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German Pages 392 [390] Year 2015
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Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Vertrauen
Szenografie & Szenologie
Band 4
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EDITORIAL Die Reihe Szenografie & Szenologie versammelt aktuelle Aufsätze und Monografien zum neuen Ausbildungs- und Berufsfeld Szenografie. Im Kontext neuer Medientechniken und -gestaltungen, Materialien und narrativer Strukturen präsentiert sie Inszenierungserfahrungen in öffentlichen Vor-, Aus- und Darstellungsräumen. Zugleich analysiert die Reihe an Beispielen und in theoretischer Auseinandersetzung eine Kultur der Ereignissetzung als transdisziplinäre Diskursivität zwischen Design, Kunst, Wissenschaft und Alltag.
DIE HERAUSGEBER Dr. Ralf Bohn ist Professor für Medienwissenschaften und arbeitet im Schnittpunkt von philosophischer, psychoanalytischer und technischer Medienanalyse. Dr. Heiner Wilharm ist Professor für Designtheorie und Gestaltungswissenschaften und arbeitet mit Schwerpunkt Zeichen, Kommunikation und Inszenierung. Die Herausgeber lehren am FB Design der FH Dortmund und begleiten den MasterStudiengang Szenografie und Kommunikation wissenschaftlich und konzeptionell.
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Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) INSZENIERUNG UND VERTRAUEN Grenzgänge der Szenografie
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf Bohn Umschlagabbildung: Archiv (Heiner Wilharm) Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Redaktion, Lektorat und Satz: Ralf Bohn ISBN 978-3-8376-1702-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfreigebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALTSVERZEICHNIS
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HEINER WILHARM
Vertrauen inszenieren? Einführung 41
HEINER WILHARM
Vertrauensökonomie und mediale Inszenierung. 75
CHRISTOPH WEISMÜLLER
Vertrauensinszenierungen. Die Inszenierung zwischen Vertrauen und Misstrauen 93
RUDOLF HEINZ
Paranoia – Festival des Vertrauensmords. (Auch) zu Inszenierungen dieser unserer Universalpathologie 109
GERNOT BÖHME
Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphären. 119
PAMELA C. SCORZIN
Der „Messias-Faktor“. Über eine Vertrauensfigur in Inszenierungen von Politik und Kultur 135
ANDREA CUSUMANO
Die tausend Gesichter des ausgestopften Kondors oder die Chancen des Realen. 157
JÖRG U. LENSING
Interaktive, intermediale Performance. Ein Forschungsbericht 167
HEIDE HAGEBÖLLING
Vertrauen und künstlerischer Prozess. Einblick in das Kreativlabor 189
BERNHARD FRANKEN
Spatial Narratives als Inszenierung des Vertrauens.
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SANDRA SCHRAMKE
Türme. Über die Konstruktion von Vertrauen in der Architektur 217
UWE BRÜCKNER
Szenografie oder die Macht der Verführung. 235
HANS DIETER HUBER
Der Shinkansen. Die perfekte Inszenierung des Vertrauens 245
THEA BREJZEK
Szenografien des Ausnahmezustands. 263
ANKE STRITTMATTER, OLIVER LANGBEIN
Pushing the Limits. 281
RALF BOHN
Bürgschaft des Vertrauens. Die Inszenierung als sanktionsfreier Ort 309
HAJO SCHMIDT
Inszenierung und Vertrauen in der Politik. Von der Entschärfung des zwischenstaatlichen Sicherheitsdilemmas 327
LUDWIG FROMM
Szenografie in Gedenkstätten. Sinn und Grenzen des szenografischen Prinzips 349
ERNEST WOLF-GAZO
Ritual and Szenography in the Context of Tribal society. 363
ALEXANDER KLUGE
Früchte des Vertrauens. Ein Kurzinterview 367
FRANK DEN OUDSTEN, RALF BOHN
Balance und blindes Vertrauen. Ein Briefwechsel 381
DIE AUTOREN
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SZENOGRAFIE & SZENOLOGIE
Wenn es in sozialen Praktiken undurchschaubar oder unkalkulierbar wird, ist man bereit, selbst imaginierten Sicherheiten mit Vertrauenserweisen zu begegnen. Die notwendigen Inszenierungen zur Konstruktion, ja Simulationen gesellschaftlicher Beziehungen begleiten indes jede Form intersubjektiver Kreditierung durch Vertrauen. Diesseits oder jenseits von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Beschwörung. Dieser vierte Band von Szenografie & Szenologie sondiert die Vertrauensproduktion auf unterschiedlichen Praxisfeldern. Was ist schief gelaufen bei den Vertrauensinszenierungen der Finanzmärkte? Oder war alles im Sinne der ‚Kreativen‘? Sollen wir uns bei der Kunst erkundigen, von der man sagt, dass sie zweckfrei sei? Oder sollen wir uns mit dem medialen Auftritt der Unterhaltungsindustrie zufrieden geben, die schließlich niemals leugnet, zu inszenieren? Wollen wir eine andere Art professioneller szenografischer Arbeit einfordern, schon eine neue Weise, sie zur Kenntnis zu nehmen? Jenseits von Museum und Event, Medien und Design? Wie schafft man Vertrauen? Wie geht man um mit dem Misstrauen? Und wie weit darf der Szenograf gehen in seiner Zuversicht gegenüber dem anhaltenden Spagat zwischen Realem und Inszeniertem: unter ökonomischen, ethischen und ästhetischen Gesichtspunkten? 21 Autoren aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und szenografischer Praxis behandeln das Problem des Vertrauens aus je eigenen Blickwinkeln. Die Theorieund Praxiszusammenhänge thematisieren kritisch und konstruktiv die Wirkungen szenografischer Arbeit und den Stand szenologischer Forschung unter den unterschiedlichsten Effekten und Affekten – vom blinden Vertrauen bis zur Paranoia des Misstrauens. Die Herausgeber danken der Fachhochschule Dortmund für die Förderung aus Forschungsmitteln.
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Heiner Wilharm VERTRAUEN INSZENIEREN? EINFÜHRUNG
Der hier vorliegende vierte Band der Reihe Szenografie & Szenologie widmet sich dem Thema „Inszenierung und Vertrauen“.1 Die Illustration des Titels privilegiert je nach Perspektive unterschiedliche Deutungen des Bildgeschehens und der Grenzbestimmungen. Folgt man ihnen, erlauben sie, der Diskussion, zu der die Aufsätze des Bandes beitragen, eine gewisse Struktur anzutragen, etwas zu erkennbar verschiedenen Ebenen des thematischen Zusammenhangs zu sagen, zu Reichweite und gewissen Knoten der Problematisierung im Titel. Wie es scheint, werden wir Zeugen eines gefährlichen Unternehmens. Als Erstes fällt das Spektakuläre der Szene ins Auge. Ein Brautpaar überquert, auf hohem Seil aufeinander zu balancierend, einen tiefen Abgrund. Doch welches Risiko gehen die Artisten in der schwindelnden Höhe wirklich ein? Ist es nicht trotz aller Befürchtung des Laien vergleichsweise gering einzuschätzen, zumindest für die Akteure kalkulierbar? Dürfen die Künstler nicht gewiss sein, dass sich ihr Training, ihre Erfahrung und ihre Übung auszahlen, ein Unfall eher ausgeschlossen ist, und die Vorstellung demnächst an anderer Stelle wiederholt werden kann? Wenn wir also sagen, dass die beiden darauf vertrauen, dass ihnen die Seilnummer gelingt, dass sie sich selbst und jeder dem anderen vertrauen dürfen, meinen wir dann nicht, dass die Beurteilung wie die daraus resultierenden Erwartungen mit großer Wahrscheinlichkeit gerechtfertigt sein dürften? Doch niemand, der die Szene im Bild betrachtet, weiß, welche Deutung dem Originalauftritt angemessen gewesen wäre. Sind Brautkleid und Frack Kostüm oder sind die Protagonisten tatsächlich Braut und Bräutigam, die sich ausnahmsweise, aber standesgemäß, auch das Jawort auf dem Seil geben wollen? Wir wissen es nicht. Doch glauben viele zu wissen, dass zu heiraten, gleichviel ob im Ernst oder im Spiel, ein risikoreiches Unternehmen ist. Eine ungewisse Investition in die Zukunft. Andere wiederum halten den Vergleich für abwegig. Denn selbst wenn jemand vom ‚Risiko‘ der Ehe redet, wenden sie ein, meint er nicht unbedingt, dass das gegenseitige Vertrauen der Partner zueinander durch bestimmte Kenntnisse, durch Erfahrungen und Kompetenzen ersetzt und das Risiko zu scheitern im selben Maße minimiert werden könnte. Vertrauen halten sie nicht für einen Impfstoff, 1 Zugrunde liegen, bis auf einige für diesen Band exklusiv geschriebene Beiträge, überarbeitete Vorträge und Debatten des 2nd Scenographers’ Symposium Dortmund, das vom 10. bis 13. Dezember 2009 stattfand.
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HEINER WILHARM
mit dem sich Brautleute gegen Ehekrisen immunisieren ließen. Im Gegenteil, die Vertrauensbekräftigung des Jawortes bedeutet vielen, das gegenseitige Versprechen zu geben, niemals ‚nachtragend‘, immer wieder bereit für einen neuen Anfang zu sein.2 Zwei unterschiedliche Akzentuierungen, zwei unterschiedliche Konzepte von Vertrauen womöglich? Die Frage ist, ob ‚Vertrauen‘ überhaupt bemüht werden muss, wo kalkuliert, geschätzt, gerechnet wird. Zwei Vertrauensakte, zwei Inszenierungen. Der ‚Hochseilakt‘, verstanden als artistische Leistung oder, metaphorisch, als Kennzeichnung eines nicht voraussehbaren, durchaus nicht gefahrlosen, aber versprochen gemeinsamen Lebenswegs, beide Akte erleben wir ‚inszeniert‘, freilich in unterschiedlicher Art. Die Inszenierung der Artistik als solche zeigt sich im konventionellen Setting entsprechender Zirkus- oder Freiluftakte. Die Spannung rührt aus dem Spiel mit der Gefahr, der Gänsehaut der Zuschauer. Sie wissen, dass ihnen die Attraktion die tatsächliche Professionalität der Hochseilartisten zum Tausch anbietet für eine Imagination, den Kitzel der Gefahr, die sie spüren mögen, wenn sie sich vorstellen, sie selbst stünden auf dem Seil und sollten den Abgrund überwinden, womöglich dort oben noch mit ihrer Gattin oder ihrem Gatten treffen. Die Dramaturgie des Hochseilakts, inszeniert als Szene des Jawortgebens von Braut und Bräutigam wiederum, torpediert und überhöht die Konventionalität des gewöhnlichen Hochseilaktes. Denn sie bietet dem Zuschauer mit dem gefährlich ungefährlichen Spektakel nicht einfach nur Unterhaltung, sondern thematisiert und emotionalisiert das Geschehen zudem unter Aspekten persönlicher Gefühle in einer Paarbeziehung. Die Botschaft in diesem Fall legt dem Betrachter nahe, ein über jede berufliche Verlässlichkeit hinaus reichendes Vertrauen der beiden zueinander als Kern des Gelingens zu betrachten. Keineswegs soll ein externer Grund, etwa Kompetenz reklamierend, Ersatz leisten können. ‚Miteinander auf dem Hochseil arbeiten‘, besagt dieser Appell, möge man verstehen, wie ‚sich immer wieder erneut das Jawort geben‘, und – das Versprechen halten.3 Die Begründung liegt mithin in der Zukunft, in der Praxis. Sie macht Handlungsgründe geltend, keine Verhaltensursachen. Ein Inszenierungsverständnis dagegen, das die Wirkungen der Performance an die vorausgehende Erfüllung bestimmter Bedingungen knüpft (professionelle Kompetenz oder technische Leistungen etwa, eine ‚Szenografie‘ vielleicht), bindet seinen Optimismus weniger an Vertrauen denn an Kontrolle. Stattdessen erleben wir mit der Pointierung der persönlichen Beziehung die Agitation eines Bündels instantaner affektiver Einstellungen 2 „Die Liebe ist langmütig,(...) Sie erträgt alles, / glaubt alles, / hofft alles, / hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“ 1. Korintherbrief 13,1; vgl. in diesem Band Ralf Bohn: Bürgschaft des Vertrauens. Die Inszenierung als sanktionsfreier Ort. 3 Denn sonst dürfte man nicht von einem gelungenen Versprechen reden, wie Austin dargelegt hat. Siehe John L. Austin: How to do things with words. Cambridge Mass. (Harvard University Press) 2nd Ed. 1975, S.10/11.
VERTRAUEN INSZENIEREN?
beim Zuschauer. Mit dem, was er erhofft, glaubt, erwartet, wird er zum Mitspieler, bereit, sich im gerade beginnenden Schauspiel zu bewähren. Er verhält sich wie jemand, der sich und der Sache vertraut; implizit, ohne großartige Vertrauensbekundung.4 Umgekehrt vermag das Bild des aufeinander zu balancierenden Paars im Festgewand das Eheversprechen als artistische Höchstleistung zu fokussieren. Hinsichtlich des Vertrauens privilegiert diese Perspektive, der Kreis schließt sich, wiederum die kalkulierend technische Betrachtung, die ‚Vertrauen‘ auch dort platziert sehen möchte, wo kommende Handlungen und Ereignisse, und seien sie noch so berechenbar, allein schon aufgrund des darin schlummernden Wechsels auf die Zukunft, mit Risiken belastet sind, die auf jeden Fall abgesichert gehören. Und sei es durch den Wirkstoff Vertrauen. Das Titelmotiv deutet indes nicht nur die unterschiedlichen, nichtsdestotrotz sich verschränkenden Bedeutungs- und Aktivitätsfelder von Vertrauenspraktiken an, bietet nicht allein ein Bild für die szenische Realität mehr oder weniger gespielter oder mehr oder weniger echter Vertrauensbindungen. Als Medium, Fotografie oder Bild, setzt sie uns allererst in die Differenz von Darstellung und Szene. Denn alles Szenische existiert in diesem Bild lediglich als Variante möglicher Vorstellung davon, was jemand sieht. Jedenfalls lassen sich die szenografischen Qualitäten der Darstellung von dem gemeinten oder intendierten szenischen Geschehen deutlich unterscheiden. Erst dies erlaubt uns, unterschiedliche szenische Gestaltungen, unterschiedliche Vertrauenskonstellationen zu ventilieren. Wie sich zeigen wird, indizieren die unterschiedlichen Figuren der Verknüpfung von Vertrauen und Inszenierung ebenfalls unterscheidbare Dispositive des Sozialen, unterschiedliche Handlungsbereiche und Praktiken, in denen entsprechende Effekte gefragt sind. Die Inszenierung von Vertrauen ist indes nicht allein denjenigen Medienauftritten vorbehalten, deren Botschaften die inhaltliche Aufgabe haben, für ein besonderes Objekt zu werben, dem die Kreditierung durch Vertrauen zugute kommen soll. Vertrauen in die Demokratie, in die Wirtschaft, in die Finanzen, in die Gesundheit, in die Arbeitskraft, die Kreativität, das Genie. Vertrauen in Bildung, Wissenschaft, Familie, Kinder ... Vertrauen in Vertrauen. Ist dieses Ziel der Herbeiführung von Vertrauen einmal klar – und zweifelt niemand an der Möglichkeit, dass dies zu bewerkstelligen ist –, ist mit einer jeden szenografischen Aufbereitung solcher Themen zugleich die Aufgabe der ästhetischen Zubereitung verbunden. Die Betrachtung der Coverszene mag zwar nahelegen, Vertrauen als herbeiführbaren Effekt einer Inszenierung zu betrachten. Sie bietet aber auch Evidenzen dafür, dass Vertrauen möglicherweise ganz ungespielt im Spiel ist, ohne ausdrückliche Inszenierung auskommt. Die Inszenierung, wiederum, die eine Wette auf die Zukunft 4 Vgl.
Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004, S.81.
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HEINER WILHARM
abgeschlossen hat, bedürfte dann weniger des Vertrauens in das Kommende als des Glaubens und der Zuversicht aufgrund eigener Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit. Die sich auf dem Boden des ventilierten Verständnisses anbietenden Stratifikationen wollen wir einführend skizzieren. Im ersten Abschnitt die Strukturen des sozialen Vertrauens, dessen wissenschaftliche wie praktisch politische Handhabung großenteils zur Sozialtechnologie gerechnet werden darf. (I) Ihre Handlungsmodelle bezieht sie nicht zuletzt aus ökonomischen Theorie- und Praxiskontexten. (II) Im dritten Abschnitt werden wir eine diesem Verständnis vordergründig entgegengesetzte Position des personalen Vertrauens umreißen und die Opposition ausloten. Die mediale und technische Manipulierbarkeit der Vertrauenseinstellung steht dabei auf dem Prüfstand. Gefahndet wird, wie angedeutet, nach einem Handlungsmodell mit alternativem Inszenierungsverständnis. (III) Wir verknüpfen die beiden Abschnitte mit einigen Überlegungen zur Reichweite des Regimes szenografischer Ambition, mit Blick auf verschiedene Territorien oder ‚Anwendungsgebiete‘ und ihre Grenzen. Angesichts solch unterschiedlicher Einflusssphären muss die Frage der Autonomie angesprochen werden, ebenso wie die Frage, welche Chancen das Reale denn wohl hat, wenn es sich hier oder dort niederlassen möchte. Allerdings reduzieren wir dabei auf die (vordergründige) Opposition von Politik (respektive Ökonomie) und Kunst und ihre Regimes5 (wie in II). Auch leiten wir die notwendige Auflösung dieser Opposition nicht im Einzelnen ab, sondern weisen, die Metaphern wechselnd, lediglich darauf hin und erläutern den Nutzen des Paradigmas der ‚Schlacht‘ für Inszenierung und Szenografie. (IV) Abschließend dann berichten wir von einigen Lektürepfaden, die zu erkunden durch die einführenden Erwägungen wie auch die Beiträge des Bandes angeregt werden könnte. (V)
I. VERTRAUEN UND DIE ÖKONOMIE DES KREDITS
Die politisch-ökonomische und soziologische Würdigung versteht Vertrauen gemeinhin nicht nur als wünschenswert, sondern auch als machbar. Machbarkeit impliziert Inszenierung – nicht nur im Sinne der Verfolgung eines Handlungszwecks mit passenden szenisch theatralen Mitteln – wie etwa in Gestalt eines Vermählungsrituals, und zwar ganz ohne Hochseil. Inszenierung kann ebenso mit einer „Vertrauensoffensive“6 einhergehen, die Vertrauen erwecken möchte, um Zutrauen und Zustimmung zu weiterreichenden, szenisch nicht offenbaren Zielen zu erwirken. 5
Es versteht sich, dass damit immer auch darstellungspezifische, das heißt auch wissenschaftliche Gesichtspunkte und Positionen zur Debatte stehen. 6 Fallstudien z.B. im Beitrag Hans Dieter Hubers in diesem Band: Der Shinkansen. Die perfekte Inszenierung des Vertrauens. Ebenfalls eine Fallstudie bietet meine Analyse einer Vertrauensoffensive der Deutschen Bank: Vertrauensökonomie und mediale Inszenierung?
VERTRAUEN INSZENIEREN?
Der primäre Zweck einer solchen Inszenierung von Vertrauen heißt folglich, Kredit zu geben – in welches Gut auch immer dieser Vertrauenskredit im Anschluss getauscht werden mag. Das stellt die Frage nach den Sicherheiten. Sie liegen offenbar bei der Inszenierung selbst. So kommt es nicht von ungefähr, dass es die „Logik des Kredits“ ist, der die meisten Betrachtungen und Analysen des „Phänomens Vertrauen“ Aufmerksamkeit schenken, seitdem Georg Simmel diese Logik in der Theoriegeschichte des Vertrauens verankert hat.7 Es ist eine paradoxe Logik: Wer zerstörtes Vertrauen wiederherstellen will, muss selbst in Vorleistung gehen, auch wenn die Vernunft dagegen spricht. Aber Vertrauen hat immer etwas Irrationales an sich, sagt die neue Vertrauensforschung. ‚Spring doch einfach‘, lautet deshalb die Devise des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. ‚Just do it‘, heißt salopp der Slogan des Turnschuhherstellers Nike. Tatsächlich kommt das Vertrauen ohne dieses existentialistische, man könnte auch sagen irrationale Moment schwerlich aus: Eine Sicherheit, dass der rettende Sprung sich auszahlt, gibt es nicht: Unsicherheit und Verletzlichkeit bleiben.8
Es ist deutlich, dass es sich bei der Strategie des Vertrauensaustauschs, die der leitende Wirtschaftsredakteur der FAZ hier beschreibt, keineswegs um eine ‚paradoxe Logik‘ handelt. Die darin eingebetteten, keineswegs unbewusst paradoxen Verhaltensweisen folgen im Gegenteil äußerst rationalen Strategien. Was in Bewegung gesetzt werden soll, scheint tatsächlich eine Art will to believe, wobei allerdings nicht recht einsichtig ist, wer genau diesen ‚Willen zum Glauben‘ aufbringen soll. Doch der Kontext gibt Auskunft. Es geht um die Bailout-Strategie, um Sicherheitsleistungen und Schuldenübernahme durch den Staat, vulgo die Allgemeinheit und ihre Steuergelder. Immerhin wirft dies ein bezeichnendes Licht auf die Charakteristik des „Systemvertrauens“ (Luhmann)9, um das es hier geht. Die demokratisch verfassten Vertrauensverhältnisse, die damit gemeint sind, als allgemeine Verfassung des (guten) Willens zu betrachten, macht Sinn. Man darf annehmen, dass der Staat sich auf sein Volk verlassen kann. Solange der Souverän Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen nicht nur aus individuellem Status bezieht, sondern ebenso und weit mehr aus der Imagination eines tatsächlich allgemeinen Willens, dessen Verkörperung nur er als Bürger zweier Welten garantieren kann, wird die Allgemeinheit die ihr angetragenen Aufgaben übernehmen. Mit guten Aussichten auf Erfolg. Auch setzt sich der Souverän in solchen Übernahmeverpflichtungen zum Wohle des Ganzen durchaus nicht unwillig in Szene. Die partikularen Aspekte des Geschäfts hingegen bleiben für alle Beteiligten, was sie immer sind, vergleichsweise sinister und vom Glück des Spiels abhängig. Im Übrigen hat die Desavouierung der Rosstäuscher 7
Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Hg. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 2000. Rainer Hank: Retten oder nicht retten? Eine Theologie des Bailout, in: FAZ.NET – Wirtschaft, 02.03.2009. 9 Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 2009. 8
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neben der breiten Zustimmung zur Kreditierung eines neuen Anlaufs ebenfalls ihren gesellschaftlichen Platz. Zwar findet sie nicht in einer gesamtstaatlichen Veranstaltung, sondern in medienspezifisch geprägten Nischen statt, doch dort dürfen die Ventile der Kritik geöffnet werden, um auch der Stimmungslage verbreiteter Skepsis und Vertrauensverweigerung Rechnung zu tragen. Die zitierte „Vorleistung“ erwiese sich mithin als Selbstkreditierung des Wählervolks in Gestalt seiner bevollmächtigten Repräsentanten – der Umstände halber in die Wege geleitet von einer insofern etwas suspekten Fraktion, als sie teils nur einen kleinen, dafür aber stark interessierten und engagierten Ausschnitt aus dieser Gemeinschaft darstellt, teils wahrscheinlich gar nicht dazu gehört. Schon deshalb ist es im Rahmen jeglicher Inszenierung einer Vorleistung im gesamtgesellschaftlichen Maßstab durchaus bedeutsam, die Partikularität der Initiative verschwinden zu machen. Ihre theatrale Wiederauferstehung lässt sie als souveränes Handeln der Gewählten erscheinen, dem die ebenso souveräne, ihm adäquate Zustimmung der großen Mehrheit zur Seite steht. Ansonsten würde leicht offenkundig, dass die Kreditierung durch Vertrauen, auf die der Staat drängt, und der der Souverän solange gerne zustimmt, wie er sich selbst gemeint sieht, schlagartig unterbleiben könnte. Spätestens, wenn es ihm nicht mehr gelänge, sich selbst als Spieler mit Gewinnaussichten auszumachen. Ein zumindest weiterhin erträgliches Los für alle und die Gewissheit, dass nicht stattdessen einem privilegierten, möglicherweise nicht einmal als solchem legitimierten Teil des Staatsvolks der realwirtschaftliche Effekt des Mysteriums allein zugute kommt. Da ein gelingendes Vertrauensspiel von zivilgesellschaftlich friedlicher Spielart dennoch ganz ernst gemeint ist und ohne professionelle Schauspieler agiert wird, sollte man die inszenierungskritische Betrachtung nicht als Ideologiekritik missverstehen. Vielmehr handelt es sich um eine Form der Betrachtung, in der sich die Kritiker mit den Akteuren meist darüber einig sind, dass die pazifizierenden Effekte der Inszenierung wie der dazugehörigen Vorstellungen allen Varianten denkbarer gewaltsamer Maßnahmen vorzuziehen sind – und das nicht nur mit Blick auf solche Praktiken, denen gemeinhin politische Relevanz zuerkannt wird. Gerade wegen der damit sich bietenden Chancen müsste es sinnvoll erscheinen, die Kunst der Inszenierung nicht nur im Kunst- und Theaterkontext zu studieren.10 Es geht um die singulären Wirklichkeiten des Scheins, in denen die Evidenzen der Erfahrung sich der Intentionen und Darstellungen annehmen. 10
Vgl. den Aufsatz von Hajo Schmidt in diesem Band, der als besonders exklusives Beispiel der pazifizierenden Wirkung gelungener Inszenierung von Vertrauensverhältnissen den Prozess der gewaltlosen Abwicklung der kommunistischen Herrschaft im Ostblock und das ebenfalls gewaltfreie Aufeinanderzugehen von Sowjetrussland und den USA unter den Präsidenten Gorbatschow und Johnson thematisiert. Hajo Schmidt: Inszenierung und Vertrauen in der Politik. Von der Entschärfung des zwischenstaatlichen Sicherheitsdilemmas.
VERTRAUEN INSZENIEREN?
„‚Bailout‘ allgemein bedeutet ‚Schuldenübernahme‘, aber auch ‚Kautionsstellung für mutmaßlich Kriminelle‘; ökonomisch elaboriert, ‚Schuldenübernahme und Tilgung oder Haftungsübernahme durch Dritte, insbesondere durch den Staat, im Fall einer Wirtschafts- oder Finanzkrise.“11 Was die Definition so oder so verschweigt, ist, dass die Schuld(en)übernahme im Sinne einer „Vorleistung“ sich zugleich als Gabe und Opfer inszenieren muss. In allen Spielarten der Aufführung gilt es, sittliche Leistungen und moralisch vorbildliches Verhalten12 auf die Bühne zu bringen und möglichst mit rationalen, argumentativ vorgehenden Strategien aufzuwarten. Bei Strafe völliger Ineffektivität des Aufwands darf nichts die besonderen medialen Qualitäten, insbesondere Dissimulationsqualitäten der Inszenierung verraten. So versteht man, dass es kein Versehen ist, „das Signal“, das zu geben die Verantwortlichen vom Staat erwarten, selbst als Vertrauenserweis und -beweis zu charakterisieren: „Das Signal ist der starke Vertrauensbeweis, dass es sich – trotz allem – lohnt, wieder von vorne anzufangen. Auch für die Sünder.“ Hank zitiert den Yale-Ökonomen Robert Shiller: „‚Bailouts sind humanitäre Aktionen‘, [...] ‚Sie sind Aktionen zur Herstellung von Vertrauen‘ “.13 Und der Markt- und Vertrauensexperte ergänzt: „Vertrauen wird aufgebaut, indem man seine Verantwortungsbereitschaft demonstriert, und zwar über das Maß hinaus, zu dem man ohnehin verpflichtet ist. Das nennt man in der Ethik ‚Superrogation‘ – mehr zahlen, als man schuldet.“14 Die quasi religiöse Mystifikation bei solchem Unternehmen wird nicht verschwiegen. Allerdings wird eine „Täuschung“ der Öffentlichkeit unterstellt – um damit selbst einem Fetisch zu erliegen.15 Der Wirtschaftsnobelpreisträger Edmund S. Phelps gab auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2009 zu Protokoll, dass es doch sehr „schwierig“ 11
Definition Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Bail-out_(Wirtschaft), Erstellung: 4.12.2010.
12 Vorzugsweise nach dem Muster familiärer Vertrauensverhältnisse. Vgl. dazu in diesem Band meine
Fallanalyse der erfolgreichen Werbekampagne der Deutschen Bank unter der Überschrift „Vertrauen ist der Anfang von allem.“ Heiner Wilharm: Vertrauensökonomie und mediale Inszenierung. 13 Hank, Retten oder nicht retten?, a.a.O. 14 Vgl. Guido Möllering: „Vertrauen ist immer auch Selbsttäuschung“, Interview mit Spiegel Online, Wissenschaft, 15.02. 2009. Möller forscht am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in den Bereichen „Marktkonstitution, Unternehmenskooperation und Vertrauen“. 15 „Die ökonomische Vertrauenstheologie ist nicht ganz redlich, vergisst sie doch, dass die Retter auf das Geld der Steuerzahler – oder das Geld nachfolgender Generationen – zugreifen müssen, die niemals gefragt wurden, ob sie zu solch vertrauensbildenden Maßnahmen auch bereit seien. Auf diese Weise mehrfach hin und her gewendet, wird die Legitimation des Bailout zur offenen Frage der heutigen Finanz- und Wirtschaftskrise: Mises oder Keynes heißt die Alternative. Während der klassische Liberalismus bis heute dem interventionistischen Rettungseingriff mit viel Geld zutiefst misstraut, weil er Anreize zu Sorglosigkeit setzt und Wiederholungshandeln belohnt, bezichtigen Neo-Keynesianer (wie Robert Shiller) die Liberalen (und übrigens auch die Sozialisten) des Moralismus, der im Wirtschaftsleben nichts verloren habe: Denn sie dächten in Kategorien von ‚Strafe‘ und ‚Läuterung‘, wo es vor allem um die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit instabiler Finanz- und Wirtschaftssysteme gehen müsse, die einen starken Vertrauensimpuls bräuchten. Rettung durch kathartische Zerstörung oder Rettung durch vertrauensbildenden Vorschuss lautet die Alternative.“ Hank, Retten oder nicht retten? a.a.O.
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sei mit Leuten, die „so vertrauensvoll in die Zukunft blicken, wie sie es tun“, die Mehrheit der US-Bürger. Deshalb glaube er auch nicht daran, dass es an mangelndem Vertrauen liege, wenn die Dinge sich nicht wie gewünscht entwickelten. „Im Gegenteil. [...] Das überzogene Vertrauen in die Zukunft macht unsere Wirtschaft sehr anfällig für spekulative Exzesse.“ Man könne insgesamt nicht sagen, dass die Amerikaner zu wenig Vertrauen hätten. Im Gegenteil gäbe es „Anzeichen dafür, dass sie noch zuviel davon“ hätten.16 Die Geschädigten werden nicht nur zu den wahrhaft Verantwortlichen für die letzten Pleiten gezählt. Zugleich wird für die Zukunft in Aussicht gestellt, dass sie auch dann nicht aus der Verantwortung entlassen würden – der Verantwortung für die nächste Krise –, wenn sie sich, wie spätestens gefordert wenn von „zuviel Vertrauen“ nichts mehr zu spüren wäre, auf eine neue Runde im Vertrauenskarussel eingelassen und wieder einmal kreditiert haben würden. Den Szenografen einschlägiger Veranstaltungen der Vertrauenslenkung sind diese Strukturen vertraut. Als Konsequenz [einer krisenhaften Entwicklung; HW] stellt sich die Frage: Wie geht es jetzt weiter? Jeder, der jetzt auf diese Frage verantwortliche Antworten finden kann, wird positiv wahrgenommen, weil er Orientierung schafft. Da ist es zunächst einmal egal, ob es sich um ein Unternehmen, eine Institution, eine Kommune, eine Marke oder eine Person handelt. Entscheidend ist Glaubwürdigkeit. Und diese Glaubwürdigkeit lässt sich am effizientesten aus der eigenen Identität ableiten, weil die Aussagen dann authentisch sind. Das spart auch Geld, weil das Maß an Inszenierung abnimmt.17
Alles in allem läuft die als Gegengift gegen den Verdacht der Inszenierung empfohlene Strategie darauf hinaus, sich beim Adressaten nicht für einen anderen auszugeben, wenn man Vertrauen wiederherstellen wolle. Resümiert man unter dieser Voraussetzung die Chancen auf Glaubwürdigkeit unter demokratischen Verhältnissen, erhellt dies, dass es keineswegs gleichgültig ist, wer sich darum bemüht. Denn Glaubwürdigkeit kann wie beschrieben niemandem besser gelingen als jemandem, dessen Identität gerade darin zutage tritt, dass er ‚authentisch‘ sein kann, wenn er sich nicht nur als er selbst, sondern zugleich (und definitionsgemäß) auch als ein anderer präsentieren kann, als Herr und Knecht. Die Empfehlung steht auf der Höhe idealistischer wie materialistischer Demokratietheorie. Allerdings wäre darauf zu achten, dass Hegels Gegenwartsdiagnose tatsächlich zunächst das Bewusstsein der doppelten Bürgerschaft meint.18 In der Realität des Bürgers gibt es nämlich niemanden mehr, der den Herren geben kann; das muss der Bürger selbst übernehmen. „Der Bourgeois ist weder Herr noch Knecht, sondern – als Knecht des 16
Interview, FAZ 02.03.2009. Absatzwirtschaft-online, Interview am 12.11.2008 mit Jens Petershagen von Petershagen, Gerke, „Gesellschaft für Kommunikation“, über „Kommunikation in der Krise“. 18 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main 1981, S.163. 17
VERTRAUEN INSZENIEREN?
Kapitals – sein eigener Knecht.“19 Immerhin wird die Variante der geschäftsführenden Vertretung der Mehrheit des Volkes auf der einen, des Volkes selbst auf der anderen Seite, durchgehen. Nun ist es kaum wahrscheinlich, dass die Intensität der Inszenierung oder wenigstens der Kosten dafür bei politischen Inszenierungen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz vergleichsweise geringer ausfällt als in Fällen von partikularem Interesse. Auch dass die Restriktion, dass solche Inszenierung unbedingt zu verleugnen und als Identitätsbekundung des politischen Willens, allgemein des Kundenwillens, zu verkaufen sei, nur in dieser Sphäre auftritt, ist kaum haltbar. In gewissem Maße betriff dies jede nicht ausdrücklich als Kunst oder künstlerisch inspirierte kreative Leistung ausgegebene Inszenierung. Wenn auch nicht per se mit solcher Ausschließlichkeit wie im Fall der demokratischen Selbstinszenierung.20 Die abstrakte Kreditierung durch Vertrauen bedeutet eine Kreditierung des Geschäfts im Allgemeinen. Ganz wie mit einem Geld, das man nicht vorzuzeigen braucht, aber als existent unterstellt wird. Zur Stimulierung braucht es ein dramatisiertes und theatralisiertes Narrativ, das glaubwürdig agiert und seine Adressaten zu überzeugen weiß. Dieser Vorrang der Kommunikation gilt auch für den Fall, dass es um Angebote von Produkten oder Gütern respektive deren geldwerten Ausdruck zu tun ist oder den ebenso geldwerten Vorsprung in der Konkurrenz. Was der Kommunikations- und Inszenierungsfachmann deshalb empfiehlt21, ist, dass sich Unternehmen, Institutionen und andere Einrichtungen, die wie Unternehmer kalkulieren wollen oder müssen, die Fähigkeit zur Authentizitäts- und Identitätsdemonstration auf dem Wege dramaturgisch gut bearbeiteter Geschichten zu eigen machen. Dies aber, ohne in der Performance Inszenierungsspuren zu hinterlassen, die auf gewisse, lieber nicht publik gemachte Absichten deuten könnten. Das impliziert: 1. „Wahrnehmung kann nur dann erfolgreich organisiert werden, wenn sie authentisch ist“, also dann, wenn sie dem Wahrnehmenden nicht als organisiert, sondern natürlich erscheint. Das wiederum bedeutet 2., „dass sie [die Wahrnehmung; HW] identitätsbasiert ist, und eben nicht ‚inszeniert‘. Man könnte auch sagen, die reine Inszenierung führt ins Leere. Die Corporate Story hat weiterhin ihre Berechtigung, aber sie muss aus der Identität kommen, glaubwürdig sein und auch so kommuniziert werden.“22 Wohlgemerkt, es ist die Organisation 19
Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1975, S.88. 20 Insofern wäre bei der Untersuchung politischer Inszenierung darauf zu achten, wie weit das theatral mediale Geschäft von seinen Machern zugestanden werden kann, wenn die Verpflichtung auf die Gleichheit qua Vernunftbegabung und von daher rationale Ansprache eines jeden wegfällt, nicht existiert oder einfach missachtet wird. Zum Beispiel unter einem feudalem Regime oder den verschiedenen Varianten der Diktatur. 21 Absatzwirtschaft-online, Interview, a.a.O. 22 Ebd.
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der Wahrnehmung, die den Authentizitätsschein erzeugt, um sich auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen, die identitätsbasiert sein soll. Auch das macht Sinn. Denn die Organisation der Wahrnehmung gehört ja zum tatsächlichen Geschäft eines Unternehmens. Das Unternehmen ist nicht nur am Verkauf einzelner Produkte auf einem besonderen Geschäftsfeld interessiert, sondern zugleich an seiner Identität als Unternehmen im Ganzen. Genau darin erweist sich Corporate Identity; das Unternehmen entwirft ein Bild von sich. Da es dabei auch inhaltlich darum zu tun sein muss, die Beeinflussung der Wahrnehmung als Ergebnis eines natürlichen Blicks auf die Unternehmung erscheinen zu lassen, um nur ‚Authentisches‘, das heißt, nur zu ihm Gehöriges sehen zu lassen, muss zur Form der Inhalt der Wahrnehmung treten, zum Design die Unternehmungs-Geschichte. Aus der Herstellung eines ‚Sehens, dass‘ wird ein schlichtes, aber glaubwürdiges ‚Sehen von etwas‘. Die Inszenierung (die Organisation und Produktion der erscheinenden Oberfläche) ist aus den Bildern, die zum ehrlichen Gegenstand mutiert sind, verschwunden. – Eine geradezu idealtypische Beschreibung eines bestimmten szenografisches Dispositivs. Die Frage nach der Figur des sozialen Vertrauens (wie man die öffentlichen und kollektiven Vertrauensprozesse und -verhältnisse ohne explizit personal vertraute Beziehungen apostrophiert), die am Beispiel Finanz- als Vertrauenskrise23 aufgeworfen erscheint, kann ohne die Idee der Produzierbarkeit von Vertrauenseinstellungen nicht beantwortet werden. Da man davon ausgehen kann, dass sich die Herstellung stets auf positive Erwartungen und Effekte aus solcher Gestaltungsleistung bezieht, und zwar grundsätzlich und zunächst unabhängig vom jeweiligen inhaltlichen oder Anwendungsbezug, erhellt zum einen, dass im Gelände des sozialen Vertrauens zu navigieren, so konzipiert, bedeutet, eine Bandbreite von sozial relevanten Beziehungen des Misstrauens oder der Skepsis vorauszusetzen, mindestens aber eine verbreitete Vertrauensleere.24 Und da es bei den Erwartungen offensichtlich um einen intendierten Einstellungswandel geht, erhellt zum anderen, dass weder das Produkt der Bemühungen als Artefakt auffallen noch die Artifizialität der Herstellung kenntlich werden sollte, wenn die Absichten verwirklicht werden wollen. Die Inszenierung setzt mithin stets auf unmittelbare Glaubwürdigkeit, auf den spontanen Vertrauenserweis gegenüber der Echtheit, der Nichtinszeniertheit der Darbietung, die das Gemüt beeinflussen soll.
23 Deren 2. Akt, „Die Staatsfinanzkrisen als Vertrauenskrisen“, ja völlig konsequent erscheint, wenn man bedenkt, dass die Staaten niemanden mehr haben, den sie im Fall mangelnder Glaubwürdigkeit und verlorenen Vertrauens dem eigenen Staatsvolk als Agenten des guten Willens und der Superrogation präsentieren können. Denn die Überantwortung der Aufgabe an die Staatengemeinschaft, zu der man selbst – also auch die eigene Bevölkerung – nicht gehört, dürfte kaum in der Lage sein, den eigenen Vertrauensverlust zu kompensieren. 24 Vgl. dazu die Beiträge von Rudolf Heinz und Christoph Weismüller in diesem Band.
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II. AUTONOMIE UND VERTRAUEN. CHANCEN DES REALEN
Doch wie schon die Erkundung unseres Titelbildes nahelegte: Vertrauensdinge können offenbar nicht behandelt werden, als wären sie nur eindimensional; als ob das entwickelte strategische Paradigma des ökonomisch motivierten Systemvertrauens überhaupt die einzige Wirklichkeit vertrauensvoller Einlassung bezeichnete und tatsächlich auch die kanonisierte Form aller Vertrauensreklamation inszenierender und szenografischer Expertise und Praktiken darstellte. Beginnen wir mit dem zweiten Teil der Frage und erweitern wir sie um die Präzisierung, dass verbunden mit den territorialen Fragen die Frage nach der Geltung des Inszenierungsverbots gestellt werden muss. Die Frage wird uns von den umkämpften Feldern des sozial Politischen und Ökonomischen zu den vermeintlich freieren Gefilden der Kunst führen, bevor wie im dritten Abschnitt nach der Qualität personaler Vertrauensverhältnisse fragen – möglicherweise im Unterschied zu den sozialen und politischen und damit im Unterschied zu dem dort herrschenden Regime der Inszenierung. Es wurde schon angedeutet, exponiert man die Kunst als Raum des Spiels im Gegensatz zum Ernst des Lebens, dass ein Inszenierungsverbot – gemeint im Sinne des Versteckens oder Verschweigens bestimmter mit der Inszenierung verbundener Effekte – hier auf den ersten Blick unwahrscheinlich scheint. Einerseits. Andererseits würde man aus den besonderen Umständen der ‚szenografischen‘ Praktiken von Künstlern, Designern, Architekten, Gestaltern unter dieser Voraussetzung auch keine zureichende Beschreibung der Dialektik von Vertrauen und Inszenierung erwarten dürfen. Sucht man nach Gründen, könnte es naheliegen zu vermuten, dass es in diesen Bereichen der kreativen Tätigkeit, ähnlich wie angesichts der vielen Sparten und Formate des Medien- und Unterhaltungsgeschäfts, keineswegs zwingend sei, die künstlerisch mediale Formgebung zu verhüllen und den Resultaten der Gestaltung den Anschein von Künstlichkeit zu nehmen. Man bietet, was man bietet, alles liegt offen zutage; das Publikum goutiert, was es goutiert. Die Bilanz ist ausgeglichen. Ist es so einfach? Zweifellos nicht. Zunächst ist es nicht so, dass die Kreativen nichts zu verstecken hätten. Doch betrifft dies einesteils nur bestimmte Aspekte und intendierte Wirkungen, andernteils auch nur bestimmte, darauf besonders abgestellte Techniken. Denkt man beispielsweise an den Film, brauchte die Technik ‚szenischer Bereinigung‘ nicht auf die Entwicklung der digitalen Effekte zu warten. Von Hitchcock ist bekannt, dass er dazu auch mit analogen Mitteln meisterhaft in der Lage war. Die explosionsartige Zunahme explizit so genannter ‚Verschwinden machender Effekte‘ wiederum ist ohne die Möglichkeiten rechnergestützter Bildbearbeitung kaum denkbar. Und sie reicht weit über das Medium Film hinaus, ist geradezu medienkonstitutiv. Medien ersetzen, bieten dieses für jenes, verstärken die Selektion, sei es im Modus des Erscheinens oder in dem des Verschwindens. Dabei übersteigen die Effekte der Dissimulation heute sowohl quantitativ als auch in ihrer
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ökonomischen Bedeutung bei weitem die der Simulation, die selbstverständlich auch auf ihre Kosten kommt. Das gilt durchaus auch nicht nur für eine bilderzeugende Kunst, sondern durchaus auch für eine auf körperlich räumliche und leibliche Präsenz angelegte performative Kunst. Hier gelingt es der Aufführung selbst, die Intentionen eines szenografischen Vorhabens zu kaschieren.25 Dennoch ist es derartig dissimulativem Auftrag weder ausdrücklich noch unausdrücklich daran gelegen, die Inszenierungstätigkeit als solche aus der künstlerischen Praxis zu tilgen. Autoren und Produzenten sind verständlicherweise nicht im Geringsten daran interessiert, die Artifizialiät ihrer Kunst gänzlich zu leugnen und als ‚natürlich‘ erscheinen lassen zu wollen. Das gilt selbst für pseudodokumentarische und performative Formate aller Art. Wobei allerdings zu unterscheiden wäre, wie viel dieses Zugeständnisses auf die unterstellte ‚Kunst‘ oder ‚künstlerische Intention‘ und wie viel auf die ebenfalls zu unterstellende ‚Künstlichkeit‘ fällt. Immerhin ist klar, dass der Adressat – Kunde, Besucher, Zuschauer, Mitakteur –, kurz das Publikum einer im weitesten Sinne ‚kreativ künstlerischen Veranstaltung‘ in der Regel sehr gut weiß, dass es einer zeitlich begrenzten, meist auch so benannten ‚Inszenierung‘ beiwohnt, selbst wenn es einen ‚Rollentausch‘ ausagiert oder die Halbwertzeiten des Auftritts, wie im Fall der Architektur, vergleichsweise große Zeiträume umfassen. Das Publikum weiß gemeinhin ebenfalls, dass sich das Werk auch nicht einer spontanen Performance verdankt, sondern als Entwurf, Szenografie, Choreographie, Komposition usw. einer planvoll fortschreitenden Ins-Werk-Setzung folgt, mit ausgeprägten Narrativen und wirkungsspezifischen Dramaturgien, wiederum auch in Fällen seiner Mitwirkung. Egal zunächst in welchen Formaten, ob als Konzert oder Theaterstück, Tanzperformance oder Opernaufführung, Kunstausstellung oder Installation im öffentlichen Raum, Museumspräsentation oder Messestand, Markenpräsentation oder Fashion Show, Erlebnisparcours im Architekturkontext oder SecondLife-Installation im Cyberspace; egal schließlich, ob in Form eines architektonischen Ensembles. – Aber wer weiß nicht, dass es sich bei den Appellen der Politiker ans Staatsvolk um Inszenierungen handelt. – Sollte es in Kunst und Gestaltung tatsächlich anders zugehen als in den Dispositiven der sozialen Schlachten, beim Broterwerb und bei den vielen anderen alltäglichen Kämpfen des Lebens in Gesellschaft? In der Konsequenz des Inszenierungsverbots im szenografischen Geschäft liegt zunächst, die Kommunikationsexperten weisen darauf hin, dass dies keineswegs den Verzicht auf eine Geschichte bedeutet oder, allgemein gesprochen, Verzicht auf eine vom Effekte sichernden Ereignis getrennte Darstellung. Das ergibt sich allein schon aus dem Auftrag an die Szenografie, der ja nicht deshalb, weil er in bestimmten Fällen mit der Sonderaufgabe versehen ist, die Spuren inszenierender 25 Vgl. die Beispiele einschlägiger Performances in: Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, a.a.O. – und zwar unter allen Aspekten, welche die verschiedenen Kapitel des Bandes benennen.
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Tätigkeit zu tilgen, hinfällig geworden ist. Sodann hat die Darstellung die Story zu besorgen. ‚Darstellung‘ mit Blick auf die szenografische Praxis wiederum impliziert in der Regel einen Ereignisbezug, der mit zukünftigem Geschehen, dem Event zu tun hat. Im Dienst des zukünftigen Ereignisses versteht sich die Darstellung geradezu per se als Inventio. Also solche ist es ihr darum zu tun, den (später) Agierenden aktuellen und interessanten Stoff zu bieten, Stoff für Gefühle, Verhaltensweisen, Entscheidungen. Dass die künftigen Akteure auf diese Weise mit einem Ereignis (darunter gemischt selbstverständlich bestimmte Botschaften) zu tun haben, das für einige Geister vormals zukünftig lag, eventuell erwartet oder gewünscht wurde, bedeutet offensichtlich nicht, dass der Szenografie zuvor schon eine über das pure Effektpotential hinaus existierende beständige Gestalt hätte garantiert werden können. Sozusagen, fixe Idee manches Szenografen, eine dauernde Manifestatio. Beschränkt sich bei Befolgung des Inszenierungsverbots alles darauf, die Botschaft selbst als interesselos, ohne Absender, konstant und dauernd nur sie selbst erscheinen zu lassen26, so läuft bei Wegfall des Inszenierungsverbots – um nicht zu sagen im Fall eines Inszenierungsgebots – alles darauf hinaus, auch den Sinn des Narrativs vom Empfänger als Effekt seines Erlebens in die Szene geholt zu sehen. Wobei im ersten Fall die Hoffnung der Macher darin besteht, dass die der Message mitgegebene ästhetische Aufmachung das Ihre zur Überzeugung beiträgt. Im zweiten Fall geht sie dahin, dass der an die medial aufpolierte Form überantwortete Inhalt nicht nur von sich aus ebenfalls positive Wirkung zeitigt, sondern dass dies vor allem dadurch verstärkt wird, dass der Empfänger die Botschaft als seine eigene betrachtet. (Selbstverständlich kann sich der Inhalt auch auf die Besonderheiten der Form beziehen.) In beiden Fällen indes gibt es eine (inszenierte oder inszenierbare) Absenz – nicht der Autorenschaft, sondern des Begehrens. Dem entgegen soll die Memorialität des Begehrens stets der inventiven ‚Urszene‘ der Inszenierung gelten, die, rationalisiert, auf jeden Fall ihr Recht auf Exklusivität behaupten muss. Denn so sichert sie die Zukunft als Wiederholung. Den Effekt einer Präsenz ohne Begehren indes, ohne Verlangen über das gegenwärtige Erleben hinaus, könnte man als allgemeine Bedingung der Vertrauenswürdigkeit von Darstellungen bezeichnen. Von ihr darf man annehmen, dass ihr am ehesten mit einem spontanen Vertrauenserweis begegnet wird. Nicht weil sie sich derart als glaubwürdig erweist, sondern weil sie zur Grammatik von ‚Glaubwürdigkeit‘ gehört, erläutert, was Glaubwürdigkeit bedeutet. Da nun aber all dies als quasi intrinsischer Effekt zu bewerten wäre, dürfte das theoretisch hypostasierbare Vertrauen in diesem Fall am ehesten in der Form eines nicht in Erscheinung tretenden Selbstvertrauens in Erscheinung treten. Und dies ganz selbstverständlich und besonders im Fall des Kunsterlebnisses.27 26
Eine ganz besondere Form der Inszenierung also.
27 Ohne darauf in dieser Einführung weiter eingehen zu können, erhellt, dass die Frage nach der Wahrheit
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Wenn demnach im Ereignishorizont künstlerischen Schaffens Zeit und Raum zwischen Entwurf und erlebtem Werk extremerweise so weit zusammenschnurren, dass beide performativ zusammenfallen, mag der Glaubwürdigkeitseffekt, die Vertrauenswürdigkeit der Veranstaltung am größten erscheinen. Für die Differenz von Produktion und Artefakt scheint bei dieser Betrachtung weder Platz noch Zeit – doch ist die Differenz nicht an diese Betrachtung gebunden. Dasselbe gilt tendenziell und nach Künsten gestuft für die Differenz von Produzent und Adressat, die angesichts des Werkerlebens ebenfalls hinfällig erscheint. In mehr oder weniger intensiver Eindringlichkeit gelten beide Unmittelbarkeiten als Kennzeichnen des Kunstwerks. Wahre Kunst, heißt es, sei interesselos, kennte nur sich selbst als Zweck, dürfte und müsste deshalb keine Absichten (z.B. eines Autors, Produzenten oder Auftraggebers) transportieren. Und sie muss auch keinem Adressaten ‚entgegenkommen‘. Denn, streng genommen, hat sie in dieser Privilegierung autonomer Kunst keinen Adressaten außer sich selbst. Bewegte sie sich in dieser Art, würde zweifellos ein strenges Kriterium der Vertrauenswürdigkeit verletzt. Verallgemeinert man die Idee, indiziert dies die ambivalente Stellung einer so genannten „Vorleistung“, und sei sie Gabe oder Geschenk. Derrida sagt, dass von Gabe oder Geschenk wirklich niemand wissen dürfe; dass sie unbedingt überraschend sein müssten, wenn sie wirklich als solche, als Gabe oder Geschenk wirken wollten.28 Zwar wird man die Grenzen um ein Reich der Zweckfreiheit in den Praktiken der Künste nicht sehr weit ausdehnen dürfen, viel weniger weit jedenfalls als die um die Tätigkeiten der kreativen Gestaltung vulgo des Design, das gar nicht verschweigt, auf Anwendung bezogen und beauftragt zu sein, und selten auf den Gedanken kommt, als bloßes Monument seiner selbst existieren zu wollen. Aber es sollte die Überlegung ernst genommen werden, dass die Wahrheit der Präsenz als durchgängiges Kriterium von Vertrauenswürdigkeit gilt. Die Möglichkeiten der Wahrheit des Kairos, in dem ein sich selbst vertrauendes Vertrauen wirkt, sind davon abhängig, wie eindringlich die situative Erfahrung den Druck kalkulativer Verdinglichung auf den eigenen Erfahrungsraum empfindet und ihm stattgibt – oder eben frei davon ist. ‚Vertrauenswürdigkeit‘ wiederum unterstellt den ‚würdigen‘ Partner, ein ‚würdiges‘ Anderes, dem gegenüber oder auf das bezogen die Vertrauensreferenz angezeigt sein könnte. Der Vorbehalt versteht sich, nicht weil dieses vorerst nur denkbare Vertrauensverhältnis deshalb obsolet wäre, weil mit ihm ein eigentlicher Vertrauensraum gar nicht betreten werden könnte. Der Grund liegt viel eher darin, dass es sich als solch ‚Würdiges‘ erst erweisen, im Ereignis identifizierbar sein muss, als ‚völlig überraschend‘. Die Initiative dabei geht aus vom Willen eines Vertrauenden die Dimension der Wahrheit von Urteilen in Sätzen bestimmter Darstellungen weit übersteigt und zum Gegenstand der Problematisierung von Inszenierungen gehört, die in diesem Band thematisiert wird. 28 Vgl. Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2009. Siehe auch in diesem Band Heiner Wilharm: Vertrauensökonomie und mediale Inszenierung.
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oder, um nicht einer Mystifikation des Willens Vorschub zu leisten, von einem faktisch wirkenden Vertrauen. So gesehen, als in Ereignis und Erleben aufgegangen, macht die Differenz in den möglichen Wirkungsweisen der ‚Objekte‘ im Blick auf die Chancen der Täuschung keinen großen Effekt – trotz der prinzipiell weiten Perspektive einer Konfrontation zwischen interesseloser Gegenwart und zwingendem Zugriff. Insofern das schlicht bedeutet, dass Vertrauen enttäuscht werden kann, ist es vielleicht nicht besonders tröstlich. Doch wenn es denn so ist, dass die Gegenwart der Wahrnehmung erfüllt und bündig erscheint, wird es nicht gleichzeitig und an derselben Stelle auch ganz anders sein. Selbst wenn man im Nachhinein erfahren sollte, mit welchen Mitteln, dass es so passte, bewerkstelligt wurde, oder sogar schon vor vornherein weiß, dass man alsbald einer beabsichtigten Wirkung erliegen soll. Wenn es hingegen so ist, dass gegenwärtiges Erleben nicht Gelegenheit gibt, es als bündig, passend, womöglich mit den eigenen Erwartungen konform und befriedigend zu erleben, wird es wahrscheinlich ebenfalls nicht zugleich und am selben Ort anders sein. Man mag dies „fröhlichen Positivismus“ (Foucault) nennen. Und außerdem: Die beiden Varianten verstehen sich, selbstverständlich, ihrerseits wiederum als darstellungsrelativ. Eine weniger phänomenologisch pointierende Analyse könnte mithin darauf hinweisen, dass die abstrahierten Ereignisse unter einer anderen Beschreibung durchaus auch zusammen auftreten könnten. Könnten sie; doch heißt dies auch nichts anderes, als dass sie als identifizierbar unterschiedliche eine Darstellung erführen. Im Erleben werden sie den Realitätstest machen müssen. Getestet werden die „Chancen des Realen“. In der Politik nicht anders als in der Kunst. Die Kunst, die es versteht, weiß es. Der italienische Regisseur und Dramaturg Andrea Cusumano belegt dies an der Theaterarbeit des polnischen Künstlers Tadeusz Kantor und an der eigenen.29 „Chancen des Realen“ meint Chancen auf Realität. Für das ‚Theater in der Kunst‘ und das ‚Theater um die Kunst‘ mag das heißen, dass es keine wirkliche Sicht der Kunst ist, sie als strukturell richtig platziert, wenn deplatziert – als berechtigt, einen ganz exklusiven Raum zu besetzen –, zu betrachten. Schon Platon bezweifelte, dass die im Einflussraum des Kunstwerks wirksam werdende Organisation der Sichtbarkeit grundsätzlich von anderer Art sei als die des umgebend Realen.30 Die Deplatzierung besteht nicht einfach in einer territorialen Verschiebung, aus einem Reich der Sinnlichkeit in ein anderes, sondern in einer einseitigen Verallgemeinerung der Kunst zu Lasten des Politischen. (Was im Übrigen auch aus der umgekehrten Perspektive zu formulieren wäre.) Wir finden die Vereinseitigung, ja scheinbar vollständige Tilgung szeno29 Vgl. seinen Aufsatz in diesem Band. Andrea Cusumano: Die tausend Gesichter des ausgestopften Kondors oder die Chancen des Realen, aus dem Italienischen von Alessandro Topa. 30 ... bei ihm allerdings mit der Kritik an den unbescheidenen ‚Handwerkern‘ verbunden, die ihrer Platzierung in der Polis nicht gehorchen wollen. Diese Kritik wäre zu dekonstruieren und die mit der Deplatzierung verbundene inkriminierte Verallgemeinerung positiv zu wenden.
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grafischer Ambition nicht nur in den Inszenierungen des Politischen unter demokratischen Vorzeichen, sondern auch in den Hypothesen der Interesselosigkeit eines wahren Kunstwerks, das glaubt, die Selbstverständlichkeit der Künstlichkeit in seiner Kunst nicht reflektieren oder zumindest nicht offenlegen zu müssen. Platon zufolge wäre es qua gesellschaftlicher Arbeitsteilung geboten, von der Inszeniertheit solcher Inszenierungstätigkeit auszugehen und Rechenschaft zu geben, freilich, um sich wieder einzureihen. Dass Kunst und Kreativität nicht verschweigen, dass zu ihrem Geschäft gehört zu ‚inszenieren‘, ist dagegen ein genereller, moderner Befund, der in aller Breite für alle medialen Abteilungen und Aktivitäten gilt. Er gründet gerade auf der Öffnung der Grenzen und unterstellt grundsätzlich die Durchlässigkeit der Sphären von Kunst, Wissenschaft und Politik mittels Medien.31 Doch führt er nicht in die Partikularität eines begrenzten Praxis- oder Anwendungsfeldes, sondern zwingt, anstatt Gleichstrukturiertes zu hypostasieren, zur Annahme von Singularitäten. Strukturierung bedeutet Inszenierung mit (Vor-)Spiegelungsgebot, während der Inszenierungswunsch als solcher auch ohne Täuschung leben kann. So gelangt man bei den Künsten, den schönen Künsten nicht anders als bei den angewandten, zu vergleichbaren Schlussfolgerungen wie bei Betrachtung politisch motivierter Inszenierung. Hier wie dort geht es nicht um die Abschaffung der Inszenierung, sondern um die Definition der Inszeniertheit, bestimmte Hinsichten von Verbergung und Offenlegung. Permeabilität32 und Singularität bedingen sich gegenseitig. Die tatsächliche Durchlässigkeit an den Grenzen vermeintlich fixierbarer Territorien zeichnet die Einzigartigkeit der Produktion und des Ereignisses aus, ob nun der Fluss von der Kunst in die Politik oder der von der Politik in die Kunst die Sinne zuerst affiziert. Jedenfalls steht es um das Vertrauen in die Inszenierungen der Kunst nicht von vornherein deshalb ganz anders und besser als um das in die der Politik, weil es bei der Kunst angesichts ihrer Selbstbescheidung, ihrer Interesselosigkeit und ihrer Autonomie zwingenderweise keine fremden Zwecke und somit keinen Grund zu Skepsis oder Misstrauen geben dürfte. Doch liegt in der Konsequenz möglicher Durchdringung beschlossen, dass die Verallgemeinerung eines ästhetischen Anspruchs, etwa im Sinne Schillers oder Kants, von hier aus, aus der Kunst heraus, durchaus einen Weg in die Praktiken finden könnte, die wir ‚politisch‘ nennen.33 – Was die Hinderungsgründe angeht, liegt es nahe, den Mystifikationen der Autonomie nachzuforschen, des 31 Vgl.
zum Kontext den Aufsatz von Pamela C. Scorzin in diesem Band. Die Qualität der Durchlässigkeit einer Membram, die eine Grenze darzustellen scheint. 33 Auf den Fluss in dieser Richtung, von der Kunst in die Politik, insbesondere aus den Praktiken des Theaters heraus, weist Erika Fischer-Lichte immer wieder in ihren Arbeiten hin. Siehe das zitierte Ästhetik des Performativen und die ausführlich zitierten Arbeiten in unserem ersten Band: Inszenierung und Ereignis. Auch sei auf die Arbeiten Jacques Rancières zum Thema verwiesen. Zum Beispiel: Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik. In: ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin (b-books) 2006; zuerst: Paris 2000. 32
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politischen Willens nicht weniger als denen des Kunstwerks. Dass solche Autonomie weder Merkmal praktisch politischer Einlassung in den Schlachten des Sozialen noch Charakteristikum existierender Kunst und kreativer Produktion ist, dürfte selbstverständlich sein. Doch lässt sich, um auf die beanstandete systemorientierte Vertrauenstypisierung zurückzukommen, an dieser Idealisierung ein Weiteres besser erkennen. Dass nämlich die Konstrukte des Systemvertrauens bzw. des sozialen Vertrauens mit denen des personalen Vertrauens unmittelbar zusammenhängen.
III. SYSTEMVERTRAUEN ODER PERSONALES VERTRAUEN
Die dingliche, objektbezogene Betrachtung der Inszenierungstätigkeit lenkt auf bestimmte Raum- und Zeitabschnitte, die sich insgesamt auf den Rahmen zwischen szenografischer Intention und szenischer Verwirklichung beziehen. Die Inswerksetzung, die damit verbundenen medialen und medientechnischen Leistungen müssen, um die gewünschten Effekte zu ermöglichen, unter anderem eine Reihe äußerst subtiler, simulativer und dissimulativer Kunststücke vollbringen. Damit die allgemeine und formale Qualität ihrer Wirkung mittels Präsenz oder Absenz das Gütesiegel ‚glaubwürdig‘ und ‚vertrauenswürdig‘ erhält, gilt über einzelne Präsentations- und Verbergensleistungen hinaus ein generell dissimulativer Effekt als wünschenswert, wenn dazu Anlass besteht. Die Organisation der Wahrnehmung soll beim Adressaten nicht den Eindruck entstehen lassen, dass einige der medialen Wirkungsziele im Anspruch der Veranstalter nicht erkennbar waren oder sind, und etwa Anlass bestünde, daran zu zweifeln, dass alles, was ereignisspezifisch in das Aktions- und Emotionsfeld des Rezipienten oder Mitakteurs gehört, etwa nicht als seine freie Entscheidung und spontane Äußerung erscheinen könnte. Würde diesen Anforderungen im Sinne ‚medialer Ehrlichkeit‘ entsprochen, läge jede Inszenierungsverantwortung mindestens zu gleichen Teilen bei Anbietern und Konsumenten. Ein Vertrauensproblem wäre nicht erkennbar. Oder anders gesagt, man würde schlicht auf solche Ehrlichkeit vertrauen. Deshalb ist es bezeichnend, dass der Kommunikationsdienstleister von Identität, Authentizität und Glaubwürdigkeit spricht, aber nicht von Ehrlichkeit. Dennoch, ähnlich den Aufträgen an einschlägige Agenturen, könnte man sich eine solche Beschreibung auch als Arbeitsanweisung an eine Maschine denken, die konstruiert wäre, eine entsprechende Installation auszuführen. ‚Ehrlichkeit‘ würde dabei nicht als personale Tugend reklamiert werden müssen, sondern als Vollständigkeitsgebot. Das Programm müsste alle vorliegenden Informationen im Rahmen des Produkt-Auftritts verfügbar halten und zumindest auf Nachfrage bereitstellen. Zum Beispiel gehen wir mit vielen sicherheitssensiblen Einrichtungen des täglichen Lebens auf diese Weise um. Wir glauben an ihre Systemehrlichkeit. Ihre Verletzung würde alsbald zum Unfall führen. Naheliegende
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Beispiele34 weisen zudem darauf hin, dass die dingliche Betrachtung, die Auszeichnung von Vertrauensobjekten nicht ausschließt, dass ein und derselbe Gegenstand unter Umständen unter einer ganzen Reihe von Hinsichtlichkeiten geführt wird, die in puncto Vertrauenswürdigkeit ganz unterschiedlichen Produktionsbedingungen und ‚Inszenierungsanforderungen‘ unterliegen. Man braucht nur an Verkehrsmittel zu denken. Eine nicht dingliche Betrachtung der Inszenierung besagt, dass der vermeintliche Adressat ohne Rücksicht auf eine mögliche Adressierung die Chancen des Realen ergreift und sich ihnen gegenüber einstellt und verhält, selbst unter Voraussetzung einer Rahmung, die ihm, konfrontiert damit, die klare Auskunft gibt, dass er in ganz bestimmter Hinsicht in Beschlag genommen wurde oder werden sollte. Mithin wird der von einer Simulation oder Dissimulation Betroffene einfach mit einem ihm passenden oder weniger passenden Realen zusammenstoßen, wobei seine ‚Vertrauenseinstellung oder -haltung‘ in entsprechenden Emotionen, Affekten und Überzeugungen, schließlich Handlungen im Verlauf dieser Auseinandersetzung zum Tragen kommt.35 Dies wird voraussetzungsgemäß nicht in der Form eines okkasionell konditionierten Systemvertrauens (des Systems oder Teilsystems, das gerade auf Vertrauen dringt) erwachsen, sondern allein aus personellen Erfahrungen und Erinnerungen, Vertrauensprägungen, hervorgehen, die sich gegebenenfalls situativ mobilisiert sehen. Eine Systembetrachtung wäre in dieser Perspektive immer gegenstandsorientiert, ‚unpersönlich‘, wäre also von daher auch ganz ‚natürlich‘ mit Informationen und Kenntnissen über den Gegenstand als Vertrauen oder Misstrauen begründend verbunden oder verbindbar. Die nicht dingliche Betrachtung würde unter den Bedingungen des Wissens lieber nicht von ‚Vertrauensverhältnissen‘ sprechen, da sie gerade ein Nichtwissen voraussetzen. Wohlgemerkt ist dies eine szenisch interessierte, die Szenifikation fokussierende Betrachtung. Sie lässt alle anderen möglichen Optionen unter den vielen möglichen Beschreibungen außer Acht, insbesondere solche, die eine einseitige Inszenierungsfixierung präferieren und deutlich externe Zwecke im Sinn haben könnten. Ganz abgesehen von der Konkurrenz der Zwecke in ein und demselben Erleben. Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass man in aller Freiheit auf ein Geschäft stößt und sich selbst zum Tausch nötigt.36 34
Unter anderen das von Hans Dieter Huber in diesem Band dargelegte Beispiel der japanischen Hochgeschwindigkeitszüge. 35 Gute Beispiele dafür geben die verschiedenen praktischen Anwendungen gelungener Szenografie in diesem Band. 36 Ohne dabei notwendig auch schon in eine komplexe soziale und ökonomische Mechanerie des Warentauschs verstrickt zu werden. Allerdings dürften die Weichen hin zu einer Politik des kontrollierten Austauschs hier gestellt werden – eben auch von Vertrauenseinstellungen. Vgl. den Forschungsbericht von Birger P. Priddat: Vertrauen und Politik: Institutionenökonomische Anmerkungen. Elektronisch erreichbar unter http://www.fernuni-hagen.de/PRPH/priddat.pdf (7/2010) mit umfänglichem Literaturverzeichnis.
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Deutlich in der Figur der Objektkonstruktion ist die Tendenz vom Vertrauen zum Betrauen überzugehen. In der dinglichen Einrichtung des im Vorhinein schon Zweckorientierten liegt dies ohnehin beschlossen, in der, die daraufhin vergleichbar reagiert, nicht anders. Denn wenn als Motiv zu handeln nicht ein eigener Handlungsgrund maßgeblich wird, sondern (in einer entsprechenden Beschreibung oder Erklärung) eine Verursachung durch eine gebotene Gelegenheit bzw. eine damit gegebene Aufforderung geltend gemacht wird, wird jede Reaktion auf solches Angebot berechtigterweise als „Komplizenschaft“ apostrophiert werden dürfen.37 Der Beauftragte wird den Beauftragenden nun seinerseits mit der Erledigung des Geschäfts betrauen. Man tauscht. Die an den Betrauten delegierte Erledigung des Auftrags indiziert (wenn er denn explizit gemacht wird), dass ‚der Vertrauende‘ nur noch mittelbar damit zu tun hat. Auch Luhmann charakterisiert diese Konstellation eines anzunehmenden, zwar noch persönlichen, aber schon gegenständlich verstandenen Vertrauensverhältnisses als Grundlage für ein komplexeres „Systemvertrauen“.38 „Vertrauen (...) dient der Überbrückung eines Unsicherheitsmomentes im Verhalten anderer Menschen, das wie die Unvorhersehbarkeit der Änderungen eines Gegenstandes erlebt wird.“ Es fragt sich allerdings, wie jemand angesichts einer für seine Entscheidungen nicht hinreichenden weil nicht kalkulierbaren Dingvariabilität, darunter auch das Verhalten der Menschen um sich herum, zu superrogativen Handlungen veranlasst werden sollte. Als Soziologe sieht nicht zuletzt Luhmann selbst allererst den gesellschaftlichen Systemkontext und darin heimisch eine berechnende Vernunft. Wo normalerweise zu kalkulieren noch gar kein Grund bestünde, muss der aufs Vertrauen Setzende in diesem Setting dem Partner, den er gewinnen möchte, immer schon eine „riskante Vorleistung“ entgegenbringen.39 Im größeren Zusammenhang fanden die Etymologen das die Verben ‚trauen‘ und ‚vertrauen‘ prägende ‚treu‘ (ahd. gitriuwi, mhd. triûwe ) mit der indogermanischen Wurzel „*deru- ‚Baum‘“ verbunden. Grundbedeutung von treu wäre damit, so Kluges Etymologisches Wörterbuch, „‚kernholzartig, fest‘“.40 Dies gibt einen wichtigen Fingerzeig, bekräftigt die Sprachgeschichte doch damit, dass die Gerichtetheit des Vertrauens nicht einfach einem externen Objekt gilt und vermittelt darüber möglicherweise weiteren Objekten, sondern zugleich denjenigen indiziert, 37 Dazu hielt Gesa Ziemer, Hamburg, einen Vortrag u.d.T.: Komplizenschaften. Kunstproduktion und Vertrauen, der als Aufsatz für diesen Band leider nicht fertig gestellt werden konnte. 38 In der Tat ist damit eine „transzendentale Reflexion“ verbunden. Siehe Luhmann, Vertrauen, a.a.O., Kap.3, explizit S.22/25 [Hervorhebung: HW]. 39 Luhmann, Vertrauen, a.a.O., S.27/53, im Original hervorgehoben; siehe auch Niklas Luhmann: Vertrautheit, Zuversicht Vertrauen. Probleme und Alternativen, in: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt am Main/New York (Campus) 2001, S.143-160; zuerst in: Diego Gambetta (Hg.): Trust: Making and Breaking Cooperative Relations, Oxford (Blackwell) 1988. 40 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S.786/789.
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der vertraut. Wer wirklich vertraut, ist nicht nur vertrauensvoll, sondern, Effekt solcher Fülle, auch ‚fest‘, nicht spaltbar und deshalb verlässlich in seinem Vertrauen. Dies wiederum legt nahe, zu vertrauen als eine Einstellung zu verstehen, die alles, was ihren Inhalt ausmacht, stark infiziert oder mit der eigenen Farbe markiert. In dieser Weise nämlich weisen die Vertrauensbekundungen gegenüber anderen zurück auf den, der sein Vertrauen zu geben bereit ist, und zeigen ihn selbst als verlässlich an. Luhmann beschreibt diese Figur, soziologisch realitätsbezogen, als charakteristisch für die Lösung von nur emotional fixierten personalen Vertrauensbeziehungen, an den Grenzen möglicher Inszenierung. Für Luhmann ist die Rückkopplung kennzeichnend für Systemvertrauen, das ihm als eigentlicher Ausdruck sozialer Vertrauensverhältnisse gilt. Dabei entgeht ihm allerdings nicht, dass sich die systemkonzentrierte Interaktion auf jeden Fall nur „darstellungsgebunden“ identifizieren lässt. In dem Maße, als [sic!] der Bedarf für Komplexität wächst und der andere Mensch als alter ego, als Mitverursacher dieser Komplexität und ihrer Reduktion, in den Blick kommt, muss das [erg. personale; HW] Vertrauen erweitert werden und jene ursprünglich-fraglose Weltvertrautheit zurückdrängen, ohne sie doch je ersetzen zu können. Es wandelt sich dabei in ein Systemvertrauen neuer Art, das einen bewusst riskierten Verzicht auf mögliche weitere Information, sowie bewährte Indifferenzen und laufende Erfolgskontrolle impliziert. Systemvertrauen lässt sich nicht nur auf soziale Systeme, sondern auch auf andere Menschen als personale Systeme anwenden. Diesem Wandel entspricht, wenn man auf die inneren Voraussetzungen des Vertrauenserweises achtet, ein Übergehen von primär emotionalen zu primär darstellungsgebundenen Vertrauensgrundlagen.41
Die „ursprünglich-fraglose Weltvertrautheit“ ist mit Blick auf die Welt am einen Ende personales, am anderen Ende Gott-Vertrauen. Muss dieses Ursprüngliche zurückgedrängt werden, dann, um den Überblick zu behalten. Dabei ist es gerade die Pointe der Argumentation, dass der Erhalt der Kontrolle für den Einzelnen durch individuellen Kontrollverlust und Überantwortung an höhere Organisationsformen des Wissens und der Steuerung begünstigt werden soll. Von ihnen erfahren wir offenbar überhaupt nur noch auf dem Wege von Darstellungen. Muss mit der darstellungsgebundenen Vertrauensaktivität die Fassung direkter Objektorientierung einer Vertrauensgeste überhaupt revidiert werden? Auch diese Frage durchzieht in unterschiedlicher Gestalt die Beiträge dieses Bandes. Doch so viel scheint sich schon vorab abzuzeichnen: Bevor die Frage entschieden werden kann, muss geklärt werden, ob es sich um Alternativen handelt oder unterschiedliche Fassungen derselben Praktiken. Der Übergang selbst muss ermöglicht und durchsichtig gemacht werden. Luhmann scheint die Objektbindung als eigenständige, auch in der sozialen Interaktion nachweisbare Form zu betrachten und an ihr festhalten zu wollen.42 41 Luhmann, a.a.O., ebd. Vgl. den Beitrag von Ralf Bohn: Bürgschaft des Vertrauens. Die Inszenierung
als Sanktionsfreier Ort. 42 Obwohl es auch Passagen gibt, die ein notwendiges Hinüberwachsen zu postulieren scheinen. Eine
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Möglicherweise gibt es eine Korrelation zwischen diesem Paar und den beiden beispielhaften Formen von Vertrauenshandlungen: „kooperative(m) Handeln und koordiniert ablaufende(m) Einzelhandeln“.43 Die naheliegende weitere Korrelation mit dem Paar „primär emotionale“ bzw. „primär darstellungsgebundene Vertrauensgrundlagen“ lässt die gesamte Parallelkonstruktion dann allerdings zunehmend brüchig erscheinen. Wie angedeutet, tendiert die Ereignisfokussierung zur Akzeptanz von Variationen, die Darstellungsfokussierung (Beschreibungs-/Erklärungsfokussierung), da notgedrungen wahrheitsrelational44, zur Annahme von Alternativen und daher unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten.
IV. SCHLACHTEN AN DER GRENZE ZWISCHEN KÖRPERN UND WORTEN
Grenzen finden Inszenierungen, soweit damit nicht (mehr) Szenografien gemeint sind und (noch) nicht zu fassbaren Darstellungen geronnene Ereignisse, an eben solchen Festlegungen in Voraussetzung und Resultat. Begriff wie Gemeintes oszillieren zwischen der Bewegung des Setzens und der Statik des Gesetzten, des In-Szene-Setzens45 und des In-Szene-Gesetzten.46 In beiden Fällen sprechen wir von Inszenierung, was von den Szenografen häufig vergessen wird. Doch ist die Differenz erheblich. Aufführung, Vorstellung, Darstellung realisieren die Intention im Raum der Praxis. Stets wird eine Bewegung des Setzens zu Ende gebracht und still gestellt. Der Kritiker kann darüber berichten, sich damit auseinandersetzen. Dass er auch vom Ergebnis als von einer Inszenierung spricht, rechtfertigt sich darin, dass das ähnliche, aber kurzschlüssigere und gewisserweise paradoxe Formulierung im Vergleich zur zitierten lautet: „Erst in dem Maße, als [!] der andere Mensch nicht nur Gegenstand in der Welt, sondern als alter ego ins Bewusstsein tritt, als Freiheit (...), wird die traditionelle Selbstverständlichkeit der Welt erschüttert, wird ihre Komplexität in einer ganz neuen Dimension sichtbar, für die zunächst keine angemessenen Formen der Erfassung und Absorption zur Verfügung stehen.“ Der „Schnitt zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten“ verläuft angesichts dieser Komplexität offenbar weit im bisher Vertrauten. Vertrautheit „ist aber selbst“ nach wie vor „weder günstige noch ungünstige Erwartung, sondern Bedingung der Möglichkeit für beides“. „Vertrautheit in diesem Sinne ermöglicht [auch unter Bedingungen erweiterter Komplexität aufgrund weiter ausgreifender Reflexion und Selbstreflexion – HW] relativ sicheres Erwarten und damit auch ein Absorbieren verbleibender Risiken“. Die Verlaufsformen des Vertrauens sind dann wohl aber doch „Formen der Erfassung und Absorption“. Vielleicht ist das aber wieder einmal nur auf den ersten Blick paradox. Luhmann: Vertrauen, a.a.O., S.22. 43 Luhmann, Vertrauen, a.a.O.. Siehe auch Diego Gambetta: Können wir dem Vertrauen vertrauen? in: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.), Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, a.a.O., der die Vertrauensäußerung ebenfalls als eine Einladung zur Kooperation versteht. 44 Was für das Vertrauen grundsätzlich nicht gilt. Es ist vom Wissensstandpunkt aus betrachtet grundsätzlich ungerechtfertigt. Jedenfalls in einer nicht kalkulatorischen Betrachtung. Vgl. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt am Main 2000 (frz. Paris 1994); In: ders.: Von der Gastfreundschaft. Wien (Passagen) 2001 (frz. Paris 1997). 45 Von der Realisierung spricht man auch als Um-Setzung. 46 Hierzu siehe den Beitrag von Christoph Weismüller in diesem Band: Vertrauensinszenierungen. Die Inszenierung zwischen Vertrauen und Misstrauen.
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Resultat nicht nur zu Ende gebrachte Aktion und Interaktion ist, sondern, gefasst (zum Beispiel als Kritik, Resümee, Dokument), ebenso als Darstellung gilt, was nun meint, wie unser Umschlagmotiv als Bild der Sache Vergegenständlichung erfahren zu haben. Dass sich die Kategorien der Inszenierung an theatralen Praktiken und Erfahrungen zugespitzt studieren lassen, liegt nicht zuletzt daran, dass sich auf dem Boden der theatralen Künste mit der Zeit Kenntnisse und Kompetenzen ausbildeten, die zur stereotypen Ausprägung zwischenmenschlicher Interaktionsformen jedweder Art beitrugen und dabei die überlegte Gestaltung aller sonstigen Umgebungs- und Raumparameter mit einbezogen. Inklusive der Gestaltung des Unvorhergesehenen, und sei es als Intention, dem Szenischen das Überraschende (das ‚Authentische‘) nicht nehmen zu wollen. So gesehen ist verständlich, dass sich der ‚Spiegel der Welt‘ selbst als die bessere Welt empfehlen konnte, nicht in moralischen Belangen oder Erkenntnisfragen, sondern in Fragen der Kompetenz über die Form, über die Ästhetik oder die Organisation der Wahrnehmung, dessen, was für die Sinne bereitgestellt wird und sie zu überzeugen vermag. Der Unterschied zwischen Spiegel und Gespiegeltem ist offensichtlich: Außerhalb der Vergnügungen sind die meisten Geschichten ernst. Die Akteure der dort geübten Praktiken gelten gemeinhin auch nicht als Zuschauer und meistens nichtmals als Publikum (was allerdings im Theater des Realen auch ein Effekt sein mag).47 Freilich gilt das nur für den praktischen Teil des In-Szene-Setzens und der sich daraus entwickelnden Szenen. Inszenierungen und Szenen verstanden als in unterschiedlichsten Formaten gefasste Ideen, Entwürfe, Schlussfolgerungen, als Texte, Bilder, konservierende Dokumente, beleben von Seiten der Darstellungen. Zwischen beiden Seiten herrscht reger Austausch. Insbesondere rekurrieren Praktiken auch keineswegs nur auf gebundene geistige Produkte, sondern ebenso auf freie Gedächtnis-Bilder. Inszenierungs- und szenisches Geschehen fußen, soweit erkennbar, im Unterschied zu Szenografien sogar weitgehend auf entsprechendem Gedächtnismaterial – und umgekehrt. Im Allgemeinen befinden wir uns mit unseren Festlegungen im Raum in einem Zeitfluss von Wiederholungen. Sie bestehen allesamt darin, memorial abgesicherte Freiluftakte zu vollziehen, Versicherungsentwürfe und Sicherungsakte, die der Gewissheit, mit der die Perspektive zeitlicher Erwartung letztlich versehen ist, eine vergleichbare des Raums – des Leib-, Körper-, Situationsund Gesellschaftsraums – an die Seite stellen möchten. Freilich im Tausch: die individuelle Gewissheit aller zeitlichen Erwartung gebannt durch die Sicherheit und Ruhe zeitweiliger Erlebnis-, Ereignis- und Raumbildung. Und sei es mit mehreren auf einem Hochseil. Die Bannung gilt der Unausweichlichkeit des zu erwartenden 47 Siehe den Beitrag Cusumanos. Stefanie Diekmann, München, hat dazu auf dem Symposium einen
aufschlussreichen Vortrag gehalten, in dem sie das Misstrauen aus dem Backstage-Bereich her motiviert: Hinter den Kulissen. Oder Inszenierung und Misstrauen. Als Aufsatz wird dieser Vortrag leider ebenfalls erst später erscheinen.
