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German Pages 110 [108] Year 2015
Sibylle Niekisch Kolonisation und Konsum
Sibylle Niekisch, geb. 1973, studierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. Soziologie und Ethnologie. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Medientheorie, Populärkultur, Kultursoziologie, Ethnologie und Cultural Studies.
Sibylle Niekisch
Kolonisation und Konsum Kulturkonzepte in Ethnologie und Cultural Studies
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Niekisch, Sibylle : Kolonisation und Konsum : Kulturkonzepte in Ethnologie und cultural studies / Sibylle Niekisch. - Bielefeld : Transcript, 2002 (Kultur und soziale Praxis) ISBN 3-89942-101-9 © 2002 transcript Verlag, Bielefeld Lektorat & Satz: Sibylle Niekisch Umschlaglayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagfoto: Sibylle Niekisch Druck: Digital Print, Witten ISBN 3-89942-101-9
INHALT Einleitung I. Kurze Vorgeschichte des Fremdverstehens 1. Die Architektur eines neuartigen Denkraumes 2. Begehrt, gehaßt, unterworfen – Entwurf des Fremden 3. Die Erzeugung des Selbst durch Fremdwahrnehmung – Die Monster und ihre Opfer 4. Die konstruierte Identität Borobudurs II. Grenze, Ethnizität und Fremdheit
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Grenzen und Solidaritätslinien Beobachtung, Befragung, Analyse Fremderfahrung als Grenzüberschreitung Gefangen im diskursiven Netz – Die Repräsentation des Anderen 5. Kultur beschreiben 6. Ist Kultur Kommunikation? – Exkurs: Kognitive und Symbolische Anthropologie
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III. Writing Culture – Ethnographie als Produkt
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Wie die Fakten ›gemacht‹ werden – Autorität und Autorschaft »Rottet all diese Bestien aus« – Malinowskis Objektivitätsproblem Claude Lévi-Strauss in den Traurigen Tropen Betrug und Authentizität Droht dem Ethnologen der wissenschaftliche Tod? »Anthropophagie des weißen Mannes« – Zur Kritik an der Writing-Culture-Selbstanalyse 7. Probleme mit dem Postkolonialismus
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IV. »Ins Gehirn der Masse kriechen« – Die Rezeptionsanalyse der Cultural Studies 1. »Die Kulturindustrie grinst: Werde was du bist – Die fatale ›Nähe‹ des Fernsehens« 2. Lustvolles Shopping und Guerillataktik 3. Befreiung durch Widerstand? 4. Was ist ein aktiver Zuschauer? – Zur Ethnographie des Konsums 5. Lizenz zur Selbstdarstellung – Das Fremde der Cultural Studies
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Schluß
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Dank
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Literatur
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EINLEITUNG
»Die entscheidenden Besonderheiten des ethnographischen Schreibens liegen wie der entwendete Brief bei E.A. Poe so offen zutage, daß sie sich der Wahrnehmung entziehen.« (Geertz 1993: 14)
Die Ethnologie ist als »Wissenschaft vom kulturell Fremden« (Kohl 1993: 25) im historisch bedingten Raum des neunzehnten Jahrhunderts, als ein Kind der Aufklärung und des Kolonialismus, entstanden und gewachsen. Innerhalb dieses historischen Rahmens war es Aufgabe und Funktion der Ethnologie, präzise Informationen über das unbekannte Andere in Erfahrung zu bringen, zu sammeln und zu systematisieren. Diese Bedingungen haben sich inzwischen längst geändert: Mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Fach und seine Grundlagen. Aufgrund dessen, was allgemein als ›Globalisierung‹ bezeichnet wird, hat die Ethnologie ihren ursprünglichen Gegenstand der Erkenntnis – das kulturell Fremde mit seinen entsprechenden Zuschreibungen – verloren. Die übergeordnete Frage, welche hinter meinen gesamten Überlegungen steht, lautet: Wie können ›fremde‹ Kulturphänomene mit den eigenen Wahrnehmungskategorien angemessen erfaßt werden? Denn egal, ob die kulturell Fremden als ›schriftlos‹, ›geschichtslos‹ oder ›ohne Verstand‹ klassifiziert wurden, es geschah immer in Kontrast zur eigenen Kultur. Ich werde zeigen, wie die wissenschaftlich-methodischen Herangehensweisen der Beobachtung und Befragung an das kulturell Andere zu einer analysierenden und objektivierenden Wahrnehmung geführt haben und daß dadurch das Fremdheitsverhältnis erst hergestellt wurde. Man wollte das Eigene und Typische einer bestimmten Kultur und Gesellschaft der eigenen westlichen Gesellschaft gegenüber herausarbeiten. So war der Diskurs ›Der Westen und der Rest‹ »ebenso gestaltend für den Westen und für die ›modernen Gesellschaften‹ wie der weltliche Staat, kapitalistische Ökonomien, die modernen Klassen-, Rassenund Geschlechtssysteme (gender) und die moderne, individualistische, weltliche Kultur – die vier Haupt›prozesse‹ unserer Entstehungsgeschichte.« (Hall
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2000: 178, H.i.O.) 1 Die Wirkungen dieses Diskurses können nach wie vor in den versteckten Annahmen der Sprache sowie in den theoretischen Modellen der modernen Sozialwissenschaften beobachtet werden. Ungefähr seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts begannen sich entscheidende Veränderungen abzuzeichnen. In der kolonialen Epoche gab es keinen Raum für die Frage nach den Repräsentationstechniken der ethnographischen Forschungsarbeit. Migration, Tourismus, globale Vermischungen aller Art führten aber dazu, daß eine »der Hauptannahmen, auf denen das Schreiben anthropologischer Texte noch bis gestern ruhte – daß nämlich seine Untersuchungsobjekte nicht nur trennbar wären, sondern auch moralisch nicht zusammenhingen, [...] sich ziemlich vollständig aufgelöst [hat]. Wen soll man jetzt überzeugen? Afrikanisten oder Afrikaner? [...] Und wovon?« (Geertz 1993: 128f.) – so fragt Clifford Geertz, einer der wohl bekanntesten Anthropologen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Grundfesten anthropologischer Autorschaft sind erschüttert, denn »schon das Recht zu schreiben – ethnographische Arbeiten zu schreiben – scheint in Gefahr.« (ebd.: 130) Wenn aber das ›Objektivitätsfundament‹ der Ethnologie verloren geht, so zieht das auch entsprechende methodische Konsequenzen nach sich. Den historischen Entstehungsrahmen der Ethnologie als akademische Wissenschaft werde ich im ersten Teil dieses Textes nachzeichnen, um dann im zweiten Teil auf entscheidende erkenntnistheoretische Prämissen des Faches einzugehen. Im dritten Teil sollen die Probleme, mit denen das Fach sich in einer enträumlichten Umwelt konfrontiert sieht, verfolgt werden. Der Ethnologie ist anzurechnen, der eigenen Gesellschaft Blickwinkel auf unbekannte Phänomene ermöglicht zu haben, jedoch birgt diese Möglichkeit auch das Risiko, die gezielte Beobachtung als eine objektive und neutrale Sichtweise auszugeben, um eigene Interessen durchzusetzen: Der Mittlerrolle wohnt immer auch ein Machtpotential inne. In der traditionellen Feldforschungssituation herrschte eine klare Machtasymmetrie vor. Der Informant war nur Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation. In dieser monologischen Machtasymmetrie glich die Fragestrategie des Forschers eher einer Untersuchung als einem Dialog. So galten die »Aussagen der Informanten [...] als Aussagen der jeweiligen Kultur und nicht etwa als Ausdruck der Auseinandersetzung der Betroffenen mit ihrer kulturellen Wirklichkeit.« (Fuchs 1998: 1 Der Einfachheit halber werde ich im folgenden von den Kategorien ›Europa‹ oder ›Der Westen‹ sprechen, wenn ich den spezifisch historisch konstruierten Ort benennen will, von welchem in dieser Arbeit die Rede sein soll. Von einer Einheitlichkeit, welche die Begrifflichkeiten ›Europa‹ oder ›Westen‹ evozieren mögen, ist natürlich nicht die Rede. Stuart Hall weist darauf hin, daß es nicht die geographische Lage ist, welche entscheidet, wo der Westen liegt, sondern die Zuordnung zu einer ›Entwicklungsstufe‹. So gehören in dieser ›mental map‹ die Vereinigten Staaten sehr wohl zum ›Westen‹, Polen aber nicht. Siehe dazu: Hall 2000: 138. 8
EINLEITUNG
106, H.i.O.) Diese Ebene der Forschungsbeziehung verfestigte die Differenzen und reduzierte Andersartigkeit auf homogene Wirklichkeit. Erkenntnis kann keine akkurate Repräsentation von ›fremder‹ Wirklichkeit vollziehen, da sie mitsamt der Grenzen ihrer Wahrnehmungsfähigkeit selbst durch den historischen Möglichkeitsraum bedingt ist, in welchem sie hervorgebracht wurde. Ihre Anwendbarkeit auf ›fremde‹ Phänomene stößt deshalb schnell an ihre Grenzen. Über lange Zeit hinweg als selbstverständlich wahrgenommene ›Universalien‹ wurden nach und nach als exotische Konstruktionen des Westens und als historisch bedingte Besonderheiten erkannt, was in einer Krise der ethnographischen Repräsentation (vgl. Berg/Fuchs 1999) mündete. Die Ethnologie entstand als ein Kind der kolonialen Epoche, sie muß nun ihren erkenntnistheoretischen Gegenstand den veränderten Rahmenbedingungen anpassen. »Put away the radio (or television or refrigerator) – the anthropologists are coming.« (Miller 1995: 142) – so amüsiert man sich in einem Cartoon über den Anachronismus der Ethnologie. An dieser Stelle treten die Cultural Studies aufs Parkett. Mit ihren Analysen medialer Phänomene werfen sie einen anderen Blick auf ›Populärkultur‹ und auf die ›Mikropolitik des Alltags‹ (vgl. Fiske 2000) als es bisher innerhalb der Medienwissenschaften üblich war. Anhand einer Gegenüberstellung der ›Stellung des Subjekts‹ in der Rezeptionsanalyse der Cultural Studies und der ›Massenkulturanalyse‹ der Frankfurter Schule werde ich im vierten Teil des vorliegenden Textes eine Vermittlungsebene zwischen beiden Ansätzen vorschlagen. Den Link zwischen Ethnologie einerseits und Cultural Studies andererseits bildet die Rezeptionsanalyse: Bei der Erforschung von Konsumentengewohnheiten verwenden die Cultural Studies ethnographische Methoden – vor allem die der ›teilnehmenden Beobachtung‹. Dadurch rücken Ethnologie und Cultural Studies näher zusammen. Man wirft ihnen aber von ethnologischer Seite die Entwendung ethnographischer Methoden vor, um sie dann unzulässig zu verwenden: nämlich im eigenen kulturellen Bereich. Hinter diesem Vorwurf verbirgt sich eine gänzlich andere – historisch gewachsene – Auffassung vom ›Eigenen‹ und vom ›Fremden‹, als sie die Cultural Studies vertreten. ›Kolonisation und Konsum‹ lautet der Titel dieses Buches deshalb nicht nur aufgrund der gewählten Analysefelder beider kulturwissenschaftlicher Richtungen, sondern auch noch aus einem anderen Grund: Die interdisziplinäre Angst vor Kolonisation ist mancherorts der Grund für eine Abwehrhaltung, die der Weiterentwicklung des Faches eher schadet denn nützt. Wie ich zeigen werde, ist eine Grenzverteidigung hier fehl am Platz. Die Kulturwissenschaften konsumieren auf ihre Art ›Kultur‹, denn sie leben davon, diese zu analysieren. Die Beweggründe, welche zu Grenzmarkierungen und -verteidigungen anhalten, sind nachvollziehbar, jedoch – soweit es sich um disziplinäre Gren-
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zen handelt – wenig sinnvoll. Deshalb möchte ich zum Schluß die Ethnologie mit den Cultural Studies zusammenführen.2
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Eine systematische Auseinandersetzung der deutschen Ethnologie mit den Cultural Studies fehlt meines Erachtens bisher. Auf die nur punktuelle und eher spärliche Kontaktaufnahme weist auch Martin Fuchs hin. Siehe dazu: Fuchs 2001: 20f.
I. K U R Z E V O R G E S C H I C H T E D E S F R E M D V E R S T E H E N S Einige im Europa der Neuzeit gemeinsam aufgetretene Phänomene konstituierten den spezifischen Möglichkeitsraum, in welchem uns heute bekannte historische Entwicklungen gedeihen konnten. Eine Reihe von wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen ermöglichten eine elementare Transformation des Welt- und Selbstbildes.3 Die aus diesem neuen Verhältnis resultierenden Erkenntnisse ebneten Technisierung und Industrialisierung den Weg. Aufgrund der hinzugetretenen technischen Möglichkeiten gewöhnte man sich an den Zustand einer immer präziser berechenbaren, untersuchbaren und beherrschbaren Welt. Renaissance (15./16. Jh.), Barock (1600-1750), Aufklärung (18. Jh.) und Romantik (Ende 18./Beginn 19. Jh.) ermöglichten das spezielle Gemisch, welches etwas, das man die ›Sonderstellung Europas‹ nennen könnte, hervorbrachte und die sich u.a. durch Industrialisierung, Städtewesen, Kapitalismus und ›Modern-sein‹ auszeichnete. In dem Maße, in dem durch koloniale Expansion und kopernikanische Wende die Grenzen des bekannten Horizonts immer weiter ausgedehnt wurden, konnte sich ein neues Selbst-Bewußtsein vom Menschen etablieren. Ein alles durchdringender Wille zur Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit machte sich breit, man begann, die ›Wirklichkeit‹ zu ordnen und zu systematisieren. Dadurch wurde es dem Menschen zunehmend ermöglicht, sich seiner biologischen und natürlichen Begrenzungen zu entziehen. Historisch neu war die Eigenschaft des Menschen, von nun an als Objekt der anthropologischen Wissenschaften zu dienen.4 Der Mensch begann, sich nicht mehr nach dem Maßstab einer übermenschlichen Ordnung zu bewerten, er suchte diese Ordnungskategorien nun vielmehr in sich selbst. Während die göttliche Wahrheit im Wahrnehmungsfeld früherer Menschen nur nicht zu fassen war, jedoch existierte, begann der Mensch nun, die Welt von Grund auf als paradox und rätselhaft wahrzunehmen. Jeder Zustand der 3 Eine erschöpfende Darstellung der historischen Grundlagen des europäischen Fremdverstehens kann und muß hier nicht geleistet werden. Es soll im folgenden genügen, auf einige Sachverhalte hinzuweisen. Für eine sehr ausführliche Besprechung der Thematik siehe Fink-Eithel:1994. 4 Die Renaissance wird im allgemeinen als ein entscheidender Wendepunkt innerhalb der abendländischen Geistesgeschichte betrachtet. Hier nahm das gesteigerte Interesse am Individuum seinen Anfang: In der Kunst spiegelte sich diese Hinwendung zum Individuum in der nun einsetzenden Portraitmalerei wieder.
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Erkenntnis stellte von da an nur ein vorübergehendes Metamorphosenstadium dar. Nicht nur Gott, auch die Natur bekam einen neuen Ort. So wie der Mensch wurde auch sie zum Objekt der Wissenschaften. Während im mittelalterlichen Europa noch kein mit dem heutigen Naturbegriff vergleichbarer Terminus existierte, fand in der Neuzeit ein Wandel statt. Kein ehrfürchtiges Staunen mehr bestimmte das Verhältnis des Menschen zur Natur, sondern ein empirisches Interesse ermöglichte den praktischen Umgang mit Vorgängen in der Natur. Im Gegensatz zum aristotelischen Weltbild, bei dem ›das Wesen‹ an erster Stelle steht, ist nun das Geschehen selbst das Wesentliche und verdient genaueste Untersuchung. Zunehmende Beherrschung und soziale Bestimmung der Umwelt sowie des menschlichen Körpers erschufen eine neuartige Distanz und Wahrnehmung. Die Naturerfahrung im modernen Sinn wurde erst durch die Distanz zu ihr möglich. Wird von nun an der Begriff ›Natur‹ gebraucht, so immer als Abgrenzung: zu Kultur, zu Vernunft, zu Zivilisation, zu Technik usw. Von ihrem jeweiligen Komplementärbegriff her gewinnt ›die Natur‹ ihre spezielle Bedeutung. Ihre Idealisierung nahm hier ihren Anfang – weil man sich zunehmend als von ihr getrennt wahrnahm. Während man ›die Natur‹ als Erkenntnisobjekt und Ressource behandelte, wurde sie im Gegenzug zum Objekt ästhetisierter und romantischer Verklärung. In Assoziation dazu tauchten bei der Wahrnehmung der Lebensweise der ›Wilden‹ immer wieder die Begrifflichkeiten ›einfaches, unschuldiges Leben‹, ›irdisches Paradies‹, ›Mangel an entwickelter sozialer Organisation‹, ›Leben in reinem Naturzustand ohne Privatbesitz‹ und ›freie und offene Sexualität, unbeschwert von der Last der europäischen Schuld‹ auf. Hervorgehoben wurde dabei die Nacktheit und Schönheit der Menschen, insbesondere der Frauen – was nicht verwundert, da die Eroberer ausschließlich männlichen Geschlechts waren. Stuart Hall weist darauf hin, daß der neu entdeckte Kontinent oftmals als eroberte Frau allegorisiert wurde.5 Die andere Kultur dient(e) als Ersatzparadies und Projektionsfläche. Was wir als ›unberührte Natur‹ ästhetisieren, ist für viele ›Naturvölker‹ allenfalls Bedrohung oder wird verachtet, denn die Natur, in der wir uns erholen, ist nicht die gefährliche Umwelt der indigenen Völker, von der oft das nackte Überleben abhängt, unsere Natur ist eine vom Menschen kontrollierte Kulturlandschaft. 6 5 Hall 2000: 161. 6 In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Ethymologie des Begriffs ›Naturvölker‹ hinweisen. Schon die Begrifflichkeit läßt unsere Vorstellungen erkennen: In der Bezeichnung ›Naturvölker‹ steckt die Annahme, diese stünden der Natur näher als die ›Kulturvölker‹. Der Begriff ›Naturvölker‹ bezeichnet paradoxerweise Völker, die kein Naturverhältnis in unserem Sinne und keinen ausdrücklichen Begriff von einer eigenständigen, vom menschlichen Wirkungsbereich losgelösten Natur haben. Es gibt »keine Natur als ein aus dem Verhaltens- und Sinnzusammenhang des Lebensvollzugs in der Gemeinschaft herauslösbares, seperates Sein. Die Natur in diesem Sinne ist eine neuzeitliche, abendländische Erfindung.« (Bargatzky 1992/93: 157) Die Art, wie bezeichnet 12
KURZE VORGESCHICHTE DES FREMDVERSTEHENS
1. Die Architektur eines neuartigen Denkraumes Die Technik machte es möglich: die Architektur eines neuen Weltbildes.7 Benedict Anderson weist in Die Erfindung der Nation darauf hin, daß das Buch das erste massenhaft produzierte Industriegut gewesen sei.8 Die Erfindung des Druckgewerbes schuf eine vormals nicht gekannte Beschleunigung der Kommunikationswege. Dadurch wurde eine grundlegend neue Art und Weise, über sich selbst nachzudenken und sich auf andere zu beziehen, ermöglicht. Das elementar Neue dabei liegt in der Identitätsstiftung durch Gleichzeitigkeit.9 So verdankt die Reformation ihren Erfolg zum großen Teil dem neuen Kommunikationssystem ›Buchmarkt‹. »Vor dem Zeitalter des Buchdrucks hatte Rom jeden Feldzug gegen die Häresie in Westeuropa leicht gewonnen, weil es immer über bessere Kommunikationswege verfügte als seine Gegner. Doch als Martin Luther seine Thesen an die Kirchentür in Wittenberg schlug, wurden sie – ins Deutsche übersetzt – gedruckt und ›innerhalb von vierzehn Tagen in allen Teilen des Landes bekannt‹.« (Anderson 1998: 40f.)
Luther wurde damit zum ersten Autor einer Massenleserschaft und konnte seine neu gedruckten Bücher von nun an aufgrund seines Namens verkaufen.10 In Anbetracht dieser gedruckten subversiven Kraft verhängte der französiche König Franz I. 1535 unter Androhung der Todesstrafe das Buch-
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wird, legt viel der mitschwingenden Vorstellungen frei: weitere Begrifflichkeiten für die ehemals ›Wilden‹ sind: vorindustrielle Völker, indigene Völker, primitive Völker. Dabei gibt es keine Terminologie, die problemlos und wertfrei gebraucht werden könnte, jede ruft Assoziationen dafür auf, was die Bezeichneten nicht sind. Ab 1600 läßt sich ein enormer Anstieg an wissenschaftlichen Entdeckungen in Mathematik, Physik, Biologie und Chemie beobachten. Um nur einige Beispiele zu nennen: 1590 Zacharias: Mikroskop, 1610 Kepler: astronomisches Fernrohr, 1669 Newton: Spiegelteleskop, 1718 Fahrenheit: Quecksilberthermometer, 1735 Linné: natürliches System der Lebewesen, 1738 Whyatt: Spinnmaschine, 1769 Watt: Dampfmaschine. Die Liste ließe sich so gut wie unendlich fortsetzen. Siehe: Anderson 1998. Um 1455 entstand der erste Buchdruck en gros: Gutenbergs ›42zeilige Bibel‹. Die Reproduzierbarkeit ist neben der ermöglichten Gleichzeitigkeit die zweite Innovation. Das Aufkommen des Buchdrucks in China 500 Jahre vor der europäischen ›Buchdruckrevolution‹ zeigte keine vergleichbare Wirkung, eben weil es hier kein kapitalistisches Wirtschaftssystem gab. In der kapitalistischen Serienproduktion tritt das Partikulare als provisorischer Stellvertreter einer Serie auf. Diese neue Austauschbarkeit ermöglichte es, auch soziale Vorgänge als eine serielle Abfolge zu betrachten. Historische Einzelereignisse wurden in Kausalitätsreihen eingeordnet und zu Präzedenzfällen gemacht. Siehe dazu: Anderson 1998: 194. Zwischen 1518 und 1525 trugen ein Drittel aller verkauften deutschsprachigen Bücher seinen Namen. (ebd.: 41) 13
KOLONISATION UND KONSUM
druckverbot.11 Vor dem ›Zeitalter des Buchdrucks‹ wurden vorgestellte Gemeinschaften unter anderem durch die Durchführung von Pilgerfahrten ermöglicht, diese Form der Informationsübertragung spielte eine entscheidende Rolle. In diesen ›Kanälen‹ floß Information allerdings noch recht träge und zähflüssig, mit dem Übertragungsmedium ›Buch‹ änderte sich das schlagartig. Eine pluralistische Welt- und Selbstsicht etablierte sich. Historische Ereignisse wurden seriell produzierbar, man errichtete zwischen den Buchseiten eine mikroskopisch erinnerbare Vergangenheit. Welten, Ideen, Konzepte konnten nunmehr aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext ›seziert‹ werden und auf die Reise gehen. So sollte es auch mit dem ›Konzept Revolution‹ passieren. Die 1789 in Frankreich stattgefundene Revolution konnte zu einem umfassenden Gesprächsthema gemacht werden, wie ein »Felsbrocken vom Wasser eines Flusses zu einem runden Stein geschliffen wird, so formten Millionen gedruckter Worte diese Erfahrung zu einem ›Begriff‹ [...] und später dann zu einem Modell.« (Anderson 1998: 75) Die französische Revolution wurde somit durch den Buchmarkt zu einer Lektion, von der man lernen, zu einem Modell, das man kopieren wollte.12 Dank der Erfindung des Buchdrucks konnten sich Ideen nun wie Lauffeuer verbreiten, Altes vernichten und Neues entstehen lassen. Feuer ist fruchtbarkeitsspendend und todbringend zugleich. Entdeckungslust und Exotismus – ansteckende Eigenschaften – konnten sich nun wie Grippeviren verbreiten. 17. und 18. Jahrhundert zeichnen sich durch eine ihnen ganz eigene Lust am System aus. Wie in der Architektur des Barock begegnen wir in der Philosophie dieser Zeit einer enormen Baufreudigkeit. ›Rationalismus‹ und ›Empirismus‹ heißen die beiden großen Denkgebäude dieser Zeit. Während im Rationalismus ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ auseinander traten und man notwendigen Vernunftwahrheiten folgen wollte, sollten im Empirismus die bloßen Tatsächlichkeiten gelten. Unter diesen Vorausetzungen konnte das ›Zeitalter der Vernunft‹ 13 anbrechen. Mit Galilei (1564-1642) setzte etwas ein, das man als ›Eintritt ins mechanistische Zeitalter‹ umschreiben könnte, die Erde war von nun an zu einem »Stück des Himmels« (Blumenberg 1965: 145) geworden. 11 Siehe dazu: ebd. 12 So bildete sich auch mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 ein ›IdeenExportgut‹ heraus, welches man vielerorts nachahmen wollte, so z.B. in Kambodscha, Vietnam und China. Die französische Revolution wiederum wurde unter anderem nur durch die Reiseberichte des 16. und 17. Jahrhunderts ermöglicht: »Ihre [der Reisenden des 16. und 17. Jahrhunderts, S.N.] Berichte bilden im übrigen den Ursprung des modernen ethnographischen Bewußtseins: Denn unter ihrem unfreiwilligen Einfluß schlug die politische und moralische Philosophie der Renaissance jenen Weg ein, der sie bis zur Französischen Revolution führen sollte.« (Lévi-Strauss 1981: 330) 13 Im allgemeinen wird mit dem Beginn des Barock (1600-1750) als erstem ›Weltstil‹, welcher organisch die Renaissance ablöste, der Beginn des ›Zeitalters der Vernunft‹ angesetzt. 14
KURZE VORGESCHICHTE DES FREMDVERSTEHENS »Die Erde verläßt, indem sie zu einem bewegten Himmelskörper wird, nicht nur ihren topographischen Ort, sondern auch ihre systematische Stelle [...] und wird so zu einem Gestirn unter Gestirnen. Für Kopernikus war das eine Folgerung aus seiner astronomischen Konstruktion gewesen [...]. Für Galilei wurde das etwas, was er sehen konnte: als er das Fernrohr 1610 zum ersten Mal auf den Mond richtete.« (ebd., e.H.)
Im Gegensatz zur aristotelischen Manier interessierte Galilei sich nicht für das Wesen der Dinge, er setzte auf das Studium von Prozessen und messbaren Quantitäten, denn das »Buch der Natur sei in mathematischen Lettern geschrieben«. (Hirschberger 1991: 42) Während Aristoteles das Weltbild der Pythagoreer verwarf, weil dieses die Konsequenz nach sich gezogen hätte, daß »die Erde einer der Sterne sein würde, eine Konsequenz, deren Absurdität er als ganz selbstverständlich glaubte unterstellen zu können« (Blumenberg 1965: 146), hatte Galilei den Status der Erde als eines unter vielen Gestirnen mit eigenen Augen sehen können. Die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, nachdem man erkannt hatte, daß jeder Planet seinen Standort als Mittelpunkt und die Umgebung als Umfeld wahrnehmen würde. In der Wahrnehmung, nicht im So-Sein liegt das entscheidende Moment der Realitätskonstruktion. Die Romantik wollte der Irrationalität, dem Gefühl – in kontrastiver Absicht zum platten Materialismus und Rationalismus der Aufklärung – wieder Raum geben. Sie bildete das historische Feld, in welchem auch der Exotismus gedeihen konnte. ›Exotische Regionen‹ wurden so zum Objekt einer machtvollen, idealisierten Phantasie.14 Die ›Eingeborenen‹ wurden nun dafür geliebt, daß sie nicht von der Vernunft verdorben waren, so wie sie vorher dafür gehaßt wurden, daß sie keine besaßen.
14 Lévi-Strauss hat eine treffende Definition für den Exotismus parat: Der Exotismus »hat keine eigene Grundlage; er ist Funktion der Verachtung und zuweilen der Feindseligkeit, die ihm [dem Ethnographen, S.N.] die in seiner eigenen Umwelt geltenden Sitten einflößen. Während er in seiner Heimat die traditionellen Bräuche gern untergraben möchte und sich gegen sie auflehnt, verhält er sich respektvoll, ja sogar konservativ, sobald er einer fremden Gesellschaft gegenübersteht.« Dadurch, daß der Ethnograph seiner eigenen Gesellschaft den Rücken gewandt hat, schließe er eine Gesellschaft aus seinem Forschungsinteresse aus und begehe damit »dieselbe Sünde, die er denen vorwirft, welche den privilegierten Sinn seiner Berufung in Frage stellen.« (LéviStrauss 1981: 378) Der dem Exotismus Verfallene stünde vor dem Problem, Schwarz-Weiß-Malerei zu betreiben, er neige dazu, Ungerechtigkeiten, die er zu Hause ablehnen würde, in der Fremde zu beschönigen, mit einem anderen Maßstab zu bewerten. Aber Lévi-Strauss fragt: »Da diese Mißstände auch bei uns vorkommen, welches Recht haben wir dann, sie zu Hause zu bekämpfen, wenn sie nur irgendwo anders zu herrschen brauchen, damit wir uns vor ihnen verneigen?« (ebd.: 380) 15
KOLONISATION UND KONSUM »Es ist kein Zufall, daß die neuzeitliche Aufklärung ihre kontrafaktischen Ideen vom guten Leben und der idealen Gesellschaft nicht mehr auf die Insel Utopia verlegt, sondern zu den Antipoden. Der ›gute Wilde‹, das verkörperte Ideal, bekommt konkrete Wohnorte weit über dem Meer. [...] Der Exotismus unserer Kultur ist die Kompensation der Schuld, die der Europäer als Profiteur der zivilisatorischen hardware in seinen ehrlichen Stunden ahnt.« (Nordofen 1987: 35ff.)
