnen besteht eine Ursache für sexuelle Gewalt ohne Frage in der bereits thematisierten Vernachlässigung der Aufklärung von Menschen mit »geistiger Behinderung«. Die Eltern tun sich mit diesem Thema sehr schwer, weil sie häufig in dem heranwachsenden jungen Erwachsenen noch immer das Kind sehen, und auch die Schule geht diesem Thema zu gern aus dem Weg mit den Worten: »Unsere Schüler haben da kein Bedürfnis«20. Die so erzeugte Wissenslücke wird auch nur selten durch Wohneinrichtungen wieder geschlossen. Der dennoch bestehende Handlungsbedarf, der aus der Angst heraus entsteht, dass Menschen mit »geistiger Behinderung« Kinder bekommen könnten, wird nicht selten pragmatisch gelöst, indem Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung ergriffen werden. Zu diesen Maßnahmen gehörte bis in die 1990er Jahre vor allem die Sterilisation von Frauen mit »geistiger Behinderung«. Erst durch das Betreuungsgesetz von 1992 ist die Sterilisation von Menschen mit Behinderung ohne Einwilligung nicht mehr möglich. Maßnahmen wie hormonelle Schwangerschaftsverhütung in Form der Verabreichung der Pille oder der Drei-Monats-Spritze ohne Aufklärung der jeweilig betroffenen Frau sind jedoch immer noch Alltag. Dem möglichen Kinderwunsch von Menschen mit »geistiger Behinderung« wird in Institutionen nicht nur durch hormonelle Verhütung begegnet. Das Thema der Geschlechterrollen wird vollkommen ausgeblendet, oft werden die BewohnerInnen oder SchülerInnen nicht als männlich oder weiblich wahrgenommen. In der Schule endet die geschlechtsspezifische Sozialisa20 | Vgl. Anke Langner: Behindertwerden in der Identitätsarbeit. Jugendliche mit »geistiger Behinderung« – Fallrekonstruktionen, Wiesbaden 2009.

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tion abrupt, wenn ein Interesse für das andere Geschlecht Thema wird. Für die SchülerInnen bedeutet dies den Verlust jeglicher Unterstützung bei der Entwicklung der geschlechtlichen Identität. Denn neben dem Rückzug der Schule fehlen auch die Gleichaltrigen aufgrund der besonderen Situation von Menschen mit »geistiger Behinderung«, und oft besteht auch keine Unterstützung durch die Familie bei der geschlechtlichen Identitätsarbeit.

2. Gendering Disability Das bisher Dargestellte weist bereits daraufhin, dass die Forschung im Bereich des Gendering Disability für das Konstrukt »geistige Behinderung« sich erst in den Anfängen befindet. Warum dies auch aufgrund der wissenschaftlichen Positionen im Bereich der Behindertenpädagogik so ist und welche ersten Schritte auf dem Weg zum Gendering Disability folgen müssen, soll im Folgenden skizziert werden.

2.1 Subjekt versus Objekt in der Behindertenpädagogik Menschen mit »geistiger Behinderung« wurden über Jahre nicht nur in der Medizin als Forschungsobjekte betrachtet, sondern vor allem auch in der Behindertenpädagogik. Diese Perspektive verändert sich nur sehr langsam, besonders unterstützt wird dieser Wandel durch die Disability Studies. Ihre Beiträge zur Konstruktion von Behinderung verweisen auf den notwendigen Perspektivwechsel, denn durch die bisherige Sicht wird Menschen mit Behinderung eine Subjektwerdung verwehrt und damit eine Weiterentwicklung verweigert bzw. in extremster Form erschwert. Die Subjektwerdung impliziert, Menschen Kompetenzen zuzusprechen bzw. ihnen die Fähigkeit zuzusprechen, Kompetenzen für sich zu beanspruchen. Letzteres ist für Menschen kaum möglich, die in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Menschen stehen, wie es bei Menschen, die geistig Behindertwerden, oft der Fall ist. Menschen mit »geistiger Behinderung« als Subjekte wahrzunehmen, bedeutet abzurücken von einem stark defizitären Blick auf sie und ihnen Anerkennung zukommen zulassen.21 Darüber hinaus bedarf es der Aneignung des eigenen Soseins und in der Welt Seins. Diese Auseinandersetzung wird Menschen mit »geistiger Behinderung« durch Isolation oder durch die Erfahrung einer in hohem Maße erschwerten Entwicklung genommen. Die Kompensation von Isolation und erschwerter Interaktion lässt ihnen keine Möglichkeit zur Entwicklung einer eigenen Leiblichkeit (dem In-der-Welt-Sein). Aufrechterhalten wird diese Objekt-Perspektive auf Menschen mit »geistiger Behinderung« durch die immer noch bestehende Unterscheidung zwischen Normal und Anomal. Dieses Repräsentationssystem wird über die 21 | Vgl. Hajo Jakobs: »Subjekt-Objekt oder Intersubjektivität?«, in: W. Jantzen (Hg.), Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik, S. 89-98.

162 | Anke Langner Ausübung der Deutungs- und Definitionsmacht der »Normalen« bewahrt u.a. durch die Anwendung von Ausschlussmechanismen. Die Gegensätzlichkeit zwischen Objekt und Subjekt konnte bisher noch nicht aufgelöst werden. Hajo Jakobs schlägt zur Auflösung dieses Gegensatzes die Intersubjektivität vor.22 Nach Jakobs befinden sich Behinderte und Nichtbehinderte immer schon in einem sozialen Austauschprozess – der »praktischen Intersubjektivität«. Sie könnte demnach das Element darstellen, welches die Subjektwerdung von Menschen mit »geistiger Behinderung« in der Praxis ermöglicht. Zugleich löst die Intersubjektivität für Jakobs das Dilemma der Unterscheidung zwischen behindert und nichtbehindert auf.23

2.2 Barriere: Forschung Diese soeben charakterisierte Problematik ist Teil der Behindertenpädagogik. Die Objektperspektive auf Menschen mit »geistiger Behinderung« hat sich ergeben aus dem medizinisch-pathologischen Blick auf Behinderung, den die Pädagogik unhinterfragt für sich übernommen hat. Die Übernahme der medizinischen Sichtweise auf Behinderung, die auf das Individuum zentriert ist, impliziert, dass in der Pädagogik davon ausgegangen wird/wurde, dass basierend auf einem organischen Defekt der Mensch mit Behinderung Schwierigkeiten hat, seine »normalen« Tätigkeiten zu verrichten und den »normalen« sozialen Rollen zu entsprechen.24 Damit wird/wurde die Behinderung in erster Linie hinsichtlich organischer Beeinträchtigungen betrachtet und nicht in Bezug auf soziale Einschränkungen und soziale Ursachen. Die damit verbundene pädagogische Idee, dass Menschen mit »geistiger Behinderung« nicht nur hinsichtlich ihres »Defekts« therapiert werden sollten, wurde erst in den 1970er Jahren durch Jantzen 25, Feuser u.a. infrage gestellt (wie bereits beschrieben). Das Vorherrschen eines stark pathologisierenden Blickes auf Behinderung als Abweichung von der Norm wirkte sich begrenzend auf die Methodenvielfalt im Bereich der Behindertenpädagogik aus. Im Mittelpunkt standen Studien von Methoden und Therapien, die Menschen mit »geistiger Be22 | Ebd., S. 91. 23 | Ebd., S. 94/95. 24 | Vgl. Ulrich Bleidick: Behinderung als pädagogische Aufgabe, Stuttgart, Berlin, Köln 1999; vgl. Günther Cloerkes: Soziologie der Behinderten, Heidelberg 2001. 25 | Vgl. Wolfgang Jantzen: »Geistige Behinderung ist kein Phantom – Über die soziale Wirklichkeit einer naturalisierten Tatsache«, in: Heinrich Greving/Dieter Gröschke (Hg.), Geistige Behinderung: Reflexionen zu einem Phantom, Bad Heilbrunn 2000, S. 167-179. Vgl. Wolfgang Jantzen: »Aspekte struktureller Gewalt im Leben geistig behinderter Menschen. Versuch, dem Schweigen eine Stimme zu geben«, in: Michael Seidel/Klaus Hennicke (Hg.), Gewalt im Leben von Menschen mit »geistiger Behinderung«, Reutlingen 1999, S. 45-65.

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hinderung« an die Normalität anpassen sollten. Als Beispiel sind hier Interventionsmethoden und Diagnostika zu nennen, die auf den Behaviorismus zurückgehen. Der Vorrang dieser Verfahren führte dazu, dass Analysen vernachlässigt wurden, die nach der Lebenssituation von Menschen mit »geistiger Behinderung« fragen oder verstärkt ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten thematisieren. Hier war es wieder Jantzen, der mit der rehistorisierenden Diagnostik 26 eine Veränderung bereits in den 1980er Jahren anstieß. In den 1990er Jahren kamen erste Impulse bezüglich neuer wissenschaftlicher Analysemethoden durch die Disability Studies in den USA und in England dazu. Jedoch beziehen sich diese in erster Linie auf Körperbehinderungen und Sinnesbehinderungen und nicht auf die »geistige Behinderung«. Diese Analyseverfahren, die durch die Disability Studies angewandt werden, zeichnet eine Kopplung von soziologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven aus.27 Sie ermöglichen vollkommen neue Erkenntnisse über das Konstrukt »Behinderung« und stellen den Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt der Studien, z.B. indem verstärkt Interviews mit Menschen mit Behinderung geführt werden. Für die »geistige Behinderung« werden solche Untersuchungen durch die US-amerikanischen Disability Studies bisher nicht durchgeführt. Erst sehr langsam entstehen im deutschsprachigen Raum Studien mit diesem Fokus. Lange Zeit bestand der Mythos, dass klassische Verfahren der Sozialforschung bei Menschen, die geistig behindert werden, nicht anwendbar seien. Dieser Mythos ist nicht länger aufrecht zu erhalten, wie meine Studie von 200928 zeigt. Diese Arbeit expliziert, dass qualitative Interviews mit Menschen, die geistig behindert werden, durchführbar sind und auch mithilfe von qualitativen Auswertungsverfahren wie der Grounded Theory29 oder der Objektiven Hermeneutik ausgewertet werden können, wenn man bereit ist,

26 | Rehistorisierende Diagnostik ist ein Ansatz, der von Jantzen in der Tradition von Lurija weiterentwickelt wurde. Diese Diagnostik hat das Verstehen der momentanen Situation von Menschen mit Behinderung durch den Blick in die Gegenwart und auch in die Vergangenheit zum Ziel. Sie verobjektiviert den Menschen mit Behinderung nicht und ist handlungsleitend. 27 | Vgl. Markus Dederich: Körper, Behinderung und Kultur, Bielefeld 2007; vgl. Jan Weisser: »Disability Studies und die Sonderpädagogik«, in: Jan Weisser/Cornelia Renggli (Hg.), Disability Studies. Ein Lesebuch, Zürich 2005, S. 27-30. 28 | A. Langner: Behindertwerden in der Identitätsarbeit. Und Anke Langner: »Geschlecht und geistige Behinderung. Transdisziplinarität in der Untersuchung zweier sozialer Konstruktionen«, in: Irene Dölling/Dorothea Dornhoff/Karin Esders/Corinna Genschel/Sabine Hark (Hg.), Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht. Transdisziplinäre Interventionen, Königstein/Taunus 2007, S. 176190. 29 | Vgl. Barney Glaser/Anselm Strauss: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern 1998.

164 | Anke Langner sich den Herausforderungen zu stellen, die mit einer solchen Forschungsarbeit einhergehen. Die Herausforderungen solcher Studien bestehen zum einen darin, eigene Vorurteile und Interpretationen, die auf Normalitätsvorstellungen basieren, infrage zu stellen und zum anderen darin, die besondere Lebenssituation von Menschen mit »geistiger Behinderung« nachvollziehen zu wollen.

2.3 Geschlecht und geistig Behindertwerden Auf die soeben charakterisierte Herausforderung habe ich mich in der Studie »Behindertwerden in der Identitätsarbeit. Jugendliche mit ›geistiger Behinderung‹ – Fallrekonstruktionen« eingelassen.30 In dieser Arbeit untersuche ich über das Konstrukt Identitätsarbeit das Wechselverhältnis zwischen »Geschlecht« und »geistiger Behinderung«. Durch diese Studie wird deutlich, dass das eigene Geschlecht und die eigene Sexualität zu leben, nicht bedingt ist durch biologische Einschränkungen wie z.B. Trisomie 21, sondern durch die mit einem diagnostizierten biologischen Defekt einher gehenden sozialen Erschwernisse. Das bedeutet, das Leben der eigenen Sexualität wird durch Institutionen erschwert, wie bereits weiter oben thematisiert, es erfolgt ein Behindertwerden in der Suche nach der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Identität. Daher verwende ich den Begriff des »geistig Behindertwerdens« anstatt dem der geistigen Behinderung. Ein weiteres zentrales Fazit dieser Studie zur Identitätsarbeit von Jugendlichen mit »geistiger Behinderung« besteht in der Widerlegung einer gängigen Hypothese, die Jugendlichen mit »geistiger Behinderung« eine größere Freiheit aufgrund ihres Behindertwerdens in der Wahl ihres Geschlechts und der Art der Erfüllung der Geschlechtsrolle zuspricht. Dies triff t in keiner Weise die Lebensrealität von Menschen, die geistig behindert werden. So hat die Analyse der Interviews mit Jugendlichen mit »geistiger Behinderung« und der durchgeführten Beobachtungen vier Typen der Identitätsarbeit herausgestellt. Diese Typen sind nicht bedingt durch den Grad der Behinderung im Sinne z.B. eines Intelligenzquotienten, der zur Einteilung in mittlere und schwere geistige Behinderung verwendet wird. Vielmehr ist der Freiheitsgrad in der Arbeit am Ich abhängig von der erlebten Gewalt und den erfahrenen Anerkennungsprozessen. Ein Rückzug aus der Identitätsarbeit findet vor allem dann statt, wenn die Jugendlichen sowohl direkte als auch indirekte Gewalt in einem hohen Maße erfahren haben und wenn vor allem die Familien aufgrund mangelnder kultureller, sozialer und ökonomischer Ressourcen dem Jugendlichen/der Jugendlichen bisher keinen Rückhalt geben konnten. Hingegen können andere Jugendliche mit »geistiger Behinderung« eine offensive Identitätsarbeit vollziehen, wenn sie in der Lage sind, die erfahrene indirekte Gewalt durch erfahrene Anerkennung nicht nur durch die Familie, sondern vor allem auch durch integrative Ein30 | A. Langner: Behindertwerden in der Identitätsarbeit.

Eine Ohnmacht – Geschlecht und »geistige Behinderung« | 165

richtungen zu kompensieren.31 D.h. die Freiheit in der Verhandlung des Geschlechts ist bedingt durch die Erfahrungen des Behindertwerdens und damit stark beeinflusst durch Prozesse der Isolation, der Gewalterfahrung und der Absprache von Anerkennung. Für die Geschlechterrolle bedeutet dies u.a., dass eine Jugendliche im Interview darstellt, dass sie sich ihrer Frauenrolle bewusst ist. Sie weiß jedoch darum, dass sie aufgrund ihrer Trisomie 21 behindert ist, und das heißt für sie, dass sie von einer Reihe von Menschen nicht akzeptiert wird. Daraus hat sie für sich den Schluss gezogen, dass sie keine Kinder haben wird, denn diese sind in dieser Gesellschaft nicht gewollt, und sie verliebt sich in eine Frau.32

3. Ausblick Die ersten Ergebnisse aus meiner Studie zum Verhältnis zwischen Geschlecht und geistig Behindertwerden verweisen auf starke Wechselwirkungen zwischen den beiden sozialen Konstrukten »Geschlecht« und »geistige Behinderung«. Es sollten die Forschungen in diesem Bereich dringend weiter ausgebaut werden, um mehr über die Situation von Menschen, die geistig behindert werden, zu erfahren und nicht zuletzt, weil die Analyse dieser beiden Konstrukte eine Reihe von neuen Erkenntnissen sowohl für den Bereich der Gender als auch der Queer Studies verspricht, wie es auch bereits Heike Raab theoretisch beschrieben hat.33 Neben der Fortführung von wissenschaftlichen Studien mit dem Fokus auf das Verhältnis von Geschlecht und »geistiger Behinderung« bedarf es dringend pädagogischer Konzepte für den Aneignungsbereich Geschlecht – Geschlechterrolle und Sexualität von Menschen, die geistig behindert werden. Mit Blick auf die Geschichte im Umgang mit Menschen mit »geistiger Behinderung« sollte sich jeder Pädagoge/jede Pädagogin aufgefordert fühlen, Menschen mit »geistiger Behinderung« die Aneignung der Identitätsbereiche Körper und Liebe nicht mehr weiter vorzuenthalten. Denn dadurch erschweren PädagogInnen Menschen mit »geistiger Behinderung« die Aneignung des eigenen Geschlechts und der eigenen Sexualität – sie behindern sie in ihrer Arbeit am eigenen Ich in extremster Form. Um innerhalb der Behindertenpädagogik/Behindertenhilfe neue Perspektiven zu eröffnen, was den Umgang mit dem Geschlecht und der Sexualität von Menschen mit »geistiger Behinderung« betriff t, müssen Päda31 | Vgl. ebd. 32 | Vgl. ebd. 33 | Vgl. Heike Raab: »Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 127-149.

166 | Anke Langner gogInnen sensibler und reflektierter werden auch bezüglich ihres eigenen Erlebens von Geschlecht und ihres normierenden Blickes auf Menschen mit »geistiger Behinderung«. Die Praxis in einer Institution, die Assistenz in allen Lebensbereichen für Menschen in schwierigen Lebenssituationen anbietet, zeigt, dass nur eine Auseinandersetzung der PädagogInnen mit dem Thema Sexualität und Geschlecht den Menschen mit »geistiger Behinderung« eine geschlechtliche Identitätsarbeit ermöglicht.34 Erst wenn die PädagogInnen und AssistentInnen Sexualität und die Übernahme einer Geschlechterrolle als Teil des Weges zu mehr Selbstbestimmung anerkennen, werden Menschen in schwierigen Lebenssituationen in dieser Aneignung weniger behindert. Für die Forschungspraxis kann festgehalten werden, dass Gendering Disability ein vielversprechendes transdiszplinäres Arbeiten bedeutet. Wir stehen hier aber erst am Anfang einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Gender und Disability Studies. Es muss an dem immer wieder auftretenden betroffenen Schweigen durch WissenschaftlerInnen gearbeitet werden, indem nicht nur für das Thema sensibilisiert wird, sondern auch damit verbundene Ängste und Tabus thematisiert werden. Nur so ist zu verhindern, dass ein Schweigen eintritt bei Diskussionen und bei Fragen nach Forschungsmethoden. Zugleich müssen sich die ForscherInnen aus beiden Disziplinen aufeinander einlassen, d.h. nicht selten, sich einer scheinbar fremden Position zu öff nen (wie z.B. der Soziologie, der Kulturwissenschaft und der Germanistik), nur so ist ein nachhaltiger Dialog möglich.

Literatur Bleidick, Ulrich: Behinderung als pädagogische Aufgabe, Stuttgart, Berlin, Köln 1999. Cloerkes, Günther: Soziologie der Behinderten, Heidelberg 2001. Dederich, Markus: Körper, Behinderung und Kultur, Bielefeld 2007. Deutscher Bildungsrat: Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher, verabschiedet auf der 34. Sitzung der Bildungskommission am 12./13. Oktober 1973 in Bonn, Bonn 1973. Glaser, Barney/Strauss, Anselm: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern 1998. Jakobs, Hajo: »Subjekt-Objekt oder Intersubjektivität?«, in: Wolfgang Jantzen (Hg.), Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik. Subjekt/ Objekt-Verhältnisse in Wissenschaft und Praxis, Luzern 1997, S. 89-98. Jantzen, Wolfgang: Allgemeine Behindertenpädagogik, (Band 1) Basel 1992. Jantzen, Wolfgang: »Vygotskijs defektologische Konzeption«, in: Mitteilungen der Luria-Gesellschaft, I/II (1997), S. 24-50.

34 | Vgl. A. Langner: Behindertwerden in der Identitätsarbeit.

Eine Ohnmacht – Geschlecht und »geistige Behinderung« | 167

Jantzen, Wolfgang: »Aspekte struktureller Gewalt im Leben geistig behinderter Menschen. Versuch, dem Schweigen eine Stimme zu geben«, in: Michael Seidel/Klaus Hennicke (Hg.), Gewalt im Leben von Menschen mit »geistiger Behinderung«, Reutlingen 1999, S. 45-65. Jantzen, Wolfgang: »Geistige Behinderung ist kein Phantom – Über die soziale Wirklichkeit einer naturalisierten Tatsache«, in: Heinrich Greving/ Dieter Gröschke (Hg.), Geistige Behinderung: Reflexionen zu einem Phantom, Bad Heilbrunn 2000, S. 167-179. Jantzen, Wolfgang: »Auf dem Weg zu einem Neuverständnis der ›Zone der nächsten Entwicklung‹«, in: Birger Siebert (Hg.), Kulturhistorische Integrationspädagogik. Arbeiten zur integrativen Pädagogik im Kontext der Vygotskij-Schule (im Erscheinen). Langner, Anke: »Geschlecht und geistige Behinderung. Transdisziplinarität in der Untersuchung zweier sozialer Konstruktionen«, in: Irene Dölling/ Dorothea Dornhoff/Karin Esders/Corinna Genschel/Sabine Hark (Hg.), Transformationen von Wissen, Mensch und Geschlecht. Transdisziplinäre Interventionen, Königstein/Taunus 2007, S. 176-190. Langner, Anke: Behindertwerden in der Identitätsarbeit. Jugendliche mit »geistiger Behinderung« – Fallrekonstruktionen, Wiesbaden 2009. Moser, Vera: »Geschlecht: behindert? Geschlechterdifferenz aus sonderpädagogischer Perspektive«, in: Behindertenpädagogik, 36 (1997), S. 138149. Niedecken, Dietmut: Namenlos – geistig Behinderte verstehen, Berlin 1998. Raab, Heike: »Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 127-149. Schildmann, Ulrike: »Sonderpädagogik. Kritische Reflexion über ein Fach aus der Sicht der feministischen Frauenforschung«, in: Birgit Warzecha (Hg.), Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik, Hamburg 1997, S. 6-23. Walter, Joachim: »Sexualität und geistige Behinderung. Referat in der Lehranstalt für heilpädagogische Berufe in Götzi«, http://bidok.uibk.ac.at/ libary/walter-sexualitaet.html vom 08. Juli 2002. Weisser, Jan: »Disability Studies und die Sonderpädagogik«, in: Jan Weisser/ Cornelia Renggli (Hg.), Disability Studies. Ein Lesebuch, Zürich 2005, S. 27-30. Wilken, Udo: »Sexualpädagogische Aufgaben bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit mentalen Beeinträchtigungen«, www.downsyndrom-netzwerk.de/bibliothek/pdf/wilken3.pdf vom 22. April 2009. World Health Organization: »Internationale Klassifikation der Schädigung, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen«, in: Rolf-Gerd Matthesius/Kurt-Alphons Jochheim/Gerhard S. Barolin (Hg.), ICIDH, Berlin/ Wiesbaden 1995, S. 213-413.

168 | Anke Langner Wygotski, Lew: »Pädagogik der kindlichen Defektivität«, in: Die Sonderschule 20 (1975), S. 65-72. Wygotski, Lew: Ausgewählte Schriften (Band II), Berlin 1987. Zemp, Aiha: »Subjektwerdung als Voraussetzung für betroffene Kompetenz«, in: Wolfgang Jantzen (Hg.), Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik, Zürich 1997, S. 29-39.

Behinderung und Geschlechtergerechtigkeit in der pädagogischen Praxis Bettina Bretländer

Einleitung »Eine Gesellschaft ist dann gerecht, wenn sich Frauen und Männer einerseits gesellschaftlich in einem fairen Verhältnis befinden und andererseits Frauen und Männer sich auch in ihrer Persönlichkeit gewürdigt fühlen.« 1

Die aktuell populärste genderpolitische Strategie zur Herstellung von Gleichstellung im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit in allen politisch relevanten, gesellschaftlichen und sozialen Lebensbereichen ist das Konzept des Gender Mainstreaming. Ob gewollt und gewünscht oder nicht, die Strategie des Gender Mainstreaming hat in den letzten Jahren Beachtung auf unterschiedlichsten Ebenen des politischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Alltags gefunden und zum Teil auch konkrete Umsetzungen erfahren. Von einem breiten gesellschaftlichen Bewusstsein, dass es »keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt«,2 sind wir aber immer noch weit entfernt. Dies gilt in besonderem Maße für die Gruppe behinderter Mädchen und Frauen bzw. Jungen und Männer. Hier scheint sich der aus den 1980er Jahren bekannte Slogan: »Geschlecht: behindert«3 auch heutzutage noch hartnäckig zu halten. Im Rahmen dieses Beitrags werden Ansatzpunkte und ausgewählte Praxisbeispiele vorgestellt, wie Gendersensibilität und Geschlechtergerechtigkeit in der pädagogischen Arbeit mit behinderten Frauen und Männern4 Einzug finden kann. 1 | Doris Doblhofer/Zita Küng: Gender Mainstreaming. Gleichstellungsmanagement als Erfolgsfaktor – das Praxisbuch, Heidelberg 2008, S. 7. 2 | BMFSFJ (Hg.): Gender Mainstreaming. Was ist das? Bonn 2002, S. 5. 3 | Carola Ewinkel/Gisela Hermes u.a.: Geschlecht: behindert – besonderes Merkmal: Frau. Ein Buch von behinderten Frauen, München 1985. 4 | Der Begriffswahl »behinderte Frauen und Männer« liegt ein soziales (Er-

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Gender Mainstreaming: historisch-politische Grundlagen Zunächst soll einführend kurz darauf eingegangen werden, was das Konzept Gender Mainstreaming genauer beinhaltet und welche Intentionen diesem zugrunde liegen. Die Grundidee des Gender Mainstreaming als politische Strategie wurde erstmals im Jahr 1985 auf der 3. Weltfrauenkonferenz in Nairobi vorgestellt (im Zusammenhang mit der Begründung eines entwicklungspolitischen Konzeptes zur Berücksichtigung weiblicher Interessen in der Entwicklungsarbeit).5 Die Selbstverpflichtungen der Regierungen, dieses Prinzip zu berücksichtigen, zeigten in der Folge jedoch keine nachweisbaren Erfolge. Auf der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking wurde die Strategie noch einmal konkretisiert bzw. formalisiert und mit dem Begriff »Gender Mainstreaming« zusammengefasst. Die Regierungen aller beteiligten 189 Staaten verpflichteten sich, auf jeweils nationaler Ebene das Gender Mainstreaming-Prinzip zu implementieren.6 Auf europäischer Ebene wurde dieser Verpflichtung wie folgt Rechnung getragen: »In rechtlich-verbindlicher Form wurde das Gender Mainstreaming-Prinzip mit dem In-Kraft-Treten des Amsterdamer Vertrages am 1. Mai 1999 verankert. Der Amsterdamer Vertrag beinhaltet die Verpfl ichtung der EU-Mitgliedsstaaten, die neue Strategie im Sinne der Defi nition des Europarates von 1998 anzuwenden.«7

Die Stellungnahme bzw. Definition des Europarates lautet im Original: »Gender Mainstreaming besteht in der (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluierung der Entscheidungsprozesse, mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen.«8

klärungs-)Modell von Behinderung zugrunde, das von einem strukturellen gesellschaftlichen Behindert-Werden betroffener Personen ausgeht. Wird die Bezeichnung »Frauen und Männern mit Behinderung« verwendet, so steht die Ebene der individuellen Schädigung im Vordergrund. 5 | Vgl. Ulrike Schildmann: Wissenschaftliche Expertise über die Berichte der Bundesregierung am Beispiel des Ersten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesrepublik Deutschland/Abschnitt »Behinderung« mit dem Ziel der Umsetzung des Gender Mainstreaming zu diesem Teil des Berichtes, Dortmund 2003, S. 14. 6 | Vgl. ebd., S. 15. 7 | Ebd., S. 16. 8 | www.gendermainstreaming.com/GM_europarat.htm vom 2. Mai 2009.

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Auf der nationalen, bundesdeutschen Ebene wurde Gender Mainstreaming ebenfalls verankert: In dem Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom 23. Juni 1999 erkennt das »Bundeskabinett die Gleichstellung von Frauen und Männern als durchgängiges Leitprinzip der Bundesregierung an und bestimmt, diese Aufgabe mittels der Strategie des Gender Mainstreaming zu fördern.«9 Mit den Worten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend formuliert, bedeutet die Verpfl ichtung zu Gender Mainstreaming, »die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern (bei allen gesellschaftlichen Vorhaben) von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt.«10

Implementierung von Gender Mainstreaming Im Zuge der europäischen und nationalen Verpflichtungen, Gender Mainstreaming in allen relevanten politischen und gesellschaftlichen Arbeitsund Lebensbereichen umzusetzen, wurden eine Reihe von Verfahren entwickelt, die eine effektive und nachhaltige Implementierung von Gender Mainstreaming zum Ziel haben. Die konkrete Umsetzung von Gender Mainstreaming – insbesondere auf institutionellen Ebenen – erfolgt in der Regel im so genannten TopDown-Verfahren und ist zu verstehen als »ein Prinzip zur Veränderung von Entscheidungsprozessen, ein konzeptionelles Instrument, […] eine systematisierende Verfahrensweise, die innerhalb der Entscheidungsprozesse von Organisationen von oben nach unten (Top down) implementiert, aber von unten nach oben (Bottom up) vollzogen wird.«11 Grundsätzlich bei den Implementierungsprozessen zu berücksichtigen ist, dass das Prinzip Gender Mainstreaming »eine genaue Zieldefi nition für das jeweilige Arbeitsfeld (verlangt). Die Operationalisierung von geschlechterpolitischen Zielsetzungen ist dabei eine der schwierigsten Implikationen von Gender Mainstreaming. Gender Mainstreaming ist nicht die Definition des Ziels selbst, sondern ein Verfahren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.«12 Den nachfolgend vorgestellten Verfahrensvarianten liegt eine Grundstruktur zugrunde, die die folgenden Arbeitsschritte beinhaltet: 1. Gender-

9 | http://www.gender-mainstreaming.net/bmfsf j/generator/gm/Hinter grund/herkunft.html vom 2. Mai 2009. 10 | BMFSFJ (Hg.): Gender Mainstreaming. Was ist das? Bonn 2002, S. 5. 11 | Barbara Stiegler: Wie Gender in den Mainstream kommt. Konzepte, Argumente und Praxisbeispiele zur EU-Strategie des Gender Mainstreaming, Bonn 2000, S. 19f. 12 | Ebd., S. 20.

172 | Bettina Bretländer Analyse, 2. Ziele definieren, 3. Maßnahmen planen, 4. Realisierung der Maßnahmen, 5. Controlling und Evaluation. 13 Im Folgenden werden die einschlägigen Implementierungsvarianten: 3-R-Methode, 5-R- Methode, die Vier-Schritte- und die 6-Schritte-Methode in ihren jeweiligen Grundmustern noch einmal im Einzelnen skizziert: Die so genannte 3-R-Methode wurde Mitte der 1990er Jahre in Schweden von der Wissenschaftlerin Gertrud Åström entwickelt und vor allem dazu genutzt, die Relevanz der Dimension Gender in kommunalen Maßnahmen und Projekten auf schnellem Wege zu erfassen und zu beurteilen.14 Die 3-R-Methode beinhaltet die folgenden drei Untersuchungsebenen: 1. Repräsentation: Prüfung der Geschlechterbeteiligung: Wie viele Frauen/ Männer sind von einer Maßnahme betroffen oder wirken mit? 2. Ressourcen: Wie verteilen sich die vorhandenen Ressourcen (Zeit, Geld, Raum etc.) auf die Geschlechter? 3. Realisierung: Welche Ursachen liegen (der jeweiligen Ressourcenverteilung) zugrunde? Welche Konsequenzen sind daraus zu schließen? Welche Handlungsschritte könnten zu (mehr) Geschlechtergerechtigkeit verhelfen?15 Auf der Grundlage der 3-R-Methode wurde in der Folge (ebenfalls in Schweden) die 5-R-Methode entwickelt, die folgende fünf Kernfragen umfasst: 1. Repräsentation: Wie setzt sich die jeweilige untersuchte Gruppe nach Geschlecht zusammen? Wie hoch und unterschiedlich ist der Anteil an Frauen und Männern in den relevanten Entscheidungspositionen? 2. Ressourcen: Wer verfügt nach Geschlecht über welche Mittel der Zeit, des Geldes, politischer und wirtschaftlicher Macht, physischen Raums, des Wissens, der Bildung und des Zugang zu Ausbildung, des Zugangs zu Netzwerken, aber auch zu neuen Technologien, Gesundheitsversorgung, Wohnverhältnissen, Transportmöglichkeiten? 3. Rechte: Haben Frauen und Männer gleiche Rechte und können sie diese auch gleichermaßen in Anspruch nehmen? Das schließt auch Schutz vor Gewalt mit ein sowie direkte oder indirekte Formen von Diskriminierung. 4. Realitäten: Welche Normen und Werte, die die Geschlechterrollen beeinflussen (Arbeitsteilung nach Geschlecht, Einstellung, Verhalten und v.a. Wertschätzung), bestehen in dem jeweils gewählten Kontext? 5. Resultat: Ergebnis-/Erfolgsevaluation: »Ohne Ergebnisse ist Gender

13 | Vgl. D. Doblhofer/Z. Küng: Gender Mainstreaming, 2008, S. 132ff. 14 | Vgl. www.gender-mainstreaming.rlp.de/index.php?id=53 vom 2. Mai 2009. 15 | Vgl. z.B. Angelika Blickhäuser/Henning von Bargen: Mehr Qualität durch Gender-Kompetenz. Ein Wegweiser für Training und Beratung im Gender Mainstreaming, Königstein 2006.

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Mainstreaming nutzlos, denn es zählt nicht der Plan, es zählt das Ergebnis!« (Agneta Stark, Schweden).16 In Belgien und den Niederlanden wurde die so genannte Vier-Schritte-Methode entwickelt und seit 1997 angewandt: Schritt 1: Analyse des Vorhabens: Richtet sich das, was wir vorhaben, an eine oder mehrere Zielgruppen? Hat das Vorhaben möglicherweise unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer in diesen Zielgruppen? Gibt es Daten, um den Anteil von Frauen und Männern zu ermitteln oder müssen Daten neu erhoben werden? Schritt 2: Folgenabschätzung: Wie wird sich das Vorhaben auf Frauen und Männer auswirken? Wie nehmen Frauen und Männer das Vorhaben wahr? Schritt 3: Anpassung des Vorhabens: Wie kann der Entscheidungsprozess gestaltet werden, damit auch tatsächlich die Chancengleichheit von Frauen und Männern gefördert wird? Schritt 4: Umsetzung und Controlling: Wurde das Ziel erreicht? Was kann noch verbessert werden? Was ist weiterhin notwendig?17 Eine letzte Implementierungsmethode, die im Rahmen dieses Beitrags vorgestellt werden soll, ist die so genannte 6-Schritte-Methode. Diese wurde von den WissenschaftlerInnen Karin Tondorf, Gertraude Krell und Ulrich Mückenberger für das Land Niedersachsen entwickelt, mit der Intention, die Kategorie Gender systematisch in das Verwaltungshandeln zu integrieren.18 Konkret sind dabei die folgenden 6 Schritte relevant: Schritt 1: Definition der gleichstellungspolitischen Ziele (Kenntnisse über den Ist-Zustand, Rechtsnormen u.ä. werden vorausgesetzt). Schritt 2: Analyse der Probleme und der Betroffenen (bzw. möglicher Umsetzungshemmnisse). Schritt 3: Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten (Optionen/Alternativen). Schritt 4: Analyse der Optionen im Hinblick auf die voraussichtlichen Auswirkungen auf die Gleichstellung. Schritt 5: Umsetzung der getroffenen Entscheidungen. Schritt 6: Erfolgskontrolle und Evaluation. 19

16 | www.gendermainstreaming.at/GM/methode.htm vom 2. Mai 2009. 17 | Vgl. www.gender-mainstreaming.rlp.de/index.php?id=54 vom 2. Mai 2009. 18 | Vgl. www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/RedaktionGM/Pdf-Anlagen/nieder sachsen-informationen-impulse,property=pdf,bereich=gm,rwb=true.pdf vom 2. Mai 2009; vgl. www.gendertraining.de/index.html?www.gendertraining.de/de/web/200. htm vom 2. Mai 2009. 19 | Vgl. A. Blickhäuser/H. von Bargen: Mehr Qualität durch Gender-Kompetenz, 2006, S. 31.

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Gender Mainstreaming und Behinderung Das Verhältnis von Behinderung und Geschlecht ist seit Anfang der 1980er Jahre gezielter im Blickfeld der Behindertenbewegung/-politik und seit ca. Mitte/Ende der 1980er Jahre auch auf wissenschaftlicher Ebene ein relevantes Themenfeld, wobei jedoch nicht unbeachtet bleiben darf, dass sich die Auseinandersetzungen bislang vorrangig auf die Gruppe der Frauen und Mädchen mit Behinderung bezogen und kaum bis gar nicht behinderte Männer oder Jungen berücksichtigten. Die Ebenen (Behinderten-)Politik und Wissenschaft haben sich im Hinblick auf das Verhältnis von Behinderung und (weiblichem) Geschlecht seitdem kontinuierlich – sowohl parallel als auch in gegenseitiger Befruchtung – weiterentwickelt, etabliert und ausdifferenziert.20 Das beharrliche politische Engagement insbesondere behinderter Frauen als Expertinnen in eigener Sache hat auf gesellschaftlicher und politischer Ebene zu einer verstärkten Sensibilisierung für die besonderen gesellschaftlichen Problemlagen von Frauen mit Behinderung sowie auf der Ebene von Sozialgesetzen zu nachhaltig wirksamen Erfolgen geführt.21 Das Bewusstsein, dass behinderte Menschen ein (soziales) Geschlecht haben bzw. zuallererst Frauen und Männer sind, ist also in Teilen der Politik und Gesellschaft mittlerweile angekommen. Aber: »Das Zusammenspiel von Geschlecht und Behinderung im Leben behinderter Männer und Frauen wird auch im Gender Mainstreaming anscheinend kaum berücksichtigt und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Anforderungen werden nicht wahrgenommen.«22 Im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse, in der die politische Berichterstattung über Behinderung, exemplarisch am 2. Armuts- und Reichtumsbericht und dem Bericht über die Lage behinderter Menschen von 2004, unter besonderer Berücksichtigung des ›Gender Mainstreaming‹ kritisch reflektiert wurde, kommt Ulrike Schildmann zu dem Ergebnis: »Diese relative neue politische Handlungsstrategie kommt in beiden Berichten zwar zum Ausdruck, wird aber bisher noch überwiegend auf der rein statistischen Ebene und auch hier längst nicht durchgängig eingesetzt. Die strukturelle Ebene dagegen, welche die Analyse der beiden großen gesell20 | Vgl. Swantje Köbsell: »Gegen Aussonderung – für Selbstvertretung: zur Geschichte der Behindertenbewegung in Deutschland«, 2006, in: www.zedis.unihamburg.de/dokumente/Bewegungsgeschichte_HH_04-06_Vortrag.pdf vom 3. Mai 2009. Vgl. Ulrike Schildmann: »Einführung in die Systematik der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik«, in: Ulrike Schildmann/Bettina Bretländer (Hg.), Frauenforschung in der Behindertenpädagogik, Münster 2000, S. 9-40. 21 | Vgl. hierzu v.a. die frauenrelevanten Paragrafen im SGB IX, wie z.B. §1, § 9. Weitere Informationen hierzu finden Sie u.a. auf den Internetseiten von Weibernetz e.V.: www.weibernetz.de/frauen_sgb9.html vom 3. Mai 2009. 22 | Swantje Köbsell: »Gender Mainstreaming und Behinderung«: www.isl-ev. de/wp-content/KbsellGenderundBehinderung.pdf vom 30. April 2009.

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schaftlichen Arbeitsbereiche – Erwerbsarbeit und familiale Reproduktionsarbeit – und ihre Verhältnisse untereinander umfasst, ist im Vergleich zur statistischen Ebene in den Berichten, soweit es um die Analyse von Behinderung geht, von dem Gedanken der Gleichberechtigung der Geschlechter noch ziemlich unberührt.«23 Grundsätzlich lässt sich in diesem Zusammenhang kritisch-konstruktiv festhalten: Wird schon die Kategorie Geschlecht und das Prinzip des Gender Mainstreaming in relevanten gesellschaftlichen und politischen Lebensund Arbeitsfeldern oftmals nur mit großen Widerständen zur Kenntnis genommen und berücksichtigt, so gilt dies für die Kategorie Behinderung in verschärftem Maße. Die Forderungen seitens der Behindertenpolitik/bewegung nach einer politischen Strategie des »Disability Mainstreaming« werden damit zu Recht zum Ausdruck gebracht.24 Eine weitere politisch gewinnbringende Strategie stellt in diesem Zusammenhang der Ansatz der Intersektionalität dar, wie er u.a. im Konzept der »Mehrdimensionale(n) Diskriminierung«25 von Julia Zinsmeister Ausdruck und Anwendung findet. Nicht das Nebeneinander der Kategorien Geschlecht und Behinderung (sowie ggf. weiterer relevanter Strukturkategorien: Alter, kultureller background etc.), sondern das Verhältnis der Kategorien zu- und untereinander sollte vielmehr im Zentrum politischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stehen. Damit würde man auch der gesellschaftlichen Alltags- und Erfahrungspraxis betroffener Personen eher gerecht werden (vgl. hierzu auch den Beitrag von Christiane Hutson in diesem Band).

Geschlechtersensible und -gerechte behindertenund integrationspädagogische Praxis Im Folgenden soll nun die pädagogische Praxis – unter besonderer Berücksichtigung einer geschlechtersensiblen und -gerechten pädagogischen Arbeit mit behinderten Männern und Frauen – im Mittelpunkt stehen. Hierbei gilt vorab herauszustellen: Trotz zahlreicher integrationspolitischer Bestrebungen der letzten Jahre und Jahrzehnte findet die pädagogische Arbeit mit behinderten Frauen und Männern nach wie vor in zwei Welten statt: 23 | Ulrike Schildmann: »Die politische Berichterstattung über Behinderung: 2. Armuts- und Reichtumsbericht und Bericht über die Lage behinderter Menschen – kritisch reflektiert unter besonderer Berücksichtigung des »Gender Mainstreaming«, in: Behindertenpädagogik 44 (2005), S. 115-148, hier S. 144. 24 | Katrin Grüber: »Disability Mainstreaming«, in: Geistige Behinderung Heft 2 (2008), S. 169-170. Vgl. Ulrike Schildmann: »Doppelstrategie. Gender Mainstreaming und Disability Mainstreaming«, in: Selbsthilfe, Heft 4 (2007), S. 16-17. 25 | Julia Zinsmeister: Mehrdimensionale Diskriminierung. Das Recht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung und seine Gewährleistung durch Art. 3 GG und das einfache Recht, Baden-Baden 2007.

176 | Bettina Bretländer a. in der Behindertenhilfe bzw. in pädagogischen Praxisfeldern der klassischen Heil- und Sonderpädagogik und b. in integrativen (bislang eher noch selten in inklusiven) Praxisfeldern. Um nun Gendersensibilität – und in der Folge idealerweise auch Geschlechtergerechtigkeit – in den genannten Praxisfeldern zu erhöhen, kann in Anlehnung an die oben vorgestellten Implementierungsmethoden folgender Reflexions- und Handlungsprozess in Gang gesetzt werden – dies gilt für beide Praxisfelder gleichermaßen (sofern in inklusiven Kontexten die Kategorie Geschlecht nicht bereits grundlegend berücksichtigt ist): Im Sinne einer Gender-Analyse stellt sich als erstes grundsätzlich die Frage, wie die Geschlechterverteilung in dem konkreten Praxisfeld aussieht, und zwar einerseits mit Blick auf die relevante Zielgruppe behinderter Frauen bzw. Mädchen und Männer bzw. Jungen und andererseits auch auf der Ebene der Mitarbeiter/-innen (inklusive Leitungsfunktionen). Darüber hinaus sollten die geschlechtsspezifischen Interessen, Bedürfnisse, Problemlagen etc. behinderter Frauen bzw. Mädchen und Männer bzw. Jungen als ExpertInnen in eigener Sache in dem konkreten Praxisfeld gezielt berücksichtigt werden: Was wissen wir darüber und/oder wie können wir diese herausfinden, identifizieren? Daneben sollte ebenfalls reflektiert werden, wo und wie Geschlechtergerechtigkeit ggf. bereits gelingt und anhand welcher Problemlagen sich Geschlechterungerechtigkeiten konkret zeigen bzw. festmachen lassen? In einem zweiten Schritt geht es darum, Ziele zu definieren: Orientierungsmaßstäbe sind in diesem Zusammenhang insbesondere die beiden Fragen: Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit in diesem konkreten Praxisfeld? Und was müsste sich ändern bzw. welche Ziele sollen erreicht werden? Die Zielfindung sollte dem politischen Prinzip: »Nichts über uns – ohne uns!«26 unbedingt Rechnung tragen und den AdressatInnenkreis (ggf. auch in VertreterInnenfunktionen) unter Berücksichtigung einer geschlechterparitätischen Verteilung in die Phase der Zielfi ndung integrieren. Sind die relevanten Ziele klar definiert, können auf deren Basis in einem dritten Schritt konkrete Maßnahmen und Strategien geplant sowie deren Umsetzungschancen kritisch reflektiert werden: a. Es empfiehlt sich zunächst mit Hilfe der Methode des Brainstormings einen breit gefächerten Ideenpool zu sammeln: Welche Maßnahmen fallen uns prinzipiell ein, um die o.g. Ziele zu erreichen? Einfließen sollten hierbei möglichst auch bereits bewährte Konzepte bzw. best-practiceBeispiele (ggf. auch aus anderen Praxisfeldern). b. Nach dem Brainstorming erfolgt dann die Strukturierung und kritische Reflexion der gesammelten potenziellen Maßnahmen unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen, strukturellen Gegebenheiten des je26 | Gisela Hermes/Eckhard Rohrmann (Hg.): Nichts über uns – ohne uns. Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung, Neu-Ulm 2006.

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weiligen Praxisfeldes: Welche Maßnahmen sollten Priorität haben und warum? Welche sind kurzfristig realisierbar und welche brauchen einen längeren Umsetzungszeitraum? Wo sind Widerstände in welcher Form zu erwarten? Und welche alternativen Lösungsansätze sollten dann zum Tragen kommen? Ergebnis dieses Prozesses sollte ein konkreter, verbindlicher Maßnahmenplan sein, der von allen relevanten Gruppen mitgetragen wird und der klare, realistische Zeitvorgaben beinhaltet. Als letztes erfolgt die Realisierung des Maßnahmenkatalogs, die oftmals kaum zu trennen ist von dem Controlling über die Erfolge oder ggf. Schwierigkeiten bei der Durchführung der Maßnahmen. Kriterien, die das erfolgreiche Umsetzen der Maßnahmen bedingen, sowie ebenfalls strukturelle oder individuelle Problemkonstellationen sollten dabei schriftlich fixiert werden. Nach Beendigung des Maßnahmenprogramms schließt sich eine kritische Reflexion und Bilanzierung an, in der bereits alternative Ideen und Lösungsvorschläge für eine neue Implementierungsrunde gesammelt werden können. Den hier vorgestellten Implementierungsprozess verstehe ich als einen möglichen (ersten) Auseinandersetzungsweg, der im Kontext von institutionellen oder projektbezogenen Arbeitsfeldern gewählt werden kann und der entsprechend der jeweils strukturellen Bedingungen modifiziert werden muss.

Ausgewählte best-practice-Beispiele gendersensibler/ -gerechter pädagogischer Praxis Der letzte inhaltliche Schwerpunkt dieses Beitrags umfasst die Vorstellung ausgewählter Praxisbeispiele, die auf dem Felde gendersensibler/-gerechter pädagogischer Arbeit mit behinderten Frauen und Männern bzw. Mädchen und Jungen Modellfunktion einnehmen können.

Projekt: Frauen sind anders – Männer auch! In Anlehnung an die seit über zehn Jahren stattfindenden »Mädchenkonferenzen« (für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung; veranstaltet vom Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V.) entwickelte sich die Idee, für erwachsene behinderte Frauen eine Wochenendveranstaltung, sozusagen eine »Frauenkonferenz« mit einem altersgerechteren Workshopangebot, durchzuführen. Diese Idee war nicht zuletzt dem stetig wachsenden Interesse – in vermehrtem Umfang auch seitens über 25jähriger Frauen – an den Mädchenkonferenzen geschuldet.27 Die ursprüngliche Idee einer »Frauenkonferenz« entwickelte sich unter 27 | Vgl. Heide Adam-Blaneck: »Mädchenkonferenzen für Mädchen und jun-

178 | Bettina Bretländer Bezugnahme auf Gender Mainstreaming weiter und konkretisierte sich zu der umfänglicheren Projektidee, bundesweit vielfältige und nachhaltige (v.a. regionale) Angebote für Frauen und Männer mit Behinderung zu konzipieren und durchzuführen. Nach erfolgreicher Antragstellung wurde und wird das Projekt: Frauen sind anders – Männer auch! vom Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte mit finanzieller Unterstützung der »Aktion Mensch« im Zeitraum 2007 bis 2010 durchgeführt. Zentrale Ziele des Projektes sind, Angebote für behinderte Frauen und Männer durchzuführen, die ihnen neue Erfahrungen und Räume ermöglichen, »sich im Alltag, in ihrer Freizeit und in ihren Beziehungen auch als Frauen und Männer erleben und ausleben zu können«.28 Eine weitere Zielgruppe des Projektes stellen pädagogische Fachkräfte dar, die für das Thema Gender und Behinderung sensibilisiert und für die Planung konkreter regionaler Angebote gewonnen werden sollen. Wie dem Zwischenbericht von Anne Ott zu entnehmen, ist die Beteiligung regionaler Gruppen, Vereine, Projekte und Initiativen auf bundesweiter Ebene groß, und es gibt vielfältige Angebote bzw. Ideen für potenzielle Angebote, die sowohl einrichtungsintern als auch regional offen konzipiert sind: »Während sich einige Projekte auf ein bestimmtes Thema konzentrieren (bspw. Sexualität, Selbstbehauptung, Mutterschaft, Wohnen oder ›Was kann ich mir Gutes tun?‹), möchten sich andere mit verschiedenen, wechselnden Themen und Aktivitäten beschäftigen: Mit dem Mann-Sein bzw. Frau-Sein, mit Liebe und Partnerschaft, Freizeitgestaltung, Selbstbewusstsein, eigenen Stärken und Grenzen, Hygiene, Ernährung usw.«29 Der Projektabschluss findet 2010 in Form einer überregionalen Konferenz in Köln mit verschiedenen geschlechtsspezifischen Angeboten und gemeinsamen Aktivitäten für Frauen und Männer mit Behinderung statt.30

»Männerabend« – »Frauenabend« Als zweites best-practice-Beispiel wird die gendersensible Freizeitgestaltung innerhalb einer Wohneinrichtung für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen im Landkreis Lörrach vorgestellt: »Um geschlechterspezifischen Interessen gerecht werden zu können, haben sich der ›Frauenabend‹ sowie der ›Männerabend‹ in unserer Wohneinrichtung etabliert.«31 ge Frauen mit Behinderung. Bilanz und Ausblick«, in: Betriff t Mädchen 20 (2007), S. 173-175. 28 | Das Band: Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V.: Frauen sind anders – Männer auch! Heft 5/2007, S. 20. 29 | Anne Ott: »Projekt ›Frauen sind anders – Männer auch!‹ Ein Zwischenbericht«, in: Bundesverband-aktuell, April 2008, S. 29. 30 | Weitere Informationen finden Sie auf der Internetseite: http://www.bvkm. de (Rubrik Frauen und Männer). 31 | Marion Hauche: »›Männerabend‹ – ›Frauenabend‹. Warum es wichtig ist, manchmal unter sich zu sein…«, in: Zeitschrift des Bundesverbandes für Kör-

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Ausgangspunkt der geschlechtshomogenen Angebote war der Wunsch der Bewohnerinnen, auch mal ungestört von den Männern einen Liebesfilm anschauen zu wollen, was in der Folge als positiv und angenehm erlebt wurde und zur Idee regelmäßiger Treffen unter sich führte. Die männlichen Bewohner nahmen dies zum Anlass, auch aufgrund ihres Wunsches, einen Raum für ›Männergespräche‹ zu haben, sich ebenfalls regelmäßig zu treffen. Beide Gruppen finden seitdem unter Begleitung einer Mitarbeiterin bzw. eines Mitarbeiters einmal im Monat statt: »Für die inhaltliche Gestaltung sind unsere Bewohnerinnen und Bewohner selbst verantwortlich. Beteiligte Betreuer setzen Impulse und helfen bei der Organisation.«32 Inhalte, die in den Frauengruppen im Mittelpunkt standen, waren u.a. »Schmuck gestalten« oder »Henna-Tattoos« sowie die Durchführung einer »Pyjama-Party mit Liebesfi lm«, aber auch der Wunsch nach Beratung durch eine Frauenärztin unter dem Motto »Hilfe, ich bin eine Frau«. In den Männergruppen orientierten sich die Teilnehmer anfänglich (in modifizierter Form) an den Themen der Frauengruppen, z.B. wurde ein Action- statt eines Liebesfilms geschaut. Und auch das Beratungsgespräch mit einem Sexualpädagogen wurde von den Männern abgeschaut. Darüber hinaus nutzten die Männer ihre Abende auch für Gespräche und Gesellschaftsspiele.33 Diese beiden Beispiele sollen vor allem Folgendes verdeutlichen: Gendersensibilität und Gleichberechtigung der Geschlechter können in der pädagogischen Arbeit – sowohl im Kleinen, Alltäglichen als auch im Rahmen umfangreicherer Projekte – gewinnbringend für beide Geschlechter umgesetzt werden. Der ausschlaggebende Faktor, gendersensible pädagogische Angebote in der Praxis auch tatsächlich durchzuführen, ist die fachliche Sensibilisierung der PädagogInnen für das Verhältnis von Gender und Behinderung und nicht zuletzt die individuelle, professionelle Haltung, Frauen und Männer mit Behinderung in ihrem So-Sein, ihren Wünschen und Interessen ernst zu nehmen.

Mädchenarbeit – Jungenarbeit Ein weiteres Praxisfeld, auf das ich abschließend eingehen möchte, ist die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bzw. Mädchen und Jungen mit Behinderung. Hier lassen sich zwar ebenfalls einige wenige best-practice-Beispiele anführen, vor allem aber zeigt sich in diesem Bereich ein grundlegender und dringlicher Handlungsbedarf, wie nachfolgend näher aufgezeigt wird: Im Kinder- und Jugendhilfegesetz34 § 9 ist seit 1990 festgelegt: »Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind […] (3) per- und Mehrfachbehinderte e.V., Frauen sind anders – Männer auch! Heft 5/2007, 2007, S. 9-11, hier S. 10. 32 | Ebd., S. 11. 33 | Vgl. ebd. 34 | Sozialgesetzbuch (SGB): Achtes Buch (VIII) Kinder- und Jugendhilfe. (Ar-

180 | Bettina Bretländer die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern.« Diese gesetzliche Regelung gab (und gibt) bereits bestehenden geschlechtsspezifischen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit politische Rückendeckung. Steht Kindern und Jugendlichen mit Behinderung – formal betrachtet – auch die gleiche pädagogische Angebotslandschaft zur Verfügung wie nicht behinderten Kindern und Jugendlichen, so werden die regulären Angebote der (gendersensiblen) Kinder- und Jugendarbeit von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung faktisch jedoch gar nicht oder nur in Ausnahmefällen genutzt. Dies liegt insbesondere daran, dass diese Angebote in der Regel nicht barrierefrei und auch nicht als integrative Projekte konzipiert und ausgewiesen sind, wodurch sich Kinder und Jugendliche mit Behinderung nicht unbedingt direkt angesprochen fühlen. Die Strategie des so genannten »disability mainstreaming« (s.o.) täte auf dem Felde der (gendersensiblen) Kinder- und Jugendarbeit daher von Grund auf Not. Dennoch lassen sich einige wenige herausragende Praxisbeispiele nennen, die dem Anspruch einer gendersensiblen pädagogischen Arbeit mit behinderten Mädchen und Jungen gerecht werden. Als erstes sei der Verein Mixed Pickles e.V. in Lübeck angeführt, der seit über 12 Jahren und bundesweit einzigartig (integrative) Mädchenarbeit für »Mädchen und Frauen mit und ohne Behinderung« mit großem Erfolg durchführt (vgl. hierzu auch den Beitrag von Lena Middendorf in diesem Band).35 Als zweites Beispiel möchte ich das ebenfalls bundesweit einzigartige Projekt »Bo(d)yzone« herausstellen, das an der Ev. Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg in Kooperation mit dem Verein für Jungen und Männerarbeit »Pfunzkerle« in Tübingen im Zeitraum 2005-2008 mit Jungen mit Assistenzbedarf durchgeführt wurde (vgl. hierzu auch den Beitrag von Jo Jerg in diesem Band). Leisten diese beiden Projekte auch hervorragende und vorbildliche Arbeit, so lässt sich jedoch mit Blick auf die außerschulische (gendersensible) Kinder- und Jugendarbeit insgesamt ein großer pädagogischer Bedarf an integrativen (behinderungssensiblen) Angeboten festmachen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für schulische Bildungskontexte, und zwar sowohl für Förderschulen als auch für integrative Schulformen. Während für das Sonder- bzw. Förderschulsystem immerhin statistische Daten zur Geschlechterverteilung vorliegen, so sucht man diese für die integrative Beschulung leider (noch) vergeblich. Allein die große Geschlechterdisparität in Förderschulen – fast doppelt so viele Jungen wie Mädchen weisen im bundesdeutschen Durchschnitt

tikel 1 des Gesetzes vom 26. Juni 1990, BGBI.I S. 1163) zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 19. Februar 2007 (BGBL I, S. 122). 35 | Vgl. www.mixedpickles-ev.de/mixedpickles/mp-ziel.htm vom 08.05.2009.

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einen offiziell festgestellten »sonderpädagogischen Förderbedarf« auf36 – gäbe genügend Anlass, die Genderfrage in Förderschulen gezielter in den Blick zu nehmen und gendersensible Angebote zu erarbeiten,37 wie es einzelne Förderschulen z.B. in Form von Mädchen-AGs und (seltener) in Form von Jungen-AGs lobenswerterweise auch bereits realisieren.

Literatur Adam-Blaneck, Heide: »Mädchenkonferenzen für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung. Bilanz und Ausblick«, in: Betriff t Mädchen 20 (2007), S. 173-175. Blickhäuser, Angelika/Bargen, Henning von: Mehr Qualität durch GenderKompetenz. Ein Wegweiser für Training und Beratung im Gender Mainstreaming, Königstein 2006. BMFSFJ (Hg.): Gender Mainstreaming. Was ist das? Bonn 2002. Das Band. Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V.: Frauen sind anders – Männer auch! Heft 5/2007. Doblhofer, Doris/Küng, Zita: Gender Mainstreaming. Gleichstellungsmanagement als Erfolgsfaktor – das Praxisbuch, Heidelberg 2008. Ewinkel, Carola/Hermes, Gisela u.a.: Geschlecht: behindert – besonderes Merkmal: Frau. Ein Buch von behinderten Frauen, München 1985. Grüber, Katrin: »Disability Mainstreaming«, in: Geistige Behinderung Heft 2/2008, S. 169-170. Hauche, Marion: »›Männerabend‹ – ›Frauenabend‹. Warum es wichtig ist, manchmal unter sich zu sein…«, in: Das Band: Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Heft 5/2007, S. 9-11. Hermes, Gisela/Rohrmann, Eckhard (Hg.): Nichts über uns – ohne uns. Disability Studie als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung, Neu-Ulm, 2006. Köbsell, Swantje: »Gender Mainstreaming und Behinderung«, 2005, in: www.isl-ev.de/wp-content/KbsellGenderundBehinderung.pdf vom 2. Mai 2009. Köbsell, Swantje: »Gegen Aussonderung – für Selbstvertretung: zur Geschichte der Behindertenbewegung in Deutschland«, 2006, in: www. zedis.uni-hamburg.de/dokumente/Bewegungsgeschichte_HH_04-06_ Vortrag.pdf vom 3. Mai 2009.

36 | Vgl. Ulrike Schildmann: Sonderpädagogische Förderung in NRW – auch eine Genderfrage, unveröffentlichter Vortrag im Landtag NRW, Düsseldorf, 15. Januar 2009. 37 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Tina Kuhne: »Alles schon Alltag? Gender Mainstreaming und Geschlechtersensibilität in der Förderschule«, in: Das Band, Heft 5/2007, S. 12-16.

182 | Bettina Bretländer Kuhne, Tina: »Alles schon Alltag? Gender Mainstreaming und Geschlechtersensibilität in der Förderschule«, in: Das Band: Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Heft 5/2007, S. 1216. Ott, Anne: »Projekt ›Frauen sind anders – Männer auch!‹ Ein Zwischenbericht«, in: Bundesverband-aktuell, April 2008, S. 29. Schildmann, Ulrike: »Einführung in die Systematik der Frauenforschung in der Behindertenpädagogik«, in: Ulrike Schildmann/Bettina Bretländer (Hg.), Frauenforschung in der Behindertenpädagogik, Münster 2000, S. 9-40. Schildmann, Ulrike: Wissenschaftliche Expertise über die Berichte der Bundesregierung am Beispiel des Ersten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesrepublik Deutschland/Abschnitt »Behinderung« mit dem Ziel der Umsetzung des Gender Mainstreaming zu diesem Teil des Berichtes, Dortmund 2003. Schildmann, Ulrike: »Die politische Berichterstattung über Behinderung: 2. Armuts- und Reichtumsbericht und Bericht über die Lage behinderter Menschen – kritisch reflektiert unter besonderer Berücksichtigung des »Gender Mainstreaming«, in: Behindertenpädagogik, Heft 2/2005, S. 115-148. Schildmann, Ulrike: »Doppelstrategie. Gender Mainstreaming und Disability Mainstreaming«, in: Selbsthilfe, Heft 4/2007, S. 16-17. Schildmann, Ulrike: Sonderpädagogische Förderung in NRW – auch eine Genderfrage, Düsseldorf, 15. Januar 2009. Unveröffentlichter Vortrag im Landtag NRW, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: »All inclusive!« Wie setzen wir das Recht auf Bildung für Kinder mit Behinderung im NRWBildungssystem um? Stiegler, Barbara: Wie Gender in den Mainstream kommt. Konzepte, Argumente und Praxisbeispiele zur EU-Strategie des Gender Mainstreaming, Bonn 2000. Zinsmeister, Julia: Mehrdimensionale Diskriminierung. Das Recht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung und seine Gewährleistung durch Art. 3 GG und das einfache Recht, Baden-Baden 2007.

Weitere Literatur- und Linkempfehlungen Burbach, Christiane/Schlottau, Heike (Hg.): Abenteuer Fairness: ein Arbeitsbuch zum Gender Training, Göttingen 2001. Haase, Andreas: »Geschlechterfrage stellen. Gender Mainstreaming – eine politische Strategie zu mehr Chancengleichheit in der Behindertenhilfe«, in: Das Band (Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V.), Heft 4/2007, S. 4-8. Heister, Marion: Gefühlte Gleichstellung – zur Kritik des Gender-Mainstreaming, Königstein/Taunus 2007. Jung, Dörthe/Krannich, Margret (Hg.): Die Praxis des Gender Mainstreaming auf dem Prüfstand, Frankfurt 2005.

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Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Situation von Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Union: Europäischer Aktionsplan 2008-2009, http://ec.europa.eu/employment_social/index/ com_2005_604_de.pdf vom 3. Mai 2009. Müller, Ulrike: »Gender Mainstreaming. Was geht uns das an? Eine Einführung in das Thema«, in: Selbsthilfe Heft 4/2007, S. 8-9. Nohr, Barbara/Veth, Silke (Hg.): Gender Mainstreaming. Kritische Reflexionen einer neuen Strategie, Berlin 2002. Schildmann, Ulrike: »Zusammenhänge zwischen Behinderung und Geschlecht – Grundlagen für Gender Mainstreaming in der Arbeit mit behinderten Menschen«, 2007, www.lvr.de/Soziales/service/veranstaltungen/veranstaltungsreihe/schildmanntext.pdf vom 2. Mai 2009. Schön, Elke: »Geschlechtersensibilität – Impulse für innovative Qualitätsentwicklung«, in: Das Band: Zeitschrift des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Heft 5/2007, S. 21-25. Stiegler, Barbara: »›Heute schon gegendert?‹ Gender Mainstreaming als Herausforderung für die Soziale Arbeit«, in: Karin Böllert/Silke Karsunky (Hg.), Gender Kompetenz in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2008. Walter, Melitta: »Geschlechtergerechte Pädagogik als Querschnittsaufgabe. Der Münchner Weg«, in: Gleichstellung in der Praxis, Heft 2/2007, S. 1318. Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen: Selbständiges Wohnen behinderter Menschen. Individuelle Hilfen aus einer Hand. Abschlussbericht; August 2008; Kap. 6.3 Genderaspekte in wohnbezogenen Hilfen, vgl. www.mags.nrw.de/08_PDF/003/ Abschlussbericht_IH_NRW_Aug2008_komplett-13_08_2008.pdf vom 3. Mai 2009.

Links http://europa.eu.int/comm/employment_social/gender_equality/index_ de.html (Infos und Dokumente der Europäischen Kommission). http://www.gender-mainstreaming.net/ (Infoseiten des BMFSFJ). http://www.gendermainstreaming.com/GM_europarat.htm (Infos vom Europarat). http://www.genderkompetenz.info/ (GenderKompetenzZentrum, HU Berlin). http://www.cews.org/cews/index.php (Kompetenzzentrum für Frauen in Wissenschaft und Forschung). http://www.gender.de (Bundesweites Gendertrainerinnen-Netzwerk). http://www.gendertoolbox.org/ (u.a. Materialen für Genderberatung/-training). http://www.gip-info.de/index.html (Zeitschrift: Gleichstellung in der Praxis). www.weibernetz.de/frauen_sgb9.html.

Bo(d)yzone – Jungen mit Behinderungser fahrung. Konstruktionen von Geschlecht und Behinderung im Jungenalltag Jo Jerg

Über den Diskurs der Intersektionalität werden gesellschaftliche Ordnungskategorien, die strukturelle Ungleichheitsmerkmale beinhalten wie z.B. Rasse, Klasse, Geschlecht, inzwischen auch Behinderung, auf die Verwobenheit von Ungleichheiten thematisiert. Im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) spiegeln sich z.B. diese Dimensionen von Benachteiligungen in unseren Rechtsgrundlagen wider, die dafür Sorge tragen sollen, dass Unterschiede nicht zu strukturellen Benachteiligungen führen. Das AGG nennt folgende Dimensionen der Benachteiligung im § 1: »Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.« (AGG) Der folgende Beitrag beschäftigt sich vor dem Hintergrund eines Praxisforschungsprojektes für und mit Jungen mit Behinderung mit zwei möglichen Benachteiligungsdimensionen: Geschlecht und Behinderung. In einem ersten Schritt werden zunächst Ergebnisse und Erkenntnisse aus dem Projekt Bo(d)yzone exemplarisch vorgestellt und anschließend im Kontext Geschlecht und Behinderung diskutiert.

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I. Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Praxisforschungsprojekt »Bo(d)yzone« Vorstellung des Projekts 1 Bo(d)yzone2 war ein dreijähriges Praxisentwicklungsprojekt der Ev. Hochschule Ludwigsburg in Kooperation mit PfunzKerle e.V. Tübingen (2/20051/2008). PfunzKerle bietet seit Jahren (Fort-)Bildungsangebote für Jungen- und Männerarbeit im regionalen und überregionalen Raum an. Die Evangelische Hochschule Ludwigsburg führt seit mehr als 30 Jahren im Arbeitsgebiet »Lebenswelten von Menschen mit Behinderungserfahrung« Praxisforschungsprojekte durch. Das hier zugrunde liegende Forschungsverständnis knüpft an konkreten Veränderungsbedarfen in der Praxis an. Forschung übernimmt die Aufgabe der Dokumentation und Evaluation und bietet gleichzeitig auch Begleitung und Beratung der Praxis. Forschung sowie Praxis werden als unterschiedliche Weltzugänge verstanden, die auf gleicher Augenhöhe kommunizieren mit dem gemeinsamen Ziel, Praxis zu entwickeln und zu reflektieren. Über 700 Jungen ab 12 Jahren3 – die meisten von ihnen mit Behinderungserfahrungen – haben zwischen Februar 2005 und Januar 2008 in den Projektregionen Tübingen/Reutlingen und Ludwigsburg/Stuttgart an Bo(d) yzone-Aktivitäten teilgenommen. Die einzelnen Aktivitäten wurden in Kooperation mit Schulen und Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Jugendhilfe und in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen durchgeführt. Zentrales Projektziel war es, das Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten von Jungen zu erweitern und sie bei der Selbstthematisierung sowie bei der Artikulation ihrer je eigenen Sichtweisen, Hoff nungen, Wünsche und Bedürfnisse zu unterstützen. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen sollten neue Impulse und Ideen für eine angemessene Entwicklungsbegleitung der Jungen in die Praxis getragen werden. 1 | Die folgende Projektvorstellung ist eine sehr stark verkürzte Zusammenstellung und leicht veränderte Version des Endberichts von Bo(d)yzone: Harald Sikkinger/Niko Bittner/Jo Jerg/Gunter Neubauer: Jungenarbeit angemessen. Berichte, Anregungen, Materialien und Erkenntnisse aus einem Projekt für Jungen mit und ohne Behinderungserfahrung, Reutlingen 2008. 2 | Die Projektstrukturen in Bo(d)yzone: ein Leitungsteam zusammengesetzt aus einem Projektkoordinator mit 75 %, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter mit 25 %, des Weiteren zwei Berater auf Honorarbasis und eine Verwaltungsstelle auf 400-€-Basis. Darüber hinaus existierte ein Honoraretat für Referenten und Veranstaltungen. Das Projekt wurde gefördert durch aktion mensch. 3 | Konzeptionell vorgesehen war die Altersgruppe 12-17 Jahre, tatsächlich waren auch junge Männer bis 23 Jahren beteiligt; überwiegend Jungen mit körperlichen Beeinträchtigungen und Jungen mit Lernerschwernissen (mit so genannter geistiger Behinderung).

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Projektebenen • Projekte mit Jungen • Kommunikations- und Vernetzungsplattform für Fachkräfte • Beratung und Fortbildung für MitarbeiterInnen • Evaluation und Transfer der Projekterfahrungen Wissenschaftliche Begleitung • Bedarfsanalyse • Konzepetionelle Weiterentwicklung • Dokumentation und Evaluation • Unterstützung bei der Implementierung • Transfer in Praxisdiskurse, wissenschaftliche Diskurse und politische Diskurse Um diesen selbstbestimmungsorientierten, ressourcenorientierten und körperorientierten Ansatz auch in der alltäglichen (Sozial-)Pädagogik zu implementieren, schuf das Projekt Austauschmöglichkeiten für Fachkräfte, organisierte Fortbildungen und versuchte, im Sinne der Erweiterung von Entwicklungsräumen für Jungen institutionelle Grenzen und die Trennung zwischen Jungen mit Behinderungen und Jungen ohne Behinderungen zu überwinden. Eine zentrale Frage im Projekt war: Was trägt zu einer angemessenen Jungenarbeit für Jungen mit und ohne Assistenzbedarf bei?

Impressionen aus dem Projekt Bod(y)zone Die Aktivitäten mit Jungen sind gegliedert in • Jungenarbeit mit dem Körper, hierunter fällt z.B. Selbstbehauptungstraining, das den zentralen Schwerpunkt im Projekt bildete, • Projekte im Bereich der Lebens- und Berufsorientierung, d.h. Projekte, die mit Methoden der Zukunftsplanung arbeiteten sowie • Projekte im Bereich der kulturellen Produktionen. Aus dem Spektrum der Aktivitäten werden aus dem Bereich der kulturellen Produktionen von und mit Jungen zwei Projekte kurz vorgestellt.

Das Performanceprojekt »Das Auge isst mit« 4 Mit der Ausschreibung von Mini-Projekten konnte erfolgreich ein vielfältiger Zugang zu Jungen erreicht werden. Pädagogen, Künstler etc. wurden aufgefordert, Projekte mit Jungen zu entwickeln und durchzuführen. Bei einer schlüssigen Konzeptvorlage wurden Referentenmittel aus unserem Projekt zur Verfügung gestellt und eine Kooperation vereinbart. Eines dieser Miniprojekte war das Performanceprojekt »Das Auge isst mit«: 4 | Vgl. Sickinger/Bittner/Jerg/Neubauer: Jungenarbeit angemessen (leicht veränderte und stark gekürzte Zusammenfassung des Kapitels 7.1.3, S. 54-57).

188 | Jo Jerg »Der Moment, wo man jemanden ansprechen will, wie fühlt sich das an, was ist das für ein Geschmack?« – um diese Frage drehte sich alles bei einem Festessen im November 2007. »Das schmeckt wie grüner Apfel, das fühlt sich an wie ein Feuerwerk, wie Achterbahn fahren«, hatten Jungen zum Beispiel geantwortet. Und so bekamen die Gäste der Abschlusspräsentation des Projektes »Das Auge isst mit« dann grüne Äpfel serviert und erlebten durch eine zu Assoziationen herausfordernde Menügestaltung ein Feuerwerk, eine Achterbahnfahrt und noch vieles mehr – eben das, was die präsentierenden Jungen schon einmal erlebt hatten, oder was sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man jemanden ansprechen will – ein Mädchen meistens. Acht Schüler einer Schule für sehbehinderte Mädchen und Jungen in Stuttgart im Alter zwischen 11 und 15 Jahren hatten an einem vierwöchigen Workshop des Schauspielers und Regisseurs Kaspar Wimberley teilgenommen, der das Thema Attraktivität untersuchte. Dabei wurden nach und nach die Elemente der Performance durch Übersetzung von Gefühlen in »essbare Erfahrung« herausgearbeitet. Die Auff ührung vor ausgewähltem Publikum – Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Verwandten – ist eine Collage aus assoziativen Gängen eines Menüs geworden: So folgt auf die grünen Äpfel dann Coca Cola mit Punk-Musik, weil einer der Teilnehmer ein Mädchen bei einem Punk-Konzert kennen gelernt hatte usw.

Begonnen hatte die Gruppe an den ersten der insgesamt 12 Workshop-Nachmittage mit Körper- und Bewegungsübungen, wie sie alle Schauspieler machen, um ihr Körpergefühl und ihre Präsenz weiter zu entwickeln. Und dann wurde am Thema gearbeitet, an den Erlebnissen der Jungen. Ein kleiner Fragebogen hat dabei geholfen: Welchen Geruch verbindest Du damit? Welche Geräusche, welchen Geschmack, welche Worte, welche Musik, wel-

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che Farbe…? So haben sie angefangen zu erzählen, wie es für sie war oder ist, jemanden kennen zu lernen. Ein kurzer Blick auf die Resonanzen in dem Auswertungsgespräch: »Anfangs habe ich bei den Proben viel Quatsch gemacht. Doch dann habe ich gemerkt, dass es einige hier nervt und sogar verletzt« mit der Folge, dass er spüren und verstehen konnte, dass »es ernst wird« und sich daraus eine gemeinsame Verantwortung für die Präsentation entwickelt. Die Kocherfahrungen wurden sehr positiv bewertet: »Also, ich fand besonders gut das Kochen, da konnte man auch wirklich mal was Richtiges tun und wirklich mal auch dann mal seiner Phantasie freien Lauf lassen.« »Mit Mädchen sollte man nicht zu grob umgehen«, so stellt ein Junge seinen Lernprozess dar. Der Wunsch der Jungen war es, das Projektergebnis den Eltern und LehrerInnen zu präsentieren. Den Mädchen der Klasse und der Schule wollten die Jungen ihr Ergebnis nicht vorstellen.

Projektseminar Lebensträume 5 Im fachlichen Diskurs über Jungen wird immer wieder argumentiert, dass Jungenträume an dem vorbeigingen, was in der heutigen Gesellschaft für Männer realisierbar und wünschenswert sei – dies meint beispielsweise auch die Pädagogin Margrit Wienholz. Sie benennt u.a. Helden, Abenteuer, Sex, Macht und Gefolgschaft als zentrale Elemente von Jungenträumen und beklagt, dass Jungen von Medien-Traumwelten verführt und aus der Realität entführt würden.6 Aber: • Entsprechen Jungenträume tatsächlich dem beschriebenen einfachen Muster? • Ist eine Bewertung von Sehnsüchten, die sich in Träumen von Jungen widerspiegeln, hilfreich? • Warum müssen Träume eigentlich realistisch sein? In diesem Projekt wurde u.a. das Potenzial der Arbeit mit Lebensträumen für die Entwicklungsbegleitung von Jungen mit Assistenzbedarf mit Studierenden erkundet.

5 | Dieser Abschnitt enthält leicht veränderte Auszüge aus: Jo Jerg/Harald Sikkinger: »Was hat Jungenpädagogik mit Jungenträumen zu tun? Lebensträume von Jungen und jungen Männern mit Behinderungserfahrungen«, in: Sozial Extra 9/10, 32. Jahrgang (2008), S. 6-10. 6 | Margrit Wienholz: Jungenträume – Männerwirklichkeiten. Warum die Jungenförderung so wichtig und (auch) Frauensache ist. www.schulstiftung-freiburg. de/de/forum/pdf/pdf_214.pdf vom 10.04.2008. Zuerst erschienen in: Landeselternbeirat Baden-Württemberg (Hg.), Schule im Blickpunkt, Stuttgart 10/2006.

190 | Jo Jerg Ausgangspunkt: Gerade Jungen mit Behinderungserfahrungen werden häufig durch reduzierende Wahrnehmungen von ihrer Umwelt in der Entwicklung behindert. Dieses Reduzierende betriff t zum einen eine verbreitete Sichtweise, die am »Behindertsein« haftet und dabei die geschlechtliche Seite – das Jungesein – ausblendet. Zum anderen äußert es sich in einer begrenzenden Haltung von Bezugspersonen, die die Artikulation von Sehnsüchten mit dem häufig zu hörenden Argument beschneidet, dass es stattdessen um die Vermittlung realistischer Zukunftsorientierungen gehen müsse.

Präsentation der Lebensträume-Plakate in der Schule vor MitschülerInnen, LehrerInnen, Eltern Vor diesem Hintergrund hat sich ein Projektseminar an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg im Wintersemester 2006/2007 den Träumen von Jungen mit körperlichen und so genannten geistigen Behinderungen gewidmet. In Kooperation mit zwei Schulen haben Studierende gemeinsam mit Schülern deren Lebensträume sichtbar gemacht. Die Aufgabe der Studierenden bestand darin, mit den Jungen über das Thema Lebensträume und ihren Lebensalltag »ins Gespräch zu kommen« und im Anschluss die gesammelten Vorstellungen der Lebensträume in einem Plakat sichtbar zu machen. In einem Projektbericht waren die Konzeption, der Forschungsprozess sowie die Ergebnisse darzustellen und zu reflektieren. Insgesamt wurde mit 15 Jungen und jungen Männern im Alter zwischen 13 und 23 Jahren gearbeitet.

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Zugänge zu Lebensträumen – Lebensträume als Zugänge Träume setzen sich über Grenzen von Zeit, Ort und Naturgesetzen hinweg, sie sind bzw. scheinen also unrealistisch. Gleichwohl sind sie nicht unabhängig, sondern verflochten mit der Realität, mit Erfahrungen und Erwartungen. Sie sind Ausdruck von Wünschen und Bedürfnissen, aber auch von Ängsten. Die Linie allerdings, die Traum und Realität verbindet, ist meist schwer erkennbar. Insofern ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass im wissenschaftlichen Kontext – abgesehen von der Traumforschung im engeren Sinne – selten nach Lebensträumen gefragt wird, wenn man versucht, Jungen zu verstehen. Wissenschaftliche Studien beziehen sich eher auf Aspekte, die zwar mit Lebensträumen verwandt sein können, aber eben greif barer erscheinen – auf Berufswünsche oder Vorbilder beispielsweise. Eine der wenigen Untersuchungen, in denen explizit nach Träumen von Jungen und Mädchen gefragt wird, ist die Shell-Studie. Im Bericht über den qualitativen Befragungsteil der aktuellen Studie heißt es: »Wir fragten die Jugendlichen auch nach ihren Träumen für die Zukunft, in der Erwartung, nun auch etwas weniger bodenständige Wunschvorstellungen zu hören. Bei dem ausgeprägten Realismus dieser Generation wundert es aber nicht, dass das Träumen häufig nur die ›normalen‹ Wunschvorstellungen ein bisschen steigert«.7

In dem Zitat schwingt eine Erwartungshaltung an Jungen und Mädchen mit, dass sie doch auch mal wieder ein wenig unrealistisch sein sollten, persönliche Utopien entwerfen usw. – eine durchaus verbreitete Vorstellung Erwachsener von Jugend als Lebensphase des Auf bruchs. So werden Jungen mit sehr widersprüchlichen Anforderungen der Erwachsenenwelt konfrontiert, wenn es um ihre Lebensträume geht: Einerseits sollen sie phantasievoll und utopisch sein und andererseits aber bloß nicht in männlichen Größenphantasien schwelgen. Unabhängig davon, ob Erwachsene den Jungen fehlende Träume unterstellen oder unrealistische und damit »falsche«, immer ist das Bild vom Jungen und seinen Träumen mit geprägt von eigenen Erfahrungen – vielleicht auch eigenen Verlusterfahrungen – der Erwachsenen und ist kritisch zu hinterfragen. Das gilt selbstverständlich auch für unseren eigenen Zugang. Bei aller eigenen Befangenheit meinen wir aber, dass es möglich und gewinnbringend ist, durch die Beschäftigung mit Jungenträumen etwas über Bedürfnisse von Jungen zu erfahren. Dabei gehen wir davon aus, dass diese Bedürfnisse in den Lebenstraumplakaten nur in ihrer Verwobenheit betrachtet werden können mit den Spuren gesellschaftlich geprägter männlicher Sozialisation und der behinderungsspezifischen Sonder-Sozialisation 7 | Shell Deutschland Holding: Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck, Frankfurt a.M. 2006, S. 259.

192 | Jo Jerg in unserer Gesellschaft, aber auch im Zusammenhang mit den jeweils individuellen Biografien und einzigartigen Persönlichkeiten der Betroffenen.

Ein Beispiel: Fliegen können wie ein Adler Im Folgenden wird ein Junge (Leon) kurz vorgestellt – so wie er im Rahmen des Projektes für uns erkennbar wurde. Dabei soll keinesfalls ein Bild fi xiert werden, im Sinne von: So und nicht anders ist er. Vielmehr sollen die Eindrücke eine Vorstellung davon ermöglichen, was Leon auch ist, was er sich auch wünscht, wie diese Wünsche in Bezug zu seiner Lebenswelt stehen, und vor allem soll ein Eindruck vom jungenpädagogischen Potenzial der Lebenstraumarbeit gegeben werden.

Traumbild von Leon

Leon ist 13 Jahre alt und besucht eine Sonderschule für Menschen mit körperlichen Behinderungen. Er wohnt mit seiner Familie und drei älteren Geschwistern in einer Kleinstadt. Mit dem 24jährigen Bruder, der wie Leon an Muskelschwund erkrankt ist, spielt er gemeinsam in der dreiköpfi gen Band »Appendix«. Leon ist der Schlagzeuger, und dass er darauf stolz ist, veranschaulicht das Plakat seiner Lebensträume. Denn die Band – dafür stehen die Instrumente Schlagzeug, Keyboard, Gitarre und ein Mikrofon – macht einen wichtigen Teil dessen aus, worauf sich seine Lebensträume beziehen. Im Traumbild von Leon stehen die realitätsbezogenen Elemente, die um seine Band »Appendix« kreisen, neben Aspekten, die an Figuren aus der Filmwelt und Vorstellungen aus seiner Phantasie anknüpfen. Insgesamt erscheinen als seine wichtigen Lebenstraumthemen das Schnellsein, das Frei-/Leichtsein, das Starksein, das Bekanntsein, das Anerkanntsein und das Dabeisein. Die Band als Gruppe und Leon als derjenige, der zu dieser Gruppe gehört

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– dieses Motiv wird durch das Ensemble aller Band-Instrumente deutlich und durch den groß geschriebenen Bandnamen, auf den Leon Wert gelegt hat. Als starkes Duo – Rücken an Rücken mit James Bond, sich gegenseitig schützend – so hat sich Leon die Präsentation seines Traumes gewünscht, »ein Agent wie James Bond 007 – Golden Eye« zu sein. Ein Agent sei immer der Starke und überall bekannt, hatte er gesagt, und dass der »immer cool ist und eine Knarre hat und viele Frauen«. Stark, unabhängig und anerkannt sind auch Asterix und Obelix, die er »super« fi ndet und denen er einen Platz auf seinem Plakat eingeräumt hat. Über den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit ist sich Leon im Klaren, z.B. wäre er zwar gerne der Schnellste – »so 100 Meter-HürdenSieger wäre nicht schlecht«, meint er, fügt aber gleich hinzu, dass das ja nicht ginge, da er nicht gesund sei und das somit ein Wunsch bleibe. Leon ist sich der Grenzen bewusst, die ihm gesetzt sind. Und doch entwickelt bzw. kommuniziert er im Laufe der Arbeit an dem Plakat seiner Lebensträume zunehmend auch solche Aspekte, die über diese Grenzen hinausweisen: »Einmal völlig frei zu sein«, als Bungee-Jumper von einer Brücke zu springen oder »fliegen, wie ein Adler«. Das Bedürfnis nach Leichtigkeit tritt als gemeinsamer Bezugspunkt dieser beiden Träume hervor. Als Adler zu fliegen ist ein Traum, den er nachts immer wieder träumt, und manchmal sagt er, »wenn ich gerade fliege und alles gut ist, dann stürze ich ab«. So sind das Reale und die Traumebene für Leon manchmal offenbar auch spannungsreich und schmerzhaft miteinander verbunden. Leons Lebensträume sind bezogen auf das, was ihm wichtig ist, wovon er manches leben kann und wovon er sich nach anderem sehnt. Dieses Sehnen verweist weniger nach vorne in die Zukunft als vielmehr nach innen, in seine Gefühlswelt. Leons Traumbild erzählt etwas von dem, was er jetzt ist – äußerlich und innerlich.

Zusammenschau und Perspektiven der Arbeit mit Lebensträumen Motorisierte Fahrzeuge oder Flugzeuge kommen in den Traumwelten sehr häufig vor. Sie stehen dabei in je unterschiedlicher Gewichtung für Mobilität, Unabhängigkeit oder Status und eben für männliche Identität. Sich männlich zu präsentieren ist vielen Jungen offenbar wichtig, viele haben die Lebenstraumarbeit mit Aspekten begonnen, die ins Muster des traditionell Männlichen passen. Hierzu gehören auch männlich konnotierte Berufe wie Polizist, Pilot oder Fußballstar und Vorbilder aus den Medien – Musiker oder Filmhelden –, die durchgängig männlich sind. Die weitaus meisten der Jungen und Männer haben im ersten Schritt der Lebenstraumarbeit deutlich gemacht, dass sie sich als Teil der Jungen- und Männerwelt, der Jungenund Männernormalität sehen bzw. so gesehen werden wollen. Eine Banalität vielleicht – scheinbar. Allerdings eine, die bezüglich des Blicks der Umwelt auf Jungen und Männer mit Behinderungserfahrungen keineswegs selbstverständlich ist: »Wie viele Geschlechter gibt es?« hat Karsten Exner vor zehn Jahren gefragt und aus seinen Erfahrungen und Beobachtungen geschlos-

194 | Jo Jerg sen: »Natürlich gibt es – wie jedeR weiß – drei Geschlechter. Es gibt Männer, Frauen und Behinderte«8 . In dem Artikel beschreibt er die Kränkung, die für Männer mit Behinderungen in der Ignoranz ihres Mannseins steckt. Diese Nichtwahrnehmung des Mannseins von Jungen/Männern mit Assistenzbedarf scheint uns auch heute noch die gesellschaftlich vorherrschende Sichtweise zu sein. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Die Jungen und Männer, mit denen in Bo(d)yzone gearbeitet wurde, präsentieren sich als Jungen und Männer. Aber eben nicht nur stereotyp männlich! Manche Jungen haben die Lebenstraumarbeit mit dem klassischen Autotraum begonnen und bald schon über sich zu erzählen begonnen, über das, was ihnen nahe ist und ihnen nahe geht. Manchmal wurden solche Aspekte ganz direkt angesprochen – als Teil der realen Lebenswelt – und manchmal sind sie in Traummetaphern gekleidet. Die Realität der Jungen fi ndet auf zwei verschiedene Weisen Eingang in die Lebenstraumarbeit: Zum einen zeigt sie sich als traumhafte Realität, dort wo die Jungen oder Männer über das berichten, womit sie sich wohl fühlen, was ihnen gut tut, wo ihre Energie ist. Sie erzählen dann gewissermaßen von Träumen, die sie ein Stück weit bereits verwirklicht haben: Wenn Leon oder Martin zum Beispiel über das Musikmachen erzählen, dann wirkt das so. Andere Jungen berichten in ähnlicher Weise von anderen Aktivitäten. Eine wichtige Rolle spielt für einige Schüler in diesem Zusammenhang offenbar die tägliche Busfahrt im Kleinbus zur Schule und zurück. Begeistert erzählten sie u.a. vom lauten Musikhören im Bus. Die Fahrten erscheinen fast ein wenig wie eine Zwischenwelt zwischen Traum und Wirklichkeit, als eine Zwischenwelt zwischen den zwei erwachsenendominierten Welten Schule und Familie. Der zweite Modus des Hineinwirkens von Realität in die Lebensträume ist der des realitätsbezogenen Traums: So finden sich zum Beispiel die Traumelemente »Fliegen wie ein Vogel« und »Schwimmen wie ein Fisch« immer wieder bei Jungen, die damit ganz offensichtlich auch etwas über ihr Bedürfnis nach Leichtigkeit, nach unbeschwerten Bewegungsmöglichkeiten erzählen. Entwicklungsthemen und Fragen, die die Jungen beschäftigen, haben sie im Laufe der Zusammenkünfte mit den Studierenden angesprochen. Insbesondere ältere Jungen und Männer haben selbst Gespräche initiiert, bei denen es zum Beispiel um Suchprozesse in Bezug auf Partnerschaft oder Beruf, aber auch um Ablösung und Abgrenzung ging. Sie haben dann davon erzählt, wie sie nicht sein oder werden wollen, von wem sie sich eindeutig in ihrem Denken und Handeln unterscheiden: von den Eltern, vom Ausbilder, von bestimmten Trends …. In der Arbeit mit Phantasien und Träumen von Jungen stecken große Potenziale für die Jungenpädagogik, weil sie neue Seiten von Jungen sichtbar macht, an die pädagogisch angeknüpft werden kann und weil sie der Be8 | Karsten Exner: »Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung«, in: Birgit Warzecha (Hg.), Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik: Forschung – Praxis – Perspektiven, Hamburg 1997, S. 6787, hier S. 67.

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ziehung zum Jungen als zentraler Voraussetzung für dessen angemessene Entwicklungsbegleitung eine neue Qualität geben kann. Der Schlüssel für gelingende Beziehungen ist, dass Jungen mit dem, was sie von sich zeigen, respektiert werden, dass es als Ausgangspunkt für das weitere Arbeiten anerkannt wird. So können beide Seiten durch die gemeinsame Arbeit etwas hinzubekommen. Wenn auch solche Phantasien, die stereotyp männlich erscheinen, zunächst unbewertet stehen bleiben, dann können Jungen und JungenpädagogInnen dem etwas hinzugeben. Dann zeigen Jungen noch mehr von sich, und JungenpädagogInnen können auch etwas zeigen. Jungenträume können unter diesen Voraussetzungen tiefer verstanden werden u.a. als eine Form, in der ein Junge über seine Bedürfnisse spricht. Erfahrungen im Bereich der persönlichen Zukunftsplanungen zeigen, dass im Aufgreifen solcher Träume große Chancen liegen.9 Dort werden die Visionen und Zukunftsträume produktiv verstanden und zeigen, dass Träumen Grenzen überwindet und die betroffenen Personen stärken kann. In diesen persönlichen Reflexions-, Such- und Planungsprozessen ergeben sich immer wieder kreative Lösungen für die Umsetzung von Lebensträumen bzw. Bedürfnissen der Betroffenen. Obwohl allen Beteiligten klar ist, dass nicht jeder Traum zu realisieren ist, beflügeln die Träume die realen Zukunftsplanungen, auch wenn der Alltag danach die grauen Seiten wieder zutage bringt.

Ergebnisse des Projekts 10 Für das Projekt insgesamt können die Ergebnisse, die sich an den verschiedenen Zieldimensionen des Projekts orientieren, wie folgt zusammengefasst werden:

Zieldimension Jungen Die Bezugnahme auf das Geschlecht öffnete Zugänge zu Jungen. Jungen fühlen sich anerkannt und wertgeschätzt, wenn sie von uns als Jungen angesprochen und nicht auf »Behinderte« reduziert wurden. Auf das Jungesein angesprochen zu werden ermöglicht, auf relevante Themenstellungen zuzugehen und Jungen zu erreichen. Jungen zeigen dabei sehr deutlich, dass Behinderung nicht immer im Vordergrund steht. Das Arbeiten in geschlechtshomogenen Gruppen und die Arbeit mit Männern konnten Freiräume für Jungen schaffen. Aktivitäten nur unter Jungen 9 | Vgl. u.a. Ines Boban/Andreas Hinz: »Persönliche Zukunftskonferenzen. Unterstützung für individuelle Lebenswege«, in: Behinderte und Familie, Schule und Gesellschaft, H.4/5 (1999), S. 13-23; Stephan Doose: »Persönliche Zukunftsplanung im Übergang von der Schule in das Erwachsenenleben«, in: Etta Wilken (Hg.), Neue Perspektiven von Menschen mit Down-Syndrom, Erlangen 1997, S. 198-215. 10 | Vgl. Harald Sickinger/Niko Bittner/Jo Jerg/Gunter Neubauer: Jungenarbeit angemessen, S. 99-113.

196 | Jo Jerg können hilfreich sein, um Themen offener zu gestalten bzw. sich zu zeigen. Das gilt sowohl für das Aggressive (z.B. Durchsetzungsfähigkeiten) als auch für die leisen Töne (Berührungen, Massage). Jungs selbst artikulieren dies zum Beispiel auch bei Projektpräsentationen (ohne Mädchen!) oder durch die aktive Kontaktaufnahme zu männlichen Referenten und den Wunsch nach einer Weiterführung der Projekte mit den männlichen Anbietern. Jungenarbeit wird produktiv, wenn sie an den Bedürfnissen und Interessen von Jungen ansetzt. Dabei unterscheiden sich die Themen der Jungen mit Behinderungserfahrung nicht grundsätzlich von denen anderer Jungen. Ein »Über Bande spielen« durch Zugänge wie Medienarbeit, Körperorientiertes Arbeiten etc. kann den Start erleichtern. Eine Balance zwischen Normalität und Vielfalt herstellen! Jungen wollen normal sein, und sie wollen zugleich sie selbst sein. Hilfreich ist der Bezug auf Leitfiguren, die männliche Orientierungsmuster und Männlichkeitsnormen verkörpern. Es ist wichtig, hier anzusetzen und diese Bezugnahme auf typische Männlichkeitsmuster anzuerkennen, sie differenziert zu betrachten und damit zu arbeiten. Bei etlichen Aktivitäten konnte beobachtet werden, dass viele Jungen vielfältige Seiten von sich zeigten, nachdem sie ihre Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht zunächst einmal dokumentiert hatten. Wenn das sozusagen geklärt war – dann wurden der Facettenreichtum der einzelnen Persönlichkeiten und die Vielfalt der Jungen untereinander sichtbar, all das, was weit über stereotype Geschlechterbilder hinausgeht. Das Ermöglichen von Zugehörigkeit und Normalität kann auch Raum schaffen für Individualität. Inklusives Arbeiten ist verbunden mit vielen Barrieren. Die Vorstellung, jenseits institutioneller Angebote Situationen herzustellen, in denen Jungen sich unabhängig vom Assistenzbedarf begegnen, gelang nur vereinzelt. Schon gemeinsame Projekte zwischen Jugendhilfe und Behindertenhilfe zeigen, wie schwierig die gesellschaftliche Stigmatisierung und Zuschreibung »Behinderung« eine kooperative und empathische Zusammenarbeit macht. Pfunzkerle als Anbieter hat selbst Angebotsstrukturen, die in erster Linie auf institutionelle Anfragen ausgerichtet sind und somit die vorhandenen getrennten Lebenswelten bedienen. Die Möglichkeit einer sozialräumlichen inklusiven Arbeit ist noch nicht entwickelt und bisher auch noch kein Arbeitsansatz bei Pfunzkerle.

Zieldimension Fachkräfte Jungen werden vor allem geschlechtsbezogen wahrgenommen, wenn sie Probleme machen. Der Zugang zu Jugend- und Behindertenhilfe kam über PädagogInnen zustande, die Probleme der Jungen mit Pubertät, Gewalt etc. thematisierten. Wenig im Blick sind die Potentiale der Jungen. Getragen von der Vorstellung »wir müssen den Jungen zeigen, was richtig ist« überlagert die Erwachsenenperspektive die Möglichkeit, sich auf die Sichtweisen der Jungen einzulassen.

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Um den Perspektivenwechsel von der Erwachsenenperspektive zu der Jungenperspektive musste oft gerungen werden. Erweiterte Sichtweisen auf Jungen konnten erreicht werden, wenn Fachkräfte Aktivitäten hautnah erlebten bzw. sich beteiligten. Oder Projektpräsentationen zeigten LehrerInnen sowie Eltern plötzlich andere Seiten der Jungen, die bisher in ihren Lebenskontexten nicht zum Tragen kamen. In der Sonderpädagogik/Behindertenhilfe ist eine geschlechtsbezogene Arbeit die Ausnahme, und Pädagogen sind in diesem Feld Einzelkämpfer, die über die Vernetzung im Projekt den kollegialen Austausch (über die Fortbildungsreihe) sehr schätzen.

Zieldimension Institutionen Zunächst wurden bei den Projektträgern (Ev. Hochschule und Pfunzkerle) Grundlagen für eine nachhaltige Implementierung des Themas geschaffen. Die Ev. Hochschule bietet seit Projektbeginn jedes Semester Jungen-Projekte an, die geschlechtsbezogen benachteiligte Lebenssituationen von Jungen in den Blick nehmen. Pfunzkerle hat zunächst einen barrierefreien Zugang durch einen Umzug realisiert und die Zielgruppe Jungen mit Unterstützungsbedarf als eine Erweiterung in der Angebotsstruktur implementiert und sich als Anlaufstelle für PädagogInnen etabliert. Körperorientierte Angebote, die Probleme von Institutionen im Umgang mit Jungen aufgreifen, haben sich als gut anschlussfähig erwiesen. So wurden beispielsweise Selbstbehauptungstrainings, die unter anderem der Kultivierung von Aggressionen dienen, insbesondere von Schulen stark nachgefragt. In Institutionen geraten Geschlechterthemen aufgrund ständiger Organisationsentwicklungsprozesse und Finanzierungsfragen in eine weit untergeordnete Stellung bzw. es muss eine intensive Überzeugungsarbeit geleistet werden, damit Institutionen in dieses Aufgabenfeld investieren.

Zieldimension (regionaler) gesellschaftlicher Raum (Öffentlichkeit/Wissenschaft/Politik) Die Kulturarbeit mit Jungen mit Assistenzbedarf stieß auf positive Presseresonanz. Dabei stand allerdings in der Regel der Aspekt der Behinderung im Vordergrund. So wurde aus dem »Jungen« mit Behinderung dann im Zeitungsartikel der »Jugendliche« mit Behinderung und der Geschlechtsbezug von Bo(d)yzone in den Hintergrund geschoben. Die Resonanz an Fachtagungen war positiv, im Sinne von »gut, mal anders auf die Jungen zu schauen«. Das Interesse an Zeitschriftenartikeln für ein Fachpublikum war groß. Das politische Feld zu bearbeiten, um angemessene Rahmenbedingungen für eine inklusionsorientierte Jungenarbeit (unter der Gender-Mainstreaming-Perspektive) einzufordern und dadurch auch die bisherige Aussonde-

198 | Jo Jerg rungspolitik abzuschwächen, konnte nicht realisiert werden. So weit ist das Projekt nicht gekommen. Fazit: Die Erfahrungen im Projekt verweisen letztlich auf drei wichtige Grundelemente, die eine angemessene Begleitung von Jungen braucht: 1. gute Zugänge zu Jungen, 2. bereichernde Beziehungen mit Jungen und 3. die Gestaltung von Entwicklungsräumen mit und für Jungen.

II. Gedanken zum Kontext Geschlecht und Behinderung Auf dem Hintergrund der Erfahrungen im Projekt lassen sich die folgenden Überlegungen und Erkenntnisse zu Männlichkeit und Behinderung zusammenfassen. Sie sind eine erste Sammlung und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Gemeinsamkeiten in der Jungen- und Männerarbeit (strukturelle und organisatorische Gegebenheiten) Spiegelungen in den geschlechtsbezogenen Jungenwelten: Die Erfahrungen im Bo(d)yzone-Projekt zeigen, dass im Rahmen einer geschlechterbezogenen Jungen- und Männerarbeit Parallelen festzustellen sind zwischen Jungen- und Männerarbeit im Bereich der offenen Jugendarbeit/Jugendhilfe und dem Bereich der Behindertenhilfe. Mädchenarbeit ist wesentlich stärker entwickelt als Jungenarbeit – auch in den institutionellen oder in Selbsthilfe-Initiativen organisierten Projekten der Behindertenhilfe (vgl. Projekt »Frauen sind anders – Männer auch« des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Mädchenkonferenzen etc.). Die Notwendigkeit einer jungenbezogenen Alltagsgestaltung entsteht in der Regel als Folge vorhandener Mädchenarbeit – auch im Bereich der Behindertenhilfe. Mädchengruppen werden bewusst eingerichtet, während Jungengruppen sich strukturell zwangsläufig als Restgruppen ergeben. Jungenarbeit entsteht als eine Form der Ergänzung zu Mädchenarbeit. Frauen haben sowohl in der Jugendarbeit, Jugendhilfe und Behindertenhilfe vernetzte und zum Teil inklusive Netzwerkstrukturen entwickelt; Männer sind in unterschiedlichen Arbeitsfeldern im Kontext von Jungenarbeit eher Einzelkämpfer. Dies zeigt sich auch in anderen Lebensfeldern, wie z.B. im Bereich meiner Arbeit als Enthinderungsbeauftragter der Hochschule: Seit zehn Jahren ist in der Interessensgruppe »Studium und Assistenz« (eine Arbeitsgruppe Studierender mit Behinderungserfahrung an der Hochschule) nur ein Student beteiligt. Die anderen männlichen Studenten mit Behinderungserfahrung suchen für sich individuelle Lösungen. Männliche Ansprechpartner für Jungen fehlen: Männer für dieses Anliegen zu finden, erfordert einen Suchprozess mit wenig Resonanz. Geschlecht steht hinter vielen Anforderungen und Herausforderungen im Alltag. Das

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ist ein Manko in der Jungenarbeit insgesamt. Es gibt wenige Männer, die von sich aus Jungenarbeit anbieten und diesen Arbeitsansatz als einen wichtigen Bestandteil ihrer Arbeit sehen. In existierenden Jungengruppen, die nicht bewusst initiiert wurden, ist diese Arbeit oft wenig geschlechtsbezogen. Der Besuch eines Fußballspiels ist dabei ein typisches geschlechterbezogenes Ereignis. In der Jungenarbeit wird oft am Problematischen angesetzt (Gewalt, Aggression, Sexualität etc.). Jungenarbeit dient als Instrument und Antwort auf »Probleme machen!« D.h. Jungen werden dann in ihrem Geschlecht wahrgenommen, wenn sie stören, körperlich agieren. Hier unterscheiden sich die Wahrnehmungen der Professionellen nicht in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit. Die Geschlechterforschung hat noch nicht dazu geführt, dass in der Theorie und Praxis auch für Jungen gilt: »Stärken zu stärken und Schwächen zu schwächen«. Dabei gilt es aus den Erfahrungen im Projekt Bo(d) yzone zu bedenken: Ziele, Themen und Methoden der Jungenarbeit bei Arbeit mit Jungen mit Behinderung bedeuten nicht eine grundlegend andere Themenstellung. Das Besondere liegt darin, dass Erfahrungsräume für die Thematisierung von Einschränkungen etc. bereitgestellt werden. Deshalb bedarf es keiner speziellen oder anderen Jungenarbeit für Jungen mit Behinderungserfahrung, sondern wie anderswo auch einer Jungenarbeit, die sich an den Lebenswelten und Lebenslagen orientiert.

Unterschiede in den Jungenwelten: Perspektive behinderungsspezifisch bzw. behinderungstypisch »Männlichkeit und Behinderung« ist irritierend und gewöhnungsbedürftig. Zunächst überlagert im Alltag die Behinderung die Dimension des Geschlechts. Das erleben andere Jungen NORMalerweise nicht so. Vor allem die Fokussierung und Zuschreibung »Behinderung« lässt die Wahrnehmung und Relevanz des Geschlechts ins Abseits geraten. Die Unterschiede in den Lebenswelten von Jungen mit Behinderungserfahrung zu denen der Mehrzahl der anderen Jungen liegen darin, dass sie als Neutrum behandelt werden und Geschlechtlichkeit übergangen wird.11 Die Übergangsstadien werden bei Jungen mit Behinderung anders gestaltet durch die Abhängigkeitsverhältnisse zu den Erwachsenenwelten. Jungen mit Behinderung leben als Grenzgänger, die den Status eines Kindes verlassen haben, denen jedoch der Eintritt in die Erwachsenenwelt verweigert wird. Die altersgemäße Zunahme an Selbstständigkeit und die Möglichkeit, Entscheidungen selbst treffen zu können, werden durch die gewachsenen Abhängigkeitsverhältnisse häufig blockiert. Ein Problem der Ablösung von Jungen mit Behinderungserfahrung liegt z.B. im Angewiesensein auf die Pflegeleistungen der Eltern, die in der Regel von Müttern 11 | Vgl. auch K. Exner: »Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung«, S. 67-87.

200 | Jo Jerg geleistet werden, sowie auf andere Assistenzleistungen im Alltag der Jungen, welche die Bindungen verstärken und eine Ablösung enorm schwierig machen. Ein Internat oder eine Wohngruppe können einerseits für manche Jungs eine Chance sein, diesen begrenzten elterlichen Lebensräumen zu entrinnen. Andererseits sind für Jungen mit Behinderungen Begrenzungen mit der Ausgrenzung in Sondereinrichtungen verbunden. In der Regel ist aufgrund der begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten (z.B. eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten) und des eingeschränkten Anregungsmilieus in Sondereinrichtungen (behinderungsspezifische Gruppenzusammensetzung) eine Verengung ihrer Entwicklungsräume die Folge. In der Praxis zeigen sich diese biographischen Erfahrungen der Abhängigkeit und des Angewiesenseins z.B. folgendermaßen: Jungen mit Lernerschwernissen (mit so genannter geistiger Behinderung), die alle eine Sonderschulkarriere mitbringen, zeigen tendenziell in den Angeboten andere Zugänge und Zuschreibungen. Im Unterschied zu vielen Jungen in anderen Jungengruppen benötigen sie zunächst nicht die Abgrenzung zu Erwachsenen oder eine raumgreifende Darbietung und Leistungsorientierung. Männliche Projektanbieter berichten immer wieder von einer besonders angenehmen, freundlichen und ruhigen Arbeitsatmosphäre, aber auch von begrenzten und angepassten Ausdrucksformen. Nicht nur für Jungen wird die Sondereinrichtung zu einer begrenzenden Erfahrung, sondern auch für reguläre Anbieter für altersentsprechende Jungen- bzw. Jugendangebote. Offene Angebote, die auch Jungen mit Behinderungserfahrung besuchen könnten, finden in Institutionen wenig Resonanz. Der Zugang zu Jungen, die in Sondereinrichtungen leben, wird vor allem ermöglicht, wenn institutionsbezogene Angebote offeriert werden. Innovative Projekte im Bereich der Behindertenhilfe vernachlässigen eine geschlechterreflexive Betrachtung: Selbst neue Ansätze zur individuellen passgenauen Entwicklungsplanung wie z.B. die Persönliche Zukunftsplanung werden noch nicht in Veröffentlichungen nach geschlechterbezogenen Dimensionen reflektiert – obwohl bei den Zukunftsplanungen eine für viele Beteiligte unangenehme Themenstellung angesprochen wird durch Fragen nach »Mann-Sein durch Familiengründung« oder durch die Äußerung des Wunsches, Vater werden zu wollen. Die Sehnsucht nach Normalität und danach, das zu haben, was andere in ihrer Entwicklung auch erleben – z.B. mit einer Partnerin/einem Partner ein gemeinsames Leben zu entwerfen – ist eine Erfahrung, die im Kontext von Lebenswelten von Geschlecht und Behinderung als eine »Wiederholungserfahrung« bezeichnet werden kann. Ein zentraler Unterschied zu anderen Jungen liegt darin, dass die »normalen« Lebensphasen von männlichen Lebensläufen – sofern man überhaupt noch davon sprechen kann – für Jungen mit Behinderung keine Selbstverständlichkeit sind. Somit wird zwar einerseits keine Anpassung an typische Männlichkeitsvorstellungen erwartet, aber andererseits gleichzeitig auch der Zugang zu diesen verwehrt bzw. erschwert.

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Vor dem Hintergrund des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit 12 zeigen die Projekterfahrungen, dass Jungen mit Behinderungserfahrungen die Zuschreibung einer marginalisierten Form von Männlichkeit erhalten, weil sie die klassischen Männlichkeitspostulate wie zum Beispiel Autonomie und Durchsetzungsvermögen nicht symbolisieren.

Geschlecht und Behinderung im Spiegel struktureller Benachteiligung der Geschlechter Jungs werden im Kontext der Schule derzeit im Vergleich zu den Mädchen als Bildungsverlierer entdeckt. Sie bleiben öfter sitzen, haben am Ende im Durchschnitt einen um eine Note schlechteren Abschluss, schaffen zu einem etwas geringeren Prozentsatz die weiterführenden Schulen und sitzen häufiger in den Sonderschulen. 13 Diese Realitäten werden heute – so die Erkenntnisse auch aus dem Projekt Bo(d)yzone – eher wahrgenommen. Sie wurden aber eigentlich schon vor ca. 20 Jahren von Schnack und Neutzling in ihrem Buch mit der Formulierung »kleine Helden in Not«14 thematisiert. Bisher führt diese Ungleichheit speziell im Schulsystem aber nicht dazu, dass sich die traditionellen Geschlechterhierarchien grundlegend ändern. 15 Hier bleiben eine differenzierte Beschreibung und eine mehrdimensionale Betrachtung notwendig, um ein Ausspielen von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu vermeiden. Solche Widersprüchlichkeiten und Zusammenhänge verschiedener Ungleichheitsdimensionen lassen sich im Alltag immer wieder beobachten. Ein Beispiel: Der Zugang von Frauen und Männern mit Behinderungserfahrung auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt ist geschlechtlich gebunden. Bildungsangebote im Arbeitsbereich können zwar inzwischen von beiden Geschlechtern gleichberechtigt und unter einer anteilmäßig ausgeglichenen Beteiligung wahrgenommen werden. Aber: Die Vermittlung auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz wird – wenn überhaupt – überwiegend den Männern ermöglicht. 16 12 | Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeit, Opladen 1999. 13 | Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Gender Datenreport. Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, 2005. www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/Publikationen/genderreport/9-Behinderung/9-5-frauen-und-maenner-mit-behinderung-in-der-amtlichen-statistik/9-5-5-kindheit-und-jugend-mitbehinderung,seite=2.html, Kapitel 9.5.5. vom 19.08.2008. 14 | Dieter Schnack/Rainer Neutzling: Helden in Not, Hamburg 1990. 15 | Vgl. Margrit Brückner/Lothar Böhnisch: Geschlechterverhältnisse. Gesellschaftliche Konstruktionen und Perspektiven ihrer Veränderung, Weinheim, München 2001. 16 | Vgl. Jo Jerg/Stephanie Goeke: Leben im Ort. »Auf das Erreichte bin ich

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Komplexe Ver wobenheiten der unterschiedlichen Ungleichheiten Unabhängig davon, ob wir Benachteiligungen aufgrund von Behinderung, Geschlecht, Klasse etc. betrachten wollen, ist es erforderlich, verschiedene Ebenen in den Blick zu nehmen: • die gesellschaftlichen Strukturen, die Auskunft über Macht- und Ressourcenverteilungen geben können, • die Organisationsstrukturen und ihre Zugänge zu Teilhabemöglichkeiten an relevanten institutionellen Kontexten, • die Interaktionsebene, die es ermöglicht, Unterscheidungsmerkmale zu verstärken oder in den Hintergrund zu stellen • sowie die Selbstkonzepte jedes Einzelnen, die darauf hinweisen, dass die Aneignung und die Bewältigung von Lebenssituationen individuell unterschiedlich ausfallen können. Ungleichheiten spiegeln unterschiedliche und komplexe Verwobenheiten wider und sind verschieden zu bewerten. Soziale Schichten unterscheiden sich in anderer Weise voneinander als die Geschlechtertrennung zwischen Männern und Frauen differenziert oder es die Aufteilung in unterschiedliche Behinderungsformen mit sich bringt. Ethnische Zugehörigkeit zieht je nach Nationalität, Religion etc. auch unterschiedliche Benachteiligungen nach sich. Interessant ist Schwinns Frage nach der »Art des Gegners«, die Unterschiede in der Ungleichheit aufzeigt. 17 Die Geschlechterdifferenz kann über die reine Definition einer Unterschiedlichkeit hinaus eine besondere Bedeutung erhalten, da sie bei einer heteronormativen Konstruktion von Beziehungen durch die Möglichkeit einer Partnerschaft eine emotionale Komponente impliziert: »Frau und Mann gehören zusammen«, sind füreinander bestimmt und emotional gebunden. 18 Bei der Unterscheidung in behinderte Männer und nichtbehinderte Männer fehlt die Berücksichtigung dieser Dimension. Die beiden Differenzierungskriterien Behinderung und Geschlecht werden als getrennte Welten konstruiert, die in der Regel zunächst keine emotional positiv besetzte Verbindung haben. Jungen mit Behinderung können nicht als eine homogene Gruppe gefasst werden, sondern haben je nach der Form der Unterstützung und abhängig von anderen relevanten gesellschaftlichen Dimensionen von Ungleichheiten – wie z.B. gesellschaftlicher Status der Eltern – sehr unterschiedliche Lebenssituationen zu bewältigen. Es müssen deshalb andere Ungleichheitsdimensionen mit ins Spiel gebracht werden, um die jeweilige Situation von stolz«. Wege zur personorientierten Begleitung, Reutlingen 2008. 17 | Thomas Schwinn: »Komplexe Ungleichheitsverhältnisse: Klasse, Ethnie und Geschlecht«, in: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a.M. 2007, S. 277. 18 | Bei gleichgeschlechtlichen Beziehungen existieren andere Formen der Unterscheidungen und Benachteiligungen.

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Jungen mit Behinderung angemessen darstellen zu können. Geschlecht als eine Dimension ermöglicht, den Lebensalltag in der geschlechtlichen Ausprägung und Vergesellschaftung zu unterscheiden. Der Unterstützungsbedarf ist eine weitere Dimension. Zu fragen und zu erforschen ist im Kontext der Ungleichheiten, wie sich Exklusionsprozesse individuell in Lebenswelten von Jungen mit Behinderung entwickeln, welcher Unterstützungsbedarf Inklusion und somit Zugang zur Teilhabe und Anerkennung ermöglicht bzw. was dazu führt, dass »Formen der Benachteiligungen« zu »Formen der Irrelevanz« übergehen, die heute unter dem Signum der »Überflüssigen« oder »Unsichtbaren« gefasst werden. 19 Im Inklusion-Exklusion-Diskurs im Kontext der funktionalen Ausdifferenzierung (Systemtheorie) bildet Behinderung eine Kategorie, die als Exklusionsbeschleuniger zu bewerten ist.20 Sie führt relativ schnell zu einem erschwerten Zugang zu relevanten Systemen wie Bildung, Ausbildung, Arbeitsplatz. Jungen/Männer mit Behinderungserfahrungen können eine räumliche Exklusion erfahren, die schon bei der ersten Ausgrenzung in eine Sondereinrichtung dafür sorgt, dass der biografische Verlauf in der Regel das Abstellgleis Sonderkindergarten bis Beschützender Werkstatt nach sich zieht. Je nach dem Assistenzbedarf – z.B. Assistenz im kompensatorischen pflegerischen Bereich oder Assistenz im kognitiven Bereich – oder dem regionalen Lebensort (bundesländerspezifisch) ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten der Zugehörigkeit und Anerkennung in den verschiedenen Lebensbereichen. Hier muss an einer geschlechterreflexiven Haltung in den Arbeitsfeldern der Behindertenhilfe/Sonderpädagogik noch stark an der Wahrnehmung und Anerkennung von Geschlechtlichkeit gearbeitet werden, um die Vielfalt der Lebenssituationen und Unterschiede in den Lebenswelten verstehen zu lernen. Es bedarf ebenso eines geschärften Blickes auf individuelle Ressourcen und strukturelle Benachteiligungen und daraus resultierende subjektive Verarbeitungsformen in den biographischen Lebensläufen von Jungen mit Behinderungserfahrung.

Weiterführende Gedanken Zum Schluss möchte ich zwei Autoren hinzuziehen, die in Bezug auf die Frage von Sichtweisen zu Ungleichheiten für eine weitere Bearbeitung m.E. besonders interessant erscheinen. Zum einem Pierre Bourdieu mit seinem Focus von »Position und Perspektive«, der die feinen Unterschiede von Ungleichheiten mit seinem Begriff des »positionsbedingten Elends« zur Sprache bringt: 19 | Vgl. Markus Schroer: »Defizitäre Reziprozität: Der Raum der Überflüssigen und ihr Kampf um Aufmerksamkeit« in: C. Klinger/G.-A. Knapp/B. Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit, S. 257-270, hier S. 260. 20 | Vgl. Hans-Jürgen Andreß: 3 Teilprojekt: Exklusionsprobleme in der Weltgesellschaft: glokale Muster der Marginalisierung, http://eswf.uni-koeln.de/mitarbeiter/andress/eklusio.htm vom 30.05.2001.

204 | Jo Jerg »Dieses positionsbedingte Elend bezogen auf die Perspektive dessen, der es erfährt und dabei in den Grenzen des Mikrokosmos gefangen bleibt, erscheint als ›gänzlich relativ‹, d.h. völlig irreal, wenn man es aus der Perspektive des Makrokosmos mit dem großen situationsbedingten Elend vergleicht, ein Bezug, der übrigens tagtäglich vorgenommen wird, um jemand zu kritisieren: ›Du kannst Dich nicht beklagen‹ oder zu trösten: ›Es gibt Schlimmeres‹«21 .

Diese Sichtweise macht zum einen deutlich, dass wir je nach Positionen in der Gesellschaft unterschiedliche Perspektiven entwickeln sowie auch unter unterschiedlichen Dingen leiden. Man kann individuell auch auf sehr hohem Niveau leiden. Zum anderen ist diese Sichtweise einer positionsbezogenen Perspektive auch eine Hilfe, der Gefahr einer Verlagerung von der Struktur- auf die Subjektebene vorzubeugen und trotzdem den individuellen Besonderheiten Aufmerksamkeit zu schenken. Einen anderen Zugang und Anregung zum Umgang und der Bearbeitung von Ungleichheit bietet Richard Sennett in seinem Buch »Respekt im Zeitalter der Ungleichheit« für die Soziale Arbeit. Sennett kommt in seinem Resümee zu der Auffassung, dass wir Ungleichheit verringern und somit den Respekt vergrößern können, wenn wir die folgenden drei Aufgaben beherzigen: • Die praktischen Leistungen der einzelnen Menschen würdigen. • Die Abhängigkeit auch im Erwachsenenalter wahrnehmen. • Die Menschen aktiv an den Bedingungen beteiligen, wie sie ihre Hilfe erhalten sollen.22 Die individuell möglichen Leistungen einzelner Menschen anzuerkennen, unsere Abhängigkeit von anderen wahrzunehmen sowie die Lösungskompetenzen der »ExpertInnen in eigener Sache« ernst zu nehmen und damit Gleichheit nicht im Sinne von Angleichung, Nivellierung von Unterschieden zu verstehen, gibt im Alltag auch der Sozialen Arbeit eine völlig neue Perspektive für das Verständnis der Arbeit sowohl in Bezug auf die Haltung wie auch die Interaktionen und Hilfeangebote.23 Richard Sennett legt den Fokus auf die Stellen, an denen wir in unseren Systemen Ungleichheit produzieren und deshalb Änderungsmöglichkeiten haben und Mitverantwortung tragen: »Wer Ungleichheit kritisiert und Gleichheit fordert, verfällt keineswegs, wie gelegentlich behauptet, der romantischen Illusion, die Menschen seien im Blick auf Charakter und Intelligenz gleich. Er glaubt vielmehr, dass die Menschen 21 | Pierre Bourdieu: Das Elend der Welt, Konstanz 1999, S. 19. 22 | Vgl. Richard Sennett: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Hamburg 2002, S. 315. 23 | Vgl. Jo Jerg: »Anschlussfähigkeiten«, in: Gotthilf Gerhard Hiller/Peter Jauch (Hg.), Akzeptiert als fremd und anders. Pädagogische Beiträge zu einer Kultur des Respekts, Langenau-Ulm 2005, S. 22-28.

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zwar in ihrer natürlichen Begabung große Unterschiede aufweisen mögen, dass es aber einer zivilisierten Gesellschaft geziemt, Ungleichheiten zu beseitigen, die ihren Ursprung nicht in individuellen Unterschieden, sondern in der (sozialen) Organisation haben«24 .

In der Konsequenz bleiben neben den abbaubaren Ungleichheiten immer noch nicht auflösbare Ungleichheiten bestehen. Für diese nicht zu verändernden individuellen Unterschiede bleibt folgende Frage zu beachten: »[…] wie der Starke jenen Menschen mit Respekt begegnen kann, die dazu verurteilt sind, schwach zu bleiben«25 . Trotzdem können zunächst die Abschaffung aussondernder Strukturen in den verschiedenen Lebensbereichen (Bildung, Arbeit, Wohnen, Freizeit) und die Entwicklung von inklusiven und lebensweltorientierten bzw. gemeinwesenorientierten Settings dazu führen, dass die täglich produzierte Kluft zwischen Jungen ohne und Jungen mit Behinderungserfahrung reduziert werden kann. Der Blick könnte auch geschärft werden, wenn wir die Frage einmal anders stellen: Warum benötigen wir die Ordnungskategorie »Behinderung«, bzw. warum zerstören wir mit der binären Codierung Behinderung-Nichtbehinderung die Gemeinsamkeiten?

Literatur Andreß, Hans-Jürgen: 3 Teilprojekt: Exklusionsprobleme in der Weltgesellschaft: glokale Muster der Marginalisierung,http://eswf.uni-koeln.de/ mitarbeiter/andress/eklusio.htm vom 30.05.2001. Boban, Ines/Hinz, Andreas: Persönliche Zukunftskonferenzen. Unterstützung für individuelle Lebenswege, in: Behinderte und Familie, Schule und Gesellschaft, H.4/5, (1999) S. 13-23. Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt, Konstanz 1999. Brückner, Margrit/Böhnisch, Lothar: Geschlechterverhältnisse. Gesellschaftliche Konstruktionen und Perspektiven ihrer Veränderung, Weinheim, München 2001. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Gender Datenreport. Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, 2005, www.bmfsfj. de/bmfsfj/generator/Publikationen/genderreport/9-Behinderung/9-5frauen-und-maenner-mit-behinderung-in-der-amtlichen-statistik/9-5-5kindheit-und-jugend-mit-behinderung,seite=2.html vom 19.08.2008. Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeit, Opladen 1999.

24 | R. Sennett: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, S. 315. 25 | Ebd., S. 317.

206 | Jo Jerg Doose, Stephan: »Persönliche Zukunftsplanung im Übergang von der Schule in das Erwachsenenleben«, in: Etta Wilken (Hg.), Neue Perspektiven von Menschen mit Down-Syndrom, Erlangen 1997, S. 198-215. Exner, Karsten: »Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung«, in: Birgit Warzecha (Hg.), Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik: Forschung – Praxis – Perspektiven, Hamburg 1997, S. 67-87. Jerg, Jo/Sickinger, Harald: »Was hat Jungenpädagogik mit Jungenträumen zu tun? Lebensträume von Jungen und jungen Männern mit Behinderungserfahrungen«, in: Sozial Extra, 32. Jahrgang, 9/10 (2008), S. 6-10. Jerg, Jo/Goeke, Stephanie: Leben im Ort. »Auf das Erreichte bin ich stolz«. Wege zur personorientierten Begleitung, Reutlingen 2008. Jerg, Jo: »Anschlussfähigkeiten«, in: Gotthilf Gerhard Hiller/Peter Jauch (Hg.), Akzeptiert als fremd und anders. Pädagogische Beiträge zu einer Kultur des Respekts, Langenau-Ulm 2005, S. 22-28. Schnack, Dieter/Neutzling, Rainer: Helden in Not, Hamburg 1990. Schroer, Markus: »Defizitäre Reziprozität: Der Raum der Überflüssigen und ihr Kampf um Aufmerksamkeit«, in: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a.M. 2007, S. 257-270. Schwinn, Thomas: »Komplexe Ungleichheitsverhältnisse: Klasse, Ethnie und Geschlecht«, in: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt a.M. 2007, S. 271-286. Sennett, Richard: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Hamburg 2002. Shell Deutschland Holding: Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck, Frankfurt a.M. 2006. Sickinger, Harald/Bittner, Niko/Jerg, Jo/Neubauer, Gunter: Jungenarbeit angemessen. Berichte, Anregungen, Materialien und Erkenntnisse aus einem Projekt für Jungen mit und ohne Behinderungserfahrung, Reutlingen 2008. Wienholz, Margrit: Jungenträume – Männerwirklichkeiten. Warum die Jungenförderung so wichtig und (auch) Frauensache ist, www.schulstiftung-freiburg.de/de/forum/pdf/pdf_214.pdf vom 10.04.2008. Zuerst erschienen in: : Landeselternbeirat Baden-Württemberg (Hg.), Schule im Blickpunkt, Stuttgart 10/2006.

Körperbilder von Mädchen, Behinderung und Geschlecht Lena Middendorf

1. »Alle sind anders« »Gleich ist, dass alle anders sind.« So beantworten Expertinnen – Mädchen mit Behinderung – die Frage nach Gleichheit und Differenz von Mädchen mit und ohne Behinderung. Ist verkörperte Differenz demnach Normalität für Mädchen mit Behinderung? Welche Rolle spielen Diskriminierungserfahrungen und Normalisierungswunsch für Körper- und Selbstbild von Mädchen mit Behinderung? Welche Bedeutung haben verbal und medial vermittelte, normative Körper-Bilder und (nicht vermittelte) Vor-Bilder für Identitätskonzepte und Selbst-Bilder von Mädchen mit Behinderung? Wie gehen Mädchen um mit Normalisierungsdruck und geschlechtsspezifischen Rollenanforderungen? Wenn wir die Expertinnenschaft von Mädchen mit Behinderung zu diesen Fragen ernst nehmen wollen, ergibt sich daraus die Folge, dass Praxis/ Soziale Arbeit impulsgebend für Theorie/Forschung sein kann. Vor dem Hintergrund zweier Praxisprojekte mit Mädchen mit Behinderung will der Beitrag diesen Fragen nachgehen. Anforderungen an Handlungsfelder Sozialer Arbeit mit Mädchen mit Behinderungen ergeben sich aus der Lebenssituation von Mädchen mit Behinderung. Die daraus resultierenden Bedarfe sind die Grundlage für die Projekte »Wer uns nicht fragt, bleibt dumm« und »Liebe, Lust und Stress«.

208 | Lena Middendorf

2. Mädchen mit Behinderung 1 Mädchen mit Behinderung sind keine homogene Gruppe. Ihre Lebenslagen sind gekennzeichnet durch vielfältige unterschiedlichste Bedingungen, die eine Verallgemeinerung nicht zulassen. Ausgangslage und gesellschaftliche Zuschreibungen führen aber zu behindernden Bedingungen. Diese verallgemeinernd zu beschreiben, soll Sensibilisierung ermöglichen und Nachteilsausgleiche erreichen. Die Lebenssituation von Mädchen mit Behinderung ist oft gekennzeichnet durch Isolation und einen deutlichen Mangel an altersgerechten Erfahrungen. Es fehlen jugendadäquate Erfahrungsräume und die zur Aneignung einer Erwachsenenidentität so notwendige Auseinandersetzung in geschlechtshomogenen Gruppen. Ein Austausch über Fragen zu Körperbildern, medial vermittelten Schönheitsidealen sowie Vorstellungen von Erwachsensein findet nicht oder eingeschränkt statt. Als Mädchen mit Behinderung aufzuwachsen, hat komplexe Auswirkungen auf alle Lebensbereiche.

Behinderung und Geschlecht Mädchen mit Behinderung werden meist nur unzureichend als Mädchen wahrgenommen. Nach wie vor wird häufig von der (vermeintlich) geschlechtslosen Gruppe der Behinderten gesprochen. Differenzierungen nach Geschlecht werden kaum vorgenommen. Die Behinderung gilt als zentrales Merkmal. »Behinderung avanciert zum primären Identitätsmerkmal, demgegenüber das Geschlecht (und weitere denkbare Identitätsmerkmale) nur nachrangig Beachtung fi ndet. Mit diesen Erfahrungen […] müssen sich Mädchen mit Behinderung in der Adoleszenz auseinandersetzen.«2

Schulische Situation Mädchen mit Behinderung besuchen meist Sonderschulen. Diese sind in der Regel nicht wohnortnah, sondern weit entfernt vom Elternhaus. Dies bedeutet für die Mädchen, dass sie nicht ohne fremde Hilfe (Eltern, Zivildienstleistende etc.) zur Schule gehen können. Sie sind abhängig vom Fahrdienst. In den Klassen sind Jungen meist eindeutig in der Überzahl. Besonders deutlich ist dies an Schulen für Kinder mit Lernschwierigkeiten (sogenannter geistiger Behinderung) mit einem Mädchenanteil von 35 %.3 Mit gleichaltrigen Mäd1 | Vgl. Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein (Hg.): Konzept zur Kriminalitätsverhütung. Gewalt gegen Mädchen und Jungen mit Behinderung, Kiel 2005, S. 16-19. 2 | Claudia Franziska Bruner: »Die Herstellung von Behinderung und Geschlecht«, in: Gemeinsam Leben – Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-00 (2000), S. 8. 3 | Statistisches Bundesamt, 2004.

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chen aus der Nachbarschaft kommen sie kaum in Kontakt, Mädchen aus der Schule können sie nicht besuchen, da diese in anderen Stadtteilen wohnen. Eine Freundinnenkultur, wie sie nichtbehinderte Mädchen aufbauen, ist für behinderte Mädchen nahezu unerreichbar.

Jugendeinrichtungen Die Freizeitangebote in Jugendeinrichtungen sind für Mädchen mit Behinderung meist nicht zugänglich: Zum einen wird ihre Teilhabe häufig durch bauliche Barrieren be- oder verhindert. Zum anderen wiederholen sich Ausgrenzerfahrungen – nicht-behinderte Jugendliche diskriminieren behinderte Jugendliche. Insbesondere Mädchen mit Lernschwierigkeiten sind oftmals Betroffene von gewalttätigen Übergriffen. Dieser Ausschluss innerhalb der bestehenden Jugendhilfe verstärkt, dass Mädchen mit Behinderung außerhalb der Schule nur wenig Kontakt mit gleichaltrigen Mädchen haben. Mädchen mit Behinderung haben nicht nur aufgrund ihrer Behinderung einen erschwerten Sozialisationsverlauf, sondern auch und gerade weil es keine spezifischen Angebote für Mädchen mit Behinderung gibt.

Familiäres Umfeld Die propagierten Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik lassen Behinderung in dieser Gesellschaft zunehmend als vermeidbar erscheinen. Mädchen (und Jungen) mit Behinderung können statt als Bereicherung als Belastung für die Familie wahrgenommen werden. Dieser »Sorgenkind-Status« wirkt sich auf das Lebensgefühl der Mädchen (und Jungen) aus. Sie erfahren sich selbst als defizitär und ihre Behinderung als Makel, dem es mit Therapien zu begegnen gilt. Die Abhängigkeit von Assistenz und die Rolle der Eltern als »Co-Therapeuten« führen häufig zu einer sehr engen Beziehung zwischen den Mädchen und ihren Eltern, wodurch Abgrenzungsprozesse deutlich erschwert werden. Noch mehr als Jungen mit Behinderung werden Mädchen als potentielle Gewaltopfer gesehen. Die Angst vor Gewalt äußert sich dabei häufig in Warnungen und Einschränkungen. Die Mädchen wachsen oft sehr behütet in der Familie auf, Entscheidungen werden ihnen häufig abgenommen.

Medizinisch-therapeutischer Kontext Der Körper der Mädchen wird mit der Geburt zum Objekt medizinischer und therapeutischer Fürsorge. Nicht die Selbstwahrnehmung des Mädchens steht im Vordergrund, sondern die Orientierung an der gesellschaftlichen Norm der Nichtbehinderung. Die Fokussierung des Defektes bzw. der nicht normgerechten Entwicklung macht den Mädchen deutlich, dass sie so nicht in Ordnung sind. Sie sollen nicht bleiben wie sie sind, sondern nach Möglichkeit anders und damit besser werden. Eine eigene Entscheidungs-

210 | Lena Middendorf fähigkeit wird den Mädchen in diesem Kontext nicht zugestanden. Professionelle wie ÄrtzInnen und TherapeutInnen entscheiden über den Körper des Mädchens. Die unterschiedlichen medizinischen und therapeutischen Maßnahmen strukturieren den Tagesablauf der Mädchen. So bleibt ihnen nur wenig frei verfügbare Zeit, über die sie selbst bestimmen.

Soziales Umfeld (peer group) Mädchen mit Behinderung haben bisher nur wenig Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren (vgl. Stichpunkt Schule und Jugendeinrichtungen). Der Mangel an jugendspezifischen Erfahrungsräumen bedingt einen Mangel an altersgemäßer Auseinandersetzung mit sich, den eigenen und fremden Werten und Normen sowie den eigenen Zukunftsentwürfen. Die peer group als wichtige Beratungsinstanz fehlt oder ist nur sehr eingeschränkt vorhanden.

Lebens- und Berufsplanung Mädchen mit Behinderung unterliegen wie alle Mädchen dem heutigen Frauenbild. Das moderne Rollenkonzept ist zweigeteilt: Zum einen sieht es immer noch die Zuständigkeit der Frauen für die Haus- und Familienarbeit vor. Zum anderen ist Erwerbstätigkeit fester Bestandteil bei der Lebensplanung von Frauen. Mädchen mit Behinderung haben diese Wahlmöglichkeiten nur sehr begrenzt. Aufgrund ihrer Behinderung wird ihnen die Rolle der Ehefrau, Hausfrau und Mutter nicht zugetraut. Die Lebensplanung ist dann reduziert auf die Erwerbstätigkeitsbiographie. Hier sind die Zugänge jedoch ebenfalls behindert wenn nicht versperrt. (Während Mädchen mit Lernschwierigkeiten an Förderschulen für geistige Entwicklung etwa ein Drittel stellen, ist das Zahlenverhältnis in den Werkstätten für behinderte Menschen nahezu ausgeglichen. 4) Eine Identifikation mit der gewählten Tätigkeit und die Ausbildung einer positiven Berufsidentität sind somit auch nur sehr eingeschränkt möglich.

3. mixed pickles, Verein für Mädchen und Frauen mit und ohne Behinderung Das im Folgenden vorgestellte Expertinnenwissen von Mädchen mit Behinderung basiert vor allem auf Materialien, die im Mädchentreff von mixed pickles e.V. in Lübeck entstanden sind. Der Verein, gegründet von Frauen mit und ohne Behinderung, ist seit dem Jahr 2000 anerkannter Jugend4 | Vgl. Karola Wegner: »Benachteiligung von Frauen mit geistiger Behinderung im Erwerbsleben«, in: mixed pickles e.v. (Hg.), Behinderte Arbeit mixed pickles e.V., Lübeck 2000, S. 11-13.

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hilfeträger. Zuvor wurde im Rahmen eines Modellprojektes des Landes Schleswig-Holstein ein ausdifferenziertes Baukastensystem entwickelt, um die Lebenslagen von Frauen und Mädchen mit Behinderung zu verbessern. Dabei ging es den Vereinsgründerinnen darum, die »doppelte Diskriminierung« von Frauen mit Behinderung und die Ausblendung der Kategorie Geschlecht/Behinderung in den Fachdisziplinen Sonderpädagogik/Soziologie in den Blick zu nehmen. Bewusst setzten sie die Kategorie Geschlecht an die erste Stelle, wollten betonen, dass auch Mädchen und Frauen mit Behinderung zuerst einmal Mädchen und Frauen sind. Auch zehn Jahre später ist festzustellen, dass Mädchen mit Behinderung als Zielgruppe in der Sozialen Arbeit zu wenig berücksichtigt werden. Dies gilt sowohl für die feministische Mädchenarbeit als auch für die allgemeine Kinder- und Jugendhilfe. In der sogenannten Behindertenhilfe setzt sich geschlechterbezogene Arbeit nur sehr zögerlich durch. Vor dem Hintergrund, dass Sonderschulen und Förderzentren stark jungendominiert sind, brauchen Mädchen mit Behinderung in ihrer Freizeit umso mehr Angebote in der peer group. Neben sozialer Isolation sind es vor allem auch fehlende Teilhabemöglichkeiten und mangelnde Sichtbarkeit (fehlende Vor-Bilder), die eine Benachteiligung im Sozialisationsverlauf darstellen. Anforderung an soziale Arbeitsfelder ist es, Sichtbarkeit und Teilhabe zu verbessern und Foren für die Artikulation eigener Vorstellungen zu schaffen. Mädchen mit Behinderung erleben sich als handelnde Personen, deren Ansichten gehört werden und Eingang in – zum Beispiel – Angebotsstrukturen finden. Dabei spielt auch Qualifizierung eine wichtige Rolle. Wenn wir Mädchen in ihrem Willen mitzubestimmen und in ihrer Expertinnenschaft ernst nehmen, brauchen wir Maßnahmen, die ein Rüstzeug vermitteln. Zum Beispiel Qualifizierung in den folgenden Bereichen: • Was ist Mitbestimmung? Was (be-)hindert meine Mitbestimmung? • Kinderrechte und Beteiligungsformen • Rhetorik • Öffentlichkeits- und Pressearbeit Nach dem Prinzip des »empowerment« wird so eine Basis geschaffen, auf der sich Mädchen mit Behinderung gesellschaftlich einmischen und sich für sich und andere engagieren können. Ein Beispiel dafür, wie Mädchen mit Behinderung Sichtbarkeit und Teilhabemöglichkeiten erhalten, ist das Praxisprojekt »Mehr als Superstars und Blümchen – Mädchen mischen mit«, das hier in Auszügen skizziert werden soll. Wie zentral die Frage der Sichtbarkeit für Mädchen mit Behinderung ist, zeigt die folgende Aktion.

212 | Lena Middendorf »Wer uns nicht fragt, bleibt dumm!«5 So lautete die Überschrift eines Plakats, das zehn Tage an der Fußgängerbrücke an der Kanalstrasse in Lübeck zu sehen war.

Entstanden ist dieses Plakat in einem mehrtägigen Workshop, bei dem Mädchen und junge Frauen mit und ohne Behinderung die Forderungen des ersten Lübecker Mädchenforums zu Papier brachten. Die Forderungen waren vielfältig und spiegeln den Wunsch nach Respekt und Beteiligung von Mädchen, zum Beispiel: • Jugendliche sollen gefragt werden, wenn etwas in der Stadt neu gebaut oder verändert werden soll • Behindertengerechte Spielplätze • Bessere Beleuchtung von Gassen und Straßen • Skate-Bahnen, die auch von Mädchen genutzt werden können • Behindertengerechtes Jugendcafé • Alle Ampeln sollen Piepgeräusche machen • Mehr Hilfsangebote für Mädchen • Mädchen wünschen sich Respekt 5 | Ausführlichere Darstellung in: Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit in NRW e.V. (Hg): Betriff t Mädchen, Verschieden ist normal! Mädchen mit Behinderung, Jg. 20, Heft 4/2007.

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»Mädchen mischen mit« – ein Beteiligungsprojekt Ausschlaggebend für die Projektentstehung war das Engagement der Mädchen und jungen Frauen, die sich zunehmend selbstbewusst mit behindernden Bedingungen auseinander setzen und diese verändern wollen. Hier zeigen sich Auswirkungen von Sozialisationsmustern, die auf Selbstständigkeit und Integration abzielen, »ein neues, modernes Muster […], das bisher in der Literatur zu geschlechtsspezifischer Sozialisation behinderter Mädchen so nicht beschrieben worden war.«6 Das Projekt richtete sich in erster Linie an Mädchen/junge Frauen mit und ohne Behinderung zwischen 15 und 25 Jahren, aber auch an MultiplikatorInnen aus der Jugendarbeit sowie der Arbeit mit behinderten Menschen und an Fachkräfte aus Politik und Verwaltung. Gefragt wurde nach Bedingungen und Zugangsvoraussetzungen von Partizipationsprozessen. Mit Mädchen mit und ohne Behinderung wurden gezielt Verfahren entwickelt, die kommunikative, bauliche und andere Barrieren abbauen. Ziel war es, Formen zu finden, die eine Beteiligung von Mädchen und jungen Frauen mit und ohne Behinderung in Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung verbessern, durch Partizipation sozialer Ausgrenzung entgegen zu wirken und Kompetenzen im Hinblick auf Selbstbestimmung und Einflussnahme im eigenen Lebensbereich zu erweitern. Mädchen/junge Frauen mit und ohne Behinderung waren seit Beginn an Planung und Durchführung des Projektes beteiligt. Dabei wurden die Teilnehmerinnen als Expertinnen betrachtet. Die ersten Maßnahmen bestanden in der Gründung eines Expertinnenrates von Mädchen mit und ohne Behinderung sowie in Seminaren zur begleitenden Qualifizierung und Unterstützung von Mädchen, zum Beispiel:

6 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg): LIVE – Leben und Interessen vertreten, 2000, S. 18.

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Ohren auf, jetzt reden wir! – Radioprojekte Lübeck – Blitzlichter. Eine fotografische Bestandsaufnahme Grenzenlos? Internetseminare Ausbildung zur Jugendleiterin/Jugendsprecherin

Verfahren, Methoden der Mitwirkung Die Arbeitsweise ist ressourcen- und lebensweltorientiert und richtet sich nach dem Konzept des empowerment. Die Projektidee wurde maßgeblich von Mädchen und jungen Frauen mitentwickelt. Wichtiger Bestandteil des Konzepts ist die kontinuierliche Beteiligung von Mädchen auch an der Entwicklung der Folgemaßnahmen und Evaluierung. Das Projekt war deshalb prozesshaft und flexibel angelegt, um auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können. Die Methoden orientieren sich grundsätzlich an den Prinzipien der offenen Jugendarbeit und der nichtformalen Bildung. Sie müssen jedoch in Bezug auf die Zielgruppe modifiziert werden. So gilt es, neben baulichen Barrieren auch Kommunikationsbarrieren zu berücksichtigen und zum Beispiel Informationen in leichter Sprache und/oder in Gebärdensprache vorzuhalten bzw. hörbar zu machen. Resultat des Partizipationsprojektes und von den Teilnehmerinnen entwickelt sind Folgeprojekte, die darauf abzielen, die peer zu stärken und Sichtbarkeit als Expertinnen zu verbessern. Hier zeigt sich das Potenzial von empowerment:

1. Ein barrierefreies Jugendcafé Partizipation von Jugendlichen mit Behinderung braucht eine dauerhafte Plattform für Qualifizierung und Austausch. Ein Jugendcafé ist nach Ansicht der beteiligten Expertinnen das geeignete Forum. Ein Café-Team, bestehend aus Jugendlichen mit Behinderung, veranstaltet jeden Samstag von 17.00 – 23.00 Uhr das Jugendcafé »die eule«. Unterstützt wird das Team von einer hauptamtlichen Mitarbeiterin und Honorarkräften, sodass auch Jugendliche mit Assistenzbedarf eine Alternative haben zur einzelbetreuten Freizeit zu Hause. Damit ist ein Forum für Jugendliche mit Behinderung entstanden, in dem sie sich austauschen und Gleichaltrige treffen können.

2. Aktionsgruppe »Barrierefreiheit« Ihren Willen, sich aktiv in das Stadtgeschehen einzubringen, zeigen Mädchen und junge Frauen des Lübecker Mädchenforums mit einer Aktionsgruppe zum Thema Barrierefreiheit. So wurde von der Gruppe ein Siegel entwickelt, mit dem Einrichtungen nach Prüfung gegebenenfalls als barrierefrei ausgezeichnet werden. Hier geht es nicht ausschließlich um bauliche Barrieren. So ist es ein Anliegen, deutlich zu machen, dass auch Sprachbarrieren Partizipation verhindern. Z.B. wenn die gebräuchliche Amtssprache (auch im Jugendhilfeausschuss) Informationen so vermittelt, dass

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sie für Mädchen mit und ohne Behinderung unverständlich bleiben. Auch bestehende Gremien wurden auf mädchengerechte Beteiligungsformen überprüft und resultierend Empfehlungen an Politik und Verwaltung formuliert. Im Projektverlauf wurde deutlich, dass Mädchen zunehmend selbstbewusst Räume gestalten und die Auseinandersetzung in der peer sich positiv auf ihr Selbstbild auswirkt. »Wer uns nicht fragt, bleibt dumm« sagen die Mädchen, denn sie sind Expertinnen ihrer eigenen Lebenslage. Mädchen mit Behinderung sind aber auch Expertinnen für behindernde gesellschaftliche Bedingungen, für Barrieren und Ausschlussmechanismen. Wenn wir wissen wollen, wie sie mit Identitätskonzepten und Rollenvorgaben umgehen, müssen wir sie fragen und uns der Umsetzung ihrer Forderungen stellen. Das bedeutet, Barrieren abzubauen: In der sozialen Arbeit wie auch in der Forschung. In der eigenen Stadt, der eigenen Einrichtung, in den Angeboten und in den Köpfen. Teilhabe und Sichtbarkeit sind auch Themen in dem folgenden Praxisprojekt. Wenn es um Körperbilder im Wortsinn geht, so finden Mädchen mit Behinderung nach wie vor kaum Abbildungen, die ihre Lebenswirklichkeit wiedergeben.

Körperbilder/Liebe, Lust und Stress »Körperlichkeit und Sexualität sind zwei Begriffe, die untrennbar zusammengehören«7, so C. F. Bruner. Als Körperbild bezeichnet sie den Bereich der Repräsentation und des Empfindens des eigenen Körpers und verweist auf Friske, die betont, dass der Körper »immer auch ein sozialer und kultureller Körper (ist) und damit Träger von sozialen und kulturellen Symbolen und Elementen der Gesellschaft, in der er existiert.« 8 Mit dem Thema Körper/Körperbilder beschäftigt sich eine bei mixed pickles e.V. entwickelte Seminarreihe mit dem Titel »Liebe, Lust und Stress«. Ergebnisse dieser Seminare sind u.a. die gleichnamigen Broschüren zu den Themen »Mein Körper«, »Sexualität« und »Wie ein Kind entsteht«.9 Ausschlaggebend für die Erarbeitung der Hefte war unter anderem die Erfahrung, dass es insbesondere für Mädchen mit Lernschwierigkeiten keine geeigneten Informationsmaterialien gibt, also ein behinderter Zugang zu Informationen besteht. Zudem ging es darum, Mädchen einen größtenteils selbstbestimmten Zugang zu Auf klärungsmaterialien zu verschaffen und ihre Ausdrucks- und Gestaltungsideen sichtbar zu machen. Die Pubertät ist auch für (viele) Mädchen mit Behinderung die Zeit, in der sie sich verstärkt mit Fragen zu Körper und Sexualität auseinander set7 | C. F. Bruner: »Die Herstellung von Behinderung und Geschlecht«, S. 8. 8 | Ebd. 9 | Die Hefte stehen als download auf www.mixedpickles-ev.de/zur Verfügung oder können bestellt werden.

216 | Lena Middendorf zen und sich Geschlechtsidentität ausbildet. Sexualpädagogik wird hier als entwicklungsbegleitender Prozess verstanden, der Mädchen in ihrer Identitätsausgestaltung und in ihrem Recht auf Selbstbestimmung unterstützen will.

Prinzipien der (sexual-)pädagogischen Arbeit sind:10 • Orientierung am Konzept des Empowerments • Vertraulichkeit • Parteilichkeit • Freiwilligkeit • Achtsamkeit • Unterstützung in der Entwicklung und Umsetzung selbstbestimmter Lebensperspektiven

10 | Vgl. Kathrin Ziese: »(Sexual)Pädagogische Arbeit mit Mädchen mit Behinderung im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen«, in: Bundeszentrale für gesundheitliche Auf klärung (Hg.), »meine Sache«. Mädchen gehen ihren Weg. Dokumentation der Fachtagung zur Sexualpädagogischen Mädchenarbeit, Köln 2000, S. 137-139.

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Wie ein Heft entsteht In Seminarreihen wurden Themen und Inhalte der Hefte festgelegt. Auch das Rohkonzept »Broschüre in leichter Sprache, mit vielen Bildern und wenig Schrift« war die Vorgabe der Mädchen. Danach entwickelten Mitarbeiterinnen einen Entwurf, der dann (zum Teil mehrfach) von der Redaktionsgruppe verändert und korrigiert wurde. Die Redaktionsgruppe bildeten Mädchen und junge Frauen mit Behinderung. Die Arbeit an den Entwürfen machte den Expertinnenstatus sichtbar und bot gleichzeitig Raum zur Reflektion in der eigenen peer. Wichtige Erfahrungen aus der Seminararbeit: • Körperbilder von Mädchen (mit und ohne Behinderung) orientieren sich stark an dem, was sie aus Medien, durch Eltern, Geschwister und Schule erfahren. Unterschiede gibt es hier vor allem aufgrund des Zuganges zu Informationen und Medien. • Je mehr Medienzugang und Medienkompetenz Mädchen haben, desto wichtiger sind die hier vermittelten Vor-Bilder. • Eltern, Geschwister und Schule werden als beratende Instanz dann wichtiger, wenn Medienzugang und »beste Freundinnen« – also peer – fehlen. • Auch viele Mädchen mit Behinderung sehen sich spätestens ab der Pubertät einem Normalisierungsdruck ausgesetzt – »Weiblichkeit« bleibt, bei allen Brüchen, Vorlage für das Selbstbild und Identitätskonzept.

4. Vorbilder/Selbstbilder Neben den Erfahrungen aus der Seminararbeit bei mixed pickles e.V. gibt es Expertinnenwissen in einem Heft aus der Reihe MIMMI, des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V. Das Titelthema von Heft Nr. 18, Sommer 2008 lautet »Mein Vorbild ist« und sammelt Aussagen von Mädchen mit Behinderung zu Vorbildern, Selbstbildern und Vorbildqualitäten. Dabei findet oft auch eine Auseinandersetzung mit »Normalität« statt. »Das besondere an meinem Vorbild ist, dass er trotz seiner körperlichen Behinderung alles genauso macht wie andere Jugendliche, z.B. hat er einen Führerschein, ist im Gymnasium.« 11 In den Beschreibungen der Mädchen hier wie im Mädchentreff von mixed pickles e.V. zeigt sich, dass Vorbilder aus der Familie in der Pubertät zunehmend abgelöst werden durch Stars und Idole. Auch Mädchen mit Behinderung finden Vorbilder bei youtube, in Magazinen, soaps. Vorbildqualitäten sind gutes Aussehen, coole Klamotten, Prominenz und Können.

11 | Natascha Differding: »Mein Vorbild ist« in: Bundesverband für Körperund Mehrfachbehinderte e.V. (Hg), MiMMi Mitmach-Mädchenmagazin-Mittendrin, Nr. 18, (2008) S. 4.

218 | Lena Middendorf Vorbilder aus dem persönlichen Umfeld sind hilfsbereit, ruhig, gelassen, warmherzig, gehen gut mit Menschen/Tieren um, lassen sich nicht unterkriegen, haben ihren eigenen Kopf, sind aufmerksam, geduldig, mutig und stark. In das Selbstbild/Selbstkonzept als Sitz der individuellen Realität ist ›Behinderung‹ nicht zwangsläufig integriert und die Bezeichnung »behindert« ist meist nicht Teil der Selbstbezeichnung. Mädchen mit Behinderung sind in der Selbstbeschreibung nett, zuverlässig, zielstrebig, selbstbewusst, sich selbst mögend, selbstständig, höfl ich, rücksichtsvoll, lassen sich nichts gefallen, können sich gut organisieren, sich gut einschätzen, kommen gut mit allen aus und sind »fast immer glücklich« 12 . Für das Selbstbild spielen auch bei Mädchen mit Behinderung subjektive Erfahrungen und individuelle Bedingungen eine entscheidende Rolle. Es ist zu beachten, so Anke Kampmeier, »dass menschliches Verhalten und Erleben stets das Ergebnis eines multifaktoriellen Zusammenwirkens von bestehenden biologischen Faktoren, individuellen Entwicklungsbedingungen und sozialen Gegebenheiten ist. Aus diesem Grunde ist auch die These abzulehnen, ein geschädigter Körper habe zwangsläufi g ein behindertes Selbst zur Folge.« 13

5. Behinderte Körper In der offenen Kinder- und Jugendarbeit wird seit einiger Zeit eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung problematisiert, die immer mehr Kinder in behindernden Bedingungen aufwachsen lässt. Armut und/oder Vernachlässigung bilden die Grundlage für einen behinderten Zugang zu Ressourcen, was wiederum zu Defiziten in der körperlichen und seelischen Entwicklung von Kindern führen kann (aktuelle Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen des Robert- Koch-Institutes). Zum ›Alltagswissen‹ von PraktikerInnen wie TheoretikerInnen gehört seit langem, dass soziale Ressourcen und Körpererfahrung wichtig für ein positives Selbstbild von Kindern – und damit Resilienzen – sind. Gerade an diesen Ressourcen fehlt es immer mehr Kindern. Auch im Mädchentreff von mixed pickles wird deutlich, dass prekäre Lebenslagen immer mehr auch zu einem behinderten Zugang zu Bildung und Information führen und Risikofaktoren für körperliche und seelische Gesundheit bedeuten. 12 | Silke Bullinger: »Mein Vorbild ist«, in: Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V. (Hg.), MiMMi Mitmach-Mädchenmagazin-Mittendrin, Nr. 18 (2008), S. 27. 13 | Anke S. Kampmeier: Körperliche Behinderung: Auswirkungen auf das Körperbild und das Selbstbild, o.O. 1997, www.f h-nb.de/fi leadmin/ProfMitarb/ kampmeier/ANKESDIS.pdf, S. 138 vom 22.12.2008.

Körperbilder von Mädchen, Behinderung und Geschlecht | 219

Behinderung triff t also mehr statt weniger Mädchen, und die Grenzen zwischen diagnostizierter Behinderung und gesellschaftlicher Benachteiligung verschwimmen. Hier triff t beispielsweise das Mädchen mit Trisomie 21 als diagnostizierter Behinderung, reit-, musik- und ergotherapieerfahren, auf die Gleichaltrige, vermeintlich nichtbehinderte, der es an materiellen und sozialen Ressourcen fehlt. Es ist davon auszugehen, dass »das Verhältnis zum eigenen Körper einer der fundamentalsten Aspekte des Lebens« 14 und grundlegend für das Selbstbild ist, Körper- und Selbstbild in engem Zusammenhang mit den Sozialisationsbedingungen stehen. Wie sich Behindertsein und Behindertwerden auf den Prozess der Aneignung von Körper- und Selbstbild auswirken, wirft vor diesem Hintergrund neue Fragen auf. »Das Körperbild«, so Anke S. Kampmeier, erhält seine Informationen aus »den senso- und psychomotorischen Erfahrungen sowie den sozialen Erfahrungen des Individuums.« 15 Eine Reduktion der Informationsquellen hat häufig negative Auswirkungen auf das Körperbild. Was bedeutet diese Erkenntnis für das Aufwachsen von Kindern mit früh diagnostizierter Behinderung? Können therapeutische Maßnahmen Schutzfaktoren bilden und stärkend wirken, oder sind sie Quelle für ein defizitäres Selbstbild, weil sie vermitteln, dass der »Ist-Stand« nicht ausreichend sondern zu verbessern ist? Und was bedeuten Vernachlässigung und Armut für den Sozialisationsverlauf von Mädchen – in welchem Maße findet eine Reduktion der beschriebenen Informationsquellen aufgrund von prekären Lebenslagen statt? In »Auswirkungen von Therapien und Trainings auf das Selbstverständnis behinderter Frauen« beschäftigt sich Brigitte Faber mit Bedingungen für positive und unterstützende Wirkung von therapeutischen Maßnahmen. Sie formuliert als notwendige Haltung: »Abschied von den Normvorstellungen, Entwicklung hin zu einer Akzeptanz der Vielfalt«16. Damit befindet sich soziale Arbeit in einem Dilemma. Begründungen für Nachteilsausgleiche basieren immer auch auf Defizitzuschreibungen. Herausgestellt werden muss, wozu das behinderte Mädchen nicht in der Lage ist, was an Körper, Intellekt und Verhalten von einer angenommenen Norm abweicht, um Finanzierung von Unterstützung zu erreichen. Das behinderte Mädchen – in der Selbstbezeichnung stark und selbstbewusst, wird im Antrag zur Angehörigen einer Risikogruppe, die erst ermächtigt werden muss. Damit werden Körperbilder zitiert – Behinderung 14 | C. F. Bruner: Die Herstellung von Behinderung und Geschlecht, S. 9. 15 | A. Kampmeier: Körperliche Behinderung, S. 89. 16 | Brigitte Faber: »Die Auswirkungen von Therapien und Trainings auf das Selbstverständnis behinderter Frauen«, in: Gisela Hermes/Brigitte Faber (Hg.), Mit Stock, Tick und Prothese. Das Grundlagenbuch zur Beratung behinderter Frauen, Bifos Schriftenreihe, Kassel 2001, S. 78-82, hier S. 81.

220 | Lena Middendorf wieder hergestellt. Gleichzeitig gibt es eine wachsende Gruppe von vermeintlich nichtbehinderten Mädchen, die aufgrund prekärer Lebenslagen »von Behinderung bedroht« sind, wie es das Kinder- und Jugendhilfegesetz formuliert. Soziale Arbeit und Forschung stehen hier vor neuen Anforderungen. Für ein Mehr an Wissen über Körperbilder von Mädchen, Behinderung und Geschlecht müssen wir mehr Mädchen als Expertinnen ihrer Lebenssituation befragen und die Vielfalt ihrer Lebenswelten sichtbar machen. Die Kategorie Behinderung gibt immer weniger Anhaltspunkte. Gleichzeitig wirken Forschung und Praxis daran mit, diese Kategorie fortzuschreiben, wenn wir an der Dichotomie behindert/nichtbehindert festhalten.

Körperbilder von Mädchen, Behinderung und Geschlecht | 221

Mit der Aussage »Gleich ist, dass alle anders sind« von Mädchen mit Behinderung lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten: 1. Zunehmende Differenzsensibilität erkennt an, dass Körperbilder von Mädchen mit und ohne Behinderung dem Grundsatz »Alle sind anders« Rechnung tragen. 2. Der Körper als Medium für Identitätsbildung ist gleichzeitig Mittel der Interaktion mit dem, was Mädchen an Informationen aus Umfeld und Medien erhalten. 3. Auch Körpererfahrung im medizinisch therapeutischen Kontext wird individuell verarbeitet und bewertet und geht in das Selbstbild ein. Während eine Frau mit Behinderung rückblickend formuliert: »Wir haben mehr Körpererfahrung als uns lieb ist«, bezeichnet eine andere die Unterstützung durch eine Physiotherapeutin als entscheidend für das positive Körpergefühl. Wer Benachteiligungen ausgleichen will, muss Benachteiligung benennen. Das beinhaltet immer auch den Abgleich mit einer gesetzten Norm. In Bezug auf Körperbilder, die durch Informationen aus Medien und Umfeld strukturiert vermittelt werden, heißt das auch Zitieren/Herstellen von weiblichen Körpern. Es muss aber darum gehen, alle Formen von Behindertsein und Behindertwerden sichtbar zu machen. Damit verschiebt sich vielleicht der Blick auf Risikofaktoren und Resilienzen, oder es finden sich Gemeinsamkeiten, wo bislang eher Unterschiede vermutet werden.

Literatur Bruner, Claudia Franziska: »Die Herstellung von Behinderung und Geschlecht«, in: Gemeinsam Leben – Zeitschrift für integrative Erziehung Nr. 2-00 (2000), S. 8. Bullinger, Silke: »Mein Vorbild ist«, in: Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V. (Hg.), MiMMi Mitmach-MädchenmagazinMittendrin, Nr. 18 (2008), S. 27. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): LIVE – Leben und Interessen vertreten, 2000. Differding, Natascha: »Mein Vorbild ist«, in: Bundesverband für Körperund Mehrfachbehinderte e.V. (Hg.), MiMMi Mitmach-Mädchenmagazin-Mittendrin, Nr. 18 (2008), S. 4. Faber, Brigitte: »Die Auswirkungen von Therapien und Trainings auf das Selbstverständnis behinderter Frauen«, in: Gisela Hermes/Brigitte Faber (Hg.), Mit Stock, Tick und Prothese. Das Grundlagenbuch zur Beratung behinderter Frauen, Bifos Schriftenreihe, Kassel 2001, S. 78-82. Kampmeier, Anke S.: Körperliche Behinderung: Auswirkungen auf das Körperbild und das Selbstbild, o.O. 1997, www.f h-nb.de/fileadmin/ProfMitarb/kampmeier/ANKESDIS.pdf, S. 138 vom 22.12.2008.

222 | Lena Middendorf Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit in NRW e.V. (Hg.): Betriff t Mädchen. Verschieden ist normal! Mädchen mit Behinderung, Jg. 20, Heft 4 (2007). Rat für Kriminalitätsverhütung in Schleswig-Holstein (Hg.): Konzept zur Kriminalitätsverhütung. Gewalt gegen Mädchen und Jungen mit Behinderung, Kiel 2005. Wegner, Karola: »Benachteiligung von Frauen mit geistiger Behinderung im Erwerbsleben«, in: mixed pickles e.V. (Hg.), Behinderte Arbeit mixed pickles e.V., Lübeck 2000, S. 11-13. Ziese, Kathrin: »(Sexual)Pädagogische Arbeit mit Mädchen mit Behinderung im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen«, in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.), »meine Sache«. Mädchen gehen ihren Weg. Dokumentation der Fachtagung zur Sexualpädagogischen Mädchenarbeit, Köln 2000, S. 137-139.

»Wir waren viele und wir waren überall«. Ein persönlicher Rückblick zur Einbeziehung von Frauen in die Behinder tenrechtskonvention Sigrid Arnade

Erst im Frühjahr 2004 habe ich so richtig wahrgenommen, dass eine UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verhandelt wurde. Zu diesem Zeitpunkt erhielten wir im Deutschen Behindertenrat (DBR) die erste Entwurfsfassung, die von einer Arbeitsgruppe im Januar 2004 erarbeitet worden war. Im Arbeitsausschuss des DBR war ich als eine Vertreterin des Weibernetz e.V. tätig. Als ich feststellte, dass Frauen- und Genderreferenzen in diesem Entwurf fast vollständig fehlten, war ich empört. Ich war empört, weil bekannt ist, dass Frauen mit Behinderungen besonders benachteiligt sind und meist unerwähnt und damit unsichtbar bleiben. Dass dasselbe nun auch in einer Menschenrechtskonvention über die Rechte behinderter Menschen zu passieren drohte, hat mich protestieren lassen. Der DBR verfasste eine Stellungnahme zum Entwurfstext, die Sabine Häfner, Juristin und damals Frauenreferentin beim Sozialverband Deutschland, SoVD e.V., mit einem vierseitigen Papier aus frauenpolitischer Sicht ergänzte.

Die Nacht von Winnipeg Im September 2004 erhielt ich durch Weibernetz e.V. die Möglichkeit, am Gipfeltreffen von »Disabled Peoples’ International – DPI« in Winnipeg in Kanada teilzunehmen. Auf dem Programm stand auch eine Diskussion mit zwei maßgeblich an den Verhandlungen zur Behindertenrechtskonvention beteiligten Botschaftern. Also packte ich die DBR-Stellungnahmen ins Reisegepäck. Bei der Diskussion in Winnipeg meldete ich mich dann zu Wort und machte auf die mangelnde Berücksichtigung der Lebenssituation be-

224 | Sigrid Arnade hinderter Frauen aufmerksam. Die angereisten Botschafter hielten dagegen: Dann könne ja jede Behindertengruppe kommen und spezielle Berücksichtigung fordern, hieß es. Ich versuchte zu verdeutlichen, dass Frauen mit Behinderungen keine Gruppe sind, sondern dass es sich mindestens um die Hälfte der Personen handelt, für die die Konvention gedacht ist. Glücklicherweise wurde ich von vielen Frauen aus allen Teilen der Welt unterstützt. Am Ende versprachen die Botschafter, unsere Argumente in den Verhandlungsprozess einzubringen. Versorgt mit Kopien der DBR-Stellungnahmen reisten sie wieder ab. Anschließend unterhielt ich mich mit einer Kanadierin, die mich in der Diskussion unterstützt hatte. Wir waren uns einig, dass die Versprechen der Botschafter nicht ausreichten, sondern dass die Initiative für eine frauenfreundliche Konvention von uns selbst ausgehen müsse. Abends im Hotelzimmer trank ich noch mit meinem Lebensgefährten, der mich als Assistent begleitete, einen Schluck Wein. Es war wohl gegen Mitternacht, als ich die Idee hatte, wir sollten eine Kampagne zur Sichtbarmachung behinderter Frauen in der UN-Konvention starten.

Der »twin-track approach« wird geboren Zurück in Deutschland rief ich Sabine Häfner an und erzählte ihr von den Erlebnissen in Winnipeg und meiner Idee. Sie war sofort begeistert. So wurde die Kampagne »Behinderte Frauen in der UN-Konvention sichtbar machen!« vom NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. und vom SoVD e.V. ins Leben gerufen. Wir arbeiteten mit einer dreisprachigen Homepage1 (deutsch/englisch/spanisch), sammelten zunächst Unterschriften für unser Anliegen und veröffentlichten sie auf der Website. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Kampagne von rund 500 Einzelpersonen und knapp 100 Organisationen aus etwa 30 Ländern unterstützt. Alle Verbände des DBR hatten unterschrieben, und auch die European Women’s Lobby, der Zusammenschluss von Frauenorganisationen auf europäischer Ebene, sowie der Deutsche Frauenrat unterstützten das Anliegen. Außerdem erarbeiteten wir Ergänzungsvorschläge zur Konvention und machten Pressearbeit. Ideell und fi nanziell wurden wir dabei vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) unterstützt, damit wir unser Netzwerk ausdehnen konnten. Im Frühjahr 2005 bekam ich von DPI den Auftrag, ein Papier zur Einbeziehung von Frauen in die UN-Konvention zu erarbeiten. Sabine Häfner und ich teilten uns die Arbeit. Das Werk mit dem Titel »Towards visibility of women with disabilities in the UN Convention«2 besteht aus drei Teilen: Wir sind erstens auf die Situation von Frauen mit Behinderungen weltweit eingegangen und haben zweitens existierende UN-Dokumente auf ihre Relevanz für behinderte Frauen überprüft. Im dritten Teil werden Ergänzungsvorschläge vorgestellt, wobei wir teilweise Anregungen anderer Staa1 | www.netzwerk-artikel-3.de/un-konv/index.php vom 27. April 2009. 2 | www.netzwerk-artikel-3.org/un-konv/doku/draftend.pdf vom 27. April 2009.

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ten unterstützten, teilweise neue Formulierungen vorschlugen. In der Zusammenfassung des Papiers, das im Juli 2005 veröffentlicht wurde, haben wir den »twin-track approach« (ein zweigleisiges Vorgehen mit einem eigenen Frauenartikel und Genderreferenzen in weiteren wichtigen Artikeln) empfohlen, der letztlich auch realisiert wurde.

Von zwei Glücksfällen und anstrengenden Verhandlungen Im Frühjahr 2005 erfuhren wir auch, dass während der sechsten Sitzung des Ad Hoc Ausschusses (01. bis 12.08.2005) über die Einbeziehung behinderter Frauen in den Konventionstext verhandelt werden sollte. Für die erste der beiden Verhandlungswochen konnte ich mit Assistenz dank einer Förderung des damaligen Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung nach New York reisen. Mein Lebensgefährte/Assistent und ich mussten aus Kostengründen bereits Freitag fliegen, obwohl die Verhandlungen erst Montag begannen. Das stellte sich aber als Glücksfall heraus. Auf Initiative der Koreaner, deren Regierungsdelegation bereits während der dritten Sitzung des Ad Hoc Ausschusses im Mai 2004 einen eigenen Frauenartikel vorgeschlagen hatte, fand nämlich schon am Samstag eine Absprache unter den Nichtregierungsorganisationen (NROs) zu dem Thema statt. Die Position der NROs wurde bei den Verhandlungen zur Behindertenrechtskonvention beachtet und sehr ernst genommen. Voraussetzung dafür war allerdings, dass die NROs sich auf gemeinsame Standpunkte einigten. Am Samstag vor Verhandlungsbeginn in New York ging es also darum, zur Frage der Einbeziehung von Frauen in die Behindertenrechtskonvention eine abgestimmte NRO-Position zu finden. Die Koreanerinnen waren gut vorbereitet. Sie sprachen sich für den eigenständigen Frauenartikel aus. Eine andere NRO-Vertreterin aus Schweden hatte dazu ein Papier vorbereitet, in dem die Strategie des Gender Mainstreaming als wirkungslos dargestellt wurde. Ich argumentierte dagegen, plädierte für die Strategie des Gender Mainstreaming und brachte den »twin-track approach« ins Spiel. Letztlich einigten wir uns zwar nicht, aber auch die koreanische Position wurde nicht zum NRO-Standpunkt erklärt. Vielmehr verabredeten wir, weiter zu diskutieren. Ab Sonntag wurde ich vor allem durch andere deutsche NRO-Frauen sowie die Niederländerin Lydia la Rivière-Zijdel unterstützt. Die Diskussionen mit den NRO-Koreanerinnen empfand ich weiterhin als anstrengend, denn sie stimmten zwar einerseits dem »twin-track approach« zu, sagten dann aber andererseits immer wieder, man könne aufs Gender Mainstreaming verzichten und bräuchte nur einen Frauenartikel. Im Laufe der Zeit habe ich sie aber auch besser verstanden. Sie beharrten auf einem separaten Frauenartikel, weil sie die Erfahrung gemacht hatten, dass die Strategie des Gender Mainstreaming in ihren Ländern nicht greift. Für einen separaten Frauenartikel sprach außerdem das Argument der Koreanerinnen, dass Staaten damit gezwungen seien, Frauenministerien bei der Durchführung und Überwachung der Konvention zu beteiligen.

226 | Sigrid Arnade Am 2. August 2005 wurde die Einbeziehung von Frauen-/Genderreferenzen in die Behindertenrechtskonvention dann im UN-Plenum diskutiert. Am Ende der Diskussion kamen mit mir sieben NRO-Vertreterinnen zu Wort. Alle betonten, wie wichtig eine angemessene Berücksichtigung von Frauen mit Behinderungen in der Behindertenrechtskonvention sei. Drei weitere Rednerinnen und ich favorisierten den »twin-track approach«. Am Ende dieser Diskussion kündigte der Vorsitzende des Ad Hoc Ausschusses an, einen Moderator oder eine Moderatorin zu dieser Frage einzusetzen. Aufgabe dieser Person würde es sein, gemeinsame Positionen der Regierungsdelegationen zu erarbeiten. Es war wieder ein großer Glücksfall, dass die behinderte Juristin Prof. Dr. Theresia Degener zur Moderatorin für die Einbeziehung von Frauen in die Behindertenrechtskonvention ernannt wurde. Theresia Degener war während der gesamten Verhandlungen Mitglied der deutschen Regierungsdelegation. Auch die anderen Mitglieder der deutschen Regierungsdelegation unterstützten unser Anliegen. So konnten wir uns von verschiedenen Seiten mit verteilten Rollen für dieselben Ziele einsetzen. In den weiteren Tagen in New York rangen wir weiterhin um gemeinsame NRO-Standpunkte, verfassten Kommentare zu den Vorschlägen der Moderatorin oder versuchten, Regierungsdelegationen zu überzeugen. Als ich nach einer Woche nach Deutschland zurückflog, war ich sehr erschöpft und gleichzeitig sehr froh, weil ich das Gefühl hatte, einer guten Lösung im Sinne von Frauen mit Behinderungen näher gekommen zu sein.

Fröhliche Weihnachten! Trotzdem galt es, noch viele Widerstände zu überwinden. Deshalb wollten Ministeriumsvertreterinnen aus Deutschland, dass ein juristisches Hintergrundpapier erarbeitet würde. Im November 2005 wurden Sabine Häfner und ich gefragt, ob wir diese Aufgabe übernehmen. So machten wir uns an die Arbeit. Es war recht aufregend für mich, als ich die Ergebnisse unserer Arbeit kurz vor Weihnachten auf einem Workshop Expertinnen und Experten vortragen sollte. Ein Professor für Völkerrecht war extra aus Australien angereist. Sabine Häfner war am ersten Tag leider nicht dabei. Die Expertinnen und Experten lobten zwar unsere Vorarbeiten, sprachen sich jedoch für weit reichende Änderungen aus. In Arbeitsgruppen wurde zu den verschiedenen Teilaspekten gearbeitet, und am Ende erhielten Sabine Häfner und ich neben den Anregungen aus dem Workshop einige Papiere, die wir weiter verarbeiten sollten. Damit stand unser Weihnachtsprogramm fest, denn das fertige Papier sollte zur siebten Sitzung des Ad Hoc Ausschusses (16.01.-03.02.2006) vorliegen. Wir haben es geschaff t, und dieses Mal reisten wir mit Unterstützung des BMFSFJ beide nach New York, Sabine Häfner für drei Wochen, ich mit Assistenz für zwei Wochen.

»Wir waren viele und wir waren überall« | 227

Undurchschaubare Diplomatie In New York trugen Sabine Häfner und ich die Inhalte des Hintergrundpapiers3 auf einem so genannten »side event« vor, einer Veranstaltung, die in der Mittagspause stattfand. Bei dieser Verhandlungsrunde war es nicht nur wichtig, weitere einheitliche NRO-Positionen zu finden, sondern auch, mit Regierungsdelegationen in Kontakt zu kommen und sie zu überzeugen. Dabei gab es Erfolge und Rückschläge, insgesamt hatte ich aber den Eindruck, dass die Meinungsbildung nicht immer rationalen Gesichtspunkten folgte. So entpuppte sich beispielsweise ein Regierungsvertreter aus Costa Rica bei einem Treffen mit der Moderatorin Theresia Degener als sehr kritisch der Einbeziehung von Frauen gegenüber. Also verabredeten Lydia la Rivière-Zijdel und ich uns mit ihm im Restaurant des UN-Gebäudes. Er zerpflückte uns jeden Vorschlag und jedes Argument, und ich hatte hinterher das Gefühl, fürchterlich versagt und der gemeinsamen Sache nur geschadet zu haben. Mir ging es richtig schlecht. Beim nächsten Treffen, zu dem Theresia Degener als Moderatorin eingeladen hatte, traute ich meinen Ohren nicht: Genau dieser Mann aus Costa Rica, der kein gutes Haar an unseren Vorschlägen gelassen hatte, engagierte sich für eine weit reichende Berücksichtigung von Frauen mit Behinderungen in verschiedenen Artikeln der Konvention. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, dass ich Diplomatie nicht verstehe. Insgesamt waren wir nicht nur bei diesem Mann erfolgreich, denn bei der Diskussion des Themas im UN-Plenum sprachen sich bereits viele Delegierte für die Verwirklichung des »twin-track approach« aus. Artikel für Artikel wurde die Konvention im Plenum diskutiert. Als Gruppe von Frauen mit und ohne Behinderungen erarbeiteten wir zu uns wesentlich erscheinenden Artikeln Positionen, warum welche Frauenreferenz eingefügt werden sollte. Wenn dann die jeweiligen Artikel im Plenum diskutiert wurden und die NROs am Ende die Gelegenheit hatten, Stellung dazu zu nehmen, gelang es Lydia la Rivière-Zijdel immer wieder, die Positionen der NRO-Frauen zu verdeutlichen.

Ein toller Erfolg! Zur achten und letzten Sitzung des Ad Hoc Ausschusses (14.-25.08.2006) wollte ich gar nicht mehr fahren, denn die Tage in New York waren immer sehr anstrengend. Ich wusste, dass Sabine Häfner die ganze Zeit in New York sein würde. Das reicht, dachte ich. Eine knappe Woche vor Verhandlungsbeginn rief mich dann Sabine Häfner an und sagte, ich müsse unbedingt nach New York kommen, denn die Einbeziehung von Frauen in den Konventionstext sei in Gefahr. Mir war zwar nicht einsichtig, wie ausgerechnet ich die Lage retten sollte, aber ich fuhr dann doch mit Assistenz für eine knappe Woche nach New York. Wie in der vorigen Verhandlungsrunde redeten wir 3 | www.netzwerk-artikel-3.org/un-konv/doku/papier-02.pdf vom 27. April 2009.

228 | Sigrid Arnade mit Regierungsvertreterinnen und -vertretern und versuchten gleichzeitig immer wieder, mit allen behinderten Frauen gemeinsame NRO-Positionen zu finden. Diese wurden dann formuliert, kopiert und dienten uns als Grundlage für weitere Lobbyarbeit. Die befürchtete breite Ablehnung einer weit reichenden Berücksichtigung von Frauen in dem Konventionstext war für uns glücklicherweise nicht spürbar. In der Plenumsdiskussion sprachen sich fast alle Rednerinnen und Redner für den »twin-track approach« aus. Trotzdem galt es noch, optimale Formulierungen für den Frauenartikel zu finden und Frauen- oder Genderreferenzen in anderen Artikeln zu verankern. Der Text des Frauenartikels (Artikel 6 »Frauen mit Behinderungen«) lautet folgendermaßen: »(1) Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und ergreifen in dieser Hinsicht Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können. (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und des Empowerments von Frauen, um zu garantieren, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können.« 4

Darüber hinaus gibt es Frauen- bzw. Genderreferenzen in der Präambel sowie den Artikeln 3 (Allgemeine Grundsätze), 8 (Bewusstseinsbildung), 16 (Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch), 25 (Gesundheit), 28 (Angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz) und 34 (Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen). Die Verankerung der Frauen-/Genderaspekte in den anderen Artikeln ist uns nicht in dem Umfang gelungen, wie wir es uns gewünscht hatten. Beispielsweise fehlen entsprechende Bestimmungen in den Artikel zur Erziehung, zur Arbeit und Beschäftigung sowie zur Statistik und Datensammlung. Trotzdem denke ich, dass Frauen mit Behinderungen in der Behindertenrechtskonvention sehr weitgehend berücksichtigt werden. Das ist sehr vielen Akteurinnen und Akteuren zu verdanken. Hier möchte ich Theresia Degener zitieren: »Wir waren viele und wir waren überall. Das war das Geheimnis unseres Erfolgs«. Hervorheben möchte ich auch das Verdienst der koreanischen Regierungsdelegation, die durch ihren Vorschlag eines Frauenartikels in der dritten Verhandlungsrunde die Einbeziehung von Frauen überhaupt erst zu einem Thema bei den Verhandlungen gemacht hat. Großen Anteil am Erfolg haben auch die deutsche Regierungsdelegation und die Moderatorin Prof. Dr. Theresia Degener. Letztlich ist es dem unermüdlichen Einsatz von ganz vielen Frauen mit und ohne Behinderungen aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt zu verdanken, dass in der Behinder4 | Aus der »Schattenübersetzung«, www.nw3.de vom 27. April 2009.

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tenrechtskonvention Frauen mit Behinderungen sichtbar geworden und mit weitgehenden Rechten ausgestattet worden sind.

Literatur www.netzwerk-artikel-3.de/un-konv/index.php vom 27. April 2009. www.netzwerk-artikel-3.de/un-konv/doku/draftend.pdf vom 27. April 2009. www.netzwerk-artikel-3.de/un-konv/doku/papier-02.pdf vom 27. April 2009. www.netzwerk-artikel-3.de vom 27. April 2009. www.netzwerk-artikel-3.de/dokum/i-standard-kurz.pdf

Input der Tagungsbeobachterin Sigrid Arnade

Vorbemerkung In dieser schriftlichen zusammenfassenden Einschätzung der Tagung »Gendering Disability. Behinderung und Geschlecht in Theorie und Praxis« werde ich nicht auf die einzelnen Vorträge und Workshops eingehen. Über diese können sich alle LeserInnen anhand der vorliegenden Publikation selber informieren. Vielmehr werde ich mich äußern zu den Tagungszielen, zur Tagungsatmosphäre, zur Tagungsorganisation und zu den Perspektiven. Das alles geschieht unvermeidlich aus einem subjektiven Blickwinkel ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Zu den Tagungszielen Bereits im Dezember 2005 wurden auf einer Tagung1 die beiden Aspekte Behinderung und Geschlecht gemeinsam beleuchtet und bearbeitet. In der Weiterentwicklung gegenüber dieser ersten Tagung verfolgte die Konferenz »Gendering Disability« am 22. und 23. Januar 2009 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg drei Ziele: • Aktuelle Ansätze zur Verflechtung von Behinderung und Geschlecht sollten thematisiert werden; • es sollte die Verwobenheit mit weiteren Kriterien wie Ethnie, Alter, sexuelle Orientierung aufgezeigt werden; • der Theorie-Praxis-Transfer sollte durch intensiven Austausch zwischen TheoretikerInnen und PraktikerInnen gelingen. Zum ersten Ziel: Aufgefallen sind mir neue Methoden in der Forschung; wesentliche neue Inhalte habe ich nicht entdecken können. Spannend war 1 | »Behinderung und Geschlecht – Perspektiven in Theorie und Praxis«, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 12.12.2005; vgl. dazu Jutta Jacob/Eske Wollrad (Hg.): Behinderung und Geschlecht – Perspektiven in Theorie und Praxis, Oldenburg 2007.

232 | Sigrid Arnade auf alle Fälle die Vielfalt der angesprochenen Themen. Neu jedoch war die Einbeziehung weiterer Merkmale wie Ethnie, Alter und sexuelle Orientierung. Dieser Ansatz spiegelte sich nicht nur in den Vorträgen, sondern auch in den Workshops. Somit konnte das zweite Ziel erreicht werden. Diese Erweiterung des Blickwinkels ist sicherlich auch noch ausbaufähig. Das dritte Ziel, der Theorie-Praxis-Transfer, ist in den Workshops gelungen, wobei ich den Eindruck hatte, dass mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet wurden. Folgerichtig wurde für die verschiedenen Gebiete Forschungsbedarf formuliert.

Zur Tagungsatmosphäre Über 100 TeilnehmerInnen haben in Oldenburg zwei Tage lang hart gearbeitet, sich sechs anspruchsvolle Vorträge angehört und in insgesamt sechs Workshops diskutiert. Die Tatsache, dass rund 80 Prozent der TeilnehmerInnen Frauen waren, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Begriff »Gender« primär mit Frauen, weniger mit Männern assoziiert wird. Die TeilnehmerInnen sind zu bewundern, und das hat drei Gründe: Ich hatte den Eindruck, dass sie die Vorträge verstanden haben (was ich von mir selbst nicht durchgängig behaupten kann). Außerdem sind hier offensichtlich Menschen mit einem außergewöhnlich guten Orientierungssinn zusammen gekommen, denn die nicht immer leicht zu findenden Workshopräume waren rechtzeitig gut gefüllt (in diesem Zusammenhang ist auch der ausgezeichneten Organisation mit der guten Ausschilderung zu danken!). Zum Dritten zeichneten sich die TeilnehmerInnen durch große Pünktlichkeit aus, was am Ende anstrengender Tage nicht selbstverständlich ist. So war die Tagung insgesamt von einer ernsthaften, konzentrierten Arbeitsatmosphäre sowie einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts geprägt. Generell wurde auf einem sehr hohen sprachlichen Niveau kommuniziert, sodass ich mir folgende Zusammenfassung der Tagung nicht verkneifen konnte: »Der verstetigte Diskurs über den interdependenten Dekonstruktivismus ist umgekehrt queer-proportional zur Heteronormativität des multiplen Ableism«.

Zur Tagungsorganisation Die Konferenz war über einen langen Zeitraum gründlich vorbereitet worden, sodass ein reibungsloser Ablauf gewährleistet werden konnte. Mehrere Organisatorinnen und Helferinnen waren immer bereit, Fragen zu beantworten oder die kleinen unvermeidlichen Unregelmäßigkeiten unauff ällig auszugleichen. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an das gesamte Organisationsteam! Sowohl die Zusammenstellung der Vorträge als auch die Auswahl der Workshopthemen war vielfältig und spannend und kann aus meiner Sicht als gelungen bezeichnet werden. Auch der Wechsel zwischen Vorträgen und Workshops hat mir gefallen und hat sich offensichtlich bewährt, denn auch

Input der Tagungsbeobachterin | 233

einem schwierigen Vortrag am Abend lauschten die TeilnehmerInnen nach meiner Beobachtung mit unverminderter Aufmerksamkeit.

Zu den Perspektiven Ende 2008 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, seit dem 26. März 2009 sind die darin verankerten Bestimmungen geltendes Recht in Deutschland. Mit der Behindertenrechtskonvention (BRK) verpflichten sich die Vertragsstaaten zu einem durchgängigen Gender Mainstreaming und gleichzeitig zu einem Disability Mainstreaming bei allen politischen Konzepten und Programmen. Damit hat sich Deutschland also auch verpflichtet, bei allen Maßnahmen der Frauenpolitik den Aspekt der Behinderung zu berücksichtigen. Gleichzeitig ist die Frauenrechtskonvention (CEDAW) schon lange geltendes Recht in Deutschland. Für eine Nachfolgekonferenz könnte es vielleicht ein reizvolles Thema sein, den Einfluss sowohl der Behindertenrechts- als auch der Frauenrechtskonvention auf das Leben von Frauen und Männern mit Behinderungen zu untersuchen. Darüber hinaus sollte der eingeschlagene Weg, weitere Kriterien wie Ethnie, Alter oder sexuelle Orientierung einzubeziehen, meiner Meinung nach unbedingt fortgesetzt werden. In jedem Fall gibt es noch viele Themen und Aspekte in dem Spannungsfeld Gender – Behinderung, die bei einer intensiveren Beschäftigung neue Erkenntnisse und die Eröffnung zukunftsweisender Perspektiven versprechen. Wie auch immer – ich freue mich auf die nächste Konferenz zu den Themen Geschlecht und Behinderung und hoffe auf eine leichtere Sprache!

Angaben zu den AutorInnen und Herausgeberinnen

Dr. Sigrid Arnade, 1956 in Münster/Westf. geboren, leitet mit Hans-Günter Heiden das JoB (Journalismus ohne Barrieren) – Medienbüro in Berlin. Die gelernte Tierärztin ist seit 1986 zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen und arbeitet seither als Journalistin, Moderatorin und Projektmanagerin mit den Schwerpunkten »behinderte Frauen«, »rechtliche Gleichstellung« und »barrierefreies Naturerleben«. Außerberufl ich hat sie drei Vereine und eine Stiftung mitgegründet. Dr. Bettina Bretländer studierte Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt »Sondererziehung und Rehabilitation« an der Universität Dortmund. Von 1996 bis 2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl »Frauenforschung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung« (TU Dortmund). Sie ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und seit Oktober 2009 Professorin an der FH Frankfurt/Main für das Fachgebiet Pädagogik und Integration unter besonderer Berücksichtigung von Förderbedarfen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Judy Gummich, Menschenrechtsaktivistin und Diversity-Trainerin, arbeitet seit ca. 25 Jahren vor allem zu Belangen der afrikanischen Diaspora in Deutschland. Inhaltliche Schwerpunkte sind (Anti-)Rassismus, Migration, Integration/Inklusion, Gender, sexuelle Identität, Beeinträchtigung/Behinderung sowie intersektionelle Lebensrealitäten und Diskriminierung. Aktuell ist sie als sozialwissenschaftliche Mitarbeiterin bei Eltern beraten Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung e.V. tätig und wirkt an einer Studie zu Gewalterfahrungen von Lesben, bisexuellen Frauen und transidenten Menschen unter intersektioneller Perspektive mit. Christiane Hutson ist Sozialwissenschaftlerin und als Lehrbeauftragte in den Gender Studies an der HU Berlin und in den Erziehungswissenschaften der Universität Bielefeld tätig. Sie ist Mitfrau des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky

236 | Gendering Disability Universität Oldenburg und arbeitet zu den Erfahrungen von Krankheit und Behinderung aus einer Schwarzen/of Color Perspektive. Dr. Jutta Jacob, Dipl. Psychologin und Lehrerin, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Geschlechterforschung, genderbezogene Sucht- und Drogenforschung, Gesundheitswissenschaften. Als aktuelle Veröffentlichung in Herausgeberschaft zusammen mit Heino Stöver ist der Band »Männer im Rausch. Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht« Anfang 2009 erschienen. Jo Jerg ist Professor für Inklusive Soziale Arbeit, Praxisforschung und Pädagogik der Frühen Kindheit an der EH Ludwigsburg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der wissenschaftlichen Begleitung von Forschungsprojekten im Bereich der Inklusion in unterschiedlichen Lebensbereichen (Elementarbereich, Wohnbereich, Freizeit, Arbeit) überwiegend für den Personenkreis Frauen und Männer mit Behinderungserfahrung und im Besonderen Jungen mit Behinderungserfahrung. Swantje Köbsell ist Behindertenpädagogin, seit 1980 in der emanzipatorischen Behindertenbewegung aktiv und derzeit Koordinatorin der »Arbeitsgemeinschaft Disability Studies Deutschland« (www.disabilitystudies.de). Seit 2004 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Behindertenpädagogik an der Universität Bremen tätig und arbeitet zu den Themenkomplexen Eugenik/Bioethik und ihre Bedeutung für Menschen mit Beeinträchtigungen, Lebenssituation behinderter Frauen/Gender und Behinderung sowie Disability Studies. Dr. Anke Langner, Rehabilitationspädagogin und bis 2007 Stipendiatin im DFG Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt Universität zu Berlin, schloss 2008 ihre Dissertation zum Thema »Behindertwerden in der Identitätsarbeit« ab. Momentan ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Modellkolleg „Bildungswissenschaften“ für den Bereich „Inklusion“ an der Universität Köln tätig. Lena Middendorf ist Diplom Sozialwissenschaftlerin und arbeitet seit 2000 bei mixed pickles, Verein für Frauen und Mädchen mit und ohne Behinderung in Schleswig-Holstein, in den Arbeitsbereichen Mädchen- und Frauenarbeit, Fortbildung und Fachberatung, Gremien- und Öffentlichkeitsarbeit. Carola Pohlen hat Europäische Ethnologie und Gender Studies an der HU Berlin und Anthropology und Disability Studies an der University of Toronto studiert. Sie ist in der politischen Bildungsarbeit tätig und leitet Workshops, Seminare und internationale Bildungsreisen zu feministischer Wissenschaftskritik,

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Medizinanthropologie und Disability Studies. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft in Berlin. Dr. phil. Heike Raab ist promovierte Politologin. Sie studierte politische Wissenschaften, Soziologie, Geschichtswissenschaften und Erziehungswissenschaften, promovierte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und arbeitet seit 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Innsbruck (Institut für Erziehungswissenschaften/Disability Studies). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Feministische Theoriebildung, Diskurstheorien, Staat, Queer Studies, Disability Studies, Körpertheorien, kulturelle Politiken sowie Cultural Studies. Dr. rer. pol. Anne Waldschmidt ist Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation und Disability Studies an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln; sie leitet die Internationale Forschungsstelle Disability Studies (iDiS) und ist Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bioethik/Biopolitik, Normalität und Abweichung, Wissenssoziologie, Körpersoziologie, Europäische Behindertenpolitik, Disability Studies, Diskurstheorie und -analyse. Dr. Eske Wollrad arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und gehört auch dem universitären Team der Ombudsstelle Antirassismus an. Sie forscht zu Rassismus, den Critical Whiteness Studies, Weißsein und Postkolonialismus. Ihr Buch »Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion« erschien im Frühjahr 2005. Dr. Julia Zinsmeister ist Professorin für Zivil- und Sozialrecht an der Fachhochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Zu ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen das Antidiskriminierungsrecht, Rehabilitations- und Pflegerecht sowie der Gewaltschutz.

Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung Jutta Jacob, Heino Stöver (Hg.) Männer im Rausch Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht 2009, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-933-6

Constance Ohms Das Fremde in mir Gewaltdynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen. Soziologische Perspektiven auf ein Tabuthema 2008, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-948-0

Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hg.) Mann wird man Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam 2008, 234 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-992-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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3) ANZ1397.p 238524641186

Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung Malwine Seemann Geschlechtergerechtigkeit in der Schule Eine Studie zum Gender Mainstreaming in Schweden 2009, 278 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1253-0

J. Seipel Film und Multikulturalismus Repräsentation von Gender und Ethnizität im australischen Kino 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1174-8

Gaby Temme, Christine Künzel (Hg.) Hat Strafrecht ein Geschlecht? Zur Deutung und Bedeutung der Kategorie Geschlecht in strafrechtlichen Diskursen vom 18. Jahrhundert bis heute Juni 2010, ca. 222 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1384-1

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3) ANZ1397.p 238524641186