216 76 11MB
German Pages 298 Year 2014
Hermann Blume, Elisabeth Großegger, Andrea Sommer-Mathis, Michael Rössner (Hg.) Inszenierung und Gedächtnis
HERMANN BLuME, EUSABETH GROSSEGGER, ANDREA SOMMER-MATHIS, MICHAEL RÖSSNER (HG.)
Inszenierung und Gedächtnis Soziokulturelle und ästhetische Praxis
[transeriPt]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch rur Vervielfaltigungen, Übersetzungen, MikroverfIlmungen und rur die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, aufgrund einer grafischen Vorlage von Hermann Blume (lKT, Wien) Satz: Sabine Krammer Register: Josef Schiffer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2320-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2320-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung Die Rolle der Inszenierung für die Formung eines kulturellen Gedächtnisses 19
INSZENIERUNG ALS GESELLSCHAFTLICHE KOMMUNIKATIONS FORM Frau ohne Schatten? Inszenierung als Kategorie kulturwissenschaftlicher Analyse
Herrnann Blume (Wien) 115
Inszenierung übersetzen, Übersetzung inszenieren Zur Rolle des Theaters für das kulturelle Gedächtnis Michael Rössner (Wien/München) I 43 Politische Inszenierung von Konflikten Monika Mokre (Wien) I 51
INSZENIERUNG KOLLEKTIVER ERINNERUNG Facetten des Personenkults um Karl Lueger: Eine Annäherung Harald D. Gröller (Wien) I 71
»Österreich ist ... {{ Die Inszenierung kollektiver Erinnerung am Beispiel
des Österreichischen Staatsvertrags
Peter Stachel (Wien)
I
83
Nichts mehr im Griff (ORF 2001) Die Inszenierung der österreichischen Debatte um die Restitution von Raubkunst in einer TV-Folge von Tatort Heidemarie Uh1 (Wien) 1105
INSZENIERUNG DES WISSENS From the Disputation to Power Point Staging Academic Knowledge in Europe, 1100-2000 Peter Burke (Cambridge) 1119
Kartographische Inszenierungen Berge, Flüsse und das Wissen um die frühneuzeitlichen Ränder
Osteuropas
Katharina N. Piechocki (Cambridge, MA) 1133
Die Ausstellung als Bühne, der Besucher als Akteur Das Museum als Gedächtnistheater
Wemer Hanak-Lettner (Wien) 1155
INSZENIERUNG ALS GESELLSCHAFTLICHE KOMMUNIKATIONSFORM Es ergetzet und verletzet Explosive Inszenierungsstrategien im Fest der Frühen Neuzeit
Andrea Sommer-Mathis (Wien) 1173
Zeremonielle Räume in der Wiener Hofburg unter Kaiser Franz Joseph Zur Nutzung und Nichtnutzung architektonischer Inszenierungsmöglichkeiten an der Staatsspitze
Richard Kurdiovsky (Wien) 1191
Zur Dynamik von Inszenierung und kultureller Identität Gaspare Spontinis deutsche Oper für Berlin
Anno Mungen (Bayreuth) 1211
Die Inszenierung von Mehrsprachigkeit in der Konversation Germaine de Staels Christoph Leitgeb (Wien) 1223 Kritik und Kairos Essayismus zwischen den Medien bei Alexander Kluge
Christian Schulte (Wien)
I
243
Inszenierung von Gedächtnis auf der Theaterbühne Elisabeth Großegger (Wien) 261 1
Personenregister 1277 Autorinnen und Autoren
1289
Einleitung Die Rolle der Inszenierung für die Formung eines kulturellen Gedächtnisses
Der vorliegende Band versteht sich als Teil einer seit mehr als einem J ahrzelmt laufenden Grundlagenforschung zum Thema des kulturellen Gedächtnisses, wie dieses insbesondere von Jan lllld Aleida Assmann in die internationale Diskussion eingeführt \VUfde. Dabei geht es im weitesten SiIm um die Frage, wie Orientienmgs- und Identitätsprozesse in Gesellschaften überhaupt ablaufen - ein Forschllllgsinteresse, das gerade in der gegenwärtigen Welt wachsende Aktualität gewiImt: in einer Welt, die von globalisierter Infonnationsfulle lllld von Hybridisienmgen durch Migrationsbewegllllgen geprägt ist. Dafür ist ein kulturwissenschaftliches Konzept erkemrtnisleitend, das »Kultur« nicht bloß auf die großen, repräsentativen Symbol systeme Religion, Wissenschaft lllld KllllSt reduziert. Was einer Gesellschaft Orientienmg, Konsistenz lllld Identität verleiht, verdankt sich nämlich nicht in erster Linie kanonisierten Festschreibllllgen, sondern vielmehr permanenten dynamischen Kommunikations- und Interaktionsprozessen, in denen die kollektiv verbindlichen Werte, EriIlilenmgen und Wirklichkeitsbegriffe stetig aufs Neue überplÜft, aktualisiert lllld modifiziert werden. Indem wir alltäglich miteinander kommllllizieren lllld handeln, »llllterhalten« wir in einem doppelten SiIlile die Wirklichkeit und die Wertewelt, auf die wir llllS dabei als Mitglieder einer Gesellschaft beziehen. Die wesentlichen Kommllllikationsformen, in denen sich dieser bedeutungsstiftende »symbolische Interaktionismus« (H. Blumer) vollzieht, bestehen nach dem kulturwissenschaftlich-soziologischen Ansatz, der am Wiener Institut für Kultu:rvvissenschaften lllld Theatergeschichte entwickelt "\iVUTde, aus drei Elementen: dem Erzählen (LuclananniBerger), gesellschaftlichen Inszenienmgsvorgängen (Goffman) lllld nicht mletzt den gerade für mnehmend globalisierte Gesellschaften zentralen Prozessen kultureller und sprachlicher ÜbersetZllllg - zwi-
10
I INSZENIERUNG UND GEDACHTNIS
schen Etlmien, Religionsgemeinschaften, Diskursen, sozialen Gruppen oder auch Generationen. Erzählung - Inszenierung - Translation bilden als kulturkonstitutive Kommmükationsformen mgleich die drei Forschllllgsleitlinien des Instituts für Ku1turwissenschaften lllld Theatergeschichte. Nachdem bei der lahrestagung des Instituts 2010 die kulturelle ÜbersetZllllg (Translation) im Zentrum stand lllld der entsprechende Tagllllgsband Translatio/n: Narration, Media and the Staging 0/ Dtfferences (herausgegeben von Federico Italiano und Michael Rössner) 2012 bei transcript erschien, widmet sich der durch die lahreskonferenz 2011 angeregte Band dem Thema der Inszenierung (staging) als sozialer Kommunikationsform. Der vorliegende Band hat zum Ziel, Inszenierung als identitätsbildende Kulturtechnik sowohl in diachron-historischer wie synchron-gesellschaftlicher Perspektive muntersuchen. Inszenienmg lässt sich im theatralen wie pragmatischen Kontext allgemein als Prozess beschreiben, in dem aufgrund einer Situationsbestimmung die daraus folgenden Ziele, Prozeduren lllld die Rollenaufteilllllg der Akteure entworfen werden, als VoraussetZllllg für die Organisation eines auf bestimmte Wirkungen abzielenden Handeins. In dieser Fassllllg erscheint der Inszenierungsbegriff sowohl auf ästhetisch-theatrale wie auf soziale, politischökonomische Kontexte anwendbar. Insbesondere dort gewiIlilt Inszenienmg als bedeutungsorientierter wie bedeutllllgskonstituierender Akt auch instrumentalisierende Funktion, insofern mit situativen Arrangements immer auch bestimmte (Macht-)Interessen verbllllden sind. In der Rezeption lllld Wahrnehmllllg des Publikums/der Öffentlichkeit lllld im gesellschaftlichen Erfolg werden die Wirksamkeit, Möglichkeit und die Grenzen einer Inszenierung erfahrbar. Letztlich wird dadurch auch eine Art Basiserzählllllg vermittelt, eben in die Sprache des Zeigens übersetzt; dabei wird in der Inszenierung durch die BesetZllllg eines, wenn nicht gar des öffentlich-mediatisierten Raums die Anonymisierung von Machtstrukturen, die die Kommunikations- und Interaktionsprozesse in Gesellschaften steuern, besonders deutlich offenbar. Das hier mgrunde liegende Konzept versucht insofern auch, die Leitkategorien der Forschllllgen des Instituts für Kultu:rvvissenschaften und Theatergeschichte Gedächtnis - Erinnerung - Identität mit der sozialen Praxis der Inszenierung msammenmführen. Unser Ansatz ist dekonstruktivistisch im SiIlile einer historischen Analyse der Strategien, der Möglichkeit lllld Wirksamkeit sowie auch der Grenzen von Inszenienmg. Die Beiträge dieses Bandes lllltersuchen dementsprechend Inszenienmg in verschiedenen Epochen, Räumen lllld sozialen Gruppen, in bildender KllllSt, Profan-lllld Sakralarchitektur, Denlanälern, Literatur, Musik, Film, Theater, Zeremoniell lllld Ritual, in Museen und Wissenschaft, etc. im ständigen Rückbemg auf Gedächtniskulturen, Erinnenmgspraxen lllld
EINLEITUNG
I 11
Identitätskonstruktionen. Zentrale Fragestellllllgen sind die folgenden: Welche Fllllktionen kommen Inszenierungen innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation m, insbesondere in Hinblick auf die Konstruktion bzw. Dekonstruktion kultureller Identitäten lllld Alteritäten? Diesen Grundfragen widmen sich die Beiträge von HERMANN BLUrvIE, MONIKA MOKRE lllld MICHAEL RössNER., in denen die Bedeutung des Inszenierungsbegriffs für die kulturwissenschaftliche Analyse, für die Gedächtnisforschllllg lllld für die politische Praxis analysiert wird. Im zweiten Absclmitt des Bandes wird der Aspekt der Gedächtnisforschllllg konkretisiert lllld vertieft: Inszenierungen lassen sich immer auch als zur Generierung kollektiver EriIlilenmg erzeugte Kontexte interpretieren, lllld EriIlilenmgsprozesse sind, wie wir aus der Theorie des kulturellen Gedächtnisses wissen, stets als eine Aushandlung zwischen der Gegenwart des Erinnernden lllld der eriIlilerten Vergangenheit aufmfassen. HARALD D. GRÖLLERS Beitrag demonstriert dies an der Entwicklung des Personenkults um den Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der gerade in der aktuellen politischen Diskussion eine neue Dimension bekommen hat; PETER. STACHEL zeigt, dass EriIlilerung bisweilen die real dokumentierte Vergangenheit tatsächlich m verändern vermag, indem ein Schnitt der Wochenschau ein Ereignis in das kollektive Gedächtnis der Nachlaiegsösterreicher eingebrannt hat, das so nie stattgefllllden hat, lllld HEIDEMARIE UHL lllltersucht anhand eines Falles der sOIliltagabends im deutschsprachigen Raum ausgestrahlten Tatort-Kriminalserie die Inszenienmg lllld »ÜbersetZllllg« der Debatte um die Restitution von Raubkunst. Der dritte Abschnitt widmet sich quasi einer Selbstbeschau: Wie» Wissen« inszeniert, zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchllllg gemacht wird, führt llllweigerlich zum prinzipiell llllendlichen Spiegelphänomen, das nichtsdestoweniger seit Pierre Bourdieus Homo academicus m den eingeführten Themen der Kulturwissenschaft gehört. PEIER BURKE llllternimmt es in einer külmen tour d'horizon, die Entwicklllllg des Zur-Schau-Stellens von Wissen lllld Wissenschaft anhand entsprechender Rituale von 1100 bis 2000 darmstellen. KATHARINA PIECHOCKI zeigt, wie auch in der frühneuzeitlichen Kartographie die Inszenienmg von Ordnungen den Vorrang vor der empirischen Evidenz hatte, lllld WERNER. HANAK-LETTNER. versucht, den Ort der Inszenierung von Wissen über kulturelles Erbe schlechthin, das Museum, als Bühne m begreifen, die den Inszenienmgsrahmen für das Drama abgibt, das sich zwischen dem Besucher als Akteur und den Ausstellungsobjekten abspielt. Der vierte Abschnitt kommt dem traditionellen Ort der Inszenienmg, der Theaterbülme, noch näher, olme jedoch tatsächlich das Theater in den Mittelpllllkt m stellen. ANDREA SmvIMER.-MATHIS beschäftigt sich mit einer Inszenie-
12
I INSZENIERUNG UND GEDACHTNIS
rung im öffentlichen Raum besonderer Art - dem Feuerwerk als Festinszenierung in der FlÜhen Neuzeit; RICHARD KURDIOVSKY stellt das »Bülmenbild« des Hofzeremoniells am Beispiel der Raumabfolge in der Wiener Hofburg unter Kaiser Franz loseph vor, lllld ANNO MUNGEN gelangt schließlich zum Theater im engeren Sinn, indem er Gaspare Spontinis Projekt einer »deutschen Nationaloper« als preußische Selbstinszenierung interpretiert. CHRISTOPH LEITGEB widmet sich der Inszenienmg/Selbstinszenienmg eines zentralen Phänomens der Salonkultur: der Konversation. CHRISTIAN SCHULTE wiederum überträgt den Inszenienmgsbegriff auf den Film und versucht damit, den Essay-Film Alexander Kluges als Inszenienmg des In-Between der Medien m lesen. Den Abschluss bildet ELISABEfH GROSSEGGERS Analyse der Inszenierung von kollektivem Gedächtnis lllld Erinnerung in den Dramen jenes Gegenwartsautors, der sein Werk im Rahmen der lahreskonferenz 2011 auch persönlich präsentierte: Franzobel.