Rousseau (1712-1778) wendet als Kulturkritiker den Fortschrittsoptimismus in sein Gegenteil. Er kann somit bereits als Überwinder der Aufklärung angesehen werden. Seine Propagierungen einer Paradiesunschuld der Natur und eines ›von Natur aus‹ guten Menschen, dessen Entartungen auf das Schuldbuch der Zivilisation gehen, tragen bereits romantische Züge. »Der weniger zivilisierte Mensch trat in der Interpretation Rousseaus als der ›edle Wilde‹ in Erscheinung, der bessere und authentischere Mensch – natürlicher, glücklicher und freier. ›Natur‹ bedeutete für Rousseau Harmonie, Unversehrtheit und Ruhe; ›Kultur‹ stand dagegen für innere Widersprüche, Unruhe und unbefriedigte Sehnsüchte.« (van der Loo/van Reijen 1992: 85) 15
2. Begehrt, gehaßt, unterworfen – Entwurf des Fremden Mit der technischen Verbesserung von Navigationsgeräten und Kompaß entwickelte sich die Küstenfahrt zur Seefahrt. 1492 betritt Kolumbus zum ersten Mal die ›Neue Welt‹, im selben Jahr entwirft Martin Behaim den ersten Globus, nachdem aus dem griechischen Schrifttum die Kugelgestalt der Erde wieder entdeckt wurde. Der Arzt und Domherr Kopernikus findet 1507 das (mathematisch noch unbewiesene) heliozentrische Sonnensystem, Galilei wird es dann in der Folge praktisch nachweisen. »Während die Reformation das Christentum spaltete, zerbrach die Entdeckung Amerikas die Einheit der Welt. Der christliche Universalismus riß an zwei Stellen zugleich.« (Paul 1996: 158) Für die katholische Kirche stellte sich mit einem Mal das Problem,
15 Nach Lévi-Strauss, für den Rousseau »unser Lehrer, unser Bruder [ist, dem] jede Seite dieses Buchs [die Traurigen Tropen, S.N.] gewidmet sein könnte, wenn diese Ehrung des großen Meisters nicht unwürdig wäre« (Lévi-Strauss 1981: 386), ging es Rousseau darum, aufzuzeigen, ob die Übel, welche der ›gesellschaftliche Zustand‹ mit sich bringt, diesem inhärent sind oder ob es auch anders ginge. Wie Lévi-Strauss selbst auch suchte er nach den »unerschütterlichen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft.« (ebd.) Und Rousseau erkannte in der ›neolithischen Lebensweise‹ diejenige, welche am ehesten die Merkmale aufweist, die allen menschlichen Gesellschaften gemeinsam sind. Denn anhand ihrer ließe sich das Künstliche vom Ursprünglichen (= Natürlichen) trennen, dieser ›Idealzustand‹ den es niemals gegeben hat und wahrscheinlich auch nie geben wird, sollte ein Beurteilungsinstrumentarium für die eigene Gesellschaft abgeben. 16
KURZE VORGESCHICHTE DES FREMDVERSTEHENS
entscheiden zu müssen, ob die in der ›Neuen Welt‹ angetroffenen Indianer auch zur Kategorie ›Mensch‹ zu zählen seien oder nicht.16 Die Lust am System kannte keine Grenzen mehr, alles – Menschen und Erdoberfläche – wollte man vermessen und kartographieren, klassifizieren und analysieren. Um 1600 waren lediglich ca. 49 % der Erdoberfläche (und 32 % ihrer Landfläche) bekannt, um 1800 sind es bereits etwa 83 % (und 60 % der Landfläche). Dieses Klassifikationsraster war auf Totalität und Transparenz ausgerichtet und seine Instrumente stellten – um nur einige Beispiele zu nennen – das Museum, die Landkarte und die Volkszählung dar. »Der Kolonialstaat trachtete nicht allein danach, eine unter seiner Kontrolle stehende menschliche Landschaft von vollkommener Sichtbarkeit zu erschaffen; die Voraussetzung für diese ›Sichtbarkeit‹ bestand darin, daß jedermann und jedes Ding (gewissermaßen) eine Seriennummer besaß. Diese Art der Imagination fiel nicht vom Himmel. Sie war das technische Produkt von Navigation, Astronomie, Uhrmacherkunst, Landvermessung, Photographie und Druckwesen, um erst gar nicht von der treibenden Kraft des Kapitalismus zu sprechen.« (Anderson 1998: 159)
In dieser Form der Machtausübung begegnen wir dem totalitären Instrument der ›westlichen‹ Kolonialreiche. Doch verfolgen wir zunächst im historischen Feld der Aufklärung die Bedingungen für die Entstehung dieser Kolonialmächte. Im 18. Jahrhundert, der Epoche der Aufklärung, wurden Europa als der fortschrittlichste Teil der Welt und der europäische Mensch als Höhepunkt aller bisherigen Entwicklungsformen wahrgenommen. Möglichst viele Kreise sollten nun mit dem Fortschritt beglückt werden, »das humanistische Bildungsideal [trat] gegenüber dem Wissensdurst und wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse [...] in den Hintergrund. Die wissenschaftliche Expedition ersetzte die Kunst, zu reisen.« (Paul 1996: 127) Während im Humanismus die persönliche Bildung als Zweck einer Reise verstanden wurde, deren wichtigste Technik das Tagebuchschreiben war, wurde der Reisende nun zu einem durch die Akademien entsandten Forschungsinstrument, dessen Aufgabe es war, das nötige ›Füllmaterial‹ für die aufgestellten Theorien zu sammeln. Durch den Vergleich mit in zunehmender Weise entdeckten anderen Kulturen begann ›der Westen‹, sich als einzigartig wahrzunehmen. »Der wissenschaft16 Das Problem von Identität und Alterität tauchte mit der ›Spaltung der Welt‹ in ›Alte Welt‹ und ›Neue Welt‹ auf. Die ›Neue Welt‹ erschien damals »ohne Bewußtsein, als Reich der Zeitlosigkeit und Oralität [...], wohingegen die Alte Welt das Bewußtsein, die Zeitlichkeit und die Schrift [...] symbolisiert[e].« (Paul 1996:159) Der Anreiz, das andere Fremde verstehen zu wollen, wurde zum Grund und Sinn für das Entstehen eines endlosen wissenschaftlichen Diskurses. »Erst die Schrift kreiert den Wilden, den sie dressiert.« (ebd.) Die Ethnographie symbolisiert eine romantische Sehnsucht, dem unwiederbringlichen Ende zu entrinnen, indem sie schreibend festhält. »Doch die Wilden ethnographisch zu retten, heißt, sie zu Grabe zu tragen.« (ebd.: 160) 17
KOLONISATION UND KONSUM
liche Enthusiasmus des späten 18. Jahrhunderts und die mit ihm einhergehende Objektivierung des Blicks [führten dazu] [...], daß die Spätaufklärung als Geburtsstunde der modernen Anthropologie« (ebd.: 128) angesehen werden kann. Die Wissenschaft vom Menschen wurde als eine Naturwissenschaft, als eine Wissenschaft der Beobachtung, betrachtet. »Ein im 18. Jahrhundert weit verbreiteter Psychologismus setzte jedoch die ideelle oder gedankliche Deduktion der bestehenden aus den primitiven Verhältnissen mit deren tatsächlicher Entwicklung gleich.« (ebd.: 129) Damit wurden die Grundsteine einer evolutionistischen Theoriebildung des 19. Jahrhunderts gelegt, welche die koloniale Praxis legitimierte. Da die Europäer aufgrund ihres (sich selbst zugewiesenen) Status als ›Krone der Schöpfung‹ »die Geschichte hinter sich wußten, mußten die Primitiven das Glied zwischen den fossilen Menschen und dem modernen Menschen sein.« (ebd.: 131) Ein Wettstreit bahnte sich den Weg auf den Meeren, die europäischen Monarchien, durch Konkurrenzdruck untereinander angestachelt, befanden sich in einem Kopf-an-Kopf-Rennen zur Durchsetzung einer Welthegemonie. Die neu entdeckten Gebiete standen in selbstverständlicher Art und Weise dem Zugriff der Europäer offen, es ging nur darum, wer als erster ankam. Hinzu kamen die schier unerschöpflich erscheinenden, ökonomisch auszubeutetenden Ressourcen der neuen Gebiete. Der spanische Eroberer Hernán Cortez (1485-1547) drückte es so aus: »Wir Spanier [...] leiden an einer Krankheit, die nur Gold heilen kann.« (zit. nach Hall 2000: 147) Die neu entdeckte Welt wurde von den europäischen Eroberern in eigenen kulturellen Kategorien dargestellt, Fremdartiges wurde in Analogie zu Bekanntem erklärt. Das führte natürlich zu erheblichen Verzerrungen. »Besonders deutlich zeigt dies der Gebrauch von Analogien zur Beschreibung des ersten Zusammentreffens mit sonderbaren Tieren: Pinguine und Seehunde wurden als Gänse beziehungsweise Wölfe beschrieben, der Tapir als Stier mit einem Rüssel wie ein Elefant.« (ebd.: 158) Den angetroffenen Menschen erging es nicht viel besser, sie wurden als »Menschen mit Hundeköpfen, die sich bellend unterhalten« (ebd.: 157) beschrieben, viele hatten »so große Unterlippen, daß sie ihr ganzes Gesicht damit bedecken [konnten oder liefen] gebückt wie Vieh [und lebten] vierhundert Jahre lang«. (ebd.) Diese exotischen Geschichten wurden von den Daheimgebliebenen begierig aufgesogen. Die Diskurse über den Teil der Welt außerhalb Europas schöpften vor allen Dingen aus religiösen und biblischen Quellen, aus der Mythologie und besagten ›importierten‹ Reiseberichten. Im Laufe der Zeit verbesserten sich jedoch Beobachtung und Genauigkeit der Beschreibungen, die mittelalterliche Angewohnheit, in Analogien zu denken, machte nüchterneren Darstellungen Platz, das Bedürfnis nach Präzision wuchs. Die ersten Ethnographien entstanden. Abenteuerlust mag der eine Antriebsmotor dieser frühen Entdeckungen gewesen sein, der andere war aber zweifellos der Wille, die Wurzeln der eigenen Zivilisationsgeschichte auszugraben. Zu dieser Zeit wurden andere Kulturen gerne 18
KURZE VORGESCHICHTE DES FREMDVERSTEHENS
als Möglichkeit angesehen, in ihnen in ›Echtzeit‹ die ›Lebensweise der Urmenschen‹ studieren zu können. Die »Ende des 19. Jahrhunderts in Australien forschenden Ethnographen Gillen und Spencer, auf deren Publikationen Durkheims Elementare Strukturen des religiösen Lebens aufbauen, [wähnten sich] in der Steinzeit.« (Paul 1996: 131) Diese Degradierung der ›Wilden‹ zu Überbleibseln aus den Anfängen der Menschheitsentwicklung zog eine Herabwürdigung ihrer individuellen Zurechnungsfähigkeit nach sich – man stellte für sie die Gleichung »Kindheitsstadium der Menschheit = Unvernunft = Kinder, Idioten, Analphabeten« (Hall 2000: 171) auf.17
3. Die Erzeugung des Selbst durch Fremdwahrnehmung – Die Monster und ihre Opfer Eine geradezu grotesk anmutende Episode europäischer Kolonialgeschichte stellte die Inszenierung von »Menschenzoos« (Bancel/Blanchard/Lemaire 2000: 16) dar. Diese zwischen 1889 und dem zweiten Weltkrieg sehr beliebten ›Massenmagneten‹ führen exemplarisch den dominanten und menschenverachtenden Zeitgeist vor Augen. Die Behandlung der ›Eingeborenen‹ als »Tiere in menschlicher Gestalt [...], ohne die Macht der Vernunft und das Wissen von Gott« (Hall 2000: 165) degradierte sie in einen Zustand ›natürlicher Untertanen‹. Um ein Beispiel zu nennen: zur Bekämpfung seiner Kassenflaute veranstaltete der Jardin Zoologique d'Acclimatation zwischen 1877 und 1912 ganze dreißig solcher ›ethnologischer‹ Ausstellungen – mit ausgesprochen großem Erfolg. Und bei der Pariser Weltausstellung 1889 war das ›Negerdorf‹ mit 400 ›authentischen‹ Eingeborenen neben der Einweihung des Eiffelturms die größte Attraktion.18 Durch diese Art und Weise, mit dem Anderen, Fremden umzugehen, wurden zugleich zwei Elemantarinteressen befriedigt. Zum einen wurde mit der Inszenierung und Zurschaustellung der ›offen17 Hall weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß sich die Denkmodelle von Marx und Weber auch sehr stark an diesem Raster orientieren. Ihnen sei gemeinsam, daß beiden Argumentationen eine – aus heutiger Sicht völlig unzulässig reduktionistische – Vorstellung einer ›asiatischen Produktionsweise‹ zugrunde liege. So stellte Weber den ›Islam‹ und ›Westeuropa‹ dualistisch einander gegenüber und arbeitete damit ein erklärendes Entwicklungsmodell heraus, wie es zum Übergang zu Kapitalismus und Modernität kommen konnte. Als entscheidende Faktoren werden von ihm u.a. ›asketische Religionsformen‹, ›rationale Gesetzesformen‹, ›freie Arbeit‹ und das ›Wachstum der Städte‹ genannt. All das würde ›dem Islam‹ seiner Ansicht nach fehlen. Und nach Marx stellt der kapitalistische Kolonialismus eine zwar bedauernswerte, aber historische Notwendigkeit für alle Gesellschaften dar, da nur durch ihn Entwicklungen ausgelöst werden könnten. Dieses Argument diente vielen klassischen Marxisten zur Legitimation der Durchsetzung eines Weltimperialismus. Siehe dazu: Hall 2000: 175ff. 18 Siehe dazu: Bancel/Blanchard/Lemaire 2000: 16. 19
KOLONISATION UND KONSUM
sichtlichen‹ Rückständigkeit der kolonialisierten Völker eine Legitimation zur ›Zivilisierung‹, sprich Kolonialisierung erwirkt. Die neu eintreffenden ›Lieferungen‹ deckten sich dementsprechend auch fast immer mit gerade neu besetzten Gebieten.19 Und nicht zuletzt ließ sich durch die ›animalische Abartigkeit‹ der entdeckten Völker auch die angewendete Gewalt besser rechtfertigen.20 Diese Inszenierungen zur Hervorhebung der angeblichen Gegensätze, welche unvereinbar beide Welten – die rationale und die irrationale – trennten, bildeten auch die Grundlage für die Befriedigung des zweiten Elementarinteresses: die ›Exotismuslust‹ der Schaulustigen zu bedienen. Ganz nebenbei ließ sich dadurch auch noch zu Hause etwas mit der imperialen Praxis verdienen. Daß durch diese Präsentationsform ein ganz eigener Zugang zum Fremdartigen geschaffen wurde, läßt sich leicht nachvollziehen: Selbst beim bürokratiedrangsalierten, biedermännischen Untertanen im eigenen Land konnte sich da noch ein Überlegenheitsgefühl einstellen. »Systematisch wurde das Bild vom minderwertigen Eingeborenen in Umlauf gebracht [...]. Das Beweismaterial ließ keinen Zweifel, denn man konnte es mit eigenen Augen sehen: Dies sind Wilde [...]. Alle großen Zeitungen [...] präsentierten die exotischen Bevölkerungsgruppen [...] als Überbleibsel aus den Anfängen der Menschheitsentwicklung.« (Bancel/Blanchard/Lemaire 2000: 16) Das sozialdarwinistische Paradigma mit der dazugehörigen propagierten Theorie der Ungleichheit tat das Übrige, um diese Art von Weltzugang und Umgang mit Fremdheit entstehen zu lassen. So postulierte Graf Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882), französischer Schriftsteller und Diplomat, dessen Schriften u.a. von Friedrich Nietzsche und Richard Wagner rezipiert wurden, daß Schönheit der Körperformen, Körperkraft und Intelligenz einzig und allein bei der weißen Rasse gemeinsam anzutreffen seien.21 Edward Said stellt für die damalige Zeit fest: »Physiologische und moralische Charakteristika werden mehr oder weniger gleichmäßig verteilt: der Amerikaner ist ›rot, cholerisch, aufrecht‹, der Asiate ›gelb, melancholisch, rigide‹, der Afrikaner ›schwarz, phlegmatisch, schlaff‹. Aber solche Bezeichnungen erhalten Macht, wenn sie später im 19. Jahrhundert mit dem Charakter der Abteilung des genetischen Typs verbunden werden.« (Said 1981: 137f.)
Wohl kaum ein anderes Beispiel führt anschaulicher die Doppelgesichtigkeit der kolonialen Epoche vor Augen: von einem Augenblick zum anderen konnte sich das ›verherrlichte Naturparadies‹ in eine ›barbarische Hölle‹ verwandeln. Beide Vorstellungen vom Fremden waren in ihrer Opposition als Teil eines 19 Siehe dazu: ebd.: 17. 20 An ›Abartigkeiten‹ hob man besonders gerne die angeblichen sexuellen Perversionen und Ausschweifungen der ›Eingeborenen‹ hervor, welche sich hervorragend zur puritanischen Ehemoral kontrastieren ließen. Ein anderes gesellschaftliches Tabu wurde erheblich verletzt, indem man den ›Eingeborenen‹ unterstellte, Kannibalismus zu betreiben. 21 Siehe dazu: Bancel/Blanchard/Lemaire 2000: 16 20
KURZE VORGESCHICHTE DES FREMDVERSTEHENS
»Systems der Streuung« (Hall 2000: 165) systematisch aufeinander bezogen. In den sozialdarwinistischen Stammbaum wurde alles eingeordnet, was gefunden werden konnte, und es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis man den anderen ihre eigenen ›Bäume‹ zugestehen wollte. Ohne den ›Rest der Welt‹ wäre es dem ›Westen‹ nicht möglich gewesen, sich selbst die Krone der weltzivilisatorischen Entwicklung aufzusetzen, das ›nicht-europäische Andere‹ war die dunkle Seite, das Gegenbild der Aufklärung. Dieses historische Feld bildete den epistemologischen Rahmen22 für die Geburt der Wissenschaft Ethnologie.23 »Jeder auch nur kursorische Blick auf die Geschichte der Ethnographie offenbart zum einen ihre humanistische Herkunft, zum anderen [...] ihre Verquickung mit dem Kolonialismus.« (Paul 1996: 133) 24 Die Ethnologie wird damit zu einer Zwillingsgeburt des Kolonialismus und der Aufklärung. Gleichzeitig mit der »Konstitution der Ethnologie als moderner Sozialwissenschaft wird die Erforschung der in Übersee eroberten Gebiete staatlicherseits protegiert. Die Kenntnis der Wilden sollte ihre Unterwerfung erleichtern.« (ebd.) Karl-Heinz Kohl nennt zwei Beispiele, wie ethnologisches Gedankengut in den Fundus der jeweils erforschten Völker übernommen und so zu einem entscheidenden Faktor der Selbstlegitimation werden konnte. Bei den Hutu und Tutsi in Ruanda betrieben erstere traditionellerweise Feldbau und letztere Viehzucht. Die Viehbesitzer gehörten auch zum größten Teil der herrschenden ›Adelsklasse‹ an, während die Hutu ihr Vasallenvolk bildeten. Die Kolonialbeamten sahen in den Tutsi nun die idealen Bündnispartner und statteten sie mit zahlreichen Privilegien aus. Außerdem fühlten sie sich mit ihnen »gewissermaßen wahlverwandt. In ihnen glaubten sie die Nachkommen einer ›höhe22 Zur Begrifflichkeit der Episteme siehe FN 43 in diesem Band. 23 Mit ›Ethnologie‹ ist im deutschen Wissenschaftskontext das Feld der sogenannten ›Außereuropäischen Ethnologie‹ bzw. der ›Völkerkunde‹ gemeint. Das Feld der ›Europäischen Ethnologie‹ (oder ›Volkskunde‹) fokussiert zumeist andere Themen und hat eine andere Wissenschaftsgeschichte. Wer von der ›deutschen Ethnologie‹ spricht, begeht selbstverständlich einen eigentlich unzulässigen diskursiven Reduktionismus, welcher dem Fach sicherlich nicht gerecht werden kann. Aus analytischer Perspektive kann hier aber auf diese reduktive Terminologie nicht verzichtet werden. Stuart Hall weist darauf hin, daß diskursive Werkzeuge dieser Art weniger der Abbildung der Realität dienen als ihrer Klassifikation. (siehe dazu Hall 2000: 138) Ebenso muß es an dieser Stelle genügen, darauf hinzuweisen, daß bekanntermaßen erhebliche Differenzen bestehen zwischen der amerikanischen Cultural Anthropology, der englischen Social Anthropology und der deutschen Ethnologie. Die jeweiligen Abgrenzungen zur Anthropologie, Soziologie, Volkskunde usw. sind im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext gewachsen und wurden jeweils durch ganz eigene Erkenntnisinteressen hervorgebracht. 24 Wenn hier und an anderer Stelle der Begriff ›Ethnographie‹ anstelle von Ethnologie verwendet wird, so liegt in der Begrifflichkeit Ethnographie eine stärkere Konnotation auf der (be)schreibenden Tätigkeit des Ethnologen. 21
KOLONISATION UND KONSUM
ren hamitischen Rasse‹ zu erkennen.« (Kohl 1998: 278) Immer wieder wurden Spekulationen darüber angestellt, »ob diese den Europäern in ihren Attitüden so gleichende ›Herrenrasse‹ aus Äthiopien, Ägypten oder gar aus Asien nach Schwarzafrika eingewandert sei.« (ebd.) Seitdem berufen sich die Tutsi zur Legitimation ihrer Herrschaftsansprüche auf diese evolutionistische Abstammungstheorie. Das andere Beispiel stammt aus dem Bereich des Diffusionismus.25 Die neuseeländische Maoritanga-Bewegung definiert ihre Abstammung über eine Gruppe von Maori, welche »um 1350 auf sieben großen Schiffen von einer der Gesellschaftsinseln nach Neuseeland gelangt sei.« (Kohl 1998: 279) Dieser Ursprungsmythos ist zum ersten Mal in Quellen Mitte des 19. Jahrhunderts belegt. Der britische Gelehrte Percy Smith sammelte zu dieser Zeit verschiedene Mythen und deutete sie so aus, daß sie in sein diffusionistisches Weltbild, nach welchem Ägypten das Ursprungsland sämtlicher menschlicher Kultur gewesen sein soll, paßten.26 »Aufschlußreich ist nun jedoch, wie die Maori-Aktivisten auf diese ›Enthüllung‹ reagierten – wiesen sie doch alle Einwände [...] als einen Versuch postkolonialer Bevormundung zurück.« (Kohl 1998: 280) 27
4. Die konstruierte Identität Borobudurs Symbole besitzen in erster Linie die Eigenschaft, daß ihnen ein ungemein hohes Identifikationspotential innewohnt. Anderson führt in Die Erfindung der Nation vor Augen, wie ein an sich völlig unbedeutendes Bauwerk zu dem nationalträchtigen Symbol Indonesiens gemacht wurde – der Tempel Borobudur. Um die Beweggründe dafür nachvollziehen zu können, muß etwas weiter ausgeholt werden. Im frühen 19. Jahrhundert entwickelten die kolonialen Herrscher Südostasiens plötzlich ein starkes Interesse an antiken Monumenten und das hatte seinen Grund. Dieses Verhalten läßt sich einordnen in eine umfassendere Geistes25 Der Diffusionismus war bestrebt, anhand bestimmter Kulturmerkmale wie Paddelruder oder Pfeilspitzen ›Kulturkreise‹ mit einem Ursprungs- und Ausbreitungszentrum zu definieren. Kriterien dafür waren Form, Funktion und Häufigkeit des betrachteten Gegenstandes. 26 Das war im übrigen eine durchaus gängige Methode, so schickte auch Pater Wilhelm Schmidt (1868-1954), Begründer der ›Wiener Schule‹ und Gründer der heute noch namhaften Zeitschrift Anthropos, seine Schüler aus, um das passende Datenmaterial für seine Dekandenztheorie vom Urmonotheismus und der Urmonogamie, an der er übrigens bis zu seinem Tode festhielt, zu sammeln, welches er dann am Schreibtisch einfügen konnte. 27 Ein anderes Beispiel stelle die »auf eine ursprünglich europäische Vorstellung zurückgehende Mother-Earth-Ideologie indianischer Ethnien« dar. (Kohl 1998: 280) 22
KURZE VORGESCHICHTE DES FREMDVERSTEHENS
haltung dieser Zeit: der Wille zur Herrschaftslegitimation durch Berufung auf eine Historie, welche freilich erst erschaffen wurde. Mit dieser »neuen kolonialen Archäologie des 19. Jahrhunderts« (Anderson 1998: 154) wurde eine gewaltige Vergangenheit ausgegraben, es entstanden überall Museen. Eine Stimme dieser Zeit, Vizekönig Curzon, welcher von 1899-1905 in seinem Amt weilte und mit der archäologischen Erfassung Britisch-Indiens befaßt war, repräsentiert den Zeitgeist folgendermaßen: »›Es ist [...] gleichfalls unsere Pflicht, zu graben und zu entdecken, zu klassifizieren, zu reproduzieren und zu beschreiben, nachzuahmen und zu entziffern, zu pflegen und zu bewahren.‹« (zit. nach ebd.: 225) Man hatte erkannt, daß der Besitz eines alterwürdigen historischen Erbes prestigespendend und identitätsstiftend ist. Da das Ansehen der Kolonie in engem Zusammenhang mit dem des ›Heimatlandes‹ stand, beobachteten sich die rivalisierenden Kolonialmächte bei der Ausgrabung der Vergangenheit ihrer Reiche gegenseitig aufs Genaueste und stachelten sich in ihrem Entdeckerdrang antiker Altertümer untereinander noch an. Im Laufe der Zeit war »immer weniger offen vom Recht auf Eroberung die Rede, [...] es wurden statt dessen immer größere Anstrengungen unternommen, andere Legitimationsformen zu entwickeln. [Die] beträchtlichen Gelder, die hier investiert wurden, erlauben uns die Vermutung, daß der Staat seine eigenen, nicht-wissenschaftlichen Beweggründe hatte.« (ebd.: 156/55) Während man sich also vorher in ›Echtzeit‹ im geographischen Raum ausbreitete, ging man nun sowohl historisch wie auch räumlich ›in die Tiefe‹. Das Interesse des Staates an diesen archäologischen Rekonstruktionen erzeugte einen weiteren praktischen Nebeneffekt. Die ursprünglichen Erbauer der wiederentdeckten historischen Monumente wurden gegenüber den aktuell lebenden Unterworfenen in eine höhere Hierarchieposition eingeordnet. »Unter dieser Perspektive gesehen, schienen die rekonstruierten Monumente, die inmitten ländlicher Armut standen, den Einheimischen zuzurufen: Eure bloße Gegenwart zeigt, daß ihr schon immer – oder schon sehr lange – unfähig gewesen seid zu wahrer Größe oder Souveränität.« (ebd.: 156) Indem man eine Mythologie über die ethische Zugehörigkeit der Erbauer verbreitete – die nicht unbedingt einer anderen ›Rasse‹ als der der Einheimischen angehörten, man spekulierte auch über Dekadenzentwicklungen, um sich die ›Primitivheit‹ der Einheimischen erklären zu können – entwarf man einen mythischen Ursprung. Der Tempel Borobudur kann als ein exemplarisches Zeichen solch konstruierter nationaler Identität angesehen werden. Die indonesische Staatsideologie übernahm gewisse Herrschaftspraktiken von ihren kolonialen ›Vorfahren‹ und sorgte dafür, daß dieses Symbol einen »unmittelbaren Wiedererkennungswert« erlangte, indem man es zur »Staatsinsignie« und zum »Logo« (ebd.: 158) machte. »Borobudur ist als Zeichen nationaler Identität um so vieles mächtiger, weil sich jedermann seiner Lokalisation in einer unendlichen Reihe identischer Borobudurs bewußt ist.« (ebd.) Der Staat schuf sich mit diesen replizierbaren Serien antiker Monumente ein »Album über seine Vorfahren, [welches eine] historische Tiefe [mit] sichtbare[r]
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KOLONISATION UND KONSUM
Erinnerungspotenz und unendliche[r] Reproduzierbarkeit« (ebd.: 160) ermöglichte. Weitere Mittel, die Erdoberfläche und die sich auf ihr befindlichen Menschen28 zu kontrollieren, waren (neben den archäologischen Ausgrabungen und ihren Einordnungen in Museen) die Landkarte und der Zensus, welche ›den Indonesier‹ und ›Indonesien‹ – hier exemplarisch stehend für alle Nationen und ihre Angehörigen – hervorbrachten. »Der ›Leitfaden‹ dieses Denkens bestand in einem auf Totalität ausgelegten Klassifikationsraster, das mit unendlicher Flexibilität auf alles angewendet werden konnte, was unter der tatsächlichen oder angestrebten Kontrolle des Staates stand. [...] Die Wirkung dieses Rasters bestand darin, immer von etwas sagen zu können, daß es dieses und nicht jenes ist, daß es hier an diese Stelle gehört und nicht an jene.« (Anderson 1998: 159)
Identität ist nichts an sich Gegebenes, sie ist das Ergebnis eines Prozesses, einer Identifikation. Sie besitzt einen eigentümlichen Doppelcharakter: Während sie den Anschein erweckt, immer schon da zu sein, muß sie im Gegenteil erst hergestellt werden. Genauso wie sie hergestellt werden kann, kann sie auch wieder verloren gehen. Der Prozeß der Identitätsbildung verarbeitet mehr oder minder deutliche Unterschiede zwischen sozialen Gruppen, so werden Hautfarbe, Sprache und Gewohnheiten zum Ausgangspunkt einer aktiven Unterscheidung in Wir und Andere. Fasziniert diese Andersartigkeit, so wird sie exotisiert oder sie wird in Aufwertung des Eigenen als minderwertig abgetan. Identitäten werden diskursiv erschaffen. Kollektive Identitätsfindung und Abgrenzung von anderen Nationen und Kulturen gehören somit eng zusammen: »Imaginäre Schemata wie das von Kultur oder Nation zwingen zusammen, was sich unterscheidet. Sie subsumieren, was für sich bestand, und reduzieren auf einen Punkt, was Spuren auch von anderem zeigt; sie suggerieren Einheit auch dort, wo Gegensätze bestehen, und erstreben ein klar umrissenes, kontrollierbares Terrain. Und doch erringen sie eine gesellschaftliche Gültigkeit, werden angenommen und erlangen im Handeln ihre ›Wahrheit‹ und ihre [...] soziale Definitionsmacht.« (Fuchs 1998: 120)
28 Erdoberfläche und die sie bevölkernden Menschen gehörten in der Wahrnehmung lange Zeit zusammen. So war die Völkerkunde bis zur Gründung des ersten Instituts für Völkerkunde 1901 in Leipzig Teilgebiet der Geographie. Und auch heute noch sind die geschichtlichen Entstehungsbedingen wirksam: So ist beispielsweise das Freiburger Institut für Völkerkunde der geowissenschaftlichen Fakultät zugeordnet. In der DGV (Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde) diskutiert man seit einiger Zeit, ob die Begrifflichkeit ›Völkerkunde‹ überhaupt noch ethisch tragbar sei und man die Gesellschaft nicht in ›Deutsche Gesellschaft für Ethnologie‹ umbenennen müsse. 24
KURZE VORGESCHICHTE DES FREMDVERSTEHENS
Kulturalistische Erklärungen für soziale Phänomene sind nicht grundsätzlich abzulehnen, denn auch eine Kultur, die konstruiert ist, hat starken Einfluß auf die Gesellschaft. Es ist zu einem gewissen Grad unwichtig, ob die kulturellen Eigenschaften authentisch sind oder nicht, denn sie erzielen in jedem Fall ihre Wirkung der Identitätsstiftung.
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II. G R E N Z E , E T H N I Z I T Ä T U N D F R E M D H E I T Forschungsgegenstand der Ethnologie ist, wie der Begriff bereits andeutet, die Ethnie. ›Ethnizität‹ hängt eng zusammen mit ›Grenze‹ und ›Fremdheit‹. »Unter ›Ethnos‹ oder ›Ethnie‹ – ein Begriff, in dem sprachgeschichtlich die Fremdheit des Untersuchungsgegenstands mithin bereits anklingt – wird in der Ethnologie heute eine Menschengruppe mit gleicher Kultur, gleicher Sprache, Glauben an eine gleiche Abstammung und ausgeprägtem ›Wir-Bewußtsein‹ verstanden. [...] Oft ist es sogar erst dieses ›Wir-Bewußtsein‹ selbst, das den Glauben an eine gemeinsame Abstammung erzeugt.« (Kohl 1998: 270f.)
Ein ›Wir-Bewußtsein‹ kann sich aber nur in Unterscheidung zu anderen herausbilden. Diese Abgrenzung von Anderen ist geprägt von einem komplementär-oppositionellen Charakter, denn »über Zugehörigkeit und Solidarität entscheidet das jeweilige Gegenüber.« (Streck 1992: 101) Das wußte schon Edward E. Evans-Pritchard zu berichten, den die britische Kolonialverwaltung in den 1930er Jahren in den Südsudan geschickt hatte, um zu erforschen, warum die Nuer und Dinka sich nicht vom ansonsten erfolgreich praktizierten Prinzip der ›indirekten Herrschaft‹ 29 befrieden ließen, sondern sich anstelle dessen völlig wider Erwarten die vormals untereinander verfeindeten Klane zusammenschloßen, um gemeinsam gegen die Fremdherrschaft vorzugehen. Dabei stellte er fest, daß gerade die Existenz einer politischen Zentralinstanz dort deshalb nicht notwendig war, weil statt dessen das oppositionelle Segmentationsprinzip Solidarität stiftete. Dieses geht nach dem Muster »Ich gegen meine Brüder. Ich und meine Brüder gegen unsere Vettern. Ich, meine Brüder und meine Vettern gegen den Rest der Welt« (Kohl 1998: 274) vor. Evans-Pritchard nannte das »regulierte Anarchie«. (zit. nach ebd.) Wir müssen nicht so weit in Zeit und Raum reisen, vor unserer Haustür finden wir das Funktionieren desselben Prinzips: »Spielen die Fußballvereine zweier [...] Nachbarstädte gegeneinander, dann steht gar nicht in Frage, mit welcher Mannschaft sich die Stadionbesucher jeweils identifizieren werden. Tritt aber Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Nürnberg an, dann werden die Sympathien der Offenbacher eher dem hessischen Verein, die der Fürther aber dem ihrer fränkischen Nachbarschaft gelten. Bei Auslandsspielen verschieben sich die Solidaritätslinien erneut. Hooligans, die sich in deutschen Fußballstadien 29 ›Indirekte Herrschaft‹ wurde ausgeübt, indem die Kolonialregierungen lokale Stammesführer ökonomisch oder politisch begünstigten und sie somit auf ihre Seite zogen. Durch diese Vorgehensweise wurden effektive Organisation und Verwaltung ermöglicht.
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KOLONISATION UND KONSUM Samstag für Samstag erbittert bekämpfen, verbrüdern sich miteinander.« (Kohl 1998: 275)
Wir sehen also, wer oder was der Forschungsgegenstand der Ethnologie ist, läßt sich mitunter nur vorübergehend eingrenzen.
1. Grenzen und Solidaritätslinien Grenzen zu ziehen, und damit ein Außerhalb von etwas zu schaffen, wo es vormals keine Trennung gab, bedeutet zugleich, etwas Neuem zur Existenz zu verhelfen. Der Akt des Beginnens von etwas Neuem beinhaltet einen Akt des Begrenzens, denn es wird auf einige Teile der Wirklichkeit ein Licht geworfen und andere werden im selben Moment im Schatten versenkt. Die Grenze läßt sich als ein Zwischenraum verstehen, welcher die Erschließung von Wirklichkeiten ermöglicht. »Genaugenommen haben anorganische Körper keine Grenze, sondern sie hören da auf, wo etwas anderes anfängt. Grenze ist das ›leere Dazwischen‹, das weder zum einen noch zum anderen Ding gehört.« (Eßbach 1994: 17) Die Grenze erschafft Identitäten und Verortungen oder, wie Martin Heidegger es ausdrückte: »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.« (Heidegger 1967: 29) Die Grenzziehungen der abendländischen modernen Gesellschaft in Fremdes und Eigenes stellen insofern eine kollektive Konstruktion dar, als sie ein kulturelles Produkt sind. Daraus resultiert, daß sie künstlich gezogen sind, um hinterher natürlich zu erscheinen. Läßt man gezogene Grenzen, nachdem die Tatsache ihrer Errichtung in Vergessenheit geraten ist, als natürlich erscheinen, als unverrückbar und objektiv, so entzieht man sie damit der prinzipiellen Veränderbarkeit. In diesem Sinne erschuf die Methode der teilnehmenden Beobachtung, welche zentraler Untersuchungsgegenstand meines Textes sein soll, »das Andere als Objekt intimer und systematischer wissenschaftlicher Betrachtung überhaupt erst richtig: ›othering‹ durch Distanzierung, Kontextualisierung, Eingrenzung.« (Berg/Fuchs 1999: 35) 30 Die Verortung der Kultur des Abendlandes ergibt sich aus der Konstruktion ihrer Grenzen zum Eigenen und Normalen. Michel Foucault hat in unermüdlicher Archivarbeit nachgewiesen, wie die ›Abtrennung der Vernunft‹ 31 vom Wahnsinn von statten ging. Sein Anliegen wird bereits im Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft deutlich, wenn er Dostojewski zitiert: »Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, daß man seinen Nachbarn einsperrt.« (Foucault 1978b: 7) 32 Ebenso wie 30 Zur Methode der teilnehmenden Beobachtung siehe ausführlicher das Kapitel III.2. 31 Siehe dazu Foucault 1978b. 32 Die Feststellung Foucaults, daß der Wahnsinn somit ein soziales Produkt, eine Erfindung sei, enthält einen Seitenhieb auf die Psychatrie, denn wenn der Wahn28
GRENZE, ETHNIZITÄT UND FREMDHEIT
der Wahnsinn zum Spiegel der Vernunft wurde, wurden die Wilden zum Spiegel für die eigene Gesellschaft. Veredelt dienten die Erzählungen über sie als zivilisationskritisches Instrumentarium, sollte eine Aufwertung des Eigenen erzielt werden, wurden aus ihnen Barbaren. Insofern ist ihre Existenz als Imagination von Bedeutung. Aber wenn ›wir‹ uns nur ein Bild von ›ihnen‹ machen, gilt es zu hinterfragen, was erforscht wird und welches Erkenntnisinteresse dabei zur treibenden Kraft wird. Daß Grenzen gezogen werden, kann wohl als eine anthropologische Grundkonstante angesehen werden, die jeweilige Sinnbesetzung ist jedoch kulturspezifisch. Fremde wurden schon immer begehrt oder verachtet, je nach gesellschaftlicher Eigenkonstitution. Die Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem findet zunächst durch definitorische Macht, durch diskursive Eingrenzungen statt, bis sie zu sozialer Wirklichkeit gerinnt.33 Wer die Definitionsmacht hat, der zieht die Grenzen.34 Es ist so, weil wir denken, daß es so ist. Deshalb kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß der subjektiv gemeinte Sinn fehlerfrei übertragbar ist. Um sich im Bereich des ›Fremdverstehens‹ vor einem dogmatischen Relativismus zu schützen, der ebenso wenig angebracht ist wie unbelehrbarer Objektivismus, sollte die Position mitreflektiert werden, daß kulturelles Fremdverstehen immer nur eingrenzend und annähernd möglich ist, die Brille der eigenen Kultur, das kontrastive Empfinden also, nicht abgesetzt, höchstens eine weitere hinzugefügt werden kann.