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Todes in Gestalt der Chancen eines entsprechenden Ereignisses im temporären Raum. Gegen dessen vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit möchte das erstrebte Ereignis der Rettung, des weiter erhofften Lebens in Anschlag gebracht werden. Indessen, da gegeneinander getauscht und jederzeit gegeneinander tauschbar, halten sich Misstrauen und Vertrauen letzten Endes die Waage. Grundsätzlich aber gilt, dass Ereignisse aufgrund des sie garantierenden hohen Organisationgrades von Form das Unwahrscheinliche im Wahrscheinlichkeitsraum darstellen. Dagegen tritt der Formwille an. Doch erhellt auch, worauf er als solcher aus ist. Nicht auf die performativen, „sich bildenden“48 Ereignisse, sondern auf deren Resultate, möglichst handlich gepackt und mit einem Stempel über den Verlässlichkeitsgrad versehen. Foucault charakterisiert dieses Aufeinandertreffen als körperlosen Kampf an der Grenze zwischen Körpern und Worten. „Körperloser Kampf“ markiert die Differenz zwischen Inszenierung als szenischem Erleben (das als solches keine Aufforderung zur Inszenierung braucht) und Inszenierung als ‚Ereignis‘ im Sinne einer Darstellung. Verwundung, Sieg oder Niederlage, Tod – ist stets Wirkung, ist stets Ergebnis des Zusammenstoßes, der Vermischung oder Trennung von Körpern; doch dieser Effekt ist selbst niemals etwas Körperliches, er ist eine ungreifbare, unzugängliche Schlacht, die unzählige Male um Fabricius tobt und über den verletzten Andreas hinwegrast.49
Neben dem Theater müssen wir also die Schlacht denken oder vielmehr einen Raum, der Theaterraum und Schlachtenraum gleichzeitig ist. Einen Raum, der von Grenzen, Klüften und Übergängen gekennzeichnet wird, Grenzen zwischen Schlacht und Theater oder anders: Handlung und Darstellung. Denn die Bühne wird immer auch zu einem Performativ einer Bemächtigung zu fixieren. Und umgekehrt wird die Macht zu fixieren zu einem Performativ der Bühne. Was Akteure, Interpreten, Rezipienten im Darstellungsraum sind, sind in den Dispositiven und Praktiken des Sozialen – und unter den erläuterten Bedingungen darf man die Praktiken der Künste getrost hinzurechnen – ‚Kämpfer‘. Die Foucault’sche Terminologie hat den Vorteil, nicht per se entscheiden zu müssen, wer Täter und wer Opfer ist, lässt sogar erwarten, dass beide beides können. Ein Kampf wogt hin und her. Er wird ausgetragen zwischen denjenigen Kräften, die sich in der Szene entfalten und das instantane szenische Handeln, Geschehen, Ereignen und seinen Ausgang bestimmen, und denjenigen, die schon zu Beginn des Geschehens die Szene beherrschen. Ihr Gewicht ist in der Regel dokumentiert, wird auf diese Weise vorgehalten, um in die Waagschale geworfen zu werden. Und am Ende des Treffens wird gewöhnlich alles einer Sichtung, einer erneuten Bilanzierung unterzogen. Aus der Bestandsaufnahme 48 Wie
die Etymologie erläutert. Michel Foucault: Theatrum philosophicum, in: Dits et Écrits, Schriften in vier Bänden. Band II, 1970-1975, Hg. Daniel Defert und François Èwald, Frankfurt am Main 2002, S.101/102.
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lässt sich ablesen, wer die Darstellungshoheit besitzt – und das Regiment über die Szenografie – und ob sich eventuell Verschiebungen zwischen den Kräften ergeben haben. Kurz gesagt, handelt es sich also um einen Kampf zwischen Körpern und Bildern (wobei die Wörter unter die Bilder gezählt sind). Zunächst erhellt, dass die Darstellungshoheit, verstanden als szenografische oder Raumordnungsgewalt und bezogen auf den szenischen Interaktionsraum, nicht in einmaligen Ereignissen gewonnen wird. Tatsächlich rekurriert Performanz auf Kompetenz, auf Gefühlslagen, Erfahrung und Gedächtnis, und daraus rührendem Zu- oder Misstrauen. Zudem wird die Kraft der umgebend ausgeübten Praktiken wirksam werden. Zu den entsprechenden Dispositiven zählen neben den personalen Besetzungen und ihren psychischen und intellektuellen Implikationen die institutionelle Ausformung und Anerkennung, wie auch seine jeweilige Befindlichkeit, die Präsenz des Dispositivs in seiner architektonischen, situativen und atmosphärischen, gestalterischen und technischen, insgesamt medialen Präsenz. Dabei liegt insbesondere das umgebende soziale und politische Ensemble in der Regel nicht nur institutionell beglaubigt vor, sondern ist auch bei Beteiligten und Betroffenen als Medien- und Gedächtnisbild verankert. Jeder szenische Umgang im Rahmen eines solchen Dispositivs (oder verschiedener Dispositive) setzt demnach eine Art szenografischer Bewirtschaftung voraus, die nur in Grenzen individuell unterlaufen werden kann. Das gilt für alle Beteiligten. Von daher relativiert sich alles, was in einem Ereignis als ‚Authentisches‘ erscheinen kann oder soll. Stets ruht dies auf der Menge der versammelten Erfahrung, aus dem jeweils selbst erlebten Austrag um den Einfluss auf Gestaltungs- und Darstellungshoheit (denn auch die Ausübung von Darstellungshoheit wird erlebt) und der komplexen Präsenz spontaner Äußerung. Erfahrung versteht sich demnach in zweierlei Hinsicht, im Sinne einer resultierenden Gefühlslage und affektiven Einstellung, die mit entsprechenden Symptomen einhergeht, wie im Sinne der Kenntnisnahme und des Verständnisses in der Vergangenheit praktizierter, zum Teil erlernter Inszenierungen, eventuell auch realisierter Strategien, Szenografien – seien es die für die gemachten Erlebnis- und Erfahrungsräume unmittelbar maßgeblichen, seien es deren mittelbare, mediale Transformationen. Solche Erfahrungen bilden die gewöhnliche Basis eines, wie man sagt, gesunden Misstrauens; eines Erfahrungsresultats, das sich indessen bei den meisten Beteiligten erstaunlicherweise immer wieder nivelliert, im frischen Gewand für einen neuen Auftritt daherkommt. Erfahrung ist in diesem Sinne Übertragungsresistenz. Bisher unter dem grauen Mantel letzter Erfahrungen und daraus gespeisten Misstrauens getragen, wird das neue Kostüm übergestreift, das alte aber keineswegs entsorgt. Denn das nun sich hervorwagende Vertrauen wird ja nur scheinbar paradoxerweise von der Gewissheit des einzig Gewissen protegiert.50 Zwar liegt der 50 Für die Gesellschafts- und politische Geschichte vgl. das illustrative Kapitel „Umorientierung“, aber
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Tod im Ich oder, in anderer Perspektive, in der individuellen Organisation der antientropischen Formierung eines einzelnen Organismus beschlossen. Doch kann er, da von der Negation des Ich, vom Nicht-Ich her begegnend, hoffnungsvoll als zumindest zeitweise irreal diskreditiert werden, heißt doch Nicht-Ich trivialerweise nicht mehr als Anderes. Sichtbar inkorporiert ist dieses Andere nun aber nicht nur als einzelner Anderer, als Du existent, sondern zugleich als dauerhaft Existenz verbürgendes allgemeines Anderes, das als solches mit ganz gegenteiliger Gewissheit, einer Gewissheit des Lebens verbunden ist. Vertrauensvoll mithin machen wir uns mit Hilfe dieses quid pro quo auf zu einer weiteren Anstrengung, diesem Anderen ein Stück Leben abzugewinnen. Nach dem Motto „Alles wird gut“. Insgesamt ein ziemlicher Wahnsinn.51 Christoph Weismüller weist in seinem Beitrag darauf hin, dass diese futurische Konstruktion, da lediglich eine vorübergehende, darum stets zu wiederholende, pragmatische, interessierte Version einer vergeblichen Hoffnung ausdrückend, die Stelle eines tatsächlich zutreffenderen zweiten Futurums einnimmt: „Alles wird gut geworden sein“.52 – Wohlgemerkt gilt das grundsätzlich für alle an der Interaktion Beteiligten. – Vorerst aber gilt es, immer mal wieder den besagten Sprung zu tun. Und sei es mit der Motivation eines Nike-Slogans: Just do it. Und sollte dieser Sprung gelungen, der nächste Abgrund überwunden sein – nicht vorher, nicht bevor man dem Risiko tatsächlich ins Auge schaut, sich möglicherweise alle Knochen zu brechen –, heißt es, „das Schlimmste haben wir hinter uns. Alles wird gut! Ab jetzt!“ Die Szenologie bleibt all dem gegenüber reserviert. Sie bleibt bei dem, was sich zeigt, bei den Erfahrungen, dem Gedächtnis, dem Misstrauen. Sie rät auch davon ab, jede zugemutete Verantwortung bereitwillig zu übernehmen. Brückenbau gehört schon nicht mehr zum szenischen Spiel, sondern zur Ausstattung, sagt Weismüller. Das Ereignis, schon gar die gelingende Szene ist überhaupt die Ausnahme. Irgendetwas wird gelingen. Dazu trägt bei, die Inszenierung anzuerkennen und anzunehmen und nicht mit Täuschungen zu versehen, mit Simulationen nicht vorhandener, Dissimulation vorhandener, tatsächlicher Einflussvariablen. Inszenierungsverleugnung und Inszenierungsverschiebungen ins Phantasmatische sind Kennzeichen politisierter Dispositive. Dazu gehört, Brücken zu spiegeln, wo sich Abgründe auftun. auch den ganzen 1. Teil „Vertrauen und Moderne“ in: Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, München 2009, S.69ff. Zum Wechsel der Vertrauensgestalten auch den Beitrag von Wolfgang Pircher: Inszenierung und Vertrauen, in: Bohn/ Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.1, Bielefeld 2009, S.189-206. Pircher geht insbesondere auf die (literarische) Figur des „Confidence-Man“ bzw. „Woman“ ein. 51 Siehe den Aufsatz von Rudolf Heinz in diesem Band. 52 Siehe den Aufsatz von Christoph Weismüller in diesem Band.
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V. LEKTÜREPFADE
Schauen wir auf die Literatur, die sich im Umkreis szenologischer Interessen und entsprechend theoretischer Überlegungen mit dem Vertrauen, insbesondere auch mit den Praktiken und Denkfiguren der Vertrauensinszenierung beschäftigt, so werden wir, wo zumindest der Titel der Publikation eine solche Beschäftigung anzudeuten scheint, was, allgemein gesprochen, vornehmlich in der soziologischen Literatur der Fall ist, dennoch nur selten fündig.53 Das heißt nicht, dass derartige Quellen für detaillierte Untersuchungen zur Vertrauensinszenierung nicht herangezogen werden sollten. Schließlich dürfte eine breit angelegte Inszenierungsforschung das weite Feld wissenschaftlicher Inszenierung der eigenen Gegenstände, mithin auch der Figur des Vertrauens im Kontext sozialer Beziehungen, nicht aus dem Auge verlieren. Auch „die Soziologen entdeckten schließlich die klare und einfache Tatsache, dass ohne Vertrauen das tagtägliche gesellschaftliche Leben, das wir für selbstverständlich halten, einfach nicht möglich ist“.54 Allerdings formulieren sie meist auch die normativen Bedingungen und Grenzen ihres Forschungsinteresses, trotz der zu Zeiten angesagten Bereitschaft, die mentalen und kulturellen Implikationen der Vertrauensphänomene zuzugeben. Wie zum Beispiel in den 80er und 90er Jahren, in denen der Blick auf das Feld der ethnografischen Forschungen und die dort entwickelten kulturanthropologischen Instrumentarien fiel55 und zu methodischen Ausflügen ermunterte.56 Davon abgesehen gelten Vertrauen und Misstrauen im idealtypischen soziologischen Programm mehr oder weniger grundsätzlich als soziale Tatsachen, eingebettet in kulturell normative Systeme mit spezifischen Funktionen und Dysfunktionen, im Wesentlichen bestimmt durch Gemeinschaft, Kooperation und Kommunikation. Vertrauen in dieser Sicht wird als „funktionale Kultur“ betrachtet, die „strenge, positiv sanktionierte Normen einschließt, um Vertrauenswürdigkeit zu motivieren, und strenge Tabus mit negativen Sanktionen, um Vertrauensbrüche zu verhindern“.57 Im deutschsprachigen Raum übernehmen Niklas Luhmanns schon mehrfach angesprochene Analysen der Funktionen sozialen Vertrauens die Stelle der Referenztexte für vergleichbare Untersuchungen. Die maßgebliche Veröffentlichung 53 Sztompka bietet eine gute Literaturübersicht zum Ende des 20. Jahrhunderts. Piotr Sztompka: Trust. A Sociological Theory, Cambridge (Cambridge University Press) 1999, S.201-210. 54 Sztompka, Trust, S.IX [Übers.; HW]. 55 ... die auch in die mikrosoziologischen Analysen der Beziehungen von Mächten und Räumen, im Anschluss an den von Levi Strauss inspirierten Strukturalismus oder an das katalysierende Forschungsprogramm Foucaults etwa, eingeflossen sind. 56 „In sociological thinking we have witnessed, to some extend, a depletion of the potential of organistic, systemic, or structural image of society and a turn toward ‚soft variables‘, the domain of ‚intangibles and imponderables‘, or to define it more substantively – the mental and cultural dimensions of social reality.“ Sztompka, Trust, a.a.O., S.IX; dort auch eine Stellungnahme zu „ethnography as umbrella term“ (S.XI). 57 Ebd. S.111/112. [Übers.; HW] Sztompka selbst versucht in seiner soziologischen Theorie des Vertrauens die Begrenzungen derartiger methodischer Beschränkungen zu überwinden.
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erfolgt zuerst schon im Jahr 1968. Doch sollte man für die soziologische und sozialwissenschaftliche Debatte auch im Zusammenhang des hier vorliegenden vierten Bandes von Szenografie & Szenologie durchaus die Schriften Erving Goffmans zur sozialen Interaktion und Kommunikation aus derselben Zeit anmerken, die sich zwar selten ausdrücklich, aber stets implizit mit den Problemen der Vertrauenswürdigkeit von Partnern im gesellschaftlichen Austausch auseinandersetzen.58 Bevor die Diskussion der Luhmannschen Thesen fast 30 Jahre später59 auch im Umkreis der Kommunikations- und Demokratietheorie angekommen ist, erlebt die Debatte seit Beginn der 90er Jahre einen Aufschwung. Mehr und mehr Publikationen zum Thema erscheinen – womöglich konjunktur-, will heißen, umbruchs- und krisenabhängig.60 Zehn Jahre später spricht Martin Hartmann 2001 schon von einer „Veröffentlichungswelle [...], deren Ende vorerst nicht absehbar“ sei.61 Aus den Jahren zwischen Luhmanns Erstveröffentlichung und den Diskussionsbeiträgen im Vertrauens-Sammelband von Hartmann und Offe greifen wir die unter theoretischen Gesichtspunkten wichtige Arbeit Bernard Barbers zur Logik und den Grenzen des Vertrauens heraus, die schon 1983 erschien62, und Anthony Giddens Monografie zu den Konsequenzen der Moderne, 1990 auf Englisch und 1995 auf Deutsch veröffentlicht.63 Dieses Buch gehört insofern nicht in eine idealtypisch eindeutige soziologische und politische Traditionslinie der Vertrauensforschung, als Giddens ausführlich über die phänomenologischen Ansätze zur Problematisierung eines nicht inszenierten vor-reflexiven Vertrauens nachdenkt.64 Nichtsdestotrotz ist auch er schwergewichtig an den Systemzusammenhängen der Institutionensicherung durch Vertrauen interessiert.65 Ein Jahr nach dem Erscheinen des Hausmann-/ Offe-Bandes kommt Martin Endreß’ die Soziologie des Vertrauens resümierende Monografie Vertrauen heraus. Sie bietet neben einem umfänglichem Überblick 58 Vgl. besonders die Aufsätze in: Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main 1986; englisch: New York 1967. Zu dieser Zeit werden sie im deutschsprachigen Raum noch selten herangezogen. Siehe auch: ders.: Das Individuum im öffentlichen Austausch, Frankfurt am Main 1980; ders.: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 1980. Übersicht in: Robert Hettlage/Karl Lenz (Hg.): Erving Goffman ein soziologischer Klassiker der 2. Generation? Stuttgart/Bern 1991. 59 Durchaus auch als Fortsetzung des „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“ zu interpretieren. Siehe die Anmerkungen unten zum Vertrauensband, den Claus Offe herausgegeben hat. 60 Luhmann bedauert in der 1989er Ausgabe von Vertrauen ein leider immer noch „spärliche[s] Schrifttum, das sich thematisch mit Vertrauen befasst“ (Vertrauen, a.a.O. Anm. 1, S.1). 61 Siehe Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main/New York 2001, S.7. 62 Bernard Barber: The Logic and limits of trust. New Brunswick, New Jersey 1983. 63 Anthony Giddens: Die Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main 1995. 64 Vgl. ebd., S.141-167. 65 So dass er, anders als später Offe (in Hartmann/Offe, a.a.O. S.245), zu der Feststellung gelangt, dass das „Wesen der modernen Institutionen“ zutiefst mit dem „Mechanismus des Vertrauens in abstrakte Systeme „verknüpft“ sei. Giddens, Die Konsequenzen der Moderne, a.a.O, S.107.
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über die empirische Forschung systematische Überlegungen zur Konzipierung der Begrifflichkeiten.66 Der Tübinger Soziologe verdeutlicht, weiter zurückgreifend als andere, das nach seinem Verständnis einschlägige Herkommen der soziologischen Vertrauensforschung. Unter anderem erwähnt er Èmile Durkheims Einlassungen zum Vertrauen als Komplement zu den Auffassungen Thomas Hobbes’. Durkheim, so Endreß, habe auch die nicht vertragsgebundenen Aspekte sozialer Verpflichtung thematisiert. Sodann wird zu Recht auf den zu Beginn dieser Einführung schon erwähnten Georg Simmel aufmerksam gemacht. Außer als Gewährsmann für die Betrachtung des Vertrauens in der Logik des Kredits wird er auch für die Differenzierung grundsätzlicher Vertrauenskonzepte reklamiert: für die Unterscheidung von Vertrauen als allgemeinem, unspezifischem und in unserer Diktion ‚objektorientiertem‘ Vertrauen, für ein Verständnis von Vertrauen als Wissensform und schließlich eines Konzepts von Vertrauen als Gefühl. Am Ende resümiert Endreß die eher marginal zu wertenden Beiträge Max Webers, die sich im Wesentlichen darauf beschränken, einen Prozess zu beschreiben, in dem „als Bedingung der Entwicklung moderner Kapitalgesellschaften ein [...] Übergang von ausschließlich persönlich gebundenem zu generalisiertem Vertrauen“ beobachtbar ist.67 In der sozialwissenschaftlichen und soziologischen, wirtschaftstheoretischen und politologischen Würdigung des Vertrauens für das Zusammenleben in Gesellschaft findet man eine ausdrückliche Debatte über Vor- und Nachteile der Inszenierung von Vertrauen. Umgekehrt wird man, der Darstellung in dieser Einführung folgend, die Thematisierung der Inszenierung in Kunst- oder, spezieller, Theaterwissenschaften nicht aus dem Auge lassen, wenn man nach der relevanten Literatur erkundet, die über Inszenierung und Vertrauen handelt. Wir haben die Arbeiten Erika Fischer-Lichtes stellvertretend erwähnt, die zum Beispiel das Rollenverständnis unter den an (künstlerischen) Ereignissen beteiligten Akteuren gründlich erörtert und in diesem Kontext die Vertrauensfrage stellt. Andere Aspekte betreffen, genereller, überhaupt die ästhetische Exposition des politischen Feldes, die, wie angedeutet, nicht nur aus der philosophischen, sondern auch aus dieser Richtung des Forschungsinteresses Substanz erhält.68 Schaut man auf die philosophische Tradition, kommt man zu dem Schluss, dass sie dem ‚Vertrauen‘ nur selten eine ausschließlich ihm selbst gezollte Hochachtung entgegengebracht hat; jedenfalls in verschwindend geringerem Maße als 66
Martin Endreß: Vertrauen, Bielefeld 2002, ebenfalls mit Bibliografie. Ebd., S.16. eine zusammenfassende Darstellung der Endreß-Einlassungen zur soziologischen Forschungsgeschichte ist in der Rezension von Mike Steffen Schäfer nachzulesen, die auch im Netz erreichbar ist: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/viewArticle/619/1341#gref (Zugriff 7/2010). 68 Eine weitere Entfaltung kunstwissenschaftlicher Literatur zum Thema sprengte den Rahmen dieser Einführung. Vgl. aber zur Perspektive den Aufsatz von Pamela C. Scorzin in diesem Band. 67
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seiner Opponentin, der Skepsis. Vielleicht mag das daran liegen, dass die Reflexion, soweit nicht explizit auf soziales und politisches Handeln bezogen, gerade dahin gehen müsste, eine besondere, positive Wirksamkeit vertrauensgeleiteten Handelns und seiner Verursachung herauszuarbeiten. Als Erklärung indessen fiele sie schwach aus, allenfalls hätte sie ein eigenartiges Wissen, Gefühl, eine Stimmung oder Färbung bestimmter Handlungsarten und Handlungsmodalitäten zu thematisieren. Zudem darf man annehmen, dass sich entsprechende Diskurse eingebunden in eine praktische Philosophie der Freiheit finden, deren kritische Grundsätze gewöhnlich den skeptischen Einstellungen gegenüber jeder heteronomen Bestimmung des Willens den Vorzug geben. Dies gilt insbesondere überall dort, wo die Frage nach der Alternative sittlicher (auch moralischer) und utilitaristischer Praxis gestellt wird.69 Das heißt, dass wir die Debatten um das Vertrauen vor allem in den ethischen, moralphilosophischen und handlungstheoretischen, später auch sozialphilosophischen Diskursen der Philosophie seit der Antike suchen müssen, wo sie versteckt sind. Die modernen, heute gewohnten Unterscheidungen zur Systematisierung der Philosophie sind dabei für die Auswahl einer Lektüre auf den Spuren des Vertrauens nicht zielführend. Immerhin spiegelt sich die große Kluft zwischen dem, was heute das Gros der so genannten Vertrauensforschung beschäftigt, und dem, was die szenologische, psychoanalytische, philosophisch phänomenologische, kulturanthropologische, existentialistische und existentialphilosophische70, aber auch sprachanalytische und darstellungslogische Forschung71 interessiert. Endlich könnte hier auch die an einer Ethnologie oder Mikrosoziologie der sozialen und szenisch interpersonalen Kräftefelder und Machtbeziehungen arbeitende politische Wissenschaft Erwähnung finden.72 Letztere, jedenfalls für die Philosophiegeschichte der 69 Eine Debatte, die sich paradigmatisch schon anhand der Argumentation in Platons Protagoras nachlesen lässt. 70 Ohne das Werk einem der letztgenannten Etikettierungen ausschließlich zuordnen zu wollen, sei an dieser Stelle Jean Paul Sartes Kritik der Dialektischen Vernunft erwähnt, die en detail bestimmte Figuren zwischenmenschlich personalen und kollektiven Austauschs entfaltet und ableitet. 71 Ich denke hier, und zwar vor allem unter methodologischen Voraussetzungen, an Arbeiten nach dem Muster der Austin’schen und Wittgenstein’schen Sprachanalyse und -kritik oder Peircens Arbeiten zur Darstellungslogik, zum Beispiel den Beiträgen zur Phemischen Logik oder auch zur Logik der Relative (1897); siehe meinen Beitrag in diesem Band. 72 Wobei ich bestimmte Abteilungen hermeneutisch poetologischer und anderer Formen schwergewichtig textimmanent verbleibender Untersuchungen, die auf Vertrauensbeziehungen stoßen, ebenso wie viele zu nennende literarische Quellen, die sich episch bis dramatisch und lyrisch mit den Dramen des Vertrauens auseinandersetzen, allen voran Sophokles’ Antigone, Shakespeares’ Königsdramen und Goethes Faust, hier stillschweigend übergehe. Ein ähnliches Bild übrigens in der Musiktheater- und Opernliteratur. Jan Philipp Reemtsmas neuestes Buch: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, München (Panteon) 2009 gibt in diesen Gattungen schöne Einblicke, obwohl es dennoch am ehesten zu einer der Kritischen Gesellschaftstheorie verpflichteten sozialwissenschaftlichen Literatur gehört, die sich skeptisch, letztlich aber doch nicht unoptimistisch mit der Berechtigung eines „Vertrauens in die Moderne“, vor allem die demokratische Moderne, befasst
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Moderne zunächst als Ausweitung zu interpretierende Beschäftigung, ist insofern von Bedeutung, als sie indiziert, dass der Unterschied zwischen soziologisch positivistischer, konstruktivistischer und systemtheoretischer, spieltheoretischer und anderer mathematisch inspirierter Vertrauensforschung (und Handlungstheorie) auf der einen, einer nicht auf Risiko- und Wahrscheinlichkeitsabschätzungen73 konzentrierten Reflexion auf der anderen Seite, nicht einfach auf eine Differenz von oder gar einen Widerspruch zwischen personalen und sozialen Vertrauensbeziehungen bzw. deren Analysen abgebildet werden kann. Denn sowohl die theoretisch spekulativen wie auch die empirischen Arbeiten zur Dynamik personaler Beziehungen und darin waltender Agenzien gehen, bis hinein in die Einzelfallbeschreibungen psychoanalytisch inspirierter Forschung, nicht nur Affären von Ich und Anderem74 nach, sondern beschäftigen sich durchaus auch mit den Kollektiven, mit Herrschafts-, Macht, Gewalt-, Solidaritäts-, Freundschafts- und Vertrauensbeziehungen in unterschiedlichen Assoziationen, Apparaten und Institutionen, Gesellschaften, Staaten und Völkern, und mit den entsprechenden Denkfiguren. Zum einen. Zum anderen aber tragen sie bei zur Reflexion auf die medialen Apparate, die mit dieser Perspektive in den Blick geraten.75 Vergleichbar den vielen, hier nur angedeuteten Hinsichten unterschiedlich qualifizierter Interessen, wären die Debatten zu präzisieren und die Erträge der Forschung im Einzelnen bibliographisch zu stratifizieren – was nicht Sinn im Rahmen dieser Einführung sein kann.76 – im Ganzen betrachtet wie im Selbstverständnis und trotz seines in weiten Teilen überwiegenden Charakters als Lesebuch mit poetisch literarischen aber auch sozialwissenschaftlichen und politologischen Quellenzitaten. Für die Gesellschafts- und politische Geschichte vgl. das illustrative Kapitel „Umorientierung“, aber auch den ganzen 1. Teil „Vertrauen und Moderne“ (Reemtsma, a.a.O., S.69ff. Folgt man den Spuren der hier wirksam werdenden Tradition, finden wir eine ebenfalls vermittelnde, kritisch gegenüber der Sozialtechnologie eingestellte Position. Man würde auf Jürgen Habermas (Stichworte: Theorie der Kommunikativen Kompetenz; Kommunikation; Verfassungspatriotismus/republikanismus) stoßen oder den schon genannten Claus Offe, der zusammen mit Martin Hartmann 2001 ja tatsächlich auch einen Diskussionsband mit relevanten, durchaus umsichtigen und daher teils kontroversen Beiträgen zur Vertrauensdiskussion herausgegeben hat: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen, a.a.O. Darin (S.241-294) u.a. auch Offes eigener Beitrag: Wie können wir unseren Mitbürgern vertrauen? Und ebenfalls zur demokratischen Vertrauenskultur (ebd., S.333-363) der Aufsatz von Shmuel N. Eisenstadt: Vertrauen, kollektive Identität und Demokratie. Shmuel Eisenstadt hatte schon vorher zum Thema monografisch veröffentlicht: Power, Trust and Meaning: Essays in sociological Theory and Analysis, Chicago (University of Chicago Press) 1995 und 1984 mit Luis Roninger gemeinsam publiziert: Shmuel N. Eisenstadt, Luis Roninger: Patrons, Clients and Friends: Interpersonal Relations and the Structure of Trust in Society. Cambridge (Cambridge University Press) 1984. 73 Wie beispielsweise die in den Beiträgen des Bandes diskutierten: Wolfgang Krohn/Georg Krücken (Hg.): Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung, Frankfurt am Main 1993. 74 ... – und eventuell einem hypothetischen Dritten. 75 U.a. in den Beiträgen von Heinz, Bohn, Weismüller, Fromm, Wilharm, Scorzin. 76 Siehe aber auch die einzelnen Literaturanmerkungen zum systematischen Teil dieser Einleitung wie zu den einzelnen Aufsätzen.
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Immerhin dürfte einleuchten, dass der Negativbefund in Sachen Literaturrecherche zur Vertrauensproblematik, soweit er die nicht operational sozialkonstruktivistisch und gouvernementalistisch77 interessierte Literatur betrifft, nur vordergründig ist, dass man vielmehr, je nachdem an welcher Diskussion man unter systematischen und/oder historischen Aspekten anpackt, alsbald fündig wird. Über die antiken Debatten über die Tugend, das Gute, die Freundschaft78, die Fragen nach der bestmöglichen Einrichtung der Gesellschaft, nach der Gründung und Aufrechterhaltung der dafür tauglichen Vereinbarungen79, bis hin zu den theoretischen Erwägungen zum modernen Sozialvertrag und den Chancen eines allgemeinen Willens, zu den Erörterungen über die Grenzen der vertrauenden, praktischen und die pragmatischen Erörterungen der prinzipiell misstrauenden, revolutionären Vernunft vom 18. bis ins 20. Jahrhundert.80 Selbstverständlich wird man auf die Texte über die gerechte Verteilung des Reichtums und die ihr zugrunde liegenden Verfassungen der Arbeit, des Eigentums, des Rechts stoßen und immer wieder auf Fragestellungen, die mit den eigentümlichen Figuren des Vertrauens zu tun haben.81 Nicht zuletzt wird man das Phänomen in der theologischen Reflexion bedacht und problematisiert finden, und zwar gewisserweise exklusiv und in der radikalen, die tatsächliche Vertrauensproblematik zu Recht zuspitzenden Variante, welche angesichts des für jeden abzusehenden Endes allen Begehrens als letztlich einzig mögliche Bindungsmöglichkeit zu vertrauen anempfiehlt und legitimiert.82 Wir finden hier die äußerste Opposition zu jeder Vertrauensdefinition, die mit der Vorstellung, es handele sich dabei stets um eine mehr oder weniger kontrollierte Risiko- bzw. Chancenabwägung nebst Bemühung um die medial passendste Interventions- und Effektstrategie, insofern im Mittelpunkt dieses Bandes von Szenografie & Szenologie stehen, als es diese Vorstellung ist, die Vertrauen auf eine eigentümlich verführende Weise83 für machbar, mittels Inszenierung für herstellbar hält. 77 Vgl.
den Forschungsbericht und die Literatur in: Priddat, Vertrauen und Politik, a.a.O.
78 Also auch, neben den einschlägigen Dialogen, Platons Politeia und Aristoteles’ Nikomachische und
Eudemische Ethik, etwa fokussiert auf die antike Diskussion über die Rolle der Freundschaft und ihre analytische Aufbereitung, in welcher der Begriff des Vertrauens eine zentrale Rolle spielt. 79 Hobbes Leviathan diskutiert die schlechten Chancen des Vertrauens im Kampf aller gegen alle; Hume kritisiert ihn als zu radikal und hält Vertrauen für die eher normale Haltung zu den Mitbürgern, weil niemand auf Dauer einem jedem anderen misstrauen könne. 80 Z.B. Jean Jacques Rousseaus Contrat Social, aber auch Kants Anthropologie in pragmatischer Absicht, Fichtes System der Sittenlehre oder die Debatten der Revolutionstheoretiker, nicht nur der Französischen Revolution, in denen immer wieder die grundsätzliche Distanz jeder revolutionären Bewegung gegenüber einer systematischen Berücksichtigung der Vertrauensbildung bekräftigt wird. 81 In den Schriften Hegels oder der Linkshegelianer und Sozialrevolutionäre des 19. Jahrhunderts zum Beispiel, in den Diskussionen um die Natur und die Gründe des Wealth of Nations. 82 Vgl. etwa Joseph Ratzinger: Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis, Leutesdorf (Johannes-Verlag) 2005; ders.: Glaube – Wahrheit –Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg/Basel/Wien 2007. 83 Mit mehr oder weniger offenem Visier. Siehe dazu insbesondere die auf die praktische szenografische
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Da sich die Szenologie indes der permanenten Kritik der Szenografie verschrieben hat, ist es ihre Aufgabe, die szenografischen Strategien, Konzepte und Praktiken in den Kontrast, in die Differenz zum Szenischen zu stellen und nachzufragen: Wie ist die Inszenierung von Vertrauen möglich? Warum ist sie nötig? Und wie wird die Inszenierung von Vertrauen verwirklicht?
Projektentwicklung und -durchführung konzentrierten Beiträge unseres Bandes, wie sie mit bezeichnendem Titel etwa Uwe Brückner vorlegt: Szenografie oder die Macht der Verführung. Einen exemplarischen Beleg für die erfolgreiche Inszenierung von Vertrauen mittels Bereitstellung von und Verführung durch Sicherheit, Komfort, Umgangsformen im Dienstleistungs- und Unterhaltungssektor Verkehr bringt Hans Dieter Huber: Der Shinkansen. Die perfekte Inszenierung des Vertrauens. Bernhard Frankens Arbeitsbericht über Spatial Narratives als Inszenierung des Vertrauens privilegiert scheinbar das Medienund Kommunikationsgeschäft im Sinne der vielbeschworenen Erzeugung schönen Scheins mittels professioneller Verführungskunst durch Design, macht indes als Insider deutlich, dass auch hier die ernstliche Arbeit an Inhalt und Überzeugung die Verführung durch bloße Oberflächen kontrollieren muss. Anke Strittmatter und Oliver Langbein wiederum demonstrieren an ihren Interventionen im öffentlichen Raum die tatsächlichen Möglichkeiten ‚negativer Inszenierung‘, einer subversiven Strategie, um die Ergebnisse allzu glatt verführender Inszenierung mit szenischen und szenisch episodischen Ambientes zu dekonstruieren: Pushing the Limits, während Thea Brejzek sich den Szenografien des Ausnahmezustands widmet.
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Der Appell an die Bereitschaft, mittels Vertrauensvorschuss zu kreditieren, hat sich längst gelöst von den zwischenmenschlichen Beziehungen, an die wir denken mögen, wenn wir nach typischen Vertrauensverhältnissen gefragt würden. Vornehmlich muss heutzutage dort vertraut werden, wo die Suche nach vermuteten, eigentlich vorgesehenen Sicherheiten Fehlanzeigen zeitigt. Insbesondere auf den Tummelplätzen von Geld und Gewissheit; beide werden immer seltener mit ‚Sicherheit‘ assoziiert, am wenigsten in Politik und Wirtschaft. Die Verantwortlichen drehen den Spieß um. Sie schanzen uns die Verantwortung zu, nehmen uns in die Pflicht. Statt mit Kompetenz und Kenntnissen aufzuwarten, mit verlässlicher Kalkulation und durchdachten Vorstellungen, überzeugenden Maßnahmen und guten Argumenten, wird an unser Vertrauen appelliert. Unser Vertrauen ins große Ganze, am besten nach dem Muster eines ganz Kleinen. Die Experten sprechen von Systemvertrauen.Wie es damit steht, kann sich vorstellen, wer über eine Weile die Entwicklung von Wahlbeteiligungen verfolgt. Doch wäre der Clou so offensichtlich, würde jedermann die Ersetzung Vertrauen statt Sicherheit (anstelle von Vertrauen weil Sicherheit) durchschauen, würde wohl kaum jemand auf derartige Verpflichtungen auf Treu und Glauben setzen. Weder die Vertrauen Einfordernden noch die zum Vertrauen Aufgeforderten. Auch dem Letzten würde bald klar, dass er hier leicht zum Verlierer statt zum Partner werden könnte. Folglich dürfen die Herausforderer ihre Bringschuld nicht einfach ignorieren. Und tatsächlich wissen sie sehr gut, dass ihre Aktien bald besser stehen, wenn sie ihre Vertrauenswürdigkeit aufpolieren. Wenn denn nicht, weil sie auf eine Fülle materialer Ressourcen, auf blendende Bilanzen und ausgewiesene Expertise verweisen dürfen, dann eben weil es ihnen gelingt, all das mit einer zumindest souverän anmutenden Vertrauensgeste zu überspielen. Entscheidend ist der Effekt. Denn wem Vertrauen abgenötigt werden soll, der darf nicht den Eindruck gewinnen, am Ende als Opfer auf dem Platz zu bleiben. Er muss Vertrauen ins Vertrauen haben, so dass er nicht glauben muss, dass er es ist, der es allererst in die Beziehung einbringt, sondern hoffen darf, das es der Andere ist. Eine klarer Auftrag für eine Inszenierung. Ein klarer Auftrag für ein mediales Kunststück. „Vertrauen ist der Anfang von allem.“ Der scheinbaren Unsinnigkeit des Satzes korrespondiert die Evidenz des Vorstellungsbildes, das er evoziert, um dem 1 Zugrunde liegt ein Vortrag des Verfassers auf dem 2. Scenographers’ Symposium Dortmund 2009.
Einige stilistischen Merkmale des Vortrags wurden beibehalten.
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Schein, der die Ahnung an mögliche Opfer überstrahlt, Platz zu machen. War es nicht schon immer so? Sollen, müssen, dürfen, ja wollen wir nicht alle vertrauen? Zumindest letzten Endes? Vertrauen ist alles. Vertrauen, man ahnt es, ist – und bleibt – Vertrauen.2 Alles wird gut. Es verwundert nicht, dass sich die Maxime, denn so muss man die Aussage, die bis auf den Evangelisten Johannes zurückgeht, verstehen, nicht zuletzt3 in einem prominenten Beispiel der Werbekultur findet, einem Dreißigsekünder der Deutschen Bank aus der Mitte der 90er Jahre – noch vor den Finanz- und Währungskrisen des beginnenden 21. Jahrhunderts, die uns zweifellos dünnhäutiger gemacht haben, was unsere Bereitschaft angeht, in Sachen Politik oder Geld zu vertrauen.4 Im Folgenden werden wir eine Fallanalyse des Medienauftritts der Deutschen Bank vorstellen, um nicht nur herauszupräparieren, wie eine exemplarische Inszenierung von Vertrauensverhältnissen in Finanzbeziehungen funktioniert, sondern auch, in welchem Maße die Herstellung von Vertrauensverhältnissen generell ein Muss des Inszenierungsgeschäftes jeder Art ist. Wir hoffen, dass dabei theoretische und systematische Aspekte der szenologischen Methode und Analytik ebenso erhellen wie praktische und empirische Gesichtspunkte, die mit dramaturgisch szenografischen Facetten der Inszenierung von Vertrauen zu tun haben. Offenbar ist es der Spot zum Claim der Deutschen Bank, der ihn so erfolgreich werden ließ. Fünf Szenen. Gehen wir an den Anfang. Ein Vater wandert mit dem Sohn an der Hand durch einen sonnendurchfluteten Hochwald. (Abb.1)
Abb.1 Urvertrauen: Vater und Sohn. 2 Peirce diskutiert als Beispiel einer vergleichbar „unsinnigen Aussage“, die dennoch Sinn macht, den
Satz „Ein Mann ist ein Mann“. 3 Ein Click auf den deutschen Satz ergab 2009 bei Google für eine Suchzeit von 0,22 sec. 1.680.000
Ergebnisse. Spot BBDO 1995. Erreichbar gegenwärtig (8/2010) unter http://www.witzige-werbespots.tv/ spotanschauen.php?werbespot=4878. Bis 2009 war der Film bei YouTube durchgängig erreichbar. Dann 2009 verschiedentlich gesperrt, jetzt nicht mehr vorhanden.
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Das Kind hängt an den Lippen des Vaters. Der Vater erklärt dem Kleinen, die Hand des Vaters liegt liebevoll auf seiner Schulter, nicht ohne Ernst die Welt. Das Vertrauen, das der Junge dem Vater entgegenbringt – nur Vater und Sohn können die beiden, nur der Vater kann einer Bank der erste Signifikant des Vertrauens sein –, scheint ursprünglich und ungetrübt. Darüber zu reden erübrigt sich. Der Junge, man sieht es, hat bisher keine bösen Erfahrungen gemacht. Nie hatte er Anlass, sich Gedanken zu machen, ob der Glaube an den Vater vielleicht ein Risiko berge. Das Kind tut es einfach. Und nichts spricht dagegen, dass es ihm gut tut. (Abb.2) Doch, noch ist das letzte Bild der ersten Szene nicht verschwunden, hört man schon aus dem Off die Stimme des Szenografen und des Bankmanagers, der ihm souffliert. Es ginge, teilt er mit, um die „Suche nach dem eigenen Weg“, um die Zukunft und die Angst davor und die Sorge darum. Mit der geschilderten Anfangsszene und den folgenden, welche die erste variieren und zum Ziel führen, präsentierte sich die Deutsche Bank Mitte der 90er durchaus optimistisch. Offenbar konnte sich zu dieser Zeit niemand vorstellen, dass die Selbstinszenierung eines Kreditinstituts einmal nicht mehr auf die soziale Evidenz der Kreditierung durch Vertrauen würde vertrauen dürfen.
Abb.2 Vertrauensverhältnis.
Schauen wir auf die Leitmotive, welche die hier präsentierte Inszenierung für uns bereithält, lautet die erste und wichtigste Botschaft, dass zu vertrauen natürlich ist, am Anfang unserer Existenz steht. Dass wahres Vertrauen kein Risiko kennt und kein Misstrauen, das sich darauf besinnt. Wer vertraut, braucht Ängste und Sorgen nicht zu fürchten. Denn sie beglaubigen nichts weniger als die Berechtigung zu vertrauen, die Verlässlichkeit des Anderen, der Ängste und Sorgen an Stelle des und für den Vertrauenden trägt. Eine Art conditio humana. Jedenfalls, die Botschaft ist unmissverständlich, weder mit Ängsten und Risiken noch mit Vertrauen wird
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gehandelt. Wer vertraut, braucht dem Zweifel keinen Zugang und keinen Raum zu geben. Gefühls- und Überzeugungslagen des Skeptikers kennt er nicht. Was auch immer Vater und Sohn miteinander zu tun haben, der ödipale Konflikt scheint überwunden, noch ehe er begonnen hat. Wir erleben ein Szenario der Harmonie. Wir finden die beiden im Wald, die Morgensonne scheint. Schön und natürlich ist die Umgebung des Vertrauens, ungestört durch Dritte, scheint’s. Die Szene gibt keine Veranlassung anzunehmen, Vertrauen könnte eine Ware sein, wäre herzustellen oder zu kaufen. Oder forcierbar, müsse als vorteilhaft begründet und empfohlen werden, so dass erst infolge eines Aneignungsprozesses denkbar wäre, was hier doch so offensichtlich ist. Niemand kennt den Claim bisher, und doch sehen wir es, wissen es schon: Vertrauen ist der Anfang von allem. Szene und Satz sind deckungsgleich. – Vertrauen ist keine Folge, keine Reaktion, sondern der Anfang – von Natur, sagt die Kulisse. Was tautologisch ist in der Aussage am Ende des Films, ist Reichtum der ersten Szene, überquellende Präsenz des Vielen im Einen, ein Charakteristikum des ersten Signifikanten. Hier braucht es keinerlei Intention. Wir erleben die Fülle des Vertrauens. – Was danach kommt, man ahnt es, wird nur desillusionieren können. Trotz des Versprechens, dass von diesem Anfang her doch nur alles gut werden könne. Denn für diesen Anfang sind Bild und Szene eines uns allen vermeintlich bestens vertrauten Anfangs zuständig. Die Privatheit solch charakteristisch enger Vertrauensverhältnisse bestimmt die assoziierten Szenen. Der Lehrer, der den Vater in der zweiten Szene variiert, ist nicht Professor einer CollegeKlasse mit vielen Studenten, Vertreter einer Institution, vergleichbar einer Bank, sondern persönlicher Freund und Mentor seines Meisterschülers. (Abb.3)
Abb.3 Meister und Schüler.
Die zwei jungen Männer in der dritten Szene finden wir in vertrautem Gespräch; sie reden nicht wie überarbeitete Kollegen über dringende Geschäfte, sondern wie Freunde, die sich angeregt über ihr Privatleben austauschen. (Abb.4) Dass die Dramaturgie des Spots, die einerseits ihrem Auftrag folgt und der auflösenden Botschaft am Ende zustrebt, andererseits auf ihre Wirkung bedacht und darum stets an einer ‚Rückführung an den Anfang‘ interessiert ist, hängt damit
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Abb.4 Freunde.
zusammen, dass sich diese Rückführung, aus der öffentlichen Sphäre des Geschäfts zurück in die vermeintliche Privatheit der hier als ursprünglich gesetzten Vater-SohnBeziehung, und erst von dort aus in die Welt des Kapitalverkehrs, im Hinblick auf die Intimität der geschilderten Beziehungen kaum stetig gestalten lässt, stetig indes im Blick auf das Anwachsen der Öffentlichkeit und der ökonomischen Beziehungen, was indes erst am Ende eines ersten Durchlaufs erkennbar wird. Die Zumutung dabei wird schlagartig deutlich, wenn der szenische Beginn mit dem szenischen Ende kurzgeschlossen wird. Der Vater hat sich in die Deutsche Bank und ihre Angestellte verwandelt, der unmündige Sohn in ein etwas dümmlich wirkendes junges Ehepaar. (Abb.5)
Abb.5 Kreditnehmer und Kreditgeber.
Die skizzierte Entwicklungsgeschichte dagegen überspielt solche Konfrontationen und stabilisiert ein szenografisches Konzept, das ein vom gewählten Paradigma her ausstrahlendes, nichtsdestotrotz insgesamt, über alle Szenen hinweg, ausgeglichenes Vertrauensklima zeigen und vermitteln möchte. Dies allerdings ändert nicht nur nichts daran, dass die Regression auf die Vater-Sohn-Beziehung die Bilder steuert und dort am Anfang selbstverständlich der Vater das Vertrauensverhältnis begründet, während der Sohn mit der ödipalen Situation fertig werden muss, was ihn, entgegen unseren Intuitionen, die erwünschte Haltung einnehmen und die verbotene Mutter wie den strafenden Vater sublimieren lässt. – Nur von hier aus gelangt man zu den szenografischen Fakten und darüber hinaus zu den szenografischen Ambitionen. Nun, dass es beim bloßen Vorführen einer paradigmatischen Szene ungeteilten Vertrauens nicht bleiben kann, wenn uns die Deutsche Bank etwas sagen will, ist
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zu erwarten. Die szenischen Variationen, die diesem Anfang folgen, bringen es uns bei. Am Ende bestätigen sie, dass die Inszenierung von Vertrauen gerade da nötig erscheint, wo ein vertrauensvoll vertrautes Verhältnis keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, es aber um seiner Effekte willen als wünschenswert – und letztlich auch herstellbar – gilt. Was sich im Setting der Erstszene zum Verschwinden bringt oder doch verstecken möchte, setzt, vom Ende her betrachtet, die gesamte Veranstaltung offenbar voraus. Dass Vertrauen zu erwecken ihr Ziel ist. Man könnte meinen, die Werbung möchte für weitere, erhoffte Begegnungen frühzeitig positive Gefühle provozieren und, dieses Ziel im Auge, auf eine wohl durchdachte Medikation setzen. Die Imagination soll wirken wie ein Stärkungs- oder Arzneimittel, von dem man hofft, dass es anschlägt, um einen bloßen Zuschauer in einen Kunden zu verwandeln. Sicher, die Metapher macht nur Sinn, wenn ein Unterschied gemacht, die Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit in Anschlag gebracht wird, in physischer und psychischer wie auch in epistemischer Hinsicht. Die Hypothese könnte lauten, dass wir Konsumenten gewöhnlich auf ein falsches Bild von Vertrauen gepolt sind. Auf eine fixe Idee, zusammengesetzt aus Sorge und Angst, von der wir befreit werden sollten. Folglich muss heilsame, aufbauende Arbeit geleistet werden. Doch kommt der Arzt, der Vater nicht mit Argumenten und guten Gründen für den erwachsenen Kopf daher, sondern mit Bildern, die unsere Erinnerungen mobilisieren – im Auftrag einer Botschaft der Deutschen Bank. Um die Empfindung zu treffen und die Körper, die fühlen sollen wie die Kinder. Sollte der Kopf dann doch noch ein Ziel der Ansprache sein, damit er behält, was die Differenz ist, soll er glauben, dass sich, was beabsichtigt ist – letztlich die Geldein- und -anlage bei der Deutschen Bank –, wenn es denn dazu kommen sollte, im Muster einer vertrauensvoll naiven Kind-Eltern-Beziehung abspielen werde. Alles ist safe, alles wird gut. Und so spielt uns die inszenierte Vater-Sohn-Szene nicht mehr nur das Vertrauensverhältnis einer phantasierten Geschäftsbeziehung in der Zukunft ins Wohnzimmer, sondern stellt es auch situativ instantan, szenisch her, indem der Bildinhalt seine Imaginationen unmittelbar an unsere Wahrnehmung, an unsere Emotionen und Affekte sendet und unsere Körper unmittelbar reagieren lässt. Wir haben keine Zeit, ihrer Wirkung etwas entgegenzusetzen. Uns etwa zu fragen, warum denn nicht das ebenso mächtige Bild der nährenden Mutter, von der man sagt, dass sie das Urvertrauen illustriere, die Szene dominiert, die Signifikation anführt. Das mediale Ereignis selbst schließt die mögliche – und tatsächliche – Kluft, beseitigt die Asymmetrie zwischen Absicht und längst nicht erreichtem Zweck und stellt im Tausch der Imagination und ihrer Effekte gegen die Präsenz und Aufmerksamkeit der Zuschauer-Kunden die Symmetrie des Vertrauens schon am Ort dieser ersten Begegnung her. Doppelt ist der Gedanke ans Geld, gar an den Kredit, getilgt schon jetzt; niemanden soll er belasten. Und selbst an Tausch will
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hier niemand denken. Wer trotz der guten Gefühle vielleicht doch daran Anstoß nehmen möchte, dass der Vater ‚naturgemäß‘ einen Unmündigen lenkt, wird sich der Wirkung der medialen Gabe dennoch kaum entziehen können. Ein Lump, wer Böses denkt. Tun wir es doch und denken auch an die Bilanz, an das, was im Nachhinein zählt, erhellt, dass, was man die Symmetrie in Vertrauensverhältnissen nennen könnte, immer so etwas wie eine gegenwärtige Gleichwertigkeit von Ausgaben und Belegen zu fordern scheint. Jedenfalls, wenn der Umschlag ins Misstrauen vermieden werden soll. Und auch, wenn offensichtlich wäre, dass Vertrauensbeziehungen einen Wechsel auf die Zukunft darstellen. Denn wird gerechnet, was später erst zur Bilanzierung herangezogen werden könnte, werden Soll und Haben kaum ausgeglichen sein. Sollte es doch behauptet werden, fragt sich, woher der fehlende Betrag, das Surplus, das den Ausgleich ermöglicht, beigesteuert wird. Und wer es mittels welcher Leistungen aufbringt. Man muss vermuten, dass es sich beim Vertrauenstausch, wenn überhaupt, um keinen gewöhnlichen Tauschakt handelt. Vertrauensverhältnisse sind Beziehungen mit dynamischer Struktur. Sie spannen sich über die Zeit. Das spricht gegen bloßen Tausch, Vertrauen gegen Leistung an einer Zeitstelle. Was sich tauscht zu einem gewissen Zeitpunkt, in einem Ereignis des Umgangs, worin der Tausch das Geschäft ist und zugleich beendet, kann folglich schlecht zum Modell vertrauensvollen Umgangs dienen. Man könnte meinen, dass es für solchen Tausch überhaupt kein Vertrauen braucht. Denn alles liegt offen vor Augen. Der Handel wird getätigt. Das Geschäft ist beendet. Tausch bringt keinen zusätzlichen Effekt, keinen Mehrwert über den Tausch hinaus. Wäre es damit getan auch in sozialen Verwicklungen, in denen mit Vertrauen kreditiert wird, warum sollten die Beteiligten aufs Bilanzieren aus sein? Wenn jeder auf seine Kosten kommt, gäbe es schließlich kein ‚Verhältnis‘ auf Gegenseitigkeit, das Schuld beinhaltete. Sicher, Wiederholungen wären möglich. Doch die müssten nicht auf dieser Erinnerung, auf der Stiftung eines Schuldverhältnisses fußen. Auf einer Erinnerung vergangenen Aufschubs, uneingelöster Verbindlichkeiten, deren positive Bilanzierung nichtsdestotrotz im Vergangenen schon ermöglicht wurde a conto einer Vertrauenswährung, die den damaligen Ausfall zwar kreditierte, aber, zumindest in the long run, keineswegs auf Anerkennung in harter Valuta zu verzichten bereit war und ist. Die Zeit im Spiel des Vertrauens ist nicht dieselbe wie die in wiederholtem einfachem Tausch. Wiederholte Tauschakte dürfen vergessen werden, solange sie zur Zufriedenheit aller vonstattengehen. Die Differenz ist offensichtlich. Wenn Vertrauen sich tauscht, dann nicht gegen Leistungen, sondern gegen das Versprechen auf Leistung. Die Gegenwärtigkeit des Vollzuges, gleich um gleich, ist sozusagen zweigeteilt; präsentisch im Performativ des Versprechens, dem das Zuhören, das Vertrauen auf die Einlösung antwortet, zukünftig im Gleichtakt von Einlösung
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und Befriedigung über einen berechtigten Affekt und die ihn leitenden Intuitionen. Aber ist das die einzige Art, Vertrauen zu denken? Was zwar für die Absichten einer Bank kaum, ansonsten aber gut vorstellbar ist und auch oft vorkommt, zeigt eine andere Gestalt, die Gestalt der Gabe. Doch, um es gleich zu sagen, auch sie zeigt sich als Schwester des Proteus. Man sagt, dass dann, wenn jemand sein Vertrauen ‚schenkt‘, derjenige, dem er es schenkt, nicht unbedingt davon zu wissen braucht. Eine Überraschung des Ereignisses. Die erste Szene des Films kann vielleicht eine Vorstellung davon geben, was es heißen könnte, dass derjenige, der schenkt, nichts davon weiß – und auch der Beschenkte nicht. Es heißt also nicht, dass es nichts gibt, keine Gabe, sondern dass sie nicht als Ding, als Gegenstand vorzustellen ist, sondern als Effekt, als reine instantane Wirkung. Beschenkt das Kind den Vater mit seinem Vertrauen, heißt dies nicht mehr, als dass die Präsenz von Kind- und Vaterschaft die Unmittelbarkeit der Beziehung beurkundet, indes nicht als theoretische Kenntnis, sondern als das, was sich zeigt (phané)5 im Ereignis. Der Rest ist Schweigen. Nicht nur die Beteiligten wissen nichts Genaues. Beobachter der Szene auch nicht; sie können allenfalls ihren Intuitionen Ausdruck verleihen, insofern sie selbst Erfahrungen mit der Verstrickung in vergleichbare Verhältnisse haben oder hatten und sich an vergleichbare Szenen erinnern. Als Söhne oder Töchter, Väter oder Mütter, mit dem Blick auf die ‚Gabe‘ eines Kindes oder auf das ‚Geschenk‘ des Vaters oder der Mutter, die dem Kind Geborgenheit und Sicherheit versprechen. – Doch möglicherweise ist hier eher ein metaphorisch bis mystifizierender Gebrauch von ‚Geschenk‘ am Werk, der, abgezogen aus der Sphäre persönlicher Erfahrungen, in den Systemverkehr transferiert werden soll und dann zweifellos mit Dankbarkeit und Dankbarkeitserwartungen zu tun hat. Denn dort, in der gesellschaftlich relevanten Interaktion, gibt es zweifellos das unausdrückliche Vertrauen, von dem die Instanz, der es gilt, nicht wissen muss und über dessen Existenz wir selbst uns nicht unbedingt Rechenschaft ablegen müssen. Vielleicht ‚schenken‘ wir in diesem Sinne unserem Rechtssystem Vertrauen, der Aufrechterhaltung der Ordnung im uns ‚vertrauten‘ Raum. Vielleicht sogar der Wettervorhersage. Aber wollen wir von einer Gabe sprechen? Vermissen wir dann nicht zum wenigsten die Intention, das Schenkenwollen? Wir kommen darauf zurück; doch deutlich wird die Ambivalenz, die sich auftut, wenn das Wissen von den Umständen des Vertrauens bröckelt. Sofort sind wir nicht mehr sicher, über welches Territorium genau das Regiment des Vertrauensausdrucks herrschen mag. Ob es nicht genauso gut unter einer Beschreibung des Misstrauens stehen könnte oder steht. Denn etwas Ähnliches wie eine ‚Gabe ohne Absicht‘ finden wir vor, wenn jemand einem anderen misstraut, sozusagen ein ‚Nicht-Schenkenwollen‘. 5
Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1156b30.
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Obwohl es auch hier eine fallbezogene, intuitive Gewissheit geben mag, die auf Befragung, gleichsam als Resultat einer Introspektion ex post zur Sprache kommen kann, fehlt auch dem Skeptiker das von der konkreten Intention, der Handlung her inspirierte Wissen. Und selbstverständlich müssen auch die Betroffenen von dem Misstrauen, das ihnen entgegengebracht wird, nichts wissen. Und auch hier würde niemand, mutatis mutandis, von einem vorenthaltenen Geschenk sprechen. Ähnliches wiederum finden wir, wenn jemand zwar eingeweiht ist in eine bestimmte Vertrauenskonstellation, aber nur qua Funktion, ohne Wissen um Persönliches. Er wird das Vertrauen eines anderen enttäuschen oder rechtfertigen können, ohne es wissen zu müssen oder auch wissen zu können. Wie ein Finanzbeamter das Vertrauen eines Steuerpflichtigen enttäuschen kann (sollte es jemand gehabt haben), wenn er die erwartete Erstattung geringer als notwendig ausfallen lässt und sie erst Monate später als erhofft leistet. Trotzdem wird dem Beamten im nächsten Jahr vielleicht wieder dieser Vorschuss gewährt, und oft genug, man muss es annehmen, zu Recht. Allerdings, wenn wir Akteure und ihre Aktionen und entsprechende Ereignisse auszeichnen, müssen wir darauf sehen, dass wir den Vertrauensausdruck nicht zu sehr mit Einstellungen des Hoffens einfärben. Selbst wenn es um unausdrückliche Varianten der entsprechenden Haltung geht. Andererseits erinnern uns gerade solche Beispiele unausdrücklichen Trauens oder Misstrauens an die Unschärfe der Phänomene und, wichtiger noch, an ihre Nähe zu epistemischen Einstellungen des Hoffens, Erwartens, Erlaubens, Meinens. Sie alle gehören zur großen Familie der Wissenseinstellungen, genauer aber gehören sie dem Zweig der Doxa an. In diesem Zusammenhang ist Diego Gambettas Definition insofern interessant, als er vertrauen durch glauben definiert.6 Neben den Verwandten der Synonyme und denen des Dafürhaltens und Glaubens treffen wir auf Familienähnlichkeiten auch bei den Einstellungen des Wollens und Beabsichtigens.7 Denn es scheint unvermeidbar, dass ich willentlich vertraue, wenn ich es bewusst tue – was allerdings in gewisser Weise an dieser Stelle gerade infrage steht. Doch darf man sich angesichts dieser naheliegenden Affäre durchaus fragen, ob sie denn besage, dass worauf man vertraue dasjenige ist, auf das man willentlich oder absichtlich vertraut, oder ob dass zu vertrauen bedeute, willentlich zu vertrauen. Ob sich die der Einstellung des Vertrauens verbundene Intentionalität auf das Objekt des Willens richtet oder auf die Einstellung beziehungsweise ihre propositionale Fassung. Offensichtlich knirscht es hier zwischen Einstellungen und Empfindungen auf der einen, Objekten und Tatsachen des Vertrauens auf der anderen Seite. Wo ist der Anfang von allem hier, könnte man fragen. Setzen wir bei der Empfindung, der Einstellung, die unsere 6
Siehe Diego Gambetta: Können wir dem Vertrauen vertrauen?, in: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main/New York 2001. 7 Vgl. dazu die Einleitung des Bandes.
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Einstellung ist, ein? Oder hängt alles von der Erscheinung, dem Phänomen ab, die uns zu Empfinden und Haltung veranlassen? Der Aspekt, auf den wir anlässlich der Erörterung der Frage nach den Möglichkeiten unbewussten, unausdrücklichen und insofern, naheliegend, auch unabsichtlichen Vertrauens (und Misstrauens) aufmerksam werden, legt Ersteres nahe. Wobei sich die Frage, weiter enggeführt, dahin verschiebt, wie weit wir die Unausdrücklichkeit überhaupt akzeptieren können. Sei es, dass der sprachliche, sei es, dass der szenische Ausdruck nicht identifizierbar erscheint. Binden wir, wie oben, die Intention an die Handlung und ihren szenischen Ausdruck, werden wir nicht mit Entitäten einer separierten ‚psychischen Disposition‘, unter denen derartige ‚unbewusste Absichten‘ vermutet werden könnten, belastet.8 Binden wir sie an einen sprachlichen Ausdruck, müsste sie zumindest in einem zugehörigen Darstellungsgefüge, eben im Gewand der Formulierung einer propositionalen Einstellung, welche die Intentionalität einfärbt, aufzufinden sein. Aspekte unscharfer Vertrauensäußerung könnten auch dort aufstoßen, wo sich enttäuschtes oder berechtigtes Vertrauen spezifisch artikulieren, Enttäuschung oder Befriedigung sich jedenfalls nicht auf ganzer Linie einstellen. Dabei stößt man auch hier wieder auf den Unterschied zwischen Objekt- oder Gegenstandsorientierung und rückgekoppelter Orientierung auf den Einstellungsausdruck selbst. Offenbar sind die Raum- oder Ausdehungsunschärfen mit einer Fokussierung auf die Objekte des Vertrauens verbunden, nicht aber mit der auf die Vertrauenseinstellung und -äußerung selbst. Unter dieser Einschränkung allerdings macht Sinn, vom Vertrauen in dieser oder jener Situation, in dieser oder jener Hinsicht zu sprechen. An einen Lehrer, einen Vorgesetzten, einen Abgeordneten – allgemein einen Zuständigen –, wird man in diesem Sinne sein Vertrauen adressieren können; und sie alle können das in sie gesetzte Vertrauen enttäuschen oder verdienen. Soweit es die adressierten Instanzen sind, die für die jeweiligen Vertrauenskonsequenzen verantwortlich gemacht werden, erhellt, dass auch dies von den Optionen der Analyse abhängt. Und dass dies nur unter Bedingungen der Fokussierung der Gegenstände des Begehrens als wesentlich für die Charakterisierung des Vertrauens geschehen kann. Und ebenso erhellt, wie weit die Diagnose von der Heranführung der epistemischen Momente abhängig ist, sowohl auf der Seite der Methode als auch auf der Seite des Inhalts. Realisieren wir, dass die ‚Objekte‘ in Gestalt der potentiell Gewährenden oder Zurückweisenden, auf die der Handelnde sein mehr oder weniger großes Vertrauen gerichtet hat, zufrieden stellen oder frustrieren können, auch ohne selbst zu wissen, wer genau in welche ihrer Handlungen im Einzelnen Vertrauen gesetzt hat, dann wird deutlich, dass sich das Modell des Vertrauens als wechselseitiges Modell des 8
Freilich haben wir das Problem der Differenz zwischen bzw. der Differenzierung von szenischen, will heißen bloßen Ereignis-Ausdrücken oder -Formen und erkennbaren Inszenierungen derselben.
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Gebens und Nehmens, als Modell, im positiven Fall, bewusster und absichtlicher Kooperation, nicht normativ zum Vertrauensdispositiv erklären lässt. Die Fassung bestimmter Varianten seines Ausdrucks in den letzten Beispielen demonstriert im Gegenteil, dass es äußerst brüchige, instabile und unvollständige Konstellationen geben kann, in denen es schwer fallen wird, eine Gegenstandsorientierung des Vertrauensaffekts überhaupt empirisch zu validieren. Dies, wie im Fall des letzten unserer Beispiele, unter Voraussetzung, dass sich die adressierten Institute der Gewährung oder Zurückweisung von Vertrauen, Schule, Betrieb, Demokratie – darüber hinaus ungezählte Räume des Sich-miteinander-Befassens – normativ durchaus als Gemeinschaften vertrauensvollen Umgangs verstehen. Dabei verzichten wir, nota bene, auf die normative Fixierung einer Methode oder Analyse und halten uns offen, die Berechtigung der Gegenstands- oder Einstellungs-/Ausdrucksorientierung der Vertrauensambition im Einzelfall zu überprüfen und gegebenenfalls zu extrapolieren. Freilich ergeben die Überlegungen im Anschluss an erste Erwägungen zum Verständnis des Vertrauens als Tausch ebenso wie die erste Erörterung der Frage, ob sich, alternativ, Vertrauen als Geschehen oder Gabe verstanden, bisher nicht beobachtete Aspekte von Vertrauensaktivitäten herauszupräparieren ließen, dass die Gegenstandsperspektive schnell obsolet wird, wenn man bedenkt, dass zu vertrauen im Sinne einer Geste der Verausgabung keineswegs eine systemisch soziale Dimension des Vertrauenshandels in Gemeinschaft besetzen oder bloß auftun müsste. Zwar istden Eskapaden eines schlecht zu rechtfertigenden Realismus bei Betrachtung der Objekte des Vertrauens damit noch nicht die Spitze genommen – es steht nichts im Weg, die Dingorientierung, ähnlich wie im ökonomischen Modell des Vertrauens, auch dann beizubehalten, wenn die Gegenstände des entsprechenden Begehrens imaginär sind, wie das Wohlwollen meines Finanzbeamten, der mich nicht kennt –, doch spricht einiges dafür, sich an die Vertrauensausdrücke und ihre Verwandten selbst zu halten, in allen ihren Auftrittsvarianten, vorzüglich den performativen. Zwar ist es nicht so, dass damit die Objekte zum Verschwinden gebracht würden; doch kommen sie in dieser Betrachtung in Abhängigkeit von ihrer Ausdrucksform vor. Ebenso wie uns der mediale Auftritt der Deutschen Bank ein Beispiel szenischer Entfaltung vertrauten Umgangs präsentiert. Die personale Asymmetrie, die ein enttäuschtes oder befriedigtes ‚Vertrauen ohne Partner‘ suggeriert, mag mithin eine Figur beinhalten, deren Bilanz nur zwischen anderen Beteiligten aufgemacht werden müsste als denen, die sich nicht nur kennen, sondern auch wissen, was sie voneinander zu halten haben9, um eine anders gelagerte Geometrie oder Architektur als vermutet zu offenbaren. Schließ9
Unter anderem also Akteuren in der zweiten Reihe, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, eine Darstellung des Geschehens zu unternehmen.
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lich bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft – und wer gehört keiner Gemeinschaft zu? – oder die Funktion in irgendeinem System ja auch immer, ein ihr oder ihm entsprechendes Verhalten an den Tag zu legen. Man kann der Cosa Nostra angehören oder den Heiligen der letzten Tage, den Weight Watchers oder den Taliban: Was auch immer jemanden veranlasst, den Mitgliedern dieser Gemeinschaft zu vertrauen oder jener anderen zu misstrauen, die Angehörigen folgen einem Komment, der verlangt, sich bestimmten Menschen gegenüber und in bestimmten Hinsichten als vertrauenswürdig darzustellen, auch unabhängig von einer ganz unmittelbaren persönlichen Beziehung zu ihnen. Und selbstverständlich gibt es nicht für jeden nur eine Zugehörigkeit, sondern ganze Adressbücher voller Mitgliedschaften, für die alle derselbe Grundsatz gilt. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, in keiner Weise vertrauenswürdig erscheinen zu müssen. Auch dies bedeutet szenische Präsenz: bereit zu sein für ein Vertrauen, das einem erwiesen wird. Dies betrifft keine Disposition, sondern die Handlungskompetenz. Gehörte nicht auch das zur Botschaft der Deutschen Bank? Dass wir alle schon immer im Vertrauen sind. Da es doch schließlich der Anfang von allem sei. Kehren wir zurück zum „kooperativen Modell“, das ja in der Perspektive bewusster Inszenierung ohnehin das favorisierte Vertrauensdispositiv zu sein scheint. Wobei korrekterweise zumindest soweit interveniert sein sollte, dass „kooperativ“ nicht allzu schnell die Missgestalten erzwungener ‚Kooperation‘ ausschließt. Denn wie wir wissen, verhindern systemische Vertrauensverhältnisse ja keineswegs Zwangsverhältnisse. Wie auch immer, andernfalls müsste man den Spot nach den Bildern der ersten Szene abbrechen, und jeder könnte sich sein Teil denken. Soweit die Darstellung eine Darstellung im Sinne einer Verzeitlichung, einer Vergeschichtlichung impliziert, wird die Unmittelbarkeit des Erlebens von der Erfahrung und der Erinnerung berührt, und der Gedanke an die Bilanzen erscheint erneut. Bilanzen freilich der unterschiedlichsten Art. Alle Bilanzen bilanzieren Vergangenheiten, gemachte Erfahrungen. Was verständlich erscheint, wird doch meist erst abgerechnet, wenn Grund dafür gegeben scheint. Solange bleibt die Frage nach der Ausgewogenheit von Wunsch und Wunscherfüllung ungestellt; ein gewisses Maß an schwerem Gelände ist zumutbar, sollte aber nicht zu Erschütterungen führen und zu sehr aufstoßen lassen. Grund zu bilanzieren scheint dann gegeben, wenn jemand der Beteiligten glaubt, dass Soll und Haben, Erwartung und Ereignis auseinanderklaffen. Ansonsten, gelten die Ökonomien als ausgeglichen, ist auch die Vertrauensbilanz kein Thema. Bilanz zieht in der Regel, wer beteiligt ist und war. Obwohl zuweilen auch nicht unmittelbar Verwickelte dazu neigen, Bilanzen für andere aufzumachen. Bestehen die Posten, die Erfahrungen, die sie anführen, nur aus Worten, was nicht selten passiert, verfügen die Darstellungen oft nicht über die gefragten Werte, genügend Überzeugungskraft und andere psychischen Gebrauchs-
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werte. Bringen sie nur die gewöhnlichen Tauschwerte in Umlauf, erscheinen die Bilanzen, die sie anbieten, nicht selten ohne Belang; sie animieren niemanden zu außergewöhnlichen Anstrengungen. Eine Bilanz eröffnen heißt eine Rechnung aufmachen, auf der sich schon Posten angesammelt haben. Bilanzieren ist kein Anfang. Eine ‚Offensive‘ dagegen schon, auch eine ‚Vertrauensoffensive‘. Sie bilanziert nicht, um abzurechnen.Sie will Effekte bewirken. Der militärische Ausdruck regt kaum zu falschen Assoziationen an. Die Medikamentengabe wird von der Attacke begleitet (oft genug ist es ja umgekehrt). Es geht um eine Stellung, die eingenommen werden soll, eine Stellung von Gleichmut und Gleichgültigkeit, die zu einer Stellung positiver Zuwendung und Kooperation umgebaut werden soll. Die Geschichte des Werbefilms zeigt die paradoxe Situation. Der Vater, der die Mutter verbietet, selbst aber an die Quelle darf, will den Söhnen weismachen, dass es nichts zu erinnern und aufzurechnen gäbe, dass alles Gabe sei, was ab sofort zum Geschäft unter Erwachsenen gehört. Gabe, dazu, nicht des offensichtlich Vertrauenden, sondern des Vertrauen Einfordernden. Kein Liebes- oder Freundschaftsverhältnis, sondern ein Angriff. Wer es noch nicht verstanden hat, kann auf den Text zum Bild warten. Nur, was gewöhnlich zu vertrauen – oder besser: vertrauen zu müssen – heißt und ausmacht, ist damit nicht schlecht getroffen. Das ist die Geschichte. Das mediale Ereignis selbst, die Form der Geschichte, ist nun aber selbst nicht weniger Teil einer Vertrauensoffensive und auf diese Weise kalkuliert, szenografiert. Der Vater tarnt sich als Spender, Gebender von Natur, wie soll sich die Inszenierung als Gabe tarnen? Offenbar ebenso. So, dass man ins Geschäft kommt, ohne dass das Präsent hinterfragt wird, schlimmstenfalls einen einmaligen unspektakulären Tauschakt vermuten lässt. Bestenfalls so, dass das Medienprodukt selbst als Geschenk gewürdigt wird. Weitere Verpflichtungen, Verpflichtungen vor allem auf zukünftige Einlösung in Wahrheit gewährter Kredite, sollten die Begegnung jedenfalls nicht belasten. So versteht sich ein Werbespot verständlicherweise nicht als ein zum Kauf offeriertes, als Ware zu konsumierendes Produkt. (Jedenfalls bisher noch selten.) Sein Gebrauch verweist daher auch nicht auf ein Produktionsverhältnis. Die Begegnung erscheint mehr zufällig, nicht einer systemischen Zirkulation zugehörig. Selbst der implizierte Tausch, mediale Präsentation gegen Wahrnehmungszeit, ist nur oberflächlich. Die Konsumenten nehmen ihn nur selten bewusst zu Kenntnis. Am ehesten dominiert für den Gebrauch der Form, was die Geschichte unseres Beispiels inhaltlich zu illustrieren sucht: dass Vertrauen Schenken heißt. Für die Übereignung der medialen Oberfläche, in der diese Gleichung in Szene gesetzt wird, soll dies ebenfalls gelten. Die Reklame erscheint, als ob sie nie je von ihren Konsumenten bezahlt werden müsste, stets gratis käme. Auch ist hier keine Rede von einem Geschenk, das von sich nichts weiß, sich als solches nicht meldet. Im Gegenteil. Es
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ist ja gerade die mediale Zurichtung, die es ermöglicht, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Als Gebender erweist sich nicht der offensichtlich Vertrauen investierende Sohn, sondern der Vater, dem alles, was er tut, zur Gabe wird. Aber eben nicht ohne Absicht und Wissen, ohne ihnen Stimme und Gestalt zu verleihen. So machen die Medien Geschenke in Fülle, selbst wenn man sie nicht will. Und da sie sich selbst nicht über den Weg zu trauen scheinen, benehmen sie sich zunehmend aufdringlich, können nicht an sich halten und preisen sich an: „Hallo, ich bin ein Geschenk für Dich.“ Dabei macht, wie man weiß seit dem Geschenk der Danaer, die Verpackung das Geschenk. Und der Verzicht auf die Gegengabe, die Geste des Opfers. Alles steht auf dem Kopf. Die schöne Hülle, die als solche und noch vor dem Auspacken und ganz für sich einen Schein von Gebrauchswert zu erzeugen vermag, verdeckt den Wechsel auf die Zukunft, der oft genug erst herausfällt, wenn das Geschenk geöffnet wird. Dass, wer die Gabe nimmt, in solchen Fällen zu zahlen hat, obwohl doch alle Zeichen auf einen glücklicheren Ausgang wiesen, ist fatal. Für das, was folgt, sind unterschiedliche Regelungen im Umlauf. Sei es dass der Verkehr zivil geregelt wird oder wenig zivil und eher barbarisch verläuft. Im Fall einer Vertrauensoffensive, im Fall von Strategie und Berechnung, der friedlichen Variante, besagt das ‚Gesetz des Vertrauens‘, dass Vertrauen nicht mit Vertrauensbildung, sondern mit Vertrauenserweisen zu beginnen habe, quasi mit einer Demonstration, zur Gemeinschaft der Zivilisierten zu gehören – auf die man vertrauen darf – und nicht zu den Barbaren. Man ist höflich, kommt nur zu Besuch und bringt Präsente mit. Tatsächlich weiß, wer die Stellung auf diese friedliche Weise unterminieren will, dass sich die Belagerten in Gemeinschaft bewegen und solange vertrauenswürdig verhalten, anständig benehmen, wie sie von ihrem Gegenüber nicht aufschreckt werden, an seinem Verhalten kein Anstoß zu nehmen, nicht zu zweifeln ist. Die Vertrauenswürdigen verhalten sich so, weil sie es so gelernt haben und gewohnt sind. Offenbar handelt es sich um eine Strategie, die Vorteile bringen kann. Doch gehen alle Usurpatoren, die in Feindesland unterwegs sind und nicht offen gewalttätig werden wollen, mit der List des Odysseus vor. Vertrauensoffensiven erscheinen vielleicht friedlich, doch bleiben sie durchaus Offensiven. Je nachdem, ob Offensive die Metapher und ‚Vertrauen‘ die bebilderte Haltung bezeichnet oder ‚Offensive‘ die gemeinte Haltung apostrophiert und ‚Friede‘ zur Metapher wird, erhalten andere, doch zusammengehörige Figuren Kontur, die qua Metaphorik auf die hier wirksame mediale Strategie zielen. Zusammengenommen erscheint die Gestalt paradox, nichtsdestoweniger realistisch. Von solchen Paradoxa regierte Handlungszwecke können offenbar nur dann erreicht werden, wenn die wahren Absichten, die Wette auf die Zukunft, die Grund des Handelns sind, verborgen bleiben und stattdessen eine einseitige, freiwillige, aber doch auffällige Gabe, ein Zeichen, eine Inszenierung nicht kalkulierter Verausgabung gesetzt erscheint.
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Was sie ausmacht, was die Medienhülle verpackt, darf dem auf keinen Fall offensichtlich widersprechen. Die Gabe stiftet, obwohl sie nichts anderes im Sinn hat, keinen Vertrag, bietet kein Pfand als sich selbst und unterstreicht die eigene Vertrauenswürdigkeit so nicht ausdrücklich für künftigen Verkehr, sondern nur für ein Jetzt – die Bilder, die auf sich selbst verweisen, demonstrieren es. Doch morgen schon kann solche Gabe als ein geleistetes Surplus, als Posten in einer unausgeglichenen Bilanz erscheinen. So setzt sie einen Anfang, und die Offensive kann die Stellung nehmen. Wann auch immer das Surplus in Rechnung gestellt werden wird, man wird auf die Zukunft hoffen dürfen. Man kommt ins Geschäft. Ein Anfang ist gemacht. Und der Anfang von allem ist – Vertrauen. (Wir sprechen von Friedensoffensiven.) Die Bank verspricht nicht einfach, nein, indem sie so tut, als zähle nur die Gegenwart und bestenfalls von hier aus die Zukunft, jedenfalls keine Vergangenheit, indem sie behauptet, Väter seien in Wirklichkeit Partner, und auch die Mütter, die Frauen würden nicht länger verweigert, kreditiert sie scheinbar auch tatsächlich als Erste. Falls zukünftige Beziehungen gewünscht. Präsenz und Aufmerksamkeit mögen vielleicht als gegenwärtige Tauschwerte, über welche die Kinder – die Zuschauer – verfügen, ins Feld geführt werden, doch das ist, wie man sieht, nicht, was von einem ‚Partner‘ erwartet wird. Die Kinder können die Investition des Seniors in dieser faktisch noch ungleichen Partnerschaft gegenwärtig noch nicht aufwiegen. Die Bilder lassen hoffen; aber faktisch müssen wir am Ende zurück an den Anfang. Weswegen diejenigen Kinder, die sich zwischenzeitlich schon als Partner wähnen, immer wieder Grund haben, überrascht bis ungläubig aus der Wäsche zu gucken. Die schon erbrachte eigene Investition werden die meisten, sublimierungserprobt, gar nicht in Anschlag bringen. Denn auch das wäre ein Eintrag für die Bilanzunterlagen, die qua Voraussetzung indes noch gar nicht aufgeschlagen wurden. Vielleicht tun sie es später. (Abb.6)
Abb.6 Keine Partner.
Nun wäre es nicht mehr als ideologiekritisch, die Inszenierung als bloße Täuschung abzutun, als Manipulation. Tatsächlich zeigt auch das ökonomische
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Kalkül hinter und in der Szenografie – das Erweisen vor dem Bilden – sozusagen einen ‚verfemten Teil‘. Der Vertrauenserweis ist es, der den realen Schein einer Bank produziert, die freiwillig gibt, auch ohne derzeitige Sicherheiten dem anderen vertraut. Das Bilden hinter dem Erweisen wiederum entlarvt den Schein nicht einfach als Täuschung, sondern bekräftigt, was erscheint, als durchaus in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Es zeigt nur die Wahrheit des Kredits, den zu geben für jede Szenografie unabdinglich ist. Was einer Bank, als ‚Kerngeschäft‘, wie man sagt, eigentlich immer gut ansteht, Kredit zu geben, gehört genauso zum Geschäft jeder Szenografie. Was allerdings deren faktische Leistungen der Kreditierung angeht, gehört zu ihnen nicht die Abwicklung des Geschäfts, sondern das bloße Versprechen, als Schuldner aufzukommen, falls es erforderlich sein sollte. Wie man es mittlerweile von den starken Volkswirtschaften kennt, die sich bereit erklärt haben, für bisher nur gefährdete, aber nicht zusammengebrochene Unternehmen und Staaten zu bürgen und Sicherheiten im Umfang möglicherweise drohender Verluste bereitzustellen, soll dies nicht nur als Appell an andere verstanden werden, statt auf die Pleite auf die Gesundung zu setzen und dahin gehend Vertrauen zu schöpfen, sondern auch als eigener Vertrauensbeweis, dem wiederum mit größerem Vertrauen begegnet werden sollte als der konkurrierenden Inszenierung des Untergangs (die sich allerdings durchaus als profitabel erweisen könnte). Deshalb auch verlangt die Inszenierung als Versprechen nie andere Sicherheiten als das Vertrauen, von dem bekannt ist, dass es seinerseits liebend gern ein glaubhaftes Versprechen kreditiert. Im Übrigen kann das szenografische Unternehmen im Unterschied zum Bankhandeln, das seinen eigenen Medienauftritt in der Regel weit weniger virtuell begleitet, auch gar nicht mehr einfordern, liegt doch die Kontrolle über die von ihm intendierten Ereignisse nicht in seiner Hoheit. Allerdings könnte es gegebenenfalls mit zur Kasse gebeten werden. Vor allem, wenn es sich nicht ins Reich der Kunst verabschiedet und verselbstständigt hat. Dennoch, war man vielleicht vor der sogenannten Finanzkrise geneigt zu behaupten, dass Kreditierung immer einer Sicherung in der ‚Realwirtschaft‘ bedürfe – und sei es in der des Geldes –, hat sich mittlerweile erwiesen, dass gerade diese materialistische Überzeugung die Mystifikation darstellt. Die Inszenierung, Vertrauen scheint der Anfang von allem. Ist die Gabe also ein Opfer, eine freiwillige Leistung für einen guten Zweck oder um die Götter sanftmütig zu stimmen? Sicher. Doch schaut man auf den Anfang und (wer A sagt, muss auch B sagen) das damit hypostasierte Ende, erweist sich ein solches ‚Opfer‘ per se als dauerndes Verhältnis. Friedlicher oder weniger friedlicher Art, in der Mischung demnach als Schlacht. Bestimmt also tatsächlich nicht für den Gebrauch, für den sie bestimmt scheinen, sondern für den realen gesellschaftlichen Tausch.10 Dazu gehört – „zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt“, schreibt 10
Vgl. Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. II.