Inszenierung als gesellschaftliche Kommunikationsform
Frau ohne Schatten? Inszenierung als Kategorie kulturwissenschaftlicher Analyse
HERMANN BLUME (WIEN)
Das soziale Leben ist so zweifelhaft und komisch,
daß gar nicht der Wunsch aufZukommen braucht, es als etwas noch Unwirklicheres zu sehen. Erving Goffinan
1
»Inszenierung und Gedächtnis« - Es mag in mancher Hinsicht als ein Vorteil erscheinen, weIlil sich Wissenschaftler mr Erkundung eines Themas msammenfinden, von dem man sagen kann, es treffe einen >Nerv der Zeitauf die NervenErdbeben von Lissabon< (1755)
mm Beispiel erfuhr in seiner diskursiven Akkumulation eine Aufladung zum »ikonische[n] Moment der Aufklänmg«, wie Gerhard Lauer 2008 aufgezeigt 4 hat. Die von den GeblÜdern Schlegel disseminierte, urspIÜnglich literarhistorisch entwickelte Antinomie des >Klassisch-Antiken< versus >RomantischModernen< figurierte im »europäischen Begriffstransfer«5 schließlich als Bruchlinie zwischen zwei epochalen politisch-kulturellen Deutungsparadigmen. Und so gibt llllS die seit mindestens drei Dekaden sich weiter akkumulierende lllld medial allgegenwärtige Begriffsantinomie von >Inszenierung< versus >Authentizität< einigen Anlass zu fragen, ob sich darin nicht auch ein kollektives Gewahrwerden ankündigt eines mnehmend deutlicher hervortretenden Wegbruchs eines ganzen soziokulturellen Bedeutllllgskontinents: eine Bruchlinie, aufgerissen durch die Abschiebung eines bislang grundsätzlich >traditional< verfassten, auf Gedächtnis beruhenden Kultursystems, durch ein kapitalistisch grundsätzlich über IIlilovationen (oder PseudoiIlilovationen) lukrierendes, lllld daher auf >Inszenierung< beruhendes System von ökonomisch definierten Bedeutllllgen? Aber mit dem damit angesprochenen Bourdieu'schen Konzept einer Konsum-bestimmten Symbolik der Lebensstile greifen wir dem Thema schon weit 6 spekulativ voraus. Richten wir also vorerst an die >Kulturwissenschaften< die
konjunktur« des Begriffs. - Erika Fischer-Lichte: »Theatralität und Inszenierung«, in: Erika Fischer-Lichte/Christian HomlIsabel PtlugiMatthias Warstatt (Hg.): Inszenie-
nmg von Authentizität, Tübingen, Basel: Francke 2007, S. 9-43, hier S. 11. 3
Vgl. Ernst Müller: »RomantischIRomantik«, in: Karlheinz BarckiMartin Fontius/Dieter SchlenstedtIBurkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel (Hg.): Ästhetische Gnmi-
begrifft. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart, Weimar: Metzler 2000-2005, Bd. 5. 2003, S. 315-344, hier S. 332. 4
Gerhard Lauer: »Das Erdbeben von Lissabon. Ereignis, Wahrnehmung und Deutung im Zeitalter der Aufklärung«, in: Bernd Herrmatlll (Hg.): Beiträge zum Göttinger
Umwelthistorischen Kolloquium 2007-2008 (Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte), Göttingen: Universitätsverlag 2008, S. 223-236, hier S. 227. 5
E. Müller: »Romantisch/Romantik«, S. 332.
6
Nach Bourdieus empirischer Sozialanalyse eignet den Gesellschaftsklassen, entsprechend der Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten und vermittelt über den Habi-
INSZEN IERUNG ALS KATEGOR IE KULTURWISSENSCHAFTLICHER ANAL YSE
I 17
Frage, welches heuristische Konzept von Inszenienmg sie anbieten, um die soziokulturelle und ästhetische Praxis, die sich daran anbindet, zu erforschen.
1.
ERIKA FISCHER-LICHTES THEATRALITÄTSKONZEPT: REICHWEITE
Die für die Kulturwissenschaften einflussreichste Konzeptualisierung von Inszenienmg und Theatralität ist zweifellos aus den an der Freien Universität Berlin eingerichteten, mehIjährigen Sonderforschllllgsprogrammen »Theatralität« und 7
»Kulturen des Performativen« heIVorgegangen . Die wesentlichen theoretischen Positionen, die die interdisziplinären Forschungsarbeiten orientierten, hat Erika Fischer-Lichte als Sprecherin beider Projekte in zahlreichen Publikationen profiliert. Nicht zufällig widmete sich der erste Band der Theatralität-Reihe schon im Titel der populären Dichotomie von >Inszenienmg< und >AuthentizitätInszenierung< lllld die Tätigkeit des Regisseurs mit dem Anspruch einer künstlerisch eigenwertigen, kreativen GeStaltllllg auf den Plan. Im gleichen Zuge dieses programmatischen Aufbegehrens gegen diese »allgemein geltende Vorstellllllg vom Primat des Textes über die Aufführung, des Wortes (Geistes) über den Körper im Theater« 29 vvurde von dem Philologen Max Hernnann, der 1942 in Theresienstadt ermordet "\iVUTde, die GIÜIldllllg der 1923 an der Berliner Universität installierten Theaterwissenschaft betrieben. Während das Drama als Text llllter der Domäne der Literaturwissenschaft als »wortkünstlerische Schöpfllllg des Einzelnen«30 stand, IÜckte nllll programmatisch die Aufführung als »soziales Spiel [ .. ], in dem alle Teilnehmer sind«31 in das Zentrum.
28 Vgl. die kompakte »Geschichte des Begriffs >InszenierungInszenienmg< die intentional konfigurierten Bedingllllgen, die als Anweisungsstruktur das Handeln präformieren. Goffman hat die soziologische Relevanz der Kategorie >Inszenienmg< durch eine weitere wichtige Differenzierung verstärkt, indem er llllter dem machthierarchischen Aspekt der Agency zwischen »Regiedominanz« lllld »dramatischer Dominanz« unterscheidet. Letztere bezieht sich auf die relative, d. h. immanente dramaturgische Gestaltllllgsmacht von Akteuren im Rahmen der Inszenienmg. Goffman sieht diese Konfiguration zwangsläufig konfliktiv, wenn er schreibt: »Die Begriffe der dramatischen Dominanz lllld der Regiedominanz als einander widerstreitende Größen in einer Darstellllllg kÖllilen, mutatis mutandis, auf eine Interaktion als Ganzes angewandt werden.«38 Gilt dies für die face-to-faceInteraktion (die Goffmans Ansatz überhaupt orientiert), in der beide Kompetenzen in einer situativen Ebene msammengeschlossen sind, so erscheint in komplexeren, zumal medial vermittelten Handlllllgskontexten die tatsächliche Agency der Regiedominanz als Meta-Inszenienmg dem Einblick und Zugang der Interagierenden entzogen. Indem subjektiv inszenierende Interaktion sich im
36 Vgl. die Ausarbeitung dieses theatralen Konzepts in Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des
Peifonnativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. 37 Vgl. E. Fischer-Lichte: »Theatralität und Inszenierung«, S. 11. 38 Erving Goffinan: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstelkmg im Alltag. Aus dem
Amerikanischen von Peter Weber-Schäfer. Vorwort von Lord Ralf Dahrendorf. [Engl. u.d.T. The Presentation 0/ Se!! in Everyday Life, 1959]. 8. Aufl., München: Pieper 2010, S. 93.
26
I HER MANN BLUME
Rahmen einer machtverordneten Meta-Inszenienmg nur als inszenierte Interaktion entwerfen kann, erscheinen konfligierende Prozesse auf der Sub-Ebene den tatsächlich regiedominanten Interessen eher zu dienen als zu widerstreiten. Insofern diese - weiter potenzierbare - Konfiguration von Inszenienmg lllld MetaInszenienmg bereits als ein paradigmatisches Muster in mediatisierten, durch Knappheit von Ressourcen, Wettbewerb lllld Kampf um Sichtbarkeit geprägten Gegenwartsgesellschaften gelten kann, vermeiden wir hier den Begriff der Manipulation, weil dieser nur im Kontext vonface-tojace-Interaktionen siIlilfällig werden kann. Wenn eben mit der produktiven Differenzienmg zwischen Regie- lllld dramatischer Dominanz ein weiteres Potenzial des Inszenierungsbegriffs für die kulturwissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher Kommunikation angesprochen vvurde, so veranlasst doch gerade Goffmans zwischen Aperyu, Metaphorik, Heuristik lllld Systematik oszillierende Adaption, - die wohl nicht zufällig dazu verleitet hat, den auf Interaktion bewgenen englischen Originaltitel, The Presentation of Self in Everyday Life, in der deutschen ÜbersetZllllg, Wir alle spielen Theater, im Theatrum-Mundi- Topos aufgehen zu lassen - an dieser Stelle eine sprachlaitische BesiIlilllllg einzuschalten: Gerade die wissenschaftliche Diskussion der Übertragbarkeit von Theatralität auf gesellschaftliche Wirklichkeit verlangt es ab, auf metaphorische BlÜckenschläge zu verzichten, soweit dies bei diesem Begriffskomplex überhaupt möglich ist. Beispielhaft sei nur der unbekümmerte rhetorische Kniff angeführt, mit dem 9 Goffman, der seine Neigllllg zu Sprachspielen auch andernorts bewiesen hae , die Übertragbarkeit theatralen Handeins auf lebensweltliches dadurch ermöglicht, dass er die »offensichtliche Unzulänglichkeit eines solchen Verhaltensmodells« rhetorisch dergestalt formuliert - hier wäre >inszeniert< tatsächlich der zutreffendere Ausdruck - dass die gesagten Unterschiede gerade deren positive Analogie zeigen: Die offensichtliche Unzulänglichkeit eines solchen Verhaltensmodells sei nicht verschvviegen. Auf der Bülme werden Dinge vorgetäuscht. Im Leben hingegen werden
39 Goffinan beschließt seine Einleitung zur Rahmen-Analyse, mit einem Schluss ab-
schnitt, der rekursiv die Rahmenfunktion des Einleitungstextes anspricht, um in der Folge eine weitere Staffel von acht rekursiven Absätzen anzugliedern, die ihrerseits jeweils das Vorangehende ralnnen. Die so sich selbst als Schreibpraxis auffiihrende Ralnnen-Analyse mündet in den letzten Satz: »Darum geht es in der RalnnenAnalyse«. Vgl. E. Goffinan: Rahmen-Analyse, >EinleitungVorwortSymbolischer InteraktionismusNonnalfall< zugrunde legen, als auch für jede einzelne Aufführung.46 Die entscheidende Bedingllllg, durch die erst Ereignishaftigkeit lllld Emergenz heIVorgebracht werden, fasst Fischer-Lichte llllter dem Begriff der »leiblichen Ko-Präsenz« zusammen, die Schauspieler lllld Publikum, die im SiIlile HeITmanns beide als gleichsam gleichberechtigte Akteure verstanden werden, in einen dynamischen Prozess der Wechselwirkung zusammenschließt, in dessen Verlauf eine »eigene Wirklichkeit« als Emergenz heIVorgebracht wird. Diese Wirklichkeit betrifft nicht eine Bülmenillusion, sondern versteht sich als kopräsente Wirklichkeit, die durch alle Beteiligten zustande kommt und alle Beteiligten ergreift: In diesem Sirme lässt sich die These vertreten, dass die Aufführung, die aus der Begegnung oder Konfrontation aller Beteiligten hervorgeht, immer erst in ihrem Verlauf entsteht - und 47 vergeht. Sie ist, in diesem SiIllle, nvirklichkeitskonstituierendc EIWeckt die so zitierte These die EIWartung einer Wirklichkeitskonstitution durch einen, wie Assmann anmerkte, letztlich auf narrative Strategien angewiesenen, dabei die theatrale Fülle semiotischer Systeme48 einsetzenden, perfonnativen Kommllllikationsakt, wie ihn Inszenienmg entwirft, wird man sich allerdings enttäuscht sehen. Aspekte der gestisch-sprachlichen Kommunikation wer-
46 Dies.: Peljormativität, S. 56.
47 Ebd., S. 54. 48 Der Theatersemiotiker Tadeusz Kowzan hat dreizelm unterschiedliche semiotische Systeme ausdifferenziert: Text, Sprachlaut, Mimik, Gestik, Bewegung, Make-up, Hairstyle, Kostüm, Requisiten, Ausstattung, Beleuchtung, Musik, Geräuscheffekte. Vgl. Tadeusz Kowzan: Le signe au theatre. Introduction
a la semiologie de tart du
spectacle, Paris: Gallimard 1968; vgl. dazu Umberto Eco: »Semiotik der Theaterauffiihrung« [1977] (shv, 1575), in: Uwe Wirth (Hg.): Peljonnanz. Zwischen Sprachphi-
losophie und Kultu1Wissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 262-276, hier: S. 263f
30
I HER MANN BLUME
den vielmehr marginalisiert; nicht das Semiotisch-Symbolische, sondern das phänomenal Leibliche selbst ist Quelle der Wirkkraft, weIlil Fischer-Lichte, das Imaginär-Kognitive geradem abwiegelnd, erklärt: »Zwar mögen manche Reaktionen der Zuschauenden als rein >iIlilerereal< Betrunkenen auf die Bülme exemplifiziert: Sobald er auf die Bülme gebracht und vor das Publikum gestellt wird, hat der Betrunkene seine ursprüngliche Natur des >wirklichen< Körpers eingebüßt. Er ist kein Weltgegenstand unter anderen Weltgegenständen mehr, sondern ist zu einem semiotischen Mittel geworden; er ist jetzt ein Zeichen. 50 Im Gegensatz dam ist es nach Fischer-Lichte gerade der natürliche, der »phänomenale Leib«, dessen Präsenz in die Wirklichkeitswahrnehmllllg des Publikums eingreift: In Aufführungen haben vvir es immer zugleich mit dem phänomenalen Leib und mit dem
semiotischen Körper zu tun. [ ... ] Von ihrem phänomenalen Leib geht eine je besondere Ausstrahlung aus, welche die anderen Teilnehmer/Zuschauer ihrerseits leiblich erspüren. Werm von Präsenz des Akteurs die Rede ist, so ist u. a. gemeint, dass er den Raum besetzt und beherrscht, so dass er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zieht. In Aufführungen vvirkt also der phänomenale Leib der Beteiligten mit seinen je spezifischen, physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Zuständen unmittelbar auf den phänomenalen Leib anderer ein und vennag in diesenje besondere physiologische, affektive, energetische und motorische Zustände hervorzurufen. 51 WeIlil leibliche Ko-Präsenz als solche lllld für sich, olme weitere semiotische Qualität m beanspruchen, Performativität erlangt allein dadurch, dass sie sich in der Auffühnmg in einem von jeglicher Semiose entblllldenen >Prozess< ereignet, ist der Punkt erreicht, wo die Begriffe Auffühnmg, leibliche Ko-Präsenz, lllld
49 E. Fischer-Lichte: Peiformativität, S. 54.
50 U. Eco: »Semiotik der Theaterau:fführung«, S. 266. 51 E. Fischer-Lichte: Peiformativität, S. 6lf.
INSZEN IERUNG ALS KATEGOR IE KULTURWISSENSCHAFTLICHER ANAL YSE
I 31
Performativität in ein Konglomerat verschmelzen, dem nur noch durch das Diktum der >Autoreferenzialität< eine kontextenthobene lllld daher tendenziell mys-
tische Agency übertragen wird: »In allen diesen Fällen gilt: Die Auffuhnmg als ein ko-präsenter Prozess erzeugt sich somsagen selbst bzw. ihre eigene Wirklichkeit als eine autopoietische Feedbackschleife.«s2 Wie für eine Max-Reinhardt-Inszenierung das Diktum gilt, wonach »die Auffühnmg sich selbst als eine Wirklichkeit hervorbrachte«, so bedarf es auch andernorts keiner referenziellen Bezüge, olme die sprachliche Bedeutungen an sich gar nicht mstande kommen köllilen: »Auf welchen Wegen auch immer transformative Kraft wirkt, sie bringt stets eine neue Wirklichkeit hervor.«s3 Derselbe Mythos verbindet auch die Auffühnmg eines Rituals und Theaterauffühnmgen, da »diese ebenfalls als selbstreferenziell und wirklichkeitskonstituierend m begreifen«s4 sind. Desgleichen wird gerade mit der wichtigen Kategorie der Liminalität, die sich der >trans formativen Kraft des Perrormativen< verdankt, auf eine »Übereinstimmllllg« mit Victor Turner hingewiesen darin, »dass ein Akt bzw. ein Prozess sich dann als performativ begreifen lässt, wenn er selbstreferenziell lllld wirklichkeitskonstituierend ist«.sS Dementgegen hat jedoch bereits Sibylle Krämer aufgewiesen, dass der vermeintlich autoreferenziell selbstrnächtige rituelle Sprechakt seine Agency aus einem vorgängigen Dispositiv der Macht bezieht: »Iteration und Zitat sind in ein Dispositiv der Macht eingebettet, weil sich nämlich die Macht des Perrormativen nicht aus den Intentionen des sprechenden Individuums speist, sondern aus dem >Vermächtnis früherer überpersönlicher sprachlicher und außersprachlicher Praktikenverbal miteinander zu kommunizierenIn Ordnung.< Mit diesen Worten steckte er den Terminkalender in die Tasche und war fort. 60 Offenkundig ist diese Fallschilderung von Alexithymie - der Unfähigkeit, Gefühle zu lesen - so beeindruckend, dass man ihr gleich in zwei kulturwissen-
60 Antonio R. Damasio: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München: dtv Verlag 1997, S. 263f.: zit. nach Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnernng, München: Beck 2008, S. 137.
INSZEN IERUNG ALS KATEGOR IE KULTURWISSENSCHAFTLICHER ANAL YSE
I 35
61 62 schaftlichen Publikationen, bei Harald Welzer lllld Eva Illouz begegnet. In diesem Kontext erscheint es wie eine Reaktion auf die Alexithymie zeichentheoretisch verfasster Kulturbegriffe, weIlil sich etwa zeitgleich mit der publizistischen Akkumulation von »Inszenienmg« - also etwa seit den 1980er-Jahren die ebenfalls lange abgeschattete Emotionsforschllllg in Psychologie lllld Soziologie lllld schließlich auch in den Kulturwissenschaften als - wie auch anders 63 emotional turn etabliert hat. Wenn man davon ausgeht, dass diese wie konzertiert auftretenden Forschllllgsschwerpunkte »Emotionalität«, »Theatralität« und »Perfonnativität« ihre Aktualität lllld damit auch Förderungsgelder aus jenen Bedeutllllgslaisen der Mediengesellschaft beziehen, die auch llllter »Wirklichkeitsverlust«64 oder »Reality Hllllger«65 verbucht werden, so ist es nicht ohne Relevanz festzustellen, dass die davon Betroffenen nicht mehr der oder den Generationen angehören, für die das Erlebnis des Zweiten Weltlaiegs, des Totalitarismus, der Judenverfolgung, der Emigration, des Holocaust, der Schuld-Verstrickung die existenzielle Vorbedingllllg für die Reorganisation lllld SiIlilstiftung der Nachkriegsgesellschaft lllld -identität bildete. Für diese nun »abbrechende« Generation wiederum standen diejenigen Erfahnmgen eher am Lebensrand, die für die Selbstorientienmg der nachkommenden Heutigen ausschlaggebend sind: Migration, Mehrsprachigkeit,
Hybridität, Pluralität, Mobilität, Globalisierung, Neue Medien. Dieser historisch-soziale Zusammenhang kann nicht olme Folgen bleiben für die Frage, die wir nicht ganz aus dem Auge verlieren wollen: nämlich welche
61 Vgl. Anm. 60.
62 Eva Illouz: Gefiihle in Zeiten des Kapitalismus. FranlifiJrter Adorno Vorlesungen 2004, Frankfurt arn Main: Suhrkarnp 2007, S. 167.
63 Thomas Anz: »Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung«, in: literaturkritik.de. 2006. - URL http://\V\V\V.literaturkritik.de/publiclrezension.php?rezjd=10267 [14.04.2014]. Als Reaktion auf Danie1 Golemans Bestseller: Emotionale Intelligem (München, Wien: Hanser 1996 [engl. 1995]), hielt Thomas Anz im März 1999 im Intemetforum literaturkritik.de ein »Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Emotionsforschung«. Diese hat sich mittlerweile transdisziplinär in einem Maße etabliert, dass der nämliche Autor 2006 nicht olme die unvermeidliche Ironie anfragen kOJUlte, warum Baclnnarm-Medick diesen emotional turn verschlafen habe. 64 Erika Fischer-Lichte: »Wie vvir uns aufführen«, in: Lutz Musner/Heidemarie Uhl (Hg.): Wie wir uns auffiihren. Peiformanz als Thema der Kultu1Wissenschaften, Wien: Läcker 2006, S. 15-25, hier S. 22.
65 David Shie1ds: Reality Hunger. Ein Manifest, München: Beck 2011.
36
I HER MANN BLUME
Bedeutllllg dem Gedächtnis, dem zweiten Parameter des Konferenzthemas, in Bezug auf Inszenierung zukommt. Es ist UIlilÖtig zu betonen, dass >EriIlilerungskultur< im SiIlile Assmanns ein repräsentatives Modell intendiert, keineswegs eine in Vergangenheit befangene Kultmfollll. Jan Assmann hat für solche Modi sogar die Unterscheidung von »heißen« und »kalten Kulturen« vorgenommen. 66 Und doch ist anderseits nicht ganz wegzudenken, dass es vornehmlich traditional (oder auch mythisch) verfasste Kulturen sind, an denen sich das Modell vielfach bewährt hat. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und bemerken, dass die Errichtung des »kulturellen Gedächtnisses« als zentrale Kategorie von Identität eine wesentliche Voraussetzung dafür war und ist, dass das Trauma des Holocaust und dessen Verarbeitung in der (im weitesten SiIlile) Nachlaiegsgesellschaft zu einem der bedeutendsten Anwendungsbereiche dieser kultu:rvvissenschaftlichen Gedächtnistheorie avancierte. Ja, man könnte - um einen weiteren Schritt zu wagen - sogar bemerken, dass diese Konzeption maßgeschneidert war, gleichsam zur kulturwissenschaftlichen Therapie einer Gesellschaft, deren Kultur extrem auf Vergangenheit gebannt war dadurch, dass sie diese zu verleugnen suchte. Nicht zufällig beruhte ja die SiIlilfälligkeit eines der ersten großen Ansätze, die psychosoziale Identität der Nachkriegsgeneration zu erforschen, nämlich des Ehepaar Mitscherlichs Diagnose der Unfähigkeit zu trauern (1967), auf dem Melancholie-Konzept Sigmund Freuds, der eben die EriIlilerungsfixierung der Melancholie als ein Nicht- Trauern-, als ein Nicht-Loskommen-KöIlilen entworfen hat. Aus dem Traum der matürlichen Weltanschauung< erwacht, werden wir gegenüber der Öffentlichkeit nicht müde darauf hinzuweisen, dass historische wie autobiographische Erinnerung stets das Ergebnis eines Konstruktes darstellt. Und da Konstruktion allenthalben mit Legitimation politischer oder ökonomischer Herrschaft einhergeht, verstehen wir uns im Dekonstruieren, um hinter den matürlichen< Geschichten die Machtzusammenhänge waltender Diskurse aufzudecken. Aber über all dem Konstruieren und Dekonstruieren von EriIlilerung ist eines fast in Vergessenheit geraten: dass ein j eder, der auf dieser oder jener Seite operiert, >ob Rittersmann oder Knappmemory talk< notwendig ist«, der sich im späteren Leben 68 als »conversational remembering« fortsetzt. Indem im memory talk das Kind von den Eltern erst angeleitet werden muss, nicht nur sich überhaupt m eriIlilern, sondern auch, welche Dinge wichtig, welche der Erinnerung unwert sind, etwa wenn es vom Kindergarten erzählen soll, vollzieht sich bereits im memory talk eine Akkulturation des EriIlilerns auf geltende soziokulturelle Deutungsmuster hin: Hier liegt gleichsam der philogenetische Urspnmg der Konstruktion von kollektivem Gedächtnis. Noch etwas sei hervorgehoben: Im memory talk wird nicht nur eingeübt, wie wir uns eriIlilern, sondern auch, wie häufig wir uns eriIlilern. WeIlil also die Fähigkeit des EriIlilerns zugleich auch von der kulturellen Wertschätmng des Erinnerns abhängt, dann ist davon auszugehen, dass in einer IIlilovationsgesellschaft, in der das Gedächtnis ökonomisch marginalisiert wird, schon im Kindesalter das EriIlilenmgsvermögen ab-sozialisiert wird und damit bedeutende Kompetenzen der Selbst- und Wirklichkeitswahrnehmung abhandenkommen. Wenn Bedeutungen nicht als Vokabular erworben, sondern explorativ in Handlungszusammenhängen als Erlebnis konstituiert werden, dann scheint Inszenierung im SiIlile eines bedeutungskonstitutiven Handlungsspiels ein Gnmdmuster zu sein, das sich von vorsprachlich-neuronalen Abbildungen von Hand-
67 Joachim Bauer: Warum ich fohle, was du fohlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen, Hamburg: Hoffinarm und Campe 2005, S. 69. 68 H. Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 16.
40
I HER MANN BLUME
hllgsmodulen über das imitierende Nachspiel bis mr Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch symbolische Interaktion stets nur in rekursiven szenischen Abläufen vollzieht. Wenn sich am Ende dieses Reviews die Frage nach Inszenierung als einer Kategorie kulturwissenschaftlicher Analyse noch einmal stellt, so ist deutlich geworden, dass sie im Rahmen einer konsistenten Kulturtheorie nicht die Kategorie des Gedächtnisses ersetzen kann, weil nur beide gemeinsam als komplementäre Teile eines Handlungszyklus Wirklichkeitsbedeutung m generieren vermögen - indem sie in intermittierendem Rhythmus die Wirklichkeit bedeuten (Erinnerung) und die Bedeutung verwirklichen (Inszenierung). Wollen wir also den Fall eines geglückten memory talk annehmen. Danach kÖllilte sich in einem performativen Ansatz die rekursive Beziehung von Inszenierung und Gedächtnis in einem doppelten Handlungsspiel modellieren lassen: Jedes soziale Handeln findet im Rahmen einer Szene statt, in der die Interpretation des Handlungsmsammenhangs und die Auslegung der Rollen, die die Akteure darin einnehmen, durch vorausgebildete Orientierungen, seien sie empirisch oder symbolisch vermittelt, vorstrukturiert sind. Insofern es sich bei der Situation nicht um eine ästhetisch fingierte und daher prästabilierte Fiktion handelt, sondern in der von Zufällen durchsetzten Lebenswelt stattfindet, ist grundsätzlich jedes Handlungsspiel explorativ und erzeugt durch die partiale Negation von Handlungshypothesen immer auch einen Betrag von Kontingenz. Das Handlungsspiel kann erst zweckentsprechend fortgesetzt werden, wenn es gelungen ist, die Kontingenz durch retrospektive Reflexion auf den Handlungsablaufund dessen retrospektiv eröffnete Neudeutung in sillilhaltige Konsistenz ummwandeln. Dabei verläuft der retrospektive Akt dieser narrativen Sinnkonstitution ebenso explorativ wie die Inszenierung, jetzt aber als symbolische Re-Inszenierung, ab. Erst am Ende der Narration wird die Herstellung von SillilKonsistenz als deren Handlungsziel erreicht. Ist diese als >gültig< in der sozialen Handlungsgemeinschaft anerkannt, verwandelt sich Narration als zunächst sillilexplorativer Akt in ein Narrativ, in eine erzählte und weitererzählbare, d. h. situativ übertragbare Geschichte, in der zukünftiges Handeln an vergangenes anlmüpfen kann. Performativ sind dabei beide Handlungen, Inszenieren und Erinnern: Wobei es sich bei dem ersten, dem explorativen Handlungsspiel, um eine prospektive, und dem zweiten, der explorativen Narration, um eine retrospektive Sprachhandlung handelt, die sich aus der Koinzidenz von Wiederholung und Erillilerung vom Ende her entwirft und damit ihr Gelingen und ihre Anschlussfähigkeit sichert. So hätten wir dellil den Anfangsverdacht, dass Inszenierung Gedächtnis in den Schatten stelle, revidiert in ein konstitutives Verhältnis: Inszenierung findet
INSZEN IERUNG ALS KATEGOR IE KULTURWISSENSCHAFTLICHER ANAL YSE
I 41
erst durch EriIlilenmg mr Wirklichkeit. Inszenienmg ohne Gedächtnis ist dann um schlussendlich mit einer bekannten, weIlilgleich biologistischen Metapher Hofmannsthals im Bilde m bleiben - wie die »Frau olme Schatten«: Erst weIlil sie ilm ZUIÜckfindet, wird sie fruchtbar werden.
Inszenierung übersetzen, Übersetzung inszenieren Zur Rolle des Theaters für das kulturelle Gedächtnis
MICHAEL RÖSSNER (WIEN/MüNCHEN)
>In-szen-ienmg< bedarf der Szene, der Theaterbülme, wenigstens als eines symbolischen Referenwrtes. Metaphorisch lässt sich der Begriff natürlich auch auf jene virtuelle Szene anwenden, die keine Rampengrenze, keine differente Außenwirklichkeit mehr keIlilt - auf die Interaktion im Alltag mit anderen, wie Er1 ving Goffman gezeigt, aber auch schon Nietzsehe postuliert hat:
Nehmen wir an, der einzelne Mensch bekomme eine Rolle zu spielen: er findet sich nach und nach hinein. Er hat endlich die Urtheile, Geschmäcker, Neigungen, die zu seiner Rolle passen, selbst das dafür zugestandene übliche Maaß von Intellekt: - einmal als Kind, Jüngling, usw. darm die Rolle, die zum Geschlecht gehört, darm die der socialen Stellung, darm die des Amtes, darm die seiner Werke. Aber, giebt ihm das Leben Gelegenheit zum Wechsel, so spielt er auch eine andere Rolle. Und oft sind in Einem Menschen nach den Tagen die Rollen verschieden z. B. der SOIllltags-Engländer und der Alltags-Engländer. An Einem Tage sind vvir als Wachende und Schlafende sehr verschieden. Und im Traume erholen vvir uns vielleicht von der Ermüdung, die uns die Tags-Rolle macht, - und stecken uns selber in andere Rollen. Die Rolle durchführen d. h. Wille haben, Concentration und Aufmerksamkeit: vielmehr noch negativ - abwehren, was nicht dazu gehört, den andringenden Strom andersartiger Gefühle und Reize, und - unsere Handlungen im SiJUle der Rolle thun und besonders interpretiren.
Vgl. Erving Goffinan: The Presentation
0/ Se!! in Everyday Life,
University of Edin-
burgh Social Sciences Research Centre: Anchor Books edition 1959.
44
I MICHAEL ROSSNER
Die Rolle ist ein Resultat der äußeren Welt auf uns, zu der vvir unsere >Person< stimmen, vvie zu einem Spiel der Saiten. Eine Simplifikation, Ein Sllm, Ein Zweck. Wir haben die Affekte und Begehrungen unserer Rolle - das heißt wir unterstreichen die, welche dazu passen und lassen sie sehen. Immer natürlich a peu pres. Der Mensch ein Schauspieler. 2 Nimmt man diese metaphorische VeIWendllllg jedoch nicht nur als Aperyu, sondern postuliert tatsächlich eine >ÜbersetZllllg< des Konzepts der theatralischen Inszenienmg in den Bereich sozialer Alltagspraxis, dann kommt es - wie stets bei kulturellen ÜbersetZllllgen/Translationen - meiner konfliktiven Aushand3
lllllg llllterschiedlicher Kontexte. Das begiIlilt mit dem angedeuteten Fehlen der Rampengrenze: Es impliziert, dass man, um die Inszenierung überhaupt als solche erkennen m können, eine fiktive Rampe einrichten, sich also >jenseits< des Geschehens platzieren muss - was im Falle Goffmans durch die heuristische Übertragllllg des Theatennodells lllld die damit eingerichtete Position des wissenschaftlichen Beobachters geschieht. Der Begriff der Rampengrenze, wie er hier veIWendet wird, veIWeist mnächst einmal auf ein >traditionelles< Theater in dem SiIlil, dass der Zuschauer nicht direkt als handelnder Akteur, sondern nur als Adressat in die Inszenienmg einbezogen ist - was mit der Revolution der Avantgarde (Antonin Artaud, Luigi Pirandello, Bertolt Brecht usw.) vOlüber ist. Dam kommt, dass aktuelle Theorien das Publikum als lllltrennbaren, ko-präsenten lllld mitverantwortlichen Teil der 4 Theaterauffühnmg als eines perfonnativen sozialen Prozesses sehen. WeIlil denmach Publikum lllld Bülme einen llllgeteilten perfonnativen Raum bilden, dann \VÜTde die Grenze zur Außenwirklichkeit nicht durch die Bühnenrampe, sondern durch einen >Frame< (im Sinne Goffmans) markiert, der beide Akteure lllld Aktionsräume - Darsteller lllld Publikum - umfasst. WeIlil wir diesen >Frame< ins Bild nehmen, benötigen wir allerdings einen weiteren lllld kommen damit in die weiter unten angedeutete llllendliche Spiegel problematik.
2
3 4
Friedrich Nietzsche: »Invviefem der Mensch ein Schauspieler ist«, in: ders.: Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe, hg. von Mazzino Montinari und Giorgio Colli), München: dtv 1980, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, 25 (374), S. 109f Vgl. Michael Rässner/Federico Italiano (Hg.): Translatioln. Narration, Media and the Staging 0/ Differences, Bielefeld: transcript 2012. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Pe!fonnativität. Eine Einjilh1W1g, Bielefeld: transcript 2012, S. 59ff.
INSZENIERUNG UBERSETZEN, ÜBERSETZUNG INSZENIEREN
I 45
Das kann freilich nicht dartiber hinwegtäuschen, dass auch die Position des llllbeteiligten Wissenschaftlers >als solche< wiederum eine Rolle ist, lllld dass die durch sie suggerierte Unbeteiligtheit älmlich inszeniert wird wie das Geschehen selbst - wie eine parallele impassibilite, die die naturalistischen Romanautoren m Ende des 19. Jahrhunderts für sich postulierten, um sich eben gegenüber der Öffentlichkeit als >Wissenschaftler< lllld nicht mehr als >Dichter< m inszenieren. s Dies führt letztlich m einem bekannten Spiegel-Phänomen: Um die Inszenienmg als solche erkennen m kÖllilen, muss man sich selbst als außerhalb der Szene stehend konzipieren. Dass diese Positionienmg, sobald man die Inszenierung ersten Grades m analysieren beginnt, als wissenschaftliche Beobachtungsrolle selbst mr Inszenierung wird, lässt sich leicht feststellen (allein schon an gewissen Stil elementen des> WissenschaftsstilsMeta-Bühne< mit einer Rampengrenze zweiter Ordnllllg; diese Erkelliltnis erfordert den Einbau einer weiteren Metaebene usw. Einen Ausweg offerieren allenfalls ein poststrukturalistischer Verzicht auf eine Ebene des >Urspnmgs< und der Ersatz von Bedeutllllg durch Relationalität, wie das in Pirandel6 los Konzept der »Nackten Masken« (Maschere nude) vorgebildet erscheint. Im Kontext unseres kulturwissenschaftlichen Forschllllgsansatzes steht freilich die Inszenierung noch in einem anderen, nicht >mikrosoziologisch< konzipierten Kontext: Als kulturelle Praxis von Gemeinschaften dient sie dem Aufbau lllld der Bewahnmg des »kulturellen Gedächtnisses« (lan Assmannf bzw. des »bewolmten Gedächtnisses« (Aleida Assmann)8. Es ist ja kein Zufall, dass der Urspnmg des Theaters in der rituellen Handlllllg m suchen ist; aber eine solche kultische Handlllllg verschmilzt mit der >wahren< Wirklichkeit des Mythos;9 der Priester/Schamane wird im rituellen
5
Vgl. Emile Zola: Le romcm experimental, Paris: Charpentier 1880; Michael Rössner: »Zvvischen Analyse und Entfremdung. Gedanken zur Krise des europäischen Naturalismus zvvischen Zola und Pirandello«, in: Michael RössnerlBirgit Wagner (Hg.): Auf
stieg und Krise der Ve171lD1ft. Komparatistische Studien zur Literatur der Außdärnng und des Fin-de-siecle (Festschrift fur Hans Hinterhäuser), Wien, Graz, Köln: Böhlau 1984. 6
Diesen Titel wählte Luigi Pirandello bekarmtlich für die Gesamtausgabe seiner dramatischen Werke.
7
Vgl. lan Assmarm: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinne1W1g und politische
Identität in/rühen Hochkulturen, München: Beck 1992. 8
Aleida Assmarm: Erinne1W1gsräume. Fonnen und Wandkmgen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 32006, S. 133.
9
Vgl. Mircea Eliade: Aspects du mythe, Paris: Gallimard 1963.
46
I MICHAEL ROSSNER
Nachvollzug ZU dem Gott, den er verkörpert. Das Theater schafft hingegen allmählich Distanz: das Bevvusstsein des In-Szene-Setzens, der mise en scene - lllld damit des Inauthentischen,lO der Re-Präsentation statt der urspIÜIlglichen Präsenz,ll die zumindest eine Transformation von referenziellen Wirklichkeitselementen in den theatralen (fiktionalen) Raum als einen Akt der (medialen) Translation mit allen daraus resultierenden Konsequenzen (konfliktives Aushandeln 12
der llllterschiedlichen Kontexte) impliziert. In der analogischen Episteme des ausgehenden Mittelalters,13 in dem das Theater als Institution llllbekannt ist, fehlt dieses Element des Inauthentischen, wodurch sich mühelos Spiele mit den Wirklichkeitsebenen ergeben, die erst in der Modeme wieder eingeholt werden, etwa in der Auffühnmg der ersten Ekloge des Juan deI Encina am Weilmachtsabend 1492 am Hof der Herzöge von Alba. Der Hofstaat hat sich im Palast versammelt, der Hofdichter Juan deI Encina betritt den Saal, in dem der Herzog erhöht mit seiner Gemahlin Platz genommen hat. Er ist als Hirte Juan verkleidet und deklamiert seinen in einem Kllllstdialekt gehaltenen Text, in dem er sich als >echter< Hirte präsentiert, der zu Weilmachten, also zum Jahresende, seinem Herrn den üblichen Jahreszins in einem Korb bringt, also Produkte der Viehzucht wie Käse; tatsächlich befindet sich in dem Korb jedoch der Band mit seiner dichterischen Jahresproduktion, der auch den hier erstmals aufgeführten Text enthält. Der Herrscher/Herzog wird so zugleich als er selbst lllld als Bülmenfigur präsent gemacht, weIlil Juan ihm als dargestellter Hirte und als Schauspieler/Dichter seinen Tribut überreicht -lllld gleichzeitig vorträgt. Hier wird die Doppel-Präsenz (im SiIlil einer Realpräsenz lllld einer
10 Vgl. Michael Rössner: »Von der Suche nach dem Authentischen zur Dekonstruktion der Authentizität des Zentrums. Lateinamerikanische Blicke auf Paris 1968«, in: Michael Rössner/Heidemarie Uhl (Hg.): Renaisscmce der Authentizität? über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: transcript, 2012, S. 89-115. 11 Auch hier gilt es vorsichtig zu sein: Natürlich ist Theater Realpräsenz, aber nicht mehr im kultischen Sirme, in dem laut Eliade ein tatsächlicher Ausstieg aus der profanen Zeit und ein Erleben des Ursprungs erfolgt. Ein letzter Rest einer solchen kultischen Realpräsenz findet sich in der Transsubstantiationslehre der katholischen Messe, der gegenüber die protestantische Auffassung die Distanz der mise en seime setzt (siehe dazu auch den Artikel in Arnn. 12). 12 Vgl. Michael Rössner: »Repräsentation aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Sieben Annäherungen an einen diffusen Begriff«, in: Gemot Gruber/Monika Mokre (Hg.): Repräsentation/en, Wien: Verlag der ÖAW 2014 [in Druck]. 13 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archeologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966.
INSZENIERUNG UBERSETZEN, ÜBERSETZUNG INSZENIEREN
I 47
symbolischen Präsenz ein lllld desselben Körpers) deutlich gemacht - eine Situation, die durch die Etablienmg der Rampengrenze und die klare Scheidung zwischen Beobachtern lllld Beobachteten im sich entwickelnden Theater der Neuzeit (bis zur angedeuteten Umkehnmg in der Avantgarde) allmählich verunmöglicht \VUTde. 14 Nach Etablierung eines Berufstheaters in Renaissance und Barock wird das Bevvusstsein der Distanz, der Scheidung zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen, präsent lllld kann nllll seinerseits symbolisch genützt werden: Symbolischmetaphysisch geschieht das in der Grundfigur des spanischen Barock, dem desengaiio (der >Ent-Täuschungder schöne Karl< einbrachte. Diese günstige Voraussetzung und sein propagiertes >verfügbar< sein - er blieb Zeit seines Lebens unverheiratet und hielt seine Langzeitfreundin Marianne Beskiba vor der Öffentlichkeit einigermaßen verborgen - nutzte er, um damit Frauen als Anhängerinnen m gewinnen. Diese waren m dieser Zeit zwar selbst nicht wahlberechtigt, kOIlilten aber doch einen gewissen Einfluss auf das Wahlverhalten ihrer Männer ausüben. Des Weiteren bildete Luegers markanter Vollbart das, was man heute als >corporate identity< bezeiclmen \VÜrde und zu seiner Zeit einen Modetrend bzw. ein politisches Statement war und ihn auf diversen Darstellungen unverwechselbar machte. Um die entsprechende >PR-Arbeit< und das >Merchandising< kümmerte sich zum einen die Christlichsoziale Partei, zum anderen aber auch die Lueger-Bünde, denen eben zahlreiche Frauen angehörten, sowie die verschiedenen Vereine, und zwar in einem durchaus bemerkenswerten Um-
fang. Was Luegers Selbstdarstellung betrifft, so sei hier exemplarisch einer seiner Wahl auftritte Mitte der 1890er Jahre dargestellt, der geradezu vorbildlich einzel-
4
üb die Anwendung einzelner >Marketingstrategien< anderer Genres, wie beispielsweise die Herausgabe von Autogrammkarten, vvie dies im Bereich des Theaters bereits im 19. Jahrhundert gängige Praxis war, durch Lueger persönlich, der selbst engen Kontakt zu KünstleriJUlen und Künstlern unterhielt, erfolgt ist bzw. wer (eine Einzelperson, ein Komitee) letztendlich die Strategien für Luegers Wahlkämpfe bzw. Vermarktung enhvickelt hat, gilt es - so davon noch Aufzeiclmungen vorhanden sind - erst zu eruieren, ebenso, welche Finnen nach welchen Kriterien für die Produktion der diversen Devotionalien beauftragt \Vllfden.
741
HARALD D. GROLLER
ne Facetten der Inszenienmg als soziale Kommmükationsform repräsentiert und s etliche iIlilovative Elemente beinhaltete. In einer entsprechend ausgewählten lllld von Partei anhängern gesicherten Lokalität "\iVUTde mnächst, quasi als Prolog, eine kleine Puppentheateraufführung veranstaltet, bei der der Einsatz der christlichsozialen Politiker gegen die politischen Gegner gezeigt "\iVUTde. Verköstigt vvurden die Zuschauer dabei mit Getränken lllld Speisen wie etwa Würsteln. Hatte man diese verzehrt, tauchte am Boden des Tellers das Konterfei jenes Mannes auf, dem man die Verköstigllllg m verdanken hatte: Karl Lueger. Dieser zog dann unter den ins Ohr gehenden Klängen des von Eduard Nerradt komponierten »Lueger-Marsches« ein, wobei ab lllld m - sofern es die Räumlichkeiten mließen - Fackeln die pathetische Stimmllllg noch erhöhten. Es folgte eine auf die Zuhörer abgestimmte Rede, die Lueger in Wiener Umgangssprache sowie gespickt mit Bonmots lllld Pointen vortrug lllld in der er Feindbilder kreierte, polemisierte lllld polarisierte. Als Lueger schließlich das Amt des Wiener Bürgermeisters erlangt hatte, erreichte auch der entsprechende Devotionalienhandel eine neue Dimension, wovon Autogrammkarten mit der aufgedruckten Unterschrift Luegers oder ein mehrteiliges, seine Person darstellendes Puzzle zeugen. Letzteres bringt ilm mit verschiedenen Situationen in Verbindung, lllld Lueger vvurde dabei als kaisertreuer, fleißiger, frommer, volksnaher >Macher< lllld Kämpfer für den »kleinen Mann« inszeniert. Bemerkenswert ist vor allem die Entwicklung der verschiedenen Lueger-Postkarten,6 die eine sukzessive VerschmelZllllg der Person Luegers mit dem Amt des Wiener Bürgermeisters und letztlich mit der Stadt Wien selbst suggerieren. Lueger vvurde darauf mnächst mit Symbolen der Stadt Wien lllld den Wiener Wahrzeichen umgeben, ehe er selbst Teil des >Inventars< "\iVUTde (etwa als über der Stadt thronender Rathausmann). Wegen der daraus resultierenden Konsequenzen für die öffentliche Wahmehmllllg entwg er sich lllld sein Tllll - mmindest partiell - einer sachlichen Beurteilung.
5
Dass Lueger auch den modemen Medien seiner Zeit aufgeschlossen gegenüberstand, verdeutlicht eine Filmaufuahme Luegers aus dem Jahr 1908 (Dr. Luegers Geburtstag
6
Vgl. Ursula Klaus: Das Bild des Dr. Karl Lueger. Die DarstellWlg eines Politikers im
in Lovrano). Wien des Fin-de-Siecle auf Postkarten als Beispiel fiir die Frühzeit visueller politischer Werbung, Dipl.-Arb. Wien 2000.
FACETTEN DES PERSONENKULTS UM KARL LUEGER
2.
I 75
ÄSTHETISCHE INSZENIERUNGEN DER ERINNERUNG
So facettemeich Luegers politisches Wirken war, so ambivalent ist auch seine >Rezeptionsgeschichteapage Satanas< reicht,7 lllld die in verschiedenen Medien in llllterschiedlichsten Ausprägllllgen existierte lllld zum Teil nach wie vor existiert. Bemerkenswert sind auch zwei Beispiele der posthumen politischen Instrumentalisienmg Luegers, die anschaulich die Vereinnahmllllg seiner Person durch das jeweilige politische System, aber auch die Grenzen dieser Instrumentalisierung bzw. >Inszenienmg< als identitätsbildende Kulturtechnik illustrieren. Das erste Beispiel ist ein TheaterstückS mit dem Titel Lueger, der große Österreicher lllld stammt von Hans Naderer. Das Stück "\iVUTde am 27. November
1934 in Wien uraufgeführt. Zu diesem Zeitpllllkt war in Österreich das Parlament bereits ausgeschaltet, nach dem Bürgerlai.eg im Februar 1934 waren alle Parteien außer der Vaterländischen Front verboten lllld der Staat in einen autoritär regierten ständischen Blllldesstaat mit neuer VeIfassllllg umgewandelt worden. Blllldeskanzler Engelbert Dollfuß war einem NS-Putsch mm Opfer gefallen, und die Regienmg llllter Blllldeskanzler Kurt Schuschnigg, die iIlilenpolitisch um einen Ausgleich mit der Arbeiterschaft bemüht war, geriet außenpolitisch msehends unter Druck Hitler-Deutschlands. In dieser Zeit "\iVUTde jedes Mit-
7
Vgl. dazu Harald D. Gröller: »Die Rezeption des Wiener Bürgermeisters Kar1 Lueger in unterschiedlichen Begegnungsräumen«, in: Szabolcs Janos-SzatmarilNoemi Kordics/Eszter Szab6 (Hg.): Begegnungsräume von Sprachen und Literaturen, 2 Bde. Bd. 1: Klausenburg (Großwardeiner Beiträge zur Germanistik 7), Großwardein: Partium 2008, S. 311-332; ders.: >>>Heiliger Lueger, bitte fur uns!< - Die Sakralisierung Dr. Kar1 Luegers«, in: V1adimir SabourinlVladimira Valkova (Hg.): Philologie und Kultu1Wissenschaft in der Wende. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof sc. Penka Angelova, Ve1iko Tamovo: Hl. hl. Kyrill und Method 2011, S. 289-307; ders.: »Die vielen Facetten des Personenkults um Kar1 LuegerlThe many facets of the Kar1 Lueger personality kult« [Gastkommentar], in: Arbeitskreis zur Umgestaltung des LuegerDenkmals in ein Mahnmal gegen Antisemitismus und Rassismus in Österreich (Hg.): Handbuch zur Umgestaltung des Lueger-Denkmals, Wien: Eigenverlag 2011, S. 16-
8
19, http://luegerp1a1z.com/personenkult.htm1vom 10. März 2010. Die Figur Luegers tritt in einem weiteren Theaterstück als Protagonist auf und zwar in Der Pumera. Das grosse Lueger Stück von Robert Maria Pros1 (1873-1957). Das Stück \Vllfde am 26. Mai 1949 uraufgeführt, wobei zum Teil dieselben Personen im Hintergrund vvirkten vvie beim Lueger-Stück des Jahres 1934, nämlich Theodor Irmitzer, Hans Naderer und Rudo1fHenz.
76
I HARALD D. GROLLER
tel lllld damit auch der Kulturbetrieb eingesetzt, um die ständestaatliche Ideologie sowohl nach iIlilen als auch nach außen m festigen. In diesem Zusammenhang sind vor allem auch die Aktivitäten von Rudolf Henz m nennen, der als einer der führenden Köpfe des damaligen Kulturbetriebes für die Konzeption und Durchfühnmg entsprechender Massenveranstaltllllgen wie etwa von Fest- lllld Weihespielen verantwortlich zeichnete. 9 Diese Auffühnmgen sollten die so genannte >Österreichische Sendllllg< transportieren, also eine Österreich-Ideologie etablieren, die eine eigenständige deutsch-österreichische Identität jener der 10 großdeutschen des Nationalsozialismus gegenüberstellte. Dabei "\iVUTde besonders der Begriff der Heimat neu aktiviert, der im Falle Österreichs christlichkatholisch lllld bäuerlich-agrarisch kOIlilotiert war, quasi ein »deutsches Volkstum österreichischer Art«ll. Rudolf Henz war auch persönlich in das >Projekt Lueger< involviert. So kOIlilte man zum Tag vor Luegers 25. Todestag in der Zeitung lesen, dass es im Deutschen Volkstheater eine Festauffiihrung von Naderers Lueger [gab]. Die Vorstel-
lung \Vl.1fde mit einem Prolog eingeleitet, den der Dichter Bundeskulturrat Dr. Henz von der Bülme aus sprach. Darm teilte sich der Vorhang, worauf Bürgermeister Richard Schmitz die mit den Emblemen der Vaterländischen Front geschmückte Bülme betrat und der Verdienste des Volksbürgenneisters Dr. Lueger gedachte. Nun folgte die Aufführung des Stückes. 12 Doch nicht nur Richard Schmitz, dem Naderer auch ein gewidmetes Exemplar der Buchfassung des Theaterstücks hatte zukommen lassen,13 sondern auch hö-
9
Wolfgang Maderthaner: Kultur Macht Geschichte. Studien zur Wiener Stadtkultur im 19. Wld 20. Jahrhundert (Politica et Ars 8), Wien: LIT 2005. 10 Vgl. Pia Janke: »)Österreich über alles!< Massenspiele im Austrofaschismus«, in: Peter Csobadi u.a. (Hg.): Politische Mythen und nationale Identitäten im (1vfusik-)Theater. Vorträge Wld Gespräche des Salzburger Symposions 2001. 2 Bde., Bd. 1, Salzburg: Mueller-Speiser 2003, S. 336-347, hier S. 328. 11 Ebd., S. 340.
12 Neues WienerJoumal, 10. März 1935, S. 4. 13 An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Skript der Bülmenfassung nicht auffindbar
war, vviewoh1laut vereinzelter Hinweise in der diesbezüglich äußerst spärlichen Sekundärliteratur zumindest ein Souffiierbuch existieren sollte. So liegt dem Verfasser neben diversen Zeitungskritiken lediglich zum einen die Buchfassung des Stücks vor (Hans Naderer: Der große Österreicher. Acht Bilder aus dem Leben des Volksbürgermeisters Dr. Karl Lueger, o. o. [Wien]: Eigenverlag o. 1. [1934].), die sich nicht
FACETTEN DES PERSONENKULTS UM KARL LUEGER
I 77
here Ständestaat-Funktionäre engagierten sich für das Lueger-Stück, dessen Premiere der auschückliche Wunsch von Blllldeskanzler Kurt Schusclmigg lllld Kardinal Theodor hmitzer vorausging, dass es im Deutschen Volkstheater aufgeführt werden sollte. Zudem sollte es von der Österreichischen Kllllststelle vor allem in katholischen Kreisen beworben werden,14 was erfolgreich geschehen sein dürfte, denn Lueger vvurde 75 Mal en suite gespielt. In besagtem Theaterstück wird Luegers Leben lllld Wirken in Form eines Bilderbogens geschildert, der den Zeitraum vom ersten politischen Wirken bis m seiner Erblindung einige Jahre vor seinem Tod umfasst. Das Stück ist dabei ein mehr oder weniger gelllllgener Versuch, populäre, natürlich stets positive Anekdoten lllld Ausspruche im Umkreis Luegers mit bekannter Regionalgeschichte m verlmüpfen sowie mit Leitgedanken lllld Schlagwörtern des m etablierenden Ständestaates gewissermaßen m llllterspicken. Bei diesem Historienstück, das vor allem von der Entstehllllgszeit geprägt ist, bewahrheitet sich eindrucksvoll die Döblinsche Aussage »Mit Geschichte will man etwas«. 15 Zu diesem Zwecke reiht Naderer am Beginn seines Stücks Lueger, der von Hans Homma gespielt "\iVUTde, in eine imaginierte Traditionsreihe »österreichischer« Helden ein,16 um ilm als moralische Autorität m verankern lllld so seinem Appell zum Zusammenhalt lllld Einsatz für ein llllabhängiges christliches Österreich mehr Gewicht m verleihen. Dementsprechend legt Naderer der Figur Luegers folgende Aussagen in den Mlllld: »Das ist doch nicht das Wichtigste, dass jeder nur an sich denkt lllld
gänzlich mit der Theaterfassung deckt, von der sich vviederum einige Auszüge in einer Festschrift zum 70. Geburtstag Naderers finden (Hans Naderer. Ein österreichischer Volksdichter. Zum 70. Geburtstag, hg. von einer Arbeitsgemeinschaft von Freunden des Dichters, Wien, München: Wedl 1961), wobei jedoch die dort vviedergegebenen Passagen den Eindruck vermitteln, als wären sie den politischen Gegebenheiten der Erscheinungszeit der Festschrift im Jahr 1961 angepasst worden. 14 Gerhard Scheit: »Happy End und Untergang. Das Volkstheater zvvischen Krise und Faschismus«, in: Eve1yn Schreiner (Hg.): 100 Jahre Volkstheater. Theater. Zeit. Geschichte, Wien, München: Jugend und Volk 1989, S. 88-101, hier S. 91f. Vgl. dazu
auch den Beitrag »Das Volksschauspiel Lueger«- Filmarchiv Austria, Österreich in Bild und Ton Nr. 81b11934, Beitragsnr. 1. 15 Alfred Döblin: »Der historische Roman und wir«, in: ders.: Auftätze zur Literatur, 01ten, Freiburg: Walter 1963, S. 163-186, hier S. 173. Döblin hatte dies auf den histori schen Roman bezogen. 16 Lueger, der große Österreicher, Bild 1, S. 9f.
78
I HARALD D. GROLLER
dartiber dass Große, das Ganze, das Gemeinsame vergisst, das llllS ja alle verbinden soll: Und das ist doch llllser schönes Vaterland Österreich!«17 Oder: Es ist nicht zu leugnen: Österreich steht am Rande des Abgrundes. Es lässt sich nicht in Abrede stellen, weJUl die Sache so fortgeht, dass der Zerfall unvermeidlich ist. In dieser ernsten Stunde appelliere ich an Sie alle: stellen Sie das Trermende zurück, halten Sie zusammen! Österreich ist eine historische Notwendigkeit! Arbeiten vvir alle in ehrlichem Einverstehen zusammen, stoßen vvir die Stänkerer und Demagogen aus unseren Reihen, lassen vvir nur diejenigen, die es vvirklich ehrlich mit Glaube, Volk und Heimat meinen, zu Worte kommen, darm wird der alte Wahlspruch wahr werden: Österreich, unser schönes, heiliges Vaterland, vvird evvig stehen! 18 Dabei ist es nicht uninteressant, dass der Autor einen der größten Demagogen, den die österreichische Politik je erlebt hat, moralisch gegen die Demagogie appellieren lässt; lllld dass die Auffordenmg erfolgt, alles Trennende zuIÜckzustellen, während führende Politiker der inzwischen verbotenen Sozialdemokratischen Partei noch in Haft waren; auch das >ehrliche Einverstehen< z. B. bei der von der Regienmg propagierten >Selbstausschaltung< des Parlaments und bei der Verhindenmg der Wiederaufnahme des regulären Parlamentsbetriebs war nicht ganz so ehrlich. Doch auch eine Legitimierung der Parlamentsausschaltung ließ nicht lange auf sich warten, denn nachdem im Stück eIWälmt wird, dass »leider infolge der Ändenmg des Wahlrechtes Elemente ins Parlament gekommen [sind], die an Stelle der Sachlichkeit Demagogie gesetzt haben«19, werden der Verzicht auf ein solches Parlament und die Etablienmg eines autoritären Regimes erneut von der Figur Luegers begIÜndet, die ausführt: Und werm wir das net imstand sind, vvird halt eines Tages auf andere Weise Ordnung g'macht. Wir habenja genug Beispiele in der Geschichte. [... ] WeJUl ich mir die Gipsfiguren [gemeint sind jene im Parlament] dort anschau', denk' ich mir immer, vvie gescheit doch die Römer waren. Die haben einfach, vvie's nimmer 'gangen ist, an Diktator eing'se1zt. [... ] Ja, das waren damals andere Köpf, die da aufuns herunterschau'n. Sie san zwar nur aus Gips, aber die meisten in dem Haus [gemeint ist erneut das Parlament] sind nur aus Pappendecke1. 20
17 Ebd., Bild 4, S. 17f 18 Ebd., S. 21. 19 Ebd., Bild 5, S. 9. 20 Ebd., Bild 4, S. 18f
FACETTEN DES PERSONENKULTS UM KARL LUEGER
I 79
Angesichts dieser politischen Instrumentalisierung künstlerischer Veranstaltungen bemerkte Alfred Pfoser, dass gerade m Beginn der 1930er Jahre die Kunst lllld die Politik »eine enge Beziehllllg ein[gingen], nicht immer zum Vorteil der beiden Bereiche, weil die >Ästhetisienmg der Politik< (wie die >Politisierung der Kunstmnverhohlene[ ] BeWlllldenmg«27 lllld bezeichnete ilm, den »walrrhaft großen lllld genialen«28, dort unter anderem als »den gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten«. 29 Auch Hitlers Jugendfreund August Kubizek schrieb in seinen EriIlilenmgen: »Unter den führenden politischen Köpfen jener Zeit imponierte Adolf [Hitler] dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger am meisten. Aber um sich ganz seiner Partei zu verschreiben, störten ilm die Bindllllgen an den Klerus, der in die Politik dauernd eingriff.«30 Im Vorfeld des
25 Heinrich George \Vllfde im Übrigen vertraglich zugesichert »[ .. ] dass es sich um ei-
nen dokumentarischen Zeitfilm und nicht um einen Lueger-Fihn handelt«; vgl. Fihnarchiv Aus1ria, Wien 1910, Verträge, Ordner 1, Nr. 1 - und dies, obwohl noch in einem Schreiben an die Emo-Film Ges.m.b.H. vom 25. Jan. 1941 der Fihntitel mit Lueger, der Bürgenneister von Wien angegeben wurde; vgl. Filmarchiv Aus1ria, Wien 1910, Verträge, Ordner 3, Nr. 76. 26 Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf Zwei Bände in einem Band, München: Eher 1937,
S. 132f; vgl. auch S. 106-110. Hier sei angemerkt, dass auch Luegers Begräbnis am 14. März 1910, von dem auch ein Filmdokument existiert, ein interessantes Beispiel
einer Masseninszenierung bietet. Dieser Film \Vllfde von der erst 1910 gegründeten »Ersten Österreichischen Kinofilms-Industrie« des Ehepaars Anton und Luise Kolm so"Wie Jakob Fleck produziert und in 22 Wiener Kinos gezeigt; vgl. Walter Fri1z: Kino in Österreich 1896-1930. Der Stummfibn, Wien: ÖBV 1981; Gertraud Steiner: Traumjabrik Rosenhügel: Filmstadt Wien:
Wien-Fibn, Tobis-Sascha, Vita-Film,
Wien: Compress 1997. 27 A. Hitler: Mein Kampf, S. 59. 28 Ebd., S. 109. 29 Ebd., S. 59. Dieses Hitler-Zitat, das in der ersten Drehbuchversion Menzels noch zu
BegiJUl des Filmes eingeblendet hätte werden sollen (vgl. Österreichisches Filmarchiv, N 24211, S. 4), ist ab der zweiten (vgl. Österreichisches Fihnarchiv, N 242/2, S. 439) und auch in der schließlich realisierten Version (vgl. Österreichisches Filmarchiv, N 242/3, S. 406) Teil des Filmendes. 30 August Kubizek: Adolf Hitler. Mein JugendjreWld, ungek. Sonderausgabe, Graz, Stuttgart: Stocker 2002, S. 248.
FACETTEN DES PERSONENKULTS UM KARL LUEGER
I 81
31 Films, der schon 1940 angekündigt worden war lllld der das Prädikat »Staatspolitisch lllld künstlerisch wertvoll« erhielt, kam es immer wieder m Zwistigkeiten zwischen Berlin und Wien resp. zwischen dem Propagandaminister J oseph Goebbels lllld dem Wiener Gauleiter Ba1dur von Schirach. Goebbels notierte da-
m am 15. März 1942 in sein Tagebuch: Ich spreche mit Schirach auch den kritischen Fall des Lueger-Fihns durch. Es gibt in Wien eine radikale politische Clique, die diesen Film zu Fall bringen vvil1. Ich werde das nicht zulassen. Der Film soll zuerst einmal gedreht werden, und darm karm man sagen, ob daran noch Korrekturen vorgenommen werden müssen oder ob er zur Gänze zu ändern ist. Zweifellos ist Lueger hier etwas heroisiert worden. Aber das schadet nicht so sehr, da ja die Vorgänge, die sich um seine Person abgespielt haben, schon so weit zurückliegen, dass sie, abgesehen von einem kleinen Kreis von Interessierten, gänzlich unbekarmt sind. 32 Doch hier irrte Goebbels, deIlil die österreichischen Nationalsozialisten sahen in Schönerer ihr Vorbild, lllld es missfiel nicht nur einem kleinen Kreis, dass in diesem Film Lueger a1s der Vorkämpfer der nationalsozialistischen Idee inszeniert "\iVUTde lllld mora1isch über Schönerer siegen sollte. Hinzu kam die stetig schlechter werdende Stimmllllg aufgnmd des besonders ab dem Winter 1942/43 immer llllgünstigeren Kriegsverlaufs bzw. die Unzufriedenheit der österreichischen Nationalsozia1isten mit den »Reichdeutschen«, die die meisten hohen Positionen besetzten lllld als arrogant empfllllden "\iVUTden, weshalb Schirach jegliche Provokation der Wiener parteigenossen zu vermeiden suchte. Durch diese Zwistigkeiten verzögerte sich die Fertigstellllllg des Films bis in das Jahr 1943, in dem die veränderte politische Situation im nationalsozialistischen Deutschland inzwischen andere Filme benötigte als jenes Machwerk, dem Dorothea Hollstein den »Stil einer Heiligenlegende [attestierte], die durch die Todesnähe besonderen Glanz erhält«.33 Wien 1910 "\iVUTde zwar nach seiner Fertigstellung im Altreich am 26. August 1943 uraufgeführt, in Wien selbst während der NS-Zeit jedoch
31 Obwohl erst ab dem 15. Juni 1941 definitiv »feststand, dass der Lueger-Film tatsäch-
lich gemacht vvird«; Filmarchiv Austria, Wien 1910, Verträge, Ordner 3, Nr. 99. 32 Tagebucheintragung von Joseph Goebbels vom 15. März 1942, zitiert nach Elke Fröh-
lich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil II: Diktate 1941-1945. Bd. 3: Januar-März 1942, München [u.a.]: Sauer 1944, S. 473; Boguslaw Drewniak: Der deutsche Fibn 1938-1945. Ein Gesamtüberblick, Düsseldorf: Droste 1987, S. 302f. 33 Dorothea Hollstein: Antisemitische Fibnpropaganda. Die Darstelkmg des Juden im nationalsozialistischen Spielfilm (Kommunikation und Politik 1), München-Pullach, Berlin: VD 1971, S. 168.
82
I HARALD D. GROLLER 34
nie gezeigt. Auch in Deutschland fand der Film trotz des großen StarAufgebotes nur mäßiges Interesse, lllld nach dem Krieg "\iVUTde der Film von den Alliierten verboten. Wien 1910 ist somit jener Film, der in der Zeit HitlerDeutschlands die geringsten Einspielergebnisse erzielte. Die verschiedenen Inszenienmgen lllld Instrumentalisierungsversuche Luegers haben die historische Person mit vielen Schichten überdeckt, die eine objektive Beurteilllllg bis heute erschweren. Im kollektiven Gedächtnis ist Lueger deshalb immer noch mit sehr llllterschiedlichen EriIlilenmgen konnotiert und verortet. Eine seriöse lllld konstruktive Arbeit zum ambivalenten Gedächtnis Karl Luegers muss deshalb immer die historische Person neben die posthumen Instrumentalisierungen stellen lllld die ilmen zugnmde liegenden Strategien adä35 quat mitreflektieren.
34 Der Fihn, in dem auch Lil Dagover, o. W. Fischer, Rosa Albach-Retty und Erik Frey mihvirkten, \VU1"de 1970 im Schänbrmm-Kino und im Bellaria-Kino gezeigt und führte zu Protestaktionen und zu einer Strafanzeige; vgl. Kurier, 3. Dez. 1970, S. 14, zitiert nach: Günther Berger: Bürgermeister Dr. Karl Lueger und seine Beziehungen zur
Kunst, Wien [u. a.]: Lang 1998, S. 297. 35 Vgl. dazu auch Moritz Csaky/Klaus Zeyringer (Hg.): Inszeniernngen des kollektiven
Gedächtnisses: Eigenbilder, Fremdbilder (Paradigma Zentraleuropa 4), Wien: StudienVerlag 2002.
»Österreich ist ... « Die Inszenierung kollektiver Erinnerung am Beispiel des Österreich ischen Staatsvertrags
PETER STACHEL (WIEN)
Dichtung und Wahrheit hat Johann Wolfgang von Goethe seine literarischen Le-
benseriIlilenmgen betitelt und damit nicht nur ein literarisches Darstellungsprin-
zip umrissen, sondern wohl auch eine generelle Aussage über >EriIlilerung< getätigt. Jeder von llllS hat schon einmal diese Erfahnmg gemacht: Man trifft nach längerer Zeit frühere Bekannte wieder, tauscht sich über Erlebnisse der gemeinsamen Vergangenheit aus lllld stellt bald fest, dass der andere sich ganz anders lllld an ganz anderes erinnert als man selbst. Das ist eine Banalität: Das individuelle Gedächtnis ist - wie wir oft zu llllserem Leidwesen feststellen müssen nicht einfach ein Speicher von Informationen in strukturierter Form zur späteren WiederveIWendllllg. Die Erinnerung bedarf der Aktualisienmg, das Gedächtnis generiert EriIlilenmgen vergangener Ereignisse lllld Erlebnisse stets neu, die Gedächtnisinhalte llllterliegen dabei Verändenmgen, etwa durch Anpassllllg an das Gedächtnis eines Kollektivs. Zumindest in dieser Hinsicht kann das individuelle mit dem kollektiven Gedächtnis verglichen werden. Um ins kollektive Gedächtnis einmgehen, müssen Ereignisse - ob wahre oder fiktive ist in diesem Zusammenhang unerheblich immer wieder von der Gemeinschaft aktualisiert, in Rituale eingebunden, mit Emotionen verbunden, bevvusst aktiv >erinnert< lllld auch an die nächste Generation weiter gegeben werden. Die Medien dieser Aktualisienmg von Gedächtnisinhalten sind vielfältig: vom Denlanal zum Gedenktag, vom Schullllltenicht zur Fernsehdokumentation. So gut wie immer spielen dabei Bilder und Formen der peIformativen Inszenienmg eine Rolle. Gedächtnispolitik ist die vielleicht wirksamste Form von Identitätspolitik, wer sein EriIlilenmgsnarrativ iIlilerhalb eines
84
I PETER 5T ACHEL
Kollektivs mehr oder weniger verbindlich durchsetzen kann, übt damit Macht aus: Konflikte um die kollektive Erinnerung sind stets Machtkämpfe. Nicht nur die Nationalstaaten bedienen sich der Medien der Gedächtnispolitik zur kollektiven Identitätsstiftllllg, dies gilt auch für zahlreiche Formen menschlicher Vergemeinschaftung, insbesondere für die großen Religionsgemeinschaften. Diese sind fast immer, wenn auch nicht ausschließlich, Erinnerungsgemeinschaften, sei es, dass sie konkrete historische oder als historisch imaginierte Ereignisse in ritueller Form erinnern, wie im Judentum, wo es dementsprechend auch ausdlÜcklich ein religiöses EriIlilerungsgebot gibt,l sei es, dass sie wiederkehrende Rituale der Aufhebung zeitlicher Distanz zu GIÜlldungsmythen oder GlÜlldungspersönlichkeiten praktizieren, durch eine periodische Rückkehr ins »illud tempus« (»jene Zeit, [als ... ]«), wie das der Religionsphilosoph Mircea Eliade nannte, in die Zeit des mythischen Ursprungs. 2 Dementsprechend lassen sich einerseits sakrale Akte sehr häufig als Akte einer Erinnerungspolitik verstehen, umgekehrt nehmen auch in säkularen Gemeinschaften derartige EriIlilerungsakte in ihrer formalen Gestaltung oftmals sakralen Charakter an.
1. DER STAATSVERTRAG
IM >KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNIS
erinnern< kann, die vor seiner Geburt stattgefunden haben. Auch nach 1955 geborene Österreicher verrügen über eine Art von Erinnerung an die Unterzeichnung des Staatsvertrags betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, gegeben zu Wien am 15. Mai 1955, so der offizielle Na3 me, in Österreich einfach »der Staatsvertrag« genannt. Unterzeichnet "\iVUTde der Vertrag von den Außenministern der vier Besatzungsmächte - den USA (JoIm Foster Dulles), Großbritannien (Harold MacMillan), Frankreich (Antoine Pinay)
Vgl. u. a. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor - Erinnere Dich! Jüdische Geschichte
undjüdisches Gedächtnis, Berlin: Wagenbach 1996. 2
Vgl. z. B.: Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wieder-
kehr, Reinbek: Rowohlt 1986; ders.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main: Insel 1984, bes. S. 63-99. 3
Vgl. als neuere Veröffentlichung: Manfued Rauchensteiner/Robert Kriechbaumer (Hg.): Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag Wld Neutra-
lität, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2005.
»ÖSTERREICH IST ... «
I 85
lllld der Sowjetunion (Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow) -, von den vier Botschaftern und vom österreichischen Außenminister Leopold Figl im Schloss Belvedere in Wien; er fixierte den Abzug der BesatZllllgstruppen lllld die Wiederherstellllllg der politischen Unabhängigkeit der Republik Österreich. Im kollektiven Gedächtnis der Österreicher gilt der Staatsvertrag als Geburtsurkunde des neuen Österreich, demgegenüber die tatsächliche GIÜIldllllg der Zweiten Republik am 27. April 1945 in der EriIlilenmgskultur des Landes kaum Bedeutllllg hat. Bis in die Gegenwart stellt der Staatsvertrag in Österreich den zentralen Bezugspunkt eines historisch llllterfutterten republikanischen Österreich-Bevvusstseins dar. Wie Heidemarie Uhl anmerkt, hat die Unterzeiclmung des Staatsvertrages im nationalen Gedächtnis Österreichs als einziges historisches Ereignis »eine nachhaltige Verankenmg gefllllden [ .. ], lllld zwar als das weitaus am stärksten positiv bewertete Ereignis der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhllllderts«4. Im Rahmen der Ausstellllllg Österreich in Europa, die aus Anlass der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs in der ersten Jahreshälfte 2006 im Bundeskanzleramt stattfand, teilte sich der Staatsvertrag (konkret: eine Kopie desselben) eine Vitrine mit der Partitur des Donauwalzers - eine privilegiertere Position scheint aus österreichischer Sicht kaum vorstellbar. Insbesondere die so genannte >BalkonszeneBalkonszene< stammen, hatte sich nach eigener Aussage dafür entschieden, sich unter die Menge vor dem Belvedere m mischen, weil die Mehrzahl seiner Kollegen im Unterzeiclmungssaal anwesend war: Er hoffte so - wie sich zeigen sollte, mit lllleIWartet großem Erfolg -, eine llllgewöhnliche Perspektive auf das Ereignis fotografisch festhalten m kÖllilen. Laut Hans Petschar lllld Georg Schmid handelt es sich beim Bild der >Balkonszene< um das »wohl bekannteste historische Bild der Zweiten Republik« 8. Das Bild allein ist jedoch nur die Hälfte der ikonischen >Balkonszenemagischen AugenblicksÖsterreich ist frei!< Und vvie i des g'hört hab, da hab i glNU.ßt: Auch das hab ich jetzt geschafft. Es ist mir gelungen - der Wiederaufbau []9 Auch in Politikerreden vvurde der Ruf Figls vom Balkon gelegentlich als Anlmüpfungspunkt genommen: So wählte etwa Blllldeskanzler Wolfgang Schüssel in seiner Rede an die Nation am 15. März (!) 2001, in der es eigentlich um die andere >Balkonszene< des NS-Gedächtnisses gehen hätte sollen, die >GlÜndungsszene< auf dem Balkon des Belvedere als Ausgangspllllkt: »Der Ruf von Leopold Figl vom Balkon des Belvederes aus >Österreich ist frei< ist aber nicht nur Erinnerung, sondern zugleich auch Mahnllllg für llllS: Sind wir wirklich frei? Fühlen wir uns frei? Wofür sind wir frei?«lO BemerkenswerteIWeise hat das, was so intensiv erinnert lllld vielfach beschworen wird, in dieser Form nie stattgefllllden. Zwar hat Leopold Figl, umringt von den Außenministern der Signatarstaaten, den unterzeiclmeten Staatsvertrag tatsächlich vom Balkon des Belvedere aus der jubelnden Bevölkenmg gezeigt, er hat jedoch nachweislich nicht »Österreich ist frei!« vom Balkon herlllltergerufen. Wie es zu diesem historisch falschen Erinnenmgsbild gekommen ist, wird weiter unten erläutert, vorerst soll es um die Formen der Inszenienmg der ikonischen Szene, insbesondere im Jahr 2005, gehen. Übrigens verhält es sich auch mit der berühmten Radioansprache Figls zu Weihnachten 1945 älmlich: Das in Österreich sehr bekannte Tondokument, in dem Figl den Österreichern erklärt, dass die Regienmg derzeit nicht in der Lage sei, ihre Lebenssitua-
9
earl MelZ/Helmut Qualtinger: »Der Herr Kari« [1961], in: Das Qua/finger-Buch, Frankfurt am Main, Berlin: Langen Müller 1990, S. 193-212, hier S. 206.
10 Bundeskanzler Wolfgang Schüssel: »Rede zur Lage der Nation am 15. Mai 2001. Im
Interesse Österreichs: Rot-weiß-rot regieren«, in: Österreichisches Jahrbuch 72, 2000, hg. v. Bundeskanzleramt, Wien: Bundespressedienst 2001, S. 110-128, hier S. 110f.
»ÖSTERREICH IST ... «
I 89
tion zu verbessern, aber llllgeachtet dessen um den Glauben »an dieses Österreich« bittet, ist keineswegs die Originalrede von 1945, von der keine Aufnahme existiert. Vielmehr handelt es sich um eine aus dem Gedächtnis improvisierte Version der Rede, die Figl bei einem Besuch im Funkhaus des Österreichischen Rundfunks viele Jahre später für das ORF-Archiv ins Mikrofon sprach. Im Gedenkjahr - offiziell »Gedankenjahr« - zum 50. Jahrestag der Unterzeiclmllllg des Staatsvertrags 2005 waren sowohl das >Balkonbild< als auch die Parole »Österreich ist frei!« allgegenwärtig (nebenbei "\iVUTde auch, aber mit deutlich weniger Einsatz, des 60. Jahrestags der GIÜIldllllg der Zweiten Republik lllld des 10. Jahrestags des Eintritts Österreichs in die Europäische Union gedacht). Das Balkonbild eroberte Gebrauchsgegenstände, vom T-Shirt über Feuerzeuge lllld Zündholzschachteln (Abb. 1) bis hin zum Bierdeckel: die Gösser Brauerei warb solcherart für ihr Produkt als »Staatsvertragsbier«; begIÜIldet "\iVUTde dies damit, dass nach der Vertragsunterzeichnllllg im Mai 1955 ein Imbiss lllld dazu Gösser Bier gereicht worden sei. (Abb. 2) Es fehlte auch nicht an ironischen Bezugnahmen: so warb etwa die Fernsehfamilie eines großen Möbelhauses mit einer travestierten Staatsvertragsszene lllld die im Jahr 2004 entstandene österreichische Filmkomödie Nacktschnecken endet mit einer Szene, in der einer der Protagonisten, die eben mit einem dilettantischen Filmprojekt gescheitert sind, weitreichende Pläne für einen Einstieg in die Werbebranche, zuerst einmal für
Babynahrung,enrwirft: Wir nehmen die historischen Aufuahmen aus dem Jahr 1955, weißt eh, das mit: Österreich ist frei! [ .. ] Alle warten auf den Außenminister Figl, eine riesige Menschenmenge, ein leerer Balkon, darm kommt der Figl. Er steht am Balkon, umringt von den Seinen. Er hat' s g'schaffi, man sieht es ihm an. Er genießt den Augenblick. Darm dreht er sich zur Menge und ruft: >Österreich isst Brei!< Tosender Applaus der Menge. Ich meine, die Situation ist super. Oder, stell dir vor: Werbung für Freilandeier: >Österreich isst Ei!< Oder WeJlll Cannabis endlich legalisiert vvird, pass auf: >Österreich ist high!< Das ist doch genial, oder?! 11 Die Pointe ist freilich nur verständlich, weIlil man die >originale< Balkonszene lllld ihre Bedeutung für das österreichische kollektive Gedächtnis keIlilt. Neben vielen kleinen Ausstellllllgen, etwa einer besonders liebevoll gestalteten im Blllldesmobiliendepot, die sich mit den Staatsvertragsmöbeln beschäftigte, widmeten sich gleich drei Großausstellllllgen im Jahr 2005 der Thematik: Im Teclmischen Museum "\iVUTde Österreich baut auf Wieder-Aufbau und Marshall-
11 Nacktschnecken. Österreich 2004. Regie: Michael Glawogger, Drehbuch: Michael Ostrowski und Michael Glawogger.
90
I PETER 5T ACHEL
plan gezeigt; auf der Schaliaburg die von der niederösterreichischen Landesre-
gierung veranstaltete Ausstellung Österreich ist frei lllld am Unterzeiclmllllgsort selbst, im Oberen Belvedere, die staats tragend ausgerichtete Schau Das neue Österreich. Im Vorfeld der Vorbereitungen zu dieser Ausstellllllg kam es zu einigen für die damalige ÖVP-BZÖ-Regienmg einigermaßen peinlichen Pannen: für die große offizielle Ausstellllllg der Republik, die deklarierter Maßen als Probelauf für ein zu errichtendes »Haus der Geschichte« dienen sollte, war schlicht kein Geld vorhanden, sodass eilends eine Gruppe meist regierungsnaher Privatpersonen einspringen musste, um durch das Aufbringen von Spenden aus den Reihen der Wirtschaft die Ausstellllllg überhaupt möglich zu machen. Damit kamen die Vorbereitllllgen der Ausstellung jedoch gegenüber jenen auf der Schaliaburg zeitlich in Verzug, was llllter anderem zur Folge hatte, dass auf den urspIÜIlglich vorgesehenen Titel »Österreich ist frei!« - was sonst? - verzichtet werden musste. Den hatten sich nämlich die Veranstalter der Ausstellllllg auf der Schaliaburg bereits ebenso gesichert wie das in einem Moskauer Archiv aufbewahrte einzige Original des Staatsvertrags - dieses stand der Ausstellllllg im Belvedere daher erst in ihrer Schlussphase zur Verfügllllg. 12 Die Plakate bzw. Einbände der Ausstellllllgskataloge glichen einander mehr oder weniger lllld bedienten sich teilweise des ikonischen Balkonmotivs. Bezeiclmend war in diesem SiIlil auch die Gestaltung des Eingangsbereichs der Ausstellung im Belvedere mit einem überdimensionalen Triptychon: Das Balkonbild in der Mitte, zu beiden Seiten flankiert von einem Bild der Menge vor dem Belvedere. Als Leitsystem für den Besucher diente durchgehend ein rotweiß-rotes Band. Ausstellllllgen dieser Art und Größe unterliegen natürlich insgesamt einem Konzept ästhetischer Inszenierung; nicht selten wird mittleIWeile aber versucht, den Besucher zumindest teilweise aus der Rolle des bloßen Betrachters herauszuführen lllld zum Akteur zu machen. Im Belvedere dienten an mehreren Stellen interaktive Medienflächen diesem Zweck, auf der Schaliaburg absolvierte der Besucher den in der Tat komplizierten historischen Weg zum Staatsvertrag gleichsam in der Rolle von Leopold Figl oder Julius Raab (so die Presseinformation vom 15. April 2005) als umwegigen Hindernisparcours, konn-
12 Technisches Museum Wien (Hg.): Österreich baut auf Wieder-Aufbau & lvfarshall-
Plan / Rebuilding Austria. Reconstruction and the Marshall Plcm, Wien: Technisches Museum 2005; Stefan Kamer/Gottfued Stangler (Hg.): »Österreich ist frei!« Der Österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss SchalIaburg 2005, Horn, Wien: Berger 2005; DüriegllFrodl: Das neue Österreich. V gl. auch: Ulrike Felber: »Jubiläumsbilder. Drei Ausstellungen zum Staatvertragsgedenken«, in: Österreichische Zeitschrififiir Geschichtswissenschaft 17, 1 (2006), S. 65-90.
»ÖSTERREICH IST ... «
I 91
te in einer raumfüllenden Filmprojektion als einer der Vier im Jeep durch Wien fahren oder sich am Ende der Ausstelhlllg in die Menge der vor dem Belvedere Wartenden eimeihen - eine Gruppe von Pappfiguren.
3. EIN BALKON AUF REISEN Derartige Elemente des historischen Rollenspiels "\iVUTden in den Ausstellungen noch eher dosiert eingesetzt, in der großen offiziellen Gedenkaktion der Republik Österreich standen sie im Zentrum. 25 Peaces - »peace« wie englisch: »Frieden« geschrieben - hieß eine Folge von Kunstaktionen, die als Interventionen im öffentlichen Raum Aufmerksamkeit eIWecken und zum Nachdenken anregen 13 sollten. Das sich über mehrere Monate ziehende Projekt stand unter der Patronanz des Bundeskanzleramtes, geleitet vvurde es vom ehemaligen Programmdirektor des ORF Wolfgang Lorenz und dem Generaldirektor der österreichischen Bundestheater Georg Springer. Internationalen Trends der Gedenkkultur folgend, hatten die einzelnen Projekte mehrheitlich Event-Charakter, wobei man sich vor allem Formen des >Reenactment< bediente, der inszenierten Wiederauf14 führung oder Nachstellung historischer Ereignisse. So vvurden beispielsweise die beiden Reiterstandbilder auf dem Heldenplatz mit Mauerattrappen umgeben; gegen Kriegsende 1944/45 waren diese wm Schutz vor Bombensplittern eingemauert worden. Dabei "\iVUTde der symbolischen Bedeutung jedoch eindeutig Vorrang gegenüber der historischen Genauigkeit gegeben: Während die originalen Ummauerungen - wie historische Fotografien belegen - die Denlanäler eng umschlossen und annähernd die geometrische Form von Kegeln mit abgeflachter Spitze hatten, handelte es sich bei den Attrappen von 2005 um übergroße, lmallrot eingefärbte Würfel. In dieselbe Kategorie von >Reenactment< gehörten auch
13 Vgl. die offizielle Begleit-DVD: 25 Peaces. Die Zukunft der Vergangenheit. Interventionen Wld Irritationen zur Erzeugung eigener Gedanken im Diesseits des öffentlichen Raumes und jenseits des offiziellen Gedenlqahres, hg. v. Bundeskanzleramt, Staats-
sekretariat für Kunst und Medien, 2005. 14 Sowohl der Begriffals auch die Praxis des Reenactmentkommen aus den USA. Ausgangspunkt waren private Vereinigungen vor allem in den Südstaaten, die zumeist das Kampfgeschehen des Amerikanischen Bürgerkriegs nachspielten bzw. neu inszenierten. Vgl. Tony Horwitz: Confederates in the Attic. Dispatches from the Unfinished Civil War, New York City: Pantheon 1998. Im weiteren SiIllllassen sich aber alle Formen des theatralischen Nachspielens historischer Ereignisse als Reenactment bezeiclmen.
92
I PETER 5T ACHEL
weidende Kühe im Schlosspark des Belvedere und die Gemüsegärten auf dem Heldenplatz; auch das hatte es gegen Kriegsende lllld danach in Zeiten der Lebensmittellmappheit tatsächlich gegeben. Diesen historischen Inszenienmgen waren j eweils Texttafeln beigefügt, auf denen in sehr allgemeiner Form das Dargestellte erklärt und historisch kontextualisiert "\iVUTde. Auch der Abzug der alliierten BesatZllllgstruppen "\iVUTde nachgespielt, wobei einzelne Szenen aus Filmaufnahmen der Austria Wochenschau nachgestellt "\iVUTden. Die Austria Wochenschau präsentierte seit Vor-Fernsehzeiten (von 1949 bis 1982) einen wöchentlich erneuerten Nachrichtenblock, der bei jeder Kinovorfühnmg in Österreich vor dem Hauptfilm ausgestrahlt "\iVUTde. Dass derartige >ReenactmentBombennachtBalkonbild< versehen, wobei jedoch der zentrale Platz - jener, auf dem der österreichische Außenminister Leopold Figl mit dem Vertrags werk in Händen gestanden war - frei blieb. Zufällig vorbeikommende Passanten erhielten so die Möglichkeit, sich auf die Position Figls zu stellen. Anschließend "\iVUTde die Balkonattrappe mit Hilfe eines Krans in die Höhe gehoben, lllld die Mitspieler sollten aus luftiger Höhe »Österreich ist frei!« rufen. Lorenz lllld Springer begIÜIldeten das Projekt damit, es solle die jüngeren Österreicher »dort ab[zuJholen, wo sie sind - mitten im Spieltrieb«ls. In der medialen Berichterstattung kam das Projekt nicht gut weg, als Event scheint es jedoch funktioniert zu haben. Nach Ende des >Gedankenjahres< "\iVUTde einer der mobilen Balkone bei eBay versteigert.
15 Zit. nach 25 Peaces zum Gedenkjahr 2005, in: htlp:l/sciencev1.orf.atlscience/newsl 132281 [Zugriffsdatum: 21.9.2011]. An anderer Stelle betonten die Initiatoren, ilmen sei bereits während der Planung be\VUsst gewesen, dass Fig1 den Satz »Österreich ist frei!« im Irmeren des Belvedere gesprochen habe. Vgl. Vor »25 Peaces«-Start: Macher wehren sich gegen Kritik, in: htlp:l/sciencev1.orf.aUscience/news/133262 [Zugriffsdatum: 21.9.2011].
»ÖSTERREICH IST ... «
I 93
Der erhöhte Standpmüd auf Balkon, Kanzel, Bülme oder Ähnlichem dient einerseits ganz pragmatisch dem Zweck, die im Mittelpunkt des Geschehens stehende Person oder Personengruppe innerhalb einer Menschenrnasse optisch sichtbar m machen. Zugleich wird damit aber auch eine Sichtperspektive von mlten nach oben vorgegeben, die auch im übertragenen SiIlil wahrgenommen wird: Die solcherart präsentierten Personen werden nicht nur im realen, sondern auch im symbolischen SiIlil auf eine höhere Ebene gestellt, im wörtlichen SiIlil aus der Masse >herausgehobene Unter anderem damit erklären Reinhard Krammer und Franz Melichar auch die besondere Wirkung, die von den Fotografien der >Balkonszene< ausgeht: Die Zahl der Akteure ist überschaubar, ihre Physiognomie ist gut erkermbar und spiegelt die Bedeutung und die Zufuedenheit über das Vereinbarte vvieder. Die Personen strahlen Autorität aus, nicht nur durch die kOIlllotativen Effekte des an alte Tradition gemalmenden Balkons und der dem Anlass entsprechenden Kleidung, sondern durch die Kameraperspektive von schräg unten, die die Personen, insbesondere den im genauen Mittelpunkt des Bildes stehenden Leopold Figl, perspektivisch überhöhen. Die Haltung und die Physiognomie Figls beim Vorzeigen des Vertrages mit den Siegeln und Unterschriften der Signatannächte hat einen unübersehbar listig-triumphierenden, dynamischen Charakter, der bei den (österreichischen) Betrachterhmen wohl angenehme Gefühle auszulösen imstande war und ist: Signalisierte die Geste doch eine aktive Neupositionierung Österreichs in der Staatengemeinschaft und dokumentierte die dargestellte Szene gleichsam das neue Selbstbe\VUsstsein des kleinen Staates Österreich. 16 Als aus der Sicht der Öffentlichkeit >eigentlicher< Höhepunkt der Staatsvertragsmlterzeicluulllg "\iVUTde die >Balkonszene< nicht nur mittels der Fotografien des Originalereignisses am 15. Mai 1955 in verschiedenen Kontexten instrumentalisiert, sie "\iVUTde auch bereits vor 25 Peaces wiederholt nachinszeniert. So zum 10. Jahrestag der Vertragsunterzeiclmung im Mai 1965 und zum 30. Jahrestag im Jahr 1985, als jeweils die Außenminister der einstigen Signatannächte auf dem Balkon für die Kameras posierten. Auch am 15. Mai 2005 versammelten sich politische Vertreter der Signatannächte auf demselben Balkon meinem Fototennin. Überdies warb die ÖVP aus Anlass eines EU-Kongresses in Wien (15. Mai 1994) mit
16 Reinhard Krammer/Franz Melichar: »Die Kamere der Bilder. Der österreichische Staatsvertrag als Imagination. Didaktisch-methodische Anmerkungen zum Arbeiten mit Bildern im Geschichtsuntemcht«, in: Fornm Politische Bildung: Frei-SouveränNeutraJ-Europäisch, S. 80-89, hier zit. nach http://\V\V\V.demokratiezentrum.orgifile adminimedialpdf/medienbildungJaammer_ melichar.pdf [Zugriffsdatum: 01.05.2014].
94
I PETER 5T ACHEL
einem Foto, das Vizekanzler und Parteiobmann Erhard Busek lllld Außenminister Alois Mock auf dem Balkon des Belvederes zeigte, für ein »Ja« bei der bevorstehenden Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs mr Europäischen Union.
4.
ZWEI BALKONE DER ÖSTERREICHISCHEN ZEITGESCHICHTE
Die naheliegende Idee der Nachstellung der >Balkonszene< hatte also bereits die Feiern zum 10. Jahrestag der Vertragsllllterzeichnllllg am 15. Mai 1965 geprägt: »Wie vor zelm Jahren - nur andere Persönlichkeiten«17 kommentierte die Wien er Zeitung das Foto der damals amtierenden Außenminister auf dem Balkon des Belvedere; m diesen hatte sich auch die US-Diplomatin Eleanor Lansing Dulles, die Schwester des amerikanischen Außenministers von 1955, gesellt. Diese Feiern mm 10. Jahrestag fanden jedoch nicht mit dem erhofften Überschwang statt, war doch die aus österreichischer Sicht zentrale Person des Geschehens vom Mai 1955, der ehemalige Außenminister Leopold Figl, nur sechs Tage vor dem festlichen Gedenkakt, am 9. Mai 1965, verstorben. Die Staatstrauermusste gegenüber den protokollarischen Vorgaben eigens verkürzt werden, um eine Überlappllllg von offizieller Trauer und offiziellem Festakt m vermeiden. Der Trauermg führte vom Stephansdom, wo der Sarg für die Öffentlichkeit aufgebahrt gewesen war lllld die Totenmesse gehalten vvurde, über den Heldenplatz, wo der eigentliche Staatsakt stattfand, mit einem Zwischenhalt vor dem Belvedere weiter zum Wiener Zentralfriedhof. Bemerkenswert ist daran der Umstand, dass nicht der Platz vor dem Belvedere, als Ort der >Schlüsselszene< von Figls Laufbahn als österreichischer Politiker, ebenso wenig der Ballhausplatz mit dem Kanzleramt oder der Minoritenplatz mit dem Außenministerium - also zwei Wirkungsstätten Figls -, 18 sondern der symbolisch überfrachtete Heldenplatz als Ort für den Staatsakt gewählt vvurde. Figls Sarg "\iVUTde dabei hinter dem Reiterstandbild des Prinzen Eugen platziert: Er stand damit exakt unter jenem Balkon der Neuen Hofburg, von dem aus Adolf Hitler am 15. März 1938 seine Anschlussrede gehalten hatte.
17 WienerZeitungl6. Mai 1965,S. 1. 18 Vgl. Peter Stachel: Mythos Heldenplatz, Wien: Pichler 2002; ders.: »Der Heldenplatz. Zur Semiotik eines österreichischen Gedächtnisortes«, in: Stefan Riesenfellner (Hg.): Steinernes Bewußtsein 1. Die öffintliche Präsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1998, S. 619656.
»ÖSTERREICH IST ... «
I 95
Bundeskanzler Josef Klaus nahm in seiner Trauerrede auf diese Symbolik nicht Bezug;19 dass die Wahl genau dieses Platzes für den Staatsakt für Figl aber durchaus mit Bedacht auf die historische Aufladllllg des Ortes geschehen war, belegt eine einleitende Passage im Vorwort eines noch im selben Jahr 1965 erschienenen Bandes mit Reden Leopold Figls. Dort heißt es bezeiclmend: Auf dem gleichen Platz, über den an jenem 15. März 1938 in immer neuen Wellen ein ohrenbetäubendes >Sieg Heil!< brauste, unter dem gleichen Balkon, auf dem damals Hitler posierte, steht am 14. Mai 1965 der Sarg mit der irdischen Hülle Leopo1d Figls. Eine ergriffene, schweigende Menge umgibt ilm, die gekommen war, von dem Marme Abschied zu nehmen, dessen Name mit der Erneuerung Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg eine unlösbare Einheit bildet. An diesem Tag erlebte Wien unter umgekehrten Vorzeichen die gleiche Manifestation, vvie an jenem 15. März 1938 - was damals dem Ende Österreichs galt, gilt jetzt einem Bekermtnis zu Österreich. 20 Damit wird eine der Funktionen des Gedenkens an die >Balkonszene< vom 15. Mai 1955 deutlich angesprochen: Sie hatte im Österreich der Nachlai.egszeit, das sich offiziell als erstes Opfer Hitler-Deutschlands verstanden wissen wollte, auch den Zweck, die fatale andere >BalkonszeneFührersMasse< erscheint hierarchisch klar differenziert
19 Die Rede \Vllfde abgedruckt in: Wiener Zeitung 15. Mai 1965, S. 11. 20 Ludvvig Reichhold: »Politiker aus christlicher Verantwortung«, in: Leopold Figl: Reden fiir Österreich. Mit einer Einleitung von Ludvvig Reichhold, Wien, Frankfurt am
Main, Zürich: Europa Verlag 1965, S. 11-54, hier S. 11. 21 Petschar/Schmid: Erinnernng & Vision, S. 47. 22 Dazu mag der Umstand beigetragen haben, dass der Balkon der Hofburg ursprünglich nur symbolisch als Ort der Präsenz des Herrschers konzipiert war - ein zweiter Bal-
96
I PETER 5T ACHEL
durch die räumliche Aufteilung in Zivile, Partei und Militär. Völlig im Gegensatz dazu übernimmt in den Filmen über den Staatsvertrag die Kamera entweder die Position der Zuseher oder bringt leicht seitlich erhöht eine anonyme Totale. Die Bilder zeigen nicht die visualisierte Herrschaft eines >Führers< über eine >MasseNicht doch, was ist, werm er sie fallen läßtWir haben ilm, wir haben ilmFigl, Figl< und >Poldl, Poldlc Die Außenminister vvinken, Dulles mit einem weißen Taschentuch, und Molotow hebt vvie ein Boxer die verschränkten Hände grüßend über den Kopf. Ein besorgter Beamter nimmt Figl die Staatsvertragsmappe ab, und der Österreicher vereinigt die Hände seiner Kollegen in versölmlicher Eintracht. 25 Ludwig Steiner hat die Behauptung, dass die Idee, den Staatsvertrag vom Balkon des Belvedere aus zu präsentieren, tatsächlich von ihm stammte, später auschücklich bestätigt. Die feierliche Unterzeiclmung des Staatsvertrages war nun abgeschlossen, und es \Vllfde Wein kredenzt. Die Außenminister \Vl.1fden auf den Balkon gebeten. [ ... ] Mein Kollege Franz Karasek und ich sahen am Tisch den >Staatsvertrag< liegen. Einem plötzlichen Einfall folgend gaben wir das kostbare Dokument Figl in die Hand, damit er es - aufgeschlagen, mit Siegel und Unterschriften - vom Balkon aus den begeisterten Menschen im Garten des Belvedere zeigen kOIlllte. Ein Protokollbeamter wollte das verhindern: >Seid ihr verrückt, was ist, werm er ilm in diesem Gedränge fallen lässt!< Wir \VUSsten, >der Figl< hält diesen Vertrag eisern fest, den lässt er unter gar keinen Umständen fallen. Außenminister Figl mit dem Staatsvertrag in Händen auf dem Balkon des Belvedere - dieses Bild ging um die Welt - und zurück in die österreichischen Schulbücher. 26 Die Austria Wochenschau 1955/Nr. 21 (Österreichs großer Tag), die in der Woche ab dem 20. Mai 1955 in den österreichischen Kinos zu sehen war, bestätigtllllterlegt mit einem streckenweise überaus pathetischen Kommentar - in geraffter Form diese Beschreibungen. Deutlich ist zu sehen, dass der Satz »Österreich ist frei!« im Mannorsaal des Belvedere am Unterzeichmlllgstisch gefallen ist,
25 Ernst Trost: Figl von Österreich, Wien, München, Zürich: Molden 1972, S. 23. 26 Ludvvig Steiner: »Als Raabs Sekretär in Moskau und bei der Unterzeiclmung des Staatsvertrages - Persönliche Erirmerungen«, in: KameriStangler: »Österreich ist frei!«, S. 329-336, hier S. 334f.; gekürzt vviederabgedruckt als: Ludvvig Steiner: »Als Glockengeläute die Freiheit verkündete«, in: Hans Ströbi1zer (Hg.): Leopold Figl und seine Zeit, Salzburg: Residenz Verlag 2012, S. 147-149, hier S. 149.
»ÖSTERREICH IST ... «
I 99
selbst einige nicht zu identifizierende, aber merklich besorgt dreinblickende Herren sind später im Hintergnmd auszumachen, bei denen es sich um die erwälmten »Protokollbeamten« handeln dürfte. Wie aber wanderte Figls Ausspruch im kollektiven Gedächtnis vom hmeren des Belvedere hinaus auf den Balkon? Auch dafür war die Austria Wochenschau verantwortlich, allerdings in einer späteren Folge: Ausgabe Nr. 44/1955 vom 28. Oktober 1955 (Österreich ist frei). Dabei "\iVUTde teilweise dasselbe Filmmaterial verwendet wie in Folge 21, allerdings "\iVUTde es diesmal - erstmals überhaupt in der Geschichte der Austria Wochenschau - in Farbe ausgestrahlt. 27 Diese Folge bot einen Bilderbogen vom Kriegsende 1945 bis zum Abzug der alliierten Besatzungstruppen in den Wochen vor dem Ausstrahhlllgstennin, der den Schwerpunkt der Dokumentation bildete. Die Staatsvertragsunterzeichnung selbst "\iVUTde dabei auf eine kurze Sequenz rascher Bildfolgen zusammengeschnitten: Dabei ist zuerst die >Balkonszene< zu sehen, dann eine Großaufnahme des unterfertigten Staatsvertrags, und dieses Bild wird mit dem davor aufgenommenen Schlusssatz von Figls Rede »Österreich ist frei!« unterlegt. Für einen flüchtigen Betrachter konnte so der Eindruck entstehen, dass der Satz vom Balkon aus verkündet worden wäre. Genau diese kurze Filmsequenz - sie dauert kaum mehr als zwei Sekunden - ist als ikonisches Bild für den Staatsvertrag in das kollektive Gedächtnis der Österreicher eingegangen: eine technisch wenig anspruchsvoll umgesetzte Bild-Ton-Collage eines Cutters der Austria Wochenschau, mit der sicher nicht die Absicht der Verfälschung der Ereignisse verbunden war. Welche >Karriere< seine kurze Schnittfolge machen \VÜTde, konnte der Cutter ja nicht erahnen. Bei genauer Betrachtung kann man im Übrigen feststellen, dass es nicht Leopold Figl ist, der den Staatsvertrag hält, als dieser kurz in Großaufuahme zu sehen ist. Um wie vieles wirkmächtiger die historisch falsche Version gegenüber der richtigen ist, belegt nicht zuletzt der eIWähnte Ernst Trost selbst: Bietet er im ersten Kapitel seiner Figl-Biographie eine detaillierte Schildenmg des tatsächlichen Ablaufs und zitiert den Satz »Österreich ist frei!« korrekt als den Schluss28
akkord von Figls Rede im Inneren des Belvedere , so klingt das, als er in der dem Anfangskapitel folgenden chronologischen Darstellung von Figls Leben lmapp dreihundert Seiten später wieder bei der Staatsvertragsunterzeichnung an-
27 Beide Folgen in: 1945-1955. Österreichs Weg zum Staatsvertrag. DVD, hg. v. Film-
archiv Austria 2005. 28 Trost: Figl von Österreich, S. 23.
100
I PETER STACHEL
kommt, schon ganz anders: »[Dann] hielt Leopold Figl den Massen vom Balkon aus den unterschriebenen Staatsvertrag hin lllld rief sein >Österreich ist frei! Österreich ist frei!Reenactmentfalschen< Ablauf der Ereignisse so >richtig