2. Beobachtung, Befragung, Analyse Die Ethnologie ist eine Wissenschaft der Beobachtung, der Befragung und der Analyse und insofern der Psychoanalyse verwandt.35 Deshalb zunächst einige Worte zu modernen Beobachtungsformen. sinn keine biologische Determination in der Natur des Menschen besitzt, dann geriet damit das methodische Fundament der psychatrischen Behandlung ins Wanken. 33 Der Diskursbegriff umgeht das Dilemma, entscheiden zu müssen, welche Aussagen wahr oder falsch sind: Es gibt keine Wahrheit, da Wertungen in Aussagen eingehen und konkurrierende Diskurse produziert werden. Der dominante Diskurs setzt sich schließlich durch und gilt dann als wahr. Der gleiche Diskurs kann von unterschiedlichen Gruppen mit je eigenen Interessen gebraucht werden. 34 In diesem Zusammenhang weist Martin Fuchs darauf hin, daß ein »machtvoller Diskurs andere Diskurse zwingt, sich in dem dominanten Idiom auszudrücken. [...] Übersetzung wird so zur Verdrängung, und im Kampf um die Anerkennung der eigenen Botschaft bringt Übersetzung bestimmte Seiten des Eigenen zum Verschwinden.« (Fuchs 1998: 132) Siehe dazu auch Bourdieus Analyse des Kolonialherr/Beherrschter-Gesprächs in: Bourdieu/Wacquant 1996: 177f. und Kapitel II. 5 des vorliegenden Textes. 35 Siehe dazu auch das Kapitel »Psychoanalyse, Ethnologie« in Die Ordnung der Dinge. (Foucault 1999a: 447-462) 29
KOLONISATION UND KONSUM
In Überwachen und Strafen beschreibt Foucault, wie architektonische Grenzziehungen gleichsam ins Innere übertragen werden. Durch Disziplinarmaßnahmen und militärischen Drill war es nicht mehr notwendig, daß der moderne Mensch ständig kontrolliert und überwacht wurde, denn aufgrund der Gewißheit, jederzeit beobachtet werden zu können, beobachtete er sich selbst. Der Beobachtete hat dabei keine Möglichkeit, den Blick zurück zu geben, es bleibt bei einseitiger Machtausübung.36 Die Isolation in der Zelle verhindert außerdem einen Austausch mit den Leidensgenoßen: »Er wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation.« (Foucault 1994a: 257) Der Panoptismus 37 errichtete ein Gefängnis im Inneren. Die Seele des modernen Menschen wurde zum »Effekt und Instrument einer politischen Anatomie« (Foucault 1994a: 42). Sie ist nunmehr »Gefängnis des Körpers« (ebd.: 42). Durch die Selbstbeobachtung nimmt dieser neue Mensch eine historisch neuartige Distanz zu sich selbst ein, er entfremdet sich und wird zugleich maschinell nutzbar und berechenbar. Mit minimalem Einsatz kann ein maximaler Disziplinareffekt ausgeübt werden. Eingegliedert als ein kleines Rädchen unter vielen in das große Getriebe der modernen Maschinerie nimmt der Mensch nun seine funktionale Stellung ein. Durch Spezialisierung und Differenzierung der Fähigkeiten und eine gleichzeitige Anonymisierung der Agierenden füllt er eine jederzeit ersetzbare Stelle aus. Indem die Marter abgeschafft und humanere Konzepte der Bestrafung eingeführt wurden, verlagerte sich die Züchtigung ins Innere des Menschen. Diese Form der Perfektionierung der Machtausübung, das automatische Funktionieren der totalen 36 Kafka beschreibt die Unterwerfung unter den modernen Bürokratismus und das Ungleichgewicht der gegenseitigen Sichtbarkeit, das dadurch ausgelöste Gefühl der Hilflosigkeit und die Absolutheit des Ausgeliefertseins sehr anschaulich in Das Schloß: »Wenn K. das Schloß ansah, so war es ihm manchmal, als beobachte er jemanden, der ruhig dasitze und vor sich hinsehe, nicht etwa in Gedanken verloren und dadurch gegen alles abgeschlossen, sondern frei und unbekümmert, so als sei er allein und niemand beobachte ihn, und doch mußte er merken, daß er beobachtet wurde, aber es rührte nicht im geringsten an seiner Ruhe, und wirklich – man wußte nicht, war es Ursache oder Folge –, die Blicke des Beobachters konnten sich nicht festhalten und glitten ab.« (Kafka 1996: 114) 37 Der architektonische Entwurf des Panoptikums stammt von Jeremy Bentham. Obwohl es nie in seiner ursprünglich beabsichtigten Form erbaut wurde, stellt das Panopticon die perfekte symbolische Verkörperung des Disziplinarmechanismus dar: Es gibt ein Beispiel dafür, wie Macht durch Raumaufteilung wirken kann. Inmitten eines ringförmigen Gebäudes befindet sich ein Überwachungsturm, von welchem der Aufseher jederzeit die Insassen beobachten kann. Der Clou besteht darin, daß die Inhaftierten selbst nicht wissen können, wann sie dem kontrollierenden Blick ausgesetzt sind und daß sie infolgedessen die Beobachtung verinnerlichen. Mit Panoptismus bezeichnet Foucault die omnipräsente und alles durchdringende Unterwerfung unter die Überwachung durch eine neue Form der disziplinierenden politischen Macht-ausübung, welche sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert manifestierte. 30
GRENZE, ETHNIZITÄT UND FREMDHEIT
Sichtbarkeit, bewirkte paradoxerweise, daß »ihre tatsächliche Ausübung überflüßig« (ebd.: 258) gemacht wurde. Das moderne Individuum, »abhängig in seiner Unabhängigkeit« (Kamper 1985: 29), ist dazu verurteilt, seine Existenz in isolierter Freiheit zu verbringen, es ist »Ort der Reflexion und selbst reflexive Wirklichkeit, Ort der Selbstkontrolle und der Selbsttäuschung« (ebd.). Der Lebensraum der modernen Gesellschaft läßt sich mit den Worten Blanchots als ambivalentes Spannungsfeld umschreiben: »Von der Geheimhaltung der Folter und dem Spektakel der Hinrichtungen bis hin zu ausgeklügelten Modell-Gefängnissen, wo Hochschulabschlüsse möglich sind, während anderen das erfüllte Leben mit Tranquilizern offensteht, verweist uns das Strafsystem auf die zweideutigen Anforderungen und perversen Zwänge eines wohl unausweichlichen und sogar wohltätigen Fortschritts.« (Blanchot 1987: 33)
Die Durchleuchtung der Seele, die Aufdeckung und Entlarvung ihrer tiefsten Geheimnisse ermöglichte eine »Befragung ohne Ende; eine Ermittlung, die bruchlos in eine minutiöse und immer analytischer werdende Beobachtung überging; ein Urteil, mit dem ein nie abzuschließendes Dossier eröffnet wurde; die kalkulierte Milde einer Strafe, die von der rücksichtslosen Neugier einer Untersuchung durchsetzt« (Foucault 1994a: 291) war. Das Geständnis wirkt insofern ebenso als Machtprozedur, als daß der dabei produzierte Wahrheitsdiskurs selbst wieder auf das befragte Subjekt einwirkt. Unter dem Ideal von Humanität und Menschlichkeit wurden die körperlichen Martern ersetzt durch parzellierte Haft, strafende Milde konnte so mit effektiver Anwendung gepaart werden. Die Disziplinierung erlaubte eine wirksame Formbarkeit der menschlichen Existenz.38 Psychoanalyse, Psychiatrie und die moderne Form der Strafjustiz arbeiteten in ihrem Interesse an der ›Entwirrung‹ des dunklen Labyrinths der menschlichen Seele eng zusammen und führten so die panoptische Tradition zuverlässig fort.39 »Der Delinquent unterscheidet sich vom Rechtsbrecher dadurch, daß weniger seine Tat als vielmehr sein Leben für seine Charakterisierung entscheidend ist.« (Foucault 1994a: 323) Alles muß gesehen und alles gehört werden, nichts darf dem analytischen Beobachter verborgen bleiben.
38 Vgl. dazu: Hofmann 2000. 39 Siehe dazu: Foucault 1978a: 115 f.: »Man kann sehr wohl sagen, daß die Psychoanalyse auf jener gigantischen Vermehrung und Institutionalisierung der Geständnisprozeduren beruht, die so charakteristisch für unsere Zivilisation sind. Sie hat unmittelbar teil an der Medizinierung der Sexualität, [...] als wenn sie eine Zone besonderer pathologischer Zerbrechlichkeit im menschlichen Dasein wäre.« Mit der Psychoanalyse »erreicht man in der Geschichte der Prozeduren, die das Geschlecht mit der Wahrheit in Beziehung setzen, einen Kulminationspunkt. Heutzutage gibt es keinen einzigen Diskurs über die Sexualität, der nicht in der einen oder anderen Weise dem der Psychoanalyse verschrieben wäre.« (ebd.: 159) 31
KOLONISATION UND KONSUM »Zwischen Beichtstuhl und Couch liegen Jahrhunderte [...], aber von den Fehlern zu den Wonnen, vom heimlichen Gemurmel zum endlosen Geschwätz – überall findet man die gleiche Hartnäckigkeit, vom Sex zu sprechen, um sich davon zu befreien und ihn zugleich zu verewigen, als bestünde die einzige Beschäftigung auf dem Weg, Herr über seine eigene kostbare Wahrheit zu werden, darin, sich über die verteufelte und geheiligte Domäne der Sexualität zu befragen, indem man andere um Rat fragt.« (Blanchot 1987: 55)
Ohne die Errichtung dieser modernen Disziplinarmaschinerie wäre die Entwicklung der experimentellen Wissenschaften vom Menschen unvorstellbar gewesen. Das moderne Strafvollzugssystem installierte also ein Klassifikationssystem der Gesetzesüberschreitungen, aber nicht nur, um Straftaten zu verhindern, sondern um diese »zu differenzieren, [...] sie zu ordnen, sie nutzbar zu machen, [um sie in einer] allgemeinen Taktik der Unterwerfungen« (Foucault 1994a: 351) 40 zu organisieren. Derselben Lust am Systematisieren begegnet man bei den Humanwissenschaften. Hier existiert eine enge Verwandtschaft zwischen Psychoanalyse und Ethnologie. Auch den ›Wilden‹ wollte man ein Geheimnis entreißen. Man war darauf aus, ein »primäres menschliches Potential« (Said 1981: 260) zu definieren, man schuf ein machtvolles Referenzsystem, mittels dessen man die Wirklichkeit nach zwangsläufig einseitigen, reduktiven Kriterien sortierte. Hier war der Mensch vor allen Dingen als »Gelegenheit für eine Akte« (ebd.: 263) bedeutsam. Seitdem sich die Form des wissenschaftlichen Textes etabliert hat, ist es möglich geworden, daß sich auch die modernen Wissenschaften und mit ihnen die Wissenschaften vom Menschen ausdifferenzieren konnten.41 Der Mensch wird hineingeboren in ein Netzwerk aus Gebräuchen, Gewohnheiten und Bedeutungen. Kultur dient als sinn- und gemeinschaftsstiftendes Bindungselement. Dieses sinngebende, handlungsanleitende und welterschließende System entbehrt im hier verwendeten Ansatz einer ›universal‹ transponierbaren Logik.42 Regeln, Gesetze und Übereinkünfte besitzen lediglich inhärent wirksamen und in gewisser Weise einmaligen Wert und lassen sich nicht leichtfertig auf andere Gesellschaftssysteme übertragen. »Die fundamentalen 40 Der Mensch ist natürlich kein passives Wesen, wie dieses Szenario der panoptischen Überwachung vielleicht vermuten läßt, in jeder Zelle gibt es ›tote Winkel‹. Er ist durchaus im Stande zu den vielfältigsten und kreativsten Formen der ›reflektierten Nicht-Unterwerfung‹. Diesen Punkt diskutiere ich ausführlich in Kapitel IV. 3. 41 Wissenschaften vom Menschen sind u.a.: Medizin, Psychatrie, Psychologie, Ethnologie, Anthropologie (in ihren verschiedensten Formen wie philosophische A., historische A., biologische A., mit unterschiedlichen Konnotationen), Biologie, Geschichtswissenschaften, Sozialwissenschaften und Linguistik. 42 Siehe hierzu Lévi-Strauss' universal-strukturalen Anspruch einer Ordnungsstiftung, welcher weniger wissenschaftsmethodische und eher ideologische Züge trägt. Das wurde ihm auch häufig von seinen Kritikern vorgeworfen. 32
GRENZE, ETHNIZITÄT UND FREMDHEIT
Kodes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.« (Foucault 1999a: 22) Ein epistemologisches Feld 43 ist in seiner geschichtlichen Folge auf ein vorheriges oder in seiner zeitlichen Parallelexistenz an einem anderen Ort weder wahrer noch falscher, sondern bietet einfach nur eine andere kulturelle Übereinkunft darüber, was gesellschaftlich akzeptiert oder verworfen wird. Durch die Erschaffung einer im historischen Raum konstituierten und hier geltenden Wahrheit bildet sich ein Wahrheitsspielraum aus, der ein Jahrhundert später mit größter Wahrscheinlichkeit keine Geltung mehr haben wird. In diesem Sinne ist auch Foucaults häufig falsch verstandene Ankündigung über den ›Tod des Menschen‹ in Die Ordnung der Dinge zu verstehen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bildeten sich neuartige Episteme, welche erst das moderne Erkenntnisinteresse am empirisches Erkenntnisobjekt ›Mensch‹ hervorbrachte. So entstand die neuartige Vorstellung, daß es möglich sei, mit Hilfe von Erkenntnis die Wirklichkeit wissenschaftlich-objektiv zu erfassen und abzubilden. In diesem Sinne ist die erkenntnisleitende Wahrnehmung des modernen Menschen eine Neuerung, und ebenso wie sie geschaffen wurde, kann sie in dieser Form auch wieder verschwinden. Die historisch bedingten »fundamentalen Dispositionen des Wissens« (Foucault 1999a: 462) und ihre nicht absehbaren Veränderungen sind dafür verantwortlich, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (ebd.) Die modernen Humanwissenschaften machten es sich zum Anspruch, der menschlichen Natur ihre Geheimnisse zu entreißen, um sie beherrschbar zu machen. Das Dunkle, Geheimnisvolle und Unbewußte sollte erklärbar werden. Der Fremde sollte uns etwas über uns selbst verraten. Der eigene kulturelle Raum strukturiert die Weltwahrnehmung und stellt somit die Kategorien bereit, andere Kulturen zu erschließen. Das so entworfene Fremdbild gehört zu den Errungenschaften der westlichen Zivilisation: Es mußte auch einen anderen geben, der nicht so vernunftbegabt, zivilisiert, arbeitsam, sexuell enthaltsam, monotheistisch gläubig, geschichtsträchtig war. Dem an sich unbesetzten Ort des Fremden wurde das westliche Definitionsraster aufgezwungen. Es gibt keine Wahrheit über den Fremden, die es zu entdecken, zu erkennen, zu entlarven gilt, sondern nur »Wahrheitsspiele«,44 die historisch bedingte 43 Die Begrifflichkeit Episteme meint »einen spezifischen epistemologischen Raum einer bestimmten Epoche«, welcher einen Bedingungsraum für eine bestimmte Art zu denken und der diskursiven Wahrheitsproduktion darstellt. (›Epistemologie‹ ist der philosophische Fachterminus für Erkenntnistheorie. Foucault 1999a: 11, siehe dazu auch ebd.: 24 f.) Ein Epistem unterscheidet sich von einem Dispositiv dadurch, daß es »ein spezifisch diskursives Dispositiv« (Foucault 1978a: 123) ist. Der Begriff des Dispositivs umfaßt ein heterogeneres Feld. 44 Foucault beschäftigt die Frage: »Anhand welcher Wahrheitsspiele gibt sich der Mensch sein eigenes Sein zu denken, wenn er sich als Irren wahrnimmt, wenn er 33
KOLONISATION UND KONSUM
Vorstellungen und Erfahrungen von Wahrem und Falschem erschaffen und eine Selbsthermeneutik des Menschen konstituieren.
3. Fremderfahrung als Grenzüberschreitung Die Ethnologie sieht sich in ihrer Selbstdefinition als eine »Wissenschaft vom kulturell Fremden« (Kohl 1993: 25). Der Ethnologe betrachtet sich selbst als kulturellen Übersetzer und »Vermittler zwischen den Kulturen« (Roth 1996: 24) 45, als kulturellen Fremdheitsexperten. Angesichts der globalen Vernetzungen und jenseits der Grenzen des Nationalstaates scheinen kulturelle Übersetzer unentbehrlich geworden zu sein. In der traditionellen ethnologischen Forschung sah man das Problem des richtigen Fremdverstehens höchstens in der Frage, wie eine in einer anderen Sprache getroffene Aussage in die eigene Sprache übertragen werden konnte, an der prinzipiellen Möglichkeit der Repräsentation des Anderen zweifelte man nicht. Auf die Schwierigkeiten, die mit dem Übersetzungsprozeß auftreten, weist Shimada hin: »Während die europäischen Humanwissenschaften Übersetzung als Aneignung der fremden Wirklichkeit verstehen, wird in den außereuropäischen Kulturen die Übersetzung als ein grundlegender Veränderungsprozeß des Eigenen aufgefaßt.« (Shimada 1998: 148) Bei der Übersetzung von Fremdem in Eigenes ist eine Überbesetzung mit Eigenem nicht zu umgehen, da dabei assoziativ verfahren werden muß. In der ethnographischen Schrift mischen sich Autorrede und fremde Rede, das geschriebene Wort bewegt sich an der Grenze zwischen Eigenem und Fremden. Diese Schwierigkeit ist nicht aufzulösen. »Es gehört mit zum Selbstverständnis der westlichen Sozial- und Kulturwissenschaften, zwischen dem Forscher und dem, was erforscht wird, zunächst, methodologisch begründet, eine Distanz herzustellen, und das heißt: ein ›Fremdheits‹-Verhältnis zwischen ihnen zu stiften.« (Matthes 1994: 14) Solange der Forscher von einer gemeinsam geteilten gesellschaftlichkulturellen Basis zwischen sich und dem Objekt ausgehen kann, mag er sich mit seinen gezogenen Schlußfolgerungen innerhalb eines gewissen relevanten Rahmens bewegen. Schwierig wird Datenerhebung, wenn nicht von einer gemeinsam geteilten Sinnwelt ausgegangen werden kann. Innerhalb der eigenen Gesellschaft stellt sich das Problem der Erforschbarkeit aufgrund der mehr oder weniger vorhandenen ›Betriebsblindheit‹, außerhalb liegen die Schwierigkeiten eher im Bereich der Möglichkeiten des Fremdverstehens. sich als Kranken betrachtet, wenn er sich als lebendes, sprechendes und arbeitendes Wesen reflektiert, wenn er sich als Kriminellen beurteilt und bestraft?« (Foucault 1997b: 13) 45 Roth sieht den Ethnologen als marginal man (in Anspielung auf Robert E. Park) »ohnehin prädestiniert für die Rolle des Interpreten, Schlichters und Vermittlers.« (Roth 1996: 24) 34
GRENZE, ETHNIZITÄT UND FREMDHEIT
Auf die etymologische Herkunft des Fremdheitbegriffs weist Shimada hin, indem er hervorhebt, daß der Typus des Fremden, wie er in den Kulturwissenschaften behandelt wird, nicht denkbar wäre, ohne die Einbettung in seine historisch bedingte Entwicklungsgeschichte. »Dieser Typus ist der Fremde, der in eine geschloßene Dorfgemeinschaft eindringt. Somit liegt diesem Typus ein räumliches Verhältnis zugrunde [...]. Die Vorstellung von einer Dorfgemeinschaft und dem in sie eindringenden Fremden ist von den modernen Nationalstaaten, die auch einen geschloßenen Raum als ihr Territorium beanspruchen, nicht getrennt zu denken.« (Shimada 1994: 51)
In diesen Zusammenhang muß auch die etymologische Bedeutung des Grenzbegriffs gestellt werden. Eine Grenzüberschreitung bedeutet in diesem Kontext eine Bewegung weg vom Mittelpunkt, hin zum Fremden. Man dringt beim Grenzübertritt in ein vorgestelltes homogenes Ganzes ein, dessen Identität in Abgrenzung zum Eigenen definiert wird. Die Wahrheit ist deshalb nicht dort im Fremden vorhanden und muß gleichsam nur durch Beobachtung und Befragung erfaßt und aufgeschrieben werden, sie wird dort während des Forschungsprozesses produziert. Im Zuge der globalen Vernetzung und dem Zusammenwachsen der Kulturen wird die Thematik der kulturellen Unterschiede meist unter dem Gesichtspunkt der kollektiven nationalstaatlichen Identitäten diskutiert, wobei die weltpolitische Aufgabe darin gesehen wird, die Kluft der Differenzen durch Verständigung zu überwinden. Die Vorstellung, daß der Ethnologie in dieser Situation die Rolle einer interkulturellen Vermittlung zukommt, ist weit verbreitet. So wird im wissenschaftlichen Kanon vom »Grenzgang Ethnologie« (Streck 1997: 11) gesprochen. Der Schritt über die Grenze hat aber nicht etwa dieselbe zerstört, sondern vervielfacht »zu einem Netz, das jede Wahrnehmung zu einer Fremdwahrnehmung macht« (ebd.: 18). Es wird davon gesprochen, daß die »Abgründe, an denen die Gratwanderung [der Feldforschung, S.N.] vorbei führt [...], ein Zurückfallen in individuelle und kulturelle Vorverständnisse, auch Vorurteile auf der einen Seite, und going native sowie die idealisierende Darstellung und Selbstidentifikation mit dem Fremden auf der anderen Seite« (Hauser-Schäublin 1999: 139) bedeuten kann. Innerhalb der benachbarten Universitätsfächer sieht mancher den Ethnologen in der Rolle eines »inneruniversitären Aufklärer[s] oder antiaufklärerischen Rebell[s], [da] die Mehrzahl der Universitätskollegen jene evolutionistische Kopfhaltung fremden Kulturen gegenüber einnimmt [und man in] dieser bekennenden Unangepaßtheit die bleibende Aufgabe der Ethnologie [sehen kann, diesem] wahrhaft antiimperialistischen, weil antirationalistischen Auftrag treu zu bleiben«, (Streck 1997: 35) so Bernhard Streck, Professor für Ethnologie. Das Forschungsfeld der Ethnologie definiert sich somit im Negativen. Alles, was nicht das Eigene, also fremd ist, wird damit zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung. Das Eigene wird hier zum Maßstab der Erfor35
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schungswürdigkeit erhoben. Sieht man die Aufgabe der Ethnologie darin, die »Dinge der Nachtseite« (ebd.: 38) zu sehen und freizuschürfen, so findet man sich manchmal zu spät bemerkt in dem Gebiet wieder, in welchem man diskursive Festschreibungen des Anderen unterstützt, weil die Trennung in Eigenes und somit zu erforschendes Fremdes als gegeben vorausgesetzt wird. Man vergißt leicht, daß die Grenzen nicht festliegen, sondern immer wieder neu ausgehandelt werden. Es sind die eigenen ›Instrumente‹, die den Wirklichkeitsausschnitt und die Beleuchtung bestimmen. Kulturelle Identität kann als ein Ergebnis vielfältiger Übersetzungsprozesse betrachtet werden. »Das, was gewöhnlich für die natürliche Grundlage der eigenen oder fremden Identität gehalten wird, ist dann entweder eine Entlehnung aus dem fremden Kontext oder eine Antwort darauf. Doch offensichtlich gerät gerade dieser Übersetzungsprozeß in Vergessenheit, sobald sich das Eigene etabliert hat. Die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist dann eindeutig und definitorisch gezogen [...]. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, daß sozialwissenschaftliche Grundbegriffe dazu beigetragen haben, das Selbstverständnis des Westens zu konstituieren und auszuformulieren.« (Shimada 1998: 163f.)
Eine Besonderheit der Feldforschertätigkeit wird im Auftreten des kulturellen Schocks gesehen. Die Zeit in der Fremde wird oft als ein persönlicher Ausnahmezustand erlebt. Denn der Gang in die Fremde kann viele Strapazen und Opfer der Selbstüberwindung erfordern, kulturelle Evidenzen der eigenen Stabilität werden in Frage gestellt, die vertraute Umgebung als Reservoir der Sicherheit fällt weg. »Über die Leiden des Ethnographen während der Grenzüberschreitung ist schon viel geschrieben worden. Mark Münzel hat sie am Beispiel der Feldforschung im XingúQuellgebiet Brasiliens zusammengefaßt. Er vergleicht die Position des Feldforschers mit der von Kriegsgefangenen – also Menschen, die früher als die Alto-Xinguanos noch frei waren, bestaunt, gequält, verwöhnt, gemästet und am Schluß aufgegessen wurden. Letzteres bleibt dem Forscher heute erspart. Aber alles andere wird ihm zuteil. Ist das die Strafe für seinen Grenzübertritt?« (Streck 1997: 16)
Die »Grenzüberschreitung [...] steht im Kern des ethnologischen Berufsethos. In der Feldforschung verläßt der Ethnograph sein vertrautes Ambiente und setzt sich existentiell und territorial der Fremdheit aus.« (ebd.: 15) Diese Romantisierung der Grenzüberschreitung in der Feldforschertätigkeit als eine Erfahrung, welche dem Ethnologen im Zuge seiner fachspezifischen Ausbildung zuteil wird, erfolgt aufgrund einer einseitigen Bewertung, verzerrende Effekte sind die Folge. Denn die Fremderfahrung wird zwar gemacht, und sie mag auch je nach Kontrast zur bekannten Welt als persönliche Erfahrung sehr herausragend sein, aber der Grenzübertritt stellt keinen Initiationsritus in die Welt der Fremdverstehenden dar. Fremderfahrungen gehören zu einer der Grundkonstanten menschlicher Erfahrung, sie sind Voraussetzung des Einfühlungsvermögens in Andere, aber nichts genuin Ethnologisches. Wenn von der »nach Hause mitgebrachte[n] Grenze« (ebd.: 17) die Rede ist, davon daß sich der Feldforscher »nach seiner Rückkehr [...] von seinen Mitmenschen, die 36
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zwar Grenzgänger, aber keine Grenzüberschreiter sind, entfremdet« (ebd.) wiederfindet, so wirkt diese Emphatisierung der Fremderfahrung eher als eine Form von Exotisierung, denn als fachliche Qualifikation zum kulturellen Fremdheitsexperten. Und oft genug wird zudem keine ›Fremderfahrung‹ gemacht, sondern ›Fremdbehandlung‹ praktiziert. Ich gehe davon aus, daß die Vorstellung der kulturellen Fremderfahrung als Grenzüberschreitung nur dort entstehen kann, wo die westlichwissenschaftliche Welt eine Grenze zieht, also definiert. Fremde Elemente wurden und werden zerschnitten, seziert (mit dem eigenen Instrumentarium), durchleuchtet (mit dem Licht der Vernunft), analysiert und eingeordnet (ins eigene Kategoriensystem). In diesem Sinn läßt sich davon ausgehen, daß eine Grenze nie wirklich im Sinne ihrer Negation überschritten werden kann, daß Ethnologie streng genommen immer kultureller Grenzgang bleiben muß, denn der Ethnologe kommt nicht an einem anderen Ort an, wird nie heimisch, sondern muß immer Gast bleiben. Indem geographische Grenzen überschritten werden, darf sich nicht der Illusion hingegeben werden, daß nun die räumliche Anwesenheit und die Investition von ausreichend Zeit genügt, um wirklich in das Fremde einzudringen und es anschließend objektiv präsentieren zu können. In diesem Sinn »muß jenes emphatische Element aus dieser ›Fremdheits-Forschung‹ herausgenommen werden, das die gesellschaftliche ›Fremdheits-Erfahrung‹, von der sie ausgeht als einen herausragenden, singulären Tatbestand von zugleich weltumspannender Bedeutung (und Dramatik) erscheinen läßt, – so als ob man es mit einer zentralen Dimension eines weltgeschichtlichen Höhe- oder Wendepunktes zu tun habe, und als ob deren Bewältigung so etwas wie eine ›white man's burden‹ wäre.« (Matthes 1994: 12, H.i.O.)
Durch die Grenzüberschreitung wird es möglich, das eigene Selbstverständnis zu reflektieren und die Konstruiertheit der gezogenen Grenzen zu realisieren. Beständige Grenzgänge können die Grenzen vielleicht verschieben, man kann sich immer wieder in eine Position dazwischen begeben. Ein Grenzgang und die dadurch eingeleitete Öffnung der Horizonte wird durch die Tatsache interessant, daß soziale Wirklichkeiten immer nur eine Auswahl aus einem komplexeren Möglichen darstellen und somit mit einem Bedeutungsüberschuß ausgestattet sind. Bei einer Manifestation wird auch immer ebenso Mögliches ausgeschloßen. Das Potential an anderen, unerschloßenen, weil ausgegrenzten Möglichkeiten ist unbekannt. Somit bezeichnet die Grenze den Zwischenraum, die Zugangs- und Erschließungsmöglichkeit für andere Bedeutungen und Wirklichkeiten. Die Fragmentiertheit der eigenen Auswahl und Präsentation sollte immer mitgedacht, der Anspruch auf Objektivität verabschiedet werden. Jede Repräsentation ist unvollendet und bietet Anschlüsse für andere Darstellungen. Bei einer Fremderfahrung wird die Grenze überschritten, ohne daß man anderswo ankommt, man ist dem anderen immer nur auf der Spur. Aus einer langfristigen und persönlich stark beeindruckenden Präsenz im Feld
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läßt sich nicht mehr oder weniger zwangsläufig eine Repräsentation des Nicht-Identischen ableiten.
4. Gefangen im diskursiven Netz – Die Repräsentation des Anderen Repräsentation bedeutet, »zu zeigen, was man sehen muß.« (Said 1981: 278, H.i.O.) Und Ethnologie zu betreiben, bedeutet »die Repräsentation der einen Art von Leben in den Kategorien einer anderen.« (Geertz 1993: 139) Als empirisch-anschauliches Beispiel für eine Diskursanalyse, welche Fremdrepräsentationen als diskursive Einschließungen offenlegt, werde ich im folgenden Edward Saids Buch über den Orientalismus heranziehen. (Said 1981) Said stellt heraus, daß die europäische Kultur den ›Orient‹ als Wissensund Erkenntnisobjekt im Sinne einer Einheit herstellte und zwar in erster Linie mittels diskursiver Praktiken. Die während der Zeit nach der Aufklärung entstandenen systematischen Wissenschaften produzierten einen Diskurs über den Orient, der nichts mit dem geographischen Raum und den in ihm beherbergten Kulturen gemeinsam hatte. Das ist an sich nichts ungewöhnliches – Bild und ›Wirklichkeit‹ decken sich selten – die autoritäre Art und Weise jedoch, mittels derer diese Fremdrepräsentation von statten ging, ließ sich den ›Orient‹ gleichsam im Netz westlicher Interessen gefangen fühlen. Als ›Ort der Romantik‹ war der Orient für den ›Westen‹ ein exotisches Wesen. Seit der Aufklärung wurde er durch den westlichen Stil der Herrschaftsausübung in seiner Wirklichkeit diskursiv produziert – der Orient war dadurch eingebunden in ein vielfältiges Wissenssystem, welches vor allem durch die Orientalistik und den Literaturbetrieb, aber auch durch andere über ihn produzierte Diskurse, genährt wurde. »Der Wissenschaftler, Gelehrte, Missionar, Händler und Soldat war im Orient oder dachte über ihn nach, weil er mit sehr wenig Widerstand von seiten des Orients her da sein oder über ihn nachdenken konnte.« (Said 1981: 15, H.i.O.) Der Orient eignete sich als Fundus für Ausstellungen im Museum und zum akademischen Studium, besonders für die aufkommenden Humanwissenschaften erwies er sich als unerschöpfliche Quelle des Wissensreichtums. Man behandelte das ›Gebiet Orient‹ »mit einer detaillierten Logik, die nicht einfach von empirischer Realität geleitet wurde, sondern von einem Arsenal von Wünschen, Repressionen, Investitionen und Projektionen.« (ebd.) Natürlich ist die Wissensproduktion vor allem auch mit politischen Interessen gekoppelt. »Der Orientalist konnte als Sonderagent der westlichen Macht gesehen werden, als diese eine Politik gegenüber dem Orient versuchte. Jeder gebildete (und weniger gebildete) europäische Reisende, Besucher des Orients, verstand sich als ein repräsentativer Bewohner des Westens, der unterhalb der Schichten der Obskurität blicken konnte.« (ebd.: 250)
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GRENZE, ETHNIZITÄT UND FREMDHEIT
Der ›Autorkontext‹ 46 trägt entscheidend zur Textproduktion bei: Indem man den Begriff ›Orient‹ mit zahlreichen Bedeutungen anreicherte, entstand ein ganzes System von Wahrheiten. »Wir dürfen [...] nicht vergessen, daß die Gegenwart des Orientalisten durch die effektive Abwesenheit des Orients möglich wurde.« (Said 1981: 234) 47 Der Mechanismus dieser einseitigen Wissensproduktion entblößt sich an einem einfachen Zahlenbeispiel: Zwischen 1800 und 1950 wurden in etwa 60.000 Bücher über den Orient geschrieben, in entgegengesetzter Richtung fand keine annähernde Anzahl von Bücherproduktionen statt.48 »Als ein Kulturapparat ist der Orientalismus ganz Aggression, Aktivität, Urteil, Wahrheitsanspruch und Wissen.« (ebd.: 229) Weil der Orient ein Ort war, welcher als vom Hauptstrom ›europäischen Fortschritts‹ getrennt wahrgenommen wurde, setzte man ihn dualistisch ins Gegenteil ein: Diese binäre Logik wies ihm den Ort der Rückständigkeit zu. »Der Orientale wurde somit mit Elementen westlicher Gesellschaft verbunden (den Delinquenten, Irren, Frauen, Armen) [...]. Orientalen werden selten gesehen oder angesehen, sie werden durchschaut [...] als zu lösende oder zu begrenzende Probleme [...]. Die Möglichkeit der Entwicklung selbst, der Transformation, [...] ist dem Orient wie dem Orientalen versagt. Als eine bekannte und letztendlich unbewegliche oder unproduktive Qualität werden sie mit einer Art schlechten Ewigkeit identifiziert.« (ebd.: 232f.) 49
Eine effektive Überwachung und Unterwerfung wurde nur durch dauerhafte und minutiöse Kenntnis des Objekts möglich, nur durch genaueste Erforschung konnte der Gegenstand erfaßt und durchdrungen werden. So wie den geographischen Raum wollte man auch Gebräuche, Gedanken, die seelische Landschaft kartographieren. Indem man den Dingen, Menschen, Orten einen Namen gab und sie einordnete, unterwarf man sie. Als es darum ging, den Orient zu einer verwaltungstechnischen Angelegenheit zu machen, unterzog man ihn einer chirurgischen Operation auf dem geographischen Kartentisch. Auf diese Weise wurden der Experte und ›sein‹ Gebiet geschaffen, welches durch die Absteckung des Wissensfeldes erst hervorgebracht wurde. So wurde »für das Europa des 19. Jahrhunderts ein [...] eindrucksvolles Gebäude von Bildung und Kultur gegenüber tatsächlichen Außenseitern (den Kolonien, den Armen, den Delinquenten) errichtet [...], deren Rolle es in der Kultur war, eine 46 Siehe dazu das Kapitel III.1 zur Autorschaft. 47 Hier wie an allen anderen Stellen von Orientalismus läßt sich natürlich ›Orientalist‹ durch ›Ethnologe‹ und ›Orient‹ durch ›Außer-Europa‹ ersetzen. Diese Übersetzter ›von innen heraus‹ verstanden sich als Experten des Fremdverstehens. Zum Teil weist Clifford Geertz in Die künstlichen Wilden auf einige Textbaustrategien der Fremdrepräsentation und die Funktion des Werkzeugs ›akademische Vertextlichung des Anderen‹ als soziale Praktik hin, siehe dazu Teil III. 48 Siehe dazu: Said 1981: 229. 49 Siehe dazu auch FN 17 dieser Arbeit, in welcher deutlich wird, daß dieser Dualismus eine sehr dominante, europäische Denkströmung darstellte. Auch Marx und Weber verfielen dieser sehr gängigen Spiegelung am Orient. 39
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Definition dafür zu geben, wofür sie konstitutionell ungeeignet waren.« (ebd.: 256, H.i.O.) Wir konnten nun sehen, wie die europäische Kultur an Stärke und Identität in Abgrenzung zum Orient gewann. So wie mit dem Orient verfahren wurde, behandelte man alle anderen nicht-europäischen Kulturen, wenn auch der Diskurs über den Orient vielleicht durch eine besonders machtvolle Phantasie angetrieben wurde. In exemplarischer Weise für diese binäre Weltwahrnehmungsstruktur schreibt W. Robertson Smith in Lectures and Essays (1912 erstveröffentlicht): »Der arabische Reisende ist von uns sehr verschieden. Die Arbeit der Bewegung von einem Ort zum anderen ist ihm eine Last, er findet kein Vergnügen an der Mühe [wie ›wir‹ es haben] und er murrt über Hunger und Müdigkeit mit all seiner Kraft [wie ›wir‹ es nicht tun]. [...] Darüber hinaus ist der Araber wenig von der Szenerie beeindruckt [aber ›wir‹ sind es].« (ebd.: 266) 50 W. Robertson Smith kann mit diesen Aussagen als Repräsentant des vorherrschenden Zeitgeistes des auslaufenden viktorianischen Zeitalters angesehen werden. Das ›panoptische Wahrnehmungsideal‹ seiner Zeit bedingt das Bestreben, »das ganze wimmelnde Panorama« (ebd.: 268) von oben zu erfassen und so zu einem Holismus zu gelangen, der wenigstens den Anschein erweckt, die unerwartet einströmende Weltkomplexität zu überschauen. Vielleicht läßt sich diese ›Sehsucht‹ als andere Seite des ›zerissenen modernen Menschen‹ betrachten, welcher eine Vielfältigkeit auf sich einstürzen sah, für die er keine angemessenen Wahrnehmungskapazitäten bereit hielt. Von dieser Warte aus betrachtet scheint der machtvolle Wunsch, alles unter Kontrolle zu bekommen von einer ebenso machtvollen Verzweiflung angetrieben worden zu sein. Gewollte Wahrheit als Vision konnte so zu wirksamer Realität gerinnen.
5. Kultur beschreiben Es gibt ein epistemologisches Bedingungsfeld für die Entstehung dessen, was wir im spezifisch okzidentalen Sinne unter Kultur verstehen. Die Kategorie Kultur ist demnach selbst ein Mittel der Differenzierung, das Hierarchien impliziert und eine Einheit evoziert, deshalb wird von mancher Seite ein »Writing Against Culture«51 gefordert. »Kultur als Kategorie des Denkens ist ein ganz und gar europäisches Phänomen und Teil eines historisch gewachsenen Weltbildes – eine Art siamesischer Zwilling des 50 Die Einfügungen in eckigen Klammern stellen Anmerkungen Saids dar. 51 Siehe dazu Lila Abu-Lughod, die deshalb durch narrative Ethnographien des Partikularen (Erzählungen über bestimmte Personen in bestimmtem zeitlichräumlichem Kontext) zu einer weniger vereinheitlichenden Ethnographie gelangen möchte. Die Begriffe ›Praxis‹ und ›Diskurs‹ sind ihrer Ansicht nach dem von ›Kultur‹ vorzuziehen, weil sie nicht seine Implikationen von Holismus, Homogenität und Zeitlosigkeit teilen. 40
GRENZE, ETHNIZITÄT UND FREMDHEIT Eurozentrismus. Nach Niklas Luhmann taucht die Kategorie Kultur, die man als eine Ebene des Beobachtens und Beschreibens und vor allem des Vergleichens zwischen sich selbst und den anderen definieren könnte, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Denken Europas auf.« (Krasberg 1998: 32)
Kultur im Sinne abgrenzbarer Bedeutungswelten ist damit selbst kulturelle Konstruktion. Fremde Kulturen begannen zu existieren, indem sie wissenschaftlich erfaßt worden waren. Der Ausschnitt der Wirklichkeit, welcher wissenschaftlich erfaßt wurde, verdichtete sich im Laufe der Zeit zu Realität. Geertz stellte einmal fest, daß sich die Ethnologie ihre Wilden selbst erschafft.52 »Manchmal kamen, wenn zwei Ethnologen nacheinander die gleiche Ethnie erforschten und beschrieben, zwei völlig unterschiedliche Kulturen dabei heraus.« (Krasberg 1998: 36) 53 Der Tatsache, daß kommunikativen Situationen auch immer Machtstrukturen innewohnen, wurde lange Zeit nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Man kann ihr nicht genügend Bedeutung beimessen. Bourdieu illustriert das Verhältnis der symbolischen Gewalt am Beispiel eines Gespräches zwischen einem Kolonialherren und einem ›Einheimischen‹: »Wird der Herrschende als Beweis für sein Bemühen um Gleichheit die Sprache des Beherrschten sprechen? [...] Die symbolische Verneinung, [...] die fiktive Ausklammerung des Machtverhältnisses, beutet dieses Machtverhältnis insofern aus, als sie eben die Anerkennung des Machtverhältnisses produzieren soll, auf die sich dieser
52 Siehe dazu: Geertz 1993. 53 Eine prominente Nachuntersuchung, die auch für viel Wirbel im internen Fachkreis sorgte, war die Nachuntersuchung Derek Freemans auf Samoa. Margaret Mead (1901-1978), Schülerin von Franz Boas und Ruth Benedict, hatte eine Professur für Anthropologie an der Columbia University inne, ihre Veröffentlichungen über das Sexualleben ›primitiver Völker‹ wurden in den USA zu Bestsellern. 1925 lebte sie für längere Zeit auf Samoa, 1928 erschien die daraus resultierende Ethnografie Coming of age in Samoa (siehe dazu: Hirschberg 1988: 302f.). Während sie ein freies Heranwachsen der pubertierenden Samoanerinnen in einer harmonischen Welt konstatiert hatte, kam Freeman 55 Jahre später zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Man erklärte sich diese Faktendifferenz mit Kulturwandel und dem anderen Zugang Freemans aufgrund seines männlichen Geschlechts. Ebenso führte Li An-Che Restudies bei den Pueblo durch. Hatte Ruth Benedict ihnen in Patterns of Culture ein ›appolinisches Gemüt‹ zugeordnet, welches sich durch Konsenssuche, Zurückhaltung und Agressionsfreiheit auszeichnen würde, so erkannte man jetzt in ihnen gewalttätige Trunkenbolde. Ein weiteres Beispiel stellen die Feldforschung Robert Redfields bei den Teotzlán, die südlich der mexikanischen Hauptstadt lebten, in den 1920er Jahren und die Nachuntersuchung Oskar Lewis dar, der wiederum zu völlig anderen Ergebnissen kam. Noch einmal andere Ergebnisse kämen sicherlich zum Vorschein, würde der ›Nachuntersucher‹ die existente Feldforschung nicht kennen. Denn er wäre dann nicht versucht, kontrastiv zu untersuchen. 41
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Verzicht beruft.« (Bourdieu/Wacquant 1996: 177f.) 54 Tritt der weitaus häufigere Fall ein, daß der Beherrschte den Sprachstil des Herrschenden übernehmen muß, so spricht er eine »gebrochene Sprache [...] und sein sprachliches Kapital ist mehr oder weniger vollständig entwertet.« (ebd.: 178) Ebenso wie der Person des Sprechers eine »spezifische soziale Autorität« (ebd.: 177) innewohnt, so wohnt sie dem Verfassers eines Textes inne. Diese Asymmetrie wahrzunehmen ist wichtig, um das Fließen und die Relevanz von entstandener Information einschätzen zu können. Es sei in diesem Zusammenhang nur daran erinnert, in welchem Ausmaß Europa und Nordamerika andere Kulturen erforscht haben, in der anderen Richtung aber so gut wie keine Ansammlung von Wissen stattfand. Im Umgang mit kultureller Andersartigkeit lassen sich verschiedene Wahrnehmungsstrategien beobachten. Zumeist spielt die motivationale Komponente eine wichtige Rolle. So sind wirtschaftlich Entsandte darauf angewiesen, erfolgreich mit den einer anderen Kultur entstammenden Kollegen zu kommunizieren. Ebenso verfolgen Ethnologen ein bestimmtes Interesse bei ihrem Aufenthalt in einer anderen Kultur. In beiden Fällen stellt die positive Sichtweise von kultureller Verschiedenheit eine wirtschaftliche und interessegeleitete Notwendigkeit dar und ist somit stabiler als eine ideelle Konstruktion kultureller Vielfältigkeit.
6. Ist Kultur Kommunikation? – Exkurs: Kognitive und Symbolische Anthropologie Alles Kulturelle ist durch Kommunikation vermittelt und wird erst durch diese Vermittlung zu einem sozialen Artefakt. Ebenso ist Kommunikation durch Kultur vermittelt. Kultur wird durch sie verbreitet und produziert. Das eine gibt es ohne das andere nicht. (vgl. Kellner 1999: 350f.) Wird Kultur nicht mehr als objektiv beschreibbare Realität wahrgenommen, sondern als ein relationaler, kommunikativer Prozeß zwischen verschiedenen Subjekten, die in bestimmten Machtverhältnissen stehen, so wird menschliches Verhalten zu symbolischem Handeln. Jede Geste ist potentiell mit einer Bedeutung besetzt. Statt von verschiedenen Kulturen läßt sich dann auch von verschiedenen Kommunikationsmustern sprechen, die je eigene Stile der Verständigung ausgebildet haben. Die Kognitive Anthropologie wollte mittels des Dualismus ›emic/etic‹ eine ›Innensichtweise‹ der indigenen Völker erzielen, wobei ›emisch‹ das, was in 54 Ein anderes Beispiel für diese Form von symbolischer Gewalt gibt Bourdieu in dem Aufsatz »Narzistische Reflexivität und wissenschafliche Reflexivität« in Berg/Fuchs 1999: 368: Die gesellschaftlich erzeugte Agoraphobie bringe Frauen dazu, sich von öffentlichen Aktivitäten selbst auszuschließen, denn die Teilnahme würde sie aufgrund der Tatsache, bestehen und sich als würdig erweisen zu müssen, einem starken psychischen Streß aussetzen. 42
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den Köpfen war, sein sollte und ›etisch‹ das, was beim fremden Betrachter ankam. Hinter diesem Modell stand das Ideal einer absoluten Transparenz von individuellen Bedeutungsmustern und einer möglichen Entschlüsselung der ›kulturellen Grammatik‹. In den 1960er Jahren in den USA (zuerst in Yale und in Chicago) entwickelt, wurde dieses Modell in den 1970er Jahren nach Europa exportiert und findet bis heute Verwendung und Anklang, so im Bereich der ›Interkulturellen Kommunikation‹. Natürlich läßt sich sofort einwenden, daß es nur ›emische Sichtweisen‹ gibt und hinter der ›etic‹Differenzierung das Ideal eines objektiven Wissenschaftler steht. Wenn die kulturelle Prägung ähnlich einer grammatischen Struktur Denken und Handeln des Einzelnen programmiert, so müsse es auch möglich sein, diese Grammatik zu erlernen bzw. zu vermitteln, das ist der Ansatz, von dem die Kognitive Anthropologie ausgeht. Geertz, prominenter Vertreter der symbolischen Anthropologie, weist darauf hin, daß es einige Schwierigkeiten mit sich bringt, möchte man in der Tradition Ward Goodenoughs einen extremen Subjektivismus mit einem engen Formalismus verbinden: »Diese Schule, die manchmal Ethnowissenschaft, aber auch Komponentialanalyse oder Kognitive Anthropologie genannt wird, [...] ist der Meinung, daß Kultur sich aus psychologischen Strukturen zusammensetzt, mit deren Hilfe einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen ihr Verhalten lenken. Und aus dieser Auffassung von Kultur folgt eine ebenso eindeutige Auffassung davon, was es heißt, eine Kultur zu beschreiben: nämlich ein System von Regeln aufzustellen, das es jedem, der diesem ethnographischen Algorithmus gehorcht, möglich macht, so zu funktionieren, daß man [...] als Eingeborener gelten kann.« (Geertz 1999: 17)
Geertz verdeutlicht den Unterschied zwischen seinem Ansatz und dem Goodenoughs am Beispiel eines Beethoven-Quartetts. »Wenn wir [...] uns z.B. einem Beethoven-Quartett zuwenden, [...] so würde es meiner Ansicht nach niemand mit seiner Partitur gleichsetzen, ebensowenig mit den Fähigkeiten und dem Wissen, die nötig sind, um es zu spielen.« (ebd.: 17) Laut Geertz tut aber Goodenough genau das: Er setzt die Kultur gleich mit der Partitur, während für Geertz selbst die kontextuelle Einlagerung, also die konkrete Aufführung, der Kultur entspricht: »Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen [...] ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind.« (ebd.: 21) Während Geertz ein Verfechter des Details ist, reduziert Goodenough mit seinem Ansatz die Komplexität auf Kosten der Vielfalt, er vollzieht ›dünne Beschreibung‹. Nach Goodenough existiert Kultur in den Köpfen der Individuen als mental orientierendes Symbolsystem, während für Geertz Kultur eher über den Köpfen der Menschen als »selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe« (ebd.: 9) existiert. Kultur stellt für ihn eine öffentliche Kategorie dar, »weil Bedeutung etwas Öffentliches ist.« (ebd.: 18) 55 55 Siehe zum ›Ideal der vollkommenen Transparenz‹ vs. der ›systematisch zerstörten Kommunikation‹ das Kommunikationsmodell, welches in Stuart Halls 43
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Der Goodenoughsche Ansatz bietet zunächst scheinbar die Möglichkeit, die Regeln und Strukturen der sozialen Handlungen der Mitglieder einer Kultur einer emischen Analyse zu unterziehen, mit deren Hilfe es im Idealfall möglich sein soll, die fremde Kultur zu erlernen, sie wie eine Grammatik zu entschlüsseln. Die Existenz genau dieser, zugegebenermaßen verlockend erscheinenden Möglichkeit, verneint Geertz aber, wenn er sagt, daß für ihn die »Hauptaufgabe der Theoriebildung in der Ethnologie nicht darin besteht, abstrakte Regelmäßigkeiten festzuschreiben, sondern darin, dichte Beschreibung zu ermöglichen. Es werden keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls.« (ebd.: 37) Schon allein aufgrund dieser unterschiedlichen Herangehensweisen an die Möglichkeiten eines Kulturvergleichs sind beide Ansätze unvereinbar. Goodenough hat innerhalb einer kulturellen und relativ geschloßenen Gruppe auf den Trukinseln geforscht, so daß das Funktionieren einer gegenseitigen Attribuierung in einem relativ fein abgestimmten System gegenseitiger Verhaltenserwartungen gewährleistet war.56 Die Idee, dieses Modell auf eine interkulturelle Kommunikationssituation übertragen zu wollen, erscheint mir nicht sehr plausibel. Denn hier funktioniert ja gerade das nicht: das Einhalten gemeinsamer Verhaltensstandards. Im Prozeß der Ethnographie ist der Forscher damit beschäftigt, sich das zunächst ›Fremde‹ vertraut zu machen, um es zu verstehen. Bei diesem Aneignungsprozeß verändert es sich, das untersuchte Objekt geht – zumeist unwissend oder unfreiwillig, deshalb sein Objektcharakter – eine Symbiose mit dem Forscher ein. Menschen und die sie umgebende Kultur werden in diesem Forschungsprozeß zwangsläufig instrumentalisiert. Die ethnologische Feldforschung und das, was dabei als Produkt herauskommt – der ethnographische Text – sollen Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein. »Was ist wirklich der Grund, daß du zu uns kommst?« (Maier 1996: 19), möchte ein melanesischer Trobriander von dem gerade eingetroffenen Ethnologen wissen. Dessen Antwort lautet: »Ich möchte verstehen, wie ihr lebt, wie ihr denkt und wie ihr fühlt. Deshalb bin ich vor allem gekommen.« (ebd.) Eine Seite später läßt sein Informant vernehmen: »Ich wünsche mir auch, die Menschen so studieren zu können, wie Du es machst. Das ist der beste Weg.« (ebd.: 20) Legitimation also von Seite der Erforschten her. Daß sich die Zeiten geändert haben, seit Bronislaw Malinowski (1884-1942) sich zu Feldforschungszwecken bei den Trobriandern aufhielt, läßt sich auch aus der im weiteren Verlauf des Gesprächs fallenden Bemerkung schließen, daß der jüngste Sohn des Dorfhäuptlings in Australien Ethnologie studiere. (ebd.: 18)
Aufsatz »Kodieren/Dekodieren« behandelt wird, Kapitel IV.2 im vorliegenden Text. 56 Siehe dazu: Moosmüller 1997: 21. 44
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Den Anfang machte Malinowski, er gilt als ›Urvater‹ des ›stationären Feldaufenthaltes‹, welcher zu einem Verständnis des Fremden ›von innen heraus‹ führen sollte, sozusagen from the native's point of view. Malinowski war freilich nicht der erste langzeitpraktizierende Feldforscher, so hatte Franz Boas (1858-1942), der Begründer des amerikanischen Kulturrelativismus, bereits lange Forschungsaufenthalte bei den Innuit durchlaufen. Nichts desto trotz etablierte Malinowski die Methode der teilnehmenden Beobachtung für die akademische Wissenschaft Ethnologie. Die Frage, welche erkenntnisleitend hinter den folgenden Kapiteln stehen wird, lautet: Ist teilnehmende Beobachtung im strikten Sinne des Wortes überhaupt möglich, d.h. kann man zugleich involvierter, eingeweihter Teilnehmer und distanzierter, außenstehender Beobachter sein? Während man sich in früheren Zeiten mit der imaginären Ethnographie zufriedengab, der ethnologischen Reise unter der Schreibtischlampe, ist man sich spätestens seit Malinowski einig, wissenschaftliche Objektivität nur durch ein überzeugendes Dortgewesensein präsentieren zu können. Das intensive Sammeln von Daten im Feld und ihre anschließende schriftliche Verwertung gehört zum Standard des ethnologisch wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei wird in der Regel davon ausgegangen, daß man lange genug am Alltag der anderen Kultur teilnehmen und die dortige Sprache erlernen muß, um das Fremde von innen heraus verstehen und für die Heimat aufbereiten, gleichsam anstatt der Unbekannten, von ihrem Standpunkt aus, sprechen zu können. »Das Abgeschiedensein von der eigenen Kultur, die ›Einsamkeit‹ des Feldforschers wird zum Hauptmittel der Erkenntnis. [...] Als ›anthropologischer Held‹ [...] bringt er die Erkenntnis des Fremden heim.« (Berg/Fuchs 1999: 31f.) Da es sich schlecht weiterhin von einer Aufteilung und Zuweisung der Gebiete ›Europa‹ für die Volkskunde und ›Außereuropa‹ für die Ethnologie sprechen läßt, möchte sich letztgenannte Disziplin nun, da kein klar definierbarer Untersuchungsgegenstand mehr vorhanden ist, wenigstens »vom Ansatz her [...], weil sich die Ethnologie mit dem Anderen, Fremden befaßt« (HauserSchäublin 1999: 139) von anderen Wissenschaften abgrenzen. Wird also, wie in älteren Ansätzen, davon ausgegangen, daß der Ethnologe sich von anderen vor allem dadurch hervorhebe, daß er problemlos von der Innen- zur Außenperspektive wechseln könne, unterstellt man damit implizit, daß der in der untersuchten Kultur fremde Ethnologe das Denken der Gesellschaftsangehörigen umfassender verstehen könne, als diese selbst. »Die Interaktion wurde zur exklusiven Leistung des Forschers oder der Forscherin, die sich die ›Innensicht der Kultur‹ privilegiert anzueignen vermögen und die zugleich in der Lage sein sollten, diese von ›außen‹ zu sehen, zu objektivieren, in einen vergleichenden Kontext zu stellen und zu ›übersetzen‹. Nur sie können sich – so die Unterstellung – immer wieder von dem studierten Objekt distanzieren, während
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KOLONISATION UND KONSUM die Gesellschaftsangehörigen in ›selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt‹ scheinen.« (Fuchs 1998: 106)
Die Fähigkeit, die Gesamtzusammenhänge der fremden Gesellschaft aus der ›Adlerperspektive‹ zu erfassen, blieb also dem Ethnologen vorbehalten. Nicht reflektiert wurde, daß die Sinnbesetzung der Kategorien von Fremdem und Eigenem nicht als Subjekt-Objekt-Trennung vorausgesetzt werden kann, vor allem nicht, wenn sie einen methodischen Ansatz, ein wissenschaftliches Selbstverständnis als Herangehensweise an andere Kulturen, darstellen soll, die sich nicht mit diesem eurozentristischen Instrumentarium messen lassen. Nicht grundlos stellt sich somit die Frage, was denn nun und mit welchen Methoden erforscht wird, nachdem die ›Wilden‹ (ob edel oder barbarisch), die ›Schriftlosen‹ und ›Primitiven‹ der ›außereuropäischen Kulturen‹ abhanden gekommen sind. Die Schwierigkeit, mit der sich die Ethnologie nun konfrontiert sieht, besteht in dem Paradox »der Spannung zwischen dem (nicht nur) kognitiven Aneignungsanspruch und dem Anspruch, die Anderen in ihrer Andersheit zu respektieren – was einzuschließen hätte, daß sie sich selbst zur Geltung bringen.« (Berg/Fuchs 1999: 93)
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III. W R I T I N G C U L T U R E – E T H N O G R A P H I E A L S P R O D U K T Nach der Dekonstruktion der hegemonialen Wissenschaftsdiskurse des Westens fand sich die Wissenschaft vom kulturell Fremden in einer Repräsentationskrise wieder, welche erdbebenartig die Fundamente in den Bauten der Kultur- und Sozialwissenschaften erschütterte.57 Der Cultural Turn erreichte bald auch Deutschland, seit Mitte der 1980er Jahre läßt sich innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften von einer kulturalistischen Wende sprechen.58 Man begann, sich die Frage zu stellen, ob kulturelle Phänomene angesichts der neuen Vielfalt und des rasenden Wandels überhaupt noch schnell genug und angemessen beobachtet, erkannt und beschrieben werden können. Die Gegensätze zwischen ›Hochkultur‹ und ›Alltagskultur‹, zwischen ›repräsentativer‹ und ›Volkskultur‹ werden heute von niemandem mehr ernsthaft in dieser Dualität kontrastiert. Die Kulturwissenschaften sind sich drüber im Klaren, daß sich der Gegenstand ihrer Betrachtung schneller verändert, als sich zusehen läßt. Mit der konkreten Situation der Feldforschung ergibt sich die besondere Schwierigkeit, eine biographische (also rein subjektive) Erfahrung wissenschaftlich (also objektiviert) präsentieren und vermitteln zu müssen. Geertz weist darauf hin, daß es durch rhetorische Mittel einigen besser, manchen weniger gut gelingt, die ›Daheimgebliebenen‹ davon zu überzeugen, daß man aufgrund seines Aufenthaltes in der Fremde nun ein objektives Bild von der anderen Kultur präsentieren kann. Durch rhetorische Mittel und die Verwendung von handschriftlichen Argumentationsmustern erwirbt sich der Verfasser einer Ethnographie im Laufe der Zeit eine Identität, eine Autorität als Schriftsteller. Geertz hebt in diesem Zusammenhang eine Wortschöpfung Parsons hervor, die das Gemeinte ganz gut trifft – »benediktinische Anthropologie« (Geertz 1993: 26) 59. Geertz glaubt an »völlig autonome ontologische Texte« (ebd.: 7), natürlich sind biographische und historische Aspekte für die Interpretation eines Textes wichtig, im folgenden sollen aber seine literarische Aspekte beleuchtet werden. 57 Siehe dazu vor allem: Berg/Fuchs 1999. 58 Siehe dazu: Reckwitz 2000. 59 Angespielt wird hier auf Ruth Benedict (1887-1948). Sie war assistant professor von Franz Boas und veröffentlichte 1934 Patterns of Culture. Ein weiteres Werk, welches viel Beachtung (auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebs) fand, war ihre Studie über Japan, The Crysanthenum and the Sword, welche 1946 erstmals erschien.
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1. Wie die Fakten ›gemacht‹ werden – Autorität und Autorschaft »Einhundertfünfzehn Jahre (wenn wir unser Fach wie üblich mit Tylor beginnen lassen) Beteuerungsprosa und literarische Unschuld sind genug« (ebd.: 30), so Geertz. Er vermutet, daß die Gründe für die Furcht der Ethnologie, welche dafür verantwortlich ist, daß sie gar nicht wissen wolle, wie ein anthropologischer Text gemacht ist, in der Ahnung liegt, »daß einige Mythen der Zunft darüber, wie es ihr gelingt zu überzeugen, nicht mehr aufrechtzuerhalten wären.« (ebd.: 12) Ein Mythos ist, daß sich die Überzeugung aus dem Gewicht der Fakten (Menge, Schlagkraft) speist. Das Problem, welches sich hier ergibt, lautet, daß Fakten ›von Natur aus‹ nicht unschuldig sind. Kaum ein Ethnologe geht ohne eine bereits bestehende These im Kopf ins Feld. Die gesammelten Fakten sprechen nicht neutral für sich, sondern werden kontextuell wahrgenommen. Diese Art, Daten zu sammeln, rührt noch aus alten Zeiten her, als man mit der Ethnologie eine ›richtige‹ Wissenschaft, orientiert am Vorbild der Naturwissenschaften, betreiben wollte. Diese Art von Fakten sind ›von Natur aus‹ keiner Korrektur zugänglich, da in gewisser Hinsicht Einmaligkeiten verallgemeinert werden. Gelangt man bei derselben Ethnie zu völlig anderen Fakten, so neigt man in der Regel dazu, an den eigenen Fähigkeiten zu zweifeln oder es wird eher noch davon ausgegangen, die Ethnie habe sich geändert, als daß die Erkenntnisse einer Autorität in Frage gestellt werden. (vgl. ebd.: 14f.) 60 Anthropologen überzeugen, indem sie vermitteln, daß das, was sie sagen, ein Resultat der Tatsache ist, daß sie »eine andere Lebensform wirklich durchdrungen haben [...], wahrhaft ›dort gewesen‹ sind.« (ebd.: 14) Das Überzeugen »ist die Basis, auf der alles andere, was die Ethnographie zu tun bestrebt ist – zu analysieren, erklären, amüsieren, verwirren, preisen, erbauen, entschuldigen, erstaunen, umstürzen –, letztlich beruht.« (ebd.: 139) Die Konstruktion eines »solchen Bodens ist heute [...] ein Unternehmen, das nicht annähernd so unkompliziert aussieht wie zu der Zeit, als die Hierarchie an ihrem Ort war und die Sprache kein Gewicht hatte.« (ebd.) »In unserer ingeniösen Disziplin, die vielleicht wie üblich eine Episteme hinterherhinkt, kommt es immer noch sehr darauf an, wer spricht.« (ebd.: 16) Foucault unterscheidet in seinem Aufsatz Was ist ein Autor? (Foucault 1974a) 61, auf den Geertz hier anspielt, zwischen Texten von ›Diskursivitätsbegründern‹ und denen von ›Wissenschaftsbegründern‹. Foucault eröffnet in Was ist ein Autor? vier Felder: Es gab a) im Mittelalter 1) den literarischen Text ohne Autor, hier waren das echte oder das vermutete Alter des Textes Garantie genug für ihre Relevanz, 2) im Gegensatz 60 Siehe dazu die zahlreichen Beispiele der Restudies, FN 53 in diesem Band. 61 Dieser Text wurde von Foucault am 22.02.1969 vor der Französischen Gesellschaft für Philosophie als Vortrag gehalten. 48
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dazu in derselben historischen Epoche den wissenschaftlichen Text mit Autor, welcher nur aufgrund der bewiesenen Autorität des Verfassers akzeptiert wurde. Und b) sieht Foucault sich im 17./18. Jahrhundert einen relevanten Bruch vollziehen. Es kommen 3) wissenschaftliche Texte ohne Autor auf, die »um ihrer selbst willen [...], in der Anonymität einer feststehenden oder immer neu beweisbaren Wahrheit [akzeptiert wurden], ihre Zugehörigkeit zu einem systematischen Ganzen sicherte sie ab.« (ebd.: 19) Und im Gegenzug kommt 4) der literarische Text mit Autor auf, man ist von nun an der Ansicht, daß es »im Individuum einen ›tiefen‹ Drang geben [soll], schöpferische Kraft, einen ›Entwurf‹, und das soll der Ursprungsort des Schreibens sein, tatsächlich aber ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet [...] nur die mehr oder minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt.« (ebd.: 20) Hier fand die Geburtsstunde des Geniekults statt.62 Im Europa des 19. Jahrhunderts dann kommt es wiederum zu Veränderungen: Der ›Diskursivitätbegründer‹ tritt ins Feld. (Foucault 1974a: 24) Diese Diskursivitätbegründer sind nicht nur Autoren ihrer eigenen Werke, sondern sie haben »noch mehr geschaffen: die Möglichkeit und die Bildungsgesetze für andere Texte.« (ebd.) Freud und Marx sind solche ›Diskursivitätsbegründer‹ und ich denke, auch Malinowski ließe sich hier problemlos einordnen, denn auch er hat eine »unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs geschaffen« (ebd.), ein Modell und Prinzip, welches Orientierungsvorgaben für andere gibt. Hier kümmert es, wer spricht. Und das zweifelte Foucault auch nie an, im Gegenteil. Die weiter oben zitierte Parallelisierung Geertz' paßt also nicht ganz. Foucault wollte weniger sagen, daß es niemanden mehr kümmert, wer spricht, sondern, daß es erfreulich wäre, wenn es niemanden mehr kümmern würde und daß auch diese Möglichkeit vorstellbar ist. Und wie die ganze Debatte um Writing Culture zeigt, waren Malinowski und sein ethnolgischer Kollegenkreis nur einmal mehr Diskursivitätsbegründer, denn sie haben erst den »Raum gegeben für etwas anderes als sie selbst, das jedoch zu dem ge-
62 Ein passendes Beispiel für das Funktionieren desselben und seine Selbstinstitutionalisierung geben Sartres Wörter ab. (Sartre 1968) Lutter und Reisenleitner weisen darauf hin, daß man im England des 19. Jahrhunderts, zur Zeit des humanistischen Bildungsideals also, dem Literaturunterricht ganz eigene, moralisch stärkende Qualitäten zuschrieb. So war man der Ansicht, daß gewisse Genies zeitlos und allgemein gültige Wahrheiten erkennen und aussprechen könnten. Dieser Geniekult produzierte eine ganz eigene ›Hochkultur‹. Diese kulturelle Produktionsform gibt heute zugleich ein anschauliches Beispiel für das Funktionieren einer hegemonial wirkenden Praktik ab. Denn diese Kultivierung literarischen Konsums wirkte sich natürlich ausschließend auf all diejenigen aus, die nicht daran teilhaben wollten oder konnten und damit (und natürlich auch aus anderen Gründen) nicht zur Elite gehörten. Kultur wurde hier »stets in normativästhetischen Sinne« verstanden. (Lutter/Reisenleitner Wien 1998: 20) 49
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hört, was sie begründet haben« (ebd.: 25) 63, sie haben also Abgrenzungen und Unterscheidungen von den von ihnen getroffenen Aussagen ermöglicht und »im Unterschied zur Begründung einer Wissenschaft ist die Diskursivitätsbegründung nicht Teil ihrer späteren Transformation, notwendigerweise scheidet sie aus oder sie überragt sie. Folge davon ist, daß man die theoretische Gültigkeit in bezug auf das Werk dieser Begründer selbst definiert.« (Foucault 1974a: 26f, e.H.) Im Falle der Wissenschaftsbegründer hingegen definiert man die Gültigkeit ihrer Aussagen in bezug zum Fach (Physik usw.). Am empirischen Beobachtungsgegenstand ›ethnographische Repräsentation‹ läßt sich sehr genau beobachten, was es heißt, ›Diskursivitätsbegründer‹ zu sein: Die Veröffentlichung der malinowskischen Tagebücher oder die Beleuchtung der effektvollen Stilmittel zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit in Ethnographien stellte gleich die Daseinsberechtigung des gesamten Fachs an sich in Frage, während die »Überprüfung eines Galilei-Textes [...] unsere Kenntnisse über die Geschichte der Mechanik modifizieren [mag], aber nie die Mechanik selbst. Die Überprüfung der Texte von Freud hingegen modifiziert die Psychoanalyse und die von Marx den Marxismus.« (ebd.: 28) ›Und die Überprüfung der Texte von Malinowski die teilnehmende Beobachtung‹, so möchte man hinzufügen. Foucault beeilt sich außerdem, selbst herauszustellen, daß »nichts beweist, daß diese beiden Arten des Vorgehens [Diskursivitäts- und Wissenschaftsbegründung, S.N.] einander ausschließen« (ebd.: 29), dementsprechend wirkt Geertz' Polemik gegen Foucault etwas deplaziert und schwach. Es entspricht Foucaults Stil, am Ende seines Vortrags mit einer überspitzten Provokation zu enden, die zugleich ein Element utopischer Hoffnung enthält, indem er Samuel Beckett zitiert: »›Wen kümmert’s, wer spricht?‹« (ebd.: 31) 64
63 Siehe zur Writing-Culture-Debatte vor allen Dingen: Clifford/Marcus 1986. Eine ausführliche und gut sortierte Literaturliste findet sich im Anhang des Aufsatzes von Eberhard Berg und Martin Fuchs. (Berg/Fuchs 1999: 96ff.) 64 Am Rande sei bemerkt, daß Geertz auch die Aussage vom ›Tode des Menschen‹ aus dem Kontext schneidet und polemisch uminterpretiert, denn ein paar Zeilen vor der Aussage, es komme in der ethnologischen Disziplin »immer noch sehr darauf an, wer spricht« (Geertz 1999: 16), schreibt er: »Es mag sein, daß in anderen Diskursbereichen der Autor (zusammen mit dem Menschen, der Geschichte, dem Ich, mit Gott und anderen Requisiten der Mittelklasse) im Aussterben begriffen ist, aber unter den Anthropologen ist der Autor/die Autorin noch äußerst lebendig.« (ebd.) Hier spielt er offensichtlich auf Foucaults Ausspruch auf der letzten Seite der Ordnung der Dinge an: Die historisch bedingten »fundamentalen Dispositionen des Wissens« und ihre nicht absehbaren Veränderungen sind dafür verantwortlich, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« (Foucault 1999a: 462) Daß er damit nicht den ›Menschen an sich‹ meinte, sondern den ›Menschen als empirisches Erkenntnisobjekt der Humanwissenschaften‹, ist oft genug betont worden. 50
WRITING CULTURE – ETHNOGRAPHIE ALS PRODUKT
2 . » R o t t e t a l l d i e s e B e s t i e n a u s « 65 – Malinowskis Objektivitätsproblem Geertz demonstriert anhand von vier »glitzernden Türme[n]« (Geertz 1993: 136) 66 des Faches, was er meint, wenn er sagt, »Es kümmert, wer spricht.« Ich wähle im folgenden nur eines der Beispiele aus – denn sie bezeugen das Immergleiche bei wechselnder Objektwahl. Die Auswahl erfolgt aus gutem Grund: Malinowski gilt als Vater der Methode der teilnehmenden Beobachtung, denn er etablierte den ›stationären Langzeitfeldaufenthalt‹ für sein Fach, um den über Jahrzehnte hinweg kein Ethnologe, der sein Fach ernst nahm, herumkam. Ziel der teilnehmenden Beobachtung ist eine close-upanthropology, das Fremde soll so nah wie möglich aufs Papier gebannt werden. Zu den Bedingungen einer malinowskischen Feldforschung gehörte es, direkt ohne die Hilfe eines Dolmetschers mit den ›Wilden‹ kommunizieren zu können, nur so konnte eine wirkliche Teilnahme an ihrem Leben gewährleistet sein. Zu weiteren unabdingbaren Voraussetzungen bestimmte Malinowski die Entbehrung jeglichen Kontakts mit Individuen der ›eigenen Art‹, seine eigene Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen. Denn Malinowski wußte sehr wohl, daß »er die Wilden stören, seine Neugier ihnen auf die Nerven gehen könnte, [doch] die Gewohnheit [...] werde zur Tarnkappe des Ethnographen« (Paul 1996: 137): »Als sie wußten, daß ich meine Nase in alles stecken würde, sogar in Dinge, bei denen ein wohlerzogener Eingeborener nicht im Traum auf die Idee käme zu stören, kamen sie schließlich dahin, mich als Bestandteil ihres Lebens zu betrachten, als ein notwendiges, durch Tabakschenkungen gemildertes Übel oder Ärgernis.« (Malinowski 1979: 30) Beim Lesen dieser Zeilen fühlt man sich eher an eine polizeiliche oder detektivische Ermittlung erinnert, denn an eine wissenschaftliche Forschung. Anhand dieser schriftlichen Hinterlassenschaften läßt sich exemplarisch das Dilemma nachvollziehen, in welchem sich ein klassischer Ethnograph malinowskischer Art früher oder später wiederfinden mußte. Malinowski schrieb während seiner Feldaufenthalte an einer offiziellen Version, der objektiven Fassung der Feldforschung und an einer inoffiziellen Version, seinem Tagebuch, welches nie zur Veröffentlichung bestimmt war, und in das er seine gesamten subjektiven Wahrnehmungen ›ablassen‹ konnte. Das Tagebuch wird in der ethnologischen Feldfoschungspraxis, in der es darauf ankommt, sich selbst als Beobachtungsinstrument zu nutzen, zu einer wichtigen Projektionsfläche, die neben dem beobachtenden Ich ein das Ich beobachtendes Anderes erscheinen läßt. So wie dieses Andere das eigene Ich beobachtet, beobachtet das Ich die fremden Anderen. Malinowskis strikte Zweiteilung in ›Feldforschungstext/Tagebuch‹, ›erlaubt/verboten‹, ›öffentlich/privat‹, ›objektiv/subjektiv‹ führt uns das Paradigma, mit welchem sich das Fach über Jahrzehnte in dem Glauben beließ, ›harte‹ Fakten zu sammeln, exemplarisch vor Augen. Die Überzeugung, daß 65 Malinowski, hier zitiert nach: Geertz 1993: 78 (aus Malinowski 1986). 66 Diese sind Lévi-Strauss, Evans Pritchard, Malinowski und Benedict. 51
KOLONISATION UND KONSUM
objektive Fakten von subjektiven Ansichten entstellt werden, dominierte das Fach. Die Schwierigkeiten beim Entwurf ethnographischer Beschreibungen wurden eher auf »die Problematik der Feldforschung zurückgeführt als auf die von Diskurs.« (Geertz 1993: 18) Bei der ethnographischen Schreibarbeit mußte folglich der Kunstgriff unternommen werden, den Text sauber zu halten von subjektiven Einflüßen. Die Erfahrungen jedoch, welche gemacht werden, sind biographisch. »Das Problem der Handschrift, wie es dem Ethnographen begegnet, [...] verlangt sowohl die Erhabenheit des nichtautorhaften Physikers als auch das souveräne Bewußtsein des hyperautorhaften Romanciers, und zugleich läßt es tatsächlich keine von beiden Positionen zu. Die erste führt zu Vorwürfen, man sei empfindungslos, behandle Menschen als Objekte, höre die Worte, aber nicht die Musik, und betreibe natürlich Ethnozentrismus. Die zweite führt zu Vorwürfen, man sei impressionistisch, behandle die Menschen als Marionetten, höre Musik, die nicht existiert, und betreibe natürlich Ethnozentrismus.« (ebd.: 18f.)
Schlußendlich wird angestrebt, die Leser davon zu überzeugen, »daß wir, wenn wir dort gewesen wären, gesehen hätten, was sie sahen, empfunden hätten, was sie empfanden, gefolgert hätten, was sie folgerten.« (ebd.: 23f.) Der Stil ist es, der dem Bericht Plausibilität verleiht. Die anderen können zu Hause bleiben, denn es gibt eine zuverlässige Stimme, die spricht, für die Dort-Lebenden spricht. Der teilnehmende Beobachter propagiert: »Ich war nicht nur dort, ich war einer von ihnen, ich spreche mit ihrer Stimme.« (ebd.: 29) Neben Malinowskis' Wunsch, seiner »Hoffnung[en] auf Selbsttranszendierung«, (ebd.) welche sich in der von ihm etablierten Methode offenbart, tritt noch ein anderes Faktum »mit besonderer Klarheit hervor: die Art und Weise, in der ein solches Schreiben über andere Gesellschaften immer zugleich eine Art Äsopscher Kommentar zu der eigenen Gesellschaft ist. [...] Ferne Seltsamkeiten [wurden] dazu benutzt [...], einheimische Annahmen in Frage zu stellen.« (ebd.: 29f.) Seine Tagebücher schrieb Malinowski von 1914 bis 1915 in Neuguinea und von 1917 bis 1918 auf den Trobriand-Inseln. Um das zentrale Problem zu verdeutlichen, seien einige Textstellen aus den berühmt-berüchtigten Tagebüchern zitiert: »Nichts, was mich zu ethnographischen Studien hinzöge. [...], die Grobheit und Hartnäckigkeit der Leute, die lachen und einen anstarren und lügen, entmutigte mich ein wenig. [...] Dann wurde ich immer wieder von furchtbarer Melancholie übermannt, [...] daß ich hier unter steinzeitlichen Wilden war. [...] Nicht genug Licht für Schnappschüsse; und für Zeitbelichtung wollten sie nicht lange genug posieren. – Zeitweilig war ich wütend auf sie, weil alle fortgingen, nachdem ich ihnen ihre Tabakportionen gegeben hatte. Insgesamt entwickeln sich meine Gefühle gegenüber den Eingeborenen entschieden in Richtung ›Rottet all diese Bestien aus‹.« (Malinowski 1986, zit. nach Geertz 1993: 77f.)
Das Problem besteht nicht so sehr darin, solche Gefühle überhaupt zu haben, sondern darin, diese in die Sphäre des ›Unauthentischen‹ zu verbannen, au52
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thentisch sollte ja die veröffentlichte Monographie hinterher sein. Die dunkle Seite durfte man sich allerhöchstens selbst offenbaren, aber eigentlich hatte es sie nicht zu geben. Seinem Ideal der teilnehmenden Beobachtung entsprach es, »sich selbst am Geschehen zu beteiligen. [...] Aus diesem Eintauchen in das Leben der Eingeborenen [...] habe ich das Gefühl gewonnen, daß ihre Wesensart [...] durchsichtiger und besser verständlich wurde.« (Malinowski 1979: 46) Daß ihm das keineswegs gelang, zeigen uns seine Tagebuchaufzeichnungen: »Ich sehe das Leben der Eingeborenen als etwas, das bar allen Interesses und aller Bedeutung ist, etwas, das mir so fern ist, wie das Leben eines Hundes.« (Malinowski 1986, zit. nach Paul: 142) Und weiter: »Ethnographische Fragen beschäftigen mich gar nicht. Im Grunde lebe ich außerhalb Kiriwinas, wenngleich mit starkem Haß auf die Niggers.« (ebd.) Nichtsdestotrotz sieht er sich selbst als »Chronist und Sprecher [...] einiger tausend ›Wilder‹, nahezu nackt.« (Malinowski 1981: 15) Malinowskis Problem bestand darin, einerseits »absoluter Kosmopolit [zu sein], eine Gestalt von derart erweiterten Fähigkeiten zu Anpassung und mitmenschlichem Empfinden, dazu, sich in praktisch jede beliebige Situation hineinzufühlen, so daß er fähig wird, zu sehen, wie Wilde sehen, zu denken, wie Wilde denken, zu sprechen, wie Wilde sprechen [...]. Auf der anderen [Seite] steht der vollständige Forscher, eine Gestalt, die so streng objektiv, leidenschaftslos, gründlich, exakt und diszipliniert, so der frostigen Wahrheit hingegeben ist, daß Laplace dagegen zügellos aussieht. Hohe Romantik und hohe Wissenschaft, die die Unmittelbarkeit mit dem Eifer eines Dichters ergreifen und davon mit dem Eifer eines Anatomen abstrahieren, in prekärer Verklammerung.« (Geertz 1993: 82)
»Wenn das Beobachten eine so persönliche Angelegenheit ist, ein nachdenklicher Spaziergang über einen schattigen Strand, ist es dann die Beobachtung nicht auch? Wenn sich das Subjekt so ausdehnt, schrumpft dann nicht das Objekt?« (ebd.: 81), so fragt Geertz. Laut ihm ist »die Bewältigung des Übergangs von dem, was man ›dort draußen‹ durchgemacht hat, zu dem, was man ›wieder hier‹ sagt [...] nicht psychologischer Natur. [...] Es ist ein literarisches Problem.« (ebd., e.H.) Für die Texte seiner Bücher, die zur Veröffentlichung bestimmt waren, verwendete Malinowski natürlich ganz andere Textbaustrategien, denn hier wollte er im Gewand quasi-naturwissenschaftlicher Objektivität auftreten. In der Folge oszilliert Malinowski in seinen Texten zwischen beiden Identitäten, der des »Pilger[s] [und der des] Kartographen«. (ebd.: 84) 67 Man hat Geertz zufolge geradezu das Gefühl, »eine seltsame Art von ehrlichem Fälscher vor sich zu haben, der verzweifelt versucht, seine eigene Unterschrift nachzumachen.« (ebd.) Malinowski »entwarf zugleich [...] eine Forschungsmethode, die [...] praktisch die affektive Distanz zwischen dem Beobachter und den Beobachteten auslöscht [...] und einen Stil der Analyse [...], der [...] diese Distanz nahezu absolut werden läßt [...]. Das Problem [...] besteht darin, den Prozeß 67 Die Pilgermentalität entspricht der von Geertz vorgenommenen Dichterzuordnung, die des Kartographen der des Anatomen. (Geertz 1993: 82) 53
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der Forschung im Produkt der Forschung zu repräsentieren.« (ebd.: 84f.) Es besteht darin, zugleich mit den Augen der Fremden sehen und diese Erfahrung objektiv beschreiben zu wollen. Dadurch erhebt sich der Ethnograph in einen gottähnlichen Status, er entscheidet, welche Bedeutung welcher sozialen Praxis zugrunde liegt: »Ich mache mich bereit; kleine graurosa Hütten. Photographiert. Besitzgefühl: Ich bin es, der sie beschreiben oder erschaffen wird.« (Malinowski 1986: 127)
3. Claude Lévi-Strauss in den Traurigen Tropen Malinowski stand mit seiner Euphorie angesichts seines jungfräulichen Kontaktes mit ›unberührten Wilden‹ nicht alleine da. Im Gegenteil: Sie scheint eine Berufskrankheit zu sein. Diese Begeisterung scheint jedem Ethnologen zu eigen sein, welcher auf eine ›unberührte‹ Kultur stösst. So schreibt LéviStrauss in den Traurigen Tropen: »Es gibt für den Ethnographen keine begeisterndere Aussicht, als der erste Weiße zu sein, der zu einer Gemeinschaft von Eingeborenen vordringt.« (Lévi-Strauss 1981: 320) Einige Zeilen später fragt er sich jedoch: »Ziemt sich eine solche Begeisterung noch im 20. Jahrhundert? [...] Die Gesellschaften, die wir heute untersuchen können [...], wurden [...] von jener ungeheuerlichen und unbegreiflichen Katastrophe zu Boden geschmettert, jener Katastrophe, welche die Entwicklung der westlichen Zivilisation für einen ebenso großen wie unschuldigen Teil der Menschheit bedeutete.« (ebd.: 320f.) Lévi-Strauss leidet unter dem Doppelaspekt, einerseits der Versuchung des Erstkontaktes erliegen zu müssen und sich andererseits gleichzeitig des Zerstörungsmomentes der ›ursprünglichen Authentizität‹ bewußt zu sein. Er wünscht sich von ganzem Herzen, »zur Zeit der wahren Reisen gelebt zu haben, als sich in all seiner Pracht ein Schauspiel darbot, das noch nicht verdorben, verseucht und verflucht war.« (ebd.: 37, H.i.O.) Er aber ist ein »moderner Reisender, der den Überresten einer verschwundenen Realität nachjagt. [...] In einigen hundert Jahren wird am selben Ort ein anderer Reisender ebenso verzweiflet wie ich all den Dingen nachtrauern, die ich heute hätte sehen können und die mir entgangen sind.« (ebd.) Als verzweifelter Bewahrer vor der Endlichkeit sagt er über sich: Es »verletzt mich alles, was ich sehe, und ich werfe mir unablässig vor, nicht genau genug hinzuschauen.« (ebd.) Die Erkenntnis, daß das ›Wilde‹ und ›Ursprüngliche‹ nicht konserviert werden kann, erschüttert ihn und lähmt seinen Forscherdrang. Lévi-Strauss selbst ist eigentlich auf Umwegen zur Ethnologie gelangt. Ursprünglich Philosoph, hatte für ihn »die einerseits durch Bergson andererseits [die durch] den Neukantianismus geprägte Philosophie der Zwischenkriegszeit jegliche Bodenhaftung verloren. Die Wirklichkeit und der Mensch seien ihr abhanden gekommen.« (Paul 1996: 163) So ergriff er begeistert die »Rettungsplanke der Ethnographie« (Lévi-Strauss 1981: 45) und nahm das Ange54
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bot von Célestin Bouglé, damals Direktor der École normale supérieur in Paris, eine Stelle als Professor für Soziologie an der Universität von São Paulo, Brasilien anzutreten, an. Denn »in den Vororten wimmelt es von Indianern, an Ihren freien Wochenenden können Sie sich mit ihnen befassen« (ebd.: 39), so warb Bouglé für die zu besetzende Stelle. In der Erforschung fremder Gesellschaften sieht Lévi-Strauss die Möglichkeit, Mißstände in der eigenen zu beseitigen. »Denn wir leben in mehreren Welten, von denen jede wahrer ist als diejenige, die sie in sich schließt, aber falsch in bezug auf diejenige, von der sie umschloßen ist.« (ebd.: 410) »Wenn es uns [...] gelingt, diese fremden Gesellschaften besser kennenzulernen, verschaffen wir uns eine Möglichkeit, uns von der unsrigen zu lösen, nicht weil sie absolut schlecht oder als einzige schlecht wäre, sondern weil sie die einzige ist, von der wir uns emanzipieren müssen.« (ebd.: 388) In der Folge aber muß er feststellen, daß er mit der angetroffenen Fremdheit der von ihm ersehnten ›unberührten Wilden‹ nichts anfangen kann, ja schlimmer noch, er ist sich dessen bewußt, daß er genauso gut hätte zu Hause bleiben können, da er eine Entschlüsselung des Fremden allerhöchstens erahnen kann. »Ich hatte bis zum äußersten Punkt der Wildheit gehen wollen. [...] Am Ende einer aufregenden Reise hatte ich meine Wilden nun endlich gefunden. Leider waren sie allzu wild.« (ebd.: 328) Da ihm keine Zeit mehr blieb, monatelang bei ihnen zu verweilen, konnte er sie nicht kennenlernen. »Sie waren mir so nahe wie das Bild in einem Spiegel; ich konnte sie berühren, aber nicht verstehen.« (ebd.) Da er ihre Sprache nicht sprach, war keine Verständigung möglich, er blieb fremder Gast. (ebd.) »So erhielt ich im selben Augenblick meinen Lohn und meine Strafe. Denn war es nicht meine Schuld und die meines Berufes zu glauben, daß Menschen nicht immer Menschen sind? Daß einige mehr Interesse verdienen, weil ihre Hautfarbe und ihre Sitten uns in Erstaunen versetzen?« (ebd.) Auf der anderen Seite sind es genau diese Fremdheit und Distanz, unter denen er leidet, die von ihm zur notwendigen und privilegierten Methode der Ethnologie erhoben werden. Die Fremdheit der anderen Kultur gegenüber und die Entfremdung seiner eigenen Kultur sind zugleich Voraussetzung und Begleiterscheinung des ethnologischen Forschens. Die »chronische Heimatlosigkeit« (ebd.: 48) 68 hat zur Folge, daß sich der Ethnologe nie wieder »irgendwo zu Hause fühlen [wird], er bleibt psychologisch verstümmelt. Wie die Mathematik oder die Musik ist die Ethnographie eine der seltenen wirklichen Berufungen. Man kann sie in sich entdecken, auch ohne studiert zu haben.« (ebd.: 48, e.H.) Aber bei der Ausübung seines Berufes beginnt der Feldforscher zu grübeln.
68 Was damals zu Zeiten relativer räumlicher Fixierung als Besonderheit wahrgenommen werden mußte, stellt heute in Zeiten hoher räumlicher Mobilität ein normales, veralltäglichten Phänomen dar. Fast jeder kennt heutzutage das Gefühl, entwurzelt zu sein, keine einzige Heimat zu haben. Auf erkenntnistheoretische Konsequenzen, welche sich mit dieser gewandelten Wirklichkeit ergeben, gehe ich in Kapitel IV. 5 ein. 55
KOLONISATION UND KONSUM »Hat er wirklich seiner Heimat, seinen Freunden, seinen Gewohnheiten entsagt, Unsummen an Geld ausgegeben, große Anstrengungen auf sich genommen und seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt, nur um sich für seine schiere Anwesenheit bei ein paar Dutzend Unglücklichen zu entschuldigen, die dem nahen Untergang geweiht sind, hauptsächlich damit beschäftigt, einander zu entlausen und zu schlafen, und von deren Laune doch der Erfolg oder der Mißerfolg seines Unternehmens abhängt?« (ebd.: 369f.)
Im Feld hat man viel Zeit zum Nachdenken. Dabei muß Lévi-Strauss feststellen: »Statt mir eine neue Welt zu eröffnen, gab mir mein abenteuerliches Leben – ein seltsames Paradox – eher die alte zurück, während mir jene andere, der ich nachgestrebt hatte, zwischen den Fingern zerrann.« (ebd.: 370) In der Fremde tauchen vor seinem inneren Auge plötzlich Bilder aus seiner Vergangenheit auf, Bilder, »denen ich keinerlei Wert beigemessen hatte, solange sie noch zu der Realität gehörten, die mich umgab, [es tauchten] Bruchstücke von Musik und Poesie [auf], konventionellster Ausdruck einer Zivilisation, gegen die mich entschieden zu haben ich keinen Zweifel hegen durfte, wollte ich nicht den Sinn in Abrede stellen, den ich meinem Leben gegeben hatte.« (ebd.: 371) Lévi-Strauss sieht sich neben diesen Zweifeln am ganzen Feldforschungsprojekt an sich zusätzlich mit der Schwierigkeit konfrontiert, zwar durch die Fremderfahrung seinen eigenen, subjektiven Horizont erweitert zu haben, diese Erfahrung aber nicht an andere vermitteln zu können. Jeder macht seine Erfahrungen selbst. Der Erzähler kann »sie uns nicht mehr in authentischer Form übermitteln [...] Damit wir uns bereit finden, sie aufzunehmen, muß er die Erinnerungen sortieren und sieben – eine Manipulation, die bei den Aufrichtigsten unbewußt geschieht – und das Erlebte durch die Schablone ersetzen.« (ebd.: 32) Wie das Unverständliche verständlich machen, worauf Wert legen, was auslassen? »Ich hebe Szenen hervor, schneide sie aus [...] Ist auch das eine Lüge, dieses Ganze, das mich entzückt und dessen einzelne Teile sich mir entziehen?« (ebd.: 329), fragt er sich, während er über den Sonnenauf- und untergängen, welche ihn während seiner Überfahrt nach Brasilien stark beeindruckt hatten, sinniert. Er träumt davon, Worte zu finden, »um diese flüchtigen Erscheinungen festzuhalten, die jedem Versuch, sie zu beschreiben, spotten.« (ebd.: 55) Gelänge dies, dann »wäre ich mit einem Schlag in das tiefste Geheimnis meines Berufes gedrungen; dann gäbe es kein noch so bizarres oder absonderliches Erlebnis, dem die ethnographische Forschung mich aussetzen würde, dessen Sinn und Bedeutung ich nicht eines Tages allen Menschen begreiflich machen könnte.« (ebd.) Die Tatsache, daß wir alle Menschen sind, ermögliche es uns, wie Lévi-Strauss in einer Einleitung zu einem Buch von Marcel Mauss schreibt, eine soziale Tatsache insofern als Totalität zu erfassen, als wir sie zugleich als Ding von außen und als »Ding, dessen integrierender Bestandteil gleichwohl die subjektive (bewußte und unbewußte) Apprehension ist, welche wir hätten, wenn wir [...] die Tatsache als Eingeborene leben würden, anstatt sie als Ethnograph zu beobachten« (Lévi-Strauss 1989b: 22), erfassen. Damit begreift er die »subjektive Erfahrung des For56
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schers als Verifikationsinstanz sozialer Tatsachen« (Paul 1996: 167), die Erfassung der ›totalen sozialen Tatsachen‹ wird allein durch »die Feldforschung, [welche] die subjektive Aneignung sozialen Lebens« (ebd.) ermöglicht, realisierbar. Wie er ein paar Seiten später dann bedauert, lauert auf den Ethnologen aber ständig das »tragische Risiko [...], Opfer eines Mißverständnisses zu werden: daß nämlich die subjektive Apprehension, zu der er gelangt, außerhalb seiner eigenen Subjektivität keinen gemeinsamen Punkt mit der des Eingeborenen hat.« (Lévi-Strauss 1989b: 22) Im Klartext gesprochen bedeutet das, daß ihm niemand jemals garantieren kann, daß seine Interpretation des Blickwinkels der ›Wilden‹ auch wirklich ihrer Sicht der Dinge entspricht. Seine Interpretation muß immer nur Interpretation bleiben.
4. Betrug und Authentizität »Ein Buch ist ein geheimnisvoller Gegenstand, und wenn es sich einmal auf den Weg in die Welt gemacht hat, kann alles mögliche passieren. [...] Man hat niemals die Kontrolle darüber.« (Auster 1997: 13) Der ethnologische Feldforschungstext verbindet einzigartig literarische Romanform und wissenschaftliche Textform, fiktive Dichtung und propagierte, wissenschaftlich nachzuweisende Wahrheit. Zwischen wissenschaftlichem und imaginativem Schreiben existiert eine eigene Dynamik. Um einer wissenschaftlichen Arbeit Glaubwürdigkeit zu verleihen, ist es üblich, anerkannte Autoritäten zu zitieren und sich somit auf ihre Aussagen zu stützen. Der Roman verzichtet auf dieses Stilmittel. Laut Geertz spricht Wahrheit, wer es schafft, zu überzeugen. Carlos Castañeda, ein amerikanischer Anthropologe, dessen Bücher vor allem in den 1970er Jahren Kultstatus erlangten, schaffte es auch, zu überzeugen: Sein drittes Buch, Die Reise nach Ixtlan, wurde als Dissertation anerkannt (Castañeda 1998). Aber nach und nach kamen ›Fakten ans Licht‹, laut deren er die Grenze überschritten hätte zwischen Eigenem und Fremden. Castañeda beschrieb seine schamanistischen Reisen jenseits der Vernunftgrenzen, damit hatte er das in der Ethnologie so verpönte going native 69 praktiziert. Man erklärte ihn für ›befangen‹ und verbannte ihn im Anschluß daran in den Bereich des Unauthentischen. Für seine angebliche Feldarbeit gab es keine Zeugen und kein greifbares Beweismaterial, außerdem gab er in einem Interview in der Times vom März 1973 zu, an den Fakten ein bißchen ›gedreht‹ zu haben.70 Man muß sich also fragen: Warum bejubelt man eine Ruth Benedict für ihr Werk Patterns of Culture (Benedict 1951) 71 und verstößt einen Carlos Castañeda für 69 Clifford Geertz sagt dazu: »Nur Romantiker oder Spione könnten darin vielleicht einen Sinn sehen.« (Geertz 1999: 20) 70 Siehe dazu: Covello 1987. 71 Siehe zu Ruth Benedict auch FN 53 und 59 in diesem Band. 57
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seine Reise nach Ixtlan aus dem Wissenschaftsbetrieb? Warum mußte sich Laura Bohannan ein Synonym zulegen, als sie 1954 Rückkehr zum Lachen (Bowen 1988) 72 veröffentlichte? Die Antwort muß wohl lauten: Weil sie fürchtete, im Wissenschaftbetrieb nicht mehr ernst genommen zu werden, nachdem sie ihren Namen mit der romanesken Publikationsform ›beschmutzt‹ hatte. Das Wahrhaftigkeitsproblem spielt eine entscheidende Rolle in der Ethnographie. Als wissenschaftlich kann hier nur gelten, was einen objektiven Charakter trägt. »Wenn es sich um anders geartete Gesellschaften handelt, ändert sich alles: Die Objektivität, die im ersten Fall [bei der Betrachtung der eigenen Gesellschaft, S.N.] unmöglich ist, wird uns ohne weiteres zugestanden.« (Lévi-Strauss 1981: 379) Und wissenschaftliche Objektivität entscheidet über Authentizität oder Betrug. Dabei wird gerade bei der ethnologischen Feldforschung der ›Schummelbetrug‹ begangen, eine höchst subjektiv-autobiographische Erfahrung objektiv zu verallgemeinern, ein Kunstgriff, der dem Leser das Gefühl ermöglichen soll, er hätte alles genauso empfunden, wäre er anstelle des Forschers dort gewesen. Und wenn alle es so sehen, dann ist es so. Die Projektion der Wirklichkeit ist gelungen. Um diesen Kunstgriff zu unternehmen, bedarf es des geschickten Umgangs mit ganz bestimmtem literarischem Werkzeug. Daß die Fakten bei weitem nicht so klar präsent sind und nur durch teilnehmende Beobachtung ›gesammelt‹ werden brauchen, zeigen die zahlreichen Beispiele der sogenannten Restudies in der Ethnologie, die Nachuntersuchungen.73
72 In dieser späteren Ausgabe wird Bohannan freilich auch mit richtigem Namen angeführt. Siehe hier auch die Einleitung Justin Stagls, der in der Synonymwahl Bohannans »Rücksicht auf die ethnologische Fachgemeinschaft« erkennen will (ebd.: 16). ›Fiktive Autorschaft‹ mit Synonymwahl kann auch ein Stilmittel darstellen, Kritik an den eigenen Verhältnissen zu üben und den Blick auf Mißstände zu richten. Siehe dazu auch die Reden des Südseehäuptlings Tuivaii aus Tiavea: gemeint ist die imaginäre Rede des Südseehäuptlings Tuiavii, verfaßt von Erich Scheuermann (Scheuermann 1920). Wie anhand von Rückübersetzungen in die samoanische Sprache festgestellt wurde, liegt die von Scheuermann verwendete Ausdrucksweise außerhalb jeglicher samoanischer Mentalität und sprachlicher Möglichkeiten. So ist z.B. die Umschreibung des Schuhes mit ›hochrandiges Canoe‹ völlig unnötig, denn die Samoaner kannten Schuhe, auch kannten sie Rinder und würden nie auf die Idee kommen, diese mit ›rote, häßliche, gehörnte Tiere‹ zu umschreiben, außerdem benutzt Scheuermann an anderer Stelle den Ausdruck ›Rind‹. Auf der anderen Seite verwendet er Wörter, die sie nicht kannten, so z.B. ›Wolle‹. »Völlig ausgeschloßen ist es [...], daß ein Samoaner beschriebene oder bedruckte Blätter als ›Gedankenmatten‹ bezeichnet hätte.« (Cain 1987: 258) 73 Siehe zu den Restudies FN 53 in diesem Band. 58
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Die ›literarischen Ethnographien‹ bekennend-subjektiv-autobiographischen Charakters Barleys74 oder Bohannans können als symptomatisch angesehen werden für eine Generation von Ethnologen, die ihre Feldforschungsdaten in keine klassische Monographie mehr münden lassen wollten oder konnten. Denn: Ist eine Feldforschung nicht an aller erster Stelle eine persönliche Erfahrung? Wieviel mehr sagen uns Malinowskis Tagebücher über seinen Aufenthalt bei den Trobriandern (die natürlich, wie gesagt, von ihm selbst nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren), als seine von persönlichen Eindrücken entfärbten Monographien? Jedoch, autobiographische Elemente hatten einen anrüchigen Beigeschmack, durch das Verzichten auf sie wollte man den Werken den Anschein wissenschaftlicher Objektivität verleihen. Heute kann keine Anthropologie im klassischen Gewand mehr existieren und braucht es auch nicht mehr. Wir können selbst hinfahren oder Romane lesen. Es stellt sich die Frage, warum nicht ein Roman die »Analyse gelebter Erfahrung« (Appadurai 1998: 38), worin Appadurai die Aufgabe der Ethnologie innerhalb der Kulturwissenschaften sieht,75 genauso gut, schlimmer: noch besser, erbringen kann. Vehementes Bekämpfen des Hinweisens darauf, Ethnographie sei auch ein Werk der Imagination, speist sich aus einem Mißverständnis heraus, welches »im Abendland zumindest seit Platon endemisch ist: Verwechselt wird das Imaginierte mit dem Imaginären, das Erfundene mit dem Falschen, das Behaupten von Dingen mit dem Ausdenken von Dingen.« (Geertz 1993: 136)
5. Droht dem Ethnologen der wissenschaftliche Tod? Seit die Ethnologie nicht mehr auf die, als historisch bedingt erkannten, Quellen ihres Machtanspruchs – die Behauptung, die Perspektive der ›Wilden‹ einnehmen zu können – zurückgreifen kann, ahnt man, daß die Ethnologie einen neuen Ort braucht. »Westliche Ethnologen begannen zu spüren, daß ihre wissenschaftliche Autorität brüchig wurde, wenn plötzlich Angehörige der analysierten Kulturen – immerhin noch! – in ihren Seminaren saßen und die Darstellungen der Ethnographen ergänzten und korrigierten.« (Berg/Fuchs 1999: 68) 74 Es seien nur einige Beispiele genannt: Barley 1993a; 1993b; 1994. Die Tatsache, daß Barley durch seine Art, zu schreiben, ein weitaus größeres Publikum zukommt als den meisten anderen Ethnographen, führt sicherlich (neben seiner durch ›Unwissenschaftlichkeit‹ verursachten Meidung) zu keinen weiteren Sympatiegewinnen im Wissenschaftsbetrieb. 75 Appadurai spricht hier von ›Anthropologie‹, meint aber das, was in Deutschland unter ›Ethnologie‹ gemeinhin verstanden wird. Im Bezug auf die Begrifflichkeiten herrscht im internationalen Vergleich keine Einheit. Siehe dazu auch FN 23 in diesem Band. Appadurai lehrt Kulturanthropologie an der University of Chicago. 59
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Das Verhältnis von Ethnograph/Ethnographierte wurde immer wieder mit dem von Psychiater/Patienten verglichen. So »lesen sich Freuds Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung wie eine Sammlung der im Werk Lévi-Strauss' verstreuten Verhaltensmaßregeln für die Feldarbeit«. (Paul 1996: 169) Dazu gehören Affektkontrolle und die Bewahrung davor, die analytische Wahrnehmung durch Theoriekonstrukte a priori enizuschränken. Aber »nun sind, wie bekannt, die Wilden keine Kranken«. (ebd.) Den ›Wilden‹ unterscheidet vom Patienten auf der Couch zuerst einmal die Tatsache, daß der Patient sich von selbst niederlegt bei »bestimmte[n] Leute[n, die] [...] ihre Ohren vermietet haben« (Foucault 1997a: 16) 76 für das begehrte Zuhören. Über das Abhängigkeitsverhältnis des Patienten von seinem Analytiker ist viel gesagt worden, ähnlich wie das Tagebuch für den Feldforscher dient er als Projektionsfläche. Die meisten ›Wilden‹ jedoch wollen nicht, daß man ihnen zuhört, und in dieser Geste des ›Zum-Sprechen-Bringens‹ liegt ein symbolischer Gewaltakt. Und eine große Fehlerquelle. So glichen viele Forschungen eher Verhören, denn einer ›Couchtherapie‹. Marcel Griaule, der 1942 den ersten Lehrstuhl für Ethnologie an der Sorbonne erhielt, formulierte es einmal so: »Soziale Tatbestände aufzuspüren [...], ist der Aufgabe eines Detektivs oder eines Untersuchungsrichters vergleichbar. [...] Die Untersuchung nicht zu lenken, heißt, dem instinktiven Bedürfnis des Informanten nachzugeben, die delikatesten Punkte zu verschleiern.« (Griaule 1957: 59) 77 Die Geheimnisse, welche der Untersuchte also gerne für sich behalten möchte, muß der Fremde geschickt aus ihm herauskitzeln. »Für Griaule gibt es weder einen harmlosen Bilck noch unschuldige Fragen. Er weiß, welcher Gewalt es bedarf, ein Geständnis zu erzwingen.« (Paul 1996: 149) 78 Zwar mag das anthropologische Projekt »Teil einer fortgesetzten Bemühung gewesen [sein], einen bestimmten Typ von Beziehung zwischen dem Westen und seinem Anderen aufrechtzuerhalten« (Fabian 1983: 149) 79, und es ist nur 76 Foucault nahm eine Parallelisierung des Analytikergesprächs zur katholischen Beichte vor. Der Unterschied besteht freilich vor allen Dingen darin, daß Beichtstuhl- und Couch›gespräch‹ nur deshalb funktionieren, weil der Zwang bereits verinnerlicht werden konnte. Bei der Feldforschung und beim Verhör hat der Befragte kein inneres Interesse, aufrichtig zu sein. 77 Hier zitiert nach Paul 1996: 149. 78 Psychoanalyse und Feldforschungssituation gleichen sich noch in einem anderen Punkt: Erst die Ausübung der Praxis selbst bringt die Wahrheit hervor, denn erst dort zeigt sich, wer berufen ist und wer seine Berufswahl verfehlt hat. In der Theorie sei nicht zu vermitteln, was erlernt werden muß. »Lévi-Strauss schließt sich auf seinem Gebiet der Forderung Freuds an, ›es solle sich jeder, der Analysen anderer ausführen will, vorher selbst einer Analyse bei einem Sachkundigen unterziehen‹ – einer Forderung übrigens, der keiner von beiden nachgekommen ist.« (Paul 1996: 168f; Freud wurde hier nach Studienausgabe, Ergänzungsbd., Frankfurt/Main 1966-75: 117 zitiert.) 79 Zitiert nach Geertz 1993: 131. 60
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konsequent, daß das Fach nun seine Bereitschaft demonstriert, aus dieser Erkenntnis die Konsequenzen zu ziehen. Doch weder die Beteuerung des unwissentlichen Handels noch das Ziehen der Konsequenzen ändern etwas daran, daß das Objekt der Wissenschaft ›tot‹ ist, um es etwas polemisch zu formulieren. Die Möglichkeit der Repräsentation als Sozialtechnik ist an sich fraglich geworden. Die akademische Welt sieht sich mit einer »plötzlichen Explosion polemischer Präfixe (neo-, post-, meta-, anti-) und subversiver Titelprägungen (After Virtue, Against Method, Beyond Belief) konfrontiert [und die Anthropologen haben] zu ihrem Kummer mit der Frage ›Ist das anständig?‹ [...] noch die Sorge mit der Frage ›Ist das möglich?‹ hinzubekommen.« (Geertz 1993: 132) Man folgte einem illusorischen Realismus, als man, orientiert an den Naturwissenschaften, die falsche Sprache wählte, um »Nichtentitäten wie ›Kultur‹ oder ›Gesellschaft‹ zu beschreiben, so als seien sie völlig beobachtbare, wenn auch etwas plumpe, Insekten.« (Tyler 1986: 130f.) 80 Konfrontiert ist man nun mit einem »Versagen der gesamten visualistischen Ideologie eines referentiellen Diskurses mit ihrer Rhetorik des ›Beschreibens‹, ›Vergleichens‹, ›Klassifizierens‹ [...] und [ihres] Bezeichnen[s] durch Repräsentation. In der Ethnographie sind keine ›Dinge‹ da, die Gegenstand einer Beschreibung sein können«. (ebd.) Diese Entmystifizierung des Faches führt dazu, daß »die Last der Autorschaft plötzlich schwerer wiegt, [es ist dazu gekommen, daß man begonnen hat, S.N.] sich ethnographische Texte anzusehen und nicht nur durch sie hindurchzublicken.« (Geertz 1993: 134) Manche würden sagen, die akademische Wissenschaft Ethnologie hätte aufgrund der besprochenen Probleme ihre Daseinsberechtigung bereits verloren. Geertz verneint dies, vorausgesetzt, man nimmt sich das alles nicht so zu Herzen, denn »die Gründe, aus denen etwas akzeptiert wird oder nicht akzeptiert wird, hängen in extremer Weise von den Persönlichkeiten ab« (ebd.: 15), wir hören auf einige Stimmen und andere ignorieren wir. Das ist menschlich, aber nicht wissenschaftlich. »Dies wäre nun ein rechter Skandal wenn wir [...] aus Laune, Gewohnheit [...] oder aus Vorurteil oder politischer Tendenz auf einige hörten und auf andere nicht. Doch wenn wir dies tun, weil es einigen Ethnographen besser als anderen gelingt, in ihrer Prosa den Eindruck zu vermitteln, daß sie engen Kontakt mit fernen Lebensformen gehabt haben, dann ist die Sache vielleicht weniger hoffnungslos.« (ebd.)
Gute Ethnographie ist damit letztendlich eine Sache des Überzeugens.
80 Hier zitiert nach Geertz 1993: 133.
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6. »Anthropophagie des weißen Mannes« der Writing-Culture-Selbstanalyse
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– Zur Kritik an
Aktuell tätige Ethnographen haben sich die genannten Vorwürfe sehr zu Herzen genommen, manche zu sehr, wie es scheint. Was in früheren Zeiten zuwenig oder gar nicht reflektiert wurde, wird jetzt ins andere Extrem getrieben, viele Anthropologen treten auf als »unverbesserliche Apostel einer Hermeneutik des Verdachts.« (Geertz 1993: 87) Da wird von den Erforschten als »Schmetterlinge, [aufgespießt] in einem Glaskasten [gesprochen], man zeigt sie uns nie im Flug« (ebd.: 86) 82, das wird bedauert. Einige Versuche möchten dem scheinbar unentrinnbaren ›ethnographischen Tod‹ durch neuere Ansätze entgehen. Geertz betrachtet diese Ansätze beispielhaft anhand der publizierten Feldforschungstexte dreier Ethnologen: Paul Rabinows Reflections on Fieldwork, Vincent Crapanzanos Tuhami und Kevin Dwyers Moroccan Dialogues. (ebd.: 91) Diese Autoren kennen sich untereinander und reagieren gegenseitig dergestalt auf ihre Veröffentlichungen, daß »jedes von ihren Büchern bei seinem Erscheinen wie ein Beitrag zu einem laufenden Gespräch wirkt. [Während] Rabinows Buch als Sequenz von Begegnungen mit Informanten organisiert [ist, und die] Bedeutung jeder derartigen Begegnung [...] auf der nächsten [beruht, gleicht Crapanzanos Studie einem] ausgedehnten, dahintreibenden, überinterpretierten Interview des psychoanalytischen Typs, [während in Dwyers Buch, ebenfalls in Dialogform abgefaßt,] der Interviewvorgang ethnographisch, nicht psychoanalytisch ausgerichtet ist und vollständig, nicht nur selektiv präsentiert wird.« (ebd.: 92)
Während Rabinow der »Kumpel, der Kamerad, der Gefährte, [...] der Unfertige ist, vage für sich selbst, vage für andere, [...] so ist Crapanzano, in dem was er schreibt, wirklich sehr deutlich definiert, eine gemeißelte Figur, bearbeitet und poliert: Der Literat.« (ebd.: 93) Er vergleicht seinen Informanten Tuhami, den »›ungebildete[n] marrokanische[n] Ziegelbrenner‹ [...] mit Sartres Genet, [...] mit Dostojewskis Mensch aus dem Kellerloch [...] und mit Nerval. [...] Er ist unser AntiHeld, Lacans manque à etre, Sartres ›Wir-Subjekt‹, Simmels soziales Individuum [...] Wenn das Gesicht des Modells in diesem hochgeformten ›Portrait‹ etwas schwer auszumachen ist, so scheint doch das des Porträtisten klar genug zu sein. [Und] Dwyers ›Ich‹ schwimmt nicht durch den Text und überflutet ihn auch nicht. Es entschuldigt sich dafür, daß es überhaupt da ist. Es ist Dwyers Ansicht, daß so ziemlich alle Anthropologie, darunter, in einer Art von Kreter-Paradoxon, seine eigene, ›unehrlich, schädlich und eigennützig‹ ist; daß sie eine Erweiterung des ›westlichen Gesellschaftsprojekts‹ [...] ist, das darin besteht, ›alle Fragen zu stellen‹.« (ebd.: 94f.) 81 Für Trinh T. Mihh-ha besteht die heutzutage einzig mögliche Form von Anthropologie in der Untersuchung der Anthropophagie des weißen Mannes und seinen Versuchen, »das Mark des Lebens der Eingeborenen aufzusaugen« (siehe dazu Morley 1999: 315f.). 82 Geertz zitiert hier Kenneth E. Read (Read 1965). 62
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Die Frage, die sich – als Antwort verkleidet – James Clifford stellt, lautet: »›[Was] unwiederruflich kurios geworden ist [...], ist nicht mehr der andere, sondern die kulturelle Beschreibung selbst.‹« (ebd.: 130) 83 Welche Funktion bleibt dem ›kulturellen Beschreiber‹ dann? Ganz richtig schlußfolgert Geertz: »Die Frage, die sich natürlich stellt, lautet, wie jemand, der all dies glaubt, überhaupt irgendwas schreiben, geschweige denn so weit gehen kann, es zu veröffentlichen.« (ebd.: 96) Es ist zwar richtig, diese Fragen zu stellen, jedoch hapert es mit den bisher gegebenen Antworten. Man kann natürlich streng dialogische textliche Repräsentationsformen wählen, aber erstens wird hier nur der Anschein einer 1:1Wiedergabe erweckt (Wer bestätigt denn, daß das Frage-Antwort-Spiel wirklich wortgetreu ablief?) und zweitens werden bei dieser Form alle anderen wichtigen Sinneseindrücke, die zur Wahrnehmung einer fremden Kultur beitragen, abgeschirmt (also Bilder, Gerüche, Geräusche usw.), der Spielraum für die Phantasie des Autors und des Lesers ist hier ebenso groß wie in einem Malinowskischen Text. »Das Endergebnis all dieser Protokollethnographie und Seelenforschung [...] ist jedenfalls das Bild eines fast unerträglich ernsten Feldforschers, der mit einem mörderisch strengen Gewissen belastet und von einem leidenschaftlichen missionarischen Gefühl erfüllt ist. [...] Was aber, für mich jedenfalls, letztlich am interessantesten an jedem dieser drei Versuche ist [...], ist der starke Unterton von Unruhe, der sie durchzieht. Es gibt darin sehr wenig Zuversicht und ein ziemliches Maß an ausgesprochenem Unbehagen.« (ebd.)
Es liegt laut Geertz in der Natur der »I-witnessing-Gattung« (ebd.: 97) 84, um das Aufrichtigkeitsproblem nicht herum kommen zu können. Und an sich »ist das Dort-Sein eine Postkartenerfahrung (›Ich war in Kathmandu – du auch?‹). Es ist das Hier-Sein, als Gelehrter unter Gelehrten, was dazu führt, daß eine Anthropologie gelesen wird [...], publiziert, besprochen, erwähnt, gelehrt.« (ebd.: 128) Diese gespaltene Existenz – sich »einige Jahre [...] mit Viehhirten oder Yamsgärtnern herumzuschlagen, [um dann] ein ganzes Leben lang Vorlesungen zu halten und mit Kollegen zu dikutieren [– führt zu einer] weitverbreitete[n] Nervosität im Hinblick auf das ganze Unternehmen, das den Anspruch erhebt, rätselhafte Andere mit der Begründung zu erklären, daß man an ihrem angestammten Wohnsitz mit ihnen verkehrt hat. [Die] Aufrufe zu Refelexivität, Dialog, Heteroglossie, Sprachspiel, rhetorischer Zurückhaltung, performativer 83 Geertz zitiert hier James Clifford (Clifford 1987). 84 Geertz bezieht sich hier auf ein Stück Roland Barthes', Délibération, in welchem der stark von ›Ich-Zeugenschaft‹ geprägte Tagebuchschreiber seine Bekenntnisse vergeblich äußert: »Die Psychoanalyse, die Sartresche Kritik der Unaufrichtigkeit und die marxistische Kritik der Ideologien haben das Bekenntnis zu etwas Vergeblichem gemacht: die Aufrichtigkeit ist nur ein Imaginäres zweiten Grades.« (Barthes 1979: 9, zit. nach: Geertz 1993: 90) 63
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Übersetzung, wörtlicher Aufzeichnung und Erzählung in der ersten Person« (ebd.) wirken weniger als einlösbare Angebote auf offenbleibende Fragen, denn als Hilferufe eines vom Untergang bedrohten Fachs. Man will den Anspruch, zu repräsentieren, nicht verlieren und retten, was zu retten ist vom sinkenden Schiff. An einigen Planken läßt es sich vielleicht noch eine Zeitlang festklammern, aber ob sich daraus ein neues Schiff erbauen läßt, bleibt fraglich. Die traditionelle anthropologische Haltung konfrontierte das Fach zwar mit besprochenen Problemen, die Lösung kann jedoch nicht darin bestehen, in eine »paralysierende [...] Trance epistemologischer Nabelschau [...] zu verfallen«, wie Geertz anmerkt (in Morley 1999: 305). Die Reflexion über die Forschungsbedingungen führt nicht dazu, »daß man unmöglich etwas Sicheres über andere Menschen wissen könne.« (Clifford 1986: 7) 85 Ethnographie produziert zwar Fiktionen im Sinne von etwas Gemachtem (lat. fingere), diese sind deshalb zwar etwas ›Hergestelltes‹, aber nicht nur erfunden und falsch, sondern »partial truths« (ebd.).86 Ich möchte die in diesem Text vertretene Position als von den Extremisten der ›Kultur als Text-Fraktion‹ abgegrenzt wissen: Denn obwohl uns beide Kategorien – Kultur und Text – als Repräsentation begegnen, muß wohl kaum betont werden, daß das nicht heißt, es gäbe sie ›nur‹ als diskursive Konstruktion. Sprache hat zwar einen determinierenden Einfluß auf die Wirklichkeit, aber deshalb besteht diese nicht nur aus Sprache. So kritisiert denn auch Lawrence Grossberg an Marcus und Clifford die von ihnen betriebene Reduktion des Anderen auf ihren diskursiven Effekt.87 Die Faktizität des Anderen würde dadurch ausgelöscht und in die semiotischen Konstruktionen des Ethnographen aufgelöst. Eine »Epidemie wilder Reflexivität« (Bourdieu 1999: 365) schwäche die angelsächsischen Wissenschaftler, so Bourdieu. Geertz nannte das in Anlehnung an Roland Barthes die »Tagebuchkrankheit« (Geertz 1993: 90). »Wir sind vom Zelt auf den Trobriand-Inseln, voll von Eingeborenen, zum Schreibtisch in der Universitätsbibliothek zurückgekehrt« (Rabinow 1999: 173) 88, resümiert Paul Rabinow. Die Rede ist von den ›Reisenden unter der Schreibtischlampe‹. Pater Wilhelm Schmidt war bekanntermaßen einer von ihnen. Er stellte zuerst die Theorie auf (in seinem Fall war es die Dekadenztheorie vom Urmonotheismus und von der Urmonogamie) und schickte dann seine Missionare los, um die entsprechenden Belege für seine Thesen vor Ort zu sam85 Zitiert nach Morley 1999: 305. 86 Für James Clifford ist ethnographisches Schreiben ein allegorisches: Bedeutung erlangt die Beschreibung von etwas Fremdartigem durch die Bezugnahme auf etwas, das wir kennen. Um uns das Fremde verständlich zu machen, passen wir es an Bekanntes an. Manche sehen darin einen Gewaltakt. 87 Siehe dazu: Morley 1999: 308. 88 Angespielt wird hier auf James Clifford, der davon lebe, parasitär die Texte der Anderen zu kommentieren. 64
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meln.89 Und es scheint, diese Art des Reisens ist auch heute noch beliebt, wenn auch in abgewandelter Form. Bourdieu glaubt, daß die Tatsache, das wissenschaftliche Feld der Ethnographie selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion zu machen, »in ihrer wahrhaften Absicht gänzlich einer Beobachtung des Beobachters entgegensteht [...], die Begegnung mit der rauen Wirklichkeit des ›Feldes‹ [würde dabei] durch den Reiz der Selbstuntersuchung« (Bourdieu 1999: 366) 90 ersetzt, bis dieser schließlich zum Selbstzweck entarte. Denn die wissenschaftlich fruchtbare Form der Reflexion sei »zutiefst antinarzistisch« (ebd.: 368, H.i.O.), deshalb widerstrebe diese Form der ethnographischen Selbstthematisierung in paradoxer Art jeglichem wissenschaftlich ernsthaftem Erkenntnisinteresse. Die absolutistischen Ansprüche klassischer Objektivität lassen sich zurückweisen, ohne daß deshalb zwingend in einen wissenschaftlich unfruchtbaren Relativismus verfallen werden muß: Man müsse sich »in den eigenen Begriffen der von dem wissenschaftlichen Subjekt konstruierten Objektivität über das empirische ›Subjekt‹ klar werden – vor allem dadurch, daß man es an einem bestimmten Ort des gesellschaftlichen Raumes und der gesellschaftlichen Zeit einordnet – [...]. Es genügt nicht, wie es die klassische Erkenntnisphilosophie lehrt, im Subjekt die Bedingungen der Möglichkeit und ebenso die Grenzen des von ihm begründeten objektiven Wissens zu suchen. Man muß ebenfalls in dem von der Wissenschaft konstruierten Objekt die sozialen Bedingen der Möglichkeit des Subjekts suchen [...] sowie die möglichen Grenzen seiner Handlungsobjektivationen.« (ebd.: 373)
Die kritische Selbstanalyse des eigenen Tun und Handelns darf also nicht dazu führen, in der extremen Position, keine Forschung mehr betreiben zu dürfen – weil diese Handlung an sich bereits immer schon mit symbolischer Gewalt am Subjekt der Erkenntnis durchsetzt ist – einzufrieren. Die meisten Ethnographen sind sich in darin einig, daß diese Konsequenz nicht gezogen werden darf. Denn auch wenn nun die Ideologie einer transparenten Repräsentation des Anderen enthüllt sei und man inzwischen wisse, daß alles und jeder seinen Platz habe in der Wahrheitsökonomie, so führe es uns doch nicht weiter, einer »moralischen Hypochondrie« (Geertz 1993: 134) zu verfallen. Im Gegenteil, Bourdieu stellt heraus, daß für diese antikolonialistische Haltung gar kein Preis bezahlt werden braucht, denn das lesende Publikum bildet sich nicht aus Kolonialbeamten. Wer die kolonialen Mißstände nun entlarvt, geht keine Risiko mehr ein. Im antikolonialen Schreiben ließe sich eher schon ein ›billiger‹ politischer Schachzug innerhalb der akademi89 Siehe dazu auch: FN 26 in diesem Text. 90 Auf die häufig vorgenommene Kontrastierung zwischen dem Praktizieren ›harter‹ Feldforschung und dem ›bloßen Reden darüber‹, wobei stets ein impliziter Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit mitschwingt, komme ich später zu sprechen. Bourdieu verwendet dieses Argument hier auch, indem er sagt, die Selbstuntersuchung sei »letztendlich einfacher und dankbarer« als die harte Felderfahrung (Bourdieu 1999: 366). 65
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schen Gemeinde erkennen (vgl. Rabinow 1999: 185f.). Das führt uns zu den Problemen, welche der Postkolonialismus aufwirft.
7. Probleme mit dem Postkolonialismus Kritik wird laut. Der Begriff ›Postkolonialismus‹ werde verwendet, um den endgültigen Abschluß einer historischen Epoche zu markieren, welche keineswegs abgeschlossen sei. Außerdem evoziere der Terminus eine Einheitlichkeit, die der Wirklichkeit überhaupt nicht gerecht werde, gäbe es doch viele verschiedene Postkolonialismen. »Ist Großbritannien in gleicher Weise ›postkolonial‹, wie es die USA sind? Ja, ist es überhaupt sinnvoll, die USA als ›postkolonial‹ zu bezeichnen?« (Hall 1997: 224), fragt Stuart Hall. ›Postkolonial‹ bezeichne ein diskursives Konstrukt, welches Differenzen einebnet. Der Bereich des Postkolonialismus kann im folgenden nur gestreift werden, dennoch ist es wichtig, ihn zu erwähnen, weil die Kritik an ihm gewisse Gemeinsamkeiten aufweist mit der Writing Culture-Problematik. Von Seiten der ehemals untersuchten ›Objekte‹ ist Protest zu vernehmen: »Warum wird der Begriff des Subjekts gerade in dem Augenblick problematisch, da viele von uns, die bisher zum Schweigen verurteilt waren, jetzt das Recht auf Eigenbenennung und darauf, als Subjekte statt als Objekte der Geschichte zu agieren, fordern? [...] Warum taucht gerade jetzt, da wir unsere eigenen Theorien über die Welt ausarbeiten, der Zweifel auf, ob die Welt überhaupt durch Theorien angemessen erfaßt werden kann?« (Nancy C. Hartsock zit. in Morley 1999: 307)
Guyatri Spivak stellt fest, daß »diejenigen, die von der Kritik des Subjekts sprechen, genau die sind, die sich den Luxus eines Subjekts leisten konnten.« (ebd.: 308) Ebenso stelle es auch keinen Zufall dar, daß sich die relativistische Konzeption des Ethnizitätsbegriffs zu einem Zeitpunkt durchzusetzen begann, als in den unabhängig gewordenen asiatischen und afrikanischen Staaten der Nation-Building-Prozeß einsetzte. »Die Behauptungen der aus den Befreiungsbewegungen hervorgegangenen afrikanischen Politiker, daß die ehemaligen Kolonialherren die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Stämmen ihrer Länder nur deshalb so stark betont und gefördert hätten, um sie so besser beherrschen zu können, waren nicht unbegründet.« (Kohl 1998: 282) Zum Schutz gegen Kolonialherren und Sklavenjäger hatten sich vorher u.U. verfeindete Klans und Stämme zusammengeschlossen. Zu einem Zeitpunkt der Gründung vieler unabhängiger Nationalstaaten im vormals kolonial beherrschten Raum beginnt der Nationenbegriff (ebenso wie auch der Subjektbegriff) in seiner Konstruiertheit hervorzutreten und zu bröckeln. Fast überall in Afrika toben ethnische Selbstbehauptungskämpfe, in der ehemaligen Sowjetunion oder auf dem Balkan sieht es nicht anders aus. Sobald die Berufung auf Identität, Subjekt und Nation keinen Nutzen zur Etablierung eines Machtsystems mehr einbringt, können diese Begriffe scheinbar fallenge66
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lassen werden. Im Gegenteil, gerade die Hervorhebung des konstruierten Ideologiecharakters dieser Begrifflichkeiten kann nun strategisch geschickt eingesetzt werden, um manipulativ der Eigenständigkeit vormals unterdrückter und kolonialisierter Völker entgegenzuwirken. Jetzt wo ›der Westen‹ eine Berufung auf Identität nicht mehr braucht, aber ›der Rest der Welt‹ nachrückt, ist es von Vorteil, auf die Konstruiertheit der Phänomene Nation und Ethnizität hinzuweisen. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion ist nicht immer leicht zu ziehen. Wird man gefragt, ob es diese Grenze gibt, so würde man ohne zu zögern bejahen. Aber wo liegt sie? Im Moment des Greifbarwerdens entweicht sie und konstituiert sich irgendwo anders neu. Denn auch wenn sich eine ethnische Gruppe auf nichts anderes als ›erfundene‹ Traditionen beruft, so werden diese doch in ausgebildeter Form zu einem geschichtswirksamen und realen Faktor. »Der Vergleich zur Geschichte der Religionen, der christlichen zumal, bietet sich hier gewissermaßen an. Die Frage, ob der Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung existiert oder nicht existiert, ist gewissermaßen gleichgültig gegenüber der Tatsache, in welchem Ausmaß die Vorstellung Gottes, angefangen beim Fall Jerichos über die Kreuzzüge bis hin zum Dreißigjährigen Krieg, die Geschichte bestimmt hat.« (ebd.: 284f, e.H.)
Zu Wirklichkeit gerinnt das, was sich als wirksam erweist. Mit Hilfe welcher Fiktion auch immer – Blut oder Rasse, Brauch oder Tradition –, entscheidend ist das Gelingen der Suggestion von Wesensverwandtschaft beim Aufbau eines bindenden Wir-Gefühls. Auf dieserart erschaffene und am Leben erhaltene Gruppenidentitäten verweist Appadurai, wenn er feststellt, daß es immer mehr Gruppen von Menschen gibt, die in Bewegung sind, zugleich hier und dort. Dazu lassen sich afrikanische Diasporagemeinden, deren Mitglieder an einer in Zukunft stattfindenden Rückkehr in die Heimat festhalten, ebenso rechnen, wie mexikanische MigrantInnen, die auf amerikanischer Seite in ›Klein-Mexico‹ leben. Appadurai versucht dieser Erscheinung einen Namen zu geben, wenn er von »ethnoscapes« (Appadurai 1998: 11) 91 spricht. Mobilität ist immer häufiger anzutreffen, »Enträumlichung ist demnach eine der zentralen Kräfte der Moderne« (ebd.: 13), handelt es sich nun um Personen, Informationsflüsse oder eine beschleunigte Geld- und Warenzirkulation. Kulturelle Reproduktion und die Herausbildung von Gruppenidentitäten sind nicht mehr räumlich fixierbar. Die globalen Ströme gehen je nach kontextueller Einbettung sehr variierende
91 Siehe zum Modell der ›global cultural flows‹ und seinen Neologismen ›ethnoscapes‹, ›mediascapes‹ usw. Arjun Appadurais: Berking 1998: »Das Suffix ›scape‹ ist schwer zu übersetzen, weist aber wie in ›landscape‹ vor allem darauf hin, daß es sich um perspektivische Konstruktionen handelt, die je nach der historischen, linguistischen und politischen Situiertheit der Akteure ganz unterschiedliche Blickwinkel implizieren.« (Berking 1998: 386) 67
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Verbindungen ein, durch welche wiederum etwas völlig Neues entstehen kann. Der Variationsspielraum vorstellbarer und somit möglicher Leben hat sich durch medial gelebte Wirklichkeiten und erhöhte Migration stark ausgeweitet. »Phantasie ist heute eine soziale Praxis geworden. [...] Die so entstehenden Gemeinschaften erzeugen neue Politikformen, neue Arten kollektiven Ausdrucks, und veranlassen die Eliten zur Suche nach neuen Disziplinierungsund Überwachungsmaßnahmen.« (ebd.: 22f.) Neu ist das exponentielle Wachstum der Vielfalt der Kontaktzonen. Denn daß die Dinge, an die wir glauben, zu Realität werden können, ist altbekannt (Thomas-Theorem 92), neu ist das Ausmaß der Durchmischung. Die neue Vielfalt der vorgestellten Gemeinschaften setzt die zentrale Denkkategorie der räumlichen Einbettung von Identitäten außer Kraft. Die Nation als politische Gemeinschaft wird als räumlich begrenzt und politisch souverän vorgestellt, beides ist eng miteinander verknüpft. Politische Souveränität speist sich in diesem Denkschema aus räumlicher Fixierung. In Thailand verhinderte die Regierung deshalb den Buchdruck in lokalen Dialekten und ein paar Seiten später fragt Anderson: »Wer würde gerne für [...] die EG sterben?« (Anderson 1998: 46 bzw. 52)
92 Thomas zufolge handeln Menschen so, wie sie eine Situation sehen und definieren, ohne daß diese auch so sein müsste: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« (Fuchs-Heinritz/Lautmann 1995: 680)
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IV. »I N S G E H I R N D E R M A S S E K R I E C H E N « 93 – DIE REZEPTIONSANALYSE DER CULTURAL STUDIES Die Behandlung der Frage, welche Schwierigkeiten sich mit der Methode der teilnehmende Beobachtung ergeben, ist im vorangegangenen Teil des vorliegenden Textes erfolgt. Es wurde dargelegt, daß die angestrebte und über einen langen Zeitraum propagierte 1:1-Abbildung der erlebten Wirklichkeit weder erreicht wird, noch möglich sein kann. Die Cultural Studies verwenden bei der Medienanalyse, und hier vor allen Dingen bei der Rezeptionsanalyse, ethnographische Methoden.94 Sie verstehen sich selbst als eine »Forschungsstrategie [und] intellektuelle Praxis« (Lutter/Reisenleitner 1998: 9), in deren Mittelpunkt die »Wissensproduktion und –vermittlung« (ebd.) stehen sollen. Sie grenzen sich dabei ab von positivistischen und szientistischen Ansätzen, sie wollen das jeweils Besondere verstehen und sind nicht auf der Suche nach Universalien.95 Bei der Analyse kultureller Praktiken wird nach den Machtverhältnissen, von denen diese durchdrungen sind, gefragt. Theorie soll als »Strategie und Werkzeug« (ebd.: 11) verstanden werden, denn nach wie vor sei es so, daß »›im Westen‹ universale Theorien entwickelt und dann ›lokal‹ und ›regional‹ angewandt werden.« (ebd.: 14) Ihre Interpreationsmethoden möchten sie deutlich abgegrenzt wissen »von der amerikanischen, behavioristischen Mediensoziologie [...], die von einem simplen Kommunikationsmodell ausging, das Bedeutung als transparent vermittelt und das Publikum als passiven, leicht manipulierbaren Empfänger von Inhalten beschreibt.« (ebd.: 35) 96 Mit zunehmender medialer Entwicklung kumuliert die Anzahl der Verschaltungen – gemeinhin als ›Globalisierung‹ bezeichnet. Die »mediascapes« 97 93 In Anlehnung an: Gries 1995. 94 Als Rezeptionsanalyse wird in den Cultural Studies die Ethnographie des Medienpublikums bezeichnet. Siehe dazu: Ang 1999: 321f. 95 Siehe zur Forschungsstrategie der Cultural Studies auch: Fiske 1999: 238. 96 Siehe hierzu die Debatte kognitive vs. symbolische Anthropologie und der Glaube der kognitiven Anthropologie an eine Entschlüsselung der ›kulturellen Grammatik‹, dem genau dieses Kommuniaktionsmodell zugrunde liegt. Im Bereich der Interkulturellen Kommunikation (Alois Moosmüller ist z.B. ein Vertreter) schult man seit langem wirtschaftlich Entsandte durch Vermittlung dieser Stereotypen. Siehe dazu: Moosmüller 1997. Siehe dazu auch das Kapitel zur kognitiven und symbolischen Anthropologie in diesem Band (II. 6). 97 Siehe zu den ›scapes‹ FN 91 in diesem Band.
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ermöglichen heutzutage, daß annähernd die gesamte Menschheit ›angeschloßen‹ ist – freilich zumeist ans ›Fernsehnetz‹. 98 Über das Auge und Gehör erreicht man somit auch den letzten Winkel und das verborgenste Bewußtsein. Seit es möglich ist, das geschriebene Wort dermaßen zu vervielfachen, hat sich auch die Anzahl möglicher Wirklichkeiten mit rasender Geschwindigkeit exponentiert. Nicht nur das Sprechen derselben Sprache, die Zugehörigkeit zur selben Religion oder der Glaube an eine gemeinsame Abstammung stiftet Zusammengehörigkeitsgefühl und ›Wir-Bewußtsein‹. Andere Medien sind längst hinzugekommen: Die identitätsstiftende Wirkung von ›Soap-Operas‹ und Werbestrategien gehörten längst neben Wirtschaftsformen und Verwandtschaftsstrukturen zum Untersuchungsfeld des Ethnologen dazu. Bettelarme Favelamädchen in den Slums Brasiliens träumen von einer Karriere als Photomodell für Vogue. Für die millionenschwere Verfilmung der Harry-PotterBestseller suchte Warner Brother seine idealen Hauptdarsteller über das Internet. Und die Werbung lebt – und das nicht schlecht – von genau dieser Möglichkeit, die eigene Identität und den dazugehörigen Weltzugang medial vermittelt zu entwerfen. Durch Mediatisierung und Migration ist Bewegung in die Welt gekommen. Auf die veränderte Rolle der Imagination weist Appadurai hin: »Im heutigen sozialen Leben aber hat die Imagination eine eigentümliche zusätzliche Wirkung erhalten. [...] [Die] Massenmedien [...] präsentieren ein reichhaltiges, ständig wechselndes Repertoire an möglichen Leben, von denen einige erfolgreich in die gelebten Imaginationen gewöhnlicher Menschen übernommen werden, andere nicht. Eine weitere Quelle der veränderten Rolle der Imagination ist der Kontakt mit anderen [...]. Die Medien spielen bei den genannten Veränderungen nicht so sehr die Rolle als direktes Reservoir neuer Bilder und Szenarien für die Lebensmöglichkei98 Siehe zum ›Connected-Sein‹ und dem Kurzschluß des Gleichen an das Gleiche im integrierten Schaltkreis: Baudrillard 1989: 117ff. Diese historisch neuartige Erfahrung des globalen Verbundenseins verführt zuweilen auch zu einer kulturpessimistischen Auffassung, die düstere Zukunftsszenarien entwirft. So metaphorisierte Friedrich Kittler 1995 in einem Gespräch mit Paul Virilio die weltweite Vernetzung als »große Spinne, [...] [welche] die anderen Medien das Fürchten lernt.« (Virilio/Kittler 2001: 2, im Ausdruck) Die Anwesenheit des Nächsten könnte überflüssig, große Netzserver und Programmstrukturen könnten als Gesellschaftsmitglieder denkbar werden (ebd.). Virilio glaubte, aufgrund der erreichten Beschleunigung am »Ende aller Zeiten« zu sein, die neuartige Simultanität führe einen »historischen Unfall, wie es ihn nie gegeben hat« (ebd.: 3), herbei. Die Entdeckungen der Kernphysik – der Zerfall der Materie – beträfen auch die Sozialstruktur (ebd.: 7). Globale Informationsverbreitung wird hier von Virilio mit inhaltlicher Reduktion gleichgesetzt: das ziehe eine destruktive Wirkung nach sich. Er befürchtet, daß die Informationsbombe platzen könnte und der Menschheit eine größere Katastrophe bevorstehe als wir es mit Nationalsozialismus und Stalinismus erfahren mussten (ebd.: 11). Kittler prophezeite damals, daß eines Tages ein Schachprogramm Schachweltmeister sein wird (ebd.: 2). Das bewahrheitete sich allerdings. Denn in der Tat wurde Kasparow nur knappe zwei Jahre später, im Frühjahr 1997, von dem Schachcomputer Deep Blue besiegt. 70
»INS GEHIRN DER MASSE KRIECHEN« ten, sondern als machtvolle Instanz der Prägung sozialer Zeichensysteme.« (Appadurai 1998: 21)
Während es sich früher bei der Imagination um eine »Art Gegengift gegen die Begrenztheit sozialer Erfahrung« (ebd.: 22) handelte, drehe es sich nun darum, daß auf der ganzen Welt immer mehr Menschen ihr eigenes Leben »durch die Optik möglicher, von den Massenmedien in jeder nur denkbaren Weise angebotenen Lebensformen [betrachten]. Das bedeutet: Phantasie ist heute eine soziale Praxis geworden.« (ebd.) Wie auch immer man es benennt, man kann sich einig sein, daß sich im Verhältnis von Realität und Imagination etwas Entscheidendes verändert hat. Die Grenze zwischen ›real‹ und ›imaginiert/simuliert‹ hat sich verschoben. Manche behaupten sogar, sie hätte sich aufgelöst. Vorgestellte Wirklichkeiten werden nun in vorher nicht gekanntem Ausmaß ermöglicht.99 Für den Ethnographen bedeutet das vor allen Dingen, daß er, wenn er sich einen Ort als Forschungsobjekt wählt, nicht mehr davon ausgehen kann, »auf das, im Vergleich zu einer größeren Perspektive, Grundlegendere, Zufälligere und daher ›Realere‹ zu stoßen.« (ebd.: 23) Die Lösung des Problems bestehe laut Appadurai nicht darin, nun möglichst viele verschiedenartige literarische Modelle bei der ethnographischen Arbeit anzuwenden, sondern eine neue Form der Ethnographie zu finden, die »nicht so lokalisierend vorgeht.« (ebd.: 24) Der Ethnograph muß nach neuen Wegen suchen, möchte er »die Verknüpfung zwischen Imagination und sozialem Leben darstellen [...]. Das Darstellungsproblem ist nicht völlig identisch mit der vertrauten Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroanalysen.« (ebd.) Das gelebte Leben erscheint aus dieser Perspektive mehr durch vorstellbare Möglichkeiten gesteuert als durch gegebene Wirklichkeiten. Und die Medien suggerieren diese Lebbarkeit, die Realisierbarkeit des noch Unwirklichen. Daß immer auch alles anders sein könnte, diese Möglichkeit erlangt heute ihre volle Wirkkraft. Menschen basteln ihre Patchwork-Biographien zusammen und benutzen dabei das ihnen zur Verfügung stehende Material, sowohl aus ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung als auch das ihnen aus Fernsehen, Kino, Zeitschriften, Büchern usw. (also medial vermittelte) zufließende Material. Die Frage danach, welche Rolle die institutionalisierte Ethnographie bei der »Analyse der gelebten Erfahrung« (ebd.: 38), nach Appadurai die Aufgabe, welche der Anthropologie noch bleibt, spielen soll, steht freilich nach wie vor im Raum. »Wenn die Einheit von Raum, Stabilität und [kultureller] Reproduktion zerbricht, sind die Landschaften kollektiver Identitäten nicht länger vertraute Gefilde der Ethnologie.« (Berking 1998: 388) Es sind die selektive Herauslösung, kontextentbundene Zirkluation und erneute kulturelle Einbettung der einzelnen Menschen und Dinge, welche diese ihr spezifisches soziales und symbolisches Potential entfalten lassen. Die Imaginationskraft sorgt dafür, daß der Bedeu99 Unabhängigkeitsbewegungen werden von Anderson als Beispiel für eine frühe Konstruktion von Realität durch das Medium Schrift genannt. Siehe dazu: Anderson 1998: 75. 71
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tungsüberschuß von Wirklichkeit zur Konstruktion von neuen Wirklichkeiten verwendet werden kann.
1. »Die Kulturindustrie grinst: Werde was du bist [...] – D i e f a t a l e › N ä h e ‹ d e s F e r n s e h e n s « 100 »Jene fatale ›Nähe‹ des Fernsehens, Ursache auch der angeblich gemeinschaftsbildenden Wirkung der Apparate, um die Familienangehörige und Freunde, die sich sonst nichts zu sagen wüßten, stumpfsinnig sich versammeln, befriedigt nicht nur eine Begierde, vor der nichts Geistiges bestehen darf, wenn es sich nicht in Besitz verwandelt, sondern vernebelt obendrein die reale Entfremdung zwischen den Menschen und zwischen Menschen und Dingen«,
so Adorno in einem Text von 1955 (Adorno 1977). Es waren vor allen Dingen die in den 1940er Jahren nach Amerika emigrierten Mitglieder der Frankfurter Schule, welche eine grundsätzlich negative Bewertung von Massenkultur als narkotisierend und manipulierend vornahmen. Sie waren der Ansicht, daß »die in modernen kapitalistischen Gesellschaften durch Industrialisierung und Kommerzialisierung entstandene Massenkultur [...] aufgrund des Warencharakters ihrer Produkte als ideologisches Instrument der Manipulation der unterdrückten Klasse durch die herrschende Klasse betrachtet« (Lutter/Reisenleitner 1998: 42) werden muß. Nur wenn man der Überzeugung ist, es gäbe eine ›Hochkultur‹, die sich von einer ›Alltagskultur‹ distinktiv unterscheidet, kann ein ›Kulturverfall‹ beklagt werden. Mit massenhafter Verbreitung geht in dieser Perspektive auf Kultur ein Wertverlust einher. Durch die Schaffung ›falscher‹ Bedürfnisse würde die Arbeitermasse listig in das System des Kapitalismus integriert, die Welt erlebe man über den Bildschirm (vgl. van der Loo/van Reijen 1992: 171ff.). So spielte das Fernsehen für Adorno vor allen Dinge folgende Rolle: Die Kulturindustrie im allgemeinen tendiere dazu, das »Bewußtsein des Publikums von allen Seiten her zu umstellen und einzufangen« (Adorno 1977: 597), die Dimension des Sichtbaren werde nunmehr allgegenwärtig beherrscht, der Konsument »ohne Unterlaß bearbeitet.« (ebd.: 508) Die Fähigkeit zur Sublimierung, d.h. zum ästhetischen Genuß, könne beim Publikum der Kulturindustrie nicht vorausgesetzt werden, der Zuschauer empfinde zwar Vergnügen und das, was er konsumiert, als Eigentum, den einzigen Vorteil zögen jedoch die mächtigen, totalitären Institutionen, die dahinter stünden (vgl. ebd.: 509). Bereits Wortwahl und Sprachstil drücken überdeutlich aus, was Adorno dem Konsumenten zutraut: Die Realität wird ihm »serviert [und] aufgezwungen, [der] müde Angestellte, in Hemdsärmeln seine Suppe schlürfend [...] muß sich nicht einmal mehr fortbewegen, um ins Kino zu kommen« (ebd.: 510), davon abgesehen sei er sowieso nicht fähig, dem Gegenstand seiner Betrachtung Aufmerksamkeit, Anstrengung, Konzentration und Verständnis zu widmen. Neigungen, die im 100 Adorno 1977: 514 bzw. 511 (Ersterscheinung dieses Textes 1955). 72
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›Menschen der Massenkultur‹ sowieso angelegt seien, werden durch die Kulturindustrie nur noch verstärkt, um vollständig das Bewußtsein zurückzubilden, »die Situation verdummt, auch wenn der Inhalt des Angeschauten nicht dümmer ist, als womit die Zwangskonsumenten sonst gefüttert werden. Daß wahrscheinlich diese dem bequemen und billigeren Fernsehen mehr frönen als dem Kino, und mehr als dem Radio, weil sie zum Akustischen noch das Optische draufbekommen, trägt weiter zur Rückbildung bei. Süchtigkeit ist unmittelbar Regression.« (ebd.: 512)
Der Fersehzuschauer frönt dem billigen Konsum, welcher »industriell geplant« (ebd.: 513) sei, schlägt seine sinnleere Freizeit tot und bemerkt dabei gar nicht, wie sich nebenbei eine Konditionierung seines Verhaltens einschleicht. Das Fernsehen konformiere durch »Modelle des Verhaltens, das [...] dem Willen der Kontrolleure entspricht« (ebd.: 514), bereits seit dem 17. Jahrhundert, den Anfängen des englischen Romans, ist dem Publikum das »Schema der Massenkultur [...] eingehämmert« (ebd.) worden. Die Kulturindustrie tritt hier als mächtige Verführerin aufs Parkett, »die den mit Leiden bedroht, der sie durchschaut, und dem Belohnungen verspricht, der sie vergötzt.« (ebd.: 515) Während frühere Unterhaltungsformen (wie die Comedia dell’arte) so hochstilisiert waren, so daß niemand darauf verfallen konnte, »seine eigenen Erfahrungen nach den maskenhaften Clowns zu richten« (ebd.), werden heute jedoch »Hinz und Kunz [dargestellt, deren Gehabe] als gottgewollt und ein für alle mal etabliert ausgegeben« (ebd.) wird. Durch die Unfähigkeit des Publikums, »richtig zu wünschen« (ebd.: 516) und zur äußersten Anstrengung der Abstraktion vom Schein, gelänge es den Produzenten, die Massenkultur-Barbarei zu etablieren (vgl. ebd.: 516). Die einerseits von den Erfahrungen des totalitären Hitlerregimes, andererseits durch Freuds Psychoanalyse stark geprägten Ausführungen Adornos zeichnen ein düsteres Bild vom Menschen und bieten heute freilich keine zufriedenstellenden theoretischen Werkzeuge zur Beschreibung medialer Wirklichkeit mehr an (und taten dies wohl auch damals nicht). Sie geben ein schönes Beispiel dafür ab, wie Erfahrung die eigene Wahrnehmung erzeugt. Denn Massenkultur als eine Möglichkeit sozialer Kontrolle anzusehen, trifft die Wahrheit nur zu einem kleinen Teil. Mit einem anderen Teil beschäftigen sich die Cultural Studies. Können sich Subjekte wehren oder nicht? Können sie sich dem Ansturm und der Manipulation durch die Produkte der Massenkultur widersetzen oder sind sie längst ferngesteuert und glauben, Freiheit zu wählen, wenn sie am Kiosk ein Päckchen Marlboro kaufen? Letztendlich geht es um die Frage danach, was dem Subjekt zugetraut wird. Während dem Massenkulturansatz der ›Frankfurter Schule‹ 101 eine Unterscheidung in Hochkultur, zu deren Konsum eine 101 Wenn ich im folgenden der Einfachheit halber von den ›Frankfurtern‹ spreche, so meine ich damit selbstverständlich nur die im Rahmen dieser Arbeit eng gefaßte Bedeutung der ›Frankfurter‹ Massenkulturkritik-Richtung. 73
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aktive Entschlüsselung erforderlich sei und in Massenkultur, die leicht zugänglich sei und quasi passiv aufgenommen werden kann, zugrunde liegt, geht der Blick auf das Populäre bei den Cultural Studies in eine andere Richtung. Hier ist man darauf bedacht, sich »von einer Tradition der Mediensoziologie abzusetzen, die auf Prozesse der Entstehung und Produktion von Massenkultur konzentriert war.« (Lutter/Reisenleitner 1998: 51, H.i.O.) Die Kritische Theorie habe »zuwenig die Unterschiede von industrieller und kultureller Produktion berücksichtigt, [denn es zeige sich], daß der Einfluß der Produzenten [...] auf marktrelevante Entscheidungen über die Bedeutungen kultureller Produkte bei weitem geringer ist, als es die Frankfurter Schule annahm.« (ebd.: 59) Das, was der ›Sender‹ losschickt, ist längst nicht das, was beim ›Empfänger‹ ankommt. »Eine Analyse der Entstehungsbedingungen von Kultur ist also keineswegs ausreichend für die Beschreibung ihrer Auswirkungen.« (ebd.) Dabei trennte bis in die 1980er Jahre hinein beide Konzeptionen gar nicht einmal soviel. »Kulturelle Prozesse galten in den Cultural Studies qua Definition als ideologisch, da die Art und Weise, wie die Welt innerhalb einer Gesellschaft dargestellt wird, den Interessen der herrschenden Klassen und Gruppen entsprechen sollte. [...] Diese Art der Ideologiekritik [...] ist ein Form von Kulturkritik, die von dem Willen nach Entmystifizierung, Verurteilung und Verdammung angetrieben wird. Ihre dekonstruktive Praxis setzt voraus, daß der Forscher/Kritiker die marginale Position eines kritischen Außenseiters einnehmen kann.« (Ang 1999: 324f.)
Die Beschreibung eines möglichen Widerstandes benutzt dasselbe Denkmodell, nur in einer anderen Richtung, von unten nach oben, deshalb wirkt Ideologiekritik immer blickwinkeleinengend. Während dem ›Frankfurter Ansatz‹ das Ideal einer ›vollkommen transparenten Kommunikation‹ zugrunde liegt, geht der populärkulturelle Ansatz der Cultural Studies hingegen von einer ›systematisch zerstörten Kommunikation‹ aus. Stuart Hall entwickelte in den 1970er Jahren das encoding/decodingModell.102 Er fragte danach, wie »Medien Bedeutungen produzieren (encoding), wie diese zirkulieren und wie verschiedene Zuhörerschaften bzw. Individuen die gebotenen ›Texte‹ verwenden (decoding), um ihnen ihrerseits Bedeutung zu geben.« (Lutter/Reisenleitner 1998: 43) 103 Dabei teilt er die Vor102 Stuart Hall leitete von 1968 bis 1979 das Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham. Er stand damals stark unter dem Einfluß Althussers, distanzierte sich jedoch später von dem verengenden Ideologiebegriff und wendete sich stärker einem diskursanalytischen Modell im Sinne Foucaults zu. 1995 wurde er zum Präsidenten der British Sociological Association gewählt. 103 Der Text ist in der deutschen Fassung »Kodieren/Dekodieren« in Bromley/Göttlich/Winter 1999 erschienen und ist bis heute für die Medienanalysen der Cultural Studies richtungsweisend. 74
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stellung, die man davon haben kann, wie Kommunikation abläuft, in zwei Kategorien ein: Sendeanstalten und Produzenten strebten zwar das Ideal einer »vollkommen transparenten Kommunikation« (Hall 1999: 105) an, fänden sich aber mit einer »systematisch zerstörten Kommunikation« (ebd.) auf Seiten der Rezipienten konfrontiert. Nachrichten kommen nicht mit der Bedeutung an, mit der sie losgeschickt wurden. Das liegt daran, daß sich die Empfänger nicht auf einen dominanten Kode beschränken, sondern alternierende Lesarten, die spontan und unberechenbar hervorbrechen können, nutzen. Der kommunikative Prozeß besteht »nicht aus der problemlosen Zuordnung jedes [...] Punktes zu seiner gegebenen Position innerhalb eines abgesprochenen Kodes, sondern aus performativen Regeln – Regeln der Kompetenz und des Gebrauchs, der angewandten Logiken.« (ebd.: 104) Bei diesem interpretativen Vorgehen kann es keine zwangsläufige und somit berechenbare Korrespondenz zwischen ›Kodieren‹ und ›Dekodieren‹ geben, und deshalb wird im medialen Sektor immer mit Unerwartbarkeiten zu rechnen sein. Auf der anderen Seite ist es nicht so, daß intentionale Kommunikation überhaupt nicht funktioniert, Zuschauer lesen schließlich nicht in beliebiger Form Bedeutungen in Nachrichten oder Werbespots hinein. Vielmehr sei es so: »In einem ›determinierten‹ Moment bedient sich die Struktur eines Kodes und bringt eine ›Nachricht‹ hervor: In einem anderen determinierten Moment hält die ›Nachricht‹, vermittels ihrer Dekodierung, Einzug in die Struktur gesellschaftlicher Praktiken.« (ebd.: 96) Und hier liegt ein Moment möglicher kreativer Neuorganisation sozialen Sinns auf der einen Seite und des Risikos der ›Verzerrung‹ oder des Mißverständnisses für den Produzenten auf der anderen Seite. »Dieser Wiedereintritt in die Rezeptions- und Nutzungspraktiken der Zuschauer [läßt] sich nicht auf der Basis bloßer Verhaltensbeschreibungen erklären.« (ebd.) Genau das ist aber das Ideal der teilnehmenden Beobachtung: Bloße (objektive) Beschreibungen, sowenig wie möglich subjektiv verhaftet, von einer neutralen Zuschauerperspektive aus zu leisten. Die Beobachtung selbst aber wird von Verständisstrukturen vorgegeben, die von den jeweiligen sozialen und ökonomischen Verhältnissen mitproduziert wurden und ohne deren Vorhandensein eine Wahrnehmung gar nicht möglich wäre.
2. Lustvolles Shopping und Guerillataktik Wenn wir uns darüber Gedanken machen, was kulturelle Bedeutung ist und wer oder was sie erschafft (sie ist es schließlich, deren Sinn entschlüsselt werden soll, sowohl bei den Ethnographierten als auch bei den Rezipienten), so mag es wiederrum hilfreich sein, einen Text von Foucault zur Hand zu nehmen. Botschaft oder Rauschen (Foucault 1999b) 104 führt auf wenigen Seiten präzise vor Augen, wie sich das Problem konstelliert. Wenn sich der Arzt über 104 Der Text liegt hier erstmals in deutscher Übersetzung vor und ist entnommen aus: Michel Foucault, Dits et Écrits, Bd. 1, Paris 1994. 75
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den Patienten beugt, so entnimmt sein geschulter Blick auf den kranken Körper einer ursprünglich heterogenen Vielfalt einige Elemente, um sie zu einer homogenen Diagnose zu bündeln. Aus dem Rauschen wird Botschaft, und zwar durch Beobachtung und Untersuchung, die »Botschaft [hängt] von einem nach vorgängigen Regeln etablierten ›Kode‹ ab. [...] In der Natur [...] gibt es keinen Kode.« (ebd.: 141) Ein sibirischer Schamane hätte ein anders Krankheitsbild diagnostiziert, ein anderes Erklärungsschema und andere Methoden angewandt als der ›westliche‹ Arzt, aber vielleicht diesselbe Krankheit geheilt. »Freud hat aus den sprachlichen Äußerungen der Patienten, die vordem als bloßes Rauschen galten, etwas gemacht, das wie eine Botschaft behandelt werden mußte.« (ebd.: 142) Eine ähnliche Behandlung finden wir bei den Konsumenten und ›Wilden‹. Die Interpretation erschafft den Sinn einer Bedeutung. Bedeutung wird durch Diskrimination, durch Ausschluß, geschaffen – sowohl im ökonomischen, wie auch im kulturellen Sektor entscheidet die Kapitalbildung über abgrenzende Unterscheidungen.105 Und wo viele Bedeutungen sind, da sind auch viele Botschaften. Fiske weist anhand einer Analyse der amerikanischen Soap Married [...] With Cildren (deutsch: Eine schrecklich nette Familie) darauf hin, daß Unterscheidungen zwischen den zusehenden Teenagern und ihren Eltern »auf dem Bildschirm nicht sichtbar [sind], sondern [...] im Prozeß des Zusehens konstruiert [werden] – und auch nur dann.« (Fiske 1999: 244) Die entscheidende Wahrnehmungsdifferenz und die damit verbundene Pointe liegt in dem Unterschied zwischen der Sicht der Jugendlichen auf ihre Eltern und der Art und Weise, wie diese Eltern sich selbst wahrnehmen. Letzteres wird nicht auf dem Bildschirm gezeigt, sondern ist dem Publikum beim Zusehen nur bewußt. Fiske repräsentiert innerhalb der Cultural Studies eine Richtung, welche im individuellen Konsum eine Möglichkeit zum subversiven Akt sieht. Medienrezeption und Warenkonsum ermöglichten dem Verbraucher lustvolle Genüsse, welche damit zugleich die hegemoniale Ordnung bedrohten und einen Widerstandsmoment durch individuelle Bedeutungsverleihung symbolisierten. Sowohl die Ausübung von Macht wie der Widerstand gegen sie seien mit einem Lustempfinden verbunden. Populäre Kultur wird hier von innen und unten geschaffen und nicht von oben oktroyiert, wie dies von Kritikern der Massenkultur behauptet wurde. Jedes Bedeutungspotential gelangt durch Einbettung in variierende Kontexte zu unterschiedlichen Lesarten: »Für Frauen sind Einkaufszentren legitime, angstfreie öffentliche Orte, die sowohl der Straße 105 Siehe zur Abgrenzung mittels Geschmack und symbolischem Kapital: Bourdieu 1998. Lebensstile besitzen die soziale Funktion, kulturelle Vorlieben, die Lust an Teilhabe und Ausgrenzung, zu repräsentieren. Ästhetik wird im Reich der Hochkultur/Massenkultur als Waffe zur Abgrenzung und Unterdrückung eingesetzt, Geschmack ist deshalb in sozialem Sinne niemals unschuldig. Aus kontroversen und abweichenden Interpretationen kann in diesem Sinne ein subversiver Lustgewinn gezogen werden. Siehe dazu: Lutter/Reisenleitner 1998: 86f. 76
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als auch dem Heim gegenübergestellt sind; für arbeitslose Jugendliche sind sie ein Ort, wo man ›das System‹ austrickst, die Bilder, die Wärme und die Orte des Konsumismus in Anspruch nimmt, ohne irgendwelche der dort angebotenen Waren zu kaufen.«106 (Fiske 2000: 16) Bedeutung existiert sozusagen nur in ihrer Zirkulation und Wechselwirkung mit anderen Bedeutungen, nicht an sich. Da eine Ware sehr vielschichtig ist, d.h. zum einen aufgrund ihres materiellen Nutzens gekauft wird, zum anderen aufgrund ihrer Funktion zur Identitätsstiftung und des Lustangebots, haben ›beide Seiten‹ etwas vom Kaufakt, der Produzent und der Konsument. Durch semiotischen Widerstand gelingt es dem Konsumenten, auszuweichen und der herrschenden Macht zu entkommen. »Das Ausweichen ist die Grundlage des Widerstandes; vermeiden gefangen zu werden, sei es ideologisch als auch physisch, ist die erste Pflicht der Guerilla. [...] Die Fähigkeit, anders zu denken [...] ist die notwendige Ausgangsbedingung für gesellschaftliches Handeln.« (ebd.: 23) Selbstermächtigung erwirkt Selbstachtung, das wiederum, im Alltag eigene Interessen zu entwickeln und erfolgreich zu vertreten. Als Beispiel nennt Fiske das Shopping der Frauen »als eine oppositionelle, kompetitive Handlung [...], als Quelle von Leistung, Selbstachtung und Macht.« (ebd.: 32) Für ihn stellt shopping in erster Linie einen Kolonisationsakt des öffentlichen Raumes durch die Frau dar, welcher ansonsten vom Mann dominiert würde. Das Einkaufszentrum ist ein legitimer Aufenthaltsort und indem hier das Geld des Mannes ausgegeben werden kann, bestehe auch noch die Möglichkeit einer »widerständige[n] Handlung innerhalb der Politik der Ehe« (ebd.: 36). Kaufen und Besitz ebenso wie die Zurückweisung von Angeboten des Warensystems ermöglichten dem Konsumenten ein Gefühl der Kontrolle: wenn er sonst schon keine Wahl hat, so z.B. im Bezug darauf, ob, wann, wo, wie und als was er arbeiten möchte. (vgl. ebd.: 37ff.) Aber »Shopping kann nie eine radikale, subversive Handlung sein; es kann niemals das System einer kapitalistisch-konsumistischen Ökonomie verändern. Zugleich kann es aber nicht zureichend als eine Kapitulation vor dem System beschrieben werden.« (ebd.: 40) Denn die Bedeutung der Waren ist nicht in ihnen als Objekte angelegt, sondern sie wird »durch die Art erzeugt [...], wie sie konsumiert werden. Die Formen und die Gründe der Konsumation sind der Ort, an dem kulturelle Bedeutungen gemacht werden und zirkulieren; das System der Produktion und Verteilung liefert nur die Signifikanten.« (ebd.: 41, e.H.) In diesem Sinne ist die »Artikulation [kultureller Bedeutung] ein fortwährender Kampf, Praktiken in einem Feld von sich ständig ändernden Kräften neu zu positionieren, die Möglichkeiten des Lebens neu zu definieren, indem man das Feld der Beziehungen – den Kontext –, in dem die Praktik verortet ist, neu definiert.« (Lutter/Reisenleitner 1998: 82) 107 Und deshalb greife auch 106 Siehe dazu auch Fiske 2000: 29ff. Im Durchschnitt wird in einer Boutique nur von jedem dreißigsten etwas gekauft, siehe dazu: ebd.: 30. 107 Zitiert wurde hier von Lutter/Reisenleitner: Lawrence Grossberg, We gotta get out of this place: popular conservatism and postmodern culture, New York/ London 1992, S. 54. Articulation meint im Englischen sowohl ›ausdrücken‹ wie 77
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die marxistische Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert zu kurz, weil sie unterstelle, daß es einen Unterschied gäbe zwischen ›realem Wert‹, der sich aus der aufgewendeten menschlichen Arbeitskraft und dem enthaltenen Material zusammensetze und ›falschem Wert‹, der sich aus ideelen Zuweisungen ergäbe, dem ›schönen Schein‹, der sich aufdecken ließe (vgl. Fiske 2000: 42). Konsumation ist für Fiske ein Symptom für das Bedürfnis nach sozialer Kontrolle und Autonomie, weniger Anzeichen für den Wunsch nach Besitz. Er verbindet in seinen Analysen einen semiotischen und einen ethnographischen Ansatz zur Untersuchung des Konsumenten. Er betrachtet Konsumkultur als etwas, bei dem durch individuelle Aneignung aktiver Widerstand ermöglicht werden kann.108 »Popularkultur befindet sich demnach in einem ständigen Ringen mit dem Dominanten, in einer Art ›semiotischem Guerillakampf‹ ringen die Konsumenten der Kulturindustrie ihre eigenen Lustgewinne und Bedeutungen ab.« (Lutter/Reisenleitner 1998: 76) Die Möglichkeiten eines subversiven Aktes durch individuelle Bedeutungsumschreibung müssen dabei allerdings begrenzt bleiben. Vielmehr vermengen sich hier »›Unterwerfung‹ und ›Befreiung‹ [...] in einer ›Zone der Ununterscheidbarkeit‹.« (Graw 2001: 13) Während in den 1980er Jahren Madonna als Ikone feministischer Theorie dienen konnte und man der Ansicht war, sie sei das perfekte Beispiel für jemanden, der sich permanent neue Identitäten selbst konstruiere und sich dadurch selbst jeglicher Festlegung entziehe, so ist heute im akademischen Bereich niemand mehr ernsthaft davon überzeugt, daß in diesem Identitätspatchwork ein Moment der Freiheit zu erkennen sei. Vielmehr deutete sich in Madonnas häufigem Outfitwechsel bereits die »gesellschaftliche Norm der ›permanenten Neuerfindung‹ [an]. Jede individuelle Gestaltung, so persönlich befreiend sie auch sein mag, erweist sich als Ausdruck eines spezifischen Machtzugriffs. Nichtsdestotrotz hält man an der Suggestion eines ›freien Willens‹ fest.« (ebd.) 109
auch ›zusammenführen, verbinden, gliedern‹. Siehe dazu: Lutter/Reisenleitner 1998: 81. 108 Siehe dazu auch seine Analysen zum ›Phänomen Madonna‹: Fiske 2000: 113132. 109 Im Zeitalter der ›MTV-Ästhetik‹ spielt diese Form der Selbstinszenierung unter Jugendlichen – und Erwachsenen – eine große Rolle. Aus der unbegrenzten Auswahl des Warenkorb-Baukastens basteln sich die Kinder der ›Multioptionsgesellschaft‹ ihre eigene Kreativ-Identität zusammen. Innerhalb dieses Ozeans unendlicher Auswahlmöglichkeiten bedeutet es etwas, wenn diese Jeansmarke und nicht jene oder überhaupt keine Jeans mehr ausgewählt wird. Man kann in diesem Bereich nicht nichtaussagen. 78
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3. Befreiung durch Widerstand? So grau und hoffnungslos die ›Kulturindustriekritik‹ daher kommt, so schrill und bunt wirken die Versprechungen dieser ›Befreiungsrichtung‹. Beide Ansätze privilegieren zu stark einige Aspekte des Medienrezeptionsprozesses und verschütten dadurch dialektische Spannungen. Der anderen Seite kann mehr zugetraut werden, als jeweils vom Gegenüber angenommen wird. So hat Sony mit seiner Werbestrategie zur Play Station 2 einen geschickten Umgang mit einer vom User 110 losgeschickten Bedeutung durch ironische Selbstthematisierung bewiesen. Gezeigt wurde in einem Fersehspot ein ›Spielsüchtiger‹, dem die Beine vor der Play Station in einem Zementblock ›festgefroren‹ waren. Indem Sony selbst die Problematik der Spielsucht in seine Werbestrategie einbaute, entkräftigte der Konzern mögliche Bedenken auf Seiten der User, ja schrieb diese Bedeutung noch zu einer gewissen Coolness um.111 Hier ist der User sowohl Quelle als auch Empfänger einer Nachricht, welche mittels Feedback in den Kommunikationsprozeß eingebaut wurde. Konsum bzw. Rezeption können also mitunter selbst ein Moment des Produktionsprozesses sein (vgl. Hall 1999: 95). Der Rezipient ist kein ›pawlowscher Hund‹, für den das Fernsehprogramm eine »Verhaltensprogrammierung [...], etwa dem leichten Schlag auf die Kniescheibe vergleichbar« (ebd.: 98), darstellt. Fikses Analysen zum Populären sind von Foucaults Unterscheidung zwischen Machtausübung und Widerstand beeinflußt. Man kann Foucault jedoch keinesfalls ein Versprechen zur Befreiung, erst recht nicht durch ›bedeutungsvollen Konsum‹, unterstellen. Zunächst einmal war Foucault stark beeindruckt von den Analysen der Frankfurter Schule: »Wenn ich die Dienste der Philosophen der Frankfurter Schule anerkenne, so tue ich es mit dem schlechten Gewissen von jemandem, der ihre Bücher früher hätte lesen, sie früher hätte verstehen sollen. Hätte ich ihre Bücher gelesen, so hätte ich eine Menge Dinge nicht sagen müssen, und mir wären Irrtümer erspart geblieben. Vielleicht wäre ich, wenn ich die Philosophen dieser Schule in meiner Jugend kennengelernt hätte, von ihnen so begeistert gewesen, daß ich nichts weiter hätte tun können, als sie zu kommentieren.« (Foucault 1996b: 82) 112
Für Foucault gibt es jedoch kein Projekt der Befreiung, und diese Ansicht trennt ihn von den ›Frankfurtern‹: »Ich glaube nicht, daß die Frankfurter Schule zugeben könnte, daß wir nicht unsere verlorene Identität wiederzufinden, unsere gefangene Natur zu befreien, unsere fundamentalen Wahrheiten
110 Wenn im folgenden von ›User‹ die Rede ist, so ist das im Sinne von Rezipient oder Konsument gemeint. 111 Die unterschwellige Botschaft des Spots lautet: Die Playstation 2 ist so cool, daß dafür die Spielsucht in Kauf genommen werden kann. 112 Die Dialektik der Aufklärung erschien 1944 zum ersten Mal, wurde aber erst 1974 ins Französische übersetzt. 79
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herauszustellen haben.« (ebd.: 83) 113 Foucault trennt von den ›Frankfurtern‹ die Stellung des Subjekts, denn die Repressions- und Entfremdungshypothese bliebe einem marxistischen Humanismus verhaftet und der Marxismus hätte nichts einzulösen (vgl. Eribon 1998: 298f.). Es sei sinnlos, »sich auf die Vernunft als Gegenstück der Unvernunft zu beziehen. Letztlich, weil ein solcher Prozeß uns darauf festlegen würde, die willkürliche Rolle entweder des Rationalisten oder des Irrationalisten zu spielen.« (Foucault 1994b: 244f.) 114 Oder, wie Foucault an anderer Stelle verkündet: »Vor allem muß man den Spieß kaputt machen.« (Eribon 1993: 351) 115 Alle Bewegungen, die im Namen der Befreiung kämpfen, errichten letztendlich selbst wieder hierarchisierende Instanzen und verbleiben somit innerhalb des Machtdispositivs.116 »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.« (Foucault 1997a: 116) Wissen ist Grundlage für Machtausübung, es steht nicht außerhalb der Macht, beide sind eng verwoben und arbeiten strategisch zusammen. Die Behauptung, es gäbe ein distanziertes, machtunabhängiges und somit nicht angreifbares Wissen, welches nur mit großem Einsatz und Mühen als Wahrheit zu erkennen wäre, ist selbst ein Strategem der Macht. Normalität und Abweichung sind gesellschaftlich und kulturell konstruiert, was als ›natürlich‹ vorhanden erscheint, ist Produkt sozialer Beziehungen und Ergebnis dikursiver Praxis. Die Eigenschaft des Kodes ist es, gründlich ›naturalisiert‹ worden zu sein, denn die Differenz zwischen Zeichen und Referent wird ›normalerweise‹ nicht reflektiert. (vgl. Hall 1999: 99) 117 Dem Ideal der ›vollkommen transpa113 Foucault stellt in diesem Interview seine Analyse der Disziplinartechnologien den ›ökonomischen‹ Analysen der Frankfurter Schule gegenüber. Demnach gründete die vernunftmäßig arbeitende Rationalität im Europa der Aufklärung und bedingte sich in ihrer Entwicklung mit dem Schicksal der abendländischen Nationen. Das Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu erlangen, verkehrte sich in eine Herrschaft eben dieser Vernunft, welche immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert hat. 114 Siehe generell zum Verhältnis Foucaults zu den ›Frankfurtern‹: Eribon 1998: 294ff. 115 Dies war Foucaults Antwort auf eine Aussage ›Pierre Viktors‹ (mit wirklichem Namen Bernhard-Henri Lévy) anläßlich einer Diskussion zum Volkstribunal, welche 1972 geführt wurde. Lévy hatte gesagt: »Im ersten Stadium der ideologischen Revolution bin ich für die Plünderung, für ›Ausschreitungen‹. Man muß den Spieß umdrehen. Die Welt kann nicht umgestürzt werden, ohne daß dabei etwas kaputt gemacht wird.« (Eribon 1993: 351) 116 Unter Dispositiv soll im Sinne Foucaults Folgendes verstanden werden: Ein heterogenes Gefüge von Diskursen, Gesetzen, Institutionen etc. wird durch das Netz des Dispositivs zusammengehalten, es gehört ebenso wie die Macht der »Natur der Verbindung [...] [an]. Das Dispositiv ist also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben, immer aber auch an [...] Grenzen des Wissens gebunden [...]. Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden.« (Foucault 1978a: 119) 117 Hall bringt das Beispiel des Abbilds einer Kuh. Trotzdem sagt man gewöhnlich: ›Das ist eine Kuh.‹ (Hall 1999: 100) 80
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renten Kommunikation‹ der Sender liegt die unreflektierte Verwendung eines ›naturalisierten Kodes‹, welche zumeist aus Gewöhnung (oder ›Narkotisierung‹) entspringt, zugrunde. Diesen ideologisierenden Effekt zu enthüllen, bei dem die tatsächlichen Kodierungspraktiken im Verborgenen bleiben, war Wunsch der ›Frankfurter‹. Kodes ermöglichen es, Macht und Ideologie in bestimmten Diskursen zum Tragen zu bringen. »Sie führen die Zeichen auf die ›Landkarten der Bedeutungen‹ zurück, in die jede Kultur eingeordnet wird; und solchen ›Landkarten der sozialen Wirklichkeit‹ ist die gesamte Bandbreite sozialer Bedeutungen, Praktiken und Bräuche, von Herrschaft und Interesse ›eingeschrieben‹.« (ebd.: 102) Wenn man Bedeutung lediglich subversiv ›umschreibt‹, so verbleibt man innerhalb ein und desselben Macht- und Bedeutungssystems und stützt die dominante Ordnung sogar noch.118 Denn Macht und Widerstand gehören zusammen, der Widerstand stellt eine Quelle der Unordnung dar und ist somit notwendiges Funktionselement der Macht. Wer Konsumtion also als »Anti-System der Produktion, [als] eine (individuelle) Taktik, durch die die Unterdrückten sich zur Wehr setzen« (Lutter/Reisenleitner 1998: 77), definiert, der verbleibt selbst im Diskursfeld der Repressions- und Befreiungshypothese der ›Frankfurter‹, der stellt sich zwar auf die andere Seite, unterstützt jedoch letztendlich die bestehenden Kraftlinien, die das Machtfeld durchziehen. Die Beobachtung, daß User den von ihnen konsumierten Produkten selbst Bedeutung verleihen, erbringt keinen Gegenbeweis zu der These, Massenkultur ließe den Rezipienten verdummen, betäube den Geist und fördere die Passivität. ›Aktiv‹ darf nicht mit ›mächtig‹ verwechselt werden (vgl. Ang 1999: 326). Man möchte sich keine Bedeutungen, und erst recht nicht vom profitorientierten Produzenten, vorschreiben lassen. Erinnert fühlt man sich jedoch beim Betrachten der kreativen Selbstaneignung en masse eher an einen »Konformismus des Andersseins« (vgl. Bolz 1999). Die Kritik kommt denn auch gleich aus den eigenen Reihen. »Zu einem Zeitpunkt, wo die Grenzen zwischen Hoch- und Popularkultur sich ohnehin verwischen und sich ein neuer Elitarismus im eleganten und zwanglosen codeswitching manifestiert, der die Beherrschung aller Kodes voraussetzt, scheint die Zelebrierung von nichtelitären Kulturformen nicht einmal mehr als allgemeine Taktik eines emanzipatorischen akademischen Projekts sinnvoll.« (Lutter/Reisenleitner 1998: 79, H.i.O.)
Die Mikropolitik der Konsumaneignung hat kaum mehr zu bieten als einen kleinen Lustgewinn im Alltag. Und man hat erkannt, daß die Macht nicht einfach von oben kommt. »Verantwortlich für Hegemonie ist in fortgeschrittenen liberal-demokratischen, kapitalistischen Gesellschaften nicht der Staat – der 118 »Wir sprechen von ›dominant‹, weil es ein Muster ›bevorzugter Lesart‹ gibt. [...] Die Bereiche der ›bevorzugten Bedeutungen‹ bergen die gesamte soziale Ordnung in Form von Bedeutungen, Praktiken und Überzeugungen in sich.« (Hall 1999: 103) 81
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ein Zwangsregime ausübt –, sondern die Zivilgesellschaft mit ihren Institutionen Erziehungswesen, Familie, Kirche, Massenmedien und Popularkultur.« (ebd.: 81, H.i.O.) Konsens wird hier in den unteren Reihen der Gesellschaft durch Anpassung, Neubildung und Kompromißlösungen hergestellt, in einem fortdauernden Prozeß der »verhandelte[n] Konstruktion, nicht als gerichtete Indoktrination.« (ebd.) Eine Welt der Hochkultur/Massenkultur funktioniert nur durch Ausschluß, das bedeutet auf der einen Seite exklusiven Genuß, auf der anderen Seite Kultur, die für alle zu haben und deshalb weniger begehrt ist. Ästhetisierung und Sublimierung des Genusses – was letztendlich nichts anderes bedeutet, als Unterprivilegierten den Zugang zum ›geschmackvollen‹ Konsum zu verweigern – ist selbst ein Mittel zur Distinktion, Abgrenzung und damit zur Unterdrückung. Unterdrückung wird ausgeübt, indem Verhaltensweisen und Bedeutungsverwendungen kontrolliert werden. Sich dieser Kontrolle zu entziehen, ohne dem totalitären Denkmodell aufzusitzen, oben, auf der ›anderen Seite‹ sitze jemand, der die Fäden zieht, eröffnet die Möglichkeit, vorübergehend aus dem System herauszutreten. Der Konsument ist nicht das passive, dumme Herdenschaf, dem System hilflos ausgeliefert, sondern selbst kreativer Produzent von Bedeutung. Diese kleinen Siege im Alltag sind natürlich eher progressiver als radikaler Natur. Wie Fiske feststellt, gibt es jene, »die sagen würden, daß solche Taktiken letztendlich nur dazu dienen, das System zu stärken. [...] Wenn man dieses Argument in sein Extrem treibt, würde das bedeuten, daß es umso besser wäre, je mehr die Unterdrückten leiden, da ihr Leiden eher die Bedingungen für radikale Reformen schaffen würde. Das mag theoretisch korrekt sein, ist aber kaum populär.« (Fiske 2000: 24) Das reduktive ›Vernebelungsmodell‹ der Frankfurter, in dem kreative Sinngebungen keinen Platz hatten, wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Aber der Aufruf zum kreativen Identitätsentwurf stellt auch keine Parole dar, die zur Befreiung führt. Wie Fiske selbst anführt, können ausweichende semiotische Widerstände nur für das Wachstum und die Aufrechterhaltung von Bedingungen für eine gesellschaftliche Reform sorgen, welche dazu beitragen, im Moment eines Umbruchs darauf vorbereitet zu sein, diese auszunutzen, »aber sie können nicht aus sich heraus solche Bedingungen schaffen.« (ebd.: 25) Doch der westliche Kapitalismus »scheint viel verwundbarer für Guerillaanschläge zu sein, als für offene strategische Angriffe – und genau hier müssen wir nach der Politik der Popularkultur suchen.« (ebd.) Aber erst wenn man sich außerhalb des Befreiungsmodells bewegen würde, wäre man befreit. Befreit zumindest von der Sehnsucht nach Befreiung, was auf dasselbe hinausläuft.
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4. Was ist ein aktiver Zuschauer? – Zur Ethnographie des Konsums »In den letzten Jahren [...] [hat] der Terminus ›Ethnographie‹ im Bereich der Zuschauerforschung totemistische Qualitäten gewonnen.« (Morley 1999: 299) Vorweg geschickt: Das Erkenntnisinteresse, welches zur Forschung antreibt, ist auch hier nicht zu übersehen. Durch audience researches mittels der Anwendung qualitativer ethnographischer Methoden möchte man herausfinden, was ›in den Köpfen‹ an Sinn produziert wird, um gezielt produzieren und absetzen zu können. »Seit einigen Jahren beginnen sich die Rundfunk- und Fernsehgesellschaften Sorgen über die Unaufmerksamkeit der Zuschauer zu machen: Fernbedienung und Videorecorder haben – Stichwort: Zappen – das Sehverhalten der Zuschauer nachhaltig verändert. Erst sehr spät wurde erkannt, wie wenig die Tatsache, daß der Apparat eingeschaltet ist, mit der realen Aufmerksamkeit der Zuschauer zu tun haben muß.« (ebd.: 283)
Laut Morley konnte eine Beantwortung der grundlegenden Frage nach der Beeinflußbarkeit des Fernsehpublikums trotz des enormen Forschungsaufwandes nicht erzielt werden, vielmehr wurde »methodischer Rigorismus mit Verstehen verwechselt.« (ebd.) Den meisten Statistiken zum Fernsehverhalten läßt sich nur bedingt vertrauen, weil diese im Auftrag der Sender erstellt werden, vor allem, um festzulegen, wieviel die Werbeminute zur besten Sendezeit kostet. Werbekunden passen ihre Produkte zunehmend ausgewählten sozialen Gruppen oder Marktsegmenten an, deshalb müssen sie erfahren, welche Zielgruppe welche Fernsehsendung konsumiert. Laut Fiske begannen die Sendeanstalten sich aufgrund der neuen Publikumsvielfalt den Kopf wie Dinosaurier zu zerbrechen, die überlegen, wie sie mit dieser sich verändernden Welt umgehen sollten.119 Abgesehen davon, daß man nicht weiß, wie ferngesehen wird 120, weiß man inzwischen genau, daß sich die User eine Verwendungsbedeutung nicht vorschreiben lassen, da Botschaft nicht eindeutig kodierbar ist. Lassen wir einmal den Sender-Aspekt beiseite, so tauchen deutliche Parallelen auf zwischen den ›Wilden‹ und den ›Zuschauern‹. Indem man ethnographische Forschungs- und Beobachtungsmethoden übernimmt, verspricht man sich ein close-up der Rezipienten. Rezipienten heißt hier Konsumenten, denn man möchte vor allen Dingen dahinter kommen, wie Trends ausgelöst werden und welche 119 Aber doch nicht in ihr werden überleben können, wie Fiske durch diese Metaphernwahl nahe legt. Siehe dazu: Fiske 1999: 240. 120 Morley sagt dazu, daß »nicht das Fernseh-Gucken selbst, sondern irgend ein anderer Faktor gemessen (eingeschalteter Apparat, Anwesenheit im Raum)« wird (Morley 1999: 285). Außerdem werde das Einschalten des Apparates als Wunsch gedeutet, ein bestimmtes Programm zu sehen, dabei kann das genauso gut als Reflexhandlung oder als Alibi dafür, der häuslichen Kommunikation zu entgehen, stattfinden. Siehe dazu: ebd. 83
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Werbestrategien erfolgreich sind.121 Immerhin liegt die Mißerfolgsquote für die Absetzung neuer Produkte beispielsweise in den USA bei etwa 80 bis 90 Prozent, trotz des Vorhandenseins eines immensen Werbeapparates.122 Und ein PR-Spezialist von Sony (Tokyo) ist der Ansicht, daß Marktforschung, zumindest für sein Unternehmen, überflüßig sei. In einem Interview heißt es: »Kracht: Warum ist Sony so cool? Sony: Weil wir niemals Marktforschung machen. [...] Wir denken uns etwas aus, bringen es auf den Markt und erschaffen so den Markt dafür. Und da wir den Markt selbst erschaffen, erschaffen wir auch die Nachfrage. Diese halten wir dann gesteuert hoch, weil wir ein Produkt nur in geringer Stückzahl produzieren. [...] Kracht: Und das funktioniert? Sony: Wie Sie sehen, sehr gut. [...] Der Sony Vaio [...] beherrscht plötzlich, aus dem Nichts kommend, ein gutes Viertel des gesamten japanischen Laptop-Marktes, obwohl Sony noch nie davor im Laptop-Bereich präsent war.« (Kracht 2000: 178) 123
Nichtsdestotrotz wird an dem Glauben festgehalten, Werbung sei notwendig und funktioniere. Zum Teil tut sie das natürlich auch.124 Das zeigt sich beispielsweise an der Plazierung der teuersten Werbeblöcke zu den Hauptsendezeiten. Genauso wenig wie ›Die Wilden‹ gibt es ›Die Fernsehzuschauer‹ unabhängig von der Konstruktion ihrer Kategorie. »Die Definition von ›Publikum‹ hängt von der Art seiner Lokalisierung in der Sozialordnung ab. [...] Jede Publikumskategorie unterscheidet sich von den anderen nur während des Untersuchungsprozesses: In der gelebten Kultur gibt es keine Grenzen zwischen den Kategorien.« (Fiske 1999: 250) Was bleibt, wenn das Forschungsinteresse und das konstruierende Moment des Forschungsprozesses ›wegreflektiert‹ werden, noch übrig an ›wahrhaftig vorhandener Empirie‹, an Daten und Fakten? Denn das, »was wir als unsere Daten bezeichnen, [sind] in Wirklichkeit unsere Auslegungen [...]. Schon auf der Ebene der Fakten [...] erklären wir, schlimmer noch: erklären wir Erklärungen.« (Geertz 1999: 14) In der Debatte darum, was ein ein ›aktives Publikum‹ sei, werden die Unterschiede zwischen eher positivistisch und eher systemisch orientierten Ansätzen deutlich. Die Cultural Studies sind nicht der Ansicht, daß durch eine aktive Auswahl tatsächliche Bedürfnisse befriedigt werden. »Ihnen zufolge kön121 Ebenso wie man sich durch eine genaue Kenntnis der Kolonialgebiete und ihrer Bewohner eine effektive Unterwerfung versprach. 122 Siehe dazu: Fiske 2000: 27. Mit 80 bis 90 Prozent wird natürlich nicht der Warenkonsum an sich abgelehnt, sondern ein bestimmtes Produkt, statt dessen wählt der Konsument ein Konkurrenzprodukt. Es geht also nicht um die Frage, ob überhaupt Cola getrunken wird, sondern welche Sorte. 123 Der gelbe Bleistift präsentiert eine Zusammenstellung von Essays, die allesamt in der Süddeutschen Zeitung zwischen 1992 und 1999 erschienen sind. 124 Der Erfolg von Werbung läßt sich vielleicht am besten an dem Verzicht auf sie verdeutlichen: Unternehmen, die überhaupt nicht für sich werben, gehen zugrunde, weil sie nicht wahrgenommen werden. 84
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nen Bedürfnisse [...] nur durch soziale Handlungen befriedigt werden; die Aktivität der Mediennutzer besteht in der Artikulation dieser Bedürfnisse innerhalb der sozialen Beziehungen, die sie sowohl hervorbringen als auch beschränken.« (Fiske 1999: 255) Der Postivismus nehme an, »daß das Publikum nicht einfach dort ist, wo das Fernsehen wirksam wird, sondern daß es selbst ein Ergebnis des Fernsehens ist.« (ebd.: 256) Für die Cultural Studies jedoch »sind die Bedeutungen der Sendung eher eine Folge ihres sozialen Verhaltens [der Zuschauer, S.N.], als ihr soziales Verhalten eine Folge der Sendung ist.« (ebd.) Alle – die Sendungen, die Hersteller und die Menschen, die sie sehen – sind aktiv an der Bedeutungsproduktion beteiligt »und die Beziehungen zwischen ihnen sind nicht solche von Ursache und Wirkung, [...] sondern solche von Systemhaftigkeit.« (ebd.) Fiske deutet an, daß der Ausdruck ›Publikum‹ fälschlicherweise hinweist auf Individuen, »die zum Monarchen oder Papst gerufen wurden.« (ebd.) Die Zuschauerschaft wird hier als »machtloses, leeres ›Behältnis‹« (ebd.), als reiner Empfänger innerhalb eines eindeutig monologischen Machtverhältnisses diskursiv konstruiert. Der systemische Ansatz der Cultural Studies betrachtet die Zuschauerschaft jedoch in vielfältiger Weise als der ›Botschaft‹ vorgängig. »Sie gehen nicht davon aus, daß das, was statistisch betrachtet das Normalste ist, deshalb auch das Bedeutendste sein muß. Statt dessen erkennt die Diskursanalyse [...], daß seltene und abweichende Verwendungsweisen von Sprache hochbedeutsam sind. [...] Systeme sind an ihren Rändern oft empfänglicher für Wandel.« (ebd.: 257) Eine Aussage erhält nicht höheren Geltungswert, je mehr Personen sie treffen, sie ist von Bedeutung, weil sie eine Praktik eines Systems darstellt. »Die Diskursanalyse betrachtet keine Äußerung als repräsentativ für eine andere, [...] [sie] untersucht Äußerungen, um zu verstehen, wie sich die Möglichkeiten des Sprach- und Sozialsystems im Augenblick der Verwendung überlagern.« (ebd.: 253) Fiske möchte seinen Ansatz abgegrenzt wissen von anderen kritischen Theorien, v.a. der Politischen Ökonomie und der Ideologietheorie. Während ersterer vor allem die ökonomischen Beziehungen zwischen Produzent und Konsument beleuchtet – »Je mehr er bei McDonald's ißt, desto mehr werden seine Bedürfnisse zur Ware, und desto mehr werden seine Bedürfnisse, die nicht durch Waren befriedigt werden können, ausgelöscht.« (ebd.: 258) – und für diesen Ansatz »Konsum gleichbedeutend mit der Reproduktion des Kapitalismus« (ebd.) ist, sind die Cultural Studies der Ansicht, daß hier die Strategie mit ihrer Wirksamkeit verwechselt wird. In der Ideologietheorie, insbesondere in der Variante Althussers, »spielt die Subjektivität die Rolle, die die Ware in der Politischen Ökonomie innehat.« (ebd.: 259) Alle, die im Kapitalismus leben, werden zu Subjekten, die der Ideologie unterworfen sind. Ihre institutionalisierten Mechanismen hat das Individuum internalisiert, das subjektive Bewußtsein wurde sozial kolonialisiert. Stuart Halls ›Wende zu Gramsci‹ brachte die Rolle des Kampfes ins Spiel. Die Hegemonietheorie geht davon aus, daß ideologische Beeinflussungen am Subjekt nicht ohne Auseinandersetzungen zur Wirkung kommen können: Ein zeitweiliges Arrangement, 85
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eine vorübergehende Zustimmung auf Seiten der Unterworfenen seien notwendig, damit Beherrschung funktioniere. Deshalb ist die hegemoniale Führung einem ständigen Wandel unterworfen, so auch im Kampf um Bedeutung. Sein prozeßhafter Charakter wird von den Cultural Studies dadurch betont, daß sie ihr Augenmerk auf die »heimliche Produktion auf der Mikro-Ebene« (ebd.: 262) richten. Die geringe Sichtbarkeit solcher Vorgänge sollte keinesfalls mit geringer Bedeutung verwechselt werden. »Das Schaffen von Lücken reicht aus, um den Machtblock (power block) zur zügigen Reparatur seines Systems herauszufordern.« (ebd.: 246) Innerhalb der Populärkultur wird die Unterscheidung in Hoch- und Massenkultur nicht mehr getroffen, man kann zugleich Bach- und Fußballfan sein. Während man früher massenkulturellem Konsum eine stärkere Körpereinbezogenheit und Emotionialität unterstellte und hochkulturellen Genuß mit Kontemplation und reflektierter Selbstkontrolle assoziierte, haben wir es heutzutage vielmehr mit einem in sich selbst hochdifferenzierten ›populärkulturellem Ganzen‹ zu tun, in welchem sich eine Vielzahl vorstellbarer und gelebter Distinktionsmöglichkeiten der Individuen voneinander ergeben. Man sollte sich überlegen, ob Dualismen wie Hoch/Masse, aktiv/passiv oder innen/außen in einer solcherart gestalteten sozialen Wirklichkeit überhaupt noch geeignete Beschreibungswerkzeuge abgeben. Ließe man sie beiseite, so ließen sich auch (Ab-)Wertungen vermeiden. Auch rein analytische Kategorien formen Wahrnehmung und Wirklichkeit. Verwendet man den Begriff ›Populärkultur‹, so sollte dies ohne die problematische Assoziation, die Produktion von Populärkultur ginge allein von den Leuten selbst aus, geschehen. Dadurch ließe sich auch die zuweilen betriebene ›Fetischisierung des Widerstands‹ durch einige Vertreter der Cultural Studies vermeiden. Das Publikum mag zwar bei einer oppositionellen Lesart Vergnügen empfinden, jedoch darf die Feststellung dessen nicht zum Verlust der sozialkritischen Perspektive führen. (vgl. Kellner 1999: 350ff.) Kellner schlägt vor, durch eine Verbindung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule mit den Cultural Studies die disziplinären Aufspaltungen innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaften zu überwinden. Die Schwäche der Kritischen Theorie – ihr Elitarismus gegenüber Massenkulturphänomenen und ihr Ideal der ›authentischen Kunstwerke‹ – könnte die Schwäche der Cultural Studies – ihre Übergewichtung der ›Mikropolitik des Alltags‹ und ihre ›Fetischisierung des Widerstands‹ – ausgleichen und umgekehrt. (vgl. ebd.: 357f.) 125
125 Eine ähnliche gegenseitige ›Schwächenabgleichung‹ bietet sich auch zwischen klassischer Ethnologie und Cultural Studies an. Siehe dazu Kapitel IV. 5 in diesem Band. 86
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Wenn die Grenzen von Örtlichkeit verschwimmen, d.h. wenn sich kulturelle Identität und räumliche Herkunft nicht mehr decken, die Heimat nur mehr ›Raum des Übergangs‹ 126 ist, so ist es nicht mehr möglich, sich in ein bestimmtes ›Feld‹ zu begeben und die dort ansässige Kultur zu erforschen. Es stellt sich die Frage, warum in dem einen Bereich eine Methodenanwendung propagiert wird (im Bereich der Konsumentenerforschung), über deren Unanwendbarkeit man sich im anderen, eng benachbarten Bereich (dem der ›Wilden‹) einig ist.127
5. Lizenz zur Selbstdarstellung – Das Fremde der C u l t u r a l S t u d i e s 128 Die Publikumsanalyse der Cultural Studies ist »keine Ethnographie im anthropologischen oder sozialwissenschaftlichen Sinn; sie zielt nicht auf ein umfassendes oder vollständiges Verstehen der gesamten Lebensweise« (Fiske 1999: 253) der Untersuchten. Sie möchte Einblicke gewinnen und diese Einblicke in eine systemische Beziehung zu anderen Einblicken setzen. »Was das empirische Detail an das Allgemeine bindet und so seine Aussagekraft etabliert, ist eine systemische und nicht eine repräsentative Beziehung. Die Daten sind also insofern empirisch, als sie sich auf tatsächliche Erfahrung stützen, aber sie sind nicht empiristisch, da von ihnen nicht behauptet wird, daß die Erfahrungsebene eine objektive Existenz besitze, die die Bedingungen ihrer eigenen Bedeutung stellt. Ihre Bedeutung entsteht nur an den Schnittstellen mit einer anderen ontologischen Ebene – der des Systems oder der strukturierenden Regel.« (ebd.: 254) 129
Von Seiten der Ethnologie wurde den Cultural Studies oft vorgeworfen, sie praktizierten keine ›richtige Feldforschung‹: »With respect to methodology, ethnography is the anthropologist's trump card. Cultural Studies practioners claim they would like to learn to play the card, even though they seem (in this collection at least) mostly to avoid touching it.« (Handler 1993: 993) 130 Um
126 Siehe dazu Homi K. Bhabhas Diaspora- und ›Dritte-Räume-Konzept‹ (Bhabha, 1994). 127 Siehe mein Kapitel zur Writing Culture-Debatte, welche die Repräsentationskrise innerhalb der Ethnologie als ›Wissenschaft vom kulturell Fremden‹ ausgelöst hat, Teil III. in diesem Band. Laut Morley möchte innerhalb der Medienwissenschaften plötzlich jeder ein Ethnograph sein. Siehe dazu: Morley 1999: 299. 128 Teile dieses Kapitels habe ich auch schon andernorts behandelt, siehe dazu: Niekisch 2001. 129 Fiske weist darauf hin, daß der Begriff ›Struktur‹ bzw. ›strukturell‹ in positivistischen und systemischen Modellen völlig anderen Verwendungsweisen unterliegt. (Fiske 1999: 254) 130 Die angelsächsische Debatte über Cultural Studies und Ethnologie dokumentieren Stephen Nugent und Chris Shore in: Nugent/Shore 1997 und Peter Wade 87
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die Vorwürfe, die an die Cultural Studies von Seiten der Ethnologie häufig herangetragen werden, kurz zusammenzufassen: Man wirft ihnen Oberflächlichkeit und mangelnde Seriosität vor, aus ethnologischer Sicht vermögen die Cultural Studies nicht, bedeutungsvolle und tiefgehende Analysen von sozialem Leben durchzuführen. Sie würden keine Fremderfahrung im existentiellen Sinne des stationären Langzeitfeldaufenthaltes machen, dennoch aber die Methode der teilnehmenden Beobachtung entwenden, allerdings für die Anwendung im eigenen kulturellen Bereich, ohne dabei exakt und systematisch vorzugehen. Damit ignorierten sie den theoretischen Hintergrund der Ethnologie, so daß schlecht fundierte und oberflächliche Untersuchungen daraus resultierten. Die Betonung liegt dabei auf der Entwendung einer spezifisch ethnologischen Methode und ihrer anschließend falschen Verwendung. Diesem Vorwurf liegt eine grundsätzliche Implikation zugrunde: daß die Überschreitung einer Grenze, zumeist territorialer Art, und das Verweilen in der Fremdheit den Blick öffnet für kulturelle Phänomene und ein Fremdverstehen ermöglicht. Das erinnert an die erkenntnisphilosophische Einsicht, daß sich das Vertraute nur verstehen läßt, wenn man es verloren hat. Der Verlust hebt es aus der Unsichtbarkeit heraus, die Befremdung ermöglicht den Blick mit anderen Augen. (vgl. Plessner 1996: 168ff.) Aber öffnet die Fremderfahrung, also der Verlust des Eigenen, auch den Blick für das Fremde? Und macht diese Trennung in Eigenes und Fremdes überhaupt noch Sinn in Zeiten der Enträumlichung? Es gehörte zur spezifischen Erfahrung des modernen Menschen, eine vormals nicht gekannte Form der Selbstbeobachtung zu verinnerlichen. Das ›Fremde‹ muß aus Sicht der Cultural Studies nicht zwangsläufig außerhalb des eigenen Territoriums liegen. Die Position des außenstehenden Beobachters, der mit seinem panoptischen Blick das Fremde bannen kann, gehört ins diskursive Feld des 19. Jahrhunderts. Die von den Cultural Studies praktizierte lived experience wird von der Ethnologie als unwissenschaftlich verbannt, weil es sich dabei um eine subjektive Erfahrung handele. Den Cultural Studies ist es aber gerade daran gelegen, unterrepräsentierte Erfahrungen in den akademischen Diskurs einzuführen. Wenn jemand über Insider-Wissen verfügt, umso besser. Hier kommt ein grundsätzlich anderer Umgang mit ›Wissenschaftlichkeit‹ zum Tragen. Zwei Eigenschaften der Cultural Studies mögen innerhalb des akademischen Feldes befremdend wirken: ihre intellektuelle Praxis, Cultural Studies als ein Projekt zu verstehen, welches Theorien aus verschiedenen Disziplinen als Werkzeugkasten (und nicht als ›Lehnstuhl‹) nutzt und ihr eng damit zusammenhängendes, fehlendes Bestreben, sich zu institutionalisieren. Gerade ihre Disziplinungebundenheit ist aber notwendige Voraussetzung der Erforschung kultureller Praxen im Sinne der Cultural Studies. (vgl. Göttlich/Winter 1999: 27ff; Lindner 1994/1998) in: Wade 1997. Vgl. außerdem Rosaldo 1994, Knauft 1994 und Lindner 2000: 70-96. 88
»INS GEHIRN DER MASSE KRIECHEN«
Was das Fremde für die Ethnologie ist, wurde in Kapitel II. (Grenze, Ethnizität und Fremdheit) dieses Bandes ausführlich erläutert. Es wurde deutlich, daß der Betrachtete Objekt nur aus der Perspektive des Forschers ist, aber diese Zuweisung keine ›Objektivitätsgarantie‹ nach sich zieht. Der Blickwinkel der Forschungssituation bringt es so mit sich. Nun soll erläutert werden, was das Fremde für die Cultural Studies darstellt. Im Anschluß daran wird deutlich werden, warum die Cultural Studies die Methode der teilnehmenden Beobachtung übernehmen und im eigenen kulturellen Bereich anwenden können, ohne dabei zwingend einen ›Objektivitätsverlust aufgrund subjektiver Befangenheit‹ einbüssen zu müssen. Die analytische Beschäftigung mit dem Eigenen, so eine Prämisse der Ethnologie, sei aufgrund der subjektiven Befangenheit nicht möglich, der Blick für die Besonderheiten werde durch Vertrautheit verstellt. Die Fremderfahrung mag eine notwendige Bedingung für Erkenntis sein, vergessen wird beim Aussprechen dieses Vorwurfes aber, daß man auch innerhalb der eigenen Gesellschaft auf vielfältigste Weise fremd sein kann: Man denke nur an den marginal man Robert E. Parks131 und an die scholarship boys Richard Hoggart und Raymond Williams132 – Menschen, die aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen ›zu Hause‹ in zwei Welten leben und zwar für immer: sozusagen in stationärem Feldaufenthalt auf Lebenszeit. Für sie ist die Heimat nur ein Ort des Übergangs und für immer mehr Menschen auf der Welt wird das zur gelebten Alltagserfahrung.133 Die Cultual Studies geben mit ihrem Interesse für die lived experience die »Lizenz zur Selbstthematisierung, [...] [das] wirkt befreiend, weil das persönliche Interesse an und die persönliche Erfahrung mit dem Thema nicht länger als Tabu behandelt und hinter dem Paravent der Objektivität verborgen werden muß.« (Lindner 2000: 87) Hier werden persönliche Erfahrungen zu kulturellem Kapital, weil sie einzigartiges Erfahrungswissen ins akademische Feld einführen. Die Ethnologie hat sich zwar schon immer mit gelebter Alltagserfahrung beschäftigt, aber die Privilegierung des Exotischen adelte das Fremde auf eigene Art zu etwas Besonderem, zu einer abgewandelten Form von ›Hochkultur‹. Den marginal man unterscheidet vom Feldforscher die Art seiner Fremderfahrung: Er hat sich sein Schicksal nicht gewählt, sondern seine existentielle Grenzerfahrung findet aufgrund eines ›Geworfenseins‹, eines ›sich konfron131 Siehe zum marginal man: Makropoulos 1988. 132 Die scholarship boys gehörten im England der 1950er Jahre der ersten Arbeiterklassengeneration an, denen eine höhere Schulbildung zuteil wurde. Das entfremdete sie zugleich ihrer Herkunft, sie wurden zu kulturell heimatlosen Persönlichkeiten, die sich mit keiner ›Welt‹ völlig identifizieren konnten. 133 Dafür gibt es inzwischen vielfältigste terminologische Bezeichnungen, erinnert sei hier nur an Homi K. Bhabhas ›Dritte Räume‹, siehe auch FN 126 in diesem Band. 89
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tiert Sehens mit‹ statt, er ist nicht mehr das eine und noch nicht das andere, er ist dazwischen. Der Feldforscher hingegen sucht freiwillig – kraft seiner Entscheidung – die Fremderfahrung, welche zumeist mit einem habituellen Prestigegewinn verbunden ist (da die Feldforschung fachintern als ›Initiationsritus‹ gehandelt wird) und er weiß von Anbeginn, daß er etwa nach ungefähr einem Jahr zurückkehren wird in das Eigene, Vertraute. Dieses Bewußtsein erschafft einen völlig anderen Fremdzugang als es in ersterem Fall geschieht, in welchem der Verlust grundsätzlicher und endgültiger Natur ist. Da der Ethnologe nur scheinbar ›einer von ihnen‹ wird – und going native aufgrund besprochener Subjektivitätsverstrickungen verpönt ist –, verfügt er nicht über die lived experience eines Insiders der fremden Kultur. Sicherlich hat sich der Ethnologe andere Augen für das eigene Vertraute erworben, jedoch öffnet diese Form der Verlusterfahrung nicht seinen Blick für das Fremde. Ein weiterer Einwand gegen den Vorwurf der Ethnologie der angeblichen Unmöglichkeit zur Analyse des Eigenen hängt eng mit ersterem zusammen: In einer Welt, die durch Prozesse der Globalisierung und eine entsprechend hohe Mobilitätsrate gekennzeichnet ist, tauchen Fremderfahrung und Heimatverlust zunehmend in jeder Biographie als gelebte Alltagserfahrung auf. Damit werden immer mehr Menschen nach und nach zu Insidern, denn der Beobachter ist selbst Teil des beobachteten Feldes, »dieses Begreifen, daß man selber in die Sache verstrickt ist, ist die Voraussetzung jeden Begreifens der Sache selbst.« (ebd.: 113f.) Während man früher aus methodisch-analytischen Gründen in Subjekt- und Objektperspektive trennte, ist nun ein flexibles Gleiten zwischen den Perspektiven möglich, nun sind »zum ersten Mal [...] persönliche Erfahrungen nicht nur legitim, sondern [sie] haben sogar Gewicht im akademischen Feld.« (ebd.: 87) Indem die Cultural Studies die Lizenz zur Selbstdarstellung geben, umgehen sie das Problem der symbolischen Gewalt durch Fremdrepräsentation, mit dem sich die Ethnologie konfrontiert sieht. Denn sie spricht für andere, die Cultural Studies sprechen für sich selbst. Der margial man vereint in seiner Person den Einblick des Eingeweihten mit der kritischen Perspektive des Außenstehenden. Sowohl für die Massenkulturuntersuchungen der ›Frankfurter‹ wie auch für Feldforschungen im ›klassischen Sinne‹ war eine Betrachtungsperspektive von oben nach unten üblich, während die Cultural Studies den Blick von unten nach oben geben. Man traut den Rezipienten aktive Entscheidungen und ›eigene‹ Reflexionsfähigkeit zu, wo man sie vormals für unmündig erklärte und als passive Opfer eines Verblendungszusammenhangs sah. Sie werden nicht massenkulturell manipuliert, sondern kodieren und kommunizieren absichtlich durch kreative Stilwahl. Dabei braucht keine klare Trennung in Objekt und Analytiker mehr angestrebt zu werden. Die Angst vor dem Verlust des Eigenen und damit des kritischen Beobachtungswerkzeuges führte zur Verbannung des going native durch die Ethnologie als vorbehaltloser Annahme exotisierender Kulturflucht. Diese Trennung in Eigenes und Fremdes macht aber nur solange Sinn, wie man der Ansicht ist, durch das Verharren in einer außenste90
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henden Beobachterposition objektivierbare Fakten sammeln zu können. Denn muß nicht in erster Linie die institutionalisierte Feldforschung als problematisch erachtet werden, da nur sie es ist, deren Ergebnisse im Nachhinein instrumentalisiert werden durch Einbindung in den akademischen Kontext bzw. deren Fakten bereits im Hinblick auf die Erzeugung eines objektiven Charakters entstanden? Vieles deutet darauf hin.
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SCHLUSS Aufgrund von Enträumlichung und globaler Mobilität sehen wir uns mit einer Wirklichkeit konfrontiert, für die die traditionelle Unterscheidung in Forschungsobjekt und Kulturanalytiker keine geeignete Beschreibungskategorie mehr abgibt. Die Möglichkeit der Repräsentation als Sozialtechnik ist an sich fraglich geworden. Anliegen vorliegenden Textes war es, aufzuzeigen, daß die akademische Wissenschaft Ethnologie in spezifisch historischem Kontext entstanden ist, sich inzwischen jedoch mit völlig neuartigen Umweltbedingungen konfrontiert sieht. Einige der Adaptionsleistungen, welche vom Fach zum Zwecke des Überlebens in diesen veränderten Umweltbedingungen unternommen werden, wurden im dritten Teil dieses Bandes vor Augen geführt. Ob und wie lange ein Überleben möglich sein wird, muß sich zeigen. Die Rezeptionsschwierigkeiten, mit denen sich das Fach bei der Berührung mit neueren Ansätzen konfrontiert sieht, verdeutlichen, daß entscheidende methodische Prämissen des erkenntnistheoretischen Fundaments der Ethnologie als ›Wissenschaft vom kulturell Fremden‹ der Zeit hinterherhinken. Einen anderen Blick auf das Fremde werfen die Cultural Studies. Kulturelle Phänomene müssen nicht aus distanzierter Beobachterperspektive von außen oder oben erfaßt werden, denn der Analytiker ist längst selbst Teil des untersuchten Feldes. Anhand ihres Verhältnisses zur deutschen Ethnologie wurde demonstriert, daß die Beobachtungswerkzeuge des wissenschaftlichen Objektivismus keine geeignete Hilfe mehr bieten können zur Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bei der Analyse kultureller Praktiken fragen die Cultural Studies nach den Machtverhältnissen, von denen diese durchdrungen sind. Sie widmen ihr Augenmerk gesellschaftlich unterrepräsentierten, marginalisierten und stigmatisierten Gruppen, also kulturellen Details, die nach herkömmlicher Kulturbegriffsdichotomie in ›Hochkultur/Massenkultur‹ letzterem zugeordnet werden würden. Diese dichotomisierende Auffassung von Kultur hat bisher eine intensivere Diskussion über Populärkultur im deutschsprachigen Raum in nichtabwertenden Kategorien verhindert.134 Man sollte jedoch versuchen, »sich von den Mechanismen freizumachen, die stets zwei Seiten erscheinen lassen, um die falsche Einheit [...] aufzulösen.« (Foucault 1978a: 192) Während die Perspektive der Cultural Studies einen kreativen Impuls der Massen und das emanzipatorische Potential von Populärkultur betont, wird ei134 Roman Horak hat diesen Punkt in seinem Aufsatz »Cultural Studies in Germany (and Austria) and Why There Is No Such Thing« näher erläutert (Horak 1999). Vgl. auch Mikos 1997 sowie Hörnig/Winter 1999.
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ne solche Sichtweise auf Kultur in deutschen Diskussionen über Populärkultur mit großem Mißtrauen betrachtet. Man wirft den Cultural Studies gerne vor, sie seien die letzten, welche sich innerhalb des fachlichen Konkurrenzkampfes der Schulen noch genötigt fühlten, die Waffe des Essentialismusvorwurfs gegen ihre ›Gegner‹ ziehen zu müssen. Essentialistische oder substantialistische Kulturkonzepte werden aber nach wie vor innerhalb der deutschen Kulturwissenschaften – so auch der Ethnologie – verwendet und der Hinweis darauf läßt sich nicht mit der Vermutung eines möglichen Profilierungswillens auf Seiten der Cultural Studies abschmettern. Aus Sicht der Cultural Studies gibt es gar keine Gegner, da sie kein disziplinäres Feld kolonialisieren wollen. Die Überlegung liegt nahe, daß die Gründe für eine interdisziplinäre Abwehrhaltung der Ethnologie gegenüber den Cultural Studies in Zeiten akademischer Verunsicherung in der Angst vor ›Kolonisation‹ liegen könnten. Grenzverletzungen wirken hier wie eine Bedrohung der fachlichen Identität. Dieses Verständnis von Identität gründet auf dem Besitz einer eigenen Methode (der teilnehmenden Beobachtung), eines unverwechselbaren Gegenstandes bzw. Territoriums (dem Fremden) und der Berufung auf eine eigene Tradition. »Aus dieser Perspektive entpuppt sich die ›Angst des Anthropologen‹ als eine Projektion von Vertretern einer Disziplin, die ihre Identität in erster Linie über Prozesse der Differenzierung [...] und nicht, wie die Cultural Studies, über Prozesse der Synthetisierung [...] herstellt.« (Lindner 2000: 85) Mit dem fehlenden Bestreben der Cultural Studies, sich zu institutionalisieren, kann man oft wenig anfangen. Aber der »Vorwurf einer Wilderei in ›fremden‹ Wissensbeständen macht allein aus disziplinärer Perspektive Sinn.« (Göttlich/Winter 1999: 27) Wer mit dem ›Plünderungsvorwurf‹ kommt, vergißt allzu leicht, daß geistiges Wissen kein Eigentum darstellt, niemand hat ein Monopol auf Wahrheit. Die Cultural Studies wollen nicht den angestammten Platz der Ethnologie als Disziplin usurpieren, denn sie sind transdisziplinär orientiert, d.h. sie verfahren nach der »Strategie der Streifzüge in andere disziplinäre Terrains«135, ohne irgendwo dauerhaft zu verweilen. Das macht möglicherweise auch ihren Reiz aus, und lassen sie in einem weiteren Punkt als gefährlich erscheinen: als Verführerin der jungen Nachfolgegenerationen. Während herkömmliche Ethnologie ›ein bißchen langweilig‹ oder antiquiert wirken mag, sind Cultural Studies jung, attraktiv und faszinierend, oder man könnte sagen: it sells (vgl. ebd.: 81f.) 136. 135 Diese Aussage wurde von Stuart Hall getroffen, wiedergegeben hier von Rolf Lindner (Lindner 2000: 84). 136 Natürlich kann auch das den Cultural Studies wieder negativ zu Buche geführt werden: Sie böten zwar oberflächlich betrachtet fesselnde Themen (gender, Medientheorie, Machtanalytik etc.), in der Tiefe aber stecke nichts dahinter, so die Vorwürfe. Lindner weist darauf hin, daß dieses Argument gerade in Deutschland, mit seiner geistesgeschichtlich gewachsenen Trennung in ›Innerlichkeit‹ und ›Äußerlichkeit‹, ›Tiefe‹ und ›Oberfläche‹, gerne angeführt wird. Letztendlich haben die Cultural Studies wohl vor allem eines nicht: eine alte 94
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Die Ethnologie erforscht das ›kulturell Fremde‹. Die Gründe dafür sind historisch gewachsen, aber das Erkenntnisinteresse, welches den Forscher in damaligen Zeiten antrieb, ist entweder verschwunden oder es schickt sich nicht mehr. Beim Nachdenken darüber, warum sich das Fach neuen Einflüssen und Strömungen verschließt, wurde die Vermutung aufgestellt und begründet, daß es hier um die Daseinsberechtigung des Faches als akademische Disziplin geht, darum, daß eine disziplinäre Identität und Abgrenzung zu anderen Nachbardisziplinen zwar historisch gewachsen, aber heutzutage nicht mehr vertretbar ist. Berührungsangst geht mit der Angst, selbst in den eigenen Konturen zu zerfließen, einher. Aber war es denn nicht schon immer eine der Stärken der Ethnologie, sich unweigerlich ins Neue und Unbekannte, sei es noch so exotisch und fremd, zu stürzen, um den eigenen Horizont zu erweitern und zu erfahren, wie außerhalb der eigenen gewohnten Kategorien noch gedacht und gelebt werden kann? In Zeiten globalen Wissenstransfers verlieren diejenigen, die sich neuen Denkanstößen verschließen, den Anschluß. Möchte man um jeden Preis die Definitionsmacht dessen, was ein Fach ausmacht, behalten und die Zügel der Autorität nicht in andere Hände abgeben, so beschließt man ein Schicksal, welches ein Fach, das sich traditionellerweise mit der Horizonterweiterung beschäftigt hat, nicht verdient. Der Verlust des Vertrauten rückt dieses in ein neues Licht: Während das Fremde erlebt wird, wird das Eigene erkannt. Während wir in der Heimat »wie von selbst auf vertrauten Wegen, ohne viel zu sehen« (Plessner 1982: 168) gehen und unsere Wahrnehmungstätigkeit dabei stark eingeschränkt ist, können wir erst nach einem vorübergehenden Verlust Einblick in das so alltäglich Vertraute gewinnen. »Wir nehmen nur das Unvertraute wirklich wahr. Um anschauen zu können, ist Distanz nötig. [...] Der Schmerz ist das Auge des Geistes.« (ebd.: 169/172) Je größer der Schmerz des Verlustes, desto stärker die Kraft zum erkennenden Sehen des vormals Vertrauten. Plessner fragt einige Zeilen später nach den komplexen Zusammenhängen zwischen persönlicher Erfahrung und geisteswissenschaftlicher Arbeit und ihrer Einflußnahme auf den erkenntnistheoretischen Rahmen: »Droht denn nicht mit der Einbeziehung solcher psychologischer und soziologischer Einflüsse auf das Wissen seine sowieso stark beschränkte Objektivität verlorenzugehen?« (ebd.: 172) Anschauung und Begriffsbildung sind nicht vom Denken ablösbar, kulturelle und materielle Symbolträger nur deutbar. Dem Geistes- und Sozialwissenschaftler droht die Gefahr, »für etwas blind oder sehend zu sein.« (ebd.: 166) Oder, wie John Fiske es ausdrückt: »Die Kulturanalyse kann unmöglich den gesamten Mahlstrom kartieren, [...] viele seiner Strömungen sind auf der Oberfläche nicht wahrnehmbar und entziehen sich jedem analytischen Zugewachsene Tradition innerhalb Deutschlands und den damit verbundenen ›Ahnenkult‹. Warum sie diese Autoritätsquelle weder brauchen noch wollen, wurde bereits dargelegt. 95
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griff.« (Fiske 1999: 249) Über die nicht sichtbaren Unterströmungen können nur theoretische Konstrukte aufgestellt werden. »Die Kulturanalyse ist mit dem unvermeidbaren Paradox konfrontiert, daß Kategorien und die Unterschiede zwischen ihnen notwendige Instrumente im Prozeß der Analyse sind, aber den Gegenstand der Analyse verzerren. [...] Und obgleich die Analyse bemüht ist, die ›Proben‹ dem einheitlichen Prozeß, dem sie entnommen wurden, wieder zuzuführen, so sind doch Entnahme und Rückgabe produktive, verändernde und keine objektiven Verfahren.« (ebd.: 251)
Der Analytiker bringt die ›Probe‹ durch seine Entnahme und Wiedereinfügung in einen kulturellen Zusammenhang. Jedes Verstehen bleibt damit unvollständig, vielmehr muß es zu den wirklichen geschichtlichen Bedingungen seiner selbst durchdringen und sich damit sich selbst entfremden. Paul Willis, Ethnologe und Cultural Studies Forscher, drückte es einmal so aus: »What I really believe is that cultural studies and anthropology need each other.« (Willis 1997: 33) Beide – die Ethnologie klassischer Manier und die Cultural Studies – machen subjektive Erfahrungen: weil man nur subjektive Erfahrungen machen kann. Der Unterschied besteht darin, daß erstere einen Anspruch auf ›wissenschaftliche Objektivität‹ erheben, letztere aber darauf verzichten und das auch können, weil sie ›von innen heraus‹ Erfahrungswissen einbringen. Der klassische Ethnologe war nie ›wirklich drinnen‹ aufgrund der paradigmatischen Wahrung seiner wissenschaftlichen Distanz, da diese Beibehaltung zum Selbstverständis des Ethnographen gehörte.
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DANK Mein herzlicher Dank gilt allen, die durch ihre kritische Lektüre und unsere gemeinsamen, sehr anregenden Gesprächsstunden maßgeblich an der Entstehung dieses Buches beteiligt waren: Kristian Donko, Martin Hofmann, Karsten Kumoll und Vanessa Ohlraun. Außerdem danke ich Wolfgang Eßbach, bei dem ich studiert und erfahren habe, was es heißt, spannende Soziologie zu betreiben.
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