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Marx im ersten Band von Das Kapital 11 – dass die Gabe nicht aus ist auf Verhältnisse unter Gleichen, sondern dazu da, die Festung gewaltsam zu erobern. Sie erweist sich als Waffe, wie es die Troer von der Opfergabe der Griechen erfahren mussten. Konnten die Trojaner wissen, was es auf sich hatte mit dem Geschenk der Danaer? Nein, nur glauben. Nur die Seher wussten es, und sie waren noch schneller tot als die Bewohner, die die Überraschung noch vor sich hatten und später erst im Brand umkamen. Sind die Banken oder die Politik denn lediglich an friedlichen Übernahmen interessiert? Die Frage stellen heißt die Antwort geben. Will man von Anfang an nur Kalkül sehen, wo normalerweise zu kalkulieren noch gar kein Grund besteht, wird man wie Luhmann davon sprechen, dass der Vertrauende dem Partner, den er gewinnen möchte, eine „riskante Vorleistung“ entgegenbringen muss.12 Doch sieht der Werbespot der Deutschen Bank aus wie eine „riskante Vorleistung“? Wie gesagt, Risiken beziehen sich auf Rechnungsposten und Bilanzen und die Zeiten, zu denen sie gezogen werden. Dazwischen stehen Ereignisse, Szenen, Performanzen des Erlebens. Übrigens gilt das dynamisch auch in die Zukunft hinein. Wenn aus den Bilanzen Pläne erwachsen, Entwürfe für die Zukunft, Szenografien, liegen die darin möglicherweise erdachten Ereignisse noch an der Kette festliegender Darstellungen. Sie müssen erst los davon, wenn zuversichtlich zu sein oder skeptisch Sinn machen, sich bewähren soll. In wechselseitigen Vertrauensverhältnissen – und wir haben Grund zu der Annahme, dass alle Vertrauensverhältnisse, wenn sie entsprechend dargestellt oder artikuliert werden, irgendeine Wechselseitigkeit aufweisen, selbst wenn zu vertrauen ganz einfach sein mag – werden befürchtete Asymmetrien und erhoffte Symmetrien zwischen faktischem und künftigem Umgang (oder vergangenem, muss man ergänzen) verknüpft und insgesamt zu einem System verbunden. Im personalen Verkehr wie im Vertrauen auf Ereignisse, die nicht unmittelbar mit dem persönlich verantwortlichen Handeln zuständiger Individuen, denen das Vertrauen gilt, assoziiert werden müssen, mit Blick auf Personen wie auf Ereignisse entspricht einer gegenwärtigen ‚Gabe‘ im Kalkül die Erwartung, zukünftig mit einer vergleichbar verpflichteten Einstellung behandelt zu werden oder allgemeiner, auch Ereignisse in den Blick nehmend, nicht enttäuscht zu werden. Do ut des. Das bewusste Geltendmachen von Vertrauensverhältnissen, dauernden sozialen Beziehungen, sieht solche zeitversetzten Symbol und Sprache als Struktur und Grenzbestimmung des psychoanalytischen Feldes, in: ders.: Schriften I, hgg. von Norbert Haas, Frankfurt am Main 1975. 11 Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, Kap. 8, in: MEW Bd. XXIII, S.249. 12 Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart (Lucius & Lucius/UTB), 42005/2009, S.27/53, zuerst veröffentlicht im Emke Verlag 1968; siehe auch Niklas Luhmann: Vertrautheit, Zuversicht Vertrauen. Probleme und Alternativen, in: Martin Hartmann, Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt am Main/New York (Campus) 2001, S.143-160; zuerst in: Diego Gambetta (Hg.): Trust. Making and Breaking Cooperative Relations, Oxford (Blackwell) 1988.
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‚Überkreuzsymmetrien‘ flankiert von jeweils instantanen Tauschszenen, welche die nicht ausdrücklichen Erwartungen in Schenkungs- und Opferhandlungen verwandeln, und zwar je nachdem, wer in der Vertrauensaffäre aktiv am Zug ist. In ihnen wird per Erinnerung und Widerholung das Verhältnis gewogen. Der Schein der Gleichheit von Geben und Nehmen im Tausch – Schein, soweit zu Dingen, Waren wird, was getauscht wird – wird durchzogen von der notgedrungenen Produktion von Ungleichheit, die jede Vertrauenshandlung als Akt und Ereignis mit sich bringt. Als solche weder in der ökonomischen noch in der Gefühlsbilanz ausgeglichen, solange noch Erwartungsreste in den Beziehungen vorhanden sind, glauben sie, einen Ausgleich wohl besorgen, aber nur auf Dauer besorgen zu können. Obwohl die Suggestion dabei die Vorstellung eines personalen Vertrauens zu privilegieren scheint, bestätigen oder widerlegen sie eine Vertrauensbeziehung von Beginn an, wie auch immer nur in the long run. Eventuell über ein individuelles Ende solcher Beziehungen hinaus. Mithin verweist diese Mystifikation auf diejenigen Tatsachen des Vertrauens, die qua Voraussetzung asymmetrisch strukturiert sind, Vertrauenshaltungen, die aus der Schwäche des Wissens und mangelnder Kraft der Einflussnahme rühren. So finden wir denn am Grunde des Vertrauens ‚aus gutem Grund‘, eines Vertrauens, das sich außerhalb seiner Inszenierung kaum begründen ließe, Szenen wahren Gottvertrauens. Alles wird gut? Ja, spätestens, wenn es gut geworden sein wird.13 Gott weiß es. Und so soll es sein. Die Reflexion ist dem prozedierenden Vertrauen nämlich egal, es setzt auf den Vollzug, die Aufführung. Ganz konsequent erleben wir Vater und Sohn im Licht des szenischen Fortgangs unserer Bankwerbung in neuer Verkleidung. Bald sitzen Meister und Schüler in vertrautem Gespräch. Immer noch beherrscht der Vater die Szene. Auch wenn er freundliche Miene macht und sicher alles gut meint. Zur Mitte der Geschichte hin nähern sich die Männer und werden scheinbar tatsächlich zu Partnern. Doch die Ungleichheit bleibt Bedingung ihres Umgangs, obwohl sie Freunde scheinen oder intime Kollegen. Der eine hat Sorgen, der andere kommt mit der Sonne im Rücken. Vertrauen muss Gelegenheit haben, sich zu bewähren. Am Ende geben sich beide zuversichtlich. Die nächste Episode will den Vater weiter vergessen machen. Seine Funktionen und Aufgaben werden nun übertragen. Verständlich, sagt sich der Betrachter, denn die Väter haben in der Regel ihre Anlagen schon getätigt, und nicht nur die finanziellen. Jetzt sind die Jungen am Zug. So sieht es jedenfalls aus. Dem zuvor schon zum Partner avancierten steht in Aussicht, nun bald selbst in die Rolle des Vaters zu schlüpfen; jedenfalls wird ihm die bisher zensierte 13 Vgl. den Beitrag von Christoph Weismüller in diesem Band, der darauf hinweist, dass die vermeintliche Prognose eines „Alles-wird-gut“ ein Zweites Futur umgeht, die Formulierung einer Hoffnung auf ein „Alles-wird-gut-geworden-sein“.
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Frau nicht mehr vorenthalten. Er darf sich auf das Abenteuer einlassen. Doch was sich eine Weile noch ganz attraktiv ansieht, kann bald nicht davon ablenken, dass nur das Opfer der Frau dem Vertrag oder der Eroberung, gleichviel, wirklich dienen wird. (Abb.7)
Abb.7 Frauenopfer.
Dies wird in zweifacher Gestaltung, einer gegenwärtigen der Sublimation, einer verheißungsvoll zukünftigen der Wunscherfüllung, in Szene gesetzt, der Körper der Frau auf zwei Figuren verteilt. Die Belohnung hat sich verselbständigt, Belohnungen werden nicht verschenkt, sie kann man sich nur verdienen. Die Evidenz der Vertrautheit, wie sie die erste und die zweite Szene vielleicht noch ausstrahlen, lässt
Abb.8 Erste Belohnung.
nun sichtlich zu wünschen übrig. (Abb.8) Oder anders gesagt: am Ende wird nur noch gelächelt, gewünscht und versprochen. (Abb.9)
Abb.9 Zweite Belohnung.
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Abb.10 Zum Anfang zurück
Also muss man zum Anfang zurück. (Abb.10) Der über die Bilder gesprochene Text macht keinen Hehl aus den Absichten der Inszenierung. Wie man hört, geht es um die Vorsorge für die Zukunft: „Auf der Suche nach dem eigenen Weg ist ein Gespräch unter vier Augen durch nichts zu ersetzen. Plötzlich entdecken Sie, wie wichtig es ist, nicht nur an heute zu denken, sondern auch finanziell vorzusorgen. Für die Familie, den Beruf und die Zeit danach.“ Der Off-Ton macht Kompromisse. Halb macht er ein Angebot zur Deutung der Bilder, halb präzisiert er, worauf der schöne Anfang am Ende hinauslaufen soll – auf den Anfang. Das Kundengespräch mit der Bankberaterin ist inszeniert wie alle Episoden, als ‚Gesprächsszene‘. Doch was bisher nicht artikuliert zu werden brauchte, weil unsere Phantasie es tat, soll jetzt, wo einer der Beteiligten am Gespräch die attraktive Bank selbst ist, wenigstens ein Mal im Klartext zu hören sein: Vorsorgen heißt finanziell vorsorgen. Wie? Auf welchem Weg? „Vertrauen ist der Anfang von allem.“ Warum? Weil unter dem Eindruck solcher Mystifikation das Kreditgeschäft ganz natürlich läuft, wie von selbst. Das tertium comparationis in der Rede über den Vertrauensverkehr auf allgemein ökonomischer Basis14 und Wirtschafts- und Sozialverkehr auf Geld- oder Kapitalbasis ist die Kategorie des Kredits. Kredit geben und nehmen im überschaubaren persönlichen Verkehr heißt, dem Kreditnehmer durch Bereitstellung von Mitteln, die er nicht hat, die Möglichkeit zu verschaffen, ein gewünschtes Gut, das er bisher nicht beschaffen konnte, aber haben möchte, jetzt zu kaufen oder zu erwerben und später zu bezahlen. Wie bei einer synchronen Tauschhandlung braucht es dafür nicht unbedingt Vertrauen. Jedenfalls dann nicht, wenn der Sicherheit, für deren Bereitstellung der Schuldner sorgen muss, nicht mit dem Performativ eines bloßen Versprechens auf zukünftige Solvenz Genüge getan wird, sondern mit der vertraglichen Verpflichtung zur Überlassung eines realen Pfandes im Gegenwert des gewährten Kredits für den Fall der Nichtablösung nach vereinbarter Frist. Zudem werden in der Regel Gebühren dafür erhoben, wenn Kapital, wo es sonst beschäftigt ist und arbeiten muss, abgezogen und in Urlaub geschickt wird – Zinsen. 14 ‚Ökonomisch‘ hier im Sinne einer Minimierung der Verausgabung von Ressourcen, auch psychischen, durch Kalkulation.
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In einer anderen Geschichte könnte der Geber die Mittel, wenn er sie denn erübrigen kann, auch einfach herschenken, und die Sache wäre erledigt. Allerdings hätte es auch keinen Kredit gegeben, Vertrauen jedoch unter Umständen eine Menge, ohne weiteres Aufheben. Warum sollte es sich anderes verhalten müssen? Wenn der eine reich ist, der andere arm, und beide Freunde oder Verwandte sind, die sich mögen? Das ist die radikale Version der Gabe. „Die Gabe sollte ein Ereignis sein. Sie muss als Überraschung vom anderen kommen oder als Überraschung dem anderen zukommen; sie muss den ökonomischen Zirkel des Tauschs durchbrechen. Damit eine Gabe möglich ist, damit das Ereignis der Gabe möglich ist, muss es sich in gewisser Weise als unmöglich ankündigen.“15 Der Gabe ohne Austausch korrespondiert selbstverständlich die „Tugend eines Vielleicht“, die Tugend grundlos zu vertrauen.16 Die Symptomatik der Gabe ist demnach nicht per se deshalb durch Vertrauen zu erklären, weil damit die Kreditierung quasi logisch verbunden wäre, so dass jemand, der vertraut, jemand ist, der erwartet, in ähnlicher Situation ähnlich behandelt zu werden. Die Zurückweisung dieser Logik wiederum wird wohl nicht mit dem Argument gelingen, dass der Geber in diesem Fall mit Vertrauen kreditiere und Freundschaftsbeziehungen eben etwas anderes als Geldbeziehungen beinhalteten.17 Es muss ja nicht ausgeschlossen sein, dass der Freund dem Freund Geld leiht statt schenkt und darauf vertraut, dass er es zurückbekommt. Er kann es mit dem ausdrücklichen oder mit der Freundschaft schon implizierten Versprechen genug sein lassen und auf die Hinterlegung materialer Sicherheiten verzichten. Auch wenn es keinerlei weitere Sicherheiten gibt als dieses Vertrauen in die Freundschaft. Sein Gedächtnis könnte ihn stützen, sofern es auf gute Erinnerungen an vergangene Transaktionen stößt, doch zu wissen, was mehr als ein ‚vielleicht‘ brächte, gibt es nichts.18 Die zuvor gestellte Frage wäre dann, ob die Symptomatik der Gabe, wenn nicht ohne Weiteres durch Vertrauen zu erklären, zumindest in bestimmten Fällen durch Vertrauen zu erklären wäre. Abgesehen also einerseits von der unmöglichen Gabe, der das unmögliche Vertrauen korrespondiert, deren Korrespondenz aber eben wegen ihrer beidseitigen Unmöglichkeit nicht kausal zu interpretieren wäre, sondern als glücklicher Zufall im Sinne der Chancen eines Vielleicht. Abgesehen dann aber auch von der strengen, freilich wahrscheinlichkeitstheoretisch aufbereiteten Kausalität des ökonomischen Kalküls, das Vertrauen als psychische und praktische Disposition mit Blick auf 15 Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003 (zuerst Paris 2001), S.27. Die Wiederaufnahme von Gedanken aus Force de Loi; dt. Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt am Main, 1991. 16 Vgl. Jacques Derrida: Die Politik der Freundschaft, Frankfurt am Main 2000. 17 Was beispielhaft an der Diskussion um die radikale Dekonstruktion Derridas in Fragen der Freundschaft zu lernen ist. Etwa in der Auseinandersetzung mit Aristoteles, aber auch mit modernen Autoren wie John Rawls. 18 Siehe Derrida, Politik der Freundschaft, a.a.O.
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den Eintritt gewisser Ereignisse versteht, begleitet von einer Reihe von Sicherheitsmaßnahmen. Aber man könnte sich Fälle vorstellen, in denen es eine gegenwärtige Überlassung gibt, die sich ohne Widerspruch eines Beteiligten so lange als Gabe im Sinne eines Geschenks verstehen könnte, bis sich über irgendeine sich ergebende ‚Begleichung der Kosten‘ ein Tausch (möglicherweise auch ein Kauf ) ergeben hätte, gewisserweise als Resultat einer im Laufe der Zeit zwischen den Beteiligten akzeptierten Wertbildung, die nicht an den Markt gekoppelt ist. Man könnte meinen, man müsste korrigierend sagen, es wäre dann eine Weile der Fall gewesen, eine Weile habe es sich um eine Gabe gehandelt? Doch auch diese Konstruktion ist labil. Denn es bleibt zweifelhaft, wann in der Interaktion überhaupt von einer Gabe im Sinne eines Geschenks ohne Absicht die Rede sein darf. Schließlich müssen wir konzedieren, dass dieselben Handlungen unter verschiedenen Beschreibungen stehen können. Nehmen wir an, der Freund versteht seine Zuwendung durchaus im Sinne einer Ökonomie der Freundschaft. Sie ist es ihm wert, dass er ‚investiert‘. Weder setzt dies die allgemeine Ökonomie des Kredits außer Kraft noch die besondere des Vertrauens in der Freundschaft. Das liegt daran, dass der Tausch, soweit nicht als gesellschaftliches Verhältnis festgeschrieben, sondern abhängig von individuellen und ereignisspezifischen Wertbildungsprozessen, die seine jeweilige Abwicklung ermöglichen, eben keine verbindlich Preisbildung hervorbringt, die im Wiederholungsfall in Anschlag zu bringen wäre. Wiederholung bedeutet hier nicht mehr als es nicht zum ersten Mal zu tun. Woran man sich erinnern könnte ansonsten, wäre, ob es ein gelungener oder ein misslungener Tausch, ein zufrieden stellendes Ereignis war, eines, das den eigenen Wertvorstellungen (am besten auch denen des Partners) entsprach. Die memorialen Testate lieferten nichtsdestotrotz keine Gewähr für zukünftig gelingende Austauschakte. Es bleibt beim ‚vielleicht‘. Oben schon wurde das Oszillieren der Gabe zwischen Geschenk, Opfer, Ware und Waffe bemerkt. Immerhin wird ihre symbolische Codierung offensichtlich, wenn, was die Gabe ausmacht, unter diesem Namen inszeniert wird. Denn so wird sie ihre Bindungsabsicht wohl verkleiden, aber nicht völlig zum Verschwinden bringen können. Bei Strafe der Ineffektivität allen inszenatorischen und szenografischen Aufwands wird das Sicherungs- oder Vorsorgeunternehmen irgendwie erscheinen müssen – nebst den zweifelhaften Wirkungen, den damit angelegten Usurpationsabsichten. Inszenieren bedeutet also hier wie oft „mit den Losungsformeln [...] heilsmächtigen Unsinn dazu tun“.19 Dass der Feind schon in die Stadt gelassen wurde, scheint sich immer zu spät herauszustellen. Wollte man auf Irrtum plädieren, ein Missverstehen unterstellen, wäre vielleicht erkannt, dass ein Kommunikationsproblem existierte, doch nicht, dass kein Rechtverstehen zu erwarten war. Die zwangsläufig in der Symbolik verborgene Indexikalität lenkt 19
Jacques Lacan: Symbol und Sprache. In: ders.: Schriften I, a.a.O., S.112.
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die Aufmerksamkeit in verschiedene Richtungen, lässt unterschiedliche Objekte anbinden, zu nicht identischen Reihen verketten. Die osmotischen Eigenschaften der Zeichen zu durchschauen, bedarf es offenbar prophetischer Begnadung. Dabei ist Kassandras Warnung immer schon wiederholte Warnung. Was man von den Gaben der Danaer zu halten hat, weiß die Gegenspielerin des Odysseus nicht erst, als es mit Troja zu Ende geht. Doch keiner will ihr vertrauen. Niemand will gern zurück, wenn das Geschäft einmal gut in Schwung gekommen ist. Das hieße, Schuld anzuerkennen; Raub bei den einen, Mord bei den anderen. Kassandra will schon zu Beginn des Krieges, dass die Ihren dem Menelaos Helena einfach wieder zurückerstatten. Ihr war klar, worum es ging. Die Schlangen hatten ihr und dem Bruder Helenos die Ohren ausgeleckt, „damit wer Ohren hat zu hören, höre“. Die Geschwister waren eingeweiht, beide waren Schützlinge des Apolls, auch wenn sich der Gott Kassandra gegenüber vordergründig sehr eigensinnig zu benehmen schien. Des ungeachtet war Kassandra auch eine Priesterin der Athene.20 Die Rollen der Zwillinge sind aneinander geknüpft. Eine jede kann sich nur erfüllen, wenn die andere sich erfüllt.21 Die Seherin kennt die Erwartungen, aber auch das Risiko, und dass sich das Geschäft für keinen der Beteiligten letztlich lohnt. Ihre Argumentation verläuft zunächst durchaus auf dieser Ebene der Abschätzung. Der Führer der Griechen habe doch genug „Zelte voll mit Erz und Frauen die Menge“; warum jetzt noch „das Gold“ der Troer – bei diesem Risiko. Gefühle tragen durchaus mit dazu bei, wenn bilanziert wird. Darauf besteht Shakespeare. Wozu das alles, wo doch Paris ein Hahnrei, Helena eine Hure sei.22 Gegen Ende der hier betrachteten Episode dasselbe Bild. Ausgerechnet auf Odysseus, den Meisterszenografen, musste und sollte man vertrauen – und vertraute ihm tatsächlich. Denn er war derjenige, der den Abzug des Heeres inszenierte, der den Frieden brachte, den alle wollten, und den die Opfergabe, die er kreierte, zu besiegeln schien. Athene war die Schutzgöttin des Odysseus und Athens. Das Palladion der Städteschirmerin stand aber auch in der Burg Trojas. Den Plan mit dem hölzernen Pferd hatte Athene selbst mit erdacht. Dass es ihr geweiht war, lag auf der Hand, war nicht nur eine Geschichte, die Sinon, der Vetter des Odysseus, die Trojaner glauben machte. Die aber vertrauten mitnichten wie selbstverständlich der Geschichte Sinons, sondern erst einmal sich selbst. Denn sich hielten sie nach dem 20 Vgl. Ilias, II 224-236. Die Verteilung der Kräfte bei den Partei nehmenden Göttern ist ähnlich heikel. Apoll schadet Kassandra, die vor Trojas Untergang warnen will, kämpft aber auf der Seite Trojas, das er zu Zeiten von Priamos’ Vater noch von der Pest hatte heimsuchen lassen. Athenes Palladion steht in Troja wie in Athen. Zum Kontext siehe Herfried Münkler in: Odysseus und Kassandra, dem titelgebenden Aufsatz in: ders.: Odysseus und Kassandra. Politik im Mythos, Frankfurt am Main 1990, S.78-107. 21 Vgl. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig (Gleditsch) 1770, Nachdruck Darmstadt 1996, Art. Cassandra, Sp.639-644, Helenus, Sp.1125-1228; Zitat: Sp.641. 22 So jedenfalls Shakespeare in: Troilus und Cressida, II.3. „Ein hübscher Gegenstand, um Parteiungen und Ehrgeiz aufzuhetzen und sich daran zu Tode zu bluten.“
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vermeintlichen Abzug der griechischen Schiffe für die Sieger. Folglich waren sie auch in der Lage, mit den Opfergaben der Feinde nach Gutdünken zu verfahren. Und da sie das Pferd für eine Gabe der Griechen an Poseidon hielten, den die brauchten, um zurück übers Meer zu segeln, sahen die Troer Gelegenheit, sich an Poseidon zu rächen. Poseidon war ihr Feind, seit Priamos’ Vater dem Meeresherrscher den Preis für die Errichtung der Mauern Trojas schuldig geblieben war. Auch ein untergegangener Kredit. Dass die Troer das Pferd dann zum Tempel Athenes brachten, lag wiederum in ihrer Logik. Die athenische Athene hatte sich schließlich der troischen ganz offensichtlich unterworfen. Doch alles war Theater. Die troische Athene sollte sich, anders als es schien, zur athenischen bekennen. Deshalb musste sie mit Hilfe des Kassandrabruders Helenos befreit werden und die Stadt verlassen, bevor sie mit Hilfe des Geschenks der Griechen, das die Troer ihr widmeten, unter die Räder kommen würde. Sie taten es, doch sie wussten es nicht wirklich; denn was sie wussten, wussten sie nur vermeintlich. Offenbar vertrauten sie ihrem vermeintlichen Wissen. Nicht zuletzt um der Befriedigung des eigenen Narzissmus willen misstrauten sie jedenfalls allen Warnungen Kassandras, die nicht etwa an Odysseus, Pferd, Friede oder trojanischem Sieg zweifelte, sondern es tatsächlich besser wusste.23 Als sie sagte, was sie wusste, sperrte der Vater sie weg. Diagnose Geisteskrankheit. Seitdem ist Kassandra statt ein Fall für die Ökonomen „ein Fall für die Psychologen“.24 Dabei fällt die Bilanz eindeutig aus. Ein begonnenes Geschäft kann nur schwer zurückgedreht werden. Kassandras Gabe, zu hören und zu sehen, wird vom Verwalter der Prophetie nochmals ausdrücklich ‚verliehen‘; dafür will er ihre „körperliche Liebe“. Da ihm die Gegenleistung verweigert wird, der Austausch im Größeren jedoch in Gang kommt, nimmt Apollon Einfluss auf die Effekte in diesem größeren Ganzen, indem er den Effekt im Detail scheinbar kontraproduktiv beeinflusst. Die mit der Gabe Ausgestattete kann sich nicht täuschen. Ihr bleibt die Gabe Geschenk, zum Guten oder zum Bösen. Kassandra bleibt Seherin, doch niemand glaubt ihren Prophetien. Sie gerät zwischen die Fronten. Weil sie eine wirkliche Gabe besitzt – zu sehen, wo andere nur hoffen und vertrauen können –, wird sie wirklich zum Opfer – vergewaltigt vom lokrischen Ajax im Tempel Athenes25, geraubt und versklavt von dem, der sich das Gold des Priamos holt, in Stücke gehauen am Ende mit ihm zusammen von der rasenden Klytemnestra. Raub und Mord haben sich einmal weiter im Kreis gedreht. So können die Geschäfte weitergehen, die ansonsten unterbrochen würden. Zwar wird Bilanz gezogen in Troja und Mykene, doch das Rechnungsbuch wird nicht geschlossen. Herfried Münkler weist Kassandras Rolle dem Fach „Unheilsprophetin“ 23 Insofern ist es auch nicht besonders eingängig, wenn eine Seherin „skeptisch“ genannt wird. (siehe
Münkler 1990, a.a.O.). Ebd., S.88. 25 Noch ehe sie in die Sklaverei Agamemnons gerät, durch den lokrischen Aias. 24
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zu. Dabei hält er für ihre mangelnde Glaubhaftigkeit nur zum Teil den Inhalt ihrer Vorhersagen für verantwortlich. Den anderen Teil verantworte, so Münkler, Max Weber folgend, die fehlende Professionalisierung der Unheilprophetie. Dass Professionalisierung des Geschäfts mangelnde Glaubwürdigkeit kompensiert und Vertrauen schaffen kann, wird nicht zu leugnen sein. Doch lässt die Mediengeschichte daran zweifeln, dass „Unheilsprophetie“ geheilt werden muss, weil sie sich nicht „erwerbsmäßig lehren“ ließe und sie auch nicht „erwerbsmäßig verwertbar ist“.26 Jedenfalls müsste noch belegt werden, was eine professionell ausgebildete Unheilprophetin Kassandra hätte anders machen müssen, um erwerbsmäßig verwertbar zu sein. Die Aneignung eines persönlichen Profits (denn das ist die einzige Pointe, die „nicht erwerbsmäßig“ hier setzen könnte), könnte doch den Effekt, den Kassandra für den Fortgang des Austauschs insgesamt erzeugt, nicht aufwiegen. Kein Austausch ohne Opfer. Schließlich geht die Motivation, bestimmte Dinge mit Risiko zu betreiben, nicht zuletzt von denen aus, die davor warnen. Denn sie beschreiben mit dem möglichen Verlust den möglichen Gewinn. Da sie aber mit dem Verlust, den sie beschreiben, sich selbst als Opfer definieren, bestätigen sie die Gewinnerwartung derer, die nicht nur lieber den eigenen Berechnungen trauen, sondern auch lieber zu den Tätern als zu den Opfern gehören. In der Tat: „Kassandra mahnt nicht die transzendenten Grenzen der Politik, sondern deren immanentes Kalkül an.“27 Das tut sie, indem sie sich, ohne Alternative, hineinbegibt. Doch ist sie Sand im Getriebe. Sie wird am Bilde ihrer eigenen Göttin, die zugleich Göttin der Troer wie des Feindes ist, vergewaltigt, weil sie im Innern des Weihegeschenks für diese Göttin die Waffe denunziert. Nicht von ungefähr lässt Vergil die Unheilsprophetin die große Zukunft Roms voraussagen.28 Ansonsten könnte man, mit weniger Zweifeln an der Gabe, wie oben argumentieren, dass der Geber, der die Gegenleistung erst noch erwartet, solange nicht nur mit seiner ‚Gabe‘, sondern auch mit Vertrauen kreditiert, wie die Gegenleistung noch nicht erbracht ist. Doch auch das ist eine Pointe des Odysseus-Plans. Verständlicherweise kann Athene nur in die Tauschökonomie einbezogen werden, wenn sie auf einer Seite handelt. Sonst würde ihr Beitrag herausgekürzt werden können. Wahrscheinlich hätte es nicht einmal eines Sehers bedurft, um Odysseus klar werden zu lassen, dass Athene Troja erst verlassen musste, bevor die Stadt wirklich in die Hand der Griechen fallen konnte. Aber auch hier spielt Helena noch einmal eine Rolle. Ungewollt motiviert Helena Helenos’ verräterisches Handeln. 26 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. II, Tübingen (Mohr) 1983, S.118, zit. bei Münkler, a.a.O., S.147, Anm. 5. Weber macht dieses Argument freilich für die jüdische Unheilsprophetie geltend. Dass Kassandra vor einer „Politisierung ihres Sehertums [...] offenbar zurückgeschreckt“ sei (Münkler, ebd.), mag angesichts der Effekte, die ihr Handeln zeitigte, dahingestellt bleiben. 27 Münkler 1990, Odysseus und Kassandra, a.a.O., S.148. 28 Vergil, Aeneis, II,246ff.
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Nach Paris Tod streiten die Söhne des Priamos darum, wer von ihnen Helena zur Frau bekommen solle. Helenos unterliegt dem jüngeren Bruder Deiphobos, wendet sich deshalb gegen seine Heimatstadt und enthüllt das Geheimnis des Palladions, das nicht bleiben darf, wenn die Stadt fallen soll.29 Schon hier wird die erhoffte ‚Gegenleistung‘ der Göttin, der Sieg über Priamos, mit Vertrauen und Opfern, vorübergehendem Verzicht kreditiert, denn Odysseus muss die Griechen davon überzeugen, dass sie auf die Schiffe gehen und von der Beute vorerst ablassen. Natürlich um eines späteren, umso größeren Profites willen. Odysseus macht sich wieder einmal zum Händler. Im ersten Akt des Untergangs Trojas ist er es, dem die Verbündeten anstelle der Göttin vertrauen müssen. Doch auch Odysseus vertraut Athene. Sie wiederum hält ihn und die Seinen für ihres Vertrauens würdig. Denn sie hat ihn ja durch Kalchas und Helenos wissen lassen, dass ihr Palladion Troja verlassen muss, bevor sie der Stadt ihren Schutz entziehen kann. Schließlich ist das hölzerne Pferd nicht nur Werkzeug der List, sondern auch Opfergabe an die Göttin, die das in sie gesetzte Vertrauen beglaubigt und rituell erneuert. Und ihre Gegenleistung lässt nicht lange auf sich warten. Der Einsatz scheint sich vorerst verzinst zu haben. So begründen ‚Gaben‘ Verträge. „Diese rituellen Gaben nämlich sind bereits Symbole in dem Sinne, indem ‚Symbol‘ einen Vertrag bedeutet, und ferner, weil sie zunächst Signifikanten eines Vertrages sind, den sie als Signifikat begründen; denn es ist augenfällig, dass die Gegenstände des symbolischen Tauschs [...] nicht für den Gebrauch bestimmt“ sind.30 Nicht für den wirklichen Gebrauch, sondern nur seine Darstellung, ein Davon-Sprechen und Darüber-Schreiben, doch nicht für die Schlacht. Ob Gabe ob Ware, immerhin liegt der Fall hier insofern klar, als es stets eine Überlassung und ein Vertrauen gibt, auch wenn das Vertrauen an die Überlassung eines ‚Objekts‘ und die Erstattung seines Werts gebunden erscheint. So mag es den Anschein haben, dass der Zweck des Gebens am Ende in Kauf und Verkauf einer Ware beschlossen liegt. Doch da sich das Geschäft erst in der Zukunft erledigt, gehen die Erwartungen und Überzeugungen des Gebers, der zugleich Verkäufer und Käufer ist, nicht nur auf den Erhalt der Gegenleistung, sondern auch auf die Vertrauenswürdigkeit des Partners, die, in Ermangelung anderer Sicherheiten, die Rechtfertigung des Glaubens besorgen und sich also selbst Vertrauen erweisen muss. Die Vertrauenswürdigkeit des Partners ist, zugeschrieben vom Geber, eine Projektion der eigenen Vorleistung. Es ist diese Vorleistung, die seinem Vertrauen Substanz gibt, ihn in die Lage versetzt zu warten. Jedenfalls, wenn die Bedingungen nicht systemisch gesetzt und derart zwingend sind. Man sieht, die „andere Geschichte“, deren Besonderheit sie anders macht 29 Was 30
wiederum durch Kalchas vorhergesehen war. Lacan: Symbol und Sprache, in: ders.: Schriften I, a.a.O., S.112.
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als die Geschichten des Vertrauenserweises aufgrund „risikoreicher Vorleistungen“ (was nichts mehr bedeutet, als aufgrund dessen gewisse Erwartungen zu hegen), könnte nichtsdestotrotz als dekonstruierte Pointe der Kalkulationsgeschichte des Vertrauens gelten. Schließlich sind beide, die Ökonomie des Vertrauens nicht anders als das Vertrauen auf die Ökonomie, an ihre Darstellung gebunden. Auch ihre dramatisierte theatrale Fassung wird nicht umstandslos ins szenische Ereignis selbst umschlagen können, sondern ebenfalls mit einer ihrer Inszenierungsversionen vorliebnehmen müssen.31 Sollte die wirklich andere Geschichte tatsächlich darin bestehen, schlicht zu vertrauen, würde man keinen gesonderten Auftritt, keine besondere Darstellungsform isolieren können. Allenfalls könnte man vermuten, dass es sich so verhalten könnte. Vielleicht. Vielleicht aber auch anders. Kommen wir zurück auf unseren Werbespot. Die darin beschlossene Metaszenografie für den Hybrid einer Inszenierung von Vertrauen angesichts der Mystifikationen des Kapitals wie darüber hinaus und, damit verbunden auch ganz beliebiger Formen der Inszenierung realen Scheins gemäß solchem Entwurf, weist uns auf die in der Differenz von Inszenierung und Vertrauen beschlossene Differenz von Darstellung und Ereignis. Das Ereignen selbst nötigt (sich) nicht zur Artikulation über den vergänglichen Ausdruck des szenischen Geschehens hinaus. Insofern spricht es nicht (und man bemerkt, warum die medialen Überformungen inszenatorisch nicht nur in Bilder, sondern auch in Sprache und Schrift investieren). Ganz anders aber schon unter dem Einfluss artikulierter Intentionen, die über die vollzogener Handlungen und Ereignisse hinaus gehen. Seien es Inszenierungsprojekte, die den Abstand der Akteure zur Szene signalisieren und sich als solche äußern, seien es Fassungen szenografischer Entwürfe, die im Abstand der Planung, vorgehender Entwicklung von Narrativen und Dramaturgien zu eigenem Ausdruck finden und so in der Differenz zum Ereignis stehen, das sie nichtsdestotrotz im Visier haben, seien es mediale Produktionen in unterschiedlichsten Formaten und eigenen Performanzen von Präsentation und Aufführung, seien es Berichte, Dokumentationen, Beurteilungen, Kritiken, Würdigungen, allgemein Darstellungen, die rund um die Ereigniszeit herum die Variationen des Ausdrucks beleben: Nur die wenigsten sind allein für die bloße Wahrnehmung und damit verbundene Intuitionen auf Evidenz. Die Darstellungsweise der meisten dieser ‚Inszenierungen‘ provozieren aufgrund ihrer besonderen Form der Ausdrücklichkeit, vornehmlich in den Artikulationen von Propositionen und Ausdrücken propositionaler Einstellung, epistemische Fragen. Und da dies die Frage nach der Wahrheit der aufgestellten Sätze beinhaltet, wird man sich um die Frage nach der Zulassung möglicher Antworten darauf nicht herumdrücken können. Im Zweifelsfall derart, dass jemand entweder weiß oder nicht weiß, wobei die zweite Variante wohl die verbreitetere sein wird. Was von 31 Die dann selbstverständlich zu einer ‚Aufführung‘ und einem entsprechenden Event führen kann.
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hier aus zu Darstellung und Sprache drängt, wird, unter gehöriger Betonung des Nichtwissens, auch vom vor der Hand Verborgenen handeln. Dass manche Akteure in bestimmten sozialen Kontexten – Ereignen und Erleben – dem ‚inszenierten Vertrauen‘ keinen Raum geben, nicht vertrauen mögen, auch selbst Kalkulationen und Abschätzungen in diesem Sinne nicht anstellen und auch „Risiken“ und „Sicherheiten“ nicht im Kontext vertrauensvollen Umgangs erwähnen wollen, wenn es etwa um die Freundschaft geht, bedeutet mithin nicht, dass solche Beziehung nicht dennoch von Vertrauen geleitet sein, Vertrauen darin wirken könnte. Und, so darf man intuitiv mutmaßen, wo solch wirkliches Vertrauen das Regiment hat, wird und muss es immer das ganze Vertrauen sein, dasjenige, das als emotionale wie rationale Befindlichkeit gerade recht, notwendig und hinreichend ist, Handlung und Urteil im maßgeblichen Kontext zu bemessen. Zudem wird das ganze Vertrauen auch immer den gesamten Vertrauensvorrat einer Person ausschöpfen. Was, wie gesagt, an der Evidenz des Erlebens liegt, die in einer solchen Darstellung zum Ausdruck kommt, worin man sich nicht auf die Gegenstände des Vertrauens richtet, sondern auf den Ausdruck selbst. Dass er darstellungslogisch verständlicherweise den ganzen Ausdruck ausmacht und folglich nicht territorial verteilt werden kann, liegt auf der Hand. Also wird man hier nicht „ein bisschen vertrauen“ können. Vielmehr, „ein bisschen zu vertrauen“ hieße zu misstrauen – was ebenfalls aber in einer Logik des Vertrauens, die nicht zuletzt die semiotischen Relationen von Vertrauensausdrücken darzustellen hätte, verhandelt werden müsste. Über die tatsächliche psychische Dynamik im Erleben selbst dürften selbst die Eigner der Affekte und Einstellungen über die Äußerung der szenisch präsenten Symptome hinaus kaum Auskunft geben können. Die Inszenierung, verstanden als herangetragene mediale Veranstaltung zur Szenifikation, hätte also bei diesen Akteuren, bei ihren vertraut freundschaftlichen Unternehmungen, selbst angesichts zur Sprache gekommener Äußerungen der Beteiligten darüber kaum eine große Chance zum Zuge zu kommen. Denken wir an das abgeschlossene Szenario des Spaziergangs von Vater und Sohn im sonnig sommerlichen Hochwald. Doch wird uns auch gezeigt – und zugemutet –, dass solche Empfindungsund Überzeugungsbefindlichkeiten wie Vertrauen durchaus als bildbar, herbeiführbar betrachtet werden können. Dabei lernen wir, dass die eingesetzten „Überzeugungsmittel“32 (der Enthymeme, wie Aristoteles in der Rhetorik solche Werkzeuge nennt), die Medien, sowohl beispielhaft als auch selbstbezüglich arbeiten. Denn 32 Aristoteles, Rhetorik. (enthýmema – das Erwogene, das Beherzigte, und schließlich in diesem Sinne: das Argument.) Freilich sind damit auch in der Rhetorik nicht einfach nur sprachliche Mittel gemeint. „Von den Überzeugungsmitteln sind die einen redetechnisch, die anderen nicht. Mit nicht redetechnisch bezeichne ich alles, was nicht durch uns selbst geschaffen ist, sondern bereits vorlag.“ Ersteres muss „auf Grund einer Methode“ organisiert werden, während man „das andere jedoch finden muss.“ (ebd., Erstes Buch, 1355b, 35f ).
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die Aufführung passender Szenen zeigt sich nicht nur im Bildraum exemplarischer Inszenierung. Die Inszenierung betrachtet die von ihr verantwortete Aufführung nicht allein als Projektion einer für die Zukunft erwarteten Widerholung in die Vergangenheit gegenwärtig erlebter Vertrautheit im phantasierten szenischen Raum. Nein, die Demonstration ist auch inszenierte, mediale Praktik, Praxis einer Inszenierung, in diesem Sinne Manifestatio, die stets als solche ein massives performatives Interesse am Vertrauen aller anwesend Beteiligten geltend macht. Durchaus echtem, wirklichem Zutrauen – auch wenn das Medienereignis und das Ereignis im Verständnis des Narrativs verschiedene Erlebnisdimensionen indizieren. Die Szenifikation, der die Anwesenden gerade beiwohnen, interessiert. Wim Wenders und Alessandro Baricco werden sich nicht mit dem Umsatz von Barilla als Regisseure oder Autoren empfohlen haben.33 Wie man sich den Szenen eines spannenden Films überlässt, anvertraut, und nicht dauernd auf Subtext, Kadrierung und Lichtsetzung reflektiert und womöglich auf die manipulativen Absichten der Produzenten. Dieses Sich-Anvertrauen heißt nicht auch schon zu behaupten, dass das alles so passt, recht ist, wie es (mir) erscheint (denn die Äußerung würde sich auf eine, wenn auch möglicherweise ganz nahe, Zukunft richten), heißt aber sehr wohl, dies bereitwillig in Erwägung zu ziehen und tatsächlich, wenn nötig, Zug um Zug, sozusagen, auch zuzugeben, wenn gefragt werden sollte und soweit kein Anlass besteht, irgendeine Störung zu monieren. Es ist das Identifikationsmerkmal dieses Zutrauens, dass es, einmal gefasst, das vage Bewusstsein einer veranlassenden Szenografie, die damit möglicherweise einhergehende Skepsis gegenüber der Hergestelltheit des Erlebnisses, gar ihren Zwecken, zugunsten der szenischen Performativität des Ereignisses hic et nunc vergessen machen kann. Vergessen im Maße der sinnlichen und sachlichen Überzeugungskraft dessen, was gerade gespielt wird. ‚Überzeugungskraft‘ freilich gehört unter die hier vorliegende Beschreibung und markiert somit eine Zeitstelle, von der an die Frage, ob die Beschreibung zutrifft oder nicht, im Raum ist. Auf die Situation bezogen würden wir vielleicht besser lediglich von einem Effekt, einer Wirkung sprechen, deren Wirkmächtigkeit allerdings gerade darin bestünde, am Ort und zum Zeitpunkt ihrer Einflussnahme nicht zu erscheinen, die nur im Nachhinein, im Anschluss an die Diagnose der Unauffälligkeit, jedenfalls des Fehlens jeder Art von Irritation, weniger erschlossen als erwogen zu werden vermöchte. Mit gehörigen Einschränkungen im Blick auf die Gewissheit der damit einhergehenden Urteile. Mit vergleichbaren Tatsachen eines ‚Phänomens‘, dessen Phänomenalität in seinen Effekten liegt, zu denen gehört, im Ereignis, dem sein Auftritt gilt, selbst nicht zu erscheinen, haben wir es beispielsweise zu tun bei den „verschwinden machenden 33 Wim Wenders verfilmte 2002 ein 90-Sekunden-Drehbuch des italienischen Bestsellerautors Alessandro
Baricco zum 125-jährigen Jubiläum des Nudelfabrikanten: Il Lavoro continua.
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Effekten“ im Zusammenhang der Produktion von VFX-Dissimulationen im Film, digital special effects, die im Unterschied zu den simulativen Spezialeffekten Bilder von allem Störenden, all dem reinigen, was gemäß Drehbuch und Mise-en-scène nicht auf der Leinwand erscheinen soll. Der Zuschauer wird nie mit Sicherheit sagen können, welche Bereinigungen über VFX-Dissimulationen erfolgt sind und auf diese Weise beim Zuschauer Wirkung zeitigten. Es ist also berechtigt zu sagen, dass ein Bewusstsein solcher Effekte dort, wo sie wirken, so gut wie nicht gegeben sein wird. Und wenn es sich meldet, dürfte es sich selbst regelmäßig nach seiner Berechtigung fragen, aufgrund wessen es eigentlich aufgeschreckt wurde. Symptome, wie man weiß, sind vielleicht am Ende einer Analyse indizierbar. Die Evidenzen des beispielhaft bebilderten Claims der Deutschen Bank sind also auch deswegen so mächtig, weil nicht nur die Inszenierung von Vertrauen derart in Szene gesetzt wird, dass die entscheidenden Episoden der Geschichte tatsächlich kontrafaktisch intuitiv wirken und von daher Evidenzen erzeugen. Dazu kommt, dass die mit Auftritt und Format verbundene Notwendigkeit der Erzeugung von Vertrauen in eben diese mediale Repräsentanz von Inszenierung und Szenografie tatsächlich dazu führt, dass die zugehörigen Wahrnehmungseffekte ebenfalls ohne relevante Irritationen sichergestellt werden können. Die Evidenzerzeugung via Bildkraft bzw. entsprechende Evidenzerfahrungen beim Rezipienten gehören zu den Effekten der Phänomens. Und das Phänomen, das selbst nicht erscheint, taucht auf als ein Effekt der Evidenz. Darum ist Vertrauen der Anfang von allem. Man müsste ergänzen, von allem, was zum Sich-Ereignen und seinen Evidenzen gehört. Doch gilt es natürlich auch in instrumentellem, medientechnischem Verständnis: für die Vertrauensdispositionen und -handlungen, wie sie die Werber in ihrer Arbeit erreichen müssen, in jeder ihrer Inszenierungen. Sie müssen wollen, dass die Inszenierung zu einem Ereignis wird, wenn irgend möglich, einem gelungenen und gebilligten. Wir haben erläutert, dass dies bei derartigen Aufträgen, verständlicherweise je länger es dauert desto schneller, mit zunehmend weniger intuitiv überzeugenden Bildern passiert. Der vorgestellte Spot der Deutschen Bank legt indes noch Perspektiven einer weiteren Weichenstellung nahe. Er indiziert zwei verschiedene Weisen, in denensich Vertrauen verstehen und aktivieren lässt, zunächst unabhängig davon, ob auf spezifische Bereiche sozialen Austauschs angelegt oder mehr auf den Inszenierungsprozess selbst orientiert. Soweit bisher aber vor allem mit Blick auf die Architektur der Vertrauensverhältnisse selbst hin problematisiert wurde, sei hier darauf hingewiesen, dass der Befund weit ausschließlicher für die mediale Form gilt. Einmal finden wir die Tendenz zur Immunisierung gegen die Empirie zugunsten des Imaginären und der Mystifikation, das ist: eines festen Glaubens an Darstellung und Erleben im Sinne von Fiction, trotz Darstellung und Erleben in der konkreten Welt persönlicher
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und sozialer Erfahrung, (‚Darstellung‘ jetzt im Sinne einer Fiktion, die zur Realität gehört). Dieser Weg verweigert die Zumutungen der Differenz; ein (unter Umständen vielleicht durchaus heilsamer) Effekt des Sich-Versteckens vor der szenografischen Maschinerie, insbesondere den medialen Techniken und Implementierungen auf Seiten der Darstellung wie des Erlebens. Der andere Weg führt zur Bereitschaft, jede Kreditierung durch Vertrauen ins Verhältnis zur Wirkung argumentativer, emotionaler und medial ästhetischer ‚Überzeugungsmittel‘ zu setzen; dies Effekte der Überzeugungskraft und Angemessenheit auf Seiten der Darstellung wie der Akzeptabilität und Akzeptanz auf der Seite des Erlebens und Ereignens. Die Effekte hier, in jedem Fall, sind solche mit kurzer Halbwertzeit. Denn selbst der heißeste Glaube muss ständig erneuert werden, wie der greise Adson von Melk am Ende seines Lebens berichtet.34 Und es geht nicht, wie oben erörtert, um die Halbwertzeiten im Rahmen eines Inszenierungsdispositivs als solchem. Dies hieße eine neue Mystifikation zu beschwören. Diese Weichenstellung und die daraus folgende, um es schlagwortartig zu sagen, spekulative oder empirische Verankerung des Vertrauens sind nicht zwangs läufig mit der unterschiedlichen Lenkung persönlicher Vertrauenspraktiken verbunden. Dass vielfältige Aktivitäten und Erfahrungen in vertrauenssensiblen Beziehungen, in der Freundschaft etwa, eher dazu führen, metaphysischen Positionen des Vertrauens und Glaubens distanzierter gegenüberzutreten, mag vielleicht naheliegen, andererseits kann es sein, dass dies wesentlich mit der Qualität dieser Erfahrungen zu tun hat, so dass sich im Einzelfall genauso gegenteilige Reaktionen verstehen und begründen ließen. Wie auch immer. Obwohl man auch in dieser Hinsicht systematische Koinzidenzen erwarten könnte, führt die Weichenstellung in eine der genannten Richtungen ebenfalls nicht zwangsläufig dazu, dass erfahrungsbezogenes Vertrauensverhalten reflektiertes und geplantes Handeln bedeutet, vom „Willen zum Glauben“ (Peirce) geprägtes, „seeliges“ Vertrauen hingegen spontanes und „blindes“ Tun zeitigen müsste. Dies alles betrifft eher kontingente Umstände. Das mag überraschen angesichts dessen, dass wir an dieser Differenzierung eingangs gezeigt haben, dass je nachdem von ihr der Zugang zur und der Umgang mit der Inszenierung abhängig sein dürfte. Doch die Unterscheidung trat bei der Analyse der Werbebotschaft als Resultat einer strategischen Überlegung zur Effektsicherung zu Tage. Bei der zuletzt erörterten Gabelung hat sie mit unterschiedlichen emotionalen und epistemischen Positionierungen zu tun. Koinzidenzen und Überschneidungen im Einzelnen sind nicht systematisch verallgemeinerbar, denn das Feld, von dem die Rede ist, gehört zum Einzelgegebenen des Praktischen. Um dies deutlicher zu machen, ist es hilfreich, die Beziehungen im Netz von Vertrauenseinstellungen und -handlungen im Beispiel noch genauer in den Blick 34
Siehe Umberto Eco: Der Name der Rose, München 1982, S.7/363.
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zu nehmen. Aus der Perspektive der dreißigsekündigen Werbebotschaft stehen die Ambitionen der Inszenierung, die Intentionen der Szenografen, wenn man so will, im Vordergrund. Was inszeniert wird, ‚Vertrauen‘, ist von dort aus betrachtet zunächst nichts mehr als eine Art Manipulationsgegenstand von Drehbuch, Auflösung, Miseen-scène. Wenn die Analyse nun geltend macht, dass diese Medienkonstellation, offengelegt und komplett betrachtet, für die Zwecke vertrauensbildender Maßnahmen eher kontraproduktiv erscheint, und daher die szenografische Konsequenz versteht, den Inszenierungscharakter und damit die ökonomische Intention, um der besseren Wirkung willen, möglichst zu verheimlichen oder unsichtbar zu machen, heißt das selbstverständlich nicht, dass die Filmemacher im Auftrag der Deutschen Bank vergessen haben könnten, dass sie an einer Inszenierung arbeiten. Einer Inszenierung mit dem Ziel, Menschen zu Handlungen zu bewegen, vielleicht zu verführen, zu deren Voraussetzung die Bereitschaft gehört, den Partner, in dem Fall eine Bank, mit einer bestimmten Portion Vertrauen zu kreditieren. Dies aber ist ein offensichtlich rationaler, auf einer ganze Reihe empirischer Daten fußender Gestaltungskontext mit einer klaren Vorstellung von den wünschenswerten Effekten der geplanten Inszenierung und Szenografie. Der wiederum darf mit der Offenlegung der Dekonstruktion nicht verwechselt werden. Nicht dass es bedeutete, dass die Szenografen gar nicht vermöchten, deren Nichtinszeniertheit in Form zu gießen. Im Gegenteil. (Jedenfalls hat Derrida an verschiedener Stelle ja an einem solchen Projekt gearbeitet.) Der Grund ist schlicht der, dass es sich um einen anderen Auftrag, eine andere Inszenierung und eine andere Szenografie handelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass die um den Vertrauenskredit bemühte Filmproduktion eine institutionelle Adresse hat, sich aber an den ‚Privat‘-Kunden richtet. In dieser Konstellation kommen offenbar Symmetrieprobleme von Vertrauensverhältnissen zum Vorschein, die noch anders gelagert sind als im Fall der zeitlichräumlichen Ordnung von Vertrauenshandlungen und -verhalten. Allerdings, auch das zeigt der Spot, sind die personalen, besser Subjekt-Objekt-Relationen mit diesen Registern verbunden. Und auch hier versucht die Inszenierung, wie für den Fall vordergründig temporaler und lokaler Asymmetrien zwischen Inszenierung und Ereignis, Asymmetrien zwischen den beteiligten Akteuren im Vertrauensverkehr zu heilen. Das tut sie mit Hilfe von Metaphern und den tatsächlich dazu gelieferten Bildern. Verfolgt man die Szenografie unseres Films vom Ende zum Anfang, steht das Ende des Spots in Bild und Ton den kommerziellen Absichten der Werbebotschaft am nächsten. Sie ist es, die am Ende das Medium dominiert (reine Typografie im letzten Bild). Folglich erscheint hier die Unausgewogenheit im Verhältnis der Partner, die sich gegenseitig kreditieren wollen bzw. sollen, am größten. Auf der einen Seite des Schreibtischs sitzen die Privatleute, ein junges Ehepaar, auf der anderen Seite des Schreibtischs die Beraterin der Deutschen Bank. Der Schreibtisch
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steht selbstverständlich in der Bank und die Beraterin selbst ist mit ihr verkabelt. Und nachdem wir zuvor schon die da noch allgemein gehaltene Sentenz gehört haben, dass über den eigenen Weg nachzudenken auch bedeute, für Familie, Beruf und die Rente vorzusorgen, heißt es nun, dem Ende zu, unmissverständlich: „für die richtige Geldanlage und Lebensversicherung“ sei es gut, wenn man bei der Deutschen Bank jemanden habe, mit dem man derartige Investitionen beraten könne. Dann folgt als Abbinder in Wort und Schrift der Claim, der den ganzen Spot kompositorisch zum Loop werden lässt. Mit dem Ende der Botschaft – „lassen Sie sich bei der Deutschen Bank über Geldanlagen und Lebensversicherung beraten“ – verknüpft er den „Anfang von allem“, das Vertrauen, das im medialen Geschehen hier, am Ende des Films, konsequenterweise weder in Bild noch in Ton noch eine eigene Rolle spielt. (Selbst die bis dahin die Szene bestimmenden „vier Augen“ fehlen, um Vertrauensverhältnisse zu indizieren). (Abb.11)
Abb.11 Zurück zum Bild.
Was bleibt am Ende – die Welt des Kapitals ist abstrakt – ist nur noch das geschriebene Wort. Ein Menetekel auf dem Schirm. Doch noch ist es nicht hingeschrieben, da verblasst es auch schon und ist unterwegs zum Anfang, zur ursprünglichen Szene. Aber nun wissen wir um die Mystifikation, es gibt keine Anfangsszene, am Anfang steht nichts als ein Bild. Das erste Bild eines Werbefilms, der die richtigen Bilder liefert, um möglicherweise eine profitable Geschäftsbeziehung in Gang zu bringen, die so – richtig – irgendwann zustande kommen soll. Mit der Begegnung auf der Kinoleinwand oder am Fernsehgerät indes ist sie längst schon im Gange.
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Christoph Weismüller VERTRAUENSINSZENIERUNGEN. DIE INSZENIERUNG ZWISCHEN VERTRAUEN UND MISSTRAUEN
1. ZWISCHEN VERTRAUEN UND MISSTRAUEN
Um das Verhältnis von Inszenierung und Vertrauen angemessen bestimmen zu können, ist es sinnvoll, beide Phänomene zunächst hinsichtlich ihrer Grenzen und Gemeinsamkeiten genauer zu befragen. Ihre Grenzen finden Inszenierung und Vertrauen an ihrer Negation, die Inszenierung am gefertigten Produkt, das heißt an der Stase, der Statik, der Bewegungslosigkeit, dem Begriff, dem Bild (Abb.1), am Ende einer Bewegung; das Vertrauen am Aufbrechen einer – womöglich vermeintlichen – Sicherheit, am Aufkommen von Misstrauen. Inszenierung und Vertrauen scheinen also wie gegeneinander und aufeinander zu zu laufen und der Ort ihrer Gemeinsamkeit scheint der des Umschlagens zu sein, der Ort des Übergangs von Bewegung in Ruhe und von Ruhe in Bewegung, radikaler und philosophisch formuliert: der Treffpunkt von Sein und Nichts, von Fusion und Diskrimination, von Selbst und Anderem, von Leben und Tod. Treten Inszenierung und Vertrauen jeweils am Ort der Negation des Anderen auf? Wie steht es um das Verhältnis der zu diskutierenden Positionen zu ihrer Negation? Wie ist es um das Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen beschaffen? Können sie als zwei voneinander klar und deutlich getrennte, aneinander anschließende Zustände in einem sie aufeinander beziehenden unabhängigen Dritten begriffen werden? Sind Vertrauen und Misstrauen in ihrem Verhältnis zueinander angemessen erfasst, wenn Folgendes behauptet wird: Wir können – in der Dauer unserer Existenz – so lange vertrauen oder misstrauen, bis wir jeweils vom Gegenteil, besser: von der Unangemessenheit des Ver- oder Misstrauens überzeugt werden konnten? Ist das Verhältnis mit den folgenden Aussagen hinreichend erfasst? 1. Wir können (in der Dauer unserer Existenz, die auf der antizipierten Falsifikation der Existenz gründet) nicht immer vertrauen. 2. Wir können (in der Dauer unserer Existenz, welche die Dauer zu falsifizieren ansteht) nicht nie vertrauen. Solcherart thetisch behauptende Konstruktion lässt sich denken als ein durch die Brechung seiner Extreme hübsch moderiertes Zeitigungsverhältnis. Könnte jedoch alles ganz anders sein, als ein Rationalismus suggeriert? Damit meine ich: Könnte es so
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Abb.1 Francisco de Goya y Lucientes, Madrid-Album: „Nur weil er sie fragt, ob es ihrer Mutter gut gehe, reagiert sie wie eine Tigerin“ (1796/1797).
Abb.2 Vgl. Francisco de Goya y Lucientes: Zeichnungen für Los Caprichos: Die Liebe und der Tod; 1797-1798, Rötel auf Papier, 19,5 × 14 cm; Madrid, Museo del Prado.
sein, dass wir – Frauen anders als Männer, Eltern anders als Kinder – immer – das heißt: alle Zeit in der Dauer und über dieselbe hinaus memorial scheinbar abgesichert – vertrauen, und zwar weil wir immer misstrauen? Lassen sich Vertrauen und Misstrauen überhaupt nicht, zu und in keiner Zeit, voneinander trennen? (Abb.2) Sind sie immer, das heißt: all-zeit, einander begleitend verwoben? Um solche Fragen beantworten zu können, müssen weitere Fragen aufgeworfen werden, vor allem die folgenden: Was sind Zeit und Zeitigung? Sind sie die gegenseitige Durchwirkung und darin deren Widersprüchlichkeit, deren Differenz wahrende Vermittlung der Extreme von Allvertrauen und Nievertrauen, diesen Vertretern von Sein und Nichts? Ist in diesem Sinne differenzproblematischer Durchwirkung, Unschärfe, Unreinheit alle Zeitigung exklusiv als Bewegung der Durchwirkung, gegenseitiger Nichtung und Brechung möglich? Sind Zeit und Zeitigung somit nur als Bewegung der Raumbildung, -erhaltung und -nichtung, und zwar im Sinne der Darstellung des Auf-Null-Gehens, des Zum-Ende-Bringens des Raums möglich? Ist mithin Zeitigung als Inszenierung zu denken und Inszenierung als Zeitigung und Darstellung des Verhältnisses von Vertrauen, Allvertrauen und
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Misstrauen, Nievertrauen? Sind Zeitigung und Inszenierung respektive Zeitigung als Inszenierung also allein möglich auf der Basis des fundamentalen Verhältnisses von Misstrauen, das dem Kommen des Nichts vertraut, und Vertrauen, das dem Kommen des Nichts misstraut? Sind Zeitigung und Inszenierung mithin allein auf der Grundlage dessen, was etwa der Rationalismus auszuschließen versucht? Sind sie aufgrund der Differenz, die sich als Widerspruch erhält? Mit anderen Worten: Ist Rationalismus die Inszenierung einer Vertrauenssicherung, zu derer Konstitution ein fundamentales Misstrauen gehört, das womöglich allererst zur Arbeit der Konstitution motiviert? Welches Misstrauen wird hier bedacht? Worauf und wogegen könnte solches Misstrauen gerichtet sein? Auf was und gegen was Anderes könnte es gerichtet sein, als wider das Nichts, also auf und wider das, was Misstrauen und damit Vertrauen unmöglich macht, das heißt das Schwinden von Misstrauen? Misstrauen gilt grundsätzlich demjenigen, was nicht darzustellen, was aller Darstellungs-, aller Inszenierungsmöglichkeiten beraubt ist; Misstrauen richtet sich wider und auf den Tod. Doch das Misstrauen kann zwar auf den Tod gerichtet sein, nicht aber durch ihn motiviert, da dieser nicht repräsentierbar, nicht darstellbar, nicht inszenierbar ist. Darstellbar, inszenierbar wird der Tod erst anhand einer vermittelnden Gedächtnisbildung. Das heißt, der Tod ist in der Dauer des Humanen nur als vermittelter und niemals unmittelbar wahrzunehmen, zu erfahren, zu erkennen. Mithin muss der Tod am Ort des Anderen erscheinen, um für mich eine Realität zu gewinnen und die Ausbildung meiner Wirklichkeit bestimmend mitgestalten zu können und die Kriterien zur Inszenierung von Wirklichkeit einzuführen. (Abb.3)
Abb.3 Francisco de Goya y Lucientes: Zeichnungen für Los Caprichos: Die Liebe und der Tod; 1797-1798, Rötel auf Papier, 19,5 × 14 cm; Madrid, Museo del Prado.
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Erfährt hingegen ein Mensch den Tod selbst, erfährt er diesen unmittelbar und somit undargestellt, so erfährt er denselben nicht, sondern er erleidet ihn, er stirbt den Tod, er ist tot. Der Tod am Ort des Anderen respektive die mit diesem erfahrene Funktion des Anderen bildet sich von daher zum – sadistischen – HominisationsProgramm: Der Andere erhält im Rahmen des ermöglichten vermittelten Selbstbezugs den Ort und die Funktion des Sterbens-für-mich; er wird zu meinem Todesträger respektive zum Träger meines Todes; er imponiert dergestalt als die Bannung, aber auch als das Gedächtnis des Todes und somit zugleich als die Möglichkeit der Erinnerung und Rückvermittlung des auf den Ort des Anderen hin phantasmatisch verschobenen Todes. Er begegnet mir als die permanente – zumindest potentielle – Bedrohung und Bedrängnis, als mein „Nicht-Ich“. Gerade dieser Andere, das potentiell bedrohende „Nicht-Ich“, stellt aber die Grundfigur des Vertrauens, die Bedingung für ein gesichertes Ich dar, das dadurch sich und eine Sicherheit erfährt, dass es den zu sterbenden Tod am Anderen wahrnimmt und erkennt. Erst übers immer bedrohlich bleibende „Nicht-Ich“ kann ein Ich konstituiert werden. Aus der initialen Position des Vertrauens entspringt also immer wieder, wie einst aus der Büchse der Pandora, alles Misstrauen. – Es ist die Mutter, die die unzähligen nicht gestorbenen Tode ihres Kindes zu ihrer maternalen Ich-Konstitution lebendig, korporal wie mental, versammelt, diese Todesabwehrmodi dem Kind gestalt- und abwehrbildend (mannsvermittelt) repräsentiert und somit auch und gerade als Rettende, als ins Leben durch Gedächtnis- und Vertrauensbildung Verführende stets die Bedrohliche, die den Tod Verfügende und Vollstreckende bleibt. Ihre dergestalt akkumulierte Todestriebpotenz ist ihr vom Anderen, dem anderen „Nicht-Ich“, vom Mann, wiederum zu ihrer Rettung zu vermitteln, und zwar vorab und derweil und hernach: durch die Verdinglichung, durch die Produktion von Dingen, von material isoliertem totem „Nicht-Ich“, gefertigt aus dem – objektivierten, außenverfügbar gemachten – Opferstoff des maternalen Körpers zur phantasmatischen phallischen Selbstbegründung entlang der Schaffung von objektiven Weiblichkeits-, Nicht-Ich-, Anderen-Verfügungen. (Abb.4)
Abb.4 James Abbot McNeill Whistler: Arrangement in Schwarz und Grau, Nr. I: Die Mutter des Künstlers, 1872, Öl auf Leinwand, 142 × 160 cm; Paris, Musée d’Orsay.
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Worauf also ist das Misstrauen gerichtet? Es ist gerichtet auf die Repräsentation des Todestriebs und auf die offensichtliche Unmöglichkeit, denselben in den – vor allem dinglichen – Modi seiner Repräsentation verschlossen zu halten. (Abb.5) Das heißt:
Abb.5 Vgl. Francisco de Goya y Lucientes: Zeichnungen für Los Caprichos: „Sie schämt sich ihrer Mutter, die sie auf der Straße anbettelt, und sagt zu ihr: Würden Sie mich bitte entschuldigen“; 1797-1798, Feder in Sepia, mit Chinatusche laviert, auf Papier, 24,5 × 16,9 cm; Madrid, Museo del Prado.
Es ist gerichtet wider die stets vom Anderen her zu befürchtende Todesbedrängnis, wider die Öffnung, die Apo-Kalypse aller Verlässlichkeitsinszenierungen, aus denen die Kultur, dieser Ausdruck humaner Existenz, diese objektiv funktionalisierte Darstellung und Gestaltung der Nöte des Menschen besteht. Muss nicht jede Inszenierung von Verlässlichkeit und Vertrauen, jede Überbrückung einer Todesgefahr ihr Wesen bergen? Das heißt: Muss diese Brücke nicht Gedächtnis des Todes und – immer wenn sie, diese göttliche Unberührbarkeit der Todesüberwindungshoffnung, einem eher profanen Gebrauch unterworfen wird – auch Motiv der Erinnerung des – nicht gestorbenen und an dieser Stelle der profanen Schändung der Inszenierung des Unsterblichkeitsbegehrens abgeforderten – Todes sein? (Abb.6) Die Brücke ist die architektonische – gedankliche, sprachliche, technische, ästhetische, künstlerische, dem Wesen der Engel abgeschaute materialisierte, angelologische und -materiale – Inszenierung der für die Vertrauensbildung notorisch vorgesehenen Abdeckung der Not und Todesbedrohung durch – euphemistische – Verstellung und Verschiebung auf Anderes. Diese fundamentalen und unabstreifbaren Bedrohungen sind aber keineswegs einfach aufzulösen, sie sind nicht in ihre Darstellung hinein zu nichten, sondern darin nur aufgehoben, im Wartezustand; bereit zum Ausbruch, zur Dekompression in Gewalt, Natur- und Technik-Katastrophen, Krieg, Paranoia.
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Abb.6 Samuel Dilbaum: Zusammenbruch der Brücke über den Fluss Iller neben Memmingen, 2. September 1604, Holzschnitt. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum. 500 Menschen fielen in den Fluss, von denen viele starben.
Diese Momente beschreiben das Wesen der Brücke, dieselbe als den Ort des eingefangenen, stillgestellten, aber ständig zum Ausbruch bereiten Widerspruchs, Ort der realphantasmatisch überbrückten Differenz, Durchwebung von Sein und Nichts, Wunsch und Tabu, Ich und Nicht-Ich, Selbersterben und Den-Tod-am-AnderenErfahren. Insoweit damit das Wesen der Brücke erfasst ist, ist mit ihr das Wesen auch aller anderen von Menschen geschaffenen Dinge begriffen. Weder das Nichts noch die Bedrohung durch dasselbe können genichtet, sondern nur verschoben und entstellt, das heißt: verunbewusstet und auf Anderes und Andere übertragen werden. Mit jeder Näherung an das Andere, mehr noch mit jedem Zugriff darauf, mit jedem Gebrauch wird eine neue Aufrechnung, eine neue Schuldaufstockung vorgenommen, werden der Betrug ums Sterben und der weitere geschuldete Tod ins Kerbholz – als Grundlage der Ausbildung von Gedächtnis – eingetragen und zur Aussühnung, zur Schuldbegleichung vorgesehen. Eine Brücke verhindert mithin den Tod und fordert ihn zugleich als Wegezoll, sie ist immer explosiv, immer bereit, die ihr innewohnende Differenz als ihren
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Abb.7 Vincent Willem van Gogh: Die Brücke von l’Anglois, 1888, Öl auf Leinwand, 60 × 65 cm. New York, Sammlung Wildenstein.
Bruch zu verwirklichen: Sie ist Inszenierung von Vertrauen inmitten des Reichs des Misstrauens und durch dasselbe hindurch. Das Sein der Brücke ist allzeit offen für ihr Nichts, von demselben schon durchdrungen und bedingt. (Abb.7) Doch die Erkenntnis solcher Wahrheit scheint nur einigen wenigen vorbehalten zu sein: auf der intellektuellen Ebene vielleicht der rationalitätsgenealogischen Philosophie, der Philoszenie und Szenologie; auf der affektiven und körperangebundenen Ebene tritt aber schon die Erkenntnis zurück und gibt der Erfahrung den Vorrang, so findet sich die – eher unbrauchbare – Erfahrung solcher Wahrheit in der Krankheit, den Brückenphobien insbesondere, sowie auf der Ebene des Rationalitätsaktionismus bei den Unfallopfern an einstürzenden Brücken oder auf der anderen, produktiven Seite bei den Brückenproduzenten, vor allem den Architekten, und zwar als Motiv der ästhetischen und technischen Produktion.
2. DER SCHRECKEN
Insofern es um das Verhältnis von Inszenierung und Vertrauen geht, scheint es angemessen zu sein, Allsätzen Platz zu geben. Die – eventuell zu widerlegende – These lautet: Alle Inszenierungen werden aus ihrem inneren Widerspruch. Der Widerspruch der Inszenierung, aus dem sie wird, ist der Widerspruch von Sein und Nichts. Ich pointiere diese These nochmals, indem ich sie stärker an das Verhältnis von Inszenierung, Misstrauen und Vertrauen knüpfe: Inszenierung wird einerseits aus der Ausbildung einer Kritik und dem Hervortreten eines Misstrauens gegenüber einem vermeintlich sicheren und für wahr genommenen Bestandskomplex, also als Bewegung der Auflösung, der Liquidation und der Eröffnung der inneren Bedingungen – das ist die rationalitätsgenealogisch und philoszenisch angemessene Umschrift der rationalistischen „Falsifikation“ – von Vertrauen; andererseits
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bildet die Inszenierung sich als die Bewegung der Ausbildung von Vertrauen. Das bedeutet: Das Wesen der Inszenierung liegt im Übergang; des Einzelnen in der Nichtung von Vertrauen dergestalt, dass die Inszenierung die Konstitution von Vertrauen, die Vertrauensbildung, wie eine Revue der Konstitutionskriterien, wie ein Rückblicken und Erinnern der Herstellung des Vertrauens – Übergang in die Dinge, Brücken verschiedenster Gestalt – vor-, nach- und darstellt. In solcher Revue vollzieht die Inszenierung selbst das Kritisierte und Dargestellte als volle Bestätigung derselben: Sie vollzieht den initialen Übergriff, die Stillstellung des Anderen, die einer Synthetisierungsgewalt sich verdankende Verträgheitung, die Verhärtung, die Verdinglichung, die Absperrung und Isolierung der Bewegung, deren Erinnerung sie sich verdankt. Somit ist Inszenierung einerseits der Aufschluss, die Apo-Kalypse (Abb.8), und andererseits der Verschluss, die Epi-Kalypse von Vertrauen, welche sie sich zu erschließen vermag, ohne sie jedoch transzendieren zu können; das heißt: Sie bleibt Widerspruch, und zwar als das zugleich von Öffnung und Verschließung der Einsicht in die Konstitutionskriterien von Vertrauen.
Abb.8 Albrecht Dürer: Illustration zur Apokalypse, Szene: Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund, um 1496-1498, Holzschnitt, 39,5 × 28,5 cm.
Was wird ansichtig in der Öffnung, was im Verschluss? In der Öffnung wird der Blick freigegeben auf die Verhältnisse, auf die das Misstrauen sich bezieht: die Abschaffung, Exekution von Andersheit, von Nicht-Identität, von Differenz, von nicht verfügter und nicht verfügbar zu machender Herkunft, auf das Geschlecht bezogen: von nicht-männlichem, weiblich-maternalem Körper sowie des Sohnes, solange er noch im Bann und Auftrag der Mutter zu stehen scheint und ihr gegenüber noch nicht die Behauptung der Identität der Geschlechter unterm phallisch bestimmten Mensch-
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wesen verkündet hat. Der zum Vertrauen leitende Verschluss beginnt mit eben jener Behauptung, das Rätsel der Zeitlichkeit und der Differenz – so wie auch die Sphinx es vor Theben formulierte – mit der Proklamation der Überbrückung der Differenz und der Homogenisierung des Differenten, mit der Verkündung des „Menschen“ lösen zu können. Solche „Mensch“-Proklamation, die den weiblichen Körper nur noch unterm männlichen Be- und Zugriff erscheinen lässt, die das Opfer und dessen Verdrängung, Verschiebung und Entstellung fordert, ist der alle Andersheit vereinnahmende sowie den Tod und seine Drohungen antizipierende Entwurf des Vertrauens. Dieser bildet die Grundlage der menschlichen, das heißt der integrativen phallischen Rationalität, welcher die Aufgabe der Bannung und der Abwehr der Negation der Identitätsbehauptung, die Aufgabe der wehrenden Absicherung wider die Erinnerung oder Anmahnung des vorhergehenden Weiblichkeits- und des begleitenden Sohnes-Opfers zufällt. (Abb.9)
Abb.9 Gustave Moreau: Ödipus und die Sphinx, 1864, Öl auf Leinwand, 206,5 × 105 cm; New York, Metropolitan Museum of Art.
Die Inszenierung aber sagt: Nach dem Schrecken ist alles gut. Das wohl ist der Satz des Vertrauens: „Alles wird gut.“ Dieser Allsatz aber besagt – notwendig widersprüchlicherweise –, dass auch das, was nicht gut war, nicht gut ist und nicht gut sein oder werden wird, ebenfalls gut wird. Um solchen Widerspruch aussagen zu können, ohne nichts sagend auseinanderzubrechen, bedarf es des –
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göttlichen – Gedächtnisses der Zukunft, also einer alle Zeit überschauenden, da diese überlebt habenden Metaposition des Futurs, des zweiten Futurs. Mithin lautet der vollständigere Satz des Vertrauens: „Alles wird gut gewesen sein.“ Diese Worte aber können nur aus dem Reich der Toten formuliert werden; sie setzen den Tod und zugleich sein Überleben voraus. Das heißt, es handelt sich hier um die Worte medialer, technischer Inszenierungen: um szenische Gestaltungen aus dem Toten als Erinnerung des Gangs in den Tod zur Erweckung in die ästhetische Wirklichkeit einer alle Differenzen überdeckenden virtual reality, die als zweites Futur ihrer Realität existiert und damit die legitimste aller Nachfolgerinnen des Ödipus, konkrete Gestaltung des Ödipus Rex ist.
3. ALLES WIRD GUT
„Alles wird gut“. Das ist eine vielfach und immer wieder gern gehörte Behauptung; nicht zuletzt weil an ihr Vertrauensbildung praktisch einzusetzen vermag. „Alles wird gut gewesen sein.“ Das ist die komplexere Behauptung, die das Misstrauen mit aufnimmt und vorgibt, alle Fraglichkeiten ins Vertrauen überführen zu können, so dass nur noch die Differenz zum Satz selbst als Problem zu imponieren vermag; das heißt, dass das volle und jeglicher Problematisierung enthobene Vertrauen dann erreicht ist, wenn Redner, Schreiber, Denker oder Hörer, Leser, Mit- und Nachdenker dieses Satzes zu dem einleitenden „Alles“ endlich differenzlos dazugehören. Erst in der restlos indifferenten Identität des Körpers mit seinem Gedächtnis, in beider Fusion, wird alles gut und die virtual die total reality gewesen sein werden sein werden ... Auf dieser Ebene wirft sich wieder die Frage danach auf, ob Allsätze zugelassen werden können und sollen. Sind vielleicht die Sätze, ist deren Behauptung schon zu gefährlich? Sind sie womöglich zu verräterisch, die rationalistische Hypostase von Sätzen und das Begehren der menschlichen Rationalität betreffend: Alles in Identität sein zu wollen? Sollte nicht schon von daher allen Allsätzen misstraut werden? Besser also wäre es zu sagen: Irgendetwas wird gelingen? Muss nicht Misstrauen da aufgebaut werden, wo ein – nicht seiner Vermittlung durchs Allgemeine sich bewusstes – Besonderes sich dazu aufwirft, Allgemeingültiges – das womöglich seine Vermittlung durchs Besondere bestreitet – aussagen zu wollen? Müssen nicht solche Einzelne, die sich herausnehmen, über alles auszusagen und zu urteilen, zu ihrer eigenen Sicherheit und vertrauensbildend für alle die Anderen in Einzelverwahrung, in Arrest genommen werden, klinisch, psychiatrisch oder als Kulturdisziplin? Allerdings muss dann auch, um der Redlichkeit willen, der Kritik an den Allsätzen und Allaussagen misstraut werden; es muss Misstrauen vorgebracht werden gegenüber diesem Misstrauen. Heißt das, dass wir allen Dingen und deren Kritik sowie deren Abwesenheit, im Einzelnen wie im Allgemeinen, dass wir Sein und Nichts
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gleichermaßen zu misstrauen haben und nichts im Reich des Humanen eines Vertrauens von sich her würdig ist? Auf welcher Ebene aber könnte es ein Vertrauen dann überhaupt geben? Wohl allein auf der Ebene des Gedächtnisses, in welchem Ding und Kritik und Sein und Nichts vermittelt aufeinander bezogen sind – ohne dass eine Isolierung von Körper oder Ding vorgenommen wird, sondern deren und deren gegenseitigen fundamentalen Miss- und Vertrauens intellektuelle Vermittlung? Ist Vertrauen also nur als memorial gesicherte Misstrauensvermittlung möglich? Doch wer will so etwas schon denken, lesen oder hören? Nur wenige denken so; vielleicht einige aus der Philosophie, der Philoszenie, der Szenologie; und einige handeln danach: Kranke, insbesondere Paranoiker, Phobiker. Immerhin aber haben Erstere sich explizit darauf ausgerichtet, die Suche nach der Wahrheit aufzunehmen – während Letztere diese womöglich gefunden haben und sie nicht mehr los werden können; wie in einer Hexis finden sie sich mit der Wahrheit verklebt, so dass die Wahrheit Besitz genommen zu haben scheint von ihren Körpern und an diesen und in Bezug auf sie, an ihnen und für sie eine übergroße, die Kraft der Leiber an ihre Grenze zu den Dingen führende Inszenierung vornimmt. So präsentieren diese die ultimative Inszenierung der Kulturwerdung an dem Körper, der zu nah an seine Wahrheit, an sich selbst, seine Unmittelbarkeit, an seine Opfervoraussetzung stößt: Sie präsentieren am Körper die Geschichte der Herkunft von Dingen und Körpern, die aneinander entstehen, indem sie, süchtig einander begehrend, voneinander sich trennen – und so den präsentierenden Körper fast zerreißen – sowie die Bedingungen und Konditionen auch der Aufrechterhaltung, der Zeitigung der menschlichen Kultursphäre: das Einrichten von vertrauensbildenden Inszenierungen auf der Basis fundamentalen, aus der Not der Todesbedrohung entstehenden Misstrauens. Es spricht einiges dafür, dass das die Wahrheit ist, nach welcher im thematischen Zusammenhang die Frage ausgerichtet ist: Misstrauen ist der Anfang von allem, das Motiv aller Vertrauensbildungen. Oder wie es bei Heraklit schon heißt: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Mit solcher Wendung sind bereits zwei Lösungsdimensionen des Anfangs- und Wahrheitsproblems mitgegeben: 1. Es geht dem Vater etwas voraus: das Misstrauen; das heißt, dem Vater setzt sich immer eine Differenz voraus – das ist die Unsicherheit der Vaterschaft –, die das Begehren ihrer Schließung, ihrer Aufhebung und damit die zweite Lösungsdimension motiviert: den Krieg.1 2. Der Krieg ist die initiale Problemlösungsstrategie der Arbeit an der Überbrückung der Differenz. 1
Der Krieg ist dergestalt erschlossen als die Präformation des Vaterschaftstests und Synonym projektiver Identifikation.
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Die Arbeit an der Überbrückung der Differenz wird in erster Instanz im Sinne der Disposition der Differenz vorgenommen gemäß den Worten Heraklits, mit welchen er den zitierten Satzanfang fortführt: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge, die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ So scheint die Disposition der Differenz vermittels des Krieges als ordnendes und bestimmendes Verfahren der Differenzierung von Bestimmenden und Bestimmten, Göttern, Menschen, Freien, Sklaven, kurz: die Bestimmung der Vaterschaft, der erste Schritt auf dem Weg zur Verschließung des Misstrauens gelungen zu sein. In zweiter Instanz muss die gewonnene Disposition der Differenz – realphantasmatisch – mit der spezifisch technisch organisierten Hervorbringung von Dingen sowie rituellen Inszenierungen der machterhaltenden Erinnerung an die Differenzokkupation – als beständiges Zeugnis der paternalen Disposition der Differenz, das heißt: als Medien, die ihre Ding-Voraussetzungen vergessen machen – gesichert werden. In diesem Zusammenhang will mit bedacht sein, dass die Überbrückung der Differenz dieselbe allererst zu einer bestimmten und damit zu der zur Kulturbasis verallgemeinerten Differenz macht. Das bedeutet, dass der Versuch der Heilung von der Not der Differenz- und Sterblichkeitserfahrung durch die Schaffung verbindender Brücken-Dinge den humanen Kultur- als den Kriegs- und Übergriffszustand grundlegt und damit den Weg der Hominisation bis heute und über alle Heute hinaus bestimmt. Demgemäß scheint allem und jeglichem im Rahmen humaner Kultur Misstrauen entgegenzubringen zu sein. Vertrauen kann nur dem sicheren Ende entgegengebracht werden, dem Tod, der Macht der Undarstellbarkeit, der Nicht-Inszenierung und Nicht-Inszenierbarkeit. Doch das scheint sich zu widersprechen. Denn dem eigenen Tod zu vertrauen, das heißt schon, demselben aktiv abwehrend zu misstrauen; das bedeutet, nicht im Moment des Vertrauens sterben zu müssen und somit die Differenz zur Differenzfühlung, das Misstrauen, aufrechtzuerhalten.2 Vertrauen aber in den Tod des Anderen zu haben, das heißt, sich anmaßend zur Position der memorialen Bestimmung der Differenz exterior aufzuwerfen und somit entweder diese Anmaßung am eigenen Körper als Krankheit inszenieren zu müssen oder sich in die Ordnung der veräußernden Produktion von isolierbarer Gedächtnisbildung und Erinnerung im Sinne von Dingen und Krieg und somit in die der Kulturbildung aus Misstrauen zu begeben und die Inszenierungen von Vertrauen dergestalt im Außenvor vornehmen. Was meint also das Wort „Alles wird gut“? Meint es nicht das, was alle menschliche Kultur antreibt ... die endlich-unendlich gelungene Arbeit an der Aufhebung der Differenz, des Anderen, des Entzugs des Ursprungs, der Sterblichkeit und des Todes insgesamt in die Selbstbegründung, die Unendlichkeit und Unsterb2
Damit sind sowohl Ereignis als auch Vorgang der Gedächtnisbildung beschrieben.
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lichkeit? Endlich meint das Wort: Alles wird Gedächtnis (gewesen) sein und damit nicht mehr es selbst an sich, sondern Für-sich, das zur Selbstreferenz begehrt: Virtualität. Es meint: Wenn alles Erfahrbare sich als Gedächtnis eingefunden, wenn der Körper seinen Symptomstatus aufgegeben, wenn er zur letzten Szene im Vertrauensbildungsprozess elektronischer Medien sich verlichtet hat, wenn niemand mehr das Vertrauen gebende Wort hören – und daran misstrauisch erwachen – kann und die Körper den letzten Schritt zur Heimkehr des Wortes ins Ohr Gottes vollzogen haben ... dann wird alles gut und ewig nur Vertrauen gewesen sein. (Amen?)
4.WAS ALSO IST VERTRAUENSBILDUNG?
Vertrauensbildung ist • die Arbeit an der Konstitution von Vertrauen im Ausgang von einer Differenz- respektive Indifferenzerfahrung im Sinne einer Todes- und Sterblichkeitsanmahnung; • Verführung ins Leben; • (im Zusammenhang der „Verführung ins Leben“ kommt nicht zuletzt das Problem der • „Mutterliebe“ wie etwa bei Balint aufgeworfen – in die Diskussion, die stets – vorbildlich – mit dem Misstrauen und um Vertrauensbildung am Scheitelpunkt zwischen Körper- und Ding-Ausrichtung kämpft; mit und gegen das sich daran ausbildende und sein Leben rettende Misstrauen des Kindes sowie das beständige Misstrauen des Mannes und der kulturellen Inszenierungen zur Bestandssicherung einer Differenzverfügenden Ordnung); • Verdeckung der Katastrophe; • Sicherung der Wendung nach außen; • abhängig von der Verdinglichung und den Medien: Die Verdeckung der Katastrophe wird in der Sphäre der „Mutterliebe“ mit und an jedem und für jeden Einzelnen noch einmal wiederholt und deswegen von allen gesellschaftlichen und institutionellen Seiten nicht zu Unrecht mit Misstrauen betrachtet: Die Ur-Katastrophe umfasst die Vernichtungs-, Identitäts-, Todes-Drohung sowie die – den besonderen Körper rettende – Aussetzung der Vernichtung in die objektive Sphäre – so dass die Todesaussetzungsleistung, der Todestrieb, den allgemeinen Körper sowohl konstituiert als auch ihn in diesem mit seiner Zerstörung, an und auf der er errichtet wird, bedroht. Die Ur-Katastrophe ist der Tod respektive die Abwehr – und Mitnahme – desselben und somit die Hinwendung zu (Sterbens-/Todes-)Veräußerung und vermittelter (Tod phantasmatisch im Außen wahrender, reinigender und als Lebens-Mittel rückführender) Vereinnahmung im Sinne basaler projektiver Identifikation, die auf die Isolierbarkeit der Vermittlungsgröße, mithin die Verdinglichung, angewiesen ist. Das heißt, dass nur (wieder-)vereinnahmt, insbesondere: gegessen, werden kann, insofern die Vermittlungsposition – dinglich – isoliert wurde; die Vereinnahmung und ihr
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vorab die projektive Identifikation sind angewiesen auf die Ausbildung dinglicher Medien, und zwar als objektiv disponierbare Operatoren mütterlicher Liebesvermittlungsleistung, das heißt der Vertrauensbildung in Bezug auf die Funktionalität, die Objektivierungs-, Selbstbegründungs- und Lebensvermittlungs-Kraft des Todestriebs. Kurz: Bei der Verdeckung der Katastrophe als Vertrauensbildung geht es um die – die abendländische Rationalität grundlegend ausrichtende – Wendung zur todestriebfundierten Verdinglichung: als basaler Modus der Rücksicht auf Darstellbarkeit und mithin jeglicher Inszenierung; • Vergessen machen (der memorierten Konstitutionskriterien in der visuellen Inszenierung); • Dementialisierung: Sicherung der isolierten Aussetzung des Konstitutionsgedächtnisses von Rationalität in Medientechnik; • Opfer- und Schmerzlust, Algolagnie; • Erotisierung. Von solchen Präzisierungen her werfen sich weitere Fragen auf, insbesondere wohl die folgende: Warum hat sich offenbar menschheitsweit eine Bereitschaft ausgebildet, auf Erkenntnis zu verzichten, insbesondere auf die Erkenntnis der Sterblichkeit, der mörderischen Versuche der Verdeckung derselben, der Verdeckung dieser Verdeckung, der Opfervoraussetzungen der Kulturbildung zugunsten der Ausbildung von Vertrauen? Ist dieser großzügige Erkenntnisverzicht dem Wesen der Verdinglichung geschuldet? Die Dinge sind die Voraussetzungen jeder Erkenntnis und die steten Spender eines Doppelten: Spender von Vertrauen – das ist die Vergewisserung, die innere Not überwunden zu haben – und Paranoia – das ist die Drohung der Wiederkehr der überwundenen Not von außen – zugleich. Die Menschheit wird, während sie immer neue Sphären dafür gestaltet – einmal Kriege, ein anderes Mal Finanzkrisen, wieder ein anderes Mal technisch medial transportierte und transponierte Natur- und Technik-Katastrophen und so weiter –, gejagt. Sie wird verfolgt. Ihr Sein ist wesentlich paranoisch: durchwoben vom Nichts, dessen Abwehr – das ist der rationale Versuch, das Nichts in die Dinge hinein zu überwinden, mindestens aber als diese und in diesen zu disziplinieren – die Grundlage aller Kultur, aller Inszenierung, jeglicher Gestaltung ausmacht. So wird die Menschheit und jeder Einzelne in ihr von der Ur-Vertrauensbildung verfolgt und getrieben, hinein in immer wieder neue Sphärenbildungen zur Inszenierung von Maßnahmen zur Steigerung von Vertrauensbildung und Destruktionspotenz durch dinglichen und technischen Progress; hinein in die Bildung von Medienschutztruppen zur Erosfreisetzung. So gilt es womöglich, Fürsprache einzulegen für ein ‚gesundes‘ Misstrauen, ein offenes paranoisches Verhältnis, für die Ausbildung einer kritisch-produktiven paranoischen – die Schuld des Seins intellektuell vergegenwärtigenden – Position, die jede Inszenierung durchwebt? Die Fülle der Inszenierung des Vertrauens ist – in
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und aus der Sphäre des christlichen Abendlandes formuliert – der im Paulinischen Missionarismus hervorgearbeitete „Gott der Liebe“. Als was ist dieser „Gott der Liebe“ im Hinblick auf das offene paranoische Verhältnis zu erkennen? Er ist: • Versammlung der Vernichtung und der Schuld der Sterblichkeit; • explosive Aufladung; • Verwesungsgestalt als Inszenierung der Tilgung der Schuld des Seins; • nur ein Versprechen des transzendenten Einbehalts des Todes. Dementsprechend imponieren als säkularisierter Modus, als profane Inszenierung des „Gottes der Liebe“: • Kriegswaffen; • Bombenbau; • technische, wirtschaftliche und weitere Katastrophen; • Suizidalität der Dinge (als phantasmatische Exkulpativkraft). Die profane Inszenierung des „Gottes der Liebe“ ist die Zivilisation und Kultur gestaltende Komprimierung der Gewalt eben jener Zivilisations- und Kulturbildung in die Dinge selbst, die somit ihre fundamentalen Gestaltungs- und Inszenierungsrichtlinien selbst vorgeben: ausgehend von ihrem explosiven Wesen, ihrem Bomben-, Bedrohungs- und Verfolgungs-Charakter sowie ihrem Versprechen liebender Beruhigung und Heimholung. Was kann mithin als das Begehren der Bombe entdeckt werden, das heißt als das Telos der Sphäre der profanen Inszenierung des „Gottes der Liebe“, des Vertrauens? Das Begehren der Bombe respektive das Telos der profanen Inszenierung des Gottes und somit des Vertrauens ist die Entsühnung der Welt von der Sterblichkeit durch die Rückführung derselben in die Absolutheit (der differenzlosen Identität von Selbst und Anderem, Körper und Ding, Leben und Tod, Gott und Welt). Vorbild dieses Begehrens ist die Nahrung: Erst wenn ich alles gegessen, alle Dinge und Körper in mich hinein verschlungen, sie in mir aufgehoben habe, dann bin ich die eine, ganze, restlose Welt und damit die unhintergehbare und unübersteigbare Absolutheit der Urproduktion in mir selbst – über die hinaus es nichts gibt ... und folglich – auf Grund der ausgefallenen Repräsentation – auch dieselbe nicht.
5.EIN KURZÜBERBLICK MIT AUSBLICKZUGABEN
Vertrauen ist • die affektberuhigte Zone des Dingphantasmas; • Glaube an die Gebanntheit und Disposition des Todes;
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• Glaube an Gott; • Dankvermittlung(-sagung) an den geschaffenen Gott, die phantasmatische Todesverfügungsinstanz; • die gebetslose – quasi-unmittelbare – Zeit bei Gott und den Dingen; • Genuss (Test?) der phantasmatischen Todesverfügung: Leichenherrschaft; • Angst- und furchtloser Zugang zum Ort größter Gefahr: Desensibilisierung, Vergessen; • ein narzisstisches Phänomen projektiver Identifikation; • aber auch Ausdruck der Differenz: sich noch nicht im, noch nicht als Anderen erreicht haben, noch nicht ganz absolut sein; • die Gewissheit jedoch, der Andere schadet mir nicht (sondern inszeniert die Welt meiner Leidenschaften); • die Zuversicht, der Andere werde mich eher als sein eigentliches Selbst, als seine Referenz gar, wahren wollen; • die latente, aber verschlossene Öffnung der Befürchtung und Möglichkeit, der andere Andere, das heißt der – trennende – Dritte, könne doch schaden; er könnte mich als potentiell feindlichen Anderen zerstören; aber insofern er an dem QuasiAnderen (Ding, Gott, Mutterkörper) festhält, wird dessen Zerstörungskraft als entmachtet wahrgenommen; • (gesichertes) Verhältnis zum Anderen; • Loyalität (dieser ist die ihr wesentliche innere Gegenbewegung des Anderen-Bezugs – ihr innerer Drang, sich in ihr Gegenteil aufzuheben – die Kraft der erotologischen Besetzung, auch Sexualisierung, der Differenz zum und des Anderen – mit dem notorischen Ziel des komplementierten und komplettierten Selbstbezugs); • provokative Loyalität zugleich: Aufforderung des Anderen zur Übernahme aller Verantwortung inklusive der Verantwortung der sicheren Verfügung über Leben und Tod; • Todesurteil gegenüber dem Anderen; • Verdeckung, Verschließung, Epi-Kalypse; • Glaube an den Retter (der immer auch Verfolger ist und damit für die Generation und Neustiftung des Glaubens sowie aller Inszenierungen Sorge trägt); • Glaube an die Dinge und deren ungefährdeten, schuldfreien Gebrauch (zur Entfaltung aller Inszenierung aus dem Unbewussten der Dinge, aus diesem Gedächtnis von Schuld und Opfer); • im Affektenausgleich nachvollziehende Darstellung des basalen Medienphänomens; mehr: des Medienwesens; • Besetzung der Vermittlung als und zu deren Sicherung; Existenz des Zwischenraums; • Enteignung des Erkenntnisbezugs zu den Dingen und der objektiven Außenwelt; • phantasmatische Sicherung des Körper-Ding- und Selbst-Anderen-Verhältnisses; • Inszenierungsgrundlage: inbegrifflich Gott, Geld und Medien;
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• Inszenierungseffekt: Effekt der Repräsentation und der Verdinglichung; • Effekt der Verführung in die Repräsentations- und auf Verdinglichung ausgelegte Rationalitätsordnung (vermittels der technisch-rationalen Vorbereitung der Mutterkörper-Verweisung auf die Dinge); • abgesicherte Urverdrängung; • Nachdrängensgarantie; • Schreckensabdeckung. Und was ist demnach Design? Handelt es sich beim Design nicht um das Schrecken abweisende und Vertrauen bildende Verfahren schlechthin? Ist Design nicht der Inbegriff der Abdeckung des Traumas – des Todes – und der Gestaltung der Gefahr der Krisis zum vertrauten Gebrauch? Dass dem so ist, das kann und will auch kaum jemand bestreiten. Aber im Rahmen des Designs ist auch seine intellektuelle Aufklärung und Aufarbeitung möglich. Die Aufgabe einer produktiven designimmanenten Aufklärung durch die der praktischen Inszenierung folgenden (und neue mitorientierenden) intellektuellen theoretischen Hervorarbeitungen der Konditionen des Designs fallen der Szenologie und der Philoszenie, den kritischen Begleiterinnen der Szenografie, zu. Das Vertrauen im Sinne der „Schreckensabdeckung“ bleibt von daher hervorzuheben als: • Glaubensgrundlage; • Erzengelfunktion (wider die Gottlosigkeit); (Abb.10)
Abb.10 Siehe Guido Reni: Erzengel Michael, um 1636, Öl auf Leinwand, 293 × 202 cm, Rom, Santa Maria della Concessione.
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• Wissenschaftsmatrix; • Seinsvergessen; • Kritikunfähigkeit; • Aufklärungswiderstand (wider die Aufklärung der Aufklärung und wider die Rationalitätsgenealogie); • Erkenntnisverschluss; • Dingschutz; • Liebhaberei von Euphemismus bis Kitsch (vs. Kunst).
6. INSZENIERUNG UND VERTRAUEN
Das Vertrauen ist eine unscharfe und doch zugleich eine gemäß den Vorgaben der Rationalität sehr genau präformierte, bestimmte und die Möglichkeiten der Inszenierung bis ins Detail bestimmende Sphäre. In keinem für Menschen, für Frauen, Männer, Kinder möglichen Fall kann jemand sicher wissen, ob das, wozu er oder sie aufgebrochen sind, getan werden kann oder nicht. Wie aber kann überhaupt von einem Ort aufgebrochen, Abstand genommen werden? Wie kann Bewegung, Zeitigung von Raum okkupierenden Körpern im Raum, wie auch kann Inszenierung möglich werden? Solche Möglichkeit ist allein unter der Bedingung gegeben, dass bereits gewusst wird, dass das, wozu aufgebrochen werden soll, schon getan worden und in dinglich präfigurierter Gestalt das Gelingen des Tuns vorbestimmt, vorgesehen, vorgeformt, zumindest versprochen ist. Nur unter solcher – euphemismusprovokanten – Voraussetzung des a priori gebildeten Gedächtnisses ist ein Aufbruch, ist menschliche Bewegung, ist womöglich die Hominisation insgesamt überhaupt erst möglich. Bewegung, Inszenierung und die Hominisation sind möglich als Nachvollzug einer Vorgabe, als ein Dem-Gedächtnisapriori-Folgen und als Sorge um dasselbe sowie als Bestellen und manchmal – das ist ebenfalls möglich! – als seins- und opfererinnerndes Denken und Re-Inszenieren desselben. Was aber kann das arme Subjekt wissen? Es kann – nur? – wissen, dass es aus der objektiven memorialen Voraussetzung seines Wissens heraus subjektives Wissen herkunftsmemorierend gewinnen und somit der Voraussetzung seiner Begehrensaufhebung zur Erfüllung solcher Voraussetzung folgen und nach der Maßgabe eben dieser Vertrauensinszenierungen vornehmen kann.
Bilder aus: 25000 Meisterwerke. Gemälde – Zeichnungen – Grafiken. Berlin: Digitale Bibliothek 2005.
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Rudolf Heinz PARANOIA – FESTIVAL DES VERTRAUENSMORDS. (AUCH) ZU INSZENIERUNGEN DIESER UNSERER UNIVERSALPATHOLOGIE
EXPOSEE:
Vertrauen (Drama) – vor oder nach dem Misstrauen (Tragödie)? Wenn danach, so frustrane Magie; wenn davor, so finales Desaster. Wie also? 1) Exposition der Problemstellung: Ohnmacht des Vertrauens angesichts universeller Paranoia? Paradoxerweise (?) haben die Veranstalter den Kontrapart des Vertrauens, das Misstrauen, meinerseits gar, mikro- und makropathologisch, zur Paranoia gesteigert, zum Vortrag an den Anfang des Symposiums gesetzt. Gut so, könnte man meinen, denn strahlend wird sich das schöne Vertrauen von allem Argwohn absetzen und seine Siegesbahnen ziehen! Wenn nun aber, konträr zu seiner initialen Verabschiedung – zuerst die schlechten, dann nur noch gute Nachrichten, die jene vergessen machen –, wenn nun aber die paranoischen Hinterhalte (Insidien) allen, wie sagt man? „vertrauensbildende Maßnahmen“ apriori zu schlucken imstande wären? Na denn, dann wären wir beim globalen „Status quo“ angekommen, der – so meine allzeit schwarze Prophetie – bloß allzukurze Atempausen an Konfidenz inmitten des universellen Suspekts vergönnt. (Aber ich übereile mich so …) 2) Physiognomie des Verräters „Para-noia“ – überschießendes Denken, desselben zuviel. – „Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen! Der Cassius dort hat einen hohlen Blick, der denkt zuviel, die Leute sind gefährlich.“ Sogleich wird so – damit keine Verbreitungszweifel aufkommen mögen – die außerklinische Politizität der Paranoia angesprochen, die nicht fackelt, die realiter zuschlägt (Cäsar wird an den Iden des März erdolcht!), den Wahn kriminell verwirklicht und so entwahnt; aufkommt die Gestalt des Verräters, die Perfidie: „Wenn der König schläft (und er kann nicht mehr schlafen) wacht der Verräter“. Der leere Blick – „In den leeren Fensterhöhlen wohnt das Grauen …“ –, so als sei der Verräter dabei, schon bei lebendigem Leibe zu verwesen: Augeneinzug, Hervortritt der Gesichtsknochen, nur noch von falber Haut überzogen, verhungernd sich selbst verzehrend, und also immer auf Beute lauernd. Sein gesichtlicher Anblick geht ins Leere, wird eingesogen – die reinste Todesverkündung; und kurz vor seinem Verschlungenwerden blitzt, augen-blicklich, der Sehmoloch, vernichtend, stechend, böse, ultimativ dawider, auf:
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apokalyptische Dräuung des zürnenden Gotts des Gerichts; und sollte er versagen, so geht er in den des Verdammten über – des verfluchten Gottes, sprich: des Teufels. Wie wohlig dagegen die fettleibigen, beglatzten, schlafhabilitierten AnderenMänner (Männer?): Sie bleiben bei Mutter zuhause, selbstverfetten sich mit ihr zur Wampe, exhibitiv travestieren sie, lizensiert, ihre Selbstgeburt, indem sie die entblößte ‚glans penis‘ kopfverschoben verglatzen. (Voilà – der ‚Glatzenmajor‘, der es allerdings ernst meint – Vorsicht!) Ich hatte, um mich schadlos (?) zu halten, ernsthaft vor, mir zum Vortrag hier eine Glatze scheren zu lassen; ließ aber von diesem, mimetisch doch überzogenen, Vorsatz ab, und begnügte mich (umdrehen!) mit diesem unanständigen (Pferdeschwanz!) weibsimitativen, für mein Alter deplazierten, in der Postmoderen ja keineswegs auffällig Hybride indizierenden, Zopf. Soviel zur Physiognomie des paranoischen Verräters und des Nicht-Verräters, zu dem ich mich eher schlage. (Ansingen: „Di rider finirai pria dell’aurora.“!) 3) Medial inszenatorische Bannungsformen der objektiven Paranoia Sie vernehmen es? Diese meine „aisthetische Intellektualität“ mit PerformanceEinlagen hilft hysterisierend nach, erschafft abwehrflüchtig wiederzurückgeführte simulative Mehrwerte, fällt insofern inszenatorisch aus. Und das derart intellektuell Supersimulierte, die Paranoia selbst? Ob es wohl geboten sein wird, ihr – wie sagt man neuerdings? – Histrionik beizugeben, um ihr Inszenierungscharaktere zu garantieren? Ja, zum Zweck aktionistischer Aufladung (das Autodafé, zum Beispiel – selbst in dieser Hysteriedimension werden die Hexen und alle Ketzer männlich weibsmimetisch genichtet). Und, selbstverständlich, gibt es, nicht nur auf dem Theater, gespielte Paranoia, immer umwillen ihrer Inregienahme, der nach(vor)träglichen Disposition indisponibler Pathologie; sei es zu direkter – leicht in blutigen Ernst kippender – Anderenbemächtigung, sei es, medial gebrochen, zu ihrer – hier philosophisch potenzierten – imaginären Bannung. Nur dass alle solche aufklärende Magie, wenn es hochkommt, wenn überhaupt, es bloß zu ihrer Minisuspensionen reicht. Oder sind Sie, die Szenografen (welch ein Wort!) unter Ihnen, etwa zu mehr, zur Paranoiaklausur, umfassend, eingreifend, auf Dauer, begabt? Wenn nicht, so könnte es immerhin sein – das gilt für mich, philosophisch a fortiori, mit –, dass Sie überflüssige Arbeit, nur zu Ihrem privatistischen Schutze während derselben, leisten; und selbst das ist keineswegs sicher? (Noch aber wird sie ja bezahlt.) 4) Makropolitische Extrapolation des – angeblich – einzig psychiatrischen Begriffs Paranoia, individualpathologisch – ein ‚Kategorienfehler‘? Schauplatzwechsel. – Zu meinem Dauerleidwesen will die These von der Paranoia als „unserer Universalpathologie“ nicht so recht greifen. Fortwährend setzt sie sich dem Vorwurf aus, sie mache sich (bitte zerknirscht strammstehen ob dieser Kardinal-
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sünde!) eines ‚Kategorienfehlers‘ schuldig, extrapoliere nämlich rein heimstämmige Theoreme, verbotenerweise, auf Fremdstämmiges; so wie hier, den – so behauptet man – ausschließlich klinisch psychiatrischen Begriff Paranoia, quasi einheitswissenschaftlich imperialistisch auf Indifferenzierungs-, Homogeneisierungskurs, auf unterschiedliche, herkunftsverschiedene makrosoziale Politphänomene. Und nicht nur biologische Psychiater reagieren darauf, oftmals wütend, idiosynkratisch (hab ich alles schon erlebt), nicht zuletzt auch Alternativtheoretiker dazu wie Soziologen und Politologen. Mindest ein Mitverschulden an dieser nicht endenwollenden Kontroverse, explanative Prokurationen betreffend, trägt die herkömmliche Psychoanalyse, die ihre Kategorien, wie arbeitsteilig, (so spricht man heute noch kaum) subjektivistisch einsperrt – Paranoia sei exklusiv eine psychopathologische Bestimmung, die sie außerdem weitgehend an die Psychiatrie abtrat –, nicht aber ohne mit deren Ausweitung, dem Transfer ins Außerhalb dieser ihrer Subjektivismusgrenze zu sympathisieren. Läßt man nun sich nicht abschrecken, Paranoia gleichwohl, freilich (wie?) anders dann, als kulturpathologisches Diagnosemittel zu verwenden, so kriegt man, unbesehen (allein der Ausdruck ‚Paranoia‘ genügt), ohne Respekt der Änderbarkeit, möglicher Anmessung dieser Applikation an das monierte Ausgelassene, allseits die Quittung: Das sei grundfalsch, und selbst wenn es richtig sein könnte, so träfe es bloß den minderen Anteil am weiterhin insbesondere erklärungsbedürftigen einschlägigen Phänomen. 5) Vorrang kollektiver Kultur- vor Individualpathologie. Von jener ablenkendes „Haltet den Dieb!“, die Verfolgung dieser „Anders freilich dann …“, von einer „möglichen Anmessung“ der fraglichen Extrapolation an das in ihr Verfehlte, sprach ich. Was soll das heißen? Ich pflege gegen den Vorwurf des ‚Kategorienfehlers‘ mit einem gründlichen Gegenschlag aufzuwarten, den ich, ohne viel Fortüne, vielerorts ausgewiesen, hier nur kurz umreißen kann. Kurzum: Paranoia, in objektivem gesellschaftlichem institutionellem Verstande, geht der subjektiv psychopathologischen psychiatrischen voraus; und ist eben nicht das Produkt einer verfehlten Umlagerung dieser auf jene. Und diese, Krankheit des Einzelnen, verschuldet sich der Privataneignung, der Usurpation jener, zum Zweck jener, kollektivierter Pathologie, Vertilgung; nimmt sich demnach eine Sonderart Opposition heraus, die nur umso fataler ans Opponierte verfallen bleibt, und damit, wie überflüssigerweise, jener vorgebenen Verfehltheit, versetzt bloß, reproduziert. Nochmals: Scheinbar gegenüberstehen sich, hetero-gen, je sich selbst überlassen, Individualpathologie einerseits und selbige kollektive – behauptetermaßen – Nichtpathologie andererseits (nur im sündenfälligen Ausnahmefall krank – sagt man, verstrickt, schon splittend); in Wahrheit indessen sind beide nichts als homo-gen, und
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interagieren, wie gehabt, dergestalt, dass, pathogen, jene sich diese unter den Nagel zu reißen sucht und so zum Verfolgungsobjekt dieser, um dieser Gewaltmaskierung willen, verkommt – die objektive Paranoia muss, sich verleugnend, hinter der als solchen wohldiagnostizierten subjektiven her sein (Paranoia-Paranoia, fraktal bereits in sich selbst!), um ihr wahres Gesicht zünftig zu verbergen. (Das kennen Sie doch, den zürnenden Gott, Lächerlichkeit, über der keine größere mehr gedacht werden kann – und kein Blitz erschlägt mich jetzt!?) Freud selbst ja stipulierte, dass kollektivierte Pathologie – scheinbar – keine solche mehr sei. Und so macht man denn Jagd auf den einzelnen Kranken, weil er, wie ungewollt, oblique, auch immer, allzu Entscheidendes vom – angeblich apathologischen – objektiv paranoischen Betriebsgeheimnis unserer Gesellschaftsverfassung verrät – trägt er doch, als seine offene Wunde, deren Mysterien, deren Tabus, schmählich strafwürdig zur Schau. Und welche Hypokrisie (die Therapeuten-Heuchlerbande)!, der Pathologie Jadgwildpersekution, um alle schwarze Aufklärung – einzig als schwarze Aufklärung noch – im Keim zu ersticken, als großes hochmoralisches Werk, ja, ja, der Barmherzigkeit, zuwenigst brüderlicher (pardon!: schwesterwelliger) Solidarität, polizeiliches Erbarmen – Rationalisierung pur –, verlogen auszugeben; die exklusiv darin bestände, sich in den basalen Krankheitsirrtum der Verspeisung jeglicher objektiven Pathologie, ohne sich an ihr zu infizieren, aletal schließlich mit ihr einszuwerden, auch gegen den eigenen Strich, einzuleben. 6) Postmoderne Diskrimination von Paranoia und Homosexualität Zum Glück – de facto freilich zum Glück – wird Homosexualität, trotz mancher Rezidive, mehr oder weniger unter der Decke, von diesem Verfolgungslos nicht mehr ereilt. Woran liegt das? Gewiß nicht an höherer nachhaltigerer moralischer Einsicht, vielmehr an der – vermeintlichen – Isolierbarkeit der – auf diese Weise verharmlosten – Homosexualität von der Paranoia, immer bedingt durch den Progress in Sachen eben der „Sachen“: Lizenz des homo…, (generations)sexuell, hypostasiert, im Fleische durch die größere Selbigkeit im Jenseits der Fetischdinge: deren Immaterialisierung/Imaginarisierung, die Medienfeste warenerfüllter Indifferenz. Aber um welchen Preis währet die expansive Sublimation der ewigen Hexenverfolgung, dieses dichtest verhüllte knallparanoische Megaunternehmen? Kriege, die patrifiliarchale Enteignung der maternalen Rache, machen es bezahlbar. (Bedenken Sie: Freud schon verlautete einige Male apokryph, die gesellschaftliche Libido sei männlich, sc. mono-sexuell.) Fast hier schon überfällig ist es geworden, die Binnenorganisation der Paranoia zu erkunden, ohne deren Kenntnis die Allmächtigkeit dieser unserer ‚Universalpathologie‘ eben nur erahnt, nicht aber, geschweige denn „existentiell“
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(hätte man ehedem gesagt), nachvollzogen werden könnte. Dazu bedürfte es – so mein Avis des Vortragsfokus – der Ausschöpfung der philosophisch-genealogischen Potentiale der Psychoanalyse, subversiv dilatiert zu einer solchen der ‚Sachen‘. 7) Aufregung um die „kleinianische“ Aufklärung der Großparanoia Nationalsozialismus Also annoncierend, überfällt mich – um einen Vorgeschmack dieser Hauptrecherche zu evozieren, teile ich sie mit – penetrant eine Erinnerung an einen frühen Versuch in dieser Ausrichtung, nämlich „mit kleinianischen Mitteln die Philosophie des Nationalsozialismus zu dechiffrieren“, also, beispielhaft, im Sinne einer „Psychoanalyse der Sachen“, mittels sogenannter archaischer Abwehrvorgänge – „Spaltung, Projektion/projektive Identifikation, Isolierung des Projizierten, Selbstreferenzialisierung desselben“ (Pantomimen! – konkret[istisch] nichts anderes als die Genese des KZs.) – die ihrer Herkunft nach lebensphilosophische Ideologie – die NaziPhilosophie – aufzuklären. Das Befremden darüber war, ob des suspizierten ‚Kategorienfehlers‘ darin, und gewiss auch wegen der unausweichlichen Rückbindung von verheerender realpolitischer Theorie (des Horrors ‚realisierter Philosophie‘) an früheste physiopsychologische Überlebensstrategien, die angeführten (realiter KZgenerischen) Abwehrmechanismen (pantomimisch wiederholen!), nicht eben gering. Und, indem ich auf dünnem paranoischem Eis intellektuell zu tanzen nicht unterließ, überfielen meine Veranstaltung, gleich einer göttlichen Epiphanie, die ‚Arbeiterfraktionen‘, angeführt von deren Führer Lyn Marcus oder Lyndon Larouche nebst Gattin Helga, um mich, den Oberfaschistenknecht in die Hölle, Heimstatt aller von den ‚Arbeiterfraktionen‘ abgefallenen Ketzer, zu expedieren. (Leider muß ich mir hier das Erzählen versagen. Stichworte stattdessen: sich ultralinks gerierende ultrarechte Deckorganisationen des CIA, beauftragt „mit der Zerschlagung der unabhängigen bundesdeutschen Linken“; als Kleinstpartei mit wechselnden Namen (z.B. „Humanistische Studien“) Kandidatur für den Bundestag; „Jetzt Laserwaffen“: Schrift auf einem Wahlwerbeplakat mit Atommeilern, etcetc. – Paranoia zitierend, gerät man in die Verlegenheiten des „Zauberlehrlings“, des Treffens auf den Hydrakopf. (Gleichwohl empfehle ich Ihnen, so etwas wie einen inneren ‚Epochenunterricht‘ mit der Paranoia zu initiieren …) Rasche Quintessenz der Begegnung mit dieser unanderen Art, des paranoischen Überfalls auf meine Paranoiakritik: epochale Rechts-Linkskonfusion; Verunsicherung, ob man nicht doch dem bestrittenen Gegenlager, höchst selbstinkulpativ, angehöre. So der Inbegriff paranoischer Logik, die ein leichtes Wirkungsspiel zu spielen imstande ist. Denn: Wer ist vor Gott, unserem verblasenen Oberparanoiker, nicht hoffnungslos schuldig – „Wenn Du der Sünden gedenkest, o Herr, wer könnte vor Dir bestehen?“ – Es ist „zum junge Hunde kriegen“, zur Flucht ins „unmenschliche Geschlecht“. Doch wohin damit?!
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8) Modi des Unkenntlichmachens der objektiven Paranoia: Von der Meisterschaft, den großangelegten Finessen, sich unkenntlich zu machen, sich dem Zugriff (!) – Paranoia, die sich polizeisprachlich fraktalisiert! – zu entziehen. 8a) Pluralisierung der Erklärungsansätze So, intellektuell, mittels der Groteske fast, die unterschiedlichen Theorieansätze zu ihrer Erklärung, ergebnislos oder einem verwaschenen Sowohl-als-auch überantwortet, aufeinanderzuhetzen, und also bleibt sie ungeschoren, amüsiert sich aus der Ferne, um, nächst, ihr altes Unwesen, ungestellt, weiterzutreiben. Wahrlich – der Gott, der Demiurg, in seiner ganzen Schandbarkeit! Den Wissenschaftsbetrieb, diesbetreffend, verstehe ich schon lange nicht mehr. Auch ihm doch „steht das Wasser bis zum Halse“? „Impavidum feriunt ruinae“? Kaum. Mit ihrem abgehobenen, formaliter selbstreferentialisierten Pluralismusgewäsch spielt sie sich zum Oberlakai der Legion debiler Gegenaufklärung auf. 8b) Ab-sicht von Eigenbeteiligung durch die Verfluchung paranoischer Objektivität Bitte, stoppen Sie mich, wenn ich, paranoiamimetisch, übertreibe! – Wenn nun unsere paranoischen Großgebilde – der Staatsterrorismus mitsamt seinen – sich intern oftmals paranoisch zerfleischenden – Schurkenstaaten (um unsere großen Revolutionen, einschließlich der nationalsozialistischen, herum, wird man dazu sonderfündig!) endlich unverhohlen in den Blick treten sollten, so legt dieser Blickfang sogleich einen bösartigen Fallstrick aus: die Unterschlagung nämlich der infinitesimalen Assistenz, der Kooperation, der Beihilfe zu Fortbestand und Steigerung unserer Megaparanoidien. Und man drischt dann, bei epoché der Eigenbeteiligung, wie rechtens projektiv (und dabei immer angesteckt von der ‚Identifizierung‘ in der ‚Projektion‘), in aller vermeintlichen Unschuld, mental freilich bloß, auf den paranoischen Popanz draußen ein. 8c) Personalisierung von gesellschaftlichen Paranoiakomplexen Paranoische Maskierungstücken in Serie. – Diesmal die der Personalisierung von ‚Komplexen‘. Will sagen: eine vorerst anonyme Anziehungs-, Versammlungs-, Darstellungs-, Aktionsgröße, die – ‚Zufall und Notwendigkeit‘ – alle erdenklichen Kontingenzen so in ihren Bann zieht und zusammenschweißt, homogenisiert, als hätten diese nur darauf gewartet, setzt sich, als ihre ideale, allverantwortliche Spitze – Geburt und Taufe eines Gottes! –, wie aus dem Nichts, eine auserwählte noumenale Person obenauf: subjektivierte Kräftebündelung, hallender Blickfang, der affektionierendste Trug einer männlichen ‚Magna Mater‘, die, benamst, mit Antlitz und Stimme, sich zur großräumigen Berge aller Getreuen hingibt. „Führer, wir folgen Dir!“ Und unterhalb beider Todgeweihten, des manischen Führers und seiner
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manischen Gefolgschaft, lacht, tiefverborgen, sich der Demiurg, die Paranoia selbst, „ins Fäustchen“. 8d) Paranoiaabtretung an Kontrollgerätschaften Wie gesagt: Die paranoischen Großevents lenken von deren Alltäglichkeit, ein Dunkelfeld zwischen publiker Politkonzentration und psychiatrischem ‚intra muros‘ sondersgleichen, ab. Um in diesem Kontext wenigstens noch einen Gedanken Baudrillards („Chapeau!“) zu streifen: die gewöhnliche Ersetzung der Körper durch Geräte, die kaschierende Paranoiadelegation an diese, Höllenmaschinen alle. Wo aber auflauert – die Kehrseite, die Schwäche dieser Substitution – deren terrorisierende ‚Transsubstantiation‘, der imaginäre Hervortritt der Polizei aus deren Maschinisierung (beispielsweise die Überwachungskamera, verlebendigt), nicht? (Träumen Sie bitte einmal ihre Haushaltsgerätschaften, und Sie werden Ihr ‚blaues Wunder‘ erleben!). Nur umso ärger dann wird die – durchschnittlich phobisch ermäßigte – Verfolgungsangst, die, selbstverständlich, als irrational abgetan zu werden pflegt – verhaltenstherapeutisch weg damit! –, anstatt dass ihre Aufschlusspotenzen für solche Gebrauchsobjektivität, Technik – ganz im Sinne einer „Psychoanalyse der Sachen“, am Leitfaden des hämischen Grinsens der Mechanici (mechané!), von Daidalos bis, insbesondere, Klingsor, undsoweiter, genutzt würde. Alle Dinge = Körpermasken, genauer noch: Sarkophage. 8e) Psychiatrische Kasernierung der Individualparanoia. Deren ausnehmende Therapieresistenz „Intra muros“? Hinter – unterdessen medikamentös verschlänkerten – Anstaltsmauern sperrt man – weshalb, das ist offensichtlich – die ‚klinischen Entitäten‘, solistische Armutsgestalten, ein. Die isolierte Paranoia ebendort, mitnichten aber in Freiheit leitend, rächt sich an ihrem Blickentzug, ihrer Kasernierung, indem sie eine provokant äußerste Therapieresistenz an den Tag legt: in sich abgeschottete Paranoia, gegen die (noch?) kein Kraut gewachsen ist, weder ein biochemisches noch ein psychologisches; so als müsse wenigstens eine Krankheit sich zum Dauermonitum aller Paranoiaverkennungen, obzwar frustran, opfern. Behauptete ein psychiatrischer Klinikchef, er könne mit jeder einschlägigen Krankheit therapeutisch angemessen umgehen. Seine – darin allerdings bereits kundigeren – Assistenzärzte sorgten, wie zufällig, maliziös, für seine Konfrontation mit einem besonders auf- und ausfälligen Paranoiker. Ergebnis: Nach einigen Gesprächsminuten stürmten beide, mit hochroten Köpfen und lauthals schreiend, aus dem Behandlungszimmer … So die hohe paranoische Kunst unzutreffend zutreffender Inkulpation – getroffene Hunde bellen zumal, wenn sie inexakt beschuldigt werden (gibt es das, prinzipiell?). Der paranoische Ingrimm, die projektive Inkulpationsattacke, ruft
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die menschliche Fundamentalnot auf den Plan, nämlich die Sterblichkeit, den Tod, verleugnen zu müssen. Vielleicht können Sie sich, dessentwegen, ein wenig vorstellen, wie desperat der Umgang mit rein paranoischen Patienten sich ausnehmen muss. 9) (Angedeutet:) Paranoia und Regression in die „paranoid-schizoide Position“ (Klein), später in die „anale Phase“ Ebenso hoffnungsloser Fall: meine erste paranoische Patientin, nahezu meine Lehrmeisterin in Sachen Paranoia, ausbeuterisch gesagt und getan, die ich, Anfänger, aufgrund einer falschen Indikationsstellung, in eine meiner Therapiegruppen aufnahm. Wo sie sogleich unglaublichen Stunk machte; und dies, getreuest, bis zum heutigen Tag, über drei Jahrzehnte (passé schon die ‚Silberhochzeit‘) hin … Ja, Stunk machen, buchstäblich flatulisch – sie litt, paranoiaanoncierend, an einem kaum sozialisierbaren Meteorismus (bekannt? Blähsucht, vornehm ausgedrückt); womit eine Spur in auch frühe, paranoische Körperbeteiligungen spruchreif würde, hin zu psychoanalytisch weitgehendem – kleinianismuspflichtig unflätigem – Brachland, das ich, nach Kräften unmanichäisch (doch höchst vernünftig) nachholend zu beackern suche. 10) Paranoia – Inregienahme der Schizophrenie? Fehlauffassung dessen im „Anti-Ödipus“ Deleuzes/Guattaris ‚Isolierte Paranoia‘? Ansonsten nimmt Paranoia schizophrenieimmanent episodisch Platz; und zwar als symptomträchtiges – symptomatisch misslingend gelingendes – Ansinnen (man macht so „die Rechnung ohne den Wirt“), Schizophrenie dadurch in Regie zu nehmen, dass die Angelegenheit des Selbstzerfalls sich in eine solche aufgespaltener Intersubjektivität wandle – Paranoia, die Intersubjektivitätspathologie schlechthin; so sie wähnt, mittels gewaltsamer Repetionen an projektiver Selbstbereinigung sich davor zu schützen, dass das Projizierte sie, dissoziierend, rückbefällt; und zahlt dafür den instabilen Preis, alles Vertrauen, in beide Richtungen, zu töten. Und aus der Anwandlung des intersubjektiven Heimischmachens, der Abschirmung der schizophren drohenden Selbstreifikation, aus der heißersehnten Körperwärme sozusagen, gebiert sich das Desaster todesfrigider Kriege. Angängig das psychosenimmanente Verhältnis von Paranoia und Schizophrenie, unterläuft dem Anti-Ödipus Deleuzes/Guattaris ein gravierendes Dualismusmissgeschick, das ich hier eben nur andeuten kann: Jene sei der verkniffen ödipale Hemmschuh dieser in ihrer rettend grandiosen Anödipalität; und dies sogleich objektivitätsversiert und -legitimiert („Kapitalismus und Schizophrenie“!). Wie aus der marxistischen Transkription dessen deutlich hervorgeht: Die paranoische Organisation der „Produktionsverhältnisse“/der Institutionen/des Kapitals hindere
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die überfällige Entfesselung der schizophrenen „Produktivkräfte“/der Technik/der Arbeit. Und diese Dichotomie – selbst schon dubios (und fraglich, ob auf Marx so einfach zutreffend) – mündet in frühsozialistisch radikal liberalistisch gemixte krude (Medien)technologiekanonisierung. Nein, so geht es nicht. Zur Makroparanoiafunktion habe ich den Terminus „paranoische Dingwache“ ersonnen – Sankt Michael, fauchend die Epikalyptik des „Wer-ist-wie-Gott?“. Von wegen: Die reaktionär ödipale Politparanoia hintertreibe den anödipalen Technikprogress, die heiligste der Kühe, nein, sie schirmt vielmehr dessen ureigene Kriminalität, promovierend den entropischen Fortschritt der prothetischen Körperausschlachtung, bar der sexuellen Emanzipation des Fleisches, ab. Gegenproportion, exakt umgekehrt, wie im AntiÖdipus unterstellt: Je avancierter die (Wunsch)maschinen, desto reklamierter deren paranoische Assekuranz. 11) Binnenverfassung der Paranoia: Jedermann (Jedefrau) beim Wickel seiner (ihrer) unverschuldeten Schuld (‚Erbsünde‘) packen. Auf generationssexuellem Niveau: homosexuelle Enthaltsamkeit, um, nur umso heftiger, vom Schreibtisch aus, der beidgeschlechtlichen Hexenverfolgung, der Vernichtung jeglichen – niemals existenten – Matriarchats, zu frönen. Nach wie vor tut man gut daran, für die Binnenverfassung der Paranoia beim ingeniösen Freud in die Lehre zu gehen. Schleife dahin über ein beliebiges Beispiel: Der Dramatiker August Stindberg, frisch vermählt mit seiner jungen Frau, zerstört, wie wenn er einen bösartigen Plan verfolgte, progredient die Ehe durch maßlose Eifersucht, indem er eine Art von Dauerinquisition veranstaltet: während Ferien z.B. sie, die Ehefrau, beim Frühstück nach ihren Träumen ausfragt, um darin ihre Untreue, seine Nebenbuhler, zu entdecken. Eben: „Eifersucht, Paranoia, Homosexualität“! So ein prototypisch paranoisches Sichgerieren, das der folgenden Logik gehorcht: Die unbeherrschbare Eifersucht sucht ihre Legitimation in der Untreueerfindung, die insofern aber quasi realistisch bleibt, als es keinem Sterblichen vergönnt sein kann, schlechterdings a-promisk zu leben – wenigstens in seinen Träumen geht er schon mal irgend fremd –, und vermag sich, gegen die Perfidieunterstellung – man verzweifelt oder wird stinkwütend – nicht also effektiv zu wehren. Das liegt am Nachhall des alten ödipalen Zwiespalts, und, dahinter, wie schon angedeutet, daran, dass so die menschlichste Wunde aller vergeblichen Liebesmüh wider die Sterblichkeit (wieder)aufgerissen wird – der Inquisitor, die Infamie des strafenden Gottes, schlägt sie mir um die Ohren, so dass ich – Vater-und-Mutterbetrüger, Allenbetrüger, lebendiger Todesbetrüger, Perfidie apriori rundherum – auch ohne jedes Einzelverschulden, eo ipso, ja umso mehr nur dieses Ausfalls wegen, schuldig bin; und immer schuldiger, wenn ich die unverschuldete Schuld abstreite. Gehts noch schlimmer?
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Was aber führt der Hexenverbrenner damit eigentlich im Schilde? Das ist psychoanalytisches Standardwissen (oder sollte es sein): Der Hexenverfolger flieht den homosexuellen Kurzschluss mit seinen – imaginären – Konkurrenten, indem er die – angeblich ungetreue – Ehefrau, diese Hure, mit seiner Eifersucht paranoisch (eben: „der denkt zuviel“ – Sie erinnern sich?) foltert, im Extrem, Blutrichter, tötet. (Vorsicht! es gibt en masse die Bedienung der Suppositionen, „damit die arme Seele Ruhe gibt“; „Schuss, der freilich nach hinten losgeht“, und „die letzten Dinge werden ärger als die ersten“.) Männer nämlich sind so strikte tabu, dass die Verfallenheit an sie ihrem off limits aus den Ohren heraushängt; und Frauen – SM im günstigen Falle – schlichtweg Opfer. Worauf aber zweckt dieses Doppelgebilde von männlicherseits sexueller Selbstabsperrung und Weibstorturierung auf der Gegenseite ab? Die homosexuelle Abbreviatur gäbe die Frau frei. Was aber stellte sie in ihrer Entbindung an? Allzeit drohte ihr Einzug in die Rolle der Verfolgerin, des Todesengels; und damit in das quasi archaische Mutterrecht der „Herrin über Leben und Tod“; die sie, Mutter, ja zweifelsohne ist. Dann aber liegt es doch nächst, dass sich die mutterverfolgten Sohnesmänner zur Gegenfront, der „Bruderhorde“, zusammenrotten? Gewiss – was auch sollten sie anderes tun? Allein, im Innern dieser homosexuellen Isolationshaft kann es friedlich, nur nach außen hin feindlich, gar nicht zugehen. Denn dies abgeschottete reine Mannsgebilde schreit nach einer muttergewachsenen Gegenkraft, einem stellvertretenden Zusammenhalt, einer Versammlungsspitze; wonach? (‚Ödipuskomplex‘ in der zweiten Reihe!) eben nach dem Vater. Nur dass dieser, oberster Kriegsherr (Sie entsinnen sich? mit der anderen Generalissimoglatze) und blutbesudelter Opferpriester, den Parricida spruchreif macht, sofern er diese seine Gruppenfunktion als eigene besitzständige Herrschaftsmittel, räuberisch, missbraucht. Und so weiht er, vorsorglich, die ebenso gottverlassenen Söhne dem Tod – wem sonst wohl?: hetzt sie, selbst wenn, umgekehrt, getötet zumal, aufeinander, damit sie, sich zerfleischend, nach den Weiblichkeitsresten, den Muttermaculae, je an ihnen fahnden … „Tot, alles tot …“. Und, apokalyptisch, wähnt, letzte Absolutheitserfüllung, der Himmlische Vater das pure Selbstsein der Tartarosmutter. Und die Welt zerbirst, heimgekehrt in Legion Splitter. Urmutterrache, zum göttlichen Weltengericht verfälscht. Wehe – die Sache wächst mir über den eschatologischen Kopf! (Hinter vorgehaltener Hand:) Ich sollte wohl weniger Wagner hören? – Aber im Ernst – worauf sinnt die Paranoia, die (buchstäblich) miserabelste aller Psychopathologien, in ihren ausnehmend, ja exklusiv fraktalen Ausmaßen? In symptomatisch nur gelingendem Misslingen sucht sie sich, in ihrer Art schwankenden Asketismus’, schadlos zu halten: weicht der mörderischen männlichen Monosexualität aus; hält sich ebenso dem Hexenmartyrium fern; und etabliert sich so, in aller kompromissuellen Überwertigkeit, zum hellsichtigen Schreibtischmörder, der Realie der – hier mit-
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veranschlagten – Intellektualität dieses „großen Welttheaters“ – man verschluckt sich, man erstickt daran (spekulative ‚Avalation‘ und ‚Suffokation‘). 12) Paranoia als geschlossenes System; Krankheit und Krieg als Inwege Metapositionen zu diesem lückenlosen Universalsubstrat unserer Existenz insgesamt machen sich bloß lächerlich; und dies die stolze Supervisio (Über-sicht) dahinein zumal, so sie sich, abgehobene Magie in Reinkultur, zu einem sicheren Jenseits unserer nachgerade paranoischen Weltordnung überhebt. Die paradigmatischen Entrinnensverführungen Krankheit und Krieg, sie sind, wechselbezüglich, der Beleg dafür: In ihrem verzweifelten Ausbruch anderswohin, ins Ganzandere, werden sie von der schlechterdings impermeablen Todeswand in unser – umso verschlimmertes – Gefängnisinneres, „intra muros“, zurückgeschleudert und … „Wechselbezüglich“? Ja, Krankheit, die bestrafte Usurpation der sich selbst bestrafenden Kriegsusurpation. Was aber wird denn da usurpiert? Siehe den Freudschen Todestrieb: notwendigerweise die Verdammnis der Prätention der Sterblichkeit, des (vorgestellt freilich verfehlten Todes) – Metamorphose des Mortalitätstraumas in tötende Gewalt. Wir, die Sterblichen (unser Ehrentitel), sind uns nimmer gewachsen, und betreiben darum, todesgehetzt ohne Ende, todesprophylaktisch, -mimetisch die großen Werke absolutheitsverirrter Zerstörung. 13) Weibliche Paranoia – vorausgehende Nachträglichkeit/Kopie der männlichen Vor dem funebren Finale muss ich mich eilig noch einer unschönen Auslassung widmen – Sie erinnern sich: Als Paranoiaexempel wählte ich eine Paranoikerin, aus keinem anderen Grunde, als dass ich mit ihr langzeitigen Umgang hatte, also die weibliche Paranoia. Ob es sie überhaupt geben kann? Nun, wenn die Mutter, eo ipso Urverfolgerin, primäre Todesepiphanie, eben auch für die Tochter; und, dazu abgeleitet nachträglich, der Vater deren Persekutionskopie, ausgerichtet aber auf die gleichgeschlechtlichen Söhne – wenn dem so sei, so bleibt, in letzterer Vaterbeziehung, die Tochter atopisch, gänzlich außenvor, es sei denn, sie wechsle, bußfertig, das Geschlecht; und im Ersteren, dem Mutterverhältnis, ist sie, wie apriori inexistent, im Vorhinein abgetrieben und resorbiert (Binnenabort), und taumelt im All daher, und verschwindet. (Selbst in der Hölle herrschen filiarchale Zustände: des Teufels Großmutter hat es nur mit ihrem Höllenenkel (wessen Vaters?), nicht mit der – übersprungenen – Tochtermutter!) Erbärmliches Schicksal, dem so nur, symptomatisch, gewehrt werden kann, dass sie, um überhaupt ek-sistent, ausständig repräsentationsbefähigt, drittenvermittelt zugehörig zu sein, eine imaginäre Geschlechtsmetamorphose an sich vollstrecken muss: sie, der weibisch missratene Sohn, verfolgt von einer schäbig mannstravestischen Mutter. Die sie, in meinem Beispiel, de facto, wenn nicht gegenverfolgt,
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so ihr doch, höchst aktiv, nachhaltigst nachstellt, wie wenn sie sich auf – vergeblicher – Muttersuche befände. Welch sich in der Phantasie ständig wiederholende Szene!: Ich, (weiblich) mit Vollbart maskiert, fahre sehr langsam, im PKW, parallel zu ihr auf dem Bürgersteig, der transsexuellen ‚Bordschwalbe‘, die, indem ich sie einschlägig anspräche, mit zum Himmel verdrehten Augen laut betete. Ja, welch ein unendliches Paar! 14) Alternativelosigkeit – nicht zuletzt intellektuell – des Fraktals paranoische Weltordnung: ‚projektive Identifikation‘ von/mit Sterblichkeit Wenn Sie sich nunmehr von Misstrauen umzingelt fühlten, so wäre mein Vortrag, mehr wohl eine Art ‚Philosophenlesung‘, angemessen gewesen. Wer aber sympathisiert wohl nicht damit, den schlechten Nachrichten gute folgen zu lassen: mittels des klotzig beschworenen Unheils den fraglosen Eintritt des weltumspannenden Heils zu präparieren? („Bereitet den Weg des Herrn, machet eben seine Pfade …“) Nein, eine solche Umkehr ist mir versagt, unwohlfeil anzubieten habe ich bloß den „ewigen Karfreitag“, bar der „Auferstehung“. Denn: Wir vermögen, von Menschheitsanbeginn an, auch wenn wir noch so passioniert darum kämpfen (und, zwischenzeitlich, dadurch, noch und noch so viel splendide Kultur erschuften), den Tod (mitsamt den Göttern) nicht loszuwerden; und wenn wir ihn zu absolvieren wähnen, so geraten wir auf der Stelle in die Fänge der ‚projektiven Identifikation‘ (der tückischsten aller Abwehrformen, mehr noch: deren Inbegriff ): entleeren uns, spaltend, der Sterblichkeit, um uns an sie umso ewiger rückzubinden, um in dieser ‚inklusiven Disjunktion‘, kurzum, den ‚schaffenden‘ gleichwie den ‚tötenden Tod‘ zu wirken. Den Tod und die Götter, den Gott, werden wir nicht los – „Das Trauma provoziert das Phantasma; das Phantasma schirmt das Trauma ab“ –, er vikarisiert sich, geschlechtsdifferentiell, in n-AgentInnen und Agenturen, so in der tödlichen „frühen Mutter“ und, nachgeordnet, dem „konkurrierenden (!) Vater“ – alles paranoische Verfolgungsgepflogenheiten, Todesverkündigungen, die erosversierte Gegenverfolgung, zusammengefasst: den fremd- und eigendestruktiven, Makro- wie Mikro„todestrieb“, totalisiert, bis in die Physiologie und den Kosmos hinein, promovieren. 15) Vertrauen – nicht mehr als manische Verleugnung des Misstrauens? Anerkennung dessen – die Feuerprobe der Möglichkeit von Vertrauen Wo aber ist die tröstliche Gegenkraft, das Vertrauen, gar Eriksons „Urvertrauen“, dessen Ausfalls wegen wir zeit unseres Lebens irgend paranoisch herumeiern, auf der Strecke geblieben? Fürs Erste untergehen müsste es in seinem unabwendbaren Gegenteil, dem todesbedingten Urmisstrauen dem Leben gegenüber, das Eros (vs. Thanatos) niemals zu absorbieren, bloß, dubiosesterweise toxikomanisch, zu sedieren
PARANOIA – FESTIVAL DES VERTRAUENSMORDS 105
versteht. Und allererst auf dieser Ungrundlage wäre das Wirken am Vertrauen – aber ja!: das Engagement an die Rettung desselben – das postuliere ich zumal als Psychopathologe –, geschützt vor seiner selbstdestruktiven Überheblichkeit, die ja – fast möchte man meinen: notwendigerweise – unterstellt, sie könne die Todesnichtung des Vertrauens mit – (pardon!) besoffenem – Vertrauen selbst wiederum zunichte machen; ‚ontisches‘ Vertrauen, das die Feuerprobe seiner ‚ontologisch‘ radikalen Negation bestehen müßte, um als solches, quasi geläutert, überhaupt effektiv werden zu können. Wie weit sind wir noch von solcher ‚Metanoia‘ entfernt?! 16) Szenografie/Szenologie – postmodernes Forcement der Paranoiabannung? Unschließlich bitte ich Sie nun, die Szenografen, mehr noch: Szenologen, mich an einem marginalen Platz Ihres Kreises aufzunehmen. Habe ich doch in meinem Vortrag/meiner Lesung eine Art intellektueller Inszenierung erprobt, die, wie man weiß, nicht ohne hysteroide Nachhilfe abgeht, und, freilich, der postmodernen – angelologischen, geschwisterinzestuösen – Medienhegemonie, dem verzweifelten Versuch, Alles und Jegliches mittels – viel Erfolg! – Simulation, Imaginarisierung zu bannen, wenn auch contre cœur – aber was heißt das schon: Widerwillen? – meinen Tribut gezollt. Zwar komme ich nicht umhin, an dieser meiner (Realre-)Projektion festzuhalten – schließlich habe ich ja aufgrund schriftlich gemachter Textvorgaben vorgetragen –, muss aber zugleich die Haltlosigkeit dieser Externalisate einräumen, nämlich dass deren Wort- und Schrifthülle mitnichten durchweg dichthält, porös zu werden droht, und mich und Sie (und mehreres noch mehr), des Unheils übervoll, rückbefällt. Also gehen wir vorsorglich in Deckung (ich verschwinde hinter dem Rednerpult).
ADNOTA ZUR DISKUSSION
Moniert wurde der Ausfall, Paranoia ordentlich zu definieren („Wie die Katze um den heißen Brei …“), das Einfallstor des besagten ‚Kategorienfehlers‘ (Beispiel: „Die Dechiffrierung der Philosophie des Nationalsozialismus – und damit dieses selbst – mittels Kleinianischer Abwehrmechanismen“): x und non-x als dasselbe Phänomen unter den nicht vorhandenen Oberbegriff „Paranoia“ zu subsumieren; und so es auf eine bodenlose Selbstreferentialität ankommen zu lassen. Zusammengefasst: Also gibt es keinerlei Außen! Ja – meine lapidare Antwort. Je schon habe die Paranoia mitsamt ihrer Beschwörung (Herbeizitieren, zum Bleiben Bewegen/Stellen, Mehrwertabschöpfung, Verschwindenlassen), sich fraktalisierend, zugeschlagen; und dies nicht zuletzt sich in dieser meiner aufklärenden Rede paranoischer Selbstansehung, bar der Lizenz eines Überschusses, totaliter ausgebreitet.
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Trost, beinahe, wider die Depressionsfolgen dieser Zuschnürung: dass die Paranoia selbst paranoisch sei. Ja, nur dass dieses treffliche Verdikt wiederum nicht jenseits derselben angesiedelt sein könne. Zu was aber frommt es denn dann? Zum Scheine endgültiger Paranoiabannung, dieses Aufschubs. Und wozu nutzt dann diese Auskunft? Item – unabschließbar abgeschlossen ad infinitum. Prononcierung von 8d): „Paranoiaabtretung an Kontrollgerätschaften“ – insbesondere der Konfidenz auf diese. Eine weitreichende Einlassung, die das KörperDingverhältnis erfragt – dingliches Körperdouble, das – Todespräsentanz, dingphantasmatisch – höhere, höchste Verlässlichkeit garantiere – die angemaßte Verlässlichkeit des Todes! (Dinge sind aber nichts mehr als „Todestriebrepräsentanzen“.) Nur dass diese Konstanz sich in deren „Retranssubstantiation“ paranoisch konterkariert: Reifikation, die nicht zu ihrer Letztruhe kommt, so sie ja in Schizophrenie einmündete und deshalb die Paranoiawende auf den Plan ruft. Einschätzung der intellektuellen Kritikvalenz der Szenografie/Szenologie? Sie kam mir, fürs Erste, als, versuchweise, innovatives, postmodern in sich reflexiv gesteigertes Unternehmen der Paranoiabannung, deren abgelöst histrionischer Inregienahme, vor; und könnte als solche wie zu einem quasi einheitswissenschaftlichen Dachinstitut aller Darstellungsgenres expandieren. Ihre differierende („erotische“) Zuträglichkeit bemäße sich – jedenfalls nach meinem Gusto – nach der meines Erachtens bereits gewährleisteten Theoriepotenz, alle Re-präsentationsweisen dem Test ihrer Beschwörungsmächtigkeit und -reichweite zu unterziehen; und, vielleicht, auf dieser nicht magietranszendenten Grundlage selbst auch heikel inszenatorisch – Theoriepraxis, „intellektuelle Aisthesis“ – wirksam zu werden? Selbstverständlich – und darum ist Szenografie/Szenologie nicht zu schelten: auch nicht weniger unterliegt sie der unauflöslichen Antinomie von Intellektualität und Tauschwert; und möge deswegen ihre Marginalität, ihren Nischencharakter, wahren. Unter diesen Konditionen, zuvörderst ihrer Philosophielastigkeit, bin ich, wohlbesehen, ihr bereits verbunden. Erlebter Schock längst vollzogener Zeitwende: Frankens Vortrag „Spatial Narratives“1 , der mich, den allenthalben mittendurchfallenden Spätmodernen, einzig traumatisierte – „Sie haben mir alle überkommenen Kritikchancen an der Warenästhetik – seien sie Haugscher oder Baudrillardscher Provenienz – aus der Hand geschlagen; und das war, oblique, auch Absicht“ – „Wie hoch ist der Tauschwert Ihrer monumentalen Werbearbeit eigentlich veranschlagt?“ … Freilich musste ich alle, nicht ungeschickt eingesetzten, Transzendentien als Ausflüchte, als ausweitende, nicht moderierende, 1
Siehe in diesem Band S.189ff.
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Apologie solcher erschlagenen Superwarenästhetik parieren: die künstlerischen Überschüsse über die warenästhetische Reklameoption hinaus; das Absehen von aller Geschäftlichkeit während der warenästhetischen Produktionsvollzüge; die Fortsetzung kultischer Traditionen darin; der Neuerungscharakter „expressiv verbis“ der „spatial narrative“ – alles voll zutreffende Mystifikationen der Allmächtigkeit des Tauschwerts. Die – gar nicht mehr peinliche? – Frage nach der Klassen- und Geschlechtsspezifität dieser hochprofessionell aufgedonnerten Warenästhetik, des „Erhabenen“ nicht zuletzt ja des Autos, seiner Heiligkeit, das gänzlich unerwähnt und unaufgeschlossen blieb – ich supplementiere es hiermit –, verschlang diese, und gab sie in der jetzigen Erinnerung schwach nur wieder her. (Was auch soll man dagegen erwidern, dass solche Großunternehmungen in der hegemonialen sich verselbstzwecklichenden Tauschsphäre zur Gerechtigkeitsmaximierung beitragende Arbeitsplätze schaffen?) Selbst erschrak ich, während des Schreibens schon, über die sich erzwingende paranoische Fraktalität; und fühlte mich zur Revision meiner Pathognostikprämissen zunächst dadurch gar veranlasst. Korrekturen daran sind jedoch nicht geboten, wenn immer man mitvollzöge, dass es nur einen Trieb, ein Movens, den „Todestrieb“, sprich: Todesparierung, gebe; und dass aller Unterschied zwischen Innen und Außen damit dahin sei. Dann nämlich dürfte man geltend machen, dass der Tod sodann in die Position des erstletzten Verfolgers – Urparanoia Sterblichkeit – tritt, und dass es folgend nicht anderes mehr gibt als den Widerspruch nicht-heterogener Gegenverfolgung, der Urparanoia Bannung; und dass die Ubiquität empirisch ontischer Paranoiaverhältnisse darauf, auf diesem ontologischen Ungrund, restlos beruht. Den paranoischen Endsieg aber macht der Allgenerator „projektive Identifikation“: der Rückbefall von der Todesveräußerung, je schon geschehen und in Nachträglichkeit aufschiebend dramatisiert bis …
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Gernot Böhme DIE KUNST DES BÜHNENBILDES ALS PARADIGMA EINER ÄSTHETIK DER ATMOSPHÄREN.
1. ATMOSPHÄREN HERSTELLEN
Das Interesse am Bühnenbild hat seit den Anfängen meine Ästhetik der Atmosphären begleitet. Während für Hubert Tellenbach1 Atmosphären wie der Nestgeruch noch etwas quasi naturhaft Gegebenes waren und Hermann Schmitz2, von Rudolf Otto herkommend, Atmosphären ergreifende Gefühlsmächte sind, so musste im Rahmen der Ästhetik der Gesichtspunkt der Herstellbarkeit von Atmosphären hervortreten. In der Kunst des Bühnenbildes spricht man von einem Klima, das man auf der Bühne inszeniert, im Rundfunk etwa bei Hörspielen von der Atmo, die das Geschehen grundieren soll. Diese Orientierung an der Praxis der Herstellung von Atmosphären hatte zudem den unschätzbaren Wert für die Theorie, dass nämlich von daher der schon immer behauptete Status von Gefühlsatmosphäre, quasi objektiv zu sein, gerechtfertigt werden kann. Die Kunst des Bühnenbildners wäre sinnlos, wenn jeder Theaterbesucher etwas nur Subjektives wahrnehmen würde.
2. ATMOSPHÄRE – EIN BEKANNTES, JEDOCH HÖCHST VAGES PHÄNOMEN
Der Ausdruck Atmosphäre entstammt ursprünglich dem meteorologischen Bereich und bezeichnet die wetterträchtige obere Lufthülle. Erst seit dem 18. Jahrhundert wird er metaphorisch verwendet, und zwar für Stimmungen, die „in der Luft“ liegen, für die emotionale Tönung eines Raumes. Heute ist dieser Ausdruck in allen europäischen Sprachen geläufig, wirkt nicht mehr gekünstelt und wird kaum noch als Metapher angesehen. Man spricht von der Atmosphäre eines Gespräches, der Atmosphäre einer Landschaft, eines Hauses, von der Atmosphäre eines Festes, eines Abends, einer Jahreszeit. Dabei ist die Art und Weise, wie wir über Atmosphären sprechen, hochdifferenziert – schon in der Alltagssprache. Eine Atmosphäre ist gespannt, heiter oder ernst, drückend oder erhebend, kalt oder warm. Wir sprechen auch von der Atmosphäre des Kleinbürgertums, der Atmosphäre der 20er Jahre, der Atmosphäre der Armut. Man kann, um in diese Beispiele eine Ordnung hineinzubringen, die Atmosphären in Stimmungen, Synästhesien, Bewegungssuggestionen, 1 2
Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre, Salzburg 1968. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd.III.2, Bonn 1969, §149.
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in kommunikative und gesellschaftlich-konventionelle Atmosphären einteilen.3 Worauf es ankommt ist, dass wir, wenn wir über Atmosphären reden, ihren Charakter bezeichnen. Durch diesen Ausdruck bringt man das Verständnis von Atmosphären schon in die Nähe von Physiognomik und Theater. Der Charakter einer Atmosphäre ist die Weise, in der sie uns als teilnehmenden Subjekten eine Befindlichkeit vermittelt. Eine ernste Atmosphäre hat die Tendenz, mich ernst zu stimmen, eine kalte Atmosphäre lässt mich erschauern.4 Die wissenschaftliche Verwendung des Terminus Atmosphäre ist relativ jung. Sie begann im Bereich der Psychiatrie, und zwar mit Hubert Tellenbachs Buch Geschmack und Atmosphäre.5 Hier wird mit Atmosphäre – durchaus in der Nähe des Olfaktorischen – so etwas wie heimatliches Klima oder Nestgeruch bezeichnet, also eine Sphäre der Vertrautheit, die leiblich-sinnlich spürbar ist. Inzwischen sind Atmosphären von der Phänomenologie ausführlich erforscht worden. Die Rede von Atmosphären spielt heute in der Innenarchitektur, der Stadtplanung, der Werbung und all den Bereichen, die der Kunst des Bühnenbildes verwandt sind, also der Hintergrundsgestaltung im Rundfunk, Film und Fernsehen, eine Rolle. Allgemein kann man sagen, dass Atmosphären ein Thema überall dort sind, wo etwas inszeniert wird, überall dort, wo es um Design geht – und das heißt heute: fast überall. Diese Selbstverständlichkeit der Rede über und des Umgangs mit Atmosphären ist nun höchst überraschend, weil das Phänomen Atmosphäre selbst etwas durchaus Vages ist, etwas Unbestimmtes, etwas Unfassliches. Der Grund dafür ist vor allem darin zu suchen, dass Atmosphären Totalitäten sind: Atmosphären sind über alles ergossen, sie tönen das Ganze der Welt oder eines Anblickes, sie lassen alles in einem bestimmten Licht erscheinen, fassen die Mannigfaltigkeit von Eindrücken in einer Stimmungslage zusammen. Über das Ganze kann man jedoch eigentlich nicht sprechen, schon gar nicht über das Ganze der Welt; Reden ist analytisch und muss sich an Einzelheiten halten. Ferner sind Atmosphären so etwas wie die ästhetische Qualität einer Szene, eines Anblickes, das „Mehr“, von dem Adorno orakelnd spricht, um ein Kunstwerk gegenüber einem Machwerk auszuzeichnen, oder das „Offene“, das uns nach Heidegger überhaupt den Raum gibt, in dem etwas erscheint. Atmosphären haben, so gesehen, etwas Irrationales, und das heißt wörtlich: etwas Unaussprechliches. Schließlich sind Atmosphären durchaus etwas Subjektives: Um zu sagen, was sie sind, oder besser: ihren Charakter zu bestimmen, muss man sich ihnen aussetzen, man muss sie in der eigenen Stimmungslage erfahren. Ohne das empfindende Subjekt sind sie nichts. 3
Siehe mein Buch: Atmosphäre. Essays zur Neuen Ästhetik, Frankfurt am Main, 6. Aufl. 2009.
4 Siehe meinen Aufsatz: „Mir läuft ein Schauer übern ganzen Leib“ – das Wetter, die Witterungslehre und
die Sprache der Gefühle. In: Goethe-Jahrbuch 124 (2007), Göttingen, S.133-141. Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre. Salzburg 1968.
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Und doch: Das Subjekt erfährt sie als etwas „da draußen“, als etwas, das einen überfallen kann, in das man hineingerät, das einen als befremdende Macht ergreift. Also sind Atmosphären doch etwas Objektives? Die Wahrheit ist, dass Atmosphären ein typisches Zwischenphänomen darstellen, etwas zwischen Subjekt und Objekt. Das macht sie als solche nicht fassbarer, bedeutet es doch, dass sie – zumindest im europäischen Kulturkreis – keinen gesicherten ontologischen Ort haben. Es lohnt sich aber gerade deshalb, sie von zwei Seiten her anzugehen, von der Seite der Subjekte und von der Seite der Objekte, von Seiten der Rezeptionsästhetik und von Seiten der Produktionsästhetik.
3.REZEPTIONS- UND PRODUKTIONSÄSTHETIK
Die Auffassung von Atmosphären als Phänomen ergibt sich von der Rezeptionsästhetik her. Atmosphären sind dem Subjekt als ergreifende Mächte gegeben, sie haben die Tendenz, das Subjekt in eine charakteristische Stimmung zu versetzen. Da sie einen aus dem Irgendwoher anwehen als ein etwas, von dem man im 18. Jahrhundert gesagt hätte: je ne sais quoi, werden sie als etwas Numinoses erfahren – und damit als irrational. Anders sieht es aus, wenn man von der Seite der Produktionsästhetik kommt. Sie ermöglicht den rationalen Zugang zu diesem „Unfasslichen“. Es ist die Kunst des Bühnenbildes, die die Atmosphären von dem Geruch des Irrationalen befreit: Hier geht es darum, Atmosphären herzustellen. Diese ganze Unternehmung hätte keinen Sinn, wenn Atmosphären etwas rein Subjektives wären. Denn der Bühnenbildner muss sich auf ein größeres Publikum beziehen, das die auf der Bühne erzeugte Atmosphäre im Großen und Ganzen in gleicher Weise empfinden kann. Das Bühnenbild soll ja den atmosphärischen Hintergrund für das Geschehen auf der Bühne hergeben, es soll die Zuschauer in das Theaterstück einstimmen und den Schauspielern den Resonanzboden für ihre Darstellungen geben. Die Kunst des Bühnenbildes zeigt uns also von der Praxis her: Atmosphären sind etwas QuasiObjektives. Was heißt das? Atmosphären sind zwar keine Dinge, sie liegen nicht vor als durch die Zeit hindurch identische Entitäten, gleichwohl können sie durch ihren Charakter auch nach zeitlicher Unterbrechung als dieselben erkannt werden. Ferner: Sie werden zwar jeweils nur in subjektiver Erfahrung wahrgenommen – etwa wie ein Geschmack oder Geruch, um auf Tellenbach zurückzukommen –, doch man kann sich über sie intersubjektiv verständigen. Wir können miteinander darüber reden, was für eine Atmosphäre in einem Raum herrscht. Das lehrt uns, dass es eine Intersubjektivität gibt, die nicht in einem identischen Objekt ihren Grund hat. Wir sind es durch das herrschende naturwissenschaftliche Denken gewohnt anzunehmen, dass Inter-
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subjektivität in Objektivität gründet, dass also die Feststellung des Vorliegens und die Bestimmtheit von etwas von der subjektiven Wahrnehmung unabhängig ist und an einen Apparat delegiert werden kann. Die Quasi-Objektivität von Atmosphären zeigt sich dagegen darin, dass wir uns sprachlich über sie verständigen können. Allerdings, diese Verständigung hat ihre Voraussetzungen: Ein Publikum, das ein Bühnenbild in ungefähr gleicher Weise erfahren soll, muss eine gewisse Homogenität haben, nämlich kulturell in bestimmte Wahrnehmungsweisen einsozialisiert sein. Unabhängig von dem kulturrelativen Charakter von Atmosphären bleibt jedoch ihr quasi-objektiver Status erhalten. Er zeigt sich darin, dass Atmosphären überraschend und ggf. im Kontrast zur eigenen Stimmung erfahren werden können. Ein Beispiel dafür ist, dass ich mit heiterer Stimmung in eine Trauergemeinschaft gerate: deren Atmosphäre kann mich bis zu Tränen umstimmen. Auch dafür ist das Bühnenbild ein praktischer Beweis.
4. PHANTASTIKE TECHNE
Jedoch, kann man Atmosphären wirklich machen? Mit dem Ausdruck Machen bezeichnet man den Umgang mit materiellen Bedingungen, mit Dingen, Apparaten, mit Sound und mit Licht. Doch die Atmosphäre selbst ist kein Ding, sie ist vielmehr ein schwebendes Zwischen, zwischen den Dingen und den wahrnehmenden Subjekten. Das Machen von Atmosphären beschränkt sich also auf das Setzen der Bedingungen, unter denen die Atmosphäre erscheint. Wir bezeichnen diese Bedingungen als Erzeugende. Der eigentümliche Charakter eines Machens, das nicht eigentlich im Herstellen eines Dinges besteht, sondern nur durch Setzen von Bedingungen das Erscheinen eines Phänomens ermöglicht, lässt sich durch einen Rückgriff auf Platons Theorie der Mimesis erläutern.6 Um die trügerische Kunst der Sophisten zu entlarven, führt Platon im Dialog Sophistes eine Zweiteilung der darstellenden Künste ein.7 Es gebe, sagt er, den Unterschied zwischen der eikastike techne und der phantastike techne. Dabei ist Letzteres für uns interessant. Bei der eikastike techne besteht die Mimesis im getreuen Nachbilden eines Vorbildes. Die phantastike techne dagegen erlaubt sich Abweichungen vom Vorbild. Sie berücksichtigt nämlich den Blick des Betrachters und will das, was sie darstellt, so zur Erscheinung bringen, dass es der Betrachter „richtig“ erkennt. Platon orientiert sich bei dieser Unterscheidung an der Praxis der Bildhauer und Architekten seiner Zeit. So hat man beispielsweise den Kopf einer sehr großen 6
Siehe dazu mein Buch: Platons theoretische Philosophie, Stuttgart 2000. Lizenzausgabe: Darmstadt 2004, das Kapitel III.2, Theorie des Bildes. 7 Platon: Sophistes, 235e3-236c7.
DIE KUNST DES BÜHNENBILDES 113
Statue relativ zu groß gemacht, damit er dem Betrachter nicht zu klein erscheint, oder man hat die waagerechten Kanten eines Tempels leicht nach oben geschwungen gestaltet, damit sie dem Betrachter nicht durchzuhängen scheinen.8 Diese Kunst der phantastike ist vielleicht noch nicht ganz das, was wir mit der Kunst, Atmosphären zu machen, meinen, doch sie enthält bereits das entscheidende Moment, nämlich dass der Künstler sein Ziel nicht eigentlich in der Herstellung eines Objektes oder Kunstwerkes sieht, sondern in der Vorstellung, die der Betrachter durch das Objekt empfängt. Deshalb heißt diese Kunst ja auch phantastike techne: Sie bezieht sich auf das Vorstellungsvermögen des Subjektes, bzw. auf seine Einbildungskraft, seine imaginatio. Näher kommen wir unserem Anliegen schon durch die bereits im 4. Jahrhundert vor Christus bei den Griechen entwickelte skenographia. Aristoteles schreibt sie in seiner Poetik II dem Tragödiendichter Sophokles zu. Die Altphilologen glauben, dass damit schon die perspektivische Malerei, eine Erfindung, die man häufig erst der Renaissance zuschreibt, gegeben sei.9 Von daher habe sich die geometrische Proportionenlehre, insb. der Strahlensatz, wie wir sie in den Elementen des Euklid finden, entwickelt. Um nämlich durch Malerei räumliche Tiefe zu schaffen, bedarf es der perspektivischen Verkürzung der dargestellten Gegenstände, der Gebäude, Bäume, Menschen. Wir haben also in der Skenographie eine Kunst, die nun explizit in ihrem konkreten Tun auf die Erzeugung von Vorstellungen bei den Subjekten, hier bei den Zuschauern, gerichtet ist. Sie will nicht Gegenstände formieren, sondern vielmehr Phänomene schaffen. Die Behandlung der Objekte dient lediglich der Herstellung von Bedingungen, unter denen diese Phänomene hervortreten können. Doch ohne die Mitwirkung des Subjekts, der Zuschauer, ist es nicht getan. Es ist interessant, wenn Umberto Eco genau dies von jeder bildlichen Darstellung behauptet: Sie bilde nicht den Gegenstand ab, sondern schaffe nur die Wahrnehmungsbedingungen, unter denen für den Betrachter des Bildes die Vorstellung des Gegenstandes erscheine.10 Das mag übertrieben sein, doch gilt es beispielsweise für die Malerei des Impressionismus. Diese Malerei ist ja nicht um die Abbildung eines Gegenstandes oder einer Landschaft bemüht, sondern vielmehr darum, beim Betrachter einen bestimmten Eindruck, eine Erfahrung zu erwecken. Der schlagende Beweis dafür liegt in der Technik des Pointillismus. Die Farben, die der Maler sehen lassen will, finden sich ja nicht auf dem Tableau, sondern „im Raum“ oder in der Vorstellung des Betrachters. Die Kunst des Bühnenbildes ist natürlich längst über die reine Skenographie hinaus geschritten. Zu dieser Entwicklung scheinen die Wagner-Opern besonderen Anlass gegeben zu haben, weil sie einerseits ohnehin ein phantastisches 8
Carl Lamb, Ludwig Curtius: Die Tempel von Paestum. Leipzig 1944, S.17. Erich Frank: Platon und die sogenannten Pythagoreer. Darmstadt: WBG 1962, S.20. 10 Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. München 1987, Kapitel 3.5. 9
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Ambiente erforderten, andererseits besonders auf das Gemüt, nicht nur auf die Vorstellungskraft wirken sollen.11 Der Durchbruch kam aber erst im 20. Jahrhundert mit der Elektrotechnik durch die Beherrschung von Licht und Sound.12 Hier hat sich nun eine Bühnenkunst entwickelt, die nicht mehr nur auf die Gestaltung und Möblierung des Bühnenraums beschränkt ist, sondern einerseits die Bühne und das Geschehen auf der Bühne in einem besonderen Licht erscheinen lässt und andererseits einen akustischen Raum schafft, der das Ganze tuned. Damit war zugleich die Möglichkeit gegeben, dass die Kunst des Bühnenbildes den Bühnenraum selbst verlässt und auf den Zuschauerraum übergreift, oder gar auf den Raum überhaupt. Die Licht- und Tonräume sind nicht mehr etwas, das man nur distanziert wahrnimmt, sondern etwas, in dem man sich befindet. Damit ist zugleich die Ausweitung der Bühnenkunst zur allgemeinen Kunst der Inszenierung gegeben, wie sie insb. bei der Gestaltung von Discotheken und großen Events, wie Open Air Festivals, Eröffnungen von Sportveranstaltungen etc. Anwendung findet.13 Die gegenwärtige Dominanz von Licht- und Sound-Design lässt rückblickend auch noch genauer erkennen, worin das Machen von Atmosphären auch im mehr gegenständlichen Bereich besteht. Denn es wird deutlich, dass es eigentlich nicht um Anblicke geht – wie die alte Skenographie vielleicht noch glaubte –, sondern um das Schaffen von gestimmten Räumen, eben Atmosphären. Das Machen, soweit es um ein Gestalten und Setzen des geometrischen Raumes und seiner Inhalte geht, kann sich also nicht darauf beziehen, welche konkreten Eigenschaften der Raum und die Dinge in ihm haben. Oder besser: Es geht nicht um die Bestimmungen der Dinge, sondern darum, wie sie in den Raum hinaus strahlen, was sie als Erzeugende von Atmosphären leisten. Ich spreche deshalb statt von Eigenschaften von Ekstasen14, also von Weisen des Aus-sich-Heraustretens. Man kann den Unterschied von Eigenschaften und Ekstasen durch den Gegensatz von konvex und konkav erläutern: Eine Oberfläche, die in Bezug auf den Körper, den sie umschließt, konvex ist, ist in Bezug auf den angrenzenden Raum konkav. Es geht also um die Ekstasen, um die Äußerungsformen der Dinge. Wir sind es wenig gewohnt, die Dinge durch ihre Ekstasen zu charakterisieren, obgleich sie doch z.B. für das Design entscheidend sind. Unserer ontologischen Tradition entsprechend charakterisieren wir die Dinge durch ihre Materie und ihre Form. Für unseren Zweck hier ist jedoch das Dingmodell Jacob Böhmes viel angemessener: Er denkt die
11
Ottmar Schuberth: Das Bühnenbild. Geschichte, Gestalt, Technik. München o.J. S.86f., S.95f.
12 Nora Eckert: Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert. Berlin1998, bes. das Kapitel „Mehr Licht! – Die
Lichtbühne“, S.106-113. 13 Ralph Larmann: Stage Design, Köln 2007; Tony Davis: Stage Design, Ludwigsburg 2001. 14 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, Kapitel IX.
DIE KUNST DES BÜHNENBILDES 115
Dinge nach dem Modell eines Musikinstrumentes.15 Danach ist ihr Körper so etwas wie der Resonanzboden eines Musikinstrumentes, seine äußeren Eigenschaften, bei ihm Signaturen genannt, sind Stimmungen, die seine Äußerungsformen artikulieren. Und schließlich sind für das, was die Dinge sind, ihr Ton oder ihr Ruch, charakteristisch, also die Art und Weise, in der sie ihr Wesen äußern. Ton und Ruch, in meiner Terminologie: die Ekstasen bestimmen die Atmosphäre, die die Dinge ausstrahlen. Sie sind also die Weise, in der sie im Raum spürbar anwesend sind. Damit haben wir eine weitere Definition von Atmosphäre: Es ist die spürbare Anwesenheit von etwas oder jemandem im Raum. Dafür hatten die alten den schönen Ausdruck Parusie. So ist etwa nach Aristoteles das Licht die Parusie des Feuers.16
5. SCHLUSS
Was ich von Aristoteles her phantastike techne genannt habe, sollte man wohl heute Design nennen. Wir haben uns ja auch an einem prototypischen Bereich des Designs orientiert, dem Stage Design. Nur kommt es für unseren Zweck darauf an, das traditionelle Verständnis von Design zu verändern, nach dem nämlich Design so viel war wie Formgebung oder Gestaltung.17 Schon die außerordentliche Bedeutung von Licht und Ton, nicht nur im Bereich des Bühnenbildes, sondern auch in der Werbung, im Marketing, in der Stadtplanung, in der Innenarchitektur verbietet das. Man könnte von praktischer, oder besser: poetischer Phänomenologie reden, weil es sich hier nämlich um die Kunst handelt, etwas zur Erscheinung zu bringen. Sehr treffend ist ein Terminus des Phänomenologen Hermann Schmitz, der von einer Eindruckstechnik spricht.18 Freilich ist dieser Ausdruck polemisch gemeint, er bezieht sich bei ihm nämlich auf die propagandistische Erzeugung von Eindrücken zur NaziZeit oder das, was Walter Benjamin die Ästhetisierung der Politik genannt hat.19 Also reden wir lieber allgemein von Inszenierungs-Kunst. Dann haben wir auf der einen Seite den Anschluss an unser Paradigma der Kunst des Bühnenbildes gewahrt, auf der anderen haben wir den heute leitenden Zweck, zu dem Atmosphären erzeugt werden, in diesem Ausdruck benannt: Das Bühnenbild ist selbst Teil der Inszenierung eines Dramas oder einer Oper. Die Kunst der Atmosphären, soweit sie in der 15 Jacob Böhme: De signatura rerum oder von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen. In: Jacob Böhmes
sämtliche Werke (hrsg .v. K.W. Schiebler), Leipzig 1922, Bd.I. Aristoteles: De anima, 18b. 17 Das habe ich besonders beim Werkbund-Jubiläum im ZKM Karlsruhe deutlich gemacht: Gernot Böhme: Die Atmosphäre. In: Michael Andritzky (Hg.), Von der guten Form zum guten Leben. Frankfurt am Main 2008, S.107-114. 18 Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999. 19 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1979, S.42. 16
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Ausrichtung von Open Air Festivals oder im Auftakt zu großen Sportveranstaltungen wie der Fußballweltmeisterschaft oder der Olympiade eingesetzt wird, ist deren Inszenierung. Die Rolle der Erzeugung von Atmosphären im Marketing dient der Inszenierung von Waren. Die Waren selbst werden in der ästhetischen Ökonomie20, wo sie nur noch zum geringeren Teil der Befriedigung elementarer Bedürfnisse dienen, in Hinblick auf ihren Inszenierungswert geschätzt: nämlich insofern sie dem einzelnen Menschen oder Gruppen zur Inszenierung eines Lebensstiles dienen. Und schließlich hat auch in Demokratien, oder besser Medien-Demokratien, in denen ja die Politik wie auf dem Theater agiert wird, die Erzeugung von Atmosphären die Funktion, Persönlichkeiten oder politische Ereignisse zu inszenieren. Wenn man diese Beispiele überblickt, dann zeigt sich, dass die Aufmerksamkeit, die wir heute den Atmosphären in der ästhetischen Theorie zuwenden, ihren materiellen Hintergrund darin hat, dass Inszenierung zu einem Grundzug unserer Gesellschaft geworden ist: die Inszenierung von Politik, von Sportereignissen, von Städten, von Waren, von Persönlichkeiten, von uns selbst. Die Wahl des Paradigmas Bühnenbild für die Kunst der Erzeugung von Atmosphären spiegelt also die reale Theatralisierung unseres Lebens. Deshalb kann man aus dem Paradigma Bühnenbild so viel theoretisch für die allgemeine Frage nach der Erzeugung von Atmosphären, also die Inszenierungskunst lernen. Doch auch praktisch sollte viel aus der großen Tradition der Bühnenbildnerei zu lernen sein. Das wird auch geschehen, doch sollte man nicht erwarten, dass sich viel darüber sagen lässt. Denn die Kunst des Bühnenbildes wird bis heute wie die traditionellen Handwerke in Meister-SchülerVerhältnissen weitergegeben, also im Mit- und Nachmachen. Das leitende praktische Wissen ist tacit knowledge. Umso erfreulicher, wenn man einmal in den vielen Büchern, die es zum Thema Bühnenbild gibt, etwas Explizites über das Handwerk findet. Ich gebe zum Schluss eine Probe solchen Wissens von der Praxis des Bühnenbildes – sie stammt ausgerechnet aus einer philosophischen Dissertation, nämlich Robert Kümmerlens Buch Zur Aesthetik bühnenräumlicher Prinzipien von 1929. Kümmerlen spricht über den Einsatz von Licht auf der Bühne. Man beachte: Kümmerlen sagt, durch Licht werde auf der Bühne eine Atmosphäre geschaffen. Dann bestimmt er die Wirkung der Lichtatmosphäre näher dadurch, dass der Darstellung dadurch eine charakteristische Stimmung vermittelt würde. Als Beispiel nennt er düster und lieblich, also einen synästhetischen und einen kommunikativen Charakter. Schließlich erkennt er auch den für Atmosphären typischen 20
Zu diesem Begriff als Charakterisierung des gegenwärtigen Status der Kapitalismus siehe Gernot Böhme: Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie. In: Zt. für kritische Theorie 12/2001, S.69-82. Auch in: Kaspar Maase (Hg.): Die Schönheiten des Populären. Frankfurt am Main 2008, S.28-41. (spanisch: Sobre la critica de la economia estética. In: adef, revista de filosofia, Vol. XVI, No 1, 2001, S.79-91).
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Status der Zwischen-Existenz: „Die reine Beleuchtung erzeugt ein Fluidum zwischen den einzelnen Darstellungsgebilden.“ Nun aber das ganze Zitat: Der zu betrachtende Raum erhält durch die Beleuchtung seine Helligkeit; die Darstellungen der Bühne werden durch Licht erst sichtbar gemacht. In der ersten Funktion der Beleuchtung, einer reinen Lichtgebung, wird mit der Helligkeit gleichsam die Atmosphäre, in der der Raum steht, geschaffen. Die in mannigfachster Weise zu erreichende Lichtatmosphäre variiert den Raum; die Darstellungen erhalten durch die Beleuchtung eine charakteristische Stimmung. Der Raum ist in seiner Ganzheit wirkungsvoll, die Lichter der Raumdarstellung bilden eine Geschlossenheit des Eindrucks, der Raum steht in einem einheitlichen Licht. Mit der Erhellung des ganzen Bildes ist ein „einheitlicher Zug“ geschaffen; aus dem Raum strömt eine gleichmäßige Stimmung aus, die ganze Raumdarstellung steht etwa unter einem „gedämpften“ Licht. Wir finden, daß die Raumgegenstände in regelmäßigem Licht „erstrahlen“; der Raum erscheint etwa „lieblich“ oder „düster“. Die reine Beleuchtung erzeugt ein Fluidum zwischen den einzelnen Darstellungsgebilden. In dem in ätherischer Helligkeitswirkung dargestellten Raume ist ein bestimmter Stimmungsgehalt eingeschlossen.21
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Robert Kümmerlen: Zur Aesthetik bühnenräumlicher Prinzipien. Ludwigsburg 1929, S.36.
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Pamela C. Scorzin DER „MESSIAS-FAKTOR“. ÜBER EINE VERTRAUENSFIGUR IN INSZENIERUNGEN VON POLITIK UND KULTUR
1. ALLGEMEINE ANMERKUNGEN ZUM THEMA VERTRAUEN, INSZENIERUNG UND SZENOGRAFIE
Das Vertrauen gibt dem Gespräch mehr Stoff als der Geist. François VI. Herzog von La Rochefoucauld, Prince de Marcillac
Das Phänomen Vertrauen kann systemtheoretisch wie szenografisch interpretiert, zunächst einmal als etwas definiert werden, das nicht per se einfach nur existiert, sondern sich immer erst zwischen mindestens zwei Partnern prozessual entwickelt und ereignet, und am besten dafür auch der In-Szene-Setzung, Sichtbarmachung und Markierung durch visuelle Codes bedarf. Dahinter verbirgt sich folglich auch per se ein dezidiert konstruktives, bildnerisch-gestalterisches Prinzip: So kann Vertrauen gefasst, gestiftet, gebildet, aufgebaut, bestärkt oder erweitert werden. Es hat dabei für alle an der Kommunikation Beteiligten auch eine dezidiert performative und darstellerische Qualität. Denn alle in den Vertrauensprozess Involvierten sind mit ihren jeweiligen Hoffnungen, Erwartungen und Haltungen als maßgebliche Akteure am Aufbau und der Entwicklung einer szenischen Bühne konstitutiv beteiligt, auf der dann als Auftakt eines zukünftigen Schauspiels Vertrauen in der ‚Gegenwärtigkeit‘ einer mit allen Sinnen zu erfahrenden totalen Wirklichkeit mit mehr oder weniger bewussten szenografischen Mitteln auf- und vorgeführt wird. Vertrauen ist demnach gleich in mehrfachem Sinne ein szenisch verdichtetes Präludium für den weiteren überraschungsvollen Verlauf eines versatzstück- und dialogreichen, am Ende aber dennoch völlig offenen Schauspiels, das gleichwohl die Zukunft dabei vorneweg zu antizipieren hofft, jedes Risiko an einem schlechten (Aus-)Gang von Anbeginn zu minimieren oder auszuschließen sucht, um dann zuletzt alle Erwartungen zu größter Zufriedenheit aller Beteiligten zu erfüllen – jedes gute, konventionelle Bühnen- oder Filmstück endet schließlich gemeinhin auch mit einem Happy End. Zu diesem glücklichen Ende rechnen dann auch Bestätigung, Gewinn, Erfolg und Glück – sie sind schließlich der zentrale Motor für risikoreiche Investitionen der Gegenwart in eine nicht mit absoluter Sicherheit zuverlässig prognostizierbare Zukunft. Denn wäre diese selbst sicher vorhersehbar, bedürfte es schließlich auch nicht der
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Eröffnung und Etablierung einer Szene der Atmosphäre des (perfekten) Vertrauens, sondern es genügte schon eine des rein nüchternen Bilanz- und Evidenzbeweises. Man würde logisch, objektiv und rational operieren, und sich nicht strategisch der überschwänglichen Poesie von Sinnlichem oder gar des ganzen Programms des Sensualistischen und der Verführung in der Kultur bedienen, und am Ende alles auf eine irrationale Intuition setzen. Gleichwohl gehört es zu den Charakteristika einer mit szenografischen Ästhetiken und visuellen Rhetoriken bestückten Aufführung, dass ihre elaborierte Bühneninszenierung generell den Blick hinter die Kulissen zunächst einmal verwehrt – obgleich gerade auch der ganze Backstage-Bereich metaszenografisch selbst zu einem eigenen Thema, zum Beispiel im Dienste des Abbaus und der Reduktion von Misstrauen, gemacht werden kann. Der (inquisitorische) Blick hinter die Fassaden und Kulissen der szenografischen Aufbauten und ihrer sichtbar wirksamen Ästhetiken und visuellen Rhetoriken muss jedoch erst einmal versperrt bleiben, um das Moment der gemeinsamen Täuschung respektive der Simulation und Illusion für alle beteiligten Akteure, den Performern wie dem Publikum als maßgeblichen Mitspielern und Akteuren gleichermaßen, im Spiel zu halten. Im Regieplan der Akte der (Auto-) Suggestion sind ‚Ent-Täuschungen‘ daher bis zum letzten Vorhang nicht vorgesehen oder eher die seltene, dafür metaszenografisch umso raffiniertere Ausnahme. Pointiert formuliert, ist es für die Inszenierung von Vertrauen dann auch wirklich nicht mehr von Belang und die Frage, ob hinter jeder szenografischen Performanz auch lauter lautere Absichten stecken; ob die Inszenierung wirklich wahr ist. Wer vertraut, der weiß schließlich immer auch um die Möglichkeit der Einstiegsrisiken, die da lauten: Betrug, Irreführung (Verblendung), Lüge, Verführung oder Täuschung. Allein, alle in dieser Phase am Spiel um die Vertrauensbildung ernstens bemühten beteiligten Parteien sind um die Reduktion dieses Risikos aus einer sich vorausgabenden Vorleistung sowie des damit letztlich zusammenhängenden potentiellen Endverlusts besonders bemüht. Vertrauen respektive Vertrauensbildung sind in den verschiedensten Milieus unserer Kultur somit immer ein in höchstem Maße emergentes Phänomen von (gesellschaftlichen) Systemen, in denen Ungewissheit wie Unwissenheit, etwa in Form eines Informationsdefizits, Kompetenzverlustes oder auch aller Formen der Nicht-Garantien und Unwägbarkeiten, die maßgeblichen Spielregeln aufstellen. Wenn dann ein Übermaß an Misstrauen die Crisis (Krise) im Spiel besetzt hält, muss mit der internen Kommunikation und den Interaktionen innerhalb eines gesellschaftlichen Systems wieder Vertrauen als sozialer Kitt für weiteres Handeln generiert werden. Im Phänomen Vertrauen synthetisieren sich nämlich Werturteile, Normen, Wünsche, Erwartungen, Hoffnungen, Erfahrungen und Haltungen, die die jeweilige Gruppe stillschweigend miteinander teilt und, systemisch gesehen, autonom und
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autopoietisch zusammenhält. Nicht immer zu voller Gänze gemeinsam miteinander geteilt werden können dabei allerdings spezielle Fähigkeiten, Fertigkeiten und die Verwirklichung dieser gemeinsam verfolgten besonderen Kompetenzen, weshalb diese dann auch auf Zeit delegiert, differenziert und verteilt werden – zum Beispiel an bestimmte Akteure des abgeschlossenen Systems, die darin symbolisch etwa als Vertrauensfiguren agieren, als Experten, Koryphäen, Autoritäten, Führer, Schamanen, Propheten, Gurus, Helden oder Idole handlungsaktiv sind. Jemand traut also einem anderen etwas zu, Vertrauen wird gegeben, verliehen oder geschenkt, muss vielleicht aber auch erst wieder zurückgewonnen und versichert werden, wenn Angst, Zweifel und Misstrauen die privaten wie öffentlichen Bühnen beherrschen; während der andere, der adressierte und damit appellierte Part, der damit allein schon in den Besitz einer besonderen Vertrauenswürdigkeit kommt oder diese auch schon längst in Besitz hat, im gleichen Zug strategisch in eine gesonderte szenische Position gebracht wird, um das an ihn gestellte Rollenprofil nun auch weiterhin glaubwürdig und wahrhaftig auszufüllen bzw. im szenografischen Sinne wirksam für die Augen aller performen zu können. Insbesondere in dominant nonverbalen Situationen und komplexen gesellschaftlichen Interaktionen, oder solchen, die wie im medialen Bereich primär szenisch oder höchst visuell verfasst sind, kehren dann auch der ganze Körper oder symbolische Körperteile wieder theatralisch mit eigener visueller Rhetorik auf die Bühne der sozialen Handlungen zurück: Sei es beispielsweise im rituellen Schau-Spiel des Handschlags und des (Bruder-)Kusses oder auch in der sozialen Angst, das Gesicht, mit dem man bürgt, zu verlieren. In den Bildenden Künsten und im Design möchte man dabei indes den handelnden Akteuren heute wiederum einen bekannten Werbeslogan nachrufen: „Vertrauen Sie nicht nur auf ihr Talent! Entwerfen Sie kongeniale Codes für Ihr Genie!“ Denn die Kompensation und Delegation der Kompetenzen möchte frühzeitig auch ihre (Rück-)Versicherung und Bestätigung vor den Augen aller finden. Authentizität, Glaubwürdigkeit, Redlichkeit, Personalisierung, Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit sowie eine eindeutige Haltung und Stringenz usw. sind auch hier die Schlüsselwörter szenografischer Praktiken im Dienste der Demonstration und des glaubwürdigen Vorweisens von Fachkenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, für die als zuverlässig erachteten Prognosen in Hinblick auf das individuelle Arbeiten, Handeln und Leisten. Wie werden also künstlerisches Talent, designerische Qualität oder gestalterisch-entwerfende Kompetenz als szenografische Codes mitreflektiert und bereits im Produkt/Artefakt inszeniert? Kurz: Wie zeigt man, dass man genial oder einfach nur der Beste im kreativen Wettbewerb ist? Welche Rollentypen und Codierungen werden dafür ferner für die handelnden Akteure strategisch ins Spiel gebracht? Welcher Vertrauen weckender Szenarien bedienen sich dabei die offiziellen Institu-
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tionen und privaten Organisationen der Präsentation und Vermittlung, u.a. die Galerien, Ausstellungshallen, Museen, Auktionshäuser, Messen, Märkte, Magazine und Medien, um in Zeiten immer knapper werdender Kassen für eine Investition (ideell oder monetär) in die Künste oder kreativen Produkte aktiv zu werben? Und welche Boni, welchen Profit nehmen danach die voll in Kunst, Design und Architektur vertrauensvoll Investierenden (Spekulierenden?), etwa die Sammler, Kuratoren, Veranstalter und Auftraggeber, wiederum umgekehrt davon an Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit für ihr soziales Ansehen und Prestige in unserer Kultur mit? Gibt es dabei im Zeitalter so genannter inszenierter Lebenswelten heute gravierende Unterschiede zur Geschichte und Tradition zu beobachten? Oder bedeutet Szenografie einfach nur, das Konzept des Gesamtkunstwerks (Wagnerscher respektive Semperscher Provenienz) im Zeitalter neuer integrativer Medientechnologien, kollektiver Arbeitsformen und stark flexibilisierter Beschäftigungsverhältnisse in temporären Projekten selbst zu vermarkten? Erleben wir eine Ausweitung der Theaterzone? Auch die Kunstszene scheint in Damien Hirsts 50 Mio. Pfund teurem Diamantenschädel For the Love of God im Jahr der großen Krise der internationalen Finanzmärkte und des damit einhergehenden viel zitierten totalen Vertrauensverlustes immerhin zuletzt dabei auch ihr eigenes Menetekel erfahren zu haben. Moderne und zeitgenössische Kunst und Gestaltung – also schon immer nicht nur eine Frage des (guten) Geschmacks, sondern vielmehr einer Blickkreditierung wie -diskreditierung des (blinden) Vertrauens? Bei aller Faszination für das lukrative Geschäft mit den neuen ‚totalen Gesamtkunstwerken‘ lässt sich doch aber auch erkennen, dass hinter den Ästhetiken und Rhetoriken aktueller szenografischer Praktiken, mit Jacques Rancière gesprochen, summarisch gesehen, sich ebenfalls ein unheimlich alles durchdringendes Regime von illusionsmächtigen Rhetoriken, sinnlich erfahrbaren Überredungskünsten, Überzeugungsstrategien und Handlungsanweisungen an das Publikum subtil verbirgt, aber auch mitunter diese Verbergung gleichzeitig selbst wieder szenografisch offenbart. Diese irritative Ambivalenz und inhärente Paradoxie macht Szenografien, insbesondere in der Charakteristik einer Meta-Szenografie, folglich erst so attraktiv und verführerisch, unterscheidet sie zudem vom reinen gründlichen Handwerk des direkten Werbegeschäfts – valorisiert sie als umfassende Inszenierungspraxis zu einem schillernden Phänomen zwischen angewandter und freier Kunst. Bevor wir hier jedoch für die Szenografie als intermediale wie auch crossmodale Gestaltungspraxis der Zeit weiter missionieren wollen, wenden wir noch einmal den Blick zurück auf die so geschickt inszenierenden Akteure im Rampenlicht der gegenwärtigen Politik- und Präsentationsbühnen – jene, die nicht wie die szenografischen ‚Wizards of Oz‘ nämlich durchaus voll sichtbar auf, und nicht einmal
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offen verborgen als äußerst einflussreiche und wirkungsmächtige Image Makers und Spin Doctors hinter den szenografischen Bühnen der Inszenierungsspektakel unserer heutigen Medienkultur auftreten.
2. MESSIANISMUS UND SZENOGRAFIE
Wenn sie ihre Ehrfurcht verlieren, wenden sich Menschen der Religion zu. Wenn sie sich selbst nicht mehr vertrauen, beginnen sie, sich auf Autorität zu verlassen. Laotse, Tao Te King (Übers. Peter Kobbe)
In einer vermeintlich weitgehend entsakralisierten modernen Alltagswelt des politischen Geschäfts und des populären Kommerzes können wir tagtäglich neuartige Sakralisierungsprozesse in der Vermarktung bestimmter Produkte oder Personen beobachten. Sie werden mit besonderen medialen Inszenierungen nicht nur kultisch überhöht, angebetet und verehrt, sondern auch rundweg für ihre besonderen Aufgaben mit einem vollen Maß an Vertrauen beschenkt, das wiederum durch ihre personifizierte ,Glaubwürdigkeit‘ und ‚Vorbildlichkeit‘ auch vom Publikum rituell eingefordert wird. So weisen beispielsweise die inzwischen zu wahren Medien-Hypes avancierten Präsentationsshows des kalifornischen Apple-Konzerns bei der Vorstellung und Einführung eines jeweils neuen Produktes durch den Unternehmensmitbegründer und Vorstandsvorsitzenden Steve Jobs, der Mitte der Neunziger Jahre als Retter in seine ehemalige Firma zurückgekehrt war, solche aktualisierten, spektakulären Sakralisierungsmomente in ihren Bühnenregien und – inszenierungen vor allem metaszenografisch auf: So erscheint der vom Apfel-Logo (sic!) hell erleuchtete Kopf der leitenden Führung eines weltweit agierenden Konzerns während einer meist lange erwarteten und im Vorfeld stets groß angekündigten Präsentationsshow immer höchstpersönlich und leibhaftig auf der ansonsten immer noch relativ leeren Bühne und präsentiert dann jeweils gütig bis triumphierend lächelnd der ungeduldig und sehnsuchtsvoll wartenden (Fan-)Gemeinde das neueste Buch der Weisheit seiner Zeit – verkündet und offenbart einem Pantokrator im schwarzen Rollkragenpulli gleich aus dem ansonsten eher indifferenten dunklen Bühnenraum heraus mit der jeweils neuesten und ultimativsten Kreation den Zugang zu allem Wissen dieser Welt: The Book of Jobs! Szenografisch gesehen, konvergiert hier die profane kommerzielle Produktvor- und -einführung mit einem quasireligiösen, kultischen Verkündigungszeremoniell, das dank der heutigen Medientechnologien zum instanten weltweiten Medienevent gerät. Zelebriert wird dabei mit dem prophetengleichen und hochgestimmten Unterton des von Steve Jobs höchstpersönlich selbst auf der Verkündigungsbühne gesprochenen geschliffenen
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Werbetextes ein irdisches Lifestyle-Tool, das affirmativ mit quasi-religiöser Überhöhung zum jüngsten ultimativen Schöpfungsakt proklamiert wird, mit dem, wiederum einmal, eine neue Ära der Menschheit begänne. Die offizielle Keynote der Ansprache des hiermit zum Hohepriester bevollmächtigten Apple-CEOs lautete demnach auch zum Beginn einer neuen Dekade apodiktisch schlicht: „Come, see our latest creation.“
Abb.1 Christus als Pantokrator, 12.Jh., Kathedrale von Cefalù, Sizilien.
Abb.2 Steve Jobs präsentiert das MacBook Air (Foto: associated press).
Abb.3 Steve Jobs präsentiert im Januar 2010 das iPad (Foto: associated press).
Abb.4 Still der Präsentationsshow für das iPad 2010 (Foto: associated press).
Eine immer noch recht herausragende Rolle im szenisch-theatralischen Spektakel der in erster Linie gläubige Käufer und die Fangemeinde ansprechenenden Produktwerbung und Präsentationsshows spielen hier offensichtlich vorrangig kultische Hauptfiguren, vertraute Archetypen, besondere Projektions- und Vertrauensfiguren, wie sie etwa die religiösen Modelle der Propheten, Heilsbringer,
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Erlöser, Wunderheiler, Hoffnungsträger, Retter aus der Krise, Gurus und charismatischen Führer auch im popkulturellen Rollenrepertoire für die öffentlichen Bühnen und Leinwände ewig bereitzuhalten scheinen. Mit der Personalisierung und Wiederentdeckung des Körpers von Symbolfiguren für das szenografische Agieren und performative Handeln kehrt daher auch schnell wieder bzw. in allen Zeiten immer wieder die archetypische Figur des Messias ins profane Werbe-Spiel zurück. Denn noch bevor er wirklich in Erscheinung tritt und hoffentlich seine Mission erfüllt, wird er bereits in einer besonderen Hoffnung und Erwartungshaltung überschwänglich mit einem Übermaß an Vertrauen bedacht, das nur im krisenhaften Moment der „Ent-Täuschung“ in sein Gegenteil, in ein hohes Maß an Misstrauen umschlägt, das allein die mystische Verbindung zum auserwählten Idol dann mit einem Schlag wieder aufzulösen vermag. Will man nun den Messias-Komplex nicht etwa allein als eine pathologische geistige Verwirrung, sondern vielmehr als eine geschickt intuitive oder gar strategische (Selbst-)Inszenierung für die gläubigen wie noch ungläubigen Massen, die es mit einer Sache zu missionieren gilt, verstehen, dann lohnt es sich vielleicht diese besondere Vertrauensfigur, der Verkörperung einer vertrauenswürdigen Person in einem sozialen Handlungsfeld, einmal etwas genauer zu betrachten – zumal es sich hierbei auch in popkulturellen Formaten wie dem jüngeren Hollywood-Film von Matrix (Regie: The Wachowskis, 1999) bis Surrogate (Regie: Jonathan Mostow, 2009) generell um wiederkehrend populäre Charaktere der Hoffnung und des Vertrauens handelt. Betrachtung verdient sie deswegen, weil die Rolle des Messias offensichtlich über Jahrhunderte hinweg mit einigen wiederkehrenden Codes ausstaffiert ist, woran sie als solche auch insbesondere bereits sofort visuell (wieder)erkannt bzw. geschaut wird – kunstgeschichtlich sprechen wir hier von den Attributen einer Bildfigur, die nun in räumlich-zeitlich orientierten Szenografien unterschiedlichster Art effektvoll weitergeführt und szenisch wie performativ ausgearbeitet werden kann. Nehmen wir daher zum Vergleich als weiteres Beispiel ein jüngeres aus der Werbekampagne eines politischen Wahlkampfes. Noch bevor Barack (übersetzt „der Gesegnete“) Obama auf den politischen Bühnen seines Heimatlandes und denjenigen seiner Auslandsreisen mit gewinnenden Rhetoriken, die religiösen Predigten entsprachen, die 44. US-amerikanische Präsidentschaft auch tatsächlich gewonnen hatte, wollten die Medien in ihm bereits eine verheißungsvolle und charismatische Führungspersönlichkeit nicht nur für die USA, sondern insgesamt für die ganze freie westliche Welt sehen – mit Osama Bin Laden als dem Anti-Christen, echt amerikanisch gedacht, in manichäischer (Sicht-)Weise. Hinter dem öffentlich wirksamen konturierten Imageprofil, zu dem Obama in erster Linie seine professionellen politischen Imageberater und Spin Doctors im interaktiven internet-gestützten Wahlkampf verhelfen sollten, und was dann
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auch schnell und dankbar von der internationalen Presse aufgegriffen und weiter propagiert wurde, wie uns beispielsweise das Titelbild der SPIEGEL-Ausgabe Nr. 7/2008 beweist, steckt jedoch vielmals nicht nur allein das darstellerische Potential und schauspielerische Talent eines neuen Protagonisten auf der internationalen Bühne der Weltpolitik, sondern dahinter verbirgt und offenbart sich zugleich auch das Kalkül einer politischen Szenografie fürs massenmediale Werbegeschäft. Für „eine Nation mit der Seele einer Kirche“ (Detlef Junker) geht in Zeiten der höchsten weltpolitischen Krise nun sogar auch das Bild eines ,farbigen Christus‘ und „schwarzen Mannes im Weissen Haus“ konform – umso mehr, da es mit dieser doppelten Codierung eine noch revolutionärere Zeitenwende innenpolitisch für die Vereinigten Staaten von Amerika versprach. Die Typografie der mehrzeiligen SPIEGEL-Headline, in den US-amerikanischen Farben blau-weiß-rot (wobei mit dem demokratischen Kandidaten nun offensichtlich eine linke, betont ‚rote‘ Zukunft drohte), steigert auf dem Magazincover (Abb.5) die mediale Ankündigung eines neuen „Messias“ wortwörtlich in die Größe gegenüber dem eigentlichen, aber bis dahin doch so gar nicht US-amerikanisch klingenden und damit auch gar nicht vertraut wie vertrauensvoll klingend wollenden Namen des farbigen demokratischen Präsidentschaftskandidaten: „Der Messias-Faktor. Barack Obama und die Sehnsucht nach einem neuen Amerika“. Das dazugehörige Coverbild zeigt nun wiederum Barack Obama, mit einem appellativen bis segnenden Verkündungsgestus und den bereitstehenden technischen Medien der
Abb.5 Cover des SPIEGEL Nr. 7/2008.
Abb.6 Shepard Fairey: Hope (2008).
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Massenkommunikation. Aus leichter Untersicht setzt die fotografische Aufnahme das noch jugendlich-dynamische, attraktive Haupt des farbigen Kandidaten während einer Rede auf der nur mit einem Spotlicht erhellten indifferenten Politbühne derart in Szene, dass die digital nachbearbeitete Lichtregie einen glitzernden Halo um den Körper des energisch wie adressierend gestikulierenden Redners zeichnet, der einem sakralen Heiligenschein alle Ehre erweist. Die Geschichte ist bekannt und dauert an. Der so auf der Bühne der Weltpolitik in der Krise erwartete und aus dem politischen Nichts neu Erschienene, der von den internationalen Massemedien ebenso schnell mit der prägnanten Wortschöpfung „schwarzer Messias“ bedacht wurde, hatte zudem eine ‚klare‘ prägnante Botschaft („Yes, we can“) und versprach „Hope“ wie auch „Change“ – beides wurde sogleich auch über neuartige Pop-Heiligenbildchen verbreitet, mit Warholinspirierten Plakaten und ikonenhaften Fan-Postern aus dem Atelier des jungen Werbegrafikers und Illustrators Shepard Fairey, selbstverständlich wiederum in jener bekannten klassischen US-amerikanischen Farb-Codierung (Abb.6). Die damit adressierten Wähler, nicht zuletzt in ihrem Politvertrauen zutiefst ent-täuscht von Obamas Vorgänger im höchsten politischen Amt auf Erden, und dessen wohl auch längst überdrüssig, kamen somit einfach nicht umhin, diesem in Banne ziehenden messianischen Kandidaten nicht nur allein ihr Vertrauen, sondern nun auch handfest ihre Stimmen zu schenken. Im Gegenzug für die in ihn gesetzte Hoffnung und das Vertrauen erhielten sie als Community und Nation ganz offensichtlich wieder ihr Selbstvertrauen und ihre Zuversicht in zutiefst US-amerikanische Tugenden und traditionelle Stärken zurück. Neu ausgefüllt wurde damit auch für die demokratisch verfasste Gesellschaft die vertraute und damit schnell wieder erkennbare stereotype Rolle des Präsidenten als strahlenden Helden der US-amerikanischen Nation, die seit dem Amtsantritt des ersten US-Präsidenten George Washington über Franklin D. Roosevelt und die kurze Ära John F. Kennedys bis hin zu Barack Obama als Vorstellung im kollektiven Bewusstsein der US-Amerikaner bis heute fest verwurzelt scheint und jeweils lediglich medial mit neuem Personal neu inszeniert und damit aktualisiert wird. Metaszenografisch hat Julius von Bismarck die Stilisierung Barack Obamas zu einer tragenden Messias-Figur durch seine Berater und die Medien nochmals visuell mit seinem Image Fulgurator auf den visuellen Punkt gebracht. Seine eigene umgebaute Bildkamera schleust unbemerkt Logos und Icons über einen ausgeklügelten Projektionsmechanismus, der automatisch durch das Blitzgewitter anderer Kameras ausgelöst wird, in die Medienbilder ein. So tauchten in den internationalen Berichterstattungen zu Barack Obamas Berliner Rede vom 24. Juli 2008 nicht nur Bilder auf, die den charismatischen Präsidentschaftskandidaten vor einem goldenen spätnachmittaglichen Hintergrundlicht an der Siegessäule dokumentierten, sondern auch weitere durch Bismarcks Image Fulgurator subtil manipulierte und transfor-
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mierte Aufnahmen, die Obamas schlichtes hölzernes Rednerpult plötzlich mit einem großen weißen Kreuz zeigten, was die kultisch-sakrale Atmosphäre des Auftritts vor Hunderten von Open-Air -ersammelten in der sorgfältig nach Regieplan inszenierten Gesamtszenerie unterstrich. Julius von Bismarck gab mit dieser szenografischen, ‚minimal-invasiven‘ (Bismarck) fotografischen Intervention dem Unterschwelligen und Unbewussten in der kollektiven Wahrnehmung eine verdichtete szenische ‚reale‘ Sichtbarkeit: People’s great trust in their photographic reproductions of reality was what motivated me to develop the Image Fulgurator. A camera can be used as a personal memory tool, since people do not doubt the veracity of their own photographs. Hence, photos can reproduce the reality of an individual environment or public space. At sacred or popular locations, or those having a political connotation, an intervention with the Fulgurator can be particularly effective. Especially objects with a special aura or great symbolic power are good targets for this kind of manipulation. In other words, with the Fulgurator it is possible to have a lasting effect on those kinds of individual moments and events that become accessible to the masses only because they are preserved photographically. In this context the Fulgurator represents a manipulation of visual reality and so targets the very fabric of media memory.
Julius von Bismarks fotografische Metaszenografie macht das inszenatorische Spiel der Fiktionalisierung, hier die szenografische Strategie der Sakralisierung des US-Präsidenten zu einer universalen Vertrauensfigur, sichtbar und verweist damit auf das Potential dieses Fiktionwertes. Nicht dass das Publikum die Fiktion mit der Realität verwechseln würde, vielmehr genießt es hier die Hoffnung, dieser so von der Gemeinschaft Inszenierte könnte die Hoffnung selbst sein. Obama wurde in dieser Szenografie als Prediger und Messias auch in Berlin als Hoffnungs- und Vertrauensfigur in dieser Medieninszenierung erlebt, das Ereignis der Live-Rede mit dieser szenografischen Strategie nurmehr intensiviert. In der westlichen Kultur somit längst vertraute und instant wiedererkennbare stereotype Rollen und Symbolfiguren erleichtern die Generierung und Etablierung des Vertrauens in ein ersehntes, aber doch mitunter immer wieder völlig neues und unbekanntes, weil auf den demokratischen Bühnen von Politik, Gesellschaft und Kultur ständig und letztlich auswechselbar erscheinendes Personal. In der archetypischen Figur des Messias als kultisch überhöhter traditioneller Vertrauensfigur wird die Auswahl und Entscheidung dafür aber vom rein rationalen Denken abgekoppelt und in das Bauchgefühl des reinen Glaubens und des sinnlichen Erlebnisses abgerückt. Aus traditionell in Glaubenskulturen verorteten Charakteren und Modellen haben sich in der Neuzeit jedoch auch weitere, davon inszenatorisch abgeleitete Rollentypen entwickelt, die um der Vertrauenswürdigkeit willen auch allein medial performt und damit strategisch metaszenografisch eingesetzt werden können, nämlich gerade dann, wenn auch erst noch in einem anfänglichen Prozess der Vertrauensbildung um Vertrauen als risikoreiche Vorleistung geworben werden muss. Oder wenn sich vorneweg Misstrauen
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einschleichen will, weil ein Informationsdefizit, Angst, Zweifel und Unwissenheit in einer Situation vorherrschen, oder eine Sache für das Verständnis des Einzelnen schlichtweg zu undurchschaubar, zu ungewohnt, zu neu und zu komplex oder einfach die Zeit und den Verstand des Einzelnen übersteigend ist, dann werden in der Regel auch strategisch (und tautologisch) vertraute Vertrauensfiguren als Katalysatoren für die Kommunikation und kommunikative Placebos ins szenische Spiel gebracht.
Abb.7 Julius von Bismarck, Berlin, 24. Juli 2008.
Wird die Darstellung der erwarteten Vertrauenswürdigkeit jedoch dabei zu schlecht, wenig überzeugend oder gar überzogen von einem dafür auserwählten Akteur erbracht, dann entsteht immer auch schnell das Phänomen des Verdachts. Der misstrauische Verdacht etwa, jemand könnte ein Scharlatan und sich das Vertrauen ohne Berechtigung und ohne Vorhaben auf Erfüllung nur erschlichen haben. Ein enttäuschter Vorwurf, der im Übrigen besonders in den modernen und zeitgenössischen Bildenden Künsten schnell aufs Tapet gebracht wird, weil hier das Publikum am ehesten dazu neigt, Kompetenzen, Handlungen, Aktionen und Leistungen von Akteuren nicht mehr so einfach akzeptieren und folgen zu wollen oder zu können. Auffallend viele Künstler kokettieren daher seit Albrecht Dürer (Abb.7) über Joseph Beuys bis hin zu Jonathan Meese (Abb.8) in der Neuzeit auch augenscheinlich mit der Pose, dem Habitus und dem Gestus prophetischer oder gar christomorpher Gestalten, um das Selbstvertrauen in ihr schöpferisches Dasein dem Kunstpublikum zu versichern oder auch dadaistisch zu konterkarieren.
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Abb.8 Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock, 1500, München: Alte Pinakothek.
Abb.9 Jonathan Meese (Foto: Jan Bauer).
Die kulturgeschichtliche Determinante der Vertrauensfigur des Schöpfers und Messias markiert, visualisiert und suggeriert in der jüdisch-christlich geprägten Kultur schließlich gerade auch jene Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auch für das künstlerisch-gestalterische Genie seit der Frühen Neuzeit gelten sollten: u. a. Visionen und Tatdrang zu haben, schöpferisch die Welt zu gestalten und zu verändern, Verehrung und Bewunderung zu genießen, Anhänger und Jünger für eine (stilistische) Sache zu gewinnen, den Glauben an die (Metaphysik der) Kunst zu propagieren und dabei auch noch Hoffnungen und Träume (etwa des Kunstmarktes und der darin investierenden Sammler und Spekulanten) zu erfüllen. Zur Figur gehört aber gemeinhin auch immer eine gute Erzählung, die mit einer Gemeinschaft geteilt werden kann, etwa eine kanonisierte Lebens- und Werkgeschichte, die im und für die Glaubensgemeinschaft verbreitet werden muss. Der Einwand ist schließlich längst bekannt, dass moderne, insbesondere zeitgenössische Künstlerleben vielmals lediglich im Stil von Hagiographien verfasst sind und das Werk selbst stets erst einer verbalen Auslegung (Werkexegese) bedarf und sich Kritiken, Theorien und Texte gerade über zeitgenössische Kunst vielmals wie die öffentlichen Glaubensbekenntnisse ihrer enthusiasmierten Verfasser für einen bestimmten esoterischen Kreis der Eingeweihten lesen. Dennoch arbeiten viele Künstler und Künstlerinnen, heute insbesondere auch tatkräftig unterstützt und bestärkt durch ihre Galeristen und Kuratoren, immer noch bis in die aktuelle Gegenwart hinein selbst an diesem vor-modernen Authentifizierungsprozess aktiv mit. Auch gerade dann, wenn sie etwa ihr gesamtes Leben autobiographisch zum fast ausschließlichen Gegenstand ihrer Kunst machen, sich selbst als Persona inszenieren oder auch nur Vertrauen durch das öffentliche Hervorbringen von Vertraulichkeiten und intimen Geständnissen gewinnen wollen. Gegen den Verdacht der modernen
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Scharlatanerie inszenieren erstaunlicherweise gerade Künstlerinnen ausschließlich ihre (auto-)biographischen Inszenierungen als Werk: angefangen beispielsweise bei Frida Kahlo bis heute hin zu Nan Goldin, Elke Krystufek oder Tracey Emin. Aber weniger Narzissmus denn kommerzielles Kalkül und strategische Inszenierung mithilfe einer gesteigerten Personalisierung sollen schließlich in der Kunst der Gegenwart Authentizität, Redlichkeit, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit, die bisherigen Kriterien der Ästhetik, die Demonstration künstlerischer Virtuosität oder des reinen handwerklichen Könnens, zugunsten eines (selbst-)inszenatorischen Konzeptes diskreditieren. Statt Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen, Meinungen und gestalterische Kompetenzen werden hier als Ersatz ausschließlich privatistische Intimitäten öffentlich als rhetorische Verführungs- und Überzeugungsmittel vorgeführt. Die Person wird so schnell mit dem eigenen Image, der Marke (dem eigenen Branding) identisch, der man dann eben nicht blind, sondern am Ende doch gerade sehend voll vertrauen muss. Szenografisch spannend wird es jedoch erst richtig dann, wenn in einer zitierten Vertrauensfigur wie der des Messias in der Kunst und Kultur auch bewusst Bezugs- und Kontrapunkte zu messianischen bzw. personifizierten MessiasErwartungen, wie sie uns die traditionellen jüdisch-christlichen Texte über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg überliefert haben, thematisiert und inszeniert werden. Dafür gibt es beispielsweise zwei recht unterschiedliche Bühnen der Beobachtung: einerseits die der glaubwürdigen Performance der Fiktion und andererseits die der Travestie, Satire oder Parodie. Dieser Art von kreativer künstlerisch-gestalterischer Inszenierungsarbeit geht wiederum häufig ein symptomatisches Krisenmoment in der jeweiligen Kultur voraus, wenn nämlich aus einem Übermaß an Vertrauen in eine Vertrauensfigur sich allmählich oder schlagartig großes Misstrauen entwickelt. Denn, wer würde heute schon in einer aufgeklärten, weitgehend entsakralisierten modernen Gesellschaft noch wirklich ernsthaft an die Erscheinung eines Messias glauben wollen? Die Wiederkehr des Messias als mediale Figur hat folglich heute auch eine andere Funktion und Bedeutung gewonnen; ist per se für alle ein mediales UnterhaltungsSpiel und eine metaszenografische Strategie der Fiktionalisierung, an dem alle stillschweigend partizipieren, die zuschauen – es kann daher auch als eine besondere Intensivierung des szenografischen Ereignisses mit daraus resultierendem eigenen Wahrheits- und Wirklichkeitsanspruch erachtet werden. Die Rolle des Messias, in der Funktion eines alten Topos und einer uralten Vertrauensfigur, kann daher nurmehr als eine wirksame szenografische Symbolik in demokratisch verfassten Gesellschaften fungieren. Sie dient einerseits der Inszenierung von Repräsentation und gleichzeitig der katalysierenden Steigerung ihrer Autorität und Macht. Die stereotype symbolische Figur mit ihren vertrauten Attributen konstituiert in der
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gesellschaftlichen Kommunikation eine Szenografie des perfekten Vertrauens, die als rhetorisch überhöhte und visuell zelebrierte Schauseite eines gestalteten gesellschaftlichen Austausches funktioniert. In der zeitgenössischen Kunst oder gerade in der alltäglichen Politik etwa kann das heißen, je undurchschaubarer, unbegreiflicher, komplexer, schwieriger und undurchdringlicher das Geschäft mit der Weltpolitik für eine Wählergemeinschaft wird, umso mehr müssen vertraute Rollenfiguren für die Gemeinschaft das Gefühl für Vertrauen und Orientierung szenisch auf die Bühne bringen, eine Atmosphäre der Sicherheiten durch personale Glaubwürdigkeit stiften, zum Vertrauen ins eigene Handeln verführen und führen: Ihr und ich, wir schließen dafür einen (Glaubens-)Bund, wenn Unübersichtlichkeit, Undurchschaubarkeit, Desinformiertheit oder Unwissen die (schlechte) Führung zu übernehmen drohen! Die evidente Inkompetenz und notorische Lethargie für eine Wahlentscheidung in demokratischen Gemeinschaften kann durch eine Gesamtszenografie, die eine Atmosphäre des zuversichtlichen Vertrauens und der Hoffnung initiiert, kompensiert werden. Aus der Perspektive des Wählers oder des Kunden muss Überforderung, Unentschiedenheit, Skepsis, Meinungslosigkeit oder Gleichgültigkeit in das Erlebnis der Begeisterung und in das Vertrauen in die Kompetenz eines von der Gemeinschaft Auserwählten gewandelt werden, der eine gemeinschaftliche Aufgabe hat und/oder dafür ein Angebot macht. Szenografische Mittel, die sich so etwa der Inszenierung eines Kandidaten in der archetypischen Rollenfigur des Messias bedienen, sind nicht so sehr nur Ausdruck einer begehrenden Erwartung und irrationalen Hoffnung, sondern sie stehen auch ganz in der Funktion der Eröffnung und Etablierung einer öffentlichen Bühne, auf der die Szene einer Vertrauensbildung auch für alle miterlebt werden kann. Erlebnis führt zum nachhaltigen Ereignis. Die Aktivierung aller dafür in das Spiel Involvierten und daran Partizipierenden wird gleichsam hier auch szenisch inszeniert und vorgeführt: Über die Präsentation der Szene hinaus aber auch tatsächlich zur Handlung zu aktivieren, etwa indem dann eine Gemeinschaft auch zur tatkräftigen Wahl geht, Hoffnung in die eigene Handlungsfähigkeit legt, den in der Fiktionalisierung szenisch versprochenen Wandel nun selbst aktiv und real mitbewirkt und damit auch im weiteren Verlauf etwas Zukunft mitgestalten wird, obgleich dazu vielleicht immer noch die vermeintlichen Kompetenzen fehlen. Die szenografisch appellativ Angesprochenen erhalten damit in gewisser Weise eine neue Option und Handlungsalternative zurück, am Gesamtgeschehen der Gemeinschaft doch noch aktiv zu partizipieren. Und gerade Barack Obama demonstrierte zuletzt in seiner von den Medien konstruierten öffentlichen Rolle als neuer Messias, wie nicht eigentlich die Vertrauensfigur selbst der aktiv Handelnde dabei allein sein muss, sondern vielmehr das Publikum zum eigentlichen Regisseur und Akteur der szenisch eröffneten weiteren Handlungen gerät. Nicht Barack Obama allein, sondern seine
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Abb.10 Obama Ikone unter www.sodahead.com
Wähler eröffneten schließlich den Weg in eine neue US-Politik – im Vertrauen auf seine Leistungen und geglaubten Kompetenzen. Gleichwohl verbirgt und offenbart sich in diesem subtilen szenografischen Spiel, das als solches auch durchaus erkannt, durchschaut und somit auch parodiert werden darf (Abb.10) –, mit Peter Sloterdijk gesprochen – nicht nur eine zutiefst soziale Funktion und intellektueller Genuss, sondern gerade auch eine paradoxe politische ‚Souveränitäts-Simulation‘ für alle demokratischen Kulturen. Denn in dieser besonderen Form der szenischen Kompetenz-Delegation in einem Vertrauensprozess verbirgt sich eigentlich auch eine besondere dafür notwendige ,Kompetenz-Kompensation‘. Schließlich führt insgesamt das metaszenografisch katalysierte Vertrauen qua Messias-Figuren zwischen Wählern und Erwähltem, zwischen Künstlern und Kunstkäufern hier letztlich in die Konstituierung einer handlungsfähigen Gemeinschaft, die das demokratische respektive kapitalistische Gesellschaftssystem mit Grundvertrauen in sich trägt, und durchaus vorhandene oder lediglich befürchtete Kompetenzdefizite als lähmendes Hemmnis mit inszenatorischen Mitteln und szenografischen Strategien, die hier initiierend und katalysierend wirksam werden können, überwindet. Das Vertrauen in das Geschäft der Szenografie selbst kann damit wiederum einen einzigartigen neuen Raum für nachhaltige Kommunikation und wirksame Handlungen in den Gesellschaften schaffen. Und wir erfahren dabei: Vertrauen ist gut, Szenografie ist besser – oder eben, der Anfang von allem!
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Andrea Cusumano DIE TAUSEND GESICHTER DES AUSGESTOPFTEN KONDORS ODER DIE CHANCEN DES REALEN. Seit geraumer Zeit ist das Problem, das mich piesackt, jenes des Textes. Oder besser: jenes der Beziehungen zwischen der Aufführung – qua szenischer Realität – und der Realität des Textes. Tadeusz Kantor
Mein Interesse an der Arbeit des polnischen Künstlers Tadeusz Kantor hat tief reichende Wurzeln und konnte sich im Laufe einer langjährigen Abenteuergeschichte entwickeln. Ihr Stoff ist aus Handlungsfäden von Reisen, Begegnungen und überraschenden Koinzidenzen gewebt. In den letzten Jahren hatte ich die Ehre, bei verschiedenen Projekten mit einigen Mitgliedern des Cricot2 1 zusammenzuarbeiten und habe zudem – in den Grenzen meiner Fähigkeiten und Möglichkeiten – versucht, meinen Londoner Studenten am Central Saint Martins, am Goldsmiths sowie am Rose Bruford College jene Leidenschaft für und Haltung zur Erforschung des Theaters einzuimpfen, die ich glaube, in der Arbeit Tadeusz Kantors erkennen zu können. Ich habe versucht, Übungen, Theorie und Methodologie eines recht umfangreichen, zuweilen auch heterogenen Projekts auf den Punkt zu bringen; aber wenn ich die Arbeit Kantors unter einer Überschrift zusammenfassen müsste, würde ich zweifelsohne sagen: „Die Chance des Realen“.2 Die stärkste Motivation in der Arbeit Kantors und des Cricot2 lag wohl in dem Bestreben, eine der irdischen Realität parallele Theaterwelt zu erschaffen; das Theater als einen Freiraum extra-moenia, der nicht in belehrender Weise die äußere Realität reflektiert (sei dies nun die Alltagswirklichkeit oder jene eines geschriebenen Textes), sondern in absoluter Autonomie mit dieser in den Dialog zu treten hat. Alles geschieht dort somit in kohärenter Übereinstimmung mit dem Credo, das Theater dürfe nicht als bloße Reproduktion der Wirklichkeit aufgefasst werden, sondern als eine unabhängige Realität, mit ihren eigenen Formen, Gesetzen und Logiken. In dieser Perspektive ist auch die Abneigung Kantors einzuordnen, ipso facto, mithin umstandslos und 1
Das von Tadeusz Kantor gegründete und geleitete Theaterensemble. Il Teatro della Morte/materiali raccolti e presentati da Denis Bablet, Mailand 2000, S.208: „Für das Theater ging es um die unvorhersehbare und unwahrscheinliche Möglichkeit, gegen das so übertriebene wie unerträgliche Verständnis von Präsentation und Repräsentation zu obsiegen. Theatralische Imitation – immer mehr gekünstelte Eleganz, Geziertheit, anmaßende Simulation. Es ist vielmehr die Chance des Realen.“
2 Zitat aus dem Italienischen übersetzt nach Tadeusz Kantor:
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unvermittelt den Text zu benutzen, was sich dann ab Wielopole-Wielopole als vollkommene Abwesenheit eines Referenztextes realisiert. In diesem Kontext ist zudem die Einführung jener akribisch-peniblen Arbeit mit Objekten zu sehen, die nicht etwa als szenische Objekte aufgefasst sind, sondern als dramaturgische Realität, die Text, Schauspielern und Charakteren gleichrangig ist. All dies im Kielwasser seiner großen Vorgänger: Craig, Meyerhold, Witkiewicz’ (kurz: Witkacy). Das Zurückweisen der Repräsentation und die obsessive Erforschung theatraler Realität haben Kantor zu einem sorgfältigen Gebrauch des Raumes geführt. Denn dieser ist die Stelle, an der sich die Wirklichkeit vollbringt: Ort einer dem theatralen cogito entgegengesetzten und insofern koexistenten res extensa. Ein weiterer Aspekt, der mir für ein solches Vorhaben relevant erscheint, ist mit den Schauspielern des Cricot2 verknüpft, an ihre Präsenz auf der Bühne und zugleich an die Präsenz der Bühne in ihrem Leben gebunden. Kantors Schauspieler haben ihre Aktivität nie als eine professionelle Tätigkeit gesehen, war doch ihre Reise mit Kantor gleichsam die Reise ihres Lebens, so dass es in diesem Sinne recht schwierig ist, deren Alltagspersönlichkeiten von den Charakteren abzulösen, die sie inkarnieren. Durch die beständige Präsenz Kantors auf der Bühne sehen wir diesen Aspekt als vollkommen reflektiert und in gewisser Weise auch explizit gemacht: Der wahre Kantor, der Regisseur verlässt niemals die Szene. Er spielt sich nicht selbst und wird dennoch zum Gegenstand des Theaters. Unter den verschiedenen Personen, die ich während meiner Nachforschungen in meinen Lehrjahren getroffen habe, muss ich vor allem Mira Rychlicka danken: eine Künstlerin von überwältigendem Talent, die seit der ersten Stunde Schauspielerin des Cricot2 gewesen ist und den Enthusiasmus und Mut mitgebracht hat, gemeinsam mit mir diese Reise zu unternehmen.3 Meine Forschung auf den Spuren des Cricot2 hat sich in zwei Richtungen entfaltet: die eine theoretisch, auf der Materialgrundlage von Lektüren und Recherchen mit Text- und Videodokumenten der Arbeit Kantors sowie vermittels Interviews mit Schauspielern des Ensembles Cricot2; die andere praktisch, in Form der Umsetzung diverser methodologischer Elemente, die in entsprechenden Studienphasen jeweils herausgelöst und fokussiert wurden. In Wahrheit ist die Unterscheidung zwischen diesen beiden Vektoren meiner Forschung freilich eine theoretische Zwangsjacke, sofern die Resultate des einen in 3 Mit Mira habe ich drei Inszenierungen in drei Jahren realisiert: Drabina Jakuba (Galeria Krzysztofory, Krakau, 2006), das den Zimtläden des Bruno Schulz nachempfunden ist; Tumor Foderato d’Infanzia (Garibaldi-Theater, Palermo, 2006), inspiriert von Kantors Die tote Klasse; zuletzt dann A Funeral for Don Quixote (Galeria Krzysztofory, Krakau, 2007; Edinburgh Festival Fringe, Edinburough, 2007), inspiriert von Cosmos sowie Zbrodnia z premedytacja [Ein vorsätzliches Verbrechen] von Witold Gombrowicz, in dem Mira ihre letzte Hauptrolle spielte: als ‚Justizbeamter K‘. Einige Wochen nach der letzten Aufführung ist Mira verstorben, während sie in einer Kirche bei Krakau betete. In einer Notiz hatte sie noch darum gebeten, bei ihrer Beerdigung die Musik von A Funeral zu spielen.
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einem kontinuierlichen Kreislauf von Theorie und Technik faktisch die Ursprünge des anderen hervorgebracht haben. Die auf Grundlage der praktischen Experimente errichteten Hypothesen haben dann beim Wiederlesen der Arbeit Kantors als Leitfaden gedient und wurden mal bestätigt, dann wieder widerlegt. Zudem haben sich viele an die Oberfläche getretene Stränge der Forschung als solche erwiesen, die den von mir selbst bei meiner künstlerischen Arbeit behandelten Themen durchaus nah sind. Dies hat letztlich einen Nexus mit einem viel früher als das Studium Kantors begonnenen Forschungsprojekt hervorgebracht und schließlich zur Realisierung des Schauspiels Tumor Foderato d’Infanzia geführt, das sowohl Interpretation und Wiederlektüre der Arbeit Kantors als auch Fortentwicklung meiner eigenen Arbeit und Ästhetik ist. Das Schauspiel, das 2006 im palermitanischen Theater Garibaldi/Union des Théâtres de l‘Europe präsentiert wurde, stellt eines der seltenen Beispiele einer Re-Interpretation von Die tote Klasse auf internationaler Ebene dar.4 Der Titel des vorliegenden Aufsatzes bezieht sich allerdings auf Bruno Schulzens Text Die Zimtläden, der zutiefst den gesamten künstlerischen Werdegang Kantors beeinflusst hat. In Die Zimtläden ist der Kondor eine der zahlreichen Verkörperungen von Jakub5, dem Vater von Bruno Schulz; eine sublime Metapher der Dichtung und des phantastischen Infantilismus, der in großen Teilen der polnischen Literatur von Schulz bis Kantor herumschwirrt und sich auch im Luftraum meiner Forschung breitgemacht hat.
4
Diesem Schauspiel sind in chronologischer Reihe gefolgt: A Funeral for Don Quixote (vgl. vorige Anm.), The Bitter Belief of Cotrone the Magician (Orestiadi, Gibellina, 2008; Steirischer Herbst Festival, Weiz, 2008; Area10, London, 2008; Inchcolm Island, Edinburough, 2009) sowie Cotronica (Shunt Vaults, London, 2010). 5 Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel der Zimtläden namens „Die Küchenschaben“, in: Bruno Schulz: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, München 2000, S.80-84: „Es war in der Periode der grauen Tage, die auf die glänzende Buntheit der genialen Epoche meines Vaters folgten. Es waren lange Wochen der Niedergeschlagenheit, schwere Wochen ohne Sonntage und Feiertage bei verhangenem Himmel und verarmter Landschaft. Den Vater gab es damals nicht mehr. Die oberen Zimmer hatte man gesäubert und an eine gewisse Telephonistin vermietet. Von der ganzen Vogelwirtschaft war nur ein einziges Exemplar, ein ausgestopfter Kondor, verblieben, der auf einem Regal im Salon stand. Im kalten Halbdunkel der Vorhänge stand er dort – wie zu Lebzeiten – auf einem Bein, in der Pose eines buddhistischen Weisen, und sein bitteres, ausgetrocknetes Asketengesicht war zu einem Ausdruck endgültiger Gleichmütigkeit und Verneinung erstarrt. Die Augen waren herausgefallen, und durch die verweinten und tränenden Augenhöhlen rieselten die Sägespäne. […] Die Knie ans Sofa der Mutter gedrückt, mit zwei Fingern wie in Gedanken den zarten Stoff ihres Schlafrocks befühlend, sagte ich gleichsam ganz nebenbei: ‚Ich wollte dich schon längst fragen; ist das wirklich er?‘ Und obgleich ich nicht einmal einen Blick auf den Kondor warf, erriet die Mutter den Sinn meiner Worte, geriet in große Verwirrung und senkte die Augen. […] ‚Und dennoch‘, sagte ich, aus der Fassung gebracht, ‚bin ich überzeugt, daß der Kondor er ist.‘ Die Mutter schaute mich unter den Wimpern hervor an. ‚Quäle mich nicht, mein Lieber! Ich habe dir schon gesagt, daß der Vater als commis voyageur über Land reist. Du weißt doch, daß er mitunter nachts heimkommt, um vor dem Morgengrauen noch weiterzufahren.‘“
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Heute erst verstehe ich das einsame Heldentum, mit dem er [Jakub, der Vater des IchErzählers; Anm. d. Übers.] mutterseelenallein dem grenzenlosen Element der stumpfen Langeweile den Krieg erklärte. Jeglicher Unterstützung beraubt, ohne Anerkennung unsererseits, verteidigte dieser wundervolle Mann die verlorene Sache der Poesie. Er war wie eine Zaubermühle, in deren Trichter die Kleie öder Stunden geschüttet wurde, um dann im Getriebe in allen Farben und Gewürzdüften des Orients zu erblühen. Doch, an die glänzenden Gaukelspiele dieses metaphysischen Zauberkünstlers gewöhnt, waren wir geneigt, den Wert seiner souveränen Magie, die uns vor der Lethargie der öden Tage und Nächte rettete, zu verkennen.6
1. REISETAGEBUCH
Meine erste echte Reise auf den Spuren Kantors fand im Winter 2004 statt. Im Rahmen des Masterstudiengangs, den ich in London absolvierte7, hielt ich mich damals für eine Seminarserie an der Breslauer Akademie der Bildenden Künste auf. Doch ich entschloss mich, besagte Studien zu unterbrechen und meine Reise nach Krakau vorzuziehen, wo ich die Cricoteka besuchen wollte.8 Bei dieser Gelegenheit wurde ich nun endgültig von der Arbeit Kantors elektrisiert. Eine Reihe zufälliger Begegnungen brachte mich zudem seiner Welt immer näher. Folgende Notiz habe ich mir am Ende dieser Reise gemacht: Meine erste polnische Reise auf den Spuren Kantors hat in mir eine Vitalität wiedererweckt, die fast eingeschlafen war. Dennoch zweifle ich noch, ob ich nicht vielleicht bloß dabei bin, zu unreifen und naiven Formen des Ausdrucks und des Selbstverständnisses zurückzukehren, oder ob dies nicht vielmehr der einzige Weg für den Künstler ist, in einer Welt, die immer mehr dazu neigt, seinen Blick zu verschleiern, sehend sein zu können.
Im Magazin9 Wir – das sind: ich, Nathalie (meine spätere Frau), Bogdan und ein weiterer Herr. Das Erste, was ich sehe, sind die Schulbänke aus Die tote Klasse. Ich bin ziemlich aufgewühlt, während ich versuche, deren Sinnlichkeit wieder zu finden; ich versuche, sie nicht als Bühnenobjekte zu betrachten. Auf einem Tisch sehe ich plötzlich einen wundervollen Kopf. Bogdan erklärt mir, dies sei ein Original-Kopf aus der ersten Fassung von Die tote Klasse. Sie sind alle ausgetauscht worden, weil sie während der 6
Schulz, Die Zimtläden, a.a.O., S.30. Genauer: Der ‚MA Scenography‘ des Central Saint Martins College of Art and Design in London. 8 O´srodek Dokumentacji Sztuki Tadeusza Kantora (Zentrum zur Dokumentation der Kunst Tadeusz Kantors). Das Zentrum ist von Kantor selbst mit dem Auftrag gegründet worden, zum einen alles Material über seine eigene Arbeit sowie jene des Cricot2 zu sammeln, zum anderen aber auch mit der Intention, seinem künstlerischen Credo und seiner poetischen Konzeption auch nach seinem Tod Fortbestand zu geben. 9 Dieser Besuch wird in dem Kurzfilm Une histoire d’amour dokumentiert, den ich 2004 in Innsbruck anläßlich der Ausstellung Kraftwerk-Peripher präsentiert habe; vgl. C. Bertsch: Kraftwerk/Peripher, Innsbruck und Florenz 2004. 7
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Aufführungen zerstört wurden. Von Mira würde ich dann später erfahren, dass Kantor sehr besorgt ob der Einbußen an sinnlicher Anmutung der szenischen Requisiten war, die sich einstellte sobald das Ensemble gezwungen war, sich neue Handwerker zu suchen, um den Anforderungen immer häufigerer Tourneen zu genügen. Wie auch immer: dieser Kopf ist herrlich.10 Bogdan sagt mir, er sei von Kantor persönlich bemalt worden. Ich frage, ob es erlaubt sei zu filmen; Bogdan entgegnet, ich könne tun, was auch immer ich wolle. So nimmt also Nathalie die Videokamera und filmt für zwanzig Minuten. Von Zeit zu Zeit bitte ich sie darum, ein bestimmtes Detail einzufangen. Dann öffne ich Kartons und Verpackungen, die die Kreaturen Kantors in sich verbergen: Skulpturen, die nun tatsächlich leblos sind, mir aber den Eindruck vermitteln, ihrer Wiedererweckung zu harren. Vor dem Gehen bitte ich Bogdan um eine Todesanzeige vom Todestag Kantors. Mira Rychlicka Eine zuckersüße ältere Dame. Sobald sie beginnt zu sprechen, gewinnen ihre Hände, ihr Mund und die Zähne eine ihrem Körper, ihrer Anmut, ihrem Alter disproportionale Kraft. Sie spielt den ‚Tumor Hirnowitsch‘ (Tumor Mozgówicz) in Die tote Klasse. Sehr schlicht und bescheiden wirkt sie, zugleich aber auch entschlossen. Eine starke Liebe zu Kantor lebt in ihr. Die Hoffnung, ihn wieder zu finden, ist nicht gestorben. Mira hat eine wilde Kraft, die wohl kaum etwas mit Durchgeistigung zu tun hat. Sie hat Kantor gelebt, nicht studiert. Irgendwann gesteht sie mir, es immer abgelehnt zu haben, Artikel oder Publikationen über ihre Arbeit zu lesen – aus Furcht, solche Interpretationen könnten die Lauterkeit übermannen, die eine solche Erfahrung in ihrem Körper eingeprägt hat. Sie ist eine reine Schauspielerin. Wie Zofia Kalinska11 ist sie von einer – nie bearbeiteten – Todestrauer zerrüttet. Jemand hat sich ihrer Seelen bemächtigt und mit sich weggeschafft. Jemand hat ihnen den Dämon in ihrem Inneren gezeigt und sie dann dieser Erinnerung zur Beute gegeben. Notizen Die Lösungen für den praktischen Teil der Arbeit sind zwei: 1. Eine Neuinszenierung vermittels der Wiedererschaffung anderer Objekte und Situationen; womöglich bei der reinen Methode Inspiration suchend und mich stärker an Witkacys Theaterstück Tumor Mozgówicz (‚Tumor Hirnowitsch‘) annähernd 2. die Puppen auf andere Weise in Szene setzen, im Rahmen eines anderen Theaterstücks (es könnte freilich auch ein Film sein).
10
In dem Stück Tumor Foderato d’Infanzia zitiere ich diese Episode, wenn Mira aus der Truhe ihrer Schulbank mit einem Kopf hervorkommt, an dem ein Etikett mit der Nummer 39 – der Archivnummer des Kopfes – befestigt ist. 11 Eine weitere Schauspielerin Kantors, die ich einige Tage zuvor kennengelernt hatte.
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Ich verstehe nur zu gut, dass solche Notizen nicht so ganz den Duft der reinen Wissenschaft verströmen, aber im Lichte der in den letzten Arbeitsjahren erzielten Resultate sowie der in diesem Kontext getroffenen Entscheidungen kommt ihnen doch besonderer Wert zu, dazumal sie helfen können, die Atmosphäre zu erhaschen und besser die Art von Erfahrung zu verstehen, die ich in diesen Jahren der Nachforschungen machen konnte. Kantor ist ein überaus fruchtbarer Künstler gewesen; in mehr als fünfzig Karrierejahren hat er ununterbrochen an Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Szenografien, poetischen Manifesten, Kostümen, Theaterregien und Happenings gearbeitet sowie neue Stücke geschrieben. Meine Wahl, die Arbeit an Die tote Klasse voranzutreiben, anstatt sich mich mehr seinen anderen Werken zu widmen, ist durch eine ganze Reihe von Beweggründen diktiert: 1. Es ist das Stück, in dem sich ein radikaler methodologischer und ästhetischer Wandel in der Arbeit Kantors vollzieht und das allen nachfolgenden Arbeiten von Wielopole-Wielopole bis zu Heute ist mein Geburtstag seinen Stempel aufprägen wird. 2. In diesem Stück findet man eine unglaubliche Verknäulung von Erzählungen, die aus anderen Meisterwerken der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts stammen. 3. Es ist wahrscheinlich das Stück Kantors, in dem die szenische Potenz der Puppen am wirksamsten zum Ausdruck kommt. 4. Das Stück besitzt eine komplexe Struktur, die in ihrem Sprachengeflecht als Gesamtkunstwerk12 [i. O. dt.] bezeichnet werden kann. 5. Es besitzt ein szenisches System, das stark von der Architektur der KrzysztoforyGallerie beeinflusst ist und auf den Großteil seiner späteren Werke übertragen wird. 6. Es ist das Stück Kantors mit der tiefgreifendsten Wirkung auf das Theater weltweit. 7. Es ist das Stück, das sich am stärksten in das Gedächtnis der Schauspieler des Cricot2 eingeprägt hat (zumindest was jene anbelangt, die ich treffen und kennenlernen konnte), und dies ist ein emotionaler Anreiz gewesen, die Arbeit voranzutreiben. 8. Es ist das Werk Kantors, das ich am meisten liebe. 9. Tumor ist im Endeffekt das Alter Ego von Mira. Als dann die Auswahl auf dieses Stück fiel, um das Werk Kantors darzustellen, ist sofort eine Frage aufgekommen, die für das Gelingen und die Zielsetzung des Projekts grundlegend schien: Die tote Klasse ist ein ausführlich dokumentiertes 12
Ein Gesamtkunstwerk [i. O. dt.] in der Geschmacksrichtung der ‚Reinen Form‘ von Witkacy.
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Werk, aber dessen Essenz ist – wie im Falle aller anderen Theaterarbeiten Kantors – ephemer.13 Dennoch hat Kantor eine Partitur von Die tote Klasse geschrieben, und dies würde an und für sich ein solches Stück in ein geschriebenes Drama verwandeln; die Charakteristiken und Modalitäten, die dieser Text aufweist, gestatten es jedoch nicht, von einer geschriebenen Dramaturgie oder einem Drehbuch zu sprechen; vielmehr müsste man von einem geschriebenen Vortrag oder von einer skripturalisierenden Übersetzung des theatralischen Handlungsgeschehens sprechen. Ich betrachte den Text als finales Ziel – als ein ‚verlorenes Haus‘, in das man wiederkehrt. Der zurückzulegende Weg ist die Schöpfung, die freie Sphäre theatralen Verhaltens.14
Über die Schwierigkeit des Verhältnisses zwischen geschriebenem und ausagiertem Werk hinaus ist im spezifischen Falle Kantors dessen eigene Präsenz auf der Bühne integraler Bestandteil des Werks. Und diese Präsenz kann offenkundig seit dem Augenblick des Todes Kantors unmöglich wiederhergestellt werden. Ich möchte nicht, dass an Stelle des Bildes Kantors, des lebendigen Kantors, mit seiner unnachahmlichen Gestik und seinen furchtbaren Schreien, ein Doppelgänger in Erinnerung bliebe, auch wenn dieser der bestmögliche wäre.15
Kantors Präsenz auf der Bühne ist zudem alles andere als ornamental, fungiert dieser doch als Koordinator der internen Dynamiken des Theaterstücks. Richard Schechners Beschreibung macht uns darauf aufmerksam: In seiner Inszenierung von Die tote Klasse bleibt Kantor für die gesamte Dauer des Schauspiels auf der Bühne. Er kommt vor dem ersten Zuschauer herein, nimmt hier und dort kleine Änderungen auf der Bühne vor, beobachtet die Ankunft des Publikums und lädt dieses ein, Platz zu nehmen. Wenn dann die Schauspieler hereinkommen und beginnen, ihre Rollen zu spielen, entfernt Kantor sich nicht. Er bleibt stehen, am Rande. Die Schauspieler sind kostümiert und stark geschminkt, Kantor hingegen ist ungeschminkt und trägt Alltagskleidung. Die Schauspieler führen die gesamte Partitur auf, bestehend aus Musiken, Prozessionen, Interaktionen mit Puppen (die das Aussehen der Schauspieler reproduzieren). Kantor verfolgt das Geschehen, flüstert so leise, dass man ihn nicht klar verstehen kann, folgt den Schauspielern in ihren Bewegungen, schüttelt zum Zeichen des Einverständnisses oder der Ablehnung das Haupt, er gestikuliert und unterdrückt dabei ganz offenkundig 13 Wie Jan Kott in seinem Essay über Kantor schreibt: „Wie lange kann dieses Theater noch fortbestehen? Monate? Ein Jahr und ein paar Monate? Theater haben ein kurzes Leben. Zuweilen kürzer als jenes ihrer Schöpfer. Ich verstehe, daß letztere sich nicht trennen können. Nicht nur aus Barmherzigkeit gegenüber Kantor wollen sie das Fortbestehen verlängern, sondern auch um ihrer selbst willen. Es ist nicht meine Absicht, grausam zu sein, aber ohne Kantor ist dieses Theater wie ein Körper ohne Seele. Kantor verstand es, sogar Puppen und Hüllen eine Seele einzuhauchen. Das Theater Kantors spielt auf jener labilen und flüchtigen Grenze zwischen dem Noch-Andauern und Schon-ErinnerungSein. Nach Kantor möge ein leerer Stuhl bleiben.“ Zitiert nach Jan Kott: Kaddish / pagine su Tadeusz Kantor, Mailand 2001, S.46. 14 Vgl. Kantor, Il Theatro della Morte, a.a.O., S.206. 15 Vgl. Kott, Kaddish, a.a.O., S.46.
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das Verlangen, sich in vollständigerer Weise einzumischen. Gegen Ende des Schauspiels blockiert die Handlung. Kantor bewegt sich dann zwischen den Schauspielern, die nunmehr wie Statuen oder Gliederpuppen zwischen echten Puppen anmuten. Er nimmt kleine Veränderungen an den Positionen der Schauspieler vor: hier ist es ein Arm, dort die Neigung des Kopfes – wie ein Maler, der aus der Entfernung sein praktisch vollendetes Gemälde mustert und Kleinigkeiten nachbessert. Mit einem kaum wahrnehmbaren Wink des Kopfes Billigung anzeigend, entfernt er sich schließlich rasch von der Szene. Wenig später ist das Schauspiel beendet. Während der Vorhänge bleibt Kantor im Hintergrund – als der am weitesten entfernte, zugleich aber auch auffälligste Darsteller. Ich habe Die tote Klasse zwei Mal gesehen und die Interventionen Kantors waren beide Male verschieden. Deren generative Grammatik war freilich dieselbe: Kantor dirigiert das Schauspiel, während es sich vollzieht, er kontrolliert ein work-in-progress und das Schauspiel ist so Bestandteil seines Innenlebens. Kantor ist in der Lage, auf das zu reagieren, was er geschöpft hat, und seine Reaktionen sind Teil seiner kontinuierlichen Schöpfung.16
Schechner arbeitet zwei grundlegende Aspekte des Kantorschen Theaters heraus: Der eine ist an die piktorale Dimension geknüpft: Ausgehend von einem Bild (ein Foto, ein Gemälde, ein Erinnerungsbild) konstruiert dieser ein szenisches Ereignis. Das zweidimensionale Bild explodiert in einem szenischen Rhythmus, an dem die Schauspieler teilnehmen, um in einem das Schauspiel abschließenden Bild zu implodieren. Bei der kontinuierlichen Rekonstruktion solcher Bilder/Szenen nimmt sich Kantor beständig die Freiheit, Modifikationen vorzunehmen, die minimal oder scheinbar irrelevant erscheinen können. Aber vermittels seines Gestus enthüllen sie ihr eigentümliches Wesen: Diese Szenen sind Entäußerungen seiner Innenwelt, Formen des Ausagierens, die sein Innenleben und seine Erinnerungsschätze enthüllen. Es wird aus diesem Grund zu einem Ding der Unmöglichkeit, Bilder dieser Art ohne ihren Eigentümer vorstellen zu wollen. Diese würden zu leeren Bildern, ganz so wie abstrakte Traumbilder ohne die freien Assoziationen des Träumers leer sind. Der andere Aspekt ist an die szenische Präsenz Kantors geknüpft, sofern er der Handlung Vitalität verleiht. Das Stück ist schon fertig. Es hat eine herauskristallisierte Form. Es ist kein Happening, in dem der Improvisation eine tragende Rolle zukommt; dennoch besitzt Kantor dieses Stück, es ist auf eine intime Weise seines und entsprechend kommuniziert er mit diesem vermittels dauernder Feinabstimmungen. Seine Präsenz geht nicht in der Funktion des Regisseurs auf, sondern ist integraler Bestandteil des Stücks selbst. Cricot2 versuchte nach dem Tode Kantors, Die tote Klasse aufzuführen, musste das Vorhaben jedoch schnell wieder aufgeben. Denn tatsächlich wurde bald augenfällig, wie die Abwesenheit Kantors einen vollständigen Mangel an Gleichgewicht zwischen den Charakteren zur Folge hatte, gleichwohl das Stück in die kleinsten Details hinein notiert worden war (der Improvisation kommt im Theaterwerk Kantors faktisch untergeordnete Bedeutung zu, sie spielt aber eine entschei16 Aus dem Italienischen übersetzt nach R. Schechner: Ripristino di comportamento, in: Quartaparete, 6, Torino 1981, S.34.
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dende Rolle während der Proben. Es wäre insofern angemessener, von Interpretation, Kalibrierung und Justierung zu sprechen). Kaum weniger von Gewicht ist freilich der Umstand, dass die Präsenz Kantors auf der Bühne zum szenischen Ereignis wird. Kantor ist ein Charakter, der aber, da er nichts anderes als sich selbst darstellt, vollkommen unersetzlich wird. Aus diesen Gründen habe ich mich bei der Neuinszenierung von Die tote Klasse mit Problemen konfrontiert gesehen, die eigens mit der Ontologie des Stücks zu tun hatten. Die Entscheidung für eine bestimmte Art Ausgangsmaterial sowie die Weise seiner Verwendung ist eher schwierig gewesen, obschon ich die überaus starke Motivation gespürt habe, dieser Welt und dem Material, das von der kometenhaften Zusammenarbeit zwischen Cricot2 und Tadeusz Kantor auf uns gekommen ist, zu neuem Leben zu verhelfen. Grundsätzlich gab es da zwei Möglichkeiten: zum einen die Option, die Partitur (oder besser: den schriftlichen Bericht der Bühnenaktivität) samt Foto- und Videodokumenten zu nehmen und das Stück zu rekonstruieren bzw. neu zu interpretieren; zum anderen die Möglichkeit, die innerlichen Dynamiken eines solchen Meisterwerks zu studieren, indem man versucht, vermittels der Protagonisten (der noch lebenden Schauspieler) der Essenz dieser Dynamiken gewahr zu werden und in demselben Geiste an der Konstruktion eines ‚anderen‘, diesem jedoch affinen Ereignisses zu arbeiten. Ohne allzu viel zu zögern, habe ich mich für die letztere Variante entschieden, da ich sie für die methodologisch korrektere hielt.17 Zum Zweck der Realisierung der eigenen Darstellungen inspiriert sich Kantor in der Zeit vor Die tote Klasse bei Texten anderer Autoren. Die Art Beziehung, die er zu diesen Texten herstellt, ist einigermaßen komplex und ich behalte mir vor, diese bei anderer Gelegenheit zu analysieren. Es mag in unserem Zusammenhang hinreichen, nur in Erinnerung zu rufen, dass Kantor nie umstandlos und unvermittelt einen Text verwendet, sondern stets bestrebt ist, dessen Sinn zu übertragen. Daher unterscheidet er radikal das ‚geschriebene Theater‘ vom ‚ausagierten Theater‘ und sieht die unveränderte szenische Darstellung des Textes als Verrat an diesem an. Der geschriebene Text hat in diesem Sinne seine eigengesetzliche Notwendigkeit [un testo autonomamente necessario], die keiner szenischen Darstellung bedarf. Demgegenüber ist die szenische Darstellung ein Ereignis, das in der Handlungsdimension seinen 17 Vor einigen Jahren haben die Produktionsgesellschaft CRT Artificio und Franco Laera ein vollständiges Video von Die tote Klasse produziert, indem sie – skrupulös der von Kantor zurückgelassenen Partitur folgend – Fragmente von Versionen verschiedener Aufführungsorte und Jahre mit unterschiedlichen Schauspielern montiert haben, die zudem unter aufnahmetechnischen Gesichtspunkten sowohl akustisch als auch visuell von unterschiedlicher Qualität sind. Ich halte eine solche Vorgehensweise für methodologisch verfehlt, da sie in dogmatischer Weise auf die Partitur Bezug nimmt, ohne die ästhetische Dimension und die Komplexität des Stücks zu berücksichtigen und darüber hinaus ohne auf die Natur einer Partitur zu reflektieren, die als Dokumentation des Stücks und nicht als Ausgangspunkt verfasst wurde. Obgleich dieses Dokument es ermöglicht, das Werk in seiner Einheit zu sehen, präsentiert es uns doch eine Version, der jegliche Organizität abgeht.
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eigenen Sinn finden muss; der Körper, der Raum und die Zeit sind die leitenden Gesichtspunkte szenischer Handlung.18 Das buchstäbliche szenische Reproduzieren eines Theatertextes ist von daher eine Paradoxie. Der Text verliert die eigene textuelle Natur, während der Körper eine methodologische Einzwängung erleidet, dogmatisch unterdrückt und einem Text geopfert wird. Wie aber kommt man aus dieser Sackgasse wieder raus? In den 60er Jahren erkundet Kantor in einer Reihe von Happenings die Möglichkeit, vom Text eingehüllte szenische Ereignisse zu erschaffen. Seine Bindung an die Theaterszene im engeren Sinne sowie seine Liebe zu den großen Visionären der polnischen Literatur wie Witkacy, Gombrowicz und Schulz lassen ihn jedoch weiterhin an der Idee festhalten, die Beziehung zum Text zu überwinden, anstatt vor dieser zu fliehen. Während einige Künstler, insbesondere aber solche aus der Avantgardeszene des Westens (Fluxus, Aktionskunst, Tachismus) sowie aus Japan (Gutai), radikal ihre Beziehung zur Bühne beenden, versuchen andere Künstler wie Kantor, das Theater gleichsam zu überqueren, um es aus seinem Inneren zu erneuern. Aus diesem Blickwinkel stellt Die tote Klasse für Kantor einen ganz entscheidenden Wendepunkt dar. In diesem Stück lässt er sich ein letztes Mal von dem Text eines anderen Autors inspirieren, um diesen vollständig in Unordnung zu stürzen. Durch dieses Werk gelangt er an einen methodologischen point of no return, so dass er, beginnend mit Wielopole-Wielopole (dem Nachfolgewerk zu Die Tote Klasse), selbst zum Autor seiner Theaterproduktionen wird. Es ist bekannt, dass der Text, durch den er sich zu Die tote Klasse inspirieren ließ, Tumor Hirnowitsch von Witkacy war, schon allein deshalb, weil die Charaktere und die fragmentarischen Sätze, die diese hervorbringen, aus besagtem Werk stammen. Es ist dennoch möglich, einige andere Inspirationsquellen zu erkennen, die auf die Realisierung dieses Werks einen gewissen Einfluss gehabt haben. Ganz grundlegend für dessen Entstehungsgeschichte ist Bruno Schulz.19 Von diesem übernimmt Kantor die traumähnliche Atmosphäre der Zimtläden und insbesondere die Liebe für Gegenstände, die im Abschnitt Traktat über die Mannequins zum Ausdruck kommt, doch es ist eine Erzählung aus der Sammlung Das Sanatorium zur Todesanzeige, die ihn zur Verwirklichung seines Stücks anregen wird. Unter dem Titel Der Pensionist wird da die Geschichte eines Rentners erzählt, der eines glücklichen Tages endlich 18
In diesem Sinne ist Kantor zweifellos der Erbe der Pionierarbeit Appias, Craigs, Meyerholds, vor allem aber jener Witkacys. 19 Kantor bekennt ganz offen: „Unsere gesamte Generation ist im Schatten Schulzens aufgewachsen. […]. Die Idee zu Die tote Klasse ist mir vor allem durch eine Novelle gekommen. […]. Die Novelle erzählt von einem alten Mann, der seine Jugend zurückgewinnen will, in seine Schule zurückkehren will; was er dann auch tut. Während eines Spaziergangs mit seinen Klassenkameraden wird er von einem Sturm entführt und verschwindet im Himmel.“ Zitat übersetzt nach R. de Ponticelli: Sulla scena passano fantasmi d’avanguardia. A colloquio con il polacco. T. Kantor, autore dello spettacolo „La Classe Morta“ 1978, in: Corriere della Sera vom 29.11.1978.
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entscheidet, in die Tat umzusetzen, was ihn seit geraumer Zeit umtreibt, nämlich auf die Schulbank zurückzukehren. Die kurze Erzählung ist entlang einer Reihe von Überraschungen aufgebaut, die näher betrachtet an die Erzählstruktur eines Traumes erinnern. So reicht beispielsweise eine einzige Frage des Direktors, um schlagartig unseren Rentner in einen Schüler zu verwandeln.20 Ein weiterer Text, der ganz ohne Zweifel die Entstehung von Die tote Klasse beeinflusst hat, ist Ferdydurke von Witold Gombrowicz. Einige der charakteristischsten Bilder von Die tote Klasse sind deutlich davon inspiriert: der Kampf der Grimassen, die Obsession für Ferse und Wade, das Zur-Schau-Stellen des ‚hinteren Gesäßes‘ und die Herausforderung mit dem Zeigefinger sind einige Beispiele. Aber der Text hat auch den Inhalt des Stückes beeinflusst. In der Tat wird das Thema des Zur-Schule-Wiederkehrens in Ferdydurke auf wesentlich dramatischere Weise vom Protagonisten, Gingio, erlebt, als dies beim Rentner Schulzens der Fall ist. Im Gegenteil: Während die Rückkehr zu Schule und Kindheit bei Schulz fast so herbeigesehnt wird, dass man meinen könnte, hierin liege die Errettung, handelt es sich bei Gombrowicz um eine erzwungene Rückkehr, um eine unerträgliche, zugleich aber verführerische Gewalt. Die Schulzsche Kindheit wird bei Gombrowicz zu Infantilismus, Unverantwortlichkeit, zur Idiotie, der zu widerstehen jeder Versuch nutzlos scheint. Die Tendenzen, die Gombrowicz bereits damals in den Vierzigern wahrnahm, haben heute die nicht mehr allzu latente Anmutung Peter-Pan-mäßiger Epidemien: Schönheitschirurgie, Fitness-Studios, Mode: alles scheint uns an den kategorischen Imperativ „Sei jung!“ zu gemahnen. Zudem ist jegliches Denken an den Tod schlicht zu etwas Unangebrachtem geworden, wenn es nicht als langweilig und anfechtbar gilt. Es ist eine Kultur, die den Tod hinter der rachitischen Chimäre unnatürlicher Jugendlichkeit versteckt. So kehren also die Alten aus Die tote Klasse endlich auf ihre eigenen Schulbänke zurück: Relikte von Menschen mit den Kadavern ihrer selbst, Kinder, die in ihren Kleidern baumeln: Großes Entrée der Schauspieler (...) Alle führen Kinder mit sich, kleinen Kadavern ähnlich. (...) Einige baumeln leblos, klammern sich mit verzweifelter Geste an Riemen, werden über den Boden geschleift, fast als seien sie Gewissensbisse, totes Gewicht, ganz so, als hätten sich riesige Larven jener Individuen BEMÄCHTIGT. (...) Menschliche Geschöpfe, die ohne Scham die Geheimnisse ihrer Vergangenheit zur Schau stellen (...) mit den WUCHERUNGEN der eigenen KINDHEIT. Hinweise Die Charaktere der TOTEN KLASSE sind keine eindeutigen Individuen. Es scheint, als seien sie zusammengeheftet, aus verschiedenen Teilen collagiert: mit Kindheitsresiduen, dem schicksalslos ihrer Vergangenheit (die nicht immer gespiegelt wird), mit ihren Träumen 20 Vgl. die Erzählung Der Pensionist, in: Schulz, a.a.O., S.285: „ ‚Sehr lobenswert, sehr pädagogisch‘,
sagte der Herr Direktor anerkennend. ‚Außerdem glaube ich‘, fügte er hinzu, ‚daß Ihre Bildung infolge des langen Brachliegens gewiß schon einige Lücken aufweisen wird. Wir geben uns in dieser Hinsicht gewöhnlich optimistischen Täuschungen hin, die man leicht entlarven kann. Erinnern Sie sich noch, wieviel fünf mal sieben ist?‘ “
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und ihren Leidenschaften lösen sie sich ständig auf und verwandeln sich in der Motilität des theatralen Elements, während sie unabwendbar auf ihre finale Form zustreben, die rasch und unwiderruflich erkalten möge, um in sich all die Glückseligkeit und den Schmerz, ALL DIE ERINNERUNG DER TOTEN KLASSE einzuschließen!21
2. UMARŁA CLASA (DIE TOTE KLASSE) Jeder/Everyman ist das Theater der Essenz des Christentums. Das gesamte Drama schnürt sich zu einer Frage zusammen: wer wird mit dir ins Grab steigen? 22
Im Januar 1975 begannen in der Krakauer Krzysztofory-Gallerie die ersten Proben des Stücks Die tote Klasse. Kein Jahr später, am 15. November, präsentierte man am selben Ort die Uraufführung. In der Folge wurde es in Łód´z aufgeführt, aber erst nach der Einladung Richard Demarcos zum Edinburgher Festival Fringe sowie daraufhin zu den neugeborenen Riverside Studios in London begann jene unglaubliche internationale Erfolgsgeschichte eines Stücks, das dann über fünfzehn Jahre lang in der gesamten Welt aufgeführt werden sollte (Kantor starb 1990, aber das Stück sollte bis in den Mai 1992 gespielt werden). Die tote Klasse ist in verschiedenen Versionen aufgeführt worden. Nach Auffassung der deutschen Kantor-Forscherin Uta Schorlemmer sind es mindestens drei: Insgesamt bringt Kantor mindestens drei Versionen von Die Tote Klasse heraus. Würde man die verschiedenen Umbesetzungen berücksichtigen, wären noch mehr Versionen zu zählen.23
Es ist aufschlußreich, dass Schorlemmer die Mitwirkung verschiedener Schauspieler als Kriterium der Differenzierung von Werkfassungen ins Spiel bringt. Denn tatsächlich konstruierte Kantor seine eigenen Stücke, indem er diese mit und für seine Schauspieler modellierte, betrachtete er doch den dramaturgischen Text als etwas, das „den Schauspielern zugehörig ist; aus ihnen hervorgegangen und von daher authentisch“. Die erste Version von 1975 wurde 1977 modifiziert. Das offizielle Archiv der Cricoteka bringt unter der Aufführung in Shiraz/Iran (vom 17.-26.8.1977) die Anmerkung „Aufführung der zweiten Version“; dennoch weist Silvia Parlagreco24 21
Aus dem Italienischen übersetzt nach Tadeusz Kantor: La classe morta, Mailand 2003, S.17f. Kott, Kaddish, a.a.O., S.17. 23 U. Schorlemmer: Tadeusz Kantor. Er war sein Theater. Nürnberg 2005, S.142. 24 „(...) ich war mir sicher, dass der Wechsel bereits vorher stattgefunden habe. Anfänglich glaubte ich, diesen mit dem Datum der Aufführung in Amsterdam im März desselben Jahres koinzidieren lassen zu können. Auch wenn ich im Archiv nicht das betreffende Programmheft gefunden hatte, so hatte ich doch eine maschinengeschriebene Besetzungsliste gefunden, die für Amsterdam, Nürnberg und Erlangen gelten sollte. Mir ist in diesem Zusammenhang aufgefallen, dass, beginnend mit 22 Vgl.
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darauf hin, dass die zweite Version vermutlich schon zu einem früheren Zeitpunkt aufgeführt wurde. Die dritte und letzte Version wurde erstmals 1989 anläßlich des Kantor-Festivals im Pariser Centre Pompidou aufgeführt. Hierzu merkt Schorlemmer an: Während etwa die berühmte Grammatiklektion in der zweiten Version fehlt, ist sie in der dritten wieder enthalten. Die letzte von Kantor kurz vor seinem Tod zusammengestellte Version ist eine Synthese der Inszenierung Die tote Klasse, die sich über 15 Jahre entwickelt hat.25
Die Grammatiklektion ist demgemäß eines der vorrangigen Elemente, durch die sich die Versionen des Stücks unterscheiden. Es ist vielsagend, dass dieser szenische Nukleus bereits vor der ersten Realisierung von Die tote Klasse 26 als nichtverwirklichter Schauspielentwurf in Erscheinung trat. Die Partitur, auf die ich mich in meinem Studium bezogen habe, ist jene, die in Italien vom Mailänder Verlag Libri Scheiwiller veröffentlicht und von Luigi Martinelli geliefert wurde. Dieser war es auch, der mir im Mai 1981 das maschinengeschriebene Original dieses herausragenden Textes gab, der noch nicht auf Polnisch veröffentlich worden war und dann 2003 erstmals vollständig in italienischer Übersetzung erschien.27 Nürnberg, das Programm gelten sollte, das 1977 in Krakau auf Polnisch und Deutsch gedruckt worden war und die Anmerkung „zweite Version“ trug, zudem aber auch die Ersetzung von vier Rollen, die verschwinden. (...) Über den Charakterenwechsel hinaus hatte Kantor aus dieser zweiten Version auch die Sequenz der Grammatiklektion eliminiert. (...) Aber das war noch nicht die richtige Konklusion. Im Programm von 1976 (n.2), in Krakau auf Englisch und Polnisch gedruckt, ist für die Rollen- und Besetzungsliste ein Korrekturbogen eingefügt worden. Gemäß der Anmerkungen, die ich im Archiv bezüglich dieser Publikation gefunden habe – darunter Kantors ‚zweite Fassung‘, die handschriftlich auf dem Schreibmaschinentext verzeichnet war und die noch deutlich sichtbare Löschung des Paragraphen, der der Figur des Verteilers von Traueranzeigen gewidmet ist – müssen wir davon ausgehen, dass es sich bereits um die zweite Version handelt und dass der wesentliche Zug, der diese von der ersten unterscheidet, das Fehlen der Grammatiklektion ist. (...) Darüber hinaus bin ich auch auf eine Liste gestoßen, die die neue Zusammenstellung des Cricot-Ensembles angibt und deren Abfassungsdatum auf den Zeitraum zwischen dem 16. und 21. Dezember zu veranschlagen ist. Dies würde die Hypothese stützen, dass das Programm n.2 der Warschauer Aufführung von 1976 zuzuordnen ist, wo demnach erstmals die zweite Version auf die Bühne gebracht worden wäre.“ Aus dem Italienischen übersetzt nach: S. Parlagreco, in: Tadeusz Kantor, a.a.O., S.235f. 25 Schorlemmer, Tadeusz Kantor, a.a.O., S.143. 26 Vgl. Parlagreco, in: Tadeusz Kantor, a.a.O., S.239: „In dem Gespräch mit Anna Grzejewska, das unter dem Titel Dzieło sztuki jest zamkniete veröffentlicht worden ist, berichtet Kantor von den zwei Monaten, die auf Proben für dieses Projekt verwendet wurden, das dann bei Gegenüberstellung mit dem Text Witkacys Nixen und Hexen oder die grüne Pille [Original: Nasdobnisie i Koczkodany, czyli zielona Pigulka], sich als unangemessen erwies und zur Seite gelegt wurde. Kantor war stark von der Grammatik angezogen. Er beschreibt diese als ein Reservoir der Potentialität, in dem eine unberechenbare Anzahl möglicher Situationen ihren Ursprung hat: alle Formen der Literatur, die Literatur der gesamten Welt überhaupt. In der zweiten Version von Die tote Klasse, aus der die gesamte Szene entfernt worden ist, bleiben einige Anspielungen, etwa in der Rezitation des hebräischen Alphabets oder in dem so komplexen, zuweilen fast unaussprechbaren Phonem-Dialog. Mir scheint richtig zu sagen, die Intention sei wohl eher die gewesen, die Grammatiklektion zu verbergen, als diese vollständig zu streichen.“ 27 Vgl. Martinelli in: Kantor, T., a.a.O., S.221.
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Von der ersten Version existiert noch nicht einmal eine postume Partitur, wohingegen Kantor von der zweiten Fassung eine Partitur mit einigen Zusätzen produzieren sollte. Die italienische Ausgabe verweist auf diese Partitur und bringt auf Seite 69 tatsächlich auch die Grammatiklektion mit der Anmerkung „Diese Sequenz war Bestandteil der ersten Version von Die tote Klasse. In der zweiten Fassung ist sie gestrichen worden.28
Beim Studium von Die tote Klasse habe ich mich jedoch auf verschiedene Quellen bezogen und derselbe Umgang mit dem Text ist von einer werkgenetischen Analyse unterstützt worden. Faktisch verwies Die tote Klasse auf kein Skript. Wie bereits erwähnt, wurde die schriftliche Fassung des Stücks von Kantor mehrere Jahre nach der Realisierung des Werks abgefaßt. Die tote Klasse wurde direkt ‚vorort‘ konstruiert, vermittels einer Art Collage aus Texten und Notizen, die während der Proben entstanden. In einem Interview mit Gideon Bachman erzählt Kantor selbst von den Schwierigkeiten, auf die er stieß, als die polnische Zensur nach dem Text des Stücks fragte. Übereinstimmend berichtet S. Parlagreco: Was er in Händen hielt, war nicht mehr als eine Art Collage, die aus Sätzen und kurzen Fragmenten von Witkiewicz bestand, aus Bibelzitaten, Erinnerungen an den Unterricht, den jüdische Kinder im cheder genossen, wo er das hebräische ABC-Buch oder das berühmte jiddische Gutenachtlied hergenommen hat, zudem waren da etwa eine Geschichtsstunde aus einem Schulmanual sowie die Transkription einiger musikalischer Motive, die seine Frau Maria zu singen liebte.29
Auch wenn ich die Bedeutung der geschriebenen Partitur und ihren Dokumentationswert anerkenne, so ist doch mein Ansatz nicht allein an dieser orientiert 28 Im selben Kapitel (Il Teatro della Morte, a.a.O., S.69f ) notiert Kantor: „In der GRAMMATIK habe ich ein wirksames künstlerisches Mittel gefunden. Nur allzu leicht hätte ich das Wort ‚Dekomposition‘ mit den Begriffen ‚Destruktion‘ und ‚Disgregation‘ ersetzen können. An die Grammatiklektion dachte ich schon im Jahre 1972; als sich mir die Umrisse des Unmöglichen Theaters abzuzeichnen begannen und ich die Auswahl des Werks traf – Nixen und Hexen oder die grüne Pille von Stanisław Ignacy Witkiewicz. Ich habe alles versucht, um die Erzählung, mithin die buchstäbliche Realität des dramatischen Textes durch eine ANDERE, VERSCHIEDENE, FREMDE REALITÄT zu zerstören! Diese Realität hatte eigentlich eine Schule, eine Schulklasse sein sollen. Und die Grammatik! Jenes System, in dem sich eine blitzartige Zergliederung der Fabel, der Erzählung und der Repräsentation vollzieht. Ich habe Schulbänke bauen lassen. Darin habe ich die Schauspieler aufgestellt. Ein strenger und furchterregender Lehrer säte Hoffnungslosigkeit zwischen jenen, denen auferlegt wurde, Schüler zu sein, jedoch ganz andere Absichten und Projekte hatten. In Nixen und Hexen werden die 40 Berlinguoni wie Witkiewizc es wünschte als Essenz der Virilität dargestellt. Ich hätte titeln wollen: Die Grammatiklektion und die 40 Berlinguoni. Dann habe ich auf eine solche Fusion verzichtet, dazumal ich aus einer solchen Disposition nicht genügend K o n t r a s t gewinnen konnte. Die G a r d e r o b e nahm den Platz der S c h u l e . Die Schule und die GRAMMATIK sind erst 1975 in Die tote Klasse wiedergekehrt. Die GRAMMATIK und ihre Hauptfunktion erwiesen sich als ein wirksames Mittel für die Zerstörung der vitalen Bedeutung, der Situationen, der Fabel, der Erzählung und der Repräsentation. Oder besser: als ein wirksames Mittel zur Zerstörung der Illusion. Da haben wir es, ja: genau darum geht es!“ 29 Parlagreco, in: T. Kantor, a.a.O., S.240.
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gewesen. Insbesondere während der Arbeit an der szenischen Reinterpretation des Stücks habe ich die Partitur zwar als eines der Elemente im Spiel betrachtet, der RealPräsenz Mira Rychlickas und ihres Charakters Tumor jedoch viel größeres Gewicht gegeben. Aus diesem Material also speiste das Stück sein Wachstum, während die Schauspieler selbst nur wenige Hinweise erhielten, Spuren gleichsam, auf denen sie im Einklang mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Temperament progredieren sollten. Kantor zeichnete die Proben in der Regel auf Band auf. Diesen Aufnahmen entnahm er dann weitere, komplexere Hinweise, die er notierte, revidierte und korrigierte, bis der Text endlich Gestalt annahm.30
Ich habe mich also diesem Meisterwerk der Gegenwart nähern wollen, indem ich dem Ansatz und der Methode seines Autors selbst gefolgt bin: den Text im Hic et Nunc theatralen Agierens leben lassen – in den Ein- und Aufstellungen, in den Körpern der Schauspieler, im Text der Schauspieler, in den Gegenständen. All dies, um dem in der Form kristallisierten Werk die „Chance des Realen“ zu geben.
3. TUMOR FODERATO D’INFANZIA [MIT
KINDHEIT DURCHSETZTER TUMOR]
Die Vergangenheit wird leicht zu einer Last. Man muss unnachgiebig ihre Entwicklungen blockieren und nur das retten, was sich auch in einer neuen Situation verwandelt, was seine Aktualität modifiziert – auf unvorhersehbare Weise.31
Die Idee, das Schauspiel Die tote Klasse wiederzubeleben, ist von jenem Tag an langsam in meinem Kopf gereift, da ich zum ersten Mal live die szenischen Objekte Kantors und des Cricot2 gesehen habe. In diesem Sinne ist mein Besuch des Magazins der Cricoteka, den ich einleitend zu diesem Text erwähnt habe, bestimmend gewesen. In jener Situation verspürte ich einen überaus starken Impuls, die Figuren und jene von ihnen bevölkerte Welt voller Ausdruckskraft wieder leben zu lassen. Sie kamen mir vor wie lauter Waisenkinder; zerbrochene Gestalten, die trotz allem bereit sind, noch etwas zu erzählen. Genau denselben Eindruck hatte ich, als ich Mira Rychlicka traf, die eine halbierte Person schien: halb lebendig und gegenwärtig, halb abwesend, wenn auch noch nicht verstorben. Ich spürte, dass sie jenem Teil ihrer Identität, den Kantor aus ihr extrahiert und dann nach seinem Verschwinden dem Vergessen anheim gegeben hatte, erneut Ausdruck verschaffen würde, wenn ich hierzu Gelegenheit geben könnte. Eine Welt stand mir gegenüber, aber ich war noch nicht imstande, diese zu dechiffrieren und zu verstehen, auf welche Weise ich sie hätte wiedererwecken können, ohne über plumpe Nachahmungen zu stolpern 30 31
Ebd. Kantor, Il Teatro della Morte, a.a.O., S.126.
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oder mich zu unglaubwürdigen Interpretationen eines unwiederholbaren Stücks zu versteigen. Als ich mich daran machte, aufmerksamer die Methodologie Kantors zu studieren, begann ich, das Wesen seiner Arbeit zu begreifen und habe in Mira selbst den Lektüreschlüssel gefunden, um Die tote Klasse zu reinterpretieren. Es konnte nicht darum gehen, die selben Begebenheiten in Szene zu setzen, gleichsam das Stück-ansich aufführend und bestenfalls neue Elemente einfügend, um dem Ganzen einen möglichst originellen Dreh zu geben (andererseits: wie kann man im Vergleich zu einem solchen Meisterwerk originell sein?). Im Gegenteil: ich würde vielmehr eine ähnliche Arbeitsatmosphäre erzeugen müssen, um ein neues Stück zu erschaffen. Der englische Regisseur Pete Brooks, der bei der Premiere meines Schauspiels anwesend war, hat es als „eine bewegende Coda zur Toten Klasse“ definiert – womöglich ist eine solche Definition die adäquateste. Tumor Foderato d’infanzia32 ist eine Art Schwanengesang für den Charakter Tumor/Mira; ein letzter melancholischer Auftritt, bevor sie für immer die Bühne verlassen wird. Auch wenn es sich um das Ergebnis eines Studiums des Originalwerks handelt, so handelt es sich doch nicht um eine Wiederherstellung, sondern vielmehr um eine mögliche Fortsetzung, oder, um es mit Kantor zu sagen: um einen Dialog. Beim Erschaffen dieses Stücks bin ich somit sowohl in methodologischer als auch thematischer Hinsicht für einige Schritte in den Fußstapfen des großen polnischen Meisters gewandelt. Mehr als die gesamte Partitur von Die Tote Klasse konnte ein poetisches Manifest33, das Kantor in Das Theater des Todes geschrieben hat, meiner 32
Der Titel des Schauspiels ist eine paraphrastische Anspielung auf das berühmte Kapitel „Philidor mit Kind durchsetzt“ aus W. Gombrowicz’ Roman Ferdydurke. 33 Folgendes Gedicht Kantors über Die tote Klasse hat von Beginn an meine Arbeit gelenkt: „ERSTER TEIL / Wachsfigurenkabinett. / Stummes Flehen. / Die Finger. / Plötzlicher Abgang. / GRANDE ENTREE. / Parade. / Die tote Kindheit. / Rückkehr zum RELIKT. / Lektion über Salomon. / Die letzte Illusion. / Großes Anstoßen. / Nachtlektion. / Nächtlicher Spaziergang. / DER GREIS MIT DEM HOCHRAD. / DIE SOMNAMBULE HURE. / DER GREIS AUF DEM W.C. / DIE FRAU AM FENSTER. / Alles versinkt im Traum. / Historische Halluzinationen. / Das Erscheinen des AUFSTÄNDISCHEN. / Phonetische KRAKELEI. / GRIMASSEN. Pause. / Der Auftritt der PUTZFRAU. / DER PEDELL IM PRÄTERITUM. / STIMMEN. / Die Flucht der Putzfrau. DIE FAMILIENMASCHINE. / Die Geburt. / DIE MECHANISCHE WIEGE. / Der große Umzug. / Der Todeszyklus. / Die wichtigen Begebenheiten entwickeln sich / während des Schlafs. Lektion zu „PROMETHEUS“ / Die Leber des Prometheus / Die Nase Kleopatras / Der Nabel der Welt. / Unfall mit der FERSE. / DAS KAMEL und das Nadelöhr. Anstoßen. Schein des Erfolgs. / Der Funktionär auf dem Töpfchen. / Nebulöse Erklärungen. / SCHULISCHE WEHKLAGEN. / Die Frau am Fenster. / DER SPAZIERGANG. ZWEITER TEIL / Konnivenz mit der LEERE. / Eine pompöse Bestattung. / Appell der Toten. / GLEICHZEITIGE ORGIE. / Koloniale Robinsonade. / Historische Daguerreotypie. / Die Frau am Fenster. / Die Probe des letzten RENNENS. DRITTER TEIL / DIE WIEGENDE FRAU. / Ein scheinbarer Dialog. / LEICHENWASCHUNG. / Die Wahnsinnstat der Frau mir der Wiege. / Der Greis mit dem Hochrad / sagt beim Aufbruch allen Adieu, / womit er auch nicht aufhören wird. / Abstoßende Annäherungsversuche. / DER TAUBE
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dramaturgischen Konzeption als Leitidee dienen. Ich habe diesen Text als Anfangsskizze aufgefasst, als eine ungesättigte Partitur, an der man sich orientiert, um jenen theatralen Zirkus, der Die tote Klasse gewesen ist, neu zu gründen. Zwei Ziele hatte ich bei der Realisierung: zum einen wollte ich das Hauptwerk Kantors zu neuem Leben erwecken; zum anderen wollte ich ein neues Werk schaffen, das mir einen radikalen Schritt von der Rauminstallation zum Theater ermöglicht. Mira Rychlicka hat mir ermöglicht, solch offenkundig unversöhnliche Ziele in einem einzigen Werk zu verbinden; sie ist für mich zur Metapher von Die Tote Klasse geworden. Ihre Rekonstruktion der Klasse und ihre Erinnerungen an diese außergewöhnliche Erfahrung haben das synthetisiert, was ich hier bislang versucht habe, am Werk Kantors zu beschreiben: das Schöpfen aus der eigenen Innenwelt (der Erinnerungen, Eindrücke und Reaktionen), um das Gegenwärtige zum Leben zu bringen; um das Gegebene (den Text, die Erinnerung, das objet trouvé) in Ereignis zu verwandeln; um die Vergangenheit in Gegenwart zu verwandeln, um szenische Fi(n)ktion in szenische Realität zu transformieren. Die Sehnsucht nach dem Gegenwärtigen muss jedoch der Realisierung einer subjektiven Gegenwart abschwören und vielmehr zu einer befreiten Realität außerhalb der Dimensionen werden, in der Subjektivität halluziniert wird. In diesem Sinne ist theatrales Handeln ein Ereignis, bei dem sich der Brennpunkt vom Bühnengeschehen weg, hin zur Beziehung zwischen szenischem Ereignis und Publikum verlagert. So gesehen, schöpfte Kantor aus dem ‚schäbigen Zimmer seiner Kindheit‘, indem er dessen Charaktere in eine Szene des Hier und Jetzt transferierte, wobei der Realitätssinn konstant durch seine Präsenz bekräftigt wurde. Eine Präsenz, die in ihrer Funktion jener des Chors im antiken Theater ähnelt: eine Verbindung zwischen den Leuten und dem Mythos. Es ist kein Zufall, dass Kantor Die tote Klasse nicht als ein Schauspiel, sondern als eine dramatische Séance definierte. In Tumor foderato d’infanzia rekonstruiert Mira Rychlicka für eine kurze aber intensive Stunde die Welt von Die tote Klasse, jene Welt, die sie selbst verkörpert. Ich hatte die Absicht, an den sechs in Kantors Arbeit von mir entwickelten ausdifferenzierten methodologischen Elementen34 zu arbeiten. Denn ich halte diese Elemente für grundlegend, wenn es im Rahmen einer solch besonderen Herangehensweise ans Theatermachen darum geht, die dramaturgische Struktur zu errichten. Zunächst GREIS / bringt eine katastrophale Nachricht. / DAS UNENDLICHE oder die Reinigung der Ohren. / Der ungerechtfertigte Lauf des tauben Greises / der von diesem Moment an fortfahren wird / ohne Sinn und Verstand zu rennen. Zwei nackte Leichen, Opfer des Greises auf dem W.C., / verursachen ihm einen Hirnschlag. Der Greis auf dem W.C. fällt tot um / Mit seinen zwei Leichen. / Auch diese werden fortfahren zu fallen / und endlos wiederaufzustehen.“ Übersetzt nach: Kantor, Il Teatro della Morte, a.a.O., S.220-223. 34 Diese sind: i.) Dramaturgie des Raums, ii.) Dramaturgie der Objekte, iii.) musikalische Dynamik, iv.) Explosion/Implosion der Gestalt, v.) die Erinnerung als Text, vi.) Ratio der Prä-Existenz des Darstellers gegenüber dem darzustellenden Charakter.
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musste ich einen Ort der Genese für das Stück konzipieren oder zumindest finden. Daher habe ich als Erstes die Location gesucht, an der ein solches Ereignis stattfinden kann, und entschied mich für ein halbverlassenes altes Theater, gleichsam das Relikt eines Theaters mit außergewöhnlicher Kraft: das Teatro Garibaldi alla Kalsa in Palermo. Die Rückkehr von Tumor/Mira ins Theater, die Rückkehr dieses Relikts der Toten Klasse konnte sich nur an einem derartigen Ort ereignen. Tumor/Mira und das Theater beginnen gemeinsam, wieder zu leben, im selben Augenblick und nach Jahren des Schweigens und der Vergessenheit. In dieser Perspektive habe ich mein Projekt dann auch Matteo Bavera, dem Direktor des Teatro Garibaldi vorgestellt, der sofort positiv reagiert und mir das Theater vollständig zur Verfügung gestellt hat. Das erste szenische Objekt, an dem ich zu arbeiten begann, indem ich es als eine Art ‚szenische Maschine‘ betrachtete, ist eine Schulbank aus den Fünfzigern
Abb.1 Bühnenraum des Teatro Garibaldi (Foto: Artur Rychlicki).
gewesen, die ich in einem Londoner Antiquitätenladen erstanden hatte. Ich habe eine Kordel daran befestigt und Räder an die Füße bauen lassen, damit man diese ziehen konnte. Als ich dann im Theater zum ersten Mal Mira die Kordel in die Hand legte, die sich von Anfang an als Tumor kleidete, war das ungeheuer bewegend.35 Tumor Mozgowicz inszenierte sich, indem er das eigene Schultischlein voller Erinnerungen, Reisen und Erfolge hinter sich herzog. Ich begriff, dass das Stück praktisch beendet war, noch bevor es angefangen hatte. 35 Keine Probe, in der Mira nicht als Tumor gekleidet erschienen wäre. Von der ersten bis zur letzten
erschien sie so – selbst bei jenen privaten Proben bei mir. Sie war wie ein Transvestit, der Schminke und Kleider braucht, um in die Haut seiner zweiten Identität zu fahren.
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Von jenem Moment an habe ich all meine Energien darauf konzentriert, jenem einen Bild der ins Theater wiederkehrenden Mira/Tumor Leben zu geben.
Abb.2 Mira Rychlicka/Tumor und die ‚wirkliche Klasse‘ (Foto: Artur Rychlicki).
Wie Kantor auf Grundlage eines Fotos (in Wielopole-Wielopole) oder eines Fensterblicks (in Die tote Klasse36) gearbeitet hatte, so begann ich, an jenem einzelnen Bild und dessen Dramaturgisierung zu arbeiten. Das gesamte Schauspiel dreht sich somit um die Rekonstruktion des Charakters. Tumor trifft auf diverse Objekte und die Kinder einer wirklichen Schulklasse, vermittels welcher er langsam die eigene Identität rekonstruiert. Anfangs reagiert er mechanisch, ohne auch nur den Grund der eigenen Handlungen zu verstehen, zumal er kaum in der Lage ist, bewusst auf jene Außenreize zu reagieren. Wenn beispielsweise die Kinder beginnen zu zählen, wird auch er wieder aktiv; und beginnen sie zu beten, so stimmt Tumor das jüdische Gebet aus Die tote Klasse an. Dann allerdings beginnt er, seine Umgebung wiederzuerkennen und sich seiner Identität als Schüler zu entsinnen, so dass es zu regelrechter Interaktion mit dem Rest der Klasse kommt. Der letzte Schritt scheitert jedoch immer wieder, so dass zwischen Tumor und den Kindern eine nicht zu überbrückende Distanz bleibt. Tumor versucht deren Rhythmen und Wegen zu folgen, bleibt am Ende jedoch immer allein. Sobald dieser Identifikationsprozess, diese Enantiodromie langsam am Ziel angelangt scheint, wird Tumor erneut er selbst und ist nicht länger ein leeres Kostüm, das gezwungen ist, mit der eigenen Schulbank im Dunkeln umherzuwandeln. 36 Kantor selbst berichtet davon, wie der Anblick einer verlassenen Klasse durch das Fenster einer Schule an der baltischen Küste ihm das Bild der Alten auf den Schulbänken für Die tote Klasse eingegeben habe.
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Abb.3 Mira Rychlicka/Tumor inmitten der ‚wirklichen Klasse‘ (Foto: Artur Rychlicki).
Für diesen Augenblick habe ich mich entschlossen, die einzige Szene aus Die tote Klasse einzufügen, die ich unverändert aus dem Original übernommen habe. Während Tumor-der-Greis zur Toilette geht, bemerkt er, dass ihm Geld fehlt. In Die Tote Klasse wurde diese Szene von Mira und Kantor gespielt, während alle anderen Schauspieler sich im Hintergrund hielten und nur am Rande intervenierten. In meinem Stück ist Tumor hingegen allein, von der Klasse bleibt nicht mehr als eine runtergekommene Kloschüssel. Diesem tragikomischen Moment folgt eine Szene, in der Tumor und die Kinder in den Zuschauerreihen sitzend einen Film schauen. Dies ist ein dramaturgisch entscheidender Moment. Denn hier endet Die tote Klasse und beginnt mein Theater, meine Episode. Von einem Augenblick auf den anderen ändert sich die Erfahrung des Publikums radikal: Zuerst waren sie Zuschauer einer Theatervorstellung, nun sind sie gemeinsam mit den Darstellern Zuschauer. Alle schauen den Film, als seien sie in einem alten rudimentären Kino und werden dergestalt allesamt zu Schauspielern, zu einem integralen Bestandteil der theatralen Realität. Der Film besteht aus einer kurzen Montage von Erinnerungen aus meiner Kindheit, Bilder meiner Oma und meines Opas, die von Mira und Alexa37 gespielt werden und die in dem Zitronengarten eines Hauses gedreht wurden, in dem meine Großeltern gelebt haben. Während der Filmprojektion schläft Mira ein und genau in diesem Moment verwandelt sich das gesamte Theater von der Bühne bis hinauf zu den Theaterbalkons in einen gigantischen Traum. Die Kinder nehmen die Schulbank mit der schlafenden Mira und platzieren sie mitten auf die Bühne. 37
Alexa Reid, die Darstellerin, die in dem Stück Jakub Schulz spielt.
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Diese Traumszene ist eine Art großes Happening, bei dem diverse Charaktere aus Gombrowicz’ Ferdydurke, Schulzens Zimtläden und Witkacys Tumor Hirnowitsch die Bühne und das Publikum einnehmen, während sie den Schlaf Tumors bevölkern. Die Theaterbalkons, die von solchen Charakteren bewohnt werden stellen nun eine Art Eigentümergemeinschaft. Die Szenen verflechten sich in so beunruhigender wie unbegreiflicher Weise, während die gesamte Choreographie von einer Musik in ohrenbetäubender Lautstärke geleitet wird. Beim Ausklingen der Musik endet auch der Traum. Tumor/Mira erwacht – erneut allein. Einzig einige Relikte und Objekte des Traums bleiben. Wie die Objekte am Ende von Die Tote Klasse. Tumor begreift sodann, dass das ganz Stück, die Schulklasse und das gesamte Theater nichts anderes als Früchte seiner eigenen Erinnerungen sind; Früchte des Willens, das, was Erinnerung ist, wieder zu Leben zu erwecken. Als der Schleier der Maya aufgedeckt und die Unmöglichkeit des Vergangenen enthüllt ist, anders denn in neuer Form wieder gegenwärtig werden zu können, da entledigt sich Tumor zuletzt seiner eigenen Kleider und verlässt die Bühne mit dem einzigen anderen Gesicht, das ihm gehört. Jenes der Mira Rychlicka.
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Jörg U. Lensing INTERAKTIVE, INTERMEDIALE PERFORMANCE. EIN FORSCHUNGSBERICHT
Die FH-Dortmund ermöglichte mir in 2009/2010 ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt zur Fortsetzung der Arbeit an einem sensorisierten Raum, welcher durch Bewegungen in diesem Raum Klang und Szenografie in Form von live reagierenden Medien durchführbar macht. Vorausgegangen ist diesem Projekt eine Forschungsarbeit unter dem Titel PCI (Performer, Computer Interaction) im Jahr 2004, welche in 2005 in ein abendfüllendes Tanzkonzert unter dem Titel „HOEReographien“ mündete und vom Düsseldorfer Theater der Klänge realisiert wurde. Das 2004 erzielte Fazit der ersten Arbeit galt als Ausgangspunkt für IIP (Interaktive intermediale Perfomance): Inhaltlicher Ausgangspunkt war das Infragestellen der klassischen Abhängigkeit des Tanzes von der Musik und der Erzeugung von Bühnenbild durch die Aktion selber. Wenn Musik aus Tanz-Bewegungen entsteht und somit kompositorische Strukturen nicht mehr durch musikalisch kompositorische Arbeit entwickelt, fixiert und interpretiert werden, inwiefern übernimmt dann der Tänzer Kompositionsaufgaben? Welche Rückwirkungen hat das auf den Tanz? Was ferner, wenn der Tänzerkörper auf der Bühne gefilmt und in Echtzeit zur Videoskulptur geformt wird, die wiederum mit dem Menschenkörper auf der Bühne ein bewegtes Ganzes ergibt – realer und virtueller Tanz in Echtzeit? Jede Bewegung in dieser Bühne führt zwangsläufig zu Musik und Videobühnenbild. Idealerweise resultiert daraus ein Zyklus aus Einzelstücken (Soli, Pas de deuxs, Trios, Quartett) in Form von Tanz zu durch den Tanz zu erzeugenden elektronischen Musik, Tanz zu zeitlich entwickelter Videoskulptur und Tanz mit Live-Musik in Form strukturierter Improvisationen, sowie Mischformen dieser Konstellationen. Sie bilden eine audio-visuelle Gesamtkomposition als ‚autonome‘ Bühnenkunst in Anlehnung an den Begriff ‚Autonome Musik‘. Der Forschungsansatz konzentrierte sich insbesondere auf die Musikebene. Aus den in Eyecon1 vorhandenen Möglichkeiten wurde für die Arbeit in PCI fast ausschließlich mit ‚Motion Intensity‘ und ‚Field Definition‘ gearbeitet. Dabei wird die Bühne selbst in „Regions“ unterteilt, die mit unterschiedlichsten musikalischen Materialien und Texturen belegt, definiert werden. Betreten ein oder mehrere Tänzer ein oder mehrere dieser Felder, so hängt es von der Bewegungsintensität innerhalb dieser Felder ab, wie das dort zur Verfügung stehende musikalische Material ‚gespielt‘ wird. 1
Eine vom Ingenieur Frieder Weiß entwickelte Hard- und Softwarelösung zur Registrierung von Bewegung durch Kameradifferenzdaten und der Generierung eines interpretierbaren Datenstroms zur Weiterverarbeitung in Video und Musik.
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Da Körper durch ihre Masse eine andere Qualität von Bewegungsdynamik haben als z.B. Finger, die ein definiertes Instrument spielen, ergibt sich aus der Möglichkeit, Körperbewegung entstehen zu lassen, zu beschleunigen, abzustoppen und dynamisch zu akzentuieren – ein Phrasierungsmodell von musikalischen Verläufen, welches eine besondere Form von Musikalität erzeugt. Auch die Musik von Oskar Sala (Trautonium) oder von Theremin (gestengesteuertes Antenneninstrument) klingt anders als die Musik auf einer Orgel oder von einer Geige gespielt. Da die Elektronik heutzutage nicht nur die Möglichkeit bietet, elektronisch verformbare, definierte Einzelklänge, sondern komplette musikalische Texturen, Strukturen oder komplette Kompositionen als ‚Spielmaterial‘ zur Verfügung zu stellen, ergibt sich aus der Kombination von komplexem musikalischem, steuerbarem Material durch einen oder mehrere bewegte Körper nicht nur phrasierende Melodieführung, sondern phrasierende Formbildung eines musikalisch vorstrukturierten Prozesses, also eine andere Form von liveelektronischer Musik durch Tanz. Der Fokus der Arbeit lag also eher auf der Entwicklung einer neuen Konzertform als auf der Weiterführung choreographischer Ansätze, die sich nur auf aktuelle Tanztendenzen konzentriert hätte. Durch die tägliche Zusammenarbeit der Choreographin Jacqueline Fischer mit Tänzern und dem permanent anwesenden Komponisten Thomas Neuhaus sowie einer Gruppe von Videokünstlern unter der Leitung von J. U. Lensing entwickelte sich aus einem solchen Vorgehen ein permanentes gegenseitiges Reagieren. Die Tänzer lernten zunehmend, während sie tanzen, wie Musiker zu denken. Die Choreographin muss eine Improvisations-Tanzsprache entwickeln, die einerseits eine stilistische Homogenität gewährleistet, andererseits offen genug ist, tatsächlich live improvisatorisch im musikalischen Sinn mit einem zur Verfügung stehenden und variativ flexiblem Bewegungsmaterial reagieren zu können. Da ein solches Vorgehen gerade auch musikalisch zu sinnvollen Formen kommen soll (kein Free-Jazz), galt es darüber hinaus sowohl die Choreographin, als auch die Tänzerinnen mit so etwas wie Formensprache der Musik vertraut zu machen, damit ‚tänzerische Themenentwicklung‘ genauso wie Variantenbildung und Formbildung im Improvisationsprozess nicht aus dem Bauch heraus, sondern im guten Wissen um variative Entwicklung und geschlossene Formbildung betrieben werden. Auch der Komponist mußte permanent reagieren, da er nicht mit herkömmlichen Syntheseverfahren zur Klangentwicklung arbeiten kann, sondern durch sehr viele Proben die musikalischen Texturen und Strukturen anbieten muss, die sich zum ‚Spiel‘ durch Körperbewegungen am besten eignen, gleichwohl in der Simultanität der klanglich unterschiedlich definierten Felder auch kontrapunktisch gut zusammenwirken können und für den Zuhörer ‚Fasslichkeit‘ garantieren. Sehr viele anderswo eingesetzte interaktive Sensorikbühnenansätze sind für ein Publikum nicht nachvollziehbar. Während man einem Instrumentalmusiker auch zuschauen kann und die haptische Form der Musikbildung eine Kopplung von Finger oder Armbewegung zu einem zu hörenden Klangereignis sicht- und hörbar verschmelzen, gibt es bei der elektronischen Sensorik die direkte haptische Kopplung nicht mehr. Da das erst von einem Publikum gelernt werden muss, ist man gezwungen, die Kopplung von minimalster Bewegung an minimales Klangereignis und größtmögliche und schnelle Bewegung an eine Climax der Klangmanipulation zu koppeln. Zumindest so lange, bis dieser Prozess von Klangbildung durch Tanzbewegung nicht mehr infrage gestellt wird und Möglichkeiten der Klangmanipulation durch Bewegung erforscht werden können, die nicht mehr nur 1:1 sind.2
2
Forschungsbericht zu PCI, veröffentlicht in Forschungsbericht 2005 – FH-Dortmund, vmm Wirtschaftsverlag, S.48-56.
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Abb.1 Skizze technisches Setup.
Die technische Ausgangssituation für I I P war ein Setup bestehend aus Eyecon, MaxMsP3 für die elektronische Musik, einer Mini-DV-Videokamera für Jitter4 zur Generierung von interaktivem Video und 2 Beamern zur Bespielung einer 8m x 3m großen Leinwand, welche als hintere Wand aufgestellt wurde. 3
MAX/MSP ist eine modulare Software, die speziell zur Entwicklung von elektronischen Musikinstrumenten auf virtueller Ebene geschrieben wurde. Mit Hilfe dieser Software auf einem leistungsfähigen Computer können elektronische Musikinstrumente von einer Komplexität gebaut werden, die mit Hardware ungleich aufwendiger realisierbar wären. Der Musiker, der mit MAX/MSP umgeht, muss sich aber auf das Programmieren und Entwickeln von eigenen „Instrumenten“ einlassen, was weit über das Userverhalten gängiger Keyboarder mit fertig konfigurierten Kaufinstrumenten der Geräteindustrie hinaus geht. 4 Jitter ist die Videoerweiterung von MAX/MSP.
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Auch wenn in den aus PCI hervorgegangenen Erfahrungen für ‚HOEReographien‘ – mit klar strukturierten tänzerischen Themen zur Generierung von live-elektronischer Musik und live-elektronischem Video – gearbeitet wurde, so ließ sich konstatieren, dass zum einen das einmal gefundene Material für ein abendfüllendes Programm dann doch irgendwann ausgereizt war und die einzelnen Formen durch die Zuordnung, Personenanzahl zu Musicpatch plus Videopatch, pro Stück immer nach maximal 8-10 Minuten erschöpft waren. Es ergab sich ein Abend aus 12 Einzelstücken, welche in sich keine formale Variation beinhalteten und nur durch das Setup, wie das immer wieder eingesetzte Bewegungsmaterial Zusammenhang herstellten. Für die Arbeit an I IP sollten daher 3 Fragestellungen Grundlage sein: 1. Pro Komposition soll ein eigenes tänzerisches Material, wie ein entwickelbares Musiksetup und Videosetup bereitgestellt werden. 2. Jede Komposition soll in sich geschlossen ein bestimmtes Thema intermedial entwickeln und zu medialen Konsequenzen auf allen Ebenen führen. 3. Das szenografische Setup soll über die Laboranordnung hinaus einen Raum erzeugen, welcher zusätzlich als szenischer Raum funktioniert. Die Frage des gegenseitigen Vertrauens spielt in einem solchen Prozess eine entscheidende Rolle, da es ja nicht um die einzelne Autorenschaft, sondern um eine kollektive Entwicklung in der Kombination unterschiedlichster Kompetenzen geht. Alleine schon die gleichberechtigte Autorenschaft von Musikalgorithmen, Videoalgorithmen, choreographisch modularem Material und inszenatorischen Einheiten verlangt von jedem im Entwicklungsprozess beteiligten Autor Disziplin und Respekt vor der Leistung der gleichberechtigt Mitwirkenden. Dazu kommt die ungewöhnlich große Freiheit der Interpretationsmöglichkeiten für die Interpreten, da diese ja eben nicht nur Tanz-Performer, sondern gleichzeitig auch Bildgeber für den Videoinput und Musiker der durch den Komponisten live angebotenen Texturen sind. Gleichzeitig müssen sie sich im mit der Choreographin vereinbarten Rahmen der Variationsgrenzen mit dem vorgearbeiteten Material bewegen. Nicht zuletzt gehört ein Vertrauen in die benutzte Technik dazu, aber auch in die Fähigkeit der Performer, mit Unzulänglichkeiten der Technik spielerisch umzugehen. Das in der Dortmunder Präsentation ausgefallene Audio-Interface war ein Beispiel dafür, dassdie Performer nicht die Präsentation abbrachen, sondern mit den verbliebenen Interaktionsmöglichkeiten untereinander und mit der reagierenden Videoumgebung trotz der Stille sinnvoll weiteragieren konnten. Nicht zuletzt gehört ein gegenseitiges Vertrauen in die kompositorischen Kompetenzen der Beteiligten zu einem solchen Projekt. Die technischen Möglich-
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keiten, live-elektronische Musik und live-elektronisches Video von und mit professionellen Tänzern bespielen und mit ihnen spielen zu lassen, bedeuten nicht zwingend, dass auch ein sinnvolles intermediales Interagieren daraus entsteht. Vielmehr ist die Versuchung da, die faszinierenden Möglichkeiten als Show oder addierende Effekte zu nutzen. Ein sinnvoller intermedialer Umgang mit der Möglichkeiten ist aber ein Agieren-Reagieren-Aufgreifen-Fortführen und Zu-einer-Konsequenz-Führen. Die diesbezüglich gelungenste Komposition ist bis dato das Stück SW aus dem Zyklus: Zunächst stellen vier Tänzerinnen einen stillen und ohne Video begleiteten Formteil vor, indem Material von jeder Tänzerin als Schleife geloopt vorgestellt wird. Die Tänzerinnen tanzen dabei kontaktlos sich kreuzend aneinander vorbei. Sobald dieses Material exponiert ist, verbleibt eine der Tänzerinnen auf der Bühne.
Abb.2 Eröffnungsquartett Fatima Gomes, Nina Hänel, Bernardo Fallas, Catalina Gomez.
Diese in weißer Kleidung tanzende Performerin auf schwarzem Tanzboden vor einer schwarzen Leinwand schält sich aus dem Videobild in dem Moment als Kontur in Weiß, in dem sich eine Geräuschstruktur, welche durch ihre Fußgeräusche erzeugt wurde, durch Algorithmen sequentiell rhythmisiert. Die sich verselbständigenden Rhythmussequenzen bestimmen durch ihren sich entwickelnden Puls die Rhythmisierung des sich nun weiter entwickelnden Tanzmaterials, während die sich synchron im Video bewegende Körperkontur langsam weiß füllt – ein negatives Videoschattenbild. Während der Tanz zunehmend agiler wird, ‚verschmiert‘ das mitlaufende Körperbild im Video zu Spuren und führt zu einer Abbremsung des Realtanzes, bis dieser am Bühnenrand (aus dem Video rausgehend) erstarrt. Dieses vorläufige Ende öffnet den Raum, in dem die Leinwand nun weiß wird, was eine ideale
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Abb.3 Erstes Solo, Tänzerin: Hyun Jin Kim.
Schattenfläche für eine von der anderen Seite auftretende zweite Tänzerin bietet. Das nun auf der Leinwand zu sehende Bild ist der reale Schatten der Tänzerin, erzeugt durch das frontal auf sie auftreffende weiße Beamerlicht. Erst wenn die zweite Tänzerin zur ersten Tänzerin gelangt und mit dieser zusammen in den Bühnenraum tanzt, ist ihr ‚Schatten‘ nun ein Live-Videobild von ihr als schwarzer Körper auf weißer Leinwand. Interessanterweise ist die erste Tänzerin seit ihrer ‚Verschmierung‘ nun real schattenlos, wie videoabbildlos, was dadurch hergestellt wird, dass sie sich im vorderen Bühnenbereich außerhalb der Videokamera und unter dem Videobeamerlicht bewegt. Wir haben es nun mit einem Trio von zwei Tänzerinnen und einem Videoschatten der zweiten Tänzerin zu tun. Da die Videokamera in der linken Bühne aufgestellt ist, filmt diese die zweite Tänzerin im Profil von links, während sie mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Die erste Tänzerin steht frontal zum Publikum, aber nicht in der Kamera. Wir haben es also mit drei Figuren in unterschiedlichen Perspektiven zu tun. Schleifgeräusche des beiderseitigen Aufgangs sind das akustische Material der nun einsetzenden Geräuschvariationen durch Bewegungen der beiden. Der nun folgende Pas de deux variiert die Möglichkeiten von zwei Personen ohne Schatten, einem VideoSchatten und am Ende auch zwei Videoschatten in sich steigernder Variation des Schleifgeräuschmaterials. Nachdem die erste Tänzerin von der zweiten Tänzerin von der Bühne getrieben wird, erobert sich die zweite Tänzerin die Videokamera am linken Bühnenrand, um mit einer Variation ihres Themas, lediglich getanzt in Armbewegungen, ein neues Element der Videobearbeitung einzuführen. Ihre Armbewegungen vor der Kamera, im Beamer nach wie vor als schwarze Schatten auf die Leinwand interpretiert, vervielfältigen sich durch Echosetzung vierfach. Dies führt zum Aufgang des gesamten Tänzerkörpers in die Bühne, dieses Mal in der Videokamera, was zu vier
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Abb.4 Handschatten.
sich sammelnden Schattenfiguren auf der Leinwand führt. Der nun folgende Tanz entzerrt diese vier Schattenfiguren zusehends durch eine Tanzloop, welche sich fächerförmig im Kamerapegel zusehends aufweitet. Eine letzte Bewegung in die Bühne bringt die Tänzerin am hinteren Bühnenrand vor die Leinwand, aber heraus aus dem Kamerakegel. Da sich die Tänzerin durch ihre Bewegung nach hinten in der Kamera von rechts nach links bewegt hat, tanzen die ‚Videoschatten‘ auf der Leinwand nacheinander von rechts nach links aus der Leinwand heraus. Die Tänzerin nutzt den vierten ‚Videoschatten‘, um mit diesem synchron nach links zu tanzen. Die Konsequenz dieser ‚Entdeckung‘ führt zu einem Kreuzen der Kamera mit vier unterschiedlichen Bewegungsmaterialien, welche jeweils für den Zeitraum des Kreuzens gesampelt werden und anschließend als Loop repetieren. Dies hat zur Folge, dass eine Tänzerin vier Bewegungsfiguren erschaffen hat, die auf der Leinwand als Quartett tanzen. Dieses Videoquartett wird von den vier Tänzerinnen beobachtet. Eine der Tänzerinnen greift einen der vier sich repetierenden Bewegungsabläufe auf und tanzt
Abb.5 Erstes Schattentrio der 2. Solistin, Tänzerin: Nina Hänel.
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mit diesem synchron deckungsgleich. Die anderen drei Tänzerinnen folgen diesem Beispiel und ergreifen jeweils einen der Bewegungsabläufe als Blaupause für das eigene synchrone Mitlaufen. Die ‚Videoschatten verschmieren‘ zu Bewegungsspuren, während sich die vier Tänzerinnen mit ‚ihrem‘ Material variierend verselbständigen. Das Quartett vom Anfang ist wieder hergestellt, dieses Mal aber abgeleitet aus der vorherigen Interaktion der Solistin mit den Möglichkeiten des Videopatches. (siehe Abb.2) Dieses Beispiel verdeutlicht gut, inwiefern Intermedialität hier tatsächlich rekursiv funktioniert. Nicht nur die Tänzerinnen erzeugen durch ihre Aktionen Reaktionen im elektronischen System, sondern das Produkt von Klang und hier insbesondere Video erzeugt Strukturen, die direkt Auswirkungen auf das tänzerische Material und den choreographischen Satz haben. Um diese Wechselwirkungen geht es bei dieser Arbeit. Inwiefern reagiert Musik und szenografischer Raum auf körperliche Performance. Wie reagiert die Performance auf die sich weiterentwickelnde – durch die Performer ursprünglich erzeugte – Akustik und das von ihnen gegebe szenografische Abbild und die strukturellen Weiterentwicklungen dieser Abbilder und Klänge durch die vom Videokünstler und Komponisten gegebenen Algorithmen?
Abb.6 Solo Dancing Sprites, Tänzerin: Fatima Gomes.
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Die große Frage bei allem: Wie vermittelt sich dieses ‚Glasperlenspiel‘ einem live beiwohnenden Publikum? Wie kann dieses Spiel ästhetischen Mehrwert aus einer solchen Performance gewinnen und ggf. sogar materialgebend oder strukturell beeinflussend mit einbezogen werden? Die Fortsetzung des Projekts5 für Sommer und Herbst 2010 wird sich diesen Fragen widmen und Lösungsansätze dafür entwickeln. Ein künstlerisches Endresultat wird am 12. November 2010 in der Folkwang Universität der Künste in Essen (Festival Novembermusic), am 18. Januar 2011 im tanzhaus nrw in Düsseldorf (Festival temps d´images) und im Dock 11 in Berlin (17. bis 19. Februar 2011) unter dem Titel „SUITE intermediale“ vom Düsseldorfer Theater der Klänge zur Aufführung gebracht werden. In insgesamt sieben einzelnen Kompositionen werden unterschiedliche Werke ästhetisch in sich geschlossen vorgestellt. Der Anspruch, ein den heutigen Möglichkeiten entsprechendes szenografischkünstlerisches Performancekonzept vorzustellen, verbindet sich mit dieser Arbeit und den dazu geplanten Aufführungen.
5 SUITE intermediale – Part I (2009): Regie und Szenografie: J. U. Lensing. Choreographie: Jacqueline
Fischer. Komposition: Thomas Neuhaus. Video: Falk Greiffenhagen. Kostüme: Catarina di Fiore. Fotografie: Oliver Eltinger. Tänzer/Performer: Bernardo Fallas, Fatima Gomes, Catalina Gomez, Nina Hänel, Hyun Jin Kim, Majorie Delgado.
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Heide Hagebölling VERTRAUEN UND KÜNSTLERISCHER PROZESS. EINBLICK IN DAS KREATIVLABOR
Als mir Heiner Wilharm und Ralf Bohn im Frühjahr 2009 die Teilnahme am 2. Scenographer’s Symposium mit der Thematik „Inszenierung und Vertrauen – staging trust and confidence“ anboten, war ich zunächst etwas irritiert. Erstens stellte sich für mich die Frage, wie man „trust and confidence“ denn inszenieren könne ,und zweitens war mir nicht sehr geläufig, in welchem Verhältnis nun Inszenierung und Vertrauen zueinander stehen. Zunächst fiel mir die Rhetorik allgegenwärtiger vertrauensbildender Maßnahmen auf: Inszenierungen, die unmissverständlich um Vertrauen werben, stürmen uns durch die Medien tagtäglich en masse entgegen. Weder Politik und Wirtschaft noch der kulturelle Bereich sind hiervon ausgenommen. Inszenierung von Vertrauen – als Marketingmaßnahme und Kalkül. Die konjunktionale Verbindung Inszenierung und Vertrauen hingegen lässt jenen Freiraum, abseits dieses rhetorischen Zweckdenkens, über die Qualität und Notwendigkeit von Vertrauen insbesondere im Umfeld künstlerischer Arbeit nachzudenken. Die Frage, die sich stellt, ist, wie sich Vertrauen als qualitatives – und empirisch nur schwer fassbares – Merkmal im kreativen Prozess verankert, welchen Einfluss Vertrauen auf gemeinsame Entscheidungen ausübt und inwieweit Vertrauen auch einen Mangel an Fakten, an zuverlässigen Vorhersagen sowie nicht klar definierbaren Zuständen ausgleichen kann. Also alles, was durch eine positive interpersonelle wie kollektive Antizipation zukünftiger Erwartungen und Ziele vorweggenommen werden kann und somit erheblich zur Handlungsfähigkeit beiträgt. Seit gut 20 Jahren beschäftige ich mich mit Expanded Video, dem elektronischen Bewegtbild in raumbezogenen Kontexten und interaktiven Installationen. Des weiteren mit Fragen interaktiver nicht-linearer Dramaturgien. Und zunehmend gilt mein Interesse der medialen Szenografie, die all diese Ansätze einschließt und zugleich das weite Feld transdisziplinärer Arbeit öffnet, ein Zusammenspiel, das je nach Projekt die verschiedensten künstlerischen Praxen einbezieht. Akteure dieser auch in meiner Lehre praktizierten Arbeitsfelder, sind junge Künstler, Filmer und Gestalter unterschiedlichster Herkunft und Nationalität, projektbezogen zudem Tänzer und Choreographen, Musiker, Theaterregisseure sowie Kooperationspartner aus Kultur oder Wirtschaft. Gemeinsam erarbeiten sich diese heterogen zusammengefassten Gruppen ihre künstlerischen Themen, lassen
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sich auf Gruppenprozesse ein, nehmen Risiken des Scheiterns auf sich, begeben sich auf unbekanntes Terrain mit dem Ziel des gemeinsamen künstlerischen Erfolges. Diese Gruppen sind nicht pyramidal organisiert, sie funktionieren nicht als klassische Hierarchie, desgleichen bestehen keine vertraglichen Bindungen und Regelungen. Die Kooperationen mit außen stehenden Partnern werden, soweit Drittmittel ins Spiel kommen, durch einfache Vereinbarungen schriftlich geregelt. Ansonsten gelten mündliche Absprachen und die gemeinsame Absicht. Es sind Unternehmungen ohne Netz und doppelten Boden. Vertrauen sowohl auf der interpersonellen Ebene wie auch in der gemeinsamen Sache – dies wurde mir bewusst – ist der eigentliche Kitt, der diese Künstlergruppen einschließlich ihrer Visionen zusammenhält. Künstlerische Produktion – soweit sie nicht als Auftragskunst oder im Rahmen kulturindustrieller Arbeit fungiert – kann ohne „trust and confidence“ nicht existieren, denn sie steht zunächst außerhalb üblicher Verwertungsketten und verbindlicher Regelwerke. Dieser Beitrag konzentriert sich daher auf die Dimension des Vertrauens im künstlerischen Schaffensprozess, also auf die Wurzeln des Entstehens. Gleichwohl kann die Dimension des Vertrauens auf das Werk an sich, auf seine Absicht, seine ästhetische Umsetzung, seine Rezeption und seine Wirkung übertragen werden. So gesehen zieht sich Vertrauen durch den gesamten Vorgang kommunikativen und künstlerischen Handelns und Verstehens und befindet sicherlich zu einem erheblichen Maß auch über die Annahme bzw. Ablehnung eines Werkes. Etymologisch betrachtet lässt sich das Wort ‚trauen‘ auf das gotische ‚trauan‘ zurückführen, das vor allem der Wortgruppe ‚treu‘ zugehörig ist, aber auch ‚fest‘, ‚stark‘, ‚standfest‘ einbezieht, also all jene Eigenschaften anspricht, die fraglos eine wichtige Grundhaltung künstlerischer Arbeit ausmachen. In der Sozialisierung des Kindes sprechen wir vom ‚Ur-Vertrauen‘, jener Beziehung zwischen Kind und Eltern, die dem Kind die notwendige Entlastung und zugleich Sicherheit in der Begegnung mit der noch unbekannten und neu zu entdeckenden Welt bietet. Es ist ein noch unmotiviertes, fast blindes Vertrauen, das sich erst später durch die Bildung der eigenen Persönlichkeit und Erkenntnisfähigkeit als Basis sozialen Handelns ausdifferenziert. Wie nun stellt sich Vertrauen her? In seiner Publikation Vertrauen, die sich vor allem mit der Reduktion gesellschaftlicher Komplexität in hoch differenzierten Sozialsystemen beschäftigt, spricht Niklas Luhmann auch das Erlernen von Vertrauen an: Neue Situationen und neue Begegnungen stellen das ganze Leben hindurch neue Vertrauensprobleme. Vertrauen ist somit nichts Statisches, kein Zustand sondern im Abgleich mit zurückliegenden Erfahrungen ständig in Bewegung. Es wird vor diesem Hintergrund durch Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Authentizität begründet und ist unabdingbare Voraussetzung jeder zwischenmenschlichen Kooperation. Ohne Vertrauen wären Sozialbeziehungen ausgeschlossen.
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Mediale Szenografien sind Ergebnisse dynamischer gruppenbezogener Arbeit. In diesem Zusammenhang erscheint es mir interessant, die Dynamik kreativer Arbeitsprozesse vor dem Hintergrund der Luhmannschen Ausführungen zur Funktion von Vertrauen zu betrachten. Zutreffend ist zunächst die Beobachtung, dass Vertrautheit mit dem jeweiligen Thema oder der jeweiligen Disziplin das Gruppenvertrauen stärkt und die Diskussion für neue, auch untypische Lösungen öffnet. Dem geht in der Regel eine Phase des Kennenlernens voraus, des Testens von Erwartungen, Einstellungen und Reaktionen, des Herstellens einer gemeinsamen Geschichte. Diese Stabilisierung ist vor allem in hierarchisch schwachen Gruppierungen zur Bildung von Vertrauen Voraussetzung. Stark arbeitsteilig organisierte Bereiche, wie man sie in der kulturproduzierenden Industrie u.a. des Films aber auch in einem gewissen Maß beim Theater oder im Orchesterbetrieb vorfindet, kompensieren diesen Aufwand teilweise durch Normen und festgefügte Rollen. Generell ist die Komplexität in einem hierarchiefreien Kreis gleichgestellter Personen weitaus höher als in hierarchisch strukturierten Gruppen. Die Konzentration aufs Wesentliche bis zum gemeinsamen Resultat führt daher oftmals über langfristige Dialoge und Annäherungsprozesse. Zugleich bietet sich hier aber auch eine erheblich größere Freiheit im Umgang mit Experimenten und alternativen Handlungsspielräumen. In diesem Prozess spielt Vertrauen – basierend auf Übereinkunft – als Reduktion von Komplexität eine gravierende Rolle. Allerdings, letzte Gewissheit bringt erst die öffentliche Präsentation des angestrebten Ergebnisses, sie entscheidet über eine positive oder negative Annahme, Erfolg oder Misserfolg. Das Wagnis ist somit Programm. Man könnte auch sagen, Vertrauen beinhaltet Wagnis. Künstlerische Arbeit verstößt eigentlich per se gegen das Vertraute im Sinne von Vergangenem, indem sie ständig neue Ausdrucksformen entwirft, ungewohnte Perspektiven öffnet, Friktionen zulässt, Irritationen aufbaut und Bekanntem unerwartete Möglichkeiten entgegenstellt, also Komplexität schafft. Somit ist Kunst in all ihren Ausformungen auf das Zukünftige gerichtet, teils mit ungewissem Ausgang. Gerade dieses Maß an Unvorhersehbarem setzt Vertrauen voraus. „In der Vergangenheit“, so Niklas Luhmann „gibt es keine ‚anderen Möglichkeiten‘ mehr, sie ist stets schon reduzierte Komplexität“. Und weiter: „Aber Vertrauen ist keine Folgerung aus der Vergangenheit, sondern es überzieht die Informationen, die es aus der Vergangenheit besitzt und riskiert eine Bestimmung der Zukunft. Im Akt des Vertrauens wird die Komplexität der zukünftigen Welt reduziert“.1 Eine vergleichbar regulative Funktion übernimmt Vertrauen im 1 Niklas Luhmann: Vertrauen. Stuttgart 2000. 4. Aufl., S.23. Vertrauen im weitesten Sinne auch eines
Zutrauens in eigene Erwartungen dürfte für die kreative Arbeit grundlegend sein. Künstlerische Arbeit spielt mit mannigfachen, meist unkonventionellen Möglichkeiten und trägt so zu einer erhöhten
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künstlerischen Arbeitsprozess insbesondere unter Beteiligung mehrerer Partner: durch Ausdifferenzierung und Reduktion zunächst unbegrenzt erscheinender Wahlfreiheiten konzentriert sich der künstlerische Prozess nun auf eine überschaubare Anzahl kollektiv getragener Möglichkeiten und Ereignisse, die dann in den Mittelpunkt des gemeinsamen künstlerischen Interesses rücken bis zur Findung des endgültigen Resultats. Erfahrung – als historische Dimension – stellt dabei das Gerüst, wird jedoch in der Entwicklung überschrieben durch neue Ideenfindungen und Lösungen. In der alltäglichen Praxis verlaufen diese Vorgänge fast naturgegeben. Nur selten werden sie Gegenstand einer näheren gruppendynamischen Betrachtung oder Reflexion. Das Netz des Vertrauens ist dabei weit gespannt: Es reicht von den internen Gruppenprozessen, die hier besonders angesprochen werden, über involvierte Kooperationspartner und deren Unterstützung bis zum Rezipienten. Ohne Vertrauensvorschuss aller Seiten wäre keine der nun in den weiteren Ausführungen näher zu betrachtenden Arbeiten realisiert worden. Im Lehrbereich Video/interaktiveMedien&Szenografie sind neben Einzelprojekten und Diplomarbeiten in den letzten Jahren zunehmend Gruppen- und Kooperationsprojekte in den Bereichen mediale Inszenierung und künstlerische Installation entstanden. Historische Einflüsse der Baushausbühne und kybernetischer Lichtinstallationen u.a. von Moholy-Nagy, Übergänge von Malerei, Film und Musik, wie sie u.a. die Filmavantgarde der 1920er und 30er Jahre thematisierte, Strömungen der visuellen Musik und Synästhesie, Einflüsse des Expanded Cinema und die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Künstlern sowie neuen Technologien bilden hier ein weitgespanntes Orientierungsnetz der künstlerischen Auseinandersetzung. Die im Folgenden vorgestellten Arbeitsbeispiele entstanden für öffentliche Konzert-Musik-Veranstaltungen sowie im Kontext eines Unternehmensmuseums und sollen einen Überblick der breitgefächerten kreativen Ansätze bieten. Gemeinsam ist diesen Projekten unter anderem, dass sie neben dem künstlerischen Ergebnis auch neue, teils ungewöhnliche Wege der Produktion und Präsentation beschritten. Auf szenografische Arbeiten aus dem Theater- und Tanzbereich – so die SemiOper King Arthur von Henry Purcell aus dem Jahr 1691 – aufgeführt während des Internationalen Shakespeare Festivals in Neuss 20072 und erste Umsetzungen für das Komplexität der wahrnehmbaren Welt, des Erlebens, Handelns und Erkennens bei. Hier finden sich zahlreiche Berührungspunkte zu Luhmanns Ausführungen. Vertrauen als öffnende und zugleich regulierende Instanz ist Voraussetzung eines künstlerischen Systems, das Risiken von Neu- und Umformulierungen eingeht, um dem Rückgriff aufs vermeintlich Bewährte mit Gegenentwürfen zu begegnen. 2 Die Semi-Oper King Arthur von Henry Purcell nach einem Text von John Dryden wurde 2007 im Rahmen des Internationalen Shakespeare Festivals im Globe Neuss aufgeführt. Für Skript, Regie und Produktion zeichnete die Regisseurin Nora Bauer verantwortlich in Kooperation mit dem Rheinischen Landestheater Neuss, der Capella Piccola und dem Metamorphosis Ensemble Cologne. Grundlage der
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San Francisco Ballett minimal_move nach dem String Quartett No.2, 3 und 5 von Phil Glass, erstmals aufgeführt während der Sommergala der Kölner Philharmonie 20103, soll demnächst an anderer Stelle ausführlicher eingegangen werden.
1. PERCUSSIVE PLANET – CLASSIC-VJING
Mediale Szenografie: visual music/motion-art, VJing, Video, Licht, live-Regie.4 Im Rahmen des Internationalen Beethovenfestivals 2006 wurden wir gebeten, für das Konzert des damals 22-jährigen Multi-Percussion-Künstlers Martin Grubinger visuelle Kompositionen zu entwerfen. Martin Grubingers Percussive Planet – Long Night of the Drummers entwickelte sich zu einer 6-stündigen musikalischen Weltreise durch fünf Kontinente mit Stücken von 35 Komponisten, u.a. Aaron Copland, Iannis Xenakis, Steve Reich, Astor Piazzolla, Leonard Bernstein, John Cage, Dimitrij Schostakowitsch, Anders Koppel, Nikolai Kapustin, Toshimitsu Tanaka, Minoru Miki, Martin Grubinger. Ort der Aufführung war das T-Mobile Forum Bonn mit der wohl derzeit größten Hallen-LED-Wand Europas. Ein Projekt dieses Umfanges konnte nur mit einem professionellen Team umgesetzt werden, das sich neben dem Zeitfaktor auch der Herausforderung der avantgardistischen Klassik stellen konnte. Gewonnen wurde die Kölner Gruppe Lichtfront – visuelle Musiker, u.a. gegründet durch ehemalige Studierende des Postgraduierten-Studienganges der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM), sowie der Innenarchitekt und Mediengestalter Frank Horlitz, der die Art Direction übernahm. Gemeinsam mit den professionellen V-Jays und ‚visual designern‘, die über Erfahrung mit Film, motion-art und interaktiven Installationen verfügten, wurde ein neues Format entwickelt: das Classic-Vjing, bestehend aus visuellen Partituren, die in ihrer Anmutung und Rhythmik für das jeweilige musikalische Stück komponiert und gemeinsam mit dem Orchester einstudiert wurden. Eines der Kernstücke größtenteils schwarz-weiß gehaltenen Szenografie waren motion-art, Soundgestaltung und der Einsatz von VJing-Programmen. 3 Minimal Move (Tanz und mediale Szenografie) fand im Rahmen der großen Sommergala am 3. Juni 2010 in der Philharmonie Köln statt. Es handelte sich dabei um eine Kooperation des Bereichs „Mediale Szenografie“ der Kunsthochschule für Medien Köln unter der gemeinsamen Projektleitung von Heide Hagebölling mit dem Choreografen Mateo Klemmayer und Tänzern des San Francisco Balletts. Die beteiligten Künstler waren Kenta Nagakawa und Luis Negrón van Grieken. 4 Percussive Planet wurde 2006 im Rahmen des Internationalen Beethovenfestivals Bonn aufgeführt. Initiiert von der Intendantin des Festivals, Ilona Schmiel, dem künstlerischen Leiter Tilmann Schlömp und Heide Hagebölling, KHM, entstand eine neue Form der Zusammenführung zeitgenössischer Klassik mit der Kunst des bewegten Bildes. Die Gruppe Lichtfront Vj’s, in diesem Projekt vertreten mit Jörg Thommes, Svenja Kübler, Stephan Müller, Ingo Pelmer und André S. Gronewald, sind international tätig. Neben Veranstaltungen in Europa u.a. Taiwan, Singapore, Manila, Las Vegas. Martin Grubinger zählt international zu den besten Perkussionisten und verzeichnet Auftritte u.a. in Luzern, Köln, Paris, Amsterdam, Wien, Brüssel, Stockholm, Athen, New York.
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dieses musikalischen Marathons bestand in der dramaturgischen Gestaltung des Abends: zunächst die Abfolge der Stücke, Rhythmik, Komplexität, Ruhephasen, Höhepunkte, Wechsel und Gestimmtheiten. Die visuelle Komposition als weitere sinnliche Ebene konnte diese Eindrücke dann aufnehmen, verstärken, schwächen, dem entgegenlaufen, aber auch Kontrapunkte setzen, so dass letztendlich eine Gesamtkomposition entstand, die Charakteristiken beider Künste respektierte und zugleich zu einem erweiterten audiovisuellen Erlebnis zusammenschloss. Ein wesentlicher Schritt bestand jedoch in der Besonderheit des gemeinsamen Live-Auftritts: dem Musik-Orchester wurde nun ein Motion-art-Sextett gegenübergestellt, das – analog den Musikern – bildgenerierende Instrumente spielte. Die so entstandene audiovisuelle Session entwickelte nicht nur eine völlig neue Qualität des Musikerlebens, sondern auch eine Dynamik und Intensität, die das Geschehen bruchlos über Stunden tragen konnte. Diese gelungene Symbiose visueller
Abb.1 Percussive planet.
Abb.2 Percussive planet.
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und auditiver Künste konnte nur durch eine gemeinsame Vertrauensbasis getragen werden. Aus Sicht des szenografischen Schaffens eröffnete dieses Projekt zugleich neue künstlerische Ansätze und Anforderungen: Der Szenograf wird hier Teil des öffentlichen, künstlerischen Auftritts, er verlässt den Hintergrund der Bühne und tritt nun selbst nicht nur als Performer, sondern auch als Dramaturg und Autor in Erscheinung. Er wird so zum Akteur im Umfeld seines selbst entworfenen und geschaffenen Environments.
2. CHATTIN’ WITH CHET – THE CHET BAKER STORY
Mediale Szenografie: Jazzclips/Animationen, narrative Clips/motion-art, VJing, Video, Licht, Live-Regie.5 Mit den Erfahrungen des Percussive-Planet-Auftritts entstand ein zweites Projekt Chattin’ with Chet – the Chet Baker Story, aufgeführt im Mai 2008 ebenfalls im T-Mobile Forum Bonn. Diese zweistündige Aufführung mit Uwe Ochsenknecht, den Jazzmusikern Gerard Presencer, Allan Praskin, Julian Wasserfuhr und Presencers Londoner Jazzgruppe bestand aus einer Lesung, die Chet Bakers Leben zum Inhalt hatte und 12 seiner bekanntesten Stücke. Entstehen sollte ein audiovisuelles Gesamtkonzept, wobei die Modalitäten – Live-Auftritt der Bildkünstler oder Einspielen produzierter motion-art – zunächst offen blieb. Chet Baker wurde als Gruppenprojekt des Lehrbereichs „mediale Szenografie“ mit Studenten der KHM durchgeführt. Anders als beim Percussive Planet konnten keine Probezeiten mit der Jazzgruppe eingeplant werden. Bindend für alle Beteiligten waren die vorgegebenen Stücke, deren Reihenfolge, der Einsatz des Erzählers und der biographische Text des Autors Marcus A. Woelfle. Durch das Nichtvorhandensein aktuell eingespielter Chet Baker-Stücke der auftretenden Gruppe standen quasi nur historische Aufnahmen als Orientierung zur Verfügung, von denen anzunehmen war, dass sie sich in Geschwindigkeit, Betonung, Feeling, Phrasierung und auch in der Improvisation von aktuellen Einspielungen erheblich unterscheiden würden. Gerard Presencer war 5 Chattin’ with Chet – the Chet Baker Story wurde im Mai 2008 in Kooperation mit der Telekom und dem Veranstalter infocom.music ICM Köln, Projektleitung Marco Ostrowski, im T-Mobile-Forum Bonn aufgeführt. Vorangegangen war die erfolgreiche Veranstaltung percussive planet. Obschon inhaltlich und organisatorisch völlig anders konzipiert, konnte an das erste Konzert angeknüpft werden. Bakers Lebensgeschichte, ein Text von Marcus Woelffle, wurde in Abschnitten von Uwe Ochsenknecht vorgetragen. Die Band bestand aus Gerard Presencer (Trumpet), Jim Watson (Keyboards), Rob Taggart (Keyboards), Tom Mason (Bass), Winston Clifford (Drums and Vocals) sowie als special guests Allan Praskin LA (Saxophone) und Julian Wasserfuhr (Trumpet). Für die mediale Szenografie unter der Projektleitung von Heide Hagebölling zeichneten verantwortlich Eva Kehl, Matthias Gerding, Michael König, Nando Nkrumah, und für die Kamera Johannes Klais.
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uns u.a. durch die Einspielung cantaloop mit US 3 bekannt, einer völlig anderen musikalischen Auffassung. Hinzu kam, dass in der Live-Situation, auch ausgelöst durch Publikumsreaktionen, mit Zugaben, Improvisationen sowie zeitlichen Verschiebungen zu rechnen war. In der Auseinandersetzung mit diesen Versatzstücken mussten also kurzfristig Methoden gefunden werden, die einerseits Flexibilität und Reaktivität zuließen, aber andererseits auch Konstanten enthielten, um ein gut zweistündiges, inhaltlich abgestimmtes Programm zu präsentieren. Zudem sollte es ohne qualitative Abstriche realisierbar sein. Wir entwickelten daraufhin ein Format zwischen Jazzclips, Musikanimationen für die Jazzperformance und Miniaturessays/narrative Clips für die Lesung, beides aufbereitet für Loopfunktionen, Geschwindigkeits- und Rhythmusänderungen sowie einer freien Wahl der Abfolge während des Auftritts,
Abb.3 Chet Baker: Julian Wasserfuhr (everything happens to me).
Abb.4 Chet Baker: Allan Praskin (go go).
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wie man es vom VJing kennt. Für jedes Musikstück und jede inhaltliche Passage wurde ein ca. zweiminütiges Video produziert, das alle Charakteristika des jeweiligen musikalischen Stückes und Textes aufnahm. Da wir uns für einen Live-Auftritt mit einer Mischung aus Einspielung, VJing und live-Regie einschließlich Live-Kamera entschieden, konnten alle visuellen Beiträge beliebig geloopt, in der Geschwindigkeit variiert und in der Abfolge geändert werden. Diese flexiblen Parameter erlaubten dann eine stufenlose Anpassung an die Interpretationseigenschaften der Musiker und an die Lesung. Auf der technischen Ebene einigten wir uns auf die Zerlegung in A-B-Rolle über zwei Hochleistungslaptops in hochauflösendem Format, einem Back-up-Rechner, einer Videokamera im Digibeta-Format und einem Bildmischer, der all diese verschiedenen Formate live bearbeiten und in die LED-Wand speisen konnte. Die gesamte Lichtregie sowie Farbstimmungen wurden im Vorfeld auf die visuellen und musikalischen Inhalte abgestimmt und anhand eines festgelegten Ablaufplans durch einen Lichttechniker eingespielt. Auch in diesem Beispiel übernimmt der Szenograf die Rolle des Akteurs, wenngleich er durch vorproduzierte Elemente spontane Eingriffe reduzieren kann. Die Immaterialität der medialen Szenografie gewinnt in diesen und vergleichbaren Situationen zunehmend an Bedeutung: Sie erlaubt eine unmittelbare reaktive Einbindung in das Live-Geschehen und erhält so eine Plastizität, die eine klassische Gestaltung in der Weise nicht hervorbringen könnte. Dies war zugleich eine Grundvoraussetzung dieses Projektes, denn das eher spontane, interdisziplinäre Zusammentreffen zwischen Live-Musikern und visuellen Künstlern vor ausverkaufter Halle stellte ein Wagnis mit erheblichen Risiken dar. Da es zwischen Musikern und visuellen Künstlern zuvor keinen Kontakt gab, übernahm die Agentur eine wichtige Vermittler- und Kommunikationsrolle: Der Austausch beider Künstlergruppen verlief quasi ausschließlich über den Projektmanager sowie dessen Einschätzung des Zusammenwirkens. Diese Konzentration auf eine verantwortungstragende Person brachte jedoch auch veränderte Vertrauensstrategien ins Spiel: Nicht ein Kreis interdisziplinär zusammengesetzter Künstler beratschlagte und entwarf die gemeinsame Sache mit aller Experimentierfreude und Risikobereitschaft, sondern ein Spezialist des Musikmanagements führte – soweit dies von künstlerischer Seite akzeptiert wurde – seine Regeln und damit verbunden aus Sicht des Veranstalters eine gewisse Kontrolle und somit Risikominderung ein. Zwar wurde uns in diesem speziellen Fall fast völlige Handlungsfreiheit gewährt, aber strukturell liegt hier ein konservatives Moment, das vor allem kulturindustriell hergestellten Produktionen innewohnt: nämlich Risikominderung durch Rückgriff auf bewährte Methoden, Ergebnisse und Modelle, zeitliche und finanzielle Optimierung durch arbeitsteilige Strukturen, vertragliche Regelungen und Verpflichtungen einschließlich möglicher Regressansprüche. Die Vertrauensbildung auf personeller Ebene erleichtert zwar gewisse Arbeitsabläufe, sie ist jedoch
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– im Vergleich zu freien künstlerischen Prozessen – in diesen Produktionszusammenhängen weitaus weniger gefordert. Kreative Arbeit, die immer auch Visionäres und Utopisches enthält, kann sich gegenüber solchen Strukturen nur emanzipativ abgrenzend verhalten, um künstlerische Anliegen und Vorstellungen durchzusetzen.
3. ROLL_OVER_BEETHOVEN
Künstlerische Beiträge zum Internationalen Beethovenfestival Bonn. Unter dem Titel Roll_over_Beethoven entwickelt sich seit 2005 eine kontinuierliche Kooperation mit dem Internationalen Beethovenfestival Bonn. Konzentrierten sich die ersten Projekte im Festivaljahr 2006 vor allem auf die Synthese medialer Kunst und klassischer Musik mit eher filmischem Charakter, so entstanden in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema zum Jahr 2009 künstlerische Arbeiten, die relativ schnell das Schema von Klang und Bewegtbild verließen, um rauminszenatorische und installative Ansätze aufzugreifen. Da sich das Festival über die eigentliche Kernthematik Beethovens hinaus auch als Plattform interdisziplinär-künstlerischer Auseinandersetzung mit Musik versteht und diese Bemühungen in den letzten Jahren erfolgreich festigen konnte, öffnet sich hier zusätzlich ein geeignetes Wirkungsfeld. Seit Jahren besteht ein vertrauensvolles, partnerschaftliches Zusammenwirken mit der Intendanz und der künstlerischen Leitung des Festivals. Ausgangspunkt der Zusammenarbeit war bisher jeweils ein fachspezifisches Lehrangebot im Lehrbereich mediale Szenografien, das, mit Unterstützung der künstlerischen Leitung des Festivals, interessierten Studierenden die Möglichkeit eröffnet, sich im Dialog mit Musikwissenschaftlern und praktizierenden Musikern intensiv mit Beethoven auseinanderzusetzen. Dies betrifft die Interpretation ausgesuchter Kompositionen und historischer Zusammenhänge ebenso wie die Persönlichkeit Beethovens, das Zusammenwirken mit anderen Kunstgattungen, aber auch ikonographische Aspekte und musikalische Themen einer weltweiten Beethovenrezeption bzw. Vermarktung. Inhaltlich, formal und medial werden keinerlei Vorgaben gemacht. Wie bei allen installativen und auch szenografischen Arbeiten stellt sich das Problem geeigneter Räumlichkeiten. Mit Unterstützung der Festivalleitung konnte unserem Wunsch, möglichst alle zum Festival erstellten Werke auch über die gesamte Laufzeit von 5 bis 6 Wochen präsentieren zu können, entsprochen werden. So war das Management der Beethovenhalle bereit, uns 2006 und dann auch wieder 2009 den Kammermusiksaal und nach Bedarf das Foyer zur Verfügung zu stellen. 2009 konnten durch die Vermittlung der Festivalintendanz zusätzlich der Bonner Kunstverein sowie für eine Performance das Kunstmuseum Bonn gewonnen werden. Mit der Anzahl der Partner steigt jedoch auch der kommunikative Aufwand
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als vertrauensbildende Maßnahme: Da junge Künstler in der Regel noch keine absolut verbindliche Aussage über die Qualität ihrer im Werden befindlichen Arbeit machen können, oftmals auch ausreichende Nachweise fehlen, kann zunächst nur die positive Absicht offeriert werden. Gesicherte Vorhersagen über die zu erwartende Qualität und einen erfolgreichen Abschluss bleiben offen. Der intensive Austausch über Arbeits- und Entwicklungsphasen unter Einbeziehung aller relevanten Partner war daher absolute Voraussetzung zur Bildung einer gemeinsamen Vertrauensbasis, die diese noch relativ unbestimmte Phase der Orientierung überbrückte und trug. Da außer einem zeitlichen Rahmen vertragliche wie inhaltliche Vorgaben weitgehend fehlten – alles war demnach noch möglich – konnte ein Konsens nur durch schrittweise Annäherung und somit einem stufenweisen Abbau von Komplexität erfolgen: Das Unbestimmte nahm durch gemeinsames Abwägen vorhersehbare Gestalt an. Im fortgeschrittenen Stadium wurde der zunächst gruppenzentrierte Austausch auf institutioneller Ebene dann zusätzlich individualisiert, so dass jeder Künstler auch seine direkten Ansprechpartner hatte, um auf ‚kurzem Weg‘ sein Projekt positionieren zu können. Dieses eher personenbasierte Vertrauensnetz ‚auf gleicher Augenhöhe‘ erleichterte zunehmend flexible und zügige Entscheidungen. Die Entwicklung vom Konzept bis zur Realisation eines Exponats, das fünf bis sechs Wochen Publikumsnähe übersteht bzw. im medialen Bereich auch wochenlange Laufsicherheit aufweist, benötigt im Lehrkontext 9 bis 12 Monate. Wesentlich für das Gelingen längerfristig angelegter Projekte sind daher die curriculare Struktur und damit verbundene Freiräume im Studium. Im Rahmen der Lehrveranstaltung Mediale Szenografien Roll_over_Beethoven 2009 entstanden fünf Arbeiten: eine Performance und vier Installationen. Im Weiteren soll vor allem auf drei Arbeiten, die dem Bereich der Szenografie besonders nahestehen, ausführlicher eingegangen werden.
3.1. MONDSCHEINSONATEN
RaumZeitPiraten: Tobias Daemgen, Moritz Ellrich. Optische, akustische und elektronische Instrumente, Video, Projektionen: Performance, 30 min. Die Künstlergruppe RaumZeitPiraten, Tobias Daemgen und Moritz Ellrich, setzen in ihren audiovisuellen Performances selbst gebaute Projektions- und Linsensysteme ein. Es sind häufig phantasievolle Objekte, zusammengesetzt aus zweckentfremdeten Gegenständen und Fundstücken. Für die akustische Ebene verwenden sie neben digital erzeugtem Ton oftmals auch modifizierte Spielzeug- und historische Instrumente. Den Ausstellungszyklus „Roll_over_Beethoven 2009“ eröffneten sie im Kunstmuseum Bonn mit einer 30-minütigen intermedialen Performance zu Beethovens Sonata quasi una
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Abb.5 Mondscheinsonaten: Lochstreifenton.
Abb.6 Mondscheinsonaten: audiovisuelles Labor.
Fantasia. Mit ihren selbst gebauten, teils recht bizarr anmutenden optisch-akustischen Instrumenten inszenierten sie verschiedenste Interpretationen der Mondscheinsonate – vom klassischen Konzert u.a einer historischen Lochstreifencodierung über populäre Filmmusik bis zur Game-Boy-Version – zu Versatzstücken unterschiedlichster Darstellungen des Mondes. So wurden wissenschaftliche Zeichnungen und historische
Abb.7 Mondscheinsonaten: Bühnensituation.
Abbildungen des Planeten mit Ausschnitten aus Dokumentar- und Spielfilmen ebenso collagiert wie mit künstlerischen Darstellungen und abenteuerlichen Fantasien. Einen wesentlichen Bestandteil ihrer Performance nahm dabei die künstlerische Aktion an sich ein. Beide Künstler agierten – Medien-Alchimisten gleich – in einem wundersamen Bild-Klang-Labor zur Erzeugung magisch-poetischer Momente.
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3.2. ARCHITEKTIQUE (Eva Kehl-Cremers) Immersiver audio-visueller Raum und künstlerische Animation zu Beethovens „Sonate pathétique“ c-Moll op.13; 3 Beamer, Ton, 3 Mini-PCs, helixartige Projektionsfläche, reflektierender Boden.
Eva Kehl-Cremers entschied sich, Beethovens Sonate pathétique in eine immersive, raumgreifende Installation umzusetzen. Architektique ist eine helixartige, audiovisuelle Architektur, die strukturelle Merkmale der musikalischen Komposition in Raum, Zeit und Bewegung transferiert. Die sich vom Boden bis zur Decke windende Spirale war einerseits Projektionsfläche der musikalischen Animation, anderseits markierte sie einen sich öffnenden dreidimensionellen Bildraum, der vom Besucher umschritten wie auch begangen werden konnte. Im Kern der Helix wurde der
Abb.8 Architektique: räumliche Situation.
Abb.9 Architektique: Publikum.
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Betrachter von einem Bild-Klang-Raum umschlossen. Eine dunkle, leicht reflektierende Bodenfläche im Innenraum der Installation erschloss zudem eine weitere, in die Tiefe gerichtete Dimension, die die Illusion der optisch-räumlichen Einbeziehung noch erheblich verstärkte. Architektique war vor allem während verschiedener Veranstaltungen im Kammermusiksaal der Beethovenhalle für das Publikum zugängig.
3.3. ACTIVE (Jongwon Choi) Kinetische Installation: Wasser, Laser, Holzskulptur, Ton, Lichtreflektion.
Jongwon Chois kontemplative Arbeit Active zeigt die Nähe zum Zen. Sie ist zugleich ein Sinnbild des transformativen Kreislaufs. Auf dem Boden eines abgedunkelten Raumes des Kunstvereins Bonn installierte der Künstler eine wellenartige Holzskulptur, die eine Wasserschale und einen Minilaser aufnahm. Über ein Pendel versetzte Beethovens Konzert für Violine und Orchester in D-dur op.61 die Wasseroberfläche in wellenartige Reaktionen. Das gebündelte, auf die Wasserober-
Abb.10 Active: Wellenobjekt und Projektion im Raum
fläche gerichtete Licht des Lasers reflektierte diese Bewegungen und warf sie als opto-akustisches Lichtbild auf die Stirnwand. Akustische Wellen wurden so in flüssig-materielle und diese in optische Wellen transferiert. In einem weiteren Schritt konnten die optischen Wellen wiederum in akustische zurückgeführt werden. Dieses geschlossene kybernetische System generierte aus sich heraus einen poetischen Raum bestehend aus Klang, Licht und ephemeren Bildern.
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4. PANTA-RHEI Ausstellungszyklus im Aquarius Wassermuseum.6 Das mehrfach ausgezeichnete Aquarius Wassermuseum, ein historischer Wasserturm direkt am Fluss bei Mühlheim a.d. Ruhr gelegen, wird durch den Energiekonzern RWW/RWE betrieben. Über mehrere Stockwerke kann sich der Besucher neben der Faszination des Wassers in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen vor allem mit der Bedeutung des Wassers für Landwirtschaft und Ernährung, als Transportweg und für die Industrialisierung insbesondere der Rhein-Ruhr-Region befassen. Eine erste Kooperation mit dem Leiter des Museums und der Geschäftsleitung kam im Jahr 2004 zustande. Es entstanden eine Reihe von Arbeiten, die sich monothematisch mit unterschiedlichsten Bezügen des Wassers auseinandersetzten: seine kulturelle, mythische und religiöse Bedeutung, ästhetische und akustische Erscheinungsformen sowie soziale, klimatische und wirtschaftliche Faktoren. Neben Installationen in den Räumlichkeiten des Museums und dessen Außenbereich entstanden in Zusammenarbeit mit der Stadt Mühlheim weitere Interventionen im öffentlichen Raum der Innenstadt. Diese erste Projektphase kann sowohl als Test und als auch erster Schritt einer vertrauensbasierten weiteren Zusammenarbeit gewertet werden. Dem folgte von November 2005 bis September 2007 der Ausstellungszyklus panta-rhei. Für diesen Zeitraum wurde uns der Hauptausstellungsraum im Erdgeschoss des Wasserturmes zur Verfügung gestellt. Gemeinsam mit der Museumsleitung und einer Gruppe interessierter junger Künstler und Studierender, die sich zu einer Arbeitsgruppe zusammenschlossen, einigten wir uns auf das thematische Umfeld, die räumlichen Bedingungen und den zeitlichen Rhythmus: In einem 3-monatigen Wechsel sollte jeweils ein neues Projekt öffentlich vorgestellt werden. In diesem Zeitraum wurden neun Projekte für das Museum realisiert. Sechs Arbeiten wurden bereits zu Beginn 2006 in ihrer konzeptionellen Phase mit der Museumsleitung besprochen und als Entwürfe in einer Broschüre vorgestellt. Dies war zugleich die Grundlage bzw. der Leitfaden einer Vereinbarung zur Klärung wichtiger Randbedingungen u.a. zur Logistik, zur finanziellen Unterstützung, zu technischen Voraussetzungen und zur handwerklichen Unterstützung beim Auf- und Abbau. Inhalt und Ausfertigung der jeweiligen Exponate blieben hiervon jedoch unberührt. Aufgrund der langen Laufzeit des Projektes erwiesen sich diese vereinbarten wenn auch ‚weichen‘ Rahmenbedingungen als äußerst hilfreich und zudem entlastend 6 Der Austellungszklus panta rhei fand von November 2005 bis November 2007 im Ausstellungsbereich
des Aquarius Wassermuseums der RWE Mühlheim an der Ruhr statt. Entstanden sind die Projekte im Rahmen des Lehrbereichs mediale Szenografien in Kooperation mit Heide Hagebölling als Projektleiterin und dem zuständigen Leiter des Museums Andreas Macat. Die beteiligten Künstler waren Shinya Tsuji, Meike Fehre, Mohamed Fezazi, Zhe Li, Benjamin Wild, Helge Jansen, Vesko Gösel und Irena Paskali. Die sound-performances wurden aufgeführt von Fugi, Franziska Windisch, Helge Jansen und Earweego: Echo Ho und Hannes Hoelzl.
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für den eigentlichen kreativen Prozess: Die Konzentration galt der Herstellung, alles Weitere war bereits Konsens. Der eigentliche Kommunikationsaufwand und damit einhergehend eine gewisse Vertrauensbildung bezog sich somit auf die künstlerische Umsetzung und die Offenheit für Änderungen, Verwerfungen und Neuorientierungen, wie sie für eine Findung typisch sind. Im Prinzip ging es um die Stabilisierung innerhalb der Gruppe, sprich einer kollektiven Akzeptanz subjektiv und individuell getroffener kreativer Umsetzungen. Um die so entstandenen Resultate näher darzustellen, sollen hier vier Arbeiten, die sich vor allem mit räumlich-szenografischen Aspekten befassten, vorgestellt werden. Neben einer monothematischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Wasser wirkte der Raum als zweite Konstante: Die Projekte kreisten einerseits um einen gemeinsamen inhaltlichen Komplex, andererseits bestimmten die ortsgebundenen Vorgaben wie die Größe und Form des Raumes die Inszenierung der verschiedenen Projekte. Drei Arbeiten schlossen zudem eigens für das jeweilige Projekt komponierte musikalische Performances ein, so beschränkte sich die Inszenierung nicht allein auf die optische Raumwirkung bzw. die installationsspezifische Akustik, sondern erweiterte die Präsentation um die Dimension des musikalischen Experiments.
4.1. WATER RING SPACE (Shinya Tsuji) 70 transparente Röhrensegmente, 4 Wasserpumpen, Wassereimer, Tonmodulatoren, Licht und Schatten.
Shinya Tsuji eröffnete im November 2006 den Ausstellungszyklus panta rhei mit seiner raumgreifenden Installation Water Ring Space – circular flow of being. In der buddhistischen und taoistischen Philosophie verkörpert die fließende Kreisbewegung
Abb.11 Water_Ring_Space: Teezeremonie.
Abb.12 Water_Ring_Space: Einladungskarte und schematische Darstellung.
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das stete Kommen und Gehen. Dieses – im Japanischen „ri-ne ten-syo“ – bildet die Grundlage zahlreicher Arbeiten des Künstlers. Geleitet durch 70 transparente röhrenförmige Elemente floss das Wasser vom oberen Geschoss des historischen Turmes entlang der Fassade, durchquerte die Ausstellungsebenen und wurde über Pumpen zurückgeleitet. Licht- und Schattenwirkung verstärkten als ephemere Dopplung den räumlichen Eindruck. Durch die unterschiedlichen Längen der Röhren und vor allem die Formung der Endstücke, über die das Wasser austrat und weitergeleitet wurde, entstanden akustische Resonanzen und Rhythmen, die den Raum mit harmonischen, ausgesprochen kontemplativen Tongestalten füllten. Eröffnet wurde die Arbeit mit der musikalischen Improvisation „Stück für einen Wasserkreislauf und Flöte“ der Künstlerin Fugi, begleitet von einer japanischen Teezeremonie.
4.2. SWINGING MATTER (Helge Friedrich Jansen)
Kybernetische Installation: elektro-magnetisches Aktionsfeld, closed-circuit Video, Videoprojektion auf Bodenscheibe. Auf den ersten Blick glich Helge Friedrich Jansens Installation swinging matter einem Laboraufbau zur Demonstration physikalischer Prinzipien, der die Wirkung im Raum erzeugter Schwingungen auf das Verhalten einer Wasseroberfläche anschaulich machte. Durch Betreten und Begehen des Ausstellungsraumes änderte der Betrachter die elektro-magnetische Sphäre und wurde so zu einer aktiven Größe des Energiefeldes. Helge Jansen nutzte diese physikalischen Veränderungen, indem er die schwankenden Werte über eine Membran an ein Wassergefäß übertrug. Das Videobild der hierdurch aktivierten Wasseroberfläche projizierte er dann auf
Abb.13 swinging_matter: Helge F. Jansen vor Installation.
Abb.14 swinging_matter: F. Windisch und H. Jansen „Improvisationen für Wasserklang und Violine“.
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eine kreisrunde am Boden liegende Scheibe. In Abhängigkeit unterschiedlicher Verhaltens- und Bewegungsmuster der Besucher entstanden so kalligraphieähnliche Zeichen und Notationen, quasi abstrakte Poesien, die immaterielle Phänomene des Raumes visuell übersetzen konnten. Jansen kam es vor allem auf die Tatsache an, dass die unbeabsichtigte menschliche Intervention Teil der künstlerischen Rauminszenierung wird. Auch Helge F. Jansen erweiterte seine Raumauffassung um die akustische Dimension und führte zur Ausstellungseröffnung gemeinsam mit der Violinistin Franziska Windisch die Komposition Ohne Titel: Improvisationen für Wasserklang und Violine auf.
Abb.15 Salty drops: Besucher.
4.3. SALTY DROPS (Irena Paskali) Installation mit Glasgefäßen, luminiszenter Flüssigkeit, Schwarzlicht, Videoprojektion und Ton.
In salty drops nimmt Irena Paskali emotionale und rituelle Bedeutungen auf, wie sie in der Odyssee und antiken Mythen und Sagen erwähnt werden. Freude, Furcht, Schmerz: Tränen drücken die tiefsten Empfindungen aus. Ist die Flüssigkeit versiegt, verbleiben Kristalle. Es wird gesagt, dass Frauen der Antike ihre Tränen der Angst und Einsamkeit in kleinen Gefäßen auffingen, um sie ihren von Kriegszügen und Abenteuern heimkehrenden Ehemännern zu zeigen. Irena Paskali übersetzte diese
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Geste in ein räumlich-kontemplatives Szenario: Gefüllte Glasgefäße schwebten tropfenartig durch den verdunkelten Raum, an der Stirnwand die tränenden Augen der Künstlerin, begleitet von einzelnen tropfenartigen Geräuschen. Die Künstler Earweego, Echo Ho und Hannes Hoelzl, entwickelten eigens für dieses Szenario die Performance opaque liquid space, begleitet von einer Suikinkutsu (japanische Wasserharfe), synthetischen Wassertropfen und vokalen Fragmenten.
4.4. FLUID MUSIC Zhe Li Interaktiver Raum: digitale Animationen, digitaler Ton, Spiegelboden, Doppelprojektion, 2 Beamer, PC, Touchscreen, Display. Der Künstler und Gestalter Zhe Li beschäftigt sich vor allem mit interaktiven Installationen. So stehen der Betrachter als Akteur und Experimente mit intuitiven, teils selbst entwickelten Interfaces im Brennpunkt seines Interesses. Ein weiteres
Abb.16 Flüssige Musik: Spiel mit Flusslandschaft.
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Abb.17 Flüssige Musik: Spiel mit Meereswellen.
Merkmal, das sich auch verstärkt in neueren Arbeiten findet, ist die Auseinandersetzung mit und die Schaffung von spielerisch-kommunikativen Situationen. Mit seiner Installation Fluid Music erstellte Zhe Li erstmals einen hybriden audiovisuellen Raum mit spielerischen Akzenten. Wassergeräusche – Tropfen, Regen, tropische Wolkenbrüche, Flüsse und Meereswellen – ließen gemeinsam mit den dazugehörigen Bildern ein immersives, flüssiges Umfeld entstehen. Über ein intuitives Interface tauchte der Besucher in die virtuelle Szenografie und generierte so Kompositionen aus Bild und Ton. Zhe Li war unter anderem daran gelegen, Besuchergruppen und hier insbesondere Kinder und Jugendliche zu einem gemeinsamen Erlebnis zu animieren.
FAZIT
Die in diesem Beitrag vorgestellten künstlerischen Beispiele sind Szenarien ihrer selbst, sie verweisen auf sich und sind daher im Wesentlichen selbstbezogen. Die Frage des Vertrauens berührt hier vor allem die Schaffensphase. Sie bezieht sich somit auf eine analytische Betrachtung der Produktion von Kunst und damit eingeschlossen auf die Funktion von Vertrauen in bestimmten Handlungszusammenhängen und unter speziellen Voraussetzungen. Kunst als zunächst Chaos erzeugendes und Bekanntes verwerfendes System ist besonders intensiv auf Vertrauensbildung angewiesen. Künstlerische Arbeiten wollen weder vordergründig Vertrauen erwecken noch Vertrauen inszenieren – sind aber im Prozess ihres Entstehens umso mehr daran
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gebunden. Inszenierung – als Bestandteil künstlerischer Produktion – und Vertrauen sind eigentlich untrennbar. Die Inszenierung von Vertrauen liegt im Wesentlichen am Übergang zum öffentlichen Bereich und dies markiert auch den Unterschied zu den Künsten. Die Inszenierung von Vertrauen ist in der Regel zweckgebunden und intentional und kann nur auf der Ebene eines die Botschaft überlagernden kulturellen Codes erfolgen, der als solcher massen- und medientauglich ist, dies auch unter Umständen verbunden mit der Gefahr, ins Klischee abzugleiten. Öffentliche Kommunikation ohne Inszenierung kann ebenso wenig stattfinden wie Nichtkommunikation an sich. Diese Mechanismen greifen gleichermaßen für den Kunstmarkt: In dem Augenblick, in dem Kunst über sich hinaus weitere Funktionen und kontextuelle Zuordnungen erhält, wird sie Gegenstand der Inszenierung von Vertrauen. Hiervon sind das museale Umfeld der Museen und die Präsentation in Galerien ebenso wenig ausgenommen wie die Kunstkritik, Medienberichte, Versteigerungsresultate und der zunehmende Kulturtourismus.
Fotonachweise: percussive planet Matthias Gerding; Chet Baker und Roll_over_Beethoven Shigeru Takato; panta rhei Natsuko Murakami, Fumiaki Murakami, Zhe Li, Helge F. Jansen, Vesko Gösel, Shinya Tsuji.
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Bernhard Franken SPATIAL NARRATIVES ALS INSZENIERUNG DES VERTRAUENS.
Wir schaffen Geschichten, die sich mit räumlichen Mitteln erzählen lassen. Wir erkunden die narrativen Qualitäten des Raums durch eine Reihe gestalterischer und konzeptioneller Filter: Parametrik, Semantik, Ritual und Szenografie.
Bernhard Franken Wenn heute vom Theater gesprochen wird, geschieht das meist in dem Bewusstsein, dass die Qualität einer Aufführung nicht von den Schauspielern abhängt, die in einer scheinbaren Identität mit ihrer Rolle festgeschriebene Texte zitieren, welche in ihrer Gesamtheit ein Bild von Welt konstruieren, das Sinn erzeugen soll. Die Illusionserzeugung der Guckkastenbühne erscheint heute weder als Anfang noch als Ende der Theatergeschichte, und der Begriff der Theatralität wird eher auf den Bühnen von Politik, Wirtschaft und Alltag verortet als im klassischen Schauspiel. Der Begriff ‚Theater‘ leitet sich vom altgriechischen theatron bzw. theaomai (anschauen) ab, und bedeutet wörtlich übersetzt Schaustätte. Er umfasst drei grundsätzliche Bedeutungsebenen: • Räumlich (der Ort, an dem sich etwas ereignet) • Prozessual (das Spiel, das sich ereignet) • Aktiv (die Akteure/Beteiligten, die sich ereignen) Nach seiner Etymologie und gebräuchlichen Sprachverwendung bestimmt sich das Theater minimal durch den Ort, die Beteiligten und die Regeln, die das Zusammensein festlegen, lenken und organisieren. Die „Spatial Narratives“ von Franken Architekten situieren sich genau in diesem Zwischenraum, den das Theater definiert. Als Architekten schaffen wir Geschichten, die sich mit räumlichen Mitteln erzählen lassen. Hierbei ist ein Theaterverständnis interessant, welches die Inszenierung nicht dem einseitigen Primat des Wortes (bürgerliches Sprechtheater) oder einer übergeordneten Idee (Gesamtkunstwerk) unterwirft, sondern welches der Inszenierung ihre eigenen Qualitäten zugesteht: It seems, in brief, that the highest possible idea of the theater is one that reconciles us philosophically with Becoming, suggesting to us through all sorts of objective situations the furtive idea of the passage and transmutation of ideas into things, much more than the stumbling of feelings into words. (Antonin Artaud)
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Für Aristoteles, der lange nach der Hoch-Zeit des griechischen Theaters über dieses zu schreiben begann, war das Gelingen einer „Tragödie“ noch eng an den Plot gebunden: The greatest of these elements is the structuring of the incidents. For tragedy is an imitation not of men but of a life (biou), of an action (praxeos) and they (...) include the characters along with the actions for the sake of the latter. Thus the structure of events, the plot (mythos) is the goal (telos) of tragedy and the goal is the greatest thing of all. Again: a tragedy cannot exist without a plot, but it can without characters: thus the tragedies of most of our modern poets are devoid of character and in general many poets are like that (...)
Aristoteles betrachtete das Theater in erster Linie als willkommenes Erkenntnisinstrument. Theatrale Mimesis vereinfacht den Lernprozess, die durch Schauder und Jammern herbeigeführte Katharsis schreibt sich in das Gedächtnis ein. Antonin Artaud war eine der vehementesten Stimmen, die gegen diese einseitige Beschränkung und gleichzeitige Demonstration von Macht Position bezog. Das von ihm postulierte Theater der Grausamkeit sollte den Menschen, bei Aristoteles noch das Maß aller Dinge, aus dem Zentrum des Theaters holen und gerade dadurch sein Verhältnis zur Welt anerkennen: „Das Theater der Grausamkeit ist kein Symbol einer abwesenden Leere, einer entsetzlichen Unfähigkeit, sich in seinem Menschenleben zu verwirklichen. Es ist die Affirmation einer schrecklichen und übrigens unvermeidlichen Notwendigkeit.“ (Antonin Artaud) Für Artaud wird das Theater zur Bejahung des Unvermeidlichen – und gerade deswegen ist es durch ein grundsätzliches Vertrauen in die Welt gekennzeichnet, und nicht etwa Illusionierung. So wird Vertrauen für Artaud einerseits zur Voraussetzung der Inszenierung, und andererseits wird das Vertrauen immer erst in der Inszenierung erschaffen und erfahrbar gemacht. Artaud fordert ein Theater, das einen Raum schafft, in dem eine genuine Sprache der Inszenierung gefunden werden soll, die ihre einzelnen Medien ernst nimmt und somit das Potential des Vorhandenen erkundet und entfaltet, anstatt gegen es zu arbeiten. Ein Theater, das dem vertraut, was da ist, und das einen Raum des Vertrauens schafft, der von grundsätzlicher Natur ist. Heute entsteht die Aufgabe, auch in der Architektur das Verhältnis von Theater und Realität mitzudenken. Architekten arbeiten an der Schnittstelle zwischen Mensch und gebautem Raum – Kommunikation mit Raum. „Dabei steht Kommunikation für das menschliche Vermögen, die Ereignishaftigkeit der Welt durch den Tauschprozess von Informationen zu reduzieren und somit Unsicherheit zu absorbieren“… und Vertrauen zu schaffen. (Frei zitiert nach Rühl) Aus einer transdisziplinären Perspektive beginnt Franken Architekten bei der Entwicklung der „Spatial Narratives“ mit einem bestimmten Ausgangsmaterial, dem Vertrauen geschenkt wird und welches in der Auseinandersetzung mit einer Reihe konzeptueller und gestalterischer Filter entwickelt und zu szenografischen Strategien wird: Parametrik,
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Semantik, Ritual und Szenografie. Viele der Inszenierungen entstehen für Marken, die eigene Bezugswelten jenseits der Materialität ihrer Produkte erzeugen. Diesen Markenwelten wird gerne unterstellt, dass sie auf reiner Illusion basieren. Disneyland, wollte Jean Baudrillard uns glauben machen, sei ein unwirklicher Ort, der uns von der Wirklichkeit jenes Amerikas überzeugen wolle, das es angeblich portraitiert. Beide sind Hyper-Realitäten, Abbilder, die nicht von dem geschaffen werden, was wir vor uns sehen, sondern von dem, was unsere Vorstellungskraft zu sehen meint. Disneyland wird von Riesenmäusen bevölkert, die mit einem fotografiert werden möchten, da mag diese Skepsis angemessen sein. Wir brauchen Baudrillards negative Kritik der Konsumgesellschaft aber nicht zu teilen, um zu akzeptieren, dass das Image von Disneyland zum Teil aus seiner eigenen Selbstdarstellung, seinem eigenen Hype besteht, ebenso sehr wie aus dem, was wir dort wirklich sehen. Aber Baudrillard geht noch weiter und sagt, dass jede zeitgenössische Erfahrung, zumindest in der Konsumgesellschaft, auf ähnliche Weise hyperreal ist. Für ihn ist dies eine negative Qualität, dieses Eingreifen des Vermittelten oder Vorgestellten in unsere Individualität und die Wirklichkeit der Welt. Aber ist das wirklich negativ? Vorausgesetzt, wir sind uns der Versuche bewusst, unsere Wahrnehmung zu beeinflussen, oder Dinge, die wir nicht sehen sollen, zu übertünchen, dann bewahren wir uns eine kritische Haltung und lassen uns von dem Abbild (Simulakrum) nicht verführen. Wir bleiben frei. Es sind die Resonanzen, die wir an neuen Orten finden, oder das neue Wissen, das wir an vertraute Orte mitnehmen, mit denen wir unsere Vorstellungskraft, unser Vergnügen und unsere Wünsche nähren. Das tun wir, trotz unserer Nietzscheanischen Geistesfreiheit, oft auf ritualisierte Weise, wenn wir beispielsweise diejenige Route zu einer Sehenswürdigkeit wählen, die der Reiseführer als die spektakulärste bezeichnet, oder wenn wir im Museum als Erstes die Bilder betrachten, die wir bereits von Reproduktionen kennen. Dieselben Mechanismen gelten für unser Verhältnis zu den unzähligen Marken, denen wir in unserer Welt begegnen: wie sehr wir uns auch als unabhängige Kunden betrachten mögen, wir leben in einer Welt der Marken. Ein Architekt, der in einem kommerziellen Kontext arbeitet, muss sich des Potentials des Brandings ebenfalls bewusst sein, wo räumliche Narrationen effektvoll eingesetzt werden können. Marken sind den Produkten nicht inhärent, sondern entstehen im Kopf des Kunden. Große Marken entstehen aus positiven Assoziationen, Emotionen, Erinnerungen – Geschichten. Eine räumliche Narration kann für diese Bereiche einen starken, intuitiv erfassbaren Input bedeuten. Für einen Architekten ist diese engagierte Interaktion eines Betrachters oder Benutzers mit einem Gebäude ebenso hilfreich wie hinderlich. Das vorgeblich ironische Zitieren klassischer Motive wurde schnell zum abgedroschensten Klischee der Postmoderne, aber es gibt auch subtilere Möglichkeiten, mit den Betrachtern und Benutzern in Kontakt zu treten, wenn sie die Narration eines Gebäudes erkunden. Eine unerwartete Metapher, die für einen Moment das eigentliche Statement tarnt, der Einsatz einer Ikonografie, die nicht unmittelbar mit dem Ort in Verbindung gebracht wird, ein Wechsel des Verhältnisses zwischen Natürlichem und Konstruiertem, all das regt nicht nur die Phantasie an, sondern lädt dazu ein, ein Gebäude mit anderen Augen zu betrachten, beziehungsweise der Narration des Gebäudes auf eine andere Weise zu folgen. Denn sich in einem Gebäude zu bewegen bedeutet nicht nur, sich im Raum zu bewegen, sondern die Narration zu dechiffrieren, die der Architekt in das Gebäude geschrieben hat, die aber von der Form und der Art des Gebäudes oder des Bauwerks selbst erzählt wird. Die weiter oben genannten vier Filter stellen sich diesen Herausforderungen auf ganz unterschiedliche, einander scheinbar widersprechende Weise. Die erste ist parametrisches Design, eine topologische Black Box, die durch die rigorose Anwendung vorgegebener Parameter eine gestalterische Lösung entwickelt. Die Anwendung der Parameter setzt die Entwicklung der Narration für ein Projekt in Gang. Sich Räume als unterschiedliche, zusätzliche Arten von Narrationen zu denken, führt zu weiteren
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narrativen Methoden: der semantischen, als zweiter, die sich mit Bedeutung und Sinn befasst, drittens der rituellen Methode, die sich auf Bewegung, Verhalten und räumliche Strukturen aus dem religiösen und kulturellen Bereich bezieht, und viertens schließlich der szenografischen, bei der es um Setting, soziale Effekte und Rollen geht. Das Ergebnis ist eine Kombination subjektiver und objektiver Entscheidungen, die sich zu einem Ganzen fügen. Die hier vorgestellten Projekte gehen alle mehr oder weniger stark auf diese Ansätze zurück. Die Ergebnisse sind sehr viel realer als Disneyland.1
Die Filter geben Gedanken, Visionen und Botschaften Form und laden Gebäude mit narrativen Elementen auf. Der Raum beginnt Geschichten zu erzählen. Gerade in einer Zeit der Entmaterialisierung von Informationen können physische Räume Vertrauen schaffen und Markenwelten erfahrbar machen. Diese Kommunikationsform funktioniert aber nur dann, wenn sie den Nutzern der Gebäude Erlebnisse verschafft, die über sich selbst hinausweisen. Wird eine werbliche Botschaft hinter einer Geschichte vermutet, „zappt“ die Aufmerksamkeit der Betrachter sofort weg. Jede Erzählung spiegelt die menschliche Fähigkeit, einem Publikum Abläufe mitzuteilen. Diese Abläufe können beobachtet, übermittelt oder fiktiv sein und sind charakterisiert durch einen Ausgangszustand, der durch Handlungsträger in einen anderen Zustand verwandelt wird. Erzählung steht im Zusammenhang mit menschlicher Wahrnehmung und Einbildungskraft, zu anderen Arten der Ordnungsstiftung wie Informationssammlung, Abstraktion etc. und zum Vorgang der Kommunikation. Narration erzeugt aus disparaten Ereignissen sinnhafte Zusammenhänge und damit Vertrauen in das Sein an sich. Space/Story/Sense – Transcendence so lautet die Formel von Franken Architekten, welche den Raum, die Narration, die Sinnhaftigkeit, sowie die ausgelöste Sinnesempfindung verbindet und auf den Menschen als Raum-Nutzer fokussiert. Dieser hat die Möglichkeit, aus der Summe der sich ergebenden Teile eine weitere Dimension zu erleben, die ihn transzendiert, das voraussetzungslos sinnlich Wahrnehmbare der (Marken)Ästhetik, die Ekstase der Dinge, überschreiten lässt. Parametrik Parametrisches Design, das oft den Kontext mit dem Metaphorischen verknüpft, ist ein nachvollziehbarer und formaler Ansatz zur Schaffung einer narrativen Architektur. Bernhard Franken
DYNAFORM
Der parametrische Filter erzeugt Formen in Versuchsanordnungen, bestehend aus Basisgeometrien, Randbedingungen und einem alles ordnenden Algorithmus. In dieser Versuchsanordnung verändert sich die Basisgeometrie über den Faktor der Zeit. Dadurch entsteht ein erzählerisches Element. Auch die Randbedingungen 1
Conway Lloyd Morgan: Franken Architekten Spatial Narratives, 2008.
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können metaphorische Qualitäten aufweisen. Die in der Formgenese angesetzten Kräfte orientieren sich nicht nur an tatsächlich vorhandenen Einflüssen, häufig sind sie genau genommen nicht von dieser Welt. Dennoch spüren die Nutzer im fertigen Gebäude die Kräfte, die bei seiner Entstehung am Werk waren. Dadurch können diese Gebäude Geschichten erzählen. Der Entwurf setzt nicht eine schon vorhandene Formvorstellung des Entwerfers um, sondern entsteht interaktiv durch gezielte Veränderung der selbst gewählten Parameter in einer Folge von Versuchen. Durch die Interaktion von Entwerfer und Rechner wird Information zur Form. Die Kraftfeldsimulation spielt somit nicht nur die Rolle einer Methode der Entwurfsgenerierung, sondern nutzt darüber hinaus auch die Fähigkeit zur räumlichen Codierung von Information. Ein Beispiel für einen mit dieser Methode generierten Entwurf ist die sogenannte Dynaform, ein temporäres Gebäude der BMW Group auf der IAA 2001. Dieses Gebäude sollte den BMW-Markenkern ausdrücken: Freude am Fahren. Der Zweck von Automobilen ist die Bewegung; präsentiert werden sie aber im Stillstand. Der Raum um die Fahrzeuge herum wurde so beschleunigt, dass eine Empfindung des Fahrens entstand. Dazu wurde der so genannte „Dopplereffekt“ von vorbeifahrenden Automobilen genutzt. Solange Fahrzeuge auf einen zukommen, ist ein hoher Ton hörbar, haben sie einen passiert, wird ein niedrigerer Ton wahrgenommen. Die Agora als zentraler Platz des Frankfurter Messegeländes wird von der monumentalen Messehalle 3 dominiert. Im Westen der Freifläche entstand zugleich ein neues Forumsgebäude. Diesen Hallen wurden zur Formgenerierung in einer Animations-Software unterschiedlich starke abstoßende Kräfte zugeschrieben. Ein mit einem weiteren Kraftfeld gekoppelter virtueller BMW 7er fährt durch ein orthogonales räumliches Raster, welches durch die Kräfte analog zum DopplerEffekt verformt wird und so als „gekrümmter Raum“ die Master-Geometrie zu dem Entwurf der Dynaform liefert. Durch die Herleitung der Formfindung aus einem Film wurde sie für den Kunden plausibel und nachvollziehbar. Die Nutzer des tatsächlichen Gebäudes wiederum fühlten den Moment der Beschleunigung intuitiv durch die Raumform. Der Mensch kann Kräfte nicht direkt sinnlich erfassen, sondern nur anhand ihrer Auswirkungen auf sie zurückschließen. Durch Erfahrung ist der Mensch sehr sensibel für Verformungen, die dem natürlichen Kräfteverlauf entsprechen. Diese Fähigkeit war ein evolutionärer Vorteil, da beispielsweise ein vom Wind durchgebogener Baum als potentielle Gefahr gedeutet werden konnte. Unsere Wahrnehmung ist also konditioniert auf Kräfte und nutzt sie zur Formdeutung. Deformierte Formen informieren dabei über die Kräfte ihres Ursprungs. Die Dynaform wirkt geradezu reduziert und minimalistisch in ihrer Außenerscheinung. Es sind von außen keinerlei Funktionen des Inneren ablesbar. Als freie Skulptur verweigert die Dynaform sich allen architektonischen Kategorien und ist
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deswegen eher ein Objekt als ein Gebäude. Sie besteht aus einer topologischen Oberfläche, die sich vom Boden über die Decke zurück zum Boden faltet. Die Hülle verzichtet auf alle maßstabgebenden Details oder Rasterungen. Sämtliche Durchdringungen sind klar durch Schleusen abgesetzt. Umso überraschender ist für den Besucher die Innengestaltung. Das lineare Durchschreiten des Ausstellungsbereichs namens Dynafloor von Ost nach West macht diesen zu einem szenografischen Erleb-
Abb.1 BMW Dynaform IAA, Frankfurt 2001.
Abb.2 BMW Dynaform, Entwurfsbasis: Dopplereffekt.
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nis – zu einer „promenade architecture“. Das lichte Foyer vermittelt als Übergangszone zwischen Außenbereich und der künstlich beleuchteten BMW-Welt. Vom Foyer wird man über eine Treppe auf eine erhöhte Zwischenebene geleitet, von der man zum ersten Mal den neuen BMW 7er vor einer monumentalen LED-Wand sieht. Über eine barocke Treppe gelangt man zum Ausstellungsboden, auf dem die Fahrzeugreihen wie auf drei Straßen angeordnet dem 7er folgen. Der Rhythmus der Frames, die Überlagerung durch die Kurve im Grundriss und die Wölbung des Bodens beschleunigt den Raum um diese Fahrzeuge visuell und physisch. Die Verkleinerung der hintereinander folgenden Frames und deren Zentrierung durch die Stege überhöhen noch die Sogwirkung. Mit einem Film auf einer 80 Meter langen Projektionswand als Hauptkommunikationselement wird der ganze Raum zusätzlich in Bewegung gebracht. Unterstützt wird dies durch Klang und Beleuchtung, dadurch wird der Raum in ein totales kommunikatives Erlebnis verwandelt.
KLOEPP
Ein weiteres Beispiel für ein mit dem parametrischen Filter entwickelten Entwurf ist das Projekt Kloepp, ein Ministeriumsgebäude in Reykjavik in Island. Vor dem Baugrundstück befindet sich ein Felsen, in dem „Trolle“ leben. In Island kartiert eine offizielle „Trollbeauftragte“ alle Orte auf der Insel, in denen Fabelwesen wie Elfen, Trolle und Zwerge hausen. Straßen ändern ihre Richtung, um einer solchen Stelle auszuweichen, und kein Isländer würde auf einem solchen Baugrund bauen. Deswegen hat Franken Architekten diesen Felsen ein Kraftfeld zugeordnet und gleichzeitig eine Zugangsstraße und einen Innenhof mit Kraftfeldern versehen. In einer Computersimulation erzeugen diese Kraftfelder Schnittlinien, an denen ein massiver Steinblock geschnitten wird. Die mystischen Kräfte der Trolle und der unmittelbare Kontext des Gebäudes spiegeln sich in Gebäudeform und Fassade wider. Die Isländer waren von dieser Herangehensweise begeistert, da sie die isländische kulturelle Verwurzlung in den Edda-Sagen genauso repräsentiert wie deren Begeisterung für technische Neuerungen. Ein Gesteinsblock, zwischen die bestehenden Gebäude gespannt, nimmt die drei Ministerien auf. Ähnlich dem Vorgehen eines Bildhauers wurde der Stein bearbeitet und ausgehöhlt. Die Form und Materialität drückt gleichzeitig Kontinuität und ständigen Wandel aus. Eigenschaften, die die Arbeit eines Ministeriums charakterisieren. Die Fassade ist in abwechselnd vor- und zurückspringende horizontale Schichten aus Basalt gegliedert. Die Fenster sind darin wie kristalline Einschlüsse verstreut. Drei Spalten gliedern das Ministerium. Ihre Lage und Form wurde durch Zuordnung von Kräften in einem parametrischen Entwurfsprozess ermittelt. Die Spalten bieten eine besondere Aufenthaltsqualität. Jeder Spalte sind die typischen isländischen Elemente zugeordnet. In der westlichen Spalte bedeckt ein Wasserbe-
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Abb.3 Kloepp, Ministeriumgebäude Reykjavik, Island.
Abb.4 Kloepp, Elemente Islands Entwurfsbasis: Kraftfelder.
cken den Boden des Erdgeschosses. Inseln im Wasser laden zum Verweilen ein. Hier können Besprechungen stattfinden. In der mittleren Spalte sind, analog zu der auf der anderen Straßenseite liegenden, geschützten Felsformation, mit Erdwärme beheizte Findlinge in den Boden eingelassen. Sie laden mit Sitzkuhlen zum Aufwärmen nach dem Aufenthalt im stürmischen Außenraum ein. Die östliche Spalte wird über die gesamte Höhe mit Pflanzen begrünt. Glasstege und Glasebenen verbinden die einzelnen Gebäude in den Spalten.
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Semantik Raum wird zum Träger von Bedeutung, zum Zeichen durch Kontext und gesellschaftliche Konvention. Durch Übertragung von Bedeutungsebenen aus anderen Zeichensystemen in die Architektur können neuartige Elemente der Narration entstehen. Bernhard Franken
SCHUMANN HOTEL Werdet wild und tut schöne Sachen.2
In einer Bestandsimmobilie aus der Gründerzeit entsteht in exzellenter Lage im Frankfurter Westend ein exklusives Boutiquehotel mit 35 Zimmern, Wellness Bereich und Bar mit Clubcharakter. Das Dachgeschoß wird mit avantgardistischer Architektur spektakulär aufgestockt und stellt das Gebäude dadurch bereits von außen sichtbar ins Spannungsfeld zwischen Gründerzeit und 21. Jahrhundert. Das narrative Thema „Westend“, welches dem Hotel Charakter gibt, spiegelt sich in dem Gestaltungskonzept wider. Es ist geprägt von der Spannung zwischen Bourgeoisie und Frankfurter Häuserkampf, Glamour und Subversion, und reflektiert die wechselhafte Geschichte des Standortes, ohne sie einfach nur zu imitieren. Die Neugestaltung
Abb.5 Schumann Hotel, Frankfurt am Main. 2Aus einer Parole des „Zentralrates der umherschweifenden Haschrebellen“ – Ende der 60er/Anfang
der 70er Jahre.
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nimmt Bezug sowohl auf den Bestand der Entstehungszeit mit repräsentativer Fassade, hohen Decken etc. als auch deren temporäre Umnutzung im besetzten Haus mit subversiven Elementen wie beispielsweise Graffiti. Auf vielen Ebenen wird durch die Bedeutung der Zeichen eine Auseinandersetzung mit Ausschnitten der deutschen sowie spezifisch Frankfurter Zeitgeschichte angeregt.
Abb.6 Cosmogrill, München Strassenansicht.
Abb.7 Cosmogrill, München Cosmocounter.
COSMOGRILL This is Major Tom to Ground Control. I’m stepping through the door and I’m floating in a most peculiar way and the stars look very different today ...3 3
Space Oddity, David Bowie, 1969.
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Für Münchens ersten Edelschnellimbiss wurde eine Marke mit ausdrucksstarker räumlicher Gestaltung entwickelt und diese im Pilotrestaurant auf minimalen Raum (Microrant 80m2) umgesetzt. Die „letzte Imbissstube am Rande des Universums“ verbindet das Profane des Schnellimbisses mit dem Verfeinerten der japanischen Esskultur, das Kosmopolite mit dem Lokalen. Das narrative Leitmotiv der Raumfahrersehnsucht drückt sich räumlich aus durch Aktivierung der kollektiven Erinnerung an eine vergangene Zukunft, an die heroische Moderne, als der Weltraum als letzte Grenze galt und Utopia kurz vor der Tür stand. Aus verzerrten Quadern entstand eine Art Raumkrümmungsdiagramm. Dieses Relief erinnert an 70er Jahre Wandgestaltungen aus der Raumfahrerstadt Baikonur in Kasachstan. Aber statt der Reihung von immer gleichen Elementen besteht es aus individuellen selbstähnlichen Teilen, die mit einer computergesteuerten Fünfachsfräse produziert wurden. Die Standardproduktion als das Paradigma der Moderne erfährt eine Verschiebung zur „mass customization“. Die Form dieser Cosmowand wurde mithilfe einer computeranimierten Simulation des Schwerefelds unseres Sonnensystems ermittelt. Ein Band wickelt sich komplett um den Innenraum des Cosmogrills und den namensgebenden zentralen Grill. Aus der Cosmowand-Simulation wurde auch die Form der über dem Eingangsbereich schwebenden futuristischen Lichtinstallation, des Swarovski Cosmolusters, abgeleitet. Während die Cosmowand die Materie als Positivform abbildet, visualisiert der Cosmoluster die immateriellen Schwerelinien als Negativform aus Licht. Das in der Cosmowand bestimmende Spiel von Form und Leerraum findet sich auch in der plastischen Gestaltung der Raumumfassung wieder. Im kleineren Maßstab wird das Motiv in den Möbeln weitergeführt. Die Farbgebung Reinweiß kombiniert mit Dunkelviolett leitet sich vom Screendesign aus Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum ab. Der Küchenblock mit dem altarartigen Grill wird von technoidem Edelstahl dominiert. Die Raumfahrerästhetik setzt sich in diesem bereits mehrfach ausgezeichneten Hospitality Projekt bis ins kleinste Detail fort – so erinnern beispielsweise Tablett und Geschirr an Airline Tableware.
Ritual Rituale schaffen Bewegung und Bedeutung im Raum, wie etwa in der Liturgie oder im Theater, wo das Reale mit dem Abstrakten verbunden wird. Rituale bieten die Möglichkeit, Sublimes und Ätherisches in eine Narration einzuweben. Bernhard Franken
CANOPY
Automobilausstellungen heißen nicht zufällig ‚Messen‘, sie sind die rituellen Zusammenkünfte der Branche und des Publikums. Hier mischen sich theatralische Elemen-
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Abb.8 BMW Canopy, Autosalon, Genf 2006.
Abb.9 BMW Canopy, Enthüllung.
te mit Anleihen aus Ritualräumen. Eine Ausstellung in einem geführten Rundlauf durch den fließenden Raum des Messeauftritts zu erleben gleicht einer ‚Prozession‘. Die Präsentation auf einer Plattform symbolisiert den ‚Altar‘. Auf der Pressekonferenz enthüllt der hohe Priester (Vorstand) das ‚Allerheiligste‘. Ein Fahrzeug erscheint als ‚Deus ex Machina‘ auf einer Bühne. Dazu gibt es allerlei Theaterdonner, Lichtspiele und pathetische Musik.
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GOLDENER ENGEL Die intensive Auseinandersetzung mit historischen Kochrezepten und praxisimmanenten Regeln aber lässt verblüffende Parallelen zu künstlerischen Gestaltungsprinzipien sowohl in der Kochkunst wie der Architektur oder der Musik erkennen.4
Für das erste Brauhaus in der „Rotweinstadt“ Ingelheim wurde die Marke Brauhaus Goldener Engel im Spannungsfeld zwischen dem Erhabenen der Sakralarchitektur und dem Profanen der Braukultur, gleichzeitig zwischen Tradition und Moderne, entwickelt. Es entstand eine Inszenierung des Brauprozesses zwischen Braukultur und Ritualraum. Schon die auf dem anderen Rheinufer gelegene Zisterzienserabtei Klos-
Abb.10 Brauhaus Goldener Engel, Ingelheim, Fassade.
Abb.11 Brauhaus Goldener Engel, Ingelheim, Innenhof.
4
Renate Breuß: Das rechte Maß im Kochen, aus: Der Architekt, der Koch und der gute Geschmack, Basel 2007.
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ter Eberbach verfügte über ein aus der Barockzeit stammendes Brauhaus, dessen auf zwei soliden Mittelpfeilern lastendes Kreuzgratgewölbe eher an ein Kirchenschiff als an eine Fabrikationsstätte denken lässt. In der Fassade des Goldenen Engels wurden nach einem regelbasierten Prozess Schlitze platziert und als Reminiszenz an die lokale Bauweise durch massive Gewände eingefasst. Die Fassade kann als Partitur eines Musikstückes gelesen werden, in dem die Tonhöhe durch die Schlitzhöhe, die Tonlänge durch die Schlitzbreite und der Rhythmus durch die Schlitzabstände definiert wird. Diese Partitur wurde mit einem aus dem Internet heruntergeladenen Klingeltonkompositionsprogramm vertont. Hier schließt sich der Kreis zu den antiken Tempeln in Athen, deren Säulenordnung nach harmonischen Prinzipien konzipiert wurde, und zu den Fassaden der Renaissance nach Zahlenproportionen bei Alberti. Die Gebäudegrundform beschreibt ein ‚V‘. Die beiden Schenkel des ‚V‘ umschließen den so geschützten Innenhof, der sich nach Westen zur Abendsonne und einem Naturschutzgebiet hin öffnet. Aus dem Raumprogramm definiert sich ein kontinuierlich gefaltetes Band, das mit der Bodenplatte beginnend in den Stirnwänden der Gebäudeflügel ansteigt und über zwei gegenläufig steigende bzw. abfallende Deckenabschnitte im Kopfteil mit zwei überlappenden Platten als Galeriegeschoß bzw. Dach endet. Aus dem Motiv des Auf- und Absteigens der Faltung entsteht ein spannungsvoller Baukörper und überraschende interne Überlagerungen, Verbindungen und Sichtbeziehungen. Die tiefliegenden Gewände erzeugen im Inneren durch ihr Spiel von Licht und Schatten und ihre deckenhohe Ausbildung Assoziationen zum Sakralbau. Der Innenhof wird zum arkadengesäumten Kreuzgang. Schon nach außen zur Straße werden die kupfernen Braukessel für die vorbeifahrenden Fahrzeuge durch die Lichtschlitze zum Blickfang. Die Reihung der Edelstahllagertanks setzt diesen Effekt fort. Im Inneren sind alle Stationen des Brauprozesses von der Malzmühle auf der Galerieebene über das Sudhaus, die Lagerkessel bis zum Zapfhahn für die Besucher erlebbar. Die Sudkessel sind dabei durch einen zweigeschossigen Luftraum wie ein ‚Altar‘ besonders hervorgehoben. Im Sudkessel wird aus Wasser, Hopfen und Malz unter dem Einfluss von Feuer das Bier gekocht. Dieser quasi alchimistische Prozess transformiert Grundstoffe zu einem Nahrungs- und Genussmittel, welches gemeinschaftlich in einer Tischgesellschaft verzehrt zum Akt eines gesellschaftlich öffentlichen Rituals wird. Der Goldene Engel erreicht seine Stimmigkeit als ein Brauhaus nicht durch oberflächliche Zitate traditioneller Brauhäuser oder banaler Anleihen an bierselige Klischees, sondern durch die Nutzung der in der Tradition verwurzelten Verwandtschaft von Orten der Transformation von Stofflichem und Feinstofflichem, der Nahrungsaufnahme und der Religionsausübung, der Mahlzeit und des Abendmahls.
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Szenografie Szenografie beschränkt sich nicht auf die Bühne oder die Leinwand, auch nicht auf Events und Messen. Sie ist ein Entwurfsansatz, der in der Narration wurzelt und auf individuelle Gebäude ebenso angewendet werden kann wie auf städtebauliche Aufgaben. Bernhard Franken
BIG BANG Der Auftritt für die Marke MINI in Paris 2006 stellte die Weltpremiere des neuen MINIs in einen sich öffnenden trichterförmigen Raum, der einen explosionsartig sich vergrößernden Big Bang symbolisierte. Dieser Effekt wurde durch einen Film, der auf
Abb.12 MINI Big Bang, Mondial de l’Automobile, Paris 2006.
Abb.13 MINI Big Bang, Trichter.
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der Rückwand des Trichters abgespielt wurde und mit einer zyklisch sich zu einem Big Bang steigernden Licht- und Soundbespielung noch unterstützt. Zu der Enthüllung des Fahrzeugs beim Pressetag stand dieses zusätzlich in einem Ballon, der beim Big Bang zerplatzte und das Fahrzeug freigab.
HOME COUTURE Für den vollendeten Flaneur, den leidenschaftlichen Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, Aufenthalt zu nehmen in der Vielzahl, in dem Wogenden, in der Bewegung, in dem Flüchtigen und Unendlichen… Für ihn geht es darum, der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden an Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen.5
In Zeiten zunehmender Virtualisierung ganzer Lebensbereiche sehnen sich die Menschen nach authentischen Erlebnissen. Die in den Modeschauen in Paris, New York und Mailand vorgestellten neuesten Trends der Modebranche werden in Echtzeit über das Internet verbreitet und in China schneller kopiert als Sonderangebote so genannter Designer Outlets, bedrängt von Schnäppchen bei H&M oder Zara verlangt es dem Konsumenten nach dem Originalen. In den späten 90ern des letzten Jahrhunderts etablierte sich der „Flagship Store“ als ein neues Format der Retailbranche, eben gerade weil dort Shopping zum authentischen Erlebnis wird. Die großen Modemarken erhielten durch den Flagship Store nicht nur eine grandiose Erweiterung ihrer Vertriebsstruktur, sondern auch die Chance, ein steuerbares und authentisches Markenerlebnis zu kreieren. Dafür holte man sich internationale Stararchitekten wie Rem Koolhaas für Prada, die durch ihren eigenen Brandvalue die Marke zusätzlich aufwerten. Ein anderer Trend nach 9/11 ist der viel beschworene Rückzug ins Private, das Cocooning in den eigenen vier Wänden, die entsprechend innenarchitektonisch aufgewertet werden. Besondere Aufmerksamkeit erfahren hier die Nasszellen, die nicht mehr nur die reine Funktionalität der Körperreinigung erfüllen, sondern zu Badelandschaften mit Wellness-Charakter transformiert werden. Vor diesem Hintergrund entschied sich der Baustoffhändler Raab Karcher die beiden oben genannten Trends in einem eigenen Flagship-Store-Konzept für den Premium-Fliesen-Bereich zu verbinden. Raab Karcher wird vorwiegend als Händler für den professionellen Kunden wahrgenommen und will mit diesem Konzept zusätzliche neue Kundenkreise bei Bauherren und unter Multiplikatoren wie Architekten und Innenarchitekten ansprechen. Die Lage am Ku’Damm in Berlin in unmittelbarer Nähe zu denFlagship Stores der Modebranche schafft die Grundvoraussetzung für die Positionierung als 5 Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens [1863]. Kap. III: Der Künstler. Mann von Welt, Mann der Menge und Kind.
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Abb.14 Raab Karcher Home Couture Flagship Store, Berlin.
Premium-Fliesen-Store. Home Couture liegt im Erdgeschoss eines frühen denkmalgeschützen Berliner Hochhauses aus den 60er Jahren. Aufgrund seiner Ecksituation mit der Bleibtreustraße auf der einen Seite und der Orientierung zu einem zurückgesetzten Platz hat der Laden eine voll verglaste Schaufensterfront von fast 60 Meter Abwicklung. Dieser glückliche Umstand wird zur entwurfsbestimmenden Größe für die Gestaltung des Ladens. Durch die geringe Tiefe des Ladens wird dieser zu einem erweiterten Schaufenster für den Flaneur. Dessen Blick auf seinem Weg entlang der Fassade erzeugt in einer Computersimulation die Geometrie der Innengestaltung. Anstelle der auf die zentrale Position des absolutistischen Herrschers orientierten Blickachsen des Barocks tritt eine kaskadierende Perspektive der Bewegung mit wandernden Fluchtpunkten. Jeder neue Blick in die Tiefe des Ladens regt den Flaneur an, die nächste Perspektive zu entdecken. Dementsprechend sind alle Möbel und Einbauten nach versetzten Sehstrahlen orientiert. Auch das vertikale Fugenbild der Wände leitet sich aus der gleichen animierten Sequenz ab. Der Kunde spürt im Laden das ganzheitliche Zusammenspiel aller räumlichen Teilungen und Fugen nach einer zugrunde liegenden Ordnung. Dieses Prinzip wird noch dramatisch gesteigert durch eine Installation in der Ku’Damm-Fassade. In der Computersimulation regt der Blick des Flaneurs eine Acrylglasscheibe zur Schwingung an. Die eingefrorene Schwingung wiederum wirkt wie eine Zerrlinse und bringt die beleuchtete Rückwand, die mit Grafik und Logos bedruckt ist (Brandwall), beim Vorbeilaufen zum Oszillieren. Die dazwischen stehenden Besucher des Stores werden zu Akteuren in der
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optisch-kinetischen Installation. Für den Betrachter entsteht ein Effekt als würde er durch eine Wasseroberfläche auf den fliesenbelegten Grund eines Swimmingpools schauen. ARCHITEKTUR UND THEATER
Die gezeigten Beispiele verdeutlichen das hohe Potential der Übertragung von Strategien des Theaters auf die Architektur. Besonders wichtig erscheint dabei die Mehrfachlesbarkeit der Ergebnisse. Nur so lassen sie dem Betrachter Platz zur Interaktion mit dem Gebäude, zur Interpretation des Erlebten und zur Inbeziehungsetzung mit der Geschichte. Im Umkehrschluss halte ich die Nutzung von Raum als kommunikatives Element im Theater noch für weitestgehend unerforscht, seine Potentiale noch nicht für vollständig erschlossen. Hier eröffnet sich ein zukünftiges Tätigkeitsfeld für Architekten und Szenografen im interdisziplinären Dialog.
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Sandra Schramke TÜRME. ÜBER DIE KONSTRUKTION VON VERTRAUEN IN DER ARCHITEKTUR
Niklas Luhmann bezeichnet Vertrauen als eine „soziale Beziehung“, die ihren Ursprung in psychischen und sozialen Strukturen hat.1 Die Voraussetzung von Vertrauensbildung ist danach gleichermaßen nach innen wie außen gerichtet. In der Geschichte der Architektur sind es insbesondere Türme, die als symbolische Formen eng mit der Konstruktion von Vertrauen in Verbindung stehen: denn sie repräsentieren nicht nur die Ordnung einer Gesellschaft, sondern tragen selbst zur Neustrukturierung und -ordnung von Raum bei. Der Grund liegt einerseits in neurophysiologischen Sehprozessen, andererseits in der Gewöhnung an bestimmte Phänomene durch Wiederholung. Veränderungen in der Hochhaustypologie können daher jenseits ihres ästhetischen Ausdrucks Hinweise auf neue Formen des Wissens oder Anschauungen von Räumen geben, ebenso wie sie dieses Wissen bzw. Anschauungen selbst darstellen.
SYMMETRISCHE MARKEN
Kultur- und funktionsabhängig dienen Türme als Marken im Raum dem Ausdruck religiöser, juridischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht. Ausschlaggebend für die typologische Zuordnung ist die Höhe des Turms, durch die er sich von seiner Umgebung abgrenzt. Diese stellt seine Präsenz im Raum sicher und kann gleichzeitig auch die Überwachung desselben zulassen. In der bildlichen Umsetzung Pieter Breughels, der alttestamentarischen Erzählung vom Turmbau zu Babel, bestrafte Gott die Menschen mit Sprachverwirrung, da die Turmhöhe in der damaligen Vorstellung der Weltordnung die Grenze zu Gott überschritt. So behielt sich bis ins Mittelalter der Sakralbau das Vorrecht vor, den Raum vertikal zu besetzen. Erst die mittelalterlichen Geschlechtertürme des italienischen Adels traten mit den Kirchtürmen in Wettstreit. Ihrem Lastabtrag geschuldet waren sie oft auf einfachen, meist quadratischen Grundrissflächen gebaut. Auch die Repräsentationsbilanz gibt sich einfach: je höher der Turm, umso einflussreicher waren seine Bewohner. Reichtum wurde also mit Höhe gleichgesetzt. Mit den Geschlechtertürmen stellte der Adel seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss nach außen dar. Andererseits boten die Türme den Familien Schutz gegen militärische Angriffe oder Brände. 1
Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968.
208 SANDRA SCHRAMKE
Kulturübergreifend finden sich vorrangig symmetrische Formen in Türmen wieder. Ein Blick in die Architekturgeschichte zeigt die Wiederholung gleicher, symmetrischer, zumeist kreisrunder oder quadratischer Formen von Türmen. Dazu zählen neben den Geschlechtertürmen vor allem die Pyramiden, Stadttore, Wachtürme und die Bankentürme der Neuzeit; mediale Dispositive wie Observatorien ergänzen die Reihe. Abgesehen von Letzteren sind Türme daher Ausdruck von gesellschaftlichen oder räumlichen Ordnungssystemen oder auch medialen Strukturen. Ihre Bewohner oder Benutzer repräsentieren oftmals entweder die Eliten oder Akteure im System. Einer von vielen Erklärungsversuchen setzt Symmetrie zur „Harmonie der Natur“ in Beziehung.2 Immer wird Symmetrie auch mit mathematischen Überlegungen – etwa dem Gesetz der Symmetrie bei Vitruv – in Verbindung gebracht.3 Ganz entscheidend erleichtert Symmetrie aber die optische Wahrnehmung.4 Und gerade deshalb wird Symmetrie, die nach Luhmann Komplexität reduziert, auf diese Weise zum konstituierenden Element für Vertrauen.5
FORMEN UND INHALTE
Das spezifische Zahlenverhältnis als Grundlage der Symmetrie wird mit der Erfindung des Computers nach 1945 aus der analogen in eine digitale Zustandsbeschreibung übertragbar. Nicht zufällig untersuchten daher Informationsästhetiker wie Max Bense in der Nachkriegszeit die Möglichkeiten berechenbarer Ästhetik im Kontext von Kommunikation. Heutigen Architekten und Ingenieuren stehen neue Softwareprogramme zur Verfügung, die neue Ausdrucksweisen in der Architektur hervorbringen. Ihr besonderes Kennzeichen ist die Auflösung klarer Grenzen, die für den traditionellen Turm noch so typisch waren. So tritt die über Jahrhunderte tradierte Typologie des Turms als Solitär, dessen Kennzeichen neben seiner Höhe symmetrische Grundrisse und Ansichten sind, seit der Moderne in neuen Formen in Erscheinung. Die neuen technischen Möglichkeiten der Moderne versprachen die Gleichstellung der Gesellschaft. Siegfried Giedion vertraute auf eine neue, gleichberechtigte Gesellschaft durch den industriellen Fortschritt. „Die Industrie nimmt die innere Umschichtung der Gesellschaft ebenso vorweg, wie die Konstruktion den zukünftigen Ausdruck des Bauens.“6 2 Werner Hahn: Symmetrie als Entwicklungsprinzip in Natur und Kunst, Langewiesche, Königstein 1989. 3
Ernesto Grassi: Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln 1962. Hahn, a.a.O. S.12. Symmetrien erleichtern das optische und geistige Erfassen und Verstehen des Gesehenen in hohem Grade. 5 Luhmann, a.a.O. 6 Siegfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton, Leipzig/Berlin 1928. 4
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Die Erfindung des Stahlbetons und Aufzugs ermöglichten neue Bauhöhen, die die alten um ein Vielfaches überstiegen. Die neuen Stahl-Glas-Türme repräsentieren daher die Technik ihrer Zeit: Sie verleihen dem Raum einen neuen Ausdruck, indem sie viel Nutz- auf geringer Grundfläche unterbringen. Vor dem Hintergrund der Konzentration von Arbeitsplätzen und Kapital in den Städten feierte zunächst Nordamerika unter der Chicagoer School um Louis Sullivan mit dem Slogan ‚form follows function‘ eine neue Raumausnutzung bei steigenden Bodenpreisen. Optimierung durch Höhe wurde daher eine funktionale Möglichkeit, Wohn- und Arbeitsraum in der Stadt zu verdichten. Gleichzeitig bringt die Verdichtung und Optimierung der Bodenausnutzung in der aufkommenden Moderne im Unterschied zum frei stehenden Turm eine neue Typologie von Hochhausgruppen mit sich, die erst in der Nachmoderne zu multifunktionalen Volumen zusammenschmelzen. Innerhalb einer auf räumlichen Orientierungspunkten aufbauenden Argumentationslinie geht mit ihnen ganz offensichtlich ein Verlust von klaren Raumordnungen einher. Orientierung scheint aber deshalb so wichtig, weil sie in der subjektiven Wahrnehmung an Handlungsentscheidungen gekoppelt ist, die eine Grundvoraussetzung von Vertrauensbildung darstellt.7 Rem Koolhaas bricht diese Vorstellung zugunsten neuer Form-Funktionszuweisungen. Seine eigene Erklärung dazu kommt aber nicht ohne neueres Wahrnehmungswissen aus: Koolhaas proklamierte schon in seiner Abhandlung The Generic City/Die Stadt ohne Eigenschaften der 1990er Jahre auf den ersten Blick einen Orientierungsverlust durch Verzicht auf „Identität, Vielfalt, Geschäftigkeit, Stadtbaukunst, Regelhaftigkeit, Geschichte, Planung. [...] Die Stadt ohne Eigenschaften hat aber nicht nur dieses Gespenstische, sondern etwas fundamental Befreiendes: der Verzicht auf Identität – ‚Down with Character!‘“8 Damit spricht er sich gegen tradierte, apriorisch festgelegte Raumordnungen aus, um diese durch die Idee der Form-Funktionsvielfalten zu erweitern. So weist er sich klar als moderner Architekt aus, der die Form der Funktion wie z.B. der Technik und kulturellen oder sozialen Untersuchungsergebnissen unterordnet. Wie wir jedoch aus der Moderne wissen, bricht gerade die Unterordnung der Form unter die Funktion radikal mit der Formentradition. Von der Idee sozialer Gerechtigkeit geleitet stellte der spanische Architekt Saenz de Oiza 1968 einen sozialen Wohnungsbau von 81 Metern Höhe fertig. Den Endpunkt der Torres Blancas (Weiße Türme) bildet hier ein Schwimmbad, das allen Hausbewohnern einen freien Blick auf die Stadt gewährt. Heute gibt es für das Gebäude, das unter Denkmalschutz steht, eine lange Warteliste potentieller Käufer, die sich vom Kauf einer Wohnung Identität versprechen. So erfuhr der 7
Jürgen Messing: Allgemeine Theorie des menschlichen Bewusstseins, Berlin 1999.
8 Rem Koolhaas: The Generic City. Die Stadt ohne Eigenschaften in: ders., S, M, L, XL, Köln 1997.
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ehemals günstige Wohnraum innerhalb von 30 Jahren eine Verschiebung hin zur Markenbildung. Während die neuen Techniken der 1910er Jahre mit dem 241 Meter hohen Woolworth Building in Chicago den bis dahin höchsten Wolkenkratzer ermöglichten, wurden 2009 in Dubai mit dem Burj Dubai (Turm Dubai) von 818 Metern Höhe ganz neue Maßstäbe gesetzt. Entgegen seinem Materialverhalten mussten dem Ortbeton zugunsten seiner Transportierbarkeit in flüssigem Zustand künstliche Zusatzstoffe beigemischt werden. Reale Bedenken bezüglich der langfristigen Standsicherheit des Turms wichen dem glanzvollen Bild des höchsten Turms der Welt. In einem Vergleich der neuen Türme mit den Türmen des Mittelalters lässt sich eine grundlegende Änderung der Form in Dubai jedoch nicht festmachen.9
Abb.1 Kalkulation von Vertrauen und Risiko ‚Bankenlandschaft‘ Frankfurt am Main. (Foto: Ralf Bohn)
Abgesehen von ihrem Repräsentationszweck können Türme auch nach innen wirksame Machtinstanzen darstellen, wie sie Foucault in Überwachen und Strafen ausführt. Darin koppelt er den „zwingende[n] Blick“ an die unabhängig von ihrer Zweckbestimmung gebundene Typologie von Türmen. Am Beispiel des Panoptikums fokussiert Foucault die Wirkung von Türmen aus der Innenperspektive ihrer Bewohner mit Rückwirkungen auf die Gesellschaft. Er nennt sie „Eine Architektur, 9
Trotz der beabsichtigten Machtdemonstration transportierte der kurzzeitige plötzliche, aufgrund der Finanzkrise ausgelöste Baustopp Anfang 2009 gleichsam unfreiwillig das Bild der Instabilität unseres Weltwirtschaftsystems.
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die ein Instrument zur Transformation der Individuen ist: Die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflussbar macht, die Wirkungen der Macht bis zu ihnen vordringen lässt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert.“10 Die Beispiele sind ein Beleg für die wechselseitige Beeinflussung von Form und Funktion in der Architektur. Danach kann der gebaute Raum, unter Berücksichtigung möglicher Fehlkalkulationen, in Abhängigkeit des jeweiligen Zeitwissens gezielt neue Ordnungen hervorbringen und so die Wahrnehmung desselben aus der Betrachterperspektive verändern, um schließlich neue Formen des Vertrauens zu etablieren.
FORMWAHRNEHMUNGEN
Obwohl mit der im 17. Jahrhundert aufkommenden Infragestellung der Ontologie der Welt und dem Wissen um neue Wahrnehmungsweisen die Form als solche angezweifelt wird, reagieren Architekten auf diese neuen Überlegungen zunächst nicht. Anfang des 20. Jahrhunderts stellt Siegfried Giedion dann zwar die Frage nach dem ‚Äußerlichen der Konstruktion‘; jedoch argumentiert er auf der Grundlage der technischen Möglichkeiten seiner Zeit. Und trotz seiner Referenz auf die Psyche geht Giedion nicht auf die inszenatorischen Möglichkeiten moderner Architektur ein, die die Wahrnehmung entscheidend mitprägen. „Die Konstruktion hat im 19. Jahrhundert die Rolle des Unterbewusstseins. Nach außen führt es, auftrumpfend, das alte Pathos weiter; unterirdisch, hinter Fassaden verborgen, bildet sich die Basis unseres ganzen heutigen Seins.“11 Die moderne Konstruktion ist also Ausdrucksmittel der neuen Möglichkeiten der Industrialisierung. Dazu gehören neben der Aufzugstechnik die Serienherstellung und die so genannte ‚curtain wall‘ als Loslösung der Fassade von der Konstruktion. Diese bestimmen das Erscheinungsbild der Fassaden der Hochhäuser des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die prominentesten Beispiele einer den veränderten Bedingungen der Moderne angepassten Logik sind die Glashochhäuser Mies van der Rohes: Sie repräsentieren die technischen Möglichkeiten des Stahl-Glas-Skeletts, die gleichzeitig eine räumliche Freiheit der Nutzungsvielfalt bieten. So werden sie, der Wirtschaftskrise zum Trotz, zum Sinnbild der Moderne. Übertragen auf die heutige Situation konterkariert die Transparenz der Bankenhochhaus-Glasfassaden, die in der Literatur gern mit Offenheit gleichgesetzt wird, die undurchsichtigen Unternehmensstrukturen der Finanzwelt. Andererseits wecken die verspiegelten 10 Michel Foucault: Die Mittel der guten Abrichtung, in: ders., Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main, 1979, S. 222. 11 Giedion, a.a.O.
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Fassaden wie beispielsweise der Deutschen Bank in Frankfurt den Eindruck von Hermetik. Glas wird zu Spiegelglas, Durchsichtigkeit und Klarheit zur Ohnmacht des Selbstbezugs: Man kann nichts erkennen, wird aber dafür umso besser gesehen. Das kollektive Bild der Stabilität von Hochhäusern in konstruktiver wie symbolischer Hinsicht wurde allerdings spätestens mit dem Anschlag auf die Twin Towers in New York am 09.11.2001 zerstört.
DARSTELLUNGSFORMEN
Ein Blick auf die zentralperspektivischen Darstellungen von Türmen in Bildern belegt das Fortdauern eines Modells, das in der Kontinuität von Turmgrundrissen seine Entsprechung findet. Hubert Damisch macht die Perspektive in seiner Abhandlung Der Ursprung der Perspektive für die Produktion von ‚Effekten‘ verantwortlich und konstatiert, dass sie „ganz offenkundig die Grenzen ihrer Entstehungszeit überschreitet“.12 Die Zentralperspektive der Renaissance als Modell und insbesondere als Denkmodell strebte idealisierte Darstellungen von Welt an. Erwin Panofsky untersuchte die symbolische Form der Perspektive als Entwurfswerkzeug für die Repräsentation von Weltbildern, die durch die idealtypischen platonischen Grundrissformen noch unterstützt werde.13 Konstruktiv ist die Reduktion von Türmen auf einfache Formen zwar dem Lastabtrag geschuldet. Ideell unterstreichen die daraus resultierenden, annähernd gleichen Ansichten aus der stadträumlichen Wahrnehmung jedoch ihre Eindeutigkeit und Präsenz und damit ihren Wiedererkennungswert. Allein aufgrund ihrer epochenübergreifenden Präsenz im Raum stabilisieren sie die Wahrnehmung von innen und außen. Dagegen steht die fragmentierte Darstellung einer subjektabhängigen Weltwahrnehmung, die der tradierten Turmtypologie zuwiderläuft. Zugunsten einer Verschiebung von allgemeinen Repräsentationsformen hin zu subjektiven Wahrnehmungsformen machen Architekten gegen eine Logik der Eindeutigkeit vermehrt von der Möglichkeit von Variationen von Bauformen und Darstellungen Gebrauch. Mit dem Ziel der Verdichtung schlagen beispielsweise die niederländischen Architekten MVRDV eine dreidimensionale Raumstruktur für die größte europäische Hotelhochburg Benidorm an der spanischen Ostküste vor, die in ihren Darstellungen Assoziationen an einen überdimensionalen Friedhof weckt. Die Wahrnehmungsveränderungen durch die Darstellung, die hier einen ironischen Beigeschmack hat, haben eine lange Tradition in Theorie und Praxis. An einem der prominentesten Beispiele, Velázquez’ Gemälde Las Meninas von 1656, macht Foucault die Verschiebung der Repräsentationsidee als Kennzeichen 12 13
Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive, Zürich 2010, S.48. Erwin Panofsky: Perspective as Symbolic Form, Zone Books, New York 1991 [1924-25].
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des klassischen Zeitalters hin zum Wesen der Wahrnehmung in der Moderne deutlich.14 Im Gegensatz zur Idee der Repräsentation rückt mit den Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts etwa von Arthur Schopenhauer, Konrad Fiedler, Alois Riegl, Theodor Lipps und Hermann von Helmholtz die menschliche Wahrnehmung im Fokus der veränderten technischen Bedingungen in den Vordergrund. Während die klassische Perspektive das Subjekt ins Zentrum setzte und es gleichsam besetzte, verschieben sich die Vorstellungen von Raum mit der modernen Physik. In der Folge wird das Subjekt in der Moderne mitgedacht. In dieser Tradition bewegen sich auch Philosophen wie Konrad Fiedler. Er entwickelte die Theorie der „freie[n] künstlerische[n] und unfreie[n] nichtkünstlerische[n] Wahrnehmung“, Alois Riegl die „taktile und optische Wahrnehmung“ und Theodor Lipps die „positive und negative Einfühlung“.15 Hermann von Helmholtz beschrieb 1896 im Handbuch der Physiologischen Optik die vom Bewusstsein getrennte Funktionsweise des Sehens.16 Auch Schopenhauer rückte das Sehen ins Zentrum seiner Wahrnehmungstheorien und sprach ihm Autonomie zu.17
NEUE FORMEN DES VERTRAUENS
In Anlehnung an die Gestalttheorie, die den Primat des Phänomenalen fordert und so die Wirklichkeit mit dem Gesehenen gleichsetzt, beruht die Bildung von Vertrauen auch in der Architektur auf komplexen inhaltlichen wie formalen Strukturgesetzen. Neben den vielen sozialen und kulturellen Aspekten der Vertrauensbildung, die hier nicht untersucht werden können, lässt also allein die Bestandsaufnahme der gebauten Welt auf eine bestimmte Vertrauensbildung rückschließen. Innerhalb dieser Betrachtungsweise geben Veränderungen in der Architektur, möglich gemacht durch neue Techniken der Darstellungsweise, neue Softwareprogramme und neue Materialeinsätze, Hinweise auf zukünftige Bauformen, die nicht nur die unmittelbare Wahrnehmung verändern, sondern das kollektive Gedächtnis langfristig mitprägen und so auf die Wahrnehmung zurückwirken.18 Die gesehene Form ist entscheidend für Vertrauen, da sie von der Sinneswahrnehmung zur Kognitionsebene überwechselt: Denn beim ersten Blick auf eine Form setzt zugleich auch ein Begriffdenken ein: 14 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt
am Main 1969. Ebd., S.89. 16 Vgl. Hermann von Helmholtz: Die Lehre von den Gesichtswahrnehmungen, in: ders., Handbuch der Physiologischen Optik, Verlag von Leopold Voss, Hamburg, Leipzig 1896, S.576ff. 17 Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters: Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/ Basel 1996, S.84. 18 Byung-Chul Han: Was ist Macht? Stuttgart 2005, S.52. 15
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erkennt der Betrachter die Form, so bewertet er aufgrund eigener Erfahrungen und kollektiver Bilder das Gesehene ganz automatisch.19 Während die Gestaltpsychologie noch von festen Formen ausging, bricht eine neuere Erkenntnis der Gehirnforschung die ehemalige Vorstellung des Erkennens immer gleicher Formen zugunsten einer Strukturerkennung auf.20 Danach ist das Gehirn in der Lage, Strukturen zu identifizieren, deren Gesamtgestalt veränderbar ist. Die Gesamtstruktur ist vom Betrachter also auch dann noch wahrnehmbar, wenn unter Beibehaltung der Elemente ihre Form variiert. Die Veränderungen von Formen in der Architektur sind daher nicht nur als technische Leistungen zu betrachten, sondern zugleich als mehr oder weniger bewusst eingesetzte Wahrnehmungskonstituenten. Indem Rem Koolhaas in einem Spiegel-Interview zu seinem für den chinesischen Fernsehsender CCTV entworfenen Hochhaus 2008 den Betrachter in den Vordergrund rückt, nimmt er ganz direkt Bezug auf die frühen Wahrnehmungstheorien. Er ordnet so die Form als Ergebnis der technischen Möglichkeiten algorithmischer, berechenbarer Verfahren mit Hilfe des Computers den vielfältigen Wahrnehmungsformen des Betrachters unter: „Wo immer Sie stehen – er sieht von überall anders aus. Permanent verschieben sich Vordergrund und Hintergrund. Wir haben nicht eine einzige, sondern 400 Identitäten geschaffen. Das ist es, was wir wollten: Zweideutigkeiten, Unübersichtlichkeiten herstellen, um dem Zwang des Expliziten zu entgehen.“21 Koolhaas verleiht hier konsequent seinem Anliegen des Verzichts auf feste Formzuschreibungen Ausdruck, das er schon in The Generic City ausführt. An seine Stelle setzt er ein Denken in Strukturen und Formen, die sich im Kontext des aktuellen neurobiologischen Wissens um Formprozesse bewegen. Sie erweitern die Formenvielfalt, indem sie die Kontinuität des Erkennens von Formen in Bewegung fortschreiben. Mit der Aufgabe einer Perspektive zugunsten vieler Perspektiven wird die Eindeutigkeit der Repräsentanz aufgegeben. Sie wird vielmehr durch zeitabhängige, durch Veränderbarkeit gekennzeichnete subjektive Wahrnehmungen im Raum auf Zeit ersetzt. Die vormals auf Eindeutigkeit angelegte Inszenierung mit dem Ziel der Vertrauensbildung durch Machtdemonstration verkehrt sich in der Moderne zunächst zur Repräsentation des Glaubens an die Technik mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verbessern, um schließlich in der Nachmoderne die Darstellung von Eindimensionalität zugunsten von Multiperspektivität in Analogie zu den natürlichen menschlichen Wahrnehmungsweisen ganz aufzugeben. Damit verschiebt sich auch 19 Olaf Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt. Ein Beitrag zur Neuronalen Ästhetik, Wien 2000. 20 Ebd. 21 Spiegel online vom 24.06.2008, http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-57570802.html.
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das Bild von Macht. Die Eindeutigkeit der Repräsentanz von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, von politischen Strukturen und technischen Möglichkeiten weicht der Vieldeutigkeit mit dem Verlust eindeutiger Zeichenzuweisungen. Diese beziehen sich sowohl auf die Objekte als auch auf ihre Darstellung in Bildern. Das Wissen, das in diesen Objekten und Bildern dargestellt wird, wirkt wiederum auf den Betrachter zurück: Die Gestaltungsmerkmale werden im Wahrnehmungskontext gleichermaßen selbstreflexiv. Nach neurobiologischen Erkenntnissen setzt auch dann Gestaltdenken ein, wenn die Form nicht durch klare Grenzen markiert ist, sondern sich durch ein Relationengefüge ausweist, das das Gehirn als Gestalt erkennt: nicht im Sinne eindeutiger Systemgrenzen: stattdessen durch ein schon genetisch angelegtes prädiskursives Denken. Die Variation der Gestalt ist demnach schon mit eingeschlossen.22 Die neuen Computerprogramme erhöhen in dieser Argumentationskette die Möglichkeiten von Gruppentransformationen, die als Vielfalten von Elementenbeziehungen darstellbar werden. Allein das Einüben neuer Sehgewohnheiten wird voraussichtlich nicht nur die neuen Sehweisen und Darstellungsformen in Zukunft verändern, sondern auch das Vertrauen in Formenvielfalten als neue Formen der Macht noch verstärken.23
22 23
Breidbach, a.a.O. Byung-Chul Han, a.a.O.
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Uwe Brückner SZENOGRAFIE ODER DIE MACHT DER VERFÜHRUNG. „Wenns Dir recht ist, erzähle ich ein wenig von unseren Erfahrungen, was Vertrauen und Verführung in der Szenografie angeht.“ – So beginnt mein Anschreiben mit dem Abstract zum Dortmunder Symposium. „Dabei setze ich meist Mut mit Vertrauen gleich, weil in der ängstlichen Museumsszene das Misstrauen gegenüber den ‚Inszenierern‘ weit verbreitet ist, Misstrauen, das besonders von den sogenannten ‚Auratikern‘ geschürt wird.“ Es geht im folgenden Text also um den Mut, einen Szenografen mit dem Konzept oder der Gestaltung eines Projektes zu betrauen, und um die Verführung der Rezipienten – beides geht nicht ohne Vorschussvertrauen und ohne Risikobereitschaft aller Beteiligten.
1. PROLOG
Die Szenografie ist eine synchron-disziplinäre Gestaltungsphilosophie; sie wirkt identitätsbildend und -bewahrend. Sie ist ein zum Raum gewordenes Selbstverständnis, generiert ‚wirkmächtige‘ Raumbilder, narrative Räume, und sensibilisiert die Rezipienten durch ihren emotionalen Zugang zum Metier. Raumbilder verblüffen, begeistern, entführen und verführen. Sie lassen Vergessenes wiederentdecken, belichten Bekanntes neu, wechseln die Perspektive, erzeugen Neugierde und provozieren Betroffenheit im Sinne einer kollektiven Relevanz und individuellen Begeisterung. Die Szenografie ist eine Gestaltungshaltung, die komplexe Themen dechiffriert, abstrakte Inhalte in begehbare dreidimensionale Raumbilder übersetzt und somit Zugang auch zu vermeintlich sperrigen Inhalten ermöglicht. Darüber hinaus ist sie die logische Antwort auf die Anforderungen eines durch dynamische Medien veränderten Rezeptionsverhaltens. Ein zeitgemäßes Museum ist ein inszeniertes Museum – man kann nicht nicht inszenieren. Szenografisches Gestalten heißt in Szene setzen, mit der Absicht, Dingen und Geschichten eine Bühne und damit die maximale Aufmerksamkeit zu bieten. Die Szenografie beschleunigt dort, wo Aufmerksamkeit und Neugierde notwendig sind, um zu begeistern – sie entschleunigt da, wo Konzentration, Ruhe und Ästhetik die Wahrnehmung intensivieren. Szenografie ist nachhaltig und zielt auf nachhaltigen Eindruck. Szenografie ist weniger und mehr; sie dechiffriert Komplexes und inszeniert Unscheinbares – beides misst sich am Erlebten. Szenografie kümmert sich um die Rezipienten, lässt sie partizipieren. Sie choreographiert den Raum oder
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die choreographierte Abfolge von Räumen, generiert abwechslungsreiche Parcours, erzeugt emotionalisierende Atmosphären und ungewöhnliche Aggregatzustände, begünstigt, fördert oder verweigert den Zugang zu einem Thema – sie führt Regie und öffnet assoziative Spiel- und Denkräume. Szenografie wirbt um das Vertrauen des Betrachters, verführt und fordert, durch ihre Unvorhersehbarkeit, Mut und die (Risiko-)Bereitschaft des Besuchers, ungewohnte Sujets zu (er)leben. Szenografen sind Autorengestalter. Sie sind multidisziplinär geschult oder erfahren. Sie kennen sich in den wichtigsten Gestaltungsdisziplinen aus, können mit Raum, Licht, Graphik, Sound, Medien und Inhalten konzeptionell virtuos umgehen. Szenografen sind Gestalter und Autoren, sind Erzähler und Designer, Architekten und Konzeptionisten. Szenografen öffnen Fenster und Türen, begegnen den Rezipienten auf Augenhöhe und ermöglichen seine Partizipation und Nähe zum Adressaten – machen ihn zum Mitwisser, Zeugen, übertragen Verantwortung, und das alles mit Vergnügen. Szenografen begnügen sich nicht mit konventionell-statischen, sondern gestalten mit dynamischen Mitteln, suchen und kombinieren Instrumente, orchestrieren neu, nicht im Sinne von „anything goes“, sondern mit dem Ziel einer gestalterischen Punktlandung. Szenografen sind Geschichtenerzähler, Verführer, Entführer, Überzeugungstäter, sind Übersetzer, Dechiffrierer und hoffentlich Visionäre mit dem Mut zum Risiko, zur Authentizität, zur Unmittelbarkeit, zum Erlebnis mit offenem Ausgang. Szenografen fordern die Auftraggeber heraus, konzeptionell und budgetäre, und in dem Verlangen nach Vorschussvertrauen für hochkomplexe, unikatäre Konzepte mit offenem Ausgang. Dieses Vertrauen entsteht und gedeiht, wenn Gestalter und Auftraggeber zu einer gemeinsamen Sprache finden, wenn alle Projektbeteiligten sich einem „Debabelizing“ stellen zu Gunsten einer gemeinsamen gestalterischen Lingua franca. Dann entsteht eine direkte Kommunikation zwischen Auftraggebern und Gestaltern, ohne dass ideologische Positionierungen neu verhandelt oder definitorische Schutzzäune eingerissen werden müssten. Grenzen erleben – der Pavillon der Schweizer Grenzkantone für die Expo 2002 in Biel war ein solches Projekt, bei dem das Vertrauen, das der Auftraggeber (eine interkantonale Trägerschaft der acht Grenzkantone) in unser Konzept, aber auch das Selbstvertrauen, mit welchem wir auf unser Konzept setzten,
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eine Schicksalsmembran durchstoßen hat. Der Auftraggeber wollte ein mutiges Konzept, kein eklektizistisches Andienen von Gestaltungsbausteinen, und ging das Risiko einer integrativen Gestaltungshaltung ein. Es entstand eine 300-Quadratmeter umfassende Bespielung, die das Thema individueller und kollektiver Grenzerfahrungen beleuchtete. Von der Gewalt in der Ehe bis zur Klonung waren dies Themen, die mit konventionellen Mitteln nicht darstellbar sind (Abb.1). Durch eine stark übersetzerische Inszenierung im Zentrum des Pavillons und umlaufenden Hörspielkabinetten gelang der Zugang zu diesen komplexen Grenzerlebnissen (Abb.2). Die Erfahrung eines solchen Vertrauensvorschusses gepaart mit dem Erfolg des Projektes bildeten den Humus für das Gedeihen weiterer mutiger und erfolgreicher Projekte in den Folgejahren.
Abb.1 Konzeptskizze zum Raumfilm, Grenzen (er) leben, Expo 02, Biel, 2002 (Alle Skizzen und Fotografien des Beitrags: © Atelier Brückner).
Abb.2 Entwurfsskizze zur Raumbespielung, Grenzen (er)leben, Expo 02, Biel, 2002.
2. DAS WIRKMÄCHTIGE RAUMBILD – VON DER KUNST, RÄUME ZUM SPRECHEN ZU BRINGEN
Raumbilder ermöglichen einen meist unmittelbaren, visuellen Zugang – zum Ort, zu der Zeit und zum gesellschaftlichen Kontext, bilden also das Sujet, in dem sich die Story abspielen soll. Raumbilder bedeuten für den Betrachter: assoziieren. Sie provozieren Environments, die bildliche Klammer zum Geschehen. Raumbilder verblüffen, entführen und verführen, schaffen Vertrauen und Begeisterung. Sie lassen Vergessenes wiederentdecken, belichten Bekanntes neu, wechseln die Perspektive, erzeugen Neugierde und provozieren Betroffenheit im Sinne einer kollektiven Relevanz und individuellen Begeisterung. Spannungsgeladene Raumchoreo-
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graphien wie auch eine choreographierte Abfolge erzeugen einen dramatisierten Spannungsbogen, dem sich die Besucher kaum entziehen können, geschweige denn wollen. Inszenierte Räume sind wie Opern, komplexe artifizielle Konstruktionen aus Bühne (Raum), Narration (Geschichte, Inhalt und Botschaft), Performance (Sänger, Tänzer, Schauspieler) und einem Orchester, dessen Instrumente dem Gestaltungsinstrumentarium der Szenografie entsprechen: Erst im perfekten Zusammenspiel der einzelnen Instrumente entfaltete der Klangkörper, ein immersives Klang-RaumGefühl für den Zuhörer respektive Zuschauer.
Abb.3 Frühe Konzeptskizze, Expedition Titanic, Speicherstadt Hamburg, 1997.
Auf einer Restaurantserviette entstanden 1997 die ersten Konzeptzeichnungen für das Projekt Exhibition Titanic, das erstmalig eine große Anzahl spektakulärer Artefakte zusammenführte, die von der 1913 auf ihrer Jungferfahrt dramatisch gesunkenen Titanic gehoben wurden (Abb.3). Die Reise der Besucher führte nicht einfach an einer Reihe von Exponaten entlang, sondern durch atmosphärisch choreographierte Raumbilder mit unterschiedlichen Beleuchtungen, wechselnden Raumtemperaturen und Bodenbelägen mit unterschiedlichen Resonanzen, so dass alle Sinne angesprochen und Emotionen freigesetzt wurden. Unerwartet, verstörend aufdringlich. Lichtüberflutet mit einem seltsam drückenden Ton aus dem Off präsentierte sich der sogenannte „Champagnerraum“. Ein Unraum ohne Kontur, ohne Ecken und Dimensionen. Die zwei Exponate, ein Arbeiterschuh und sechs original verkorkte Champagnerflaschen in knappen maßgeschneiderten Vitrinen scheinen im stillen Dialog in dem bläulichen Lichtblock gefangen. Die konzeptionelle Antwort auf den 2008 ausgeschriebenen Wettbewerb für die temporäre Ausstellung Die Geburt des Welthandels – Chinas historische Handelsrouten im Martin-Gropius-Bau Berlin wäre die Inszenierung einer ‚großen Geste‘ als zentrales Raumbild gewesen: die virtuelle Rekonstruktion einer gesunkenen chinesischen
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Abb.4 Wettbewerbsentwurf, Zentrale Rauminstallation, Die Geburt des Welthandels – Chinas historische Handelsrouten, Martin-Gropiusbau, 2007.
Tschunke über dem Wrackfeld im Maßstab 1:1 (Abb.4). Neben einer Vielzahl einzigartiger Exponate und faszinierender Unterwasser-Filmaufnahmen von der Unterwasserarchäologie, die trotz moderner Ortungstechnologien immer noch unter abenteuerlichen Bedingungen stattfindet, wollten wir mit einer spektakulären 3D-Raumprojektion auf orthogonal zueinander stehenden Gazen die Rekonstruktion der Tschunke in Originalgröße (circa achtzehn Meter lang und zwölf Meter hoch) inszenieren (Abb.5). Damit sollte die Fähigkeit der Wissenschaftler und Archäologen demonstriert werden, aus muschelbesetzten Planken und über 2000 Jahre alten
Abb.5 Wettbewerbsentwurf, Zentrale Rauminstallation, Die Geburt des Welthandels – Chinas historische Handelsrouten, Martin-Gropiusbau, 2007.
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Sediment die Geschichte der Exponate und des Schiffes zu rekontextualisieren und den Besucher an seiner spektakulären und nachhaltigen Wiederherstellung teilhaben zu lassen. Im selben Jahr fand die Ausschreibung des Wettbewerbes Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaft in Berlin statt: eine temporäre Ausstellung – (ebenfalls) im MartinGropius-Bau Berlin – mit dem Ziel, ein „disziplinen- und institutsübergreifendes Panorama über 300 Jahre wissenschaftlicher Aktivität in Berlin“ zu inszenieren. Weltwissen – nomen est omen –, der Titel war für uns Programm und Versprechen, Verheißung und Anspruch zugleich. Sammeln; Bewahren; Ausstellen; Vermitteln sind die vier Standbeine der (modernen) Museologie, die sich dennoch auf die (historische) Wunderkammer beruft. Der von uns komplett verspiegelte, gut zwölf Meter hohe und begehbare Wissensspeicher beruht auf dem Prinzip einer Wunderkammer des 21. Jahrhunderts, dem Dialog von Wissenschaft und Kultur, von Erkenntnis, Ordnung, Klassifizierung und Präzision, aber auch von der Faszination des Entdeckens, Staunens und Erlebens – inklusive der Eigenreflexion der Besucher im eigenen kulturellen Umfeld des Martin-Gropius-Baus (Abb.6/7). Der periodisch wechselnde Aggregatzustand von Spiegel- oder Transparentschaltung des Welt-Wissens-Speichers wäre für uns auch eine Metapher für wissenschaftliche Wahrhaftigkeit, historische Fragilität und selbstreflexive Relevanz der Sammlungen und seiner Besucher gewesen.
Abb.6 Wettbewerbsentwurf zum Wissenspeicher, Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaft in Berlin, 2009.
Abb.7 Wettbewerbsentwurf, Fassade Wissenspeicher, Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaft in Berlin, 2009.
2008 entstand die Ausstellung That’s Opera anlässlich des 200-jährigen Jubiläums des Musikverlages Ricordi. Wertvolle Unikate der wichtigsten italienischen Komponisten wie Verdi, Puccini, Donizetti und Bellini sollten erstmals außerhalb Italiens gezeigt werden. Es galt, nicht nur die Geschichte des Verlagshauses zu erzählen, sondern
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Abb.8 Prolog, That’s Opera, Brüssel 2008/9.
Abb.9 Partitura, That’s Opera, Brüssel 2008/9.
Oper an sich mit dramaturgischen Mitteln einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Ausstellung führt den Besucher „Backstage“, hinter die Kulissen der Opernwelt (Abb.8). Hier veranschaulichen fünf Themenbereiche die Genese, das „Making of“ einer Oper, vom Text, dem „Libretto“, über die „Partitura“, „Scenografia“, „Voci e Costumi“ bis zur finalen Aufführung, der „Rappresentazione“. Umgesetzt wurden diese Themen in fünf durchkomponierten Rauminszenierungen und einer choreographierten Raumabfolge. Die wertvollen Exponate sind den einzelnen Räumen thematisch zugeordnet. Librettoentwürfe und -vorlagen bilden die Exponatebene im Kubus „Libretto“. Handgeschriebene Partituren sind in einer abgedunkelten, schallreduzierten Schatzkammer entsprechend den notwen-
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digen konservatorischen Bedingungen präsentiert. Mittels subtilen Medieneinsatzes werden sie zudem im Kubus „Partitura“ in das klangvolle Raumbild eines begehbaren Orchestergrabens übersetzt (Abb.9). Bühnenbildskizzen finden im Raum „Szenografia“ anhand von Modellkästen im Maßstab 1:50 sowie als gemalte, raumgreifende Bühnenprospekte eine kontextualisierende Einbindung Die Oper Madame Butterfly stand Pate für das Raumbild zu „Voci e Costumi“, in das Kostümskizzen der gleichnamigen Oper integriert sind. Projiziert auf einen Schneidertisch zeigt ein filmischer Loop die verschiedenen Arbeitsschritte bei der Herstellung eines Kimonos, der auf Grundlage der Originalskizze speziell für die Ausstellung rekonstruiert wurde (Abb.9). Das Regiebuch der Oper Aida mit den Aufzeichnungen des Triumphmarsches bildet schließlich den Kontext auf Exponatebene zu einer 270-Grad-Projektion einer zeitgenössischen Aida-Aufführung (Abb.10).
Abb.10 Rappresentazione, That’s Opera, Brüssel, 2008/9.
Über die räumliche, kontextualisierende Dramaturgie wird der Besucher emotional angesprochen. Die Inhalte werden intuitiv, ohne tieferes Vorwissen, erlebbar. Der Besucher begibt sich auf eine Reise, welche die Opernwelt aus überraschend anderer Perspektive zugänglich macht. Die über 200 ausgestellten Exponate sind vornehmlich Autographe wie Skizzen und Briefe, zudem Bücher und gedruckte Schriftstücke. Dieses Papier zum Klingen zu bringen und in ein dreidimensionales, emotionales Live-Erlebnis zu transformieren, war die Zielsetzung dieser Ausstellung.1
1
Vgl. (Hrsg.) Atelier Brückner: Scenography. Make Spaces Talk. Atelier Brückner Projects 20022010. Ludwisgburg 2010.
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3. DAS BEREDTE OBJEKT ODER AUF AUGENHÖHE MIT DER AURA
Die elementarsten Inhalte einer Ausstellung sind die Objekte. Für den Kuratoren sind es Relikte, die es zu hüten und zu bewahren gilt, für den Wissenschaftler kulturhaltige Forschungsobjekte, und für den Szenografen geht es darum, sie zum Sprechen zu bringen, in Dialog mit dem Betrachter zu versetzen. Das (re)kontextualsierte Objekt ermöglicht dem Betrachter durch die unmittelbare und sinnliche Erschließung eine dialogische Begegnung auf Augenhöhe. Oft verwechselt man ein authentisches Exponat mit einem Original. Ein Original ist immer authentisch im Sinne seiner Einzigartigkeit. Authentisch wirken kann aber auch ein Nicht-Original, weil es, physisch anwesend, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, als etwas wahres Authentisches wahrgenommen werden kann. Deswegen muss es aber nicht notwendigerweise ein Original sein. Also kann auch eine Replik beim Besucher ein authentisches Erlebnis auslösen. Von der Wirkung her gesehen, können somit die Aura einer Replik und die eines Originals gleich effektiv sein, wobei der Unterschied zwischen Original und Replik vorwiegend eine wissenschaftliche Rolle spielt. In der Gestaltung einer Ausstellung aber gilt es zwischen Original und Replik zu unterscheiden. Bei uns sind die Originale immer in Vitrinen geschützt, während mit den Repliken viel freier umgegangen werden kann. Repliken ersetzen nicht das Original, erlauben aber den direkten Kontakt mit dem Besucher, was bei Originalen aus konservatorischen Gründen nicht möglich ist. Mit einfachen gestalterischen Mittel lassen wir den Besucher wissen, ob es sich um ein Original oder um eine Replik handelt. Der authentische Genuss ist in der Regel der gleiche.2 Das Vertrauen des Szenografen gilt Form und Inhalt, Medium und Content in gleichberechtigtem Maß. Das Objekt ist nicht nur auratisches Moment, sondern auch Träger (s)einer Geschichte. Der Szenograf nutzt die Möglichkeiten des Objekts, in dem er es auch als Medium/ Träger seiner Geschichte zugänglich macht – nicht als Original, sondern als authentisches Substrat, nicht nur dem ästhetischen Genuss dienend, sondern dem Erleben und Verstehen. Über die Quantität, Qualität und den Modus der Informationsvermittlung in Museen wird wohl so lange diskutiert werden, wie es das Format Museum gibt: Wie viel Information, in wie vielen Vertiefungsebenen, an welchen Stellen, nötig ist, wie didaktisch, wie pädagogisch es sein muss oder darf, und wie prominent die Platzierung von Texten in der Ausstellung sein sollte – vor allem wie viel zumutbar ist und wie viel gustierbar? Das ist nicht nur eine Frage des Sprachduktus und der Lesbarkeit einer Information, sondern auch ihrer Dechiffrierbarkeit und der 2
Vgl. (Hrsg.) Atelier Brückner: Scenography. Make Spaces Talk. Atelier Brückner Projects 20022010. Ludwigsburg 2010.
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Aufnahmefähigkeit der Adressaten. Der große Unterschied liegt in der gestalterischen Haltung: traditionell additiv – also Objekt, Information und Kontext getrennt voneinander zu behandeln, oder integrativ, das heißt, das Objekt selbst in den Dienst der eigenen Rekontextualisierung zu stellen und die Information als eigenes Medium auf Anfrage zur Verfügung zu stellen. Das heißt Informationen in Form von Text, Grafiken, Bild oder Filmmaterial und Audiostationen sind dann besonders effektiv, wenn sie einen Mehrwert generieren, nicht das Sichtbare illustrieren und mit Worten nochmals beschreiben, sondern mit Sprache das ausdrücken, was mit keinem anderen Medium besser möglich ist. Mit dem Einsatz moderner elektronischer Medien in Ausstellungen können wir dem Besucher ein differenziertes Informationsangebot bieten, das weder das Objekt verstellt noch das Raumbild beeinträchtigt und darüber hinaus Information individuell auf die jeweilige Anforderung zugänglich macht – ich nenne das „Information on Demand“. Das Bedürfnis der Besucher nach individuell abrufbaren Informationen auf der einen und der Wunsch der Museen nach flexiblen Interventionsmöglichkeiten auf der Informationsebene haben uns das erste Mal für das Rautenstrauch-Joest Museum in Köln Vitrinen entwickeln lassen, die sich diesen Bedürfnissen anpassen.3 Wie gestalten Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Teilen der Welt ihr Leben? Was verbindet uns mit Menschen und ihren Lebensentwürfen anderswo? Mit dem neuen Themenparcours „Der Mensch in seinen Welten“ lädt das Rautenstrauch-Joest Museum zu einer ebenso verblüffenden wie erkenntnisreichen Entdeckungsreise ein. „Intelligente Vitrinen“, die über den Exponatschutz hinaus funktionieren, wurden auch für die neue Ausstellung entwickelt. In die getönte Rückwand des Vitrinensystems werden durch einen sensorischen Reiz, den der Besucher bewusst auslöst, Informationen zu den Exponaten mit einer Rückprojektion eingespielt (Abb.11/12). Das ermöglicht dem Besucher, das Objekt zunächst in seiner rein ästhetischen Wirkung wahrzunehmen und es darüber hinaus durch die temporär mediale Einspielung von Fotos und Filmclips in seinem ursprünglichen, rituellen Kontext zu erleben. Auch im Schepvaart Museum Amsterdam wollten wir das Prinzip „Information on Demand“ (IOD) konsequent einsetzen – dort können die Besucher selbst entscheiden, wo, wann, wie viele Informationen sie abrufen wollen und in welche Informationsebene sie dabei vorstoßen wollen.4 In der Gemäldegalerie wird das Raumbild von den Gemälden geprägt, die nach dem Horizont ausgerichtet sind, der als gemeinsamer Nenner auf allen Bildern auszumachen ist. Eine durchgängige Reling mit einem Wandabstand von circa 3 4
(Neu-)Eröffnung für den 22. Oktober 2010 geplant. Eröffnung der neuen Dauerausstellung ist für 2011 projektiert.
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Abb.11 Vitrine mit Einspielung, Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln.
Abb.12 Vitrine ohne Einspielung, Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln.
1,5 Metern ist mit einem subtilen, interaktiven Informationssystem ausgestattet. Bei Berührung wird sowohl die Exponatbeschriftung sowie das Sekundärmaterial eingespielt, das beispielsweise Skizzen zeigt, welche die Maler während der Schlacht auf den Schiffen angefertigt haben und nach denen das Gemälde dann an Land angefertigt wurde. Dieses System garantiert einen rein objektorientierten, auratischen Genuss der Gemälde und ermöglicht darüber hinaus, je nach Gusto tiefer in die Geschichte des Gemäldes einzutauchen und sie wie Augenzeugenberichte historischer Ereignisse zu lesen. Zu der großartigen Globensammlung des Schepvaart Museums gehört auch eine universelle Kollektion von Seekarten, die aus konservatorischen Gründen vorwiegend im Archiv schlummern müssen. Um diesen faszinierenden Schatz zugänglich zu machen und die Besucher an der Geschichte der Navigation teilhaben zu lassen, haben wir einen interaktiven Globus entwickelt, der Seekarten aus vier Jahrhunderten raumfüllend abrufen und sogar ineinander morphen kann und so die Entwicklung der Kartographie auf ganz neue Weise erlebbar macht. Als Interface dient ein interaktiver Globus, der in alle Richtungen drehbar ist. Über eine synchronisierte Projektion wird ein Abriss der Kartographie von Seekarten gezeigt: zweidimensionales, historisches Kartenmaterial wird als dreidimensionale Darstellung, als Globus, projiziert. Veränderungen im historischen Kartenmaterial können durch die Überlagerung, durch die Zeit hinweg, verfolgt werden (Abb.13). Das innovative, kugelförmige Interface animiert den Besucher zu einer Entdeckungsreise aus der Perspektive der
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Abb.13 Entwurfsrendering, Interaktiver Globus, Schepvaart Museum, Amsterdam.
Seefahrer. Das Original mit seinem authentischen Kontext, also das Artefakt, und sein Abbild ergänzen sich im Idealfall zu einem größeren attraktiven Ganzen. Nicht das Original, sondern der authentische Content/Kontext wird gezeigt, das heißt, das Original oder sein Abbild wird nicht zu dekorativen Zwecken missbraucht, sondern dessen Inhalt über ein digitales, dokumentarisches, in Abbildform gezeigtes Abbild erschlossen. Dass eine Vitrine nicht einfach nur eine Vitrine ist, dass sie per se nichts Statisches haben muss, sondern wie ein Fenster zur Welt eines passionierten Flugzeugpioniers sein muss und gleichsam Projektionsfläche für sein Wirken sein kann, zeigt die Dauerausstellung des 2008 eröffneten Dornier Museums für Luft- und Raumfahrt in Friedrichshafen. Das Herzstück der Ausstellung ist eine Flucht von fünf Vitrinen, in denen historische Flugzeugmodelle inszeniert sind (Abb.14). Die Vitrinen mit Glasfond sind zunächst transparent und erlauben einen „Durchblick“ durch alle Zeiten der Dornierschen Flugzeugentwicklung. Die Vitrinenrückwand besteht aus einem transopaken Glas, dessen Kristalle sich bei Stromfluss ausrichten und die Durchsicht ermöglichen Der rückwärtige Teil jeder Vitrine wird auf Knopfdruck opak und spielt dann einen Film ein, der den historischen Kontext zu den jeweiligen Flugzeugmodellen herstellt (Abb.15). Hier werden verschiedene Objekte, oder deren Darstellung, integrativ zu einem holistischen Erlebnis vermittelt. Auf andere und dennoch ähnlich überraschende Weise werden die Exponate im Textil- und Industriemuseum Augsburg inszeniert, das 2010 eröffnete. Unter den Schlagworten ‚Mensch – Maschine – Mode‘ wird die Produktion und Veredelung von Stoffen – von den Rohprodukten bis zum Einsatz in der Mode – aufgezeigt. Das Museum besitzt eine einzigartige Musterbuchsammlung von über 600, meist
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Abb.14 Vitrine mit Einspielung, Dornier Museum, Friedrichshafen.
Abb.15 Vitrine ohne Einspielung, Dornier Museum, Friedrichshafen.
wunderschönen, Exemplaren, bestückt mit circa 1,2 Millionen Stoffmustern und Motiven aus 200 Jahren Textilherstellung. Die große Herausforderung für Kuratoren und Gestalter war, nicht nur die visuelle Ästhetik, wie üblich, in einer Schatzkammer auszustellen, sondern auch diese sensiblen, lichtscheuen und fragilen Objekte in ihrer Bedeutung zugänglich zu machen. Wir wollten die Besucher eintauchen lassen in diese unglaubliche Vielfalt der Muster und Motive; sie sollten die Möglichkeit bekommen, die zum Großteil nicht mehr als handtellergroßen Muster unmittelbar anwenden zu können. Wir suchten nach einer Möglichkeit, die Motive und ihr großes, kreatives Potential unmittelbar anwendbar zu machen. Neben den Originalen gibt es nun auch virtuelle Musterbücher, aus denen die Besucher Motive auswählen können, die dann über einen digitalen Schnittmusterbogen, Interface, in Realzeit auf überlebensgroße, sich langsam drehende Figurinen projiziert werden (Abb.16). Der Besucher bekommt somit die Möglichkeit, die Bestimmung der Textilmuster und ihre Wirkung auszuprobieren, indem er aus einem handtellergroßen Muster ein maßgeschneidertes Kostüm gestalten kann (Abb.17).
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Abb.17 Interface für Figurine, Textil- und Industriemuseum, Augsburg.
Abb.16 Interaktive Figurine, Textil- und Industriemuseum, Augsburg.
Das Objekt, oder besser seine Transformation, wird zum Medium, zum Interface seines eigenen Potentials – so bleibt dem Original die Aura des Unverwechselbaren und unverwechselbar wird das Erlebnis seiner Anwendung. Auch hier geht es um den Zugang zu Inhalten einer sagenhaften Sammlung, die nur sehr aufwändig erschlossen werden kann, was konservatorischen Gründen kaum über die Originale der Stoffmuster selbst erfolgen kann. Hier funktioniert der Hinweis auf den Unterschied zwischen Original und Authentizität. Das Original ist im mathematischen Sinn „Dasselbe“, das Authentische „das Gleiche“.
4. STAGING THE CONTENT – DAS UNSICHTBARE SICHTBARMACHEN
Die Szenografie ist eine Gestaltungshaltung, die komplexe Themen dechiffriert, abstrakte Inhalte in begehbare dreidimensionale Raumbilder übersetzt und somit Zugang auch zu vermeintlich sperrigen Inhalten ermöglicht. Szenografie vermag die Gehalte eines Dings zu erahnen und freizulegen. Szenografie transformiert Raum und alles Räumliche; um genau zu sein, ist es eine Translation, ein Übersetzungsvorgang, eine raumgenerierende Transkription.
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Abb.18 Wandbespielung, Liebe.Komm, MK Frankfurt, 2003.
Abb.19 Wandbespielung, Liebe.Komm, MK Frankfurt, 2003.
Die Übersetzung eines abstrakt-metaphysischen und gleichzeitig globalen Sujets in sinnlich (be)greifbare und erlebbare Raumbilder gelang 2002 in der temporären Ausstellung Liebe.Komm für das Museum für Kommunikation in Frankfurt. In einem lustvoll dramatisierten Parcours führen fünfzehn Stationen der „Liebeskommunikation“ den Besucher durch Höhen und Tiefen des Liebeslebens, vom „Ersten Blick“ über Erfolg und Scheitern des „Werbens“ bis hin zum Trennungsschmerz und der Hoffnung auf die neue große Liebe. Texte, Geschichten und Zitate über Liebe sind in einem kompletten Liebesroman verborgen, der die Ausstellung wie ein endloser Wandteppich umgibt. Nur mit einer „rosa-roten Brille“ kann der Besucher die versteckten Botschaften und auch die Exponatbeschriftungen dechiffrieren, auf die ebenfalls der Rot-Grün-Subtraktionseffekt angewandt ist (Abb.18/19). Durch die subtile Ansprache, den gezielten Einsatz von Text und dessen Anordnung in der Ausstellung als Leitsystem zur Besucherführung, wird der Besucher selbst Teil der Inszenierung. Das Suchen, Finden und Genießen ist Prozess und Erlebnis zugleich. Einheit in der Vielfalt: Wie erklärt man Europa in allen seinen 27 Sprachen? Wie kann das komplexe Gebilde »Europa« in seiner Struktur und historischen Entwicklung erlebbar werden, das Europäische Parlament mit seinen Aufgaben und organisatorischen Abläufen dem Besucher zum Greifen nahe kommen? Dieser Herausforderung sahen wir uns gegenüber bei der Realisierung eines Ausstellungskonzeptes für das Besucherzentrum des Europäischen Parlaments Brüssel, dass 2011 eröffnet wird. Wir beantworteten diese Frage mit der Hilfe eines PDA (Personal Digital Assistant) und einem ästhetisch gelungenen Kniff der Ausstellungsgraphik – das
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europäische Sprachenbabel wird visuell durch sich in verschiedenen Schriftfarben überlagernde Sprachschriften transportiert, auf dem PDA-Display, aber auch an der Ausstellungswand kann der Besucher die Information in seiner Muttersprache wie auch in 26 weiteren europäischen Sprachen abfragen: Europa wird sicht- und hörbar gemacht (Abb.20). Auf einer begehbaren interaktiven Europakarte können Informationen zu europäischen Sprachen und Kulturen „an Ort und Stelle“ eingeholt werden. Ein interaktives Rollenspiel lässt den Besucher in die Haut des von seinem Land entsandten EU-Parlamentariers schlüpfen.
Abb.20 Interaktive Wandgraphik, EU Besucherzentrum, Brüssel.
Abb.21 Mediale Bespielung, CERN Besucherzentrum, Genf.
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Das Universe of Particles – Informationszenturm des CERN in Genf – vermittelt Dimension und Faszination der Forschungsarbeit, die rund um den Large Hadron Collider (LHC) geleistet wird. Er ist auf 26 Kilometern Länge rund 100 Meter unter der Erde verlegt. Anhand millionenfacher Teilchenkollisionen erforschen hier die weltbesten Physiker die Grundlagen unserer Existenz. Realdaten werden in eindruckvoller Größe auf ein rundes Display im Zentrum der Ausstellung projiziert, um das sich erklärende Zugänge in fünf Themenbereichen gruppieren. Alle Ausstellungselemente weisen – unabhängig von ihrer Funktion – eine runde, sphärische Formgebung auf (Abb.21). Sämtliche Technik ist darin integriert. Abstrakte, wissenschaftliche Inhalte werden über interaktive Medienstationen begreifbar. Höhepunkt der inszenierten Free-Flow-Ausstellung ist die Main-Show, ein multimediales, dynamisches Raum-Klang-Erlebnis von sechs Minuten Länge. Auf wissenschaftlicher Basis wird in ausdrucksstarken Bildern eine Reise vom Urknall über die Geschichte des Universums bis zur aktuellen wissenschaftlichen Arbeit CERNs geboten. Mittels synchroner Film-, Klang- und Lichtchoreographie wird der Ausstellungsraum alle 30 Minuten selbst zum Exponat.
EPILOG
Inszenierungen sind Live-Erlebnisse, die Erfahrungen immer authentisch, nicht delegierbar und benötigen die persönliche Präsenz der Rezipienten. Jede Raumgestaltung generiert – absichtlich oder nicht – Aufmerksamkeiten in einer bestimmten oder zufälligen Reihenfolge von Eindrücken oder Erlebnissen – ich nenne das Raumchoreographie oder choreographische Abfolge von Raumbildern. Szenografisches Gestalten ist ein schöpferischer Akt mit einer bestimmten Handschrift, also ein Statement, ein Kommentar, eine öffentliche Haltung, und bedeutet damit – nolens volens – Autorenschaft. Das gibt es in keinem Metier ohne Restrisiko. Wie bei Theater- oder Operninszenierungen liegen Triumph und Niederlage nah beieinander, sind Erfolg und Misserfolg eines Romans oder eines Films hochgradig von der Akzeptanz des Publikums abhängig – dies gilt auch für die Szenografie. Objektorientiertes und inszenatorisches Gestalten sind dabei kein Widerspruch, die eingeforderte Authentizität des Erlebens eine Sache der zeitgemäßen Übersetzung und einer dosierten Inszenierung mit intendierter Nachhaltigkeit: „Wegen der Haupt- und Nebenwirkungen in Ausstellungen fragen Sie Ihren Auratiker oder Szenografen.“ Allerdings gibt es keinen „Konzept-Patent-Automaten“, der auf Anforderung das richtige und risikofreie Gestaltungskonzept ausspuckt, denn jede Inszenierung einer Ausstellung oder eines Museums erfolgt individuell und unikatär und ist jedes
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Mal wieder eine Herausforderung an die Verführbarkeit aller Beteiligten. Ohne Mut zum (Rest-)Risiko kein Ergebnis – kein Erfolg und kein Vergnügen. Das Schreiben an Heiner Wilharm schließt dann auch folgerichtig mit den Worten: „Wie Du weißt, verstehe ich mich als Empiriker. Auch deshalb, weil die Szenografie nach wie vor ein weitgehend unerforschter, Gott sei Dank normenloser Freiraum für Gestalter darstellt. In der Szenografie fühle ich mich sehr wohl, weil sie vielleicht einige der wenigen neuen – ich meine wiederentdeckten – Disziplinen des digitalen Zeitalters ist. Ich freue mich sehr auf euer Symposium und die Denker und Begriffsakrobaten.“ Die Freude war und ist ganz meinerseits – to be continued ...
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Hans Dieter Huber DER SHINKANSEN. DIE PERFEKTE INSZENIERUNG DES VERTRAUENS
Tokyo ist eine der größten Städte der Welt. Im engeren Stadtgebiet leben etwa 8,8 Mio. Menschen, im Ballungsraum Tokyo-Yokohama, der praktisch ein riesiger Stadtverbund ist, bewegen sich bis zu 37 Mio. Menschen. Die Bevölkerungsdichte beträgt 5.415 Einwohner/km². Im Vergleich dazu besitzt Dortmund eine Einwohnerdichte von 2.098 Einwohner/km². In Tokyo City leben also fast dreimal so viele Menschen auf demselben Raum wie in Dortmund. Eine besondere Bedeutung kommt daher den gesamten Verkehrs- und Transportsystemen zu. Wenn man sich vergegenwärtigt, was es bedeutet, 34,7 Mio. Menschen jeden Tag mit Trinkwasser und Lebensmitteln zu versorgen, bekommt man eine kleine Vorstellung davon, welche Dimensionen hier tagtäglich zu bewältigen sind. Tokyos Bahnsystem transportiert 11 Mio. Pendler täglich. Der Bahnhof Shinjuku ist das große Einfallstor in die Stadt. 3 Mio. Menschen kommen täglich mit Hilfe von verschiedenen Bahngesellschaften in Shinjuku Station an. Zum Vergleich: Die Deutsche Bahn transportiert in ganz Deutschland täglich etwa nur 4,5 Mio. Menschen. Die Yamanote-U-Bahn-Linie, die alle wichtigsten Zentren Tokyos in Form einer Ringbahn miteinander verbindet, transportiert täglich alleine 3,5 Mio. Fahrgäste. Damit kommt man auf etwa 175.000 Fahrgäste pro Stunde. Der Shinjuku-Bahnhof besitzt über 200 Ausgänge. Wenn man sich hier verläuft, muss man unter Umständen einen kilometerweiten Umweg zurücklegen. Der Hauptbahnhof von Tokyo, die Tokyo Main Station, ist der Ausgangspunkt aller Shinkansen-Züge. Dort fahren täglich über 300 Schnellzüge mit bis zu 360.000 Fahrgästen ab. Während es in New York City einen Central Park, ein Stadtzentrum und eine Metrogesellschaft gibt, gibt es in Tokyo City etwa sieben verschiedene „Central Parks“, sechs Stadtzentren und fünf verschiedene Metrogesellschaften, die alle mit verschiedenen Ticketsystemen arbeiten. Die räumliche, zeitliche und soziale Komplexität des Tokyoter Verkehrssystems ist also außerordentlich groß. Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität. Es muss in der hoch verdichteten Metropole Tokyo ständig und an jeder Ecke inszeniert und gestaltet werden, um die Komplexität des sozialen Zusammenlebens auf ein geordnetes und gerade noch verarbeitbares Maß von Verstehen und Orientierung zu bringen. Deshalb ist es hoch interessant, zu sehen, wie der Shinkansen Vertrauen inszeniert, um die räumliche, zeitliche und soziale Komplexität einer Bahnfahrt durch die hoch
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Abb.1 Tokyo Main Station Map.
Abb.2 Tokyo Metro Fahrplan.
verdichteten metropolitanen Ballungsräume Japans zur höchsten Zufriedenheit der Passagiere zu gestalten. Die Inszenierung beginnt bereits beim Ticket. Es ist mit einem elektronischen RFID-Chip ausgestattet, der den exakten Zugang zum richtigen Abschnitt
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des Bahnhofs und zum richtigen Gleis regelt. Die Bahnhöfe enthalten zahlreiche elektronische Sperren, bei denen man das Ticket einführen muss. Die Sperren sind zwar im Prinzip ständig geöffnet, aber wehe, man versucht, ohne ein gültiges Ticket oder mit einem falschen Ticket durch eine solche Sperre zu laufen. Dann schließt sie blitzschnell innerhalb einer Zehntelsekunde. Es ertönt ein lauter, schriller Alarm und rote Warnlichter leuchten auf. Sofort kommt ein ausgesprochen freundlicher und höflicher uniformierter Bahnbeamter mit weißen Gaze-Handschuhen angelaufen.
Abb.3 a+b Elektronisches Ticket für den Shinkansen (Foto: Hans Dieter Huber).
Mit den RFID-Chipkarten können die Passagiere nur durch die richtigen elektronischen Sperren gehen. Es ist in der Regel nicht möglich, ohne ein solches Ticket überhaupt den Bahnsteig zu betreten. Das heißt, dass es auf den Gleisen erstens keine Passagiere ohne Ticket gibt und man zweitens auch nicht mit einem falschen Ticket auf der falschen Bahnlinie fahren kann. Man muss den Programmierungen der Sperren und der RFID-Chipkarten also vollkommen vertrauen, denn sonst
Abb.4 Elektronische Sperren in Tokyo Main Station (Foto: Hans Dieter Huber).
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kommt man gar nicht auf das Gleis. Bei Europäern in Japan ist es sehr beliebt, zwar auf dem richtigen Bahnsteig zu stehen, aber in die falsche Richtung zu fahren. Denn die U-Bahnen verkehren in Japan im Linksverkehr. So schreibt Cees Noteboom in Geflüster auf Seide gemalt: „... es müsste einen speziellen Ablaß geben für das Warten auf falschen Bahnsteigen, das Umsteigen in einen Zug, der zwar denselben Namen trägt wie der gesuchte, aber in die entgegengesetzte Richtung fährt ...“1
Abb.5 Edelstahlgitter und Putzkolonne am Shinkansen-Bahnsteig, Tokyo Main Station (Foto: Hans Dieter Huber).
Abb.6 LED-Display zur Anzeige von Zug, Abfahrtszeit und Waggon (Foto: Hans Dieter Huber).
Wenn man endlich durch die verschiedenen elektronischen Sperren auf das Gleis gelangt ist, ist man als Europäer darüber erstaunt, dass der Gleiskörper mit einem Edelstahlgitter abgesichert ist. Lediglich an wenigen, äußerst schmalen Abschnitten befindet sich kein Gitter. Japan hat mit 30.000 Selbstmorden im Jahr eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Zur Verhinderung von Fahrgastunfällen sind an wichtigen Stationen verschiedene Formen von Barrieren errichtet worden, die einen absichtlichen oder unabsichtlichen Sturz in den Gleiskörper verhindern sollen. Die meisten Barrieren sind halb hoch bis zur Brustmitte. Manche besitzen auch ein 1
Cees Noteboom: Geflüster auf Seide gemalt. Reisen in Asien. Frankfurt am Main 2008, S.281.
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mechanisches Tor, das in den Boden versenkt wird, sobald der Zug eingefahren und zum Stehen gekommen ist. Andere Modelle wiederum schließen mit einer durchsichtigen, über 3 Meter hohen Trennwand den Bahnsteigsbereich vollständig vom Gleisbereich ab. Nach Einfahrt des Zuges öffnen sich seitliche Schiebetüren wie bei einem Aufzug. Zusätzlich gibt es stereometrische Kameras auf den Bahnsteigen, die mit Hilfe von hochentwickelter Motion-tracking-Software Personen erfassen, die sich auf dem Gleiskörper bewegen, und automatisch die Züge zum Halten bringen. Von der Decke hängen LED-Displays, die im Sekundenwechsel den nächsten einfahrenden Shinkansen-Zug anzeigen, seine Nummer und die Abfahrtszeit, sowie Informationen über den Waggon und die Sitzplatznummern enthalten, der hier millimetergenau zum Stehen kommen wird. Auf dem Boden ist durch eine graue, L-förmige Pflasterung angezeigt, wie man sich bei Einfahrt des Zuges aufstellen soll. Jeder Fahrgast weiß also vorher schon ganz genau, wo er sich auf welche Weise aufzustellen hat. Dies sorgt für ein reibungsloses und blitzschnelles Ein- und Aussteigen. 30 Sekunden, bevor der Zug mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern in den Bahnhof einfährt, ertönt 10 Sekunden lang ein lautes, hohes und schrilles elektronisches Warnsignal, das die Fahrgäste auch auf akustische Weise auf die bevorstehende Einfahrt des Zuges vorbereiten soll. Der Shinkansen hält millimetergenau an den vorberechneten Zugängen. In Tokyo Station, der Endhaltestelle, warten zusätzlich vor jedem Eingang zwei rosa gekleidete Putzmäuse und ein hellblau gekleideter Putzmäuserich, die in Windeseile die Waggons betreten, sie vom Müll reinigen, die Sitzflächen mit einem Lappen abputzen und mit sportlich geübtem Schwung die Zweier- und Dreiersitzreihen um 180° in die neue Fahrtrichtung wenden. Innerhalb von 3 Minuten sind alle 16 Waggons gesäubert und die Sitzreihen in die neue Fahrtrichtung gedreht. Dann können die Passagiere einsteigen und Sekunden später schießt der Zug bereits mit über 100 Stundenkilometern aus dem Bahnhof.
Abb.7 Die Putzkolonne wendet die Sitzreihen (Foto: Hans Dieter Huber).
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Japanische Züge kennen keine Verspätung. Eine Verspätung von 30 Sekunden wird von vielen Japanern bereits als ärgerlich empfunden. Statt im Stundentakt wie beim ICE fahren die Shinkansen-Züge von 5 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts im 4-Minuten-Abstand. Dies bedingt eine besonders hohe Präzision in der gesamten Abwicklung der Zugfolge und der Sicherheitssysteme, die man in der gesamten Inszenierungsshow nicht sehen kann. Sie stellt die verdeckte Außenseite der Inszenierung, die ob-szöne Materialität des Kontrollzentrums, dar. Erst ein Blick hinter die Bühne enthüllt die komplexe Ablaufplanung und die Sicherheitslogistik von Japan Rail. Die Züge der Tokyoter Metro werden mit Digital ATC (Automatic Train Control) gesteuert, was kürzere Abstände und sanftere Bremsvorgänge ermöglicht. Hinzu kommen besondere Sicherheitsmaßnahmen gegen ein mögliches Entgleisen bei einem Erdbeben. Denn Tokyo liegt exakt an der Schnittstelle zwischen der asiatischen, der pazifischen und der australischen Festlandsplatte. Die Wahrscheinlichkeit für ein schweres Erdbeben der Stärke des Kanzai-Bebens in Kobe von 1995 liegt in den nächsten 30 Jahren bei 70%. Das heißt, dass das schwere Erdbeben mit vermutlich Tausenden von Toten mit Sicherheit kommen wird. Nur weiß man leider nicht, wann dies der Fall sein wird. Pro Tag finden in der Region etwa 300 kleine Beben statt. JR Central, der Betreiber der Shinkansen-Züge, hat neben der Auswertung der seismographischen Daten des Nationalen Erdbebenforschungsinstitutes in Tsukuba ein eigenes Seismographen-Vorwarnsystem entlang der Strecken installiert. Es reagiert vor allem auf die kleineren Primärwellen, die einem Hauptbeben in einer niedrigeren Frequenz etwa eine Minute vorausgehen, und stoppt die Züge durch Abschalten der Energiezufuhr.
Abb.8 Der Shinkansen vor dem Fujijama.
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Der Shinkansen stellt ein nationales Symbol Japans dar. Er wird deshalb gezielt zur Inszenierung und Selbstdarstellung Japans benutzt. Berühmt und bekannt ist das Bild, auf dem der Shinkansen am Fujijama, dem Heiligen Berg Japans, vorbeifährt. Als erster Hochgeschwindigkeitszug der Welt, der 1964 pünktlich zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Tokyo in Betrieb genommen wurde, hatte er bisher noch keinen Unfall mit Personenschaden. Er verkehrt auf eigenen kreuzungs- und weichenfreien Normalspurgleisen, auf denen kein anderer Zugtyp verkehren kann. Auch dies trägt erheblich zur Sicherheit und zum Vertrauen in die Züge bei. Es gibt drei Typen von Shinkansenzügen, den Hikari = Licht, den Kodama = Echo und den Nozomi = Hoffnung oder Wunsch, den schnellsten Zug. Die neueste NozomiBaureihe, der N 700, ist mit einer besonderen aerodynamischen Schnauze versehen, die den Druckausgleich beim Einfahren in Tunnel bei hoher Geschwindigkeit für den Fahrgast angenehmer machen soll. Der Zug ist außerdem mit einer neu entwickelten Neigetechnik ausgestattet, die eine höhere Fahrgeschwindigkeit in Kurven ermöglicht. Der Nozomi benötigt für die 515 km lange Strecke von Tokyo nach Osaka lediglich 2 Std. und 20 Minuten. Im Vergleich dazu braucht die Deutsche Bahn für dieselbe Strecke von Dortmund nach Freiburg im Breisgau mindestens 4,5 Stunden und man muss ein- bis zweimal umsteigen. Ob man den Anschlusszug bekommt, ist ebenfalls oft fraglich.
Abb.9 Der Auftritt des Schaffners (Foto: Hans Dieter Huber).
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Abb.10 Bento und Sushi – sorgfältig für die Zugfahrt verpackt (Foto: Hans Dieter Huber).
Auch der Auftritt des Schaffners verdient Beachtung und stellt eine Meisterleistung der Inszenierung von Vertrauen dar. Kurz nach Abfahrt in Tokyo betritt er den Waggon durch die Schiebetüre, bleibt stehen, die Türe schließt sich hinter ihm, er nimmt die Mütze ab, verbeugt sich tief und hält eine laute und deutliche Ansprache von etwa einer Minute Länge an die gesamten Insassen des Wagens. Dann verbeugt er sich wieder und tritt, rückwärts gehend, durch die Türe ab und verschwindet. Sie schließt sich. Nach einigen Minuten betritt er wieder durch dieselbe Türe den Waggon, verbeugt sich erneut, hält eine kurze Ansage und geht dann durch die Reihen, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Man kann auch nicht Shinkansen fahren, ohne sich etwas zum Essen mitgenommen zu haben. Die Japaner sind bekanntermaßen hervorragende Verpackungskünstler. Der Reiseproviant gehört zur Inszenierung des Vertrauens dazu, da Essen im Shinkansen die Nerven beruhigt und die Seele glättet. Der Verkauf, die Verpackung und der Verzehr eines Bentokästchens oder eines Sushi-Brettchens stellen eine hochästhetische Inszenierung innerhalb des Dispositives der ShinkansenGesamtinszenierungsstrategie dar. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten und verallgemeinern. Der Fahrgast des Shinkansen bewegt sich stets auf der Innenseite der Vertrauensinszenierung. Er ist das Ziel, der Spielball und das gelenkte Element der Inszenierung von JR Central. Es gibt aber auch Grenzen. Sie sind immer Zwei-Seiten-Formen, die eine Innen- und eine Außenseite besitzen. Eine Grenze kann daher, von der Innenseite betrachtet, vollständig anders aussehen als von ihrer Außenseite her gesehen. Die Grenzen der Inszenierung sind für den Shinkansen-Reisenden nur sehr schwer beobachtbar. In Form der Kameras, der Displays, der uniformierten Bahnbeamten, der Sperren und Türen, die sich öffnen und schließen, oder auch nicht, in den Formen der gelben
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Reliefleisten am Boden, wird das Dispositiv der Inszenierung sichtbar. Sie haben aber auch eine andere Seite, die in der Inszenierung zum Verschwinden gebracht wird. Es ist die Außenseite, die Rückseite der Kontrollzentren, der Geheimgänge, der Kabelschächte, der Transportbänder, der Mannschaftsräume, der Mitarbeiterzugänge, der nächtlichen Zugwartungen und Achsenprüfungen, der Server-, Rechner- und Softwaretechnologie, die unsichtbar hinter dem Rücken des Reisenden seine Bewegungen steuert, kontrolliert und die nächsten Schritte in seine Zukunft antizipiert. Die Außenseite der Inszenierung des Vertrauens ist obszön. Im Sinne des lateinischen obscenam, des außerhalb der Bühne Gelegenen, wird nur auf der Außenseite das mediale Dispositiv sichtbar, welches die Inszenierung des Vertrauens erzeugt, kaschiert, steuert und kontrolliert. Nur in der Störung und im Ausfall des Dispositivs wird die Künstlichkeit der Vertrauenskonstruktion sichtbar. Im Zusammenbruch, in der Fehlfunktion und im Chaos zeigt sich das inszenierende Dispositiv selbst und gewinnt seine räumliche, zeitliche und soziale Maximalkomplexität wieder zurück.
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Thea Brejzek SZENOGRAFIEN DES AUSNAHMEZUSTANDS. Ein Charakteristikum der Moderne, so der britische Soziologe Anthony Giddens, ist die Trennung von Zeit und Raum durch veränderte und zunehmend schnellere Kommunikationssysteme und der daraus resultierende Prozess des „disembedding“ und „reembedding“, des „lifting out“ und des „pushing back“ von sozialen Realitäten und Beziehungen. Die eng miteinander verknüpften sozialen Kategorien von Vertrauen und Risiko hingegen, so Giddens, binden Zeit und Raum aneinander: Trust is also about the binding of time and space, because trust means giving commitment to a person, group or system across future time. The notion of trust also tends to be a modern notion. Obviously, there are forms of what we could now call trust in traditional cultures. Most such cultures, however, don’t have a notion of trust – or risk. Risk and trust are closely bound up with one another. Trust – in a person, or in a system, such as the banking system – can be a means of coping with risk, while acceptance of risk can be a means of generating trust.1
Während die „riskante Vorleistung Vertrauen“2 über Zeit und über das Bekenntnis zu einem Individuum oder einem System operiert, handelt es sich bei der Kategorie des Risikos, so Giddens, um die aktive Einschätzung und Beurteilung zukünftiger Gefährdungen. Giddens weiterdenkend, ist anzunehmen, dass Vertrauen und Risiko, als soziale und politische Kategorien aneinandergekoppelt, dann systemstabilisierend wirken, wenn sie sich im Gleichgewicht befinden. Als Umkehrschluss kann dann gelten: Die Entkoppelung von Vertrauen und Risiko, als konstitutives Element oder Auswirkung eines Konflikts, ist systemgefährdend.
1.
Im Folgenden werden drei sehr unterschiedliche szenografische Handlungen und Konzepte in physischen und/oder ideologischen Konflikträumen zur Diskussion gestellt, die an den entkoppelten Kategorien von Vertrauen und Risiko ansetzen und mit partizipativen Strategien den von Giddens identifizierten Prozess des 1
Anthony Giddens, Christopher Pierson: Conversations with Anthony Giddens. Stanford University Press, Stanford 1998, S.102. 2 Vgl. Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 2000.
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„reembedding“ räumlich inszenieren. Ausgehend von der These, dass in solchen Ausnahmeräumen die Teilhabe an szenografischen Raumhandlungen gesellschaftliche Konstruktions- und Wirkungsmechanismen transparent macht und diese, zumindest für die Dauer der performativen Aktion, als dynamisch und veränderlich erfahrbar werden, wird gefragt werden, ob und wie spezifische Raumhandlungen und -setzungen Szenografien des Ausnahmezustands und Räume der Begegnung temporär konstituieren können.
1. Rolf Abderhaldens Mapa Teatro – Laboratorio de Artistas (Kolumbien) besetzte über fünf Jahre hinweg gemeinsam mit Anwohnern, Künstlern und Sozialwissenschaftlern einen innerstädtischen Raum im Abrissviertel El Cartucho, Bogotá, und stellte der Erosion von kulturellen Erinnerungen und Handlungen einen performativen Gegenwartsraum gegenüber. Die palästinensisch-israelische Künstlergruppe Artists Without Walls agiert mit temporären szenografischen Interventionen auf beiden Seiten der Mauer in der West Bank und ermöglicht die (mediale) Kommunikation zwischen den Anwohnern. Die integrativen Inszenierungen3 der australischen Theatergruppe Back to Back Theatre mit einem Schauspieler-Ensemble mit und ohne „geistige Behinderung“ wollen als modellhafter Gegenentwurf zu einer Gesellschaft der Grenzziehung zwischen Normalität und Abweichung verstanden werden. Beobachtbar ist, dass die großteils ortsspezifischen Interventionen und Inszenierungen der hier diskutierten Künstlergruppen auf der Identifizierung gesellschaftlicher und politischer Grenzziehungsprozesse gründen: zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten, zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Bewohnern eines großtädtischen Armen-Quartiers und Vertretern städtischer Interessen. Giorgio Agambens Konzept des Ausnahmezustands und des darin existierenden homo sacer, zeigt auf, wie Grenzziehungsprozesse auf der Grundlage gesellschaftlich mehrheitlicher oder politisch mächtiger Wertungen gründen: Die Zuschreibung von Gefährdung durch „das Andere“ oder „die Anderen“ erleichtert und ermöglicht die ideologische und (in der Folge) räumliche Ausgrenzung.4 Weitergedacht werden soll Agambens Konzeption des rechtsfreien, virtuellen Feldes hin zur Ermöglichung von Begegnung in ebendiesem. So liegt der Fokus in der Darstellung der Arbeiten von Mapa Teatro, Artists Without Walls und Back to Back Theatre auf der Diskussion ihrer Konzeption partizipativer, szenografischer Raumfiguren und Handlungsanweisungen, hier subsumiert unter der räumlich-szenischen Re-Integration von Vertrauen und Risiko („re-embedding“). 3 Vgl. Paul Divjak: Integrative Inszenierungen. Theaterwissenschaftliche Dissertation im Doktoratsprogramm Szenografie, Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK) und Universität Wien 2010. 4 Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo Sacer II.I, Frankfurt am Main 2004.
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Im Folgenden wird gefragt werden, wie in den partizipativen und mehrheitlich ortsspezifischen Projekten und Interventionen von Mapa Teatro, Back to Back Theatre und Artists Without Walls durch räumliche Konfigurationen und den Einsatz spezifischer Medien eine explizite Kritik des öffentlichen, urbanen Raums, der zunehmend nach Kriterien des Einschlusses und des Ausschlusses konstruiert ist5, performativ entwickelt wird. Kann im Dialog mit den räumlichen, architektonischen und sozialen Besonderheiten der Projekt-Standorte diese Kritik über Konzepte des Ermöglichens von Begegnung, unmittelbar und/oder medial-mittelbar, kommuniziert werden? Liegt in der Begegnung bereits eine Übernahme von Verantwortung (etwa im Sinne der „Ethik einer Ethik“ von Emmanuel Levinas)? Ist die Begegnung der Schlüssel zu einer kritischen Betrachtung einer potenziellen Demokratisierung von Kunst durch partizipative Strategien? Und wird durch die Begegnung nicht erst die Auseinandersetzung um die Nachhaltigkeit partizipativer relationaler Praxis6 Notwendigkeit?
2.
Auf die prekären sozialen Entwicklungsprozesse, die Giddens räumlich mit „disembedding“ und „reembedding“ beschreibt, mit der „Herauslösung“ und dem „Wiedereinsetzen“ von durch globale Kommunikation veränderten gesellschaftlichen Konstellationen, reagieren Künstler und Theatermacher des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts mit der Forderung nach und der Einrichtung von solchen Situationen und Räumen, die die gleichberechtigte Begegnung zwischen Kunstwerk, Kunstproduzent und Kunstrezipient ermöglichen und den Zuschauer/Partizipanten zu einer kritischen wie aktiven politischen Haltung führen sollen. Partizipation als emanzipatorische Strategie bedarf nicht unbedingt der physischen Mobilität des Zuschauers, auch nicht der physischen Nähe zum Geschehen. Sie gründet vielmehr auf der Intentionalität der Theater- oder Kunstaktion in der Schaffung performativer Situationen. So bezieht sich Walter Benjamin auf Bertolt Brecht, wenn er in dessen epischem Theater der Distanz das politische Ideal des Zuschauers als Produzent und Kollaborateurs verwirklicht sieht: An einem Beispiel will ich Ihnen zeigen, wie Brechts Auffindung und Gestaltung des Gestischen nichts als eine Zurückverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Methoden der Montage aus einem oft nur modischen Verfahren in ein menschliches Geschehen bedeutet. – Stellen Sie sich eine Familienszene vor: die Frau ist gerade im Begriff, eine Bronze zu ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das 5 Vgl. Steven Flusty: Building Paranoia, in: Architecture of Fear, S.48-52, zitiert nach Zygmunt Bauman: Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty, Cambridge UK: Polity Press 2007. 6 Vgl. Bourriaud 2002 und Claire Bishop: Antagonism and Relational Aesthetics, in: October, Fall 2004, S.51-79.
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Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen. In diesem Augenblick tritt ein Fremder ein. Der Vorgang ist unterbrochen; was an seiner Stelle zum Vorschein kommt, das ist der Zustand, auf welchen nun der Blick des Fremden stößt: verstörte Mienen, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. Es gibt aber einen Blick, vor dem auch die gewohnten Szenen des heutigen Daseins sich nicht viel anders ausnehmen. Das ist der Blick des epischen Dramatikers. Er stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk das dramatische Laboratorium gegenüber.7
Die Schaffung von Situationen, wie sie Brechts Dramen kennzeichnen, findet zwar im Gegensatz zu den sowjetischen Propaganda-Reenactments der 1920er Jahre8 oder des ‚unsichtbaren‘ Straßentheaters des lateinamerikanischen Theatermachers Augusto Boal in der black box des Theaters statt, zielt aber wie jene auf politische Bewusstseinsmachung, Ermächtigung und Veränderung hin. 1957 spricht Guy Debord im Zusammenhang mit den urbanen Interventionen der SI von der „Konstruktion von Situationen“9 und betont die Intentionalität ihrer partizipativen Aktionen im Stadtraum. Konzipiert als performativer Sprengstoff, negieren die ‚Spiele‘ der Situationisten das ludische Element des Wettbewerbs, so Debord, und provozieren das kapitalistische Gefüge, wie es sich im urbanen Raum in Architektur, Bewegungs- und Verhaltensmustern manifestiert: The construction of situations begins on the other side of the modern collapse of the idea of the theatre. It is easy to see to what extent the very principle of theatre – non-intervention – is attached to the alienation of the old world. (...) The situation is thus made to be lived by its constructors. The role of the ‚public‘, if not passive at least a walk-on, must ever diminish, while the share of those who cannot be called actors but, in a new meaning of the term, ‚livers‘, will increase.10
Die Portalbühne des bürgerlichen Theaters und die damit verschränkten Illusions-Mechanismen von Teilhabe und Kritikfähigkeit des Zuschauers am Gezeigten werden von Debord einem kapitalistischen Staatsapparat und der mit der kapitalistischen Ideologie einhergehenden Entfremdung des Individuums zugeordnet. In der subversiven Kraft der partizipativen Aneignung des Stadtraumes über, zunächst, einmalige und spontane Situationen hin zur Schaffung von Umgebungen sieht Debord die Chance zu einer gesellschaftspolitischen Umwandlung. 7 Walter
Benjamin: Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Faschismus in Paris am 27. April 1934, in: ders., GS Bd II, Frankfurt am Main 1982, S.697ff. (zit.nach: http://www. medienkunstnetz.de/source-text/123/ (Zugriff am 2.9.2010). 8 Vgl. Evreinov 1920, Stürmung des Winterpalastes in St. Petersburg. 9 Guy Debord: Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz und andere Schriften. Hamburg: Edition Nautilus – Lutz Schulenburg 1980 (1957). (Guy Debord: Towards a Situationist International (1957), in: Ken Knabb (ed.): Situationist International Anthology, Berkeley: Bureau of Public Services, 1982, rev edition 2006 (Online). Available at: http://www.bopsecrets. org/SI/1/situations.htm. (Zugriff am 3.12.2009). 10 Guy Debord: Preliminary Problems in Constructing a Situation (1958), in: Ken Knabb (ed.), Situationist International Anthology, Berkeley: Bureau of Public Services, 1982, rev edition 2006 (Online). Available at: http://www. bopsecrets.org/SI/1.situations.htm. (Zugriff am 3.12.2009).
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Emphatisch beschreibt Debord die Potenziale partizipativer Strategien, doch das von ihm postulierte Neue, das Unbekannte, das Noch-nicht-Näher-zuBeschreibende der konstruierten Situationen, die neue, zu definierende Rolle der Künste und der Künstler, trägt, gerade im heutigen Rückblick, utopischen Charakter. So ist das Potenzial der gesellschaftsverändernden Strategien wohl gerade in ihrer vagen Formulierung durch Debord ein Grund für die aktuelle Auseinandersetzung mit den politisch-künstlerischen Experimenten der SI. Der französische Kurator und Kunstwissenschaftler Nicolas Bourriaud beschreibt die Entwicklung von Debords „Gesellschaft des Spektakels“ zu einer „Gesellschaft von Statisten“ – „The Society of Extras“: „The ideal subject of the society of extras is reduced to the condition of a consumer of time and space.“11 Gegen die Statistenrolle des Einzelnen im Dienste des Spektakels und die globalisierte Maschine des zeitgenössischen Kunstmarktes entwickelt Bourriaud den Begriff der „Relationalen Kunst“ und der „Relationalen Ästhetik“ in seiner gleichnamigen Publikation.12 Diese beruht als „ästhetische Theorie darauf (...), Kunstwerke in Bezug auf ihre Repräsentation, Produktion oder Begünstigung von zwischenmenschlichen Beziehungen zu beurteilen“. In diesem Sinne versteht er „Relationale Kunst als ein Gefüge künstlerischer Praxen, die als ihren praktischen und theoretischen Ausgangspunkt die Gesamtheit menschlicher Beziehungen und deren sozialen Kontext nimmt, als vielmehr selbständige und private Räume“.13 Die Kochparties des thailändischen Künstlers Rirkrit Tiravanija, die in Galerien oder in den Privaträumen von Sammlern stattfinden und deren materielles Derivat die vom Künstler niedergeschriebenen Rezepte oder die Ingredienzien sind, bilden für Bourriaud ebenso Ausdruck einer solchen Relationalen Ästhetik wie das 1971 eröffnete Restaurant des US-amerikanischen Künstlers Gordon Matta-Clark oder die verstörenden tableaux vivants von Vanessa Beecroft. „Art is a state of encounter“, schreibt Bourriaud14 und seine Beispiele aus der künstlerischen Praxis seit 1970 sollen zeigen, wie in der Inszenierung von partizipativen Räumen gesellschaftliche Konstruktionen von Gemeinschaft sichtbar und veränderbar werden.15 Kunst als Zustand der Begegnung, von Bourriaud beobachtet und als solche benannt, trägt in diesem Sinne dynamischen Charakter, ist prozessorientiert und 11
Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics. Paris, Les Presses du réel, 2002, S.9. Ebd. 13 Ebd., S.112-113. (Übersetzung: T.B). 14 Ebd., S.18. 15 Boris Groys spricht in diesem Zusammenhang vom Aufscheinen der Ambivalenz eines zeitgenössischen Begriffs von Freiheit – zwischen souveräner Freiheit und institutioneller Freiheit – im Raum der künstlerischen Installation, die sich den Ausstellungsraum aneignet. Boris Groys: The Politics of Installation, S.8, http://www.e-flux.com/journal/view/31 (Zugriff am 30.8.2010). 12
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bindet den Rezipienten räumlich und kommunikativ in mehr oder minder offene und kontextfremde Handlungen ein. Die Ausstellung selbst soll dabei als Spielfeld, Handlungsanweisung und Kommunikationsplattform operieren. Produkt und Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Realität des zweckorientierten und ökonomisch ausgerichteten globalen Marktes, findet in den Szenarien relationaler künstlerischer Praxis eine Umformung des öffentlichen oder halböffentlichen Raumes statt. In partizipativen Aktionen kann vormals stabil definierter Raum (Kunstraum, urbaner Raum) über Handlung destabilisiert und umdefiniert werden. Erst in den politisch aufgeladenen Ausschlusszonen des urbanen Raumes jedoch kann etwa die Harmlosigkeit eines gemeinsamen Kochens zu einem Instrument temporärer, partizipativer Raumaneignung werden. Künstlerische Interventionen im urbanen Raum vermögen zum Einen, „interdictory spaces“ („verbietende Räume“ nach Flusty16) als solche sichtbar zu machen, und zum Anderen, diese durch alternative (und partizipative) Nutzungen einem Macht- und Raumdiskurs zu öffnen.
3.
„Space is the possibility of an encounter“, antwortet Rolf Abderhalden, kolumbianischer Künstler, Regisseur und Szenograf, Co-Gründer des Mapa Teatro in Bogotá, auf die Frage, wie seine Auffassung von „Raum“ seine künstlerisch-politische Praxis bestimme.17 Mapa Teatro Laboratorio de Artistas (Kolumbien) entwirft seit 1984 gemeinsam mit Künstlern, Wissenschaftlern und den Bewohnern marginalisierter sozioökonomischer und kultureller Gebiete ortsspezifische performative Projekte. Abderhalden verortet die interaktiven, performativen Arbeiten von Mapa Teatro im Bereich der Relationalen Kunst, geht jedoch in der Zuschreibung der Intentionalität der transdisziplinären Gruppe über die Schaffung von Gegenwartsräumen und kurzweiligen Aktivitäten hinaus. Mapa Teatros künstlerische Praxis, bei Bourriaud 16
In: Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty, seiner Studie zur „endemischen Unsicherheit“ menschlicher Existenz angesichts des Übergangs von einer „festen“ zu einer „flüssigen“ Modernität, zitiert der polnische Soziologe Zygmunt Bauman (Bauman 2007) eine Studie des US-amerikanischen Urbanismus-Kritikers Steven Flusty, in der dieser die Implementation von ihm als „interdictory spaces“ definierter urbaner Ausschluss-Zonen kritisiert. Wörtlich als „verbietende Räume“ zu übersetzen, öffentliche Räume also mit einer negativen Intention, der Intention nämlich zu trennen, auszusondern und auszuschließen, identifiziert Flusty solcherart konzeptionierte und gebaute öffentliche Räume über deren sinnlich erfahrbare Eigenschaften: „slippery space“ – Raum, der nicht erreicht werden kann, „prickly space“ – Raum, der durch hoch angebrachte Wassersprinkler oder stark angeschrägte Kanten daran hindert, sich niederzulassen, oder „jittery space“ – technologisch überwachter Raum, der nicht unbeobachtet benutzt werden kann. (Flusty weist nach, wie im Lefebvre’schen Sinne öffentlicher Raum ideologische Konstruktion, Handlungs- und Verhaltensanleitung ist (vgl. Flusty in Bauman 2007, a.a.O., S.77-78). 17 Antwort von Rolf Abderhalden auf die Frage der Autorin, Convenerin des Symposiums „Expanding Scenography 2: On Artists/Authors“, Belgrad 2010.
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noch „Zustand der Begegnung“18, sozial und relational gedacht, aber doch statisch benannt, schafft in partizipativen Szenografien nachhaltige politische und soziale Möglichkeitsräume. Der sich über mehrere Jahre erstreckende Abriss-Prozess des Quartiers El Cartucho in Bogotá und die Anlage einer öffentlichen Parkanlage an dessen Stelle ist Abderhalden Thema und Anlass, das Verschwinden eines Ortes und das Entstehen eines Nicht-Ortes19 künstlerisch zu artikulieren: By documenting the disappearance of a place, and the appearance of a non-place, Mapa Teatro seeks to make visible molecular places where residues of otherness remain, traces of that which has been lost, narrations that reconfigure the neighborhood’s memory. Mapa reiterates its interest in inscribing, to the end, its experience as a witness through an artistic gesture.20
Ebenso, wie mit dem Nicht-Mehr-Erkennen eines Ortes dessen physische Gestalt zu verstehen ist, ist damit auch dessen immaterielle Gestalt in Form der Zugehörigkeit zu diesem Ort und den damit verbundenen Erinnerungen gemeint. Der vertraute Ort nähert sich im Abriss-Prozess und der Dislozierung der Bewohner einem unbekannten Nicht-Ort. In den ortsspezifischen, von einem professionellen Ensemble gemeinsam mit Anwohnern geschaffenen partizipativen künstlerischen Interventionen im Stadtraum und in den Industriebranchen Bogotás schlägt Mapa Teatro den Bogen zwischen „Mikropolitik und Poetik“.21 Zunehmend und unaufhörlich werden im Abrissprozess des Quartiers, Lebens- und Geschäftszentrum seiner Bewohner, die anfangs identifizierten, systemstabilisierenden Kategorien „Vertrauen“ und „Risiko“ durch den ehrgeizigen Stadtentwicklungsplan Bogotás entkoppelt. Es entsteht ein physischer und immaterieller Ausnahmeraum, in dem Mapa Teatro eine nonhierarchische, temporäre und veränderliche Szenografie entwickelt. (Abb.1) In der relationalen, szenografischen Raumfigur, die sich über 4 Jahre hinweg parallel zum Abrissprozess entwickelt und verhält, artikuliert Mapa Teatro den politischen Konflikt in einer Reorganisation, so die These hier, von Vertrauen und Risiko. In der „mikropolitischen“ Intervention vor Ort, so Abderhalden, und mit den Mitteln von „oral history“, medialer Dokumentation und Vermittlung, Drama und 18
Bourriaud, Relational Aesthetics, a.a.O., S.18 Vgl. Marc Augè: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994, S.92: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.“ Und, weiter: „Ort und Nicht-Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs Neue seine Spiegelung findet.“ (S.94) 20 Rolf Abderhalden: The Artist as Witness. An Artist’s Testimony. Vortrag an der Academia Superior de Artes de Bogotá, Manuskript, 2007. 21 Vgl. Abderhalden, On Artists/Authors, a.a.O. 19
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Abb.1 Mapa Teatro, Proyecto Prometeo 2003 (Fotograf: Fernando Cruz). (Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber).
Tanz wird der identitätsbedrohende Raumverlust durch die Anwohner „poetisch“ artikuliert, so Abderhalden weiter, und gleichzeitig ein urbaner Diskursraum eröffnet: Abderhalden sieht das mehrjährige transdisziplinäre Projekt Cùndua mit den sozial unterprivilegierten ehemaligen Anwohnern des Santa Inès-El Cartucho Quartiers in Bogotá als künstlerisch-politische Aktion im virtuellen Feld des Agamben’schen Ausnahmezustands.22 In dem „geduldeten“ Areal außerhalb des Gesetzes beginnt Abderhalden 2001 mit den homines sacri von Bogotá, die architektonische, kulturelle und politische Erosion des Barrios über jeweils ein Jahr hinweg zu begleiten, zu dokumentieren und als work-in-progress einer Öffentlichkeit zu präsentieren. Zwischen 2001 und 2005 entstehen im Jahresabstand mehrere Projekte im rechtsfreien Raum des Cartucho: Prometheus: First Act (2002), und Prometheus: Second Act (2003) werden als performative Installationen auf der Grundlage des Textes Die Befreiung des Prometheus von Heiner Müller (in: Zement 1972) auf dem Abrissgrundstück des Quartiers erarbeitet, geprobt und aufgeführt. Wie für Prometheus (und den Adler) in Müllers Bearbeitung des Mythos ist der rechtsfreie Ausnahmeraum der Außenseiter 22
Vgl. Abderhalden, The Artist as Witness, a.a.O. Giorgio Agamben entwickelt seine dreibändige Homo-Sacer-Serie (seit 1995) mit Rekurs auf Walter Benjamins achte These zur Geschichte (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), in: ders., GW Band I/II, Frankfurt am Main 1991, S.690-708), nach der Faschismus keine Ausnahme eines historisch normalen Fortschritts sei. Es sei vielmehr der Ausnahmezustand als die historische Norm zu erkennen. Nach Agamben manifestiert sich der Ausnahmezustand (als die gesellschaftliche Norm) räumlich und ideologisch im NS-Konzentrationslager oder im US-Gefangenenlager Guantanamo. Die Lagerinsassen sind, hier übernimmt Agamben den aus dem römischen Recht stammenden Begriff, homines sacri, Vogelfreie, die, vom Staat verurteilt und von der offiziellen Ökonomie ausgeschlossen, aber geduldet sind.
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des Cartucho diesen Heimat geworden. Mit Kerzen und Laternen stecken die ehemaligen Anwohner des Cartucho die Grundrisse ihrer abgerissenen Häuser und Wohnungen ab, tanzen und singen auf, in und neben den Abrissruinen ihres Quartiers und erzählen in eigenen Texten und Auszügen aus dem Text von Heiner Müller von einem Leben abseits der offiziellen Ökonomie der Stadt. (Abb.2)
Abb.2 Mapa Teatro, Proyecto Prometeo 2003 (Fotograf: Fernando Cruz).
Größtenteils vom Recycling-Handel lebend, dessen Zentrum das Cartucho war, wurde den Anwohnern nicht nur ihr Lebensmittelpunkt, sondern vielmehr ihr gesamtes soziales und wirtschaftliches Gefüge durch den Stadtentwicklungsplan entzogen. Konzeptionelle und ethische Grundlage der temporären Szenografien von Santa Inés zwischen der Erosion eines sozialen und kulturellen Gefüges und der Gleichzeitigkeit von performativen Handlungen und Praxen an eben diesem Ort ist Abderhaldens Verständnis von „Raum als dem, der das Potential zur Begegnung berge“.23 Aus der Übernahme von Verantwortung als Folge dieser Begegnung (durchaus im Levinas’schen Sinne) resultiert Mapa Teatros nachhaltige Auseinandersetzung mit der Lebens- und Arbeitswelt der Bewohner von El Cartucho. So endet diese Auseinandersetzung auch nicht, als das Quartier vollständig abgerissen ist und mit einem Bauzaun umschlossen wird. Mapa Teatro installiert Monitore in den Bauzaun, auf denen Aufzeichnungen der performativen Projekte zu sehen sind, historische und neuere Aufnahmen des Cartucho sowie Detail-Interviews mit ehemaligen Anwohnern. Es spricht für die Relevanz des Projekts für die Bewohner auch angrenzender Quartiere, dass die Installation nicht vandalisiert wird. 23 Antwort von Rolf Abderhalden auf die Frage der Autorin, Convenerin des Symposiums „Expanding
Scenography 2: On Artists/Authors“. Belgrad 2010, Übers. der Autorin.
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Mit den folgenden drei Projekten (2003-2005) verlässt Mapa Teatro das ehemalige Territorium des Ausnahmezustands und übersetzt die oral histories und kulturelle Handlungen der ehemaligen Bewohner in installative, interaktive Zusammenhänge in Museums- und Theaterräumen. (Abb.3a,b)
Abb.3a Mapa Teatro, Proyecto Prometeo 2003, (Fotograf: Ximena Vargas).
Abb.3b (Fotograf: Fernando Cruz).
In der nachhaltigen Konzeption und Realisierung ist sich Abderhaldens Projekt der „Zeugenschaft“24 ebenso der Verantwortung für die künstlerische Intervention bewusst wie der (politischen) Grenzen derselben. Mapa Teatros performative Praxis entgeht durch die Konzentration auf die Begegnung mit dem Individuum als Sozialwesen mit individueller und kollektiver Geschichte vielleicht gerade der politischen Naivität, die die Kunstwissenschaftlerin Claire Bishop Vertretern der Relationalen Kunst vorwirft: „the relations set up by relational aesthetics are not intrinsically democratic, as Bourriaud suggests, since they rest too comfortably within an ideal of subjectivity as whole and of community as immanent togetherness“.25
4.
Back to Back Theatre (Australien), ein Ensemble aus Schaupielern mit und ohne das, was gemeinhin unter „geistiger Behinderung“ verstanden wird, entwickelt Texte und Szenarien, in denen nicht das „Andere“ (von Kultur, von Geschlecht, von Verhalten) verhandelt, sondern vielmehr gesellschaftliche Norm zur Disposition gestellt wird. Die integrative Praxis der Gruppe unter der künstlerischen Leitung von Bruce Goldwin 24
Ebd.
25 Claire Bishop: Antagonism and Relational Aesthetics, in October, Fall 2004, Nr.110, S.51-79, S.67.
SZENOGRAFIEN DES AUSNAHMEZUSTANDES 255
soll soziale Funktionsweisen offenlegen: „Back to Back Theatre creates theatre to dissect the unspoken imaginings of society. Our theatre is an analysis of the biological, psychological and social dynamics that simultaneously unify and separate our audience. We want people to think about the strangeness of their own thoughts.“26 In der Produktion Small Metal Objects, mit der Back to Back Theatre seit 2007 auf internationalen Theaterfestivals gastiert, geht es zunächst einmal um einen geplatzten Drogen-Deal zwischen zwei „Executives“ in Anzug und Kostüm und zwei kleinen Drogendealern. „Small Metal Objects“, der Begriff könnte für das Geld stehen, das die Dealer Gary und Steve bei der erfolgreichen Übergabe der vereinbarten Ware erhalten hätten. Der Deal kommt jedoch nicht zustande; aus unerfindlichen Gründen weigert sich Gary, die Ware zu holen, und Steve bleibt schließlich bei ihm – aus Freundschaft, aus einer schwer definierbaren Art der Solidarität, aus Trotz vielleicht über die Arroganz der beiden Yuppies, die sich für eine bevorstehende Party mit Drogen eindecken wollen. Die „Small Metal Objects“, die der ortsspezifischen Produktion ihren Titel geben, können auch für die diskrete Technologie stehen, mit der Akteure und Zuschauer ausgestattet sind: Mikroports für die Schaupieler und kabellose Kopfhörer für die Zuschauer. Bruce Goldwin inszeniert das Aufeinanderprallen von zwei Ökonomien, der offiziellen, erfolgreichen der beiden Drogenkäufer und der inoffiziellen, kleinkriminellen, unproduktiven der beiden Dealer, in der räumlichen Anonymität urbaner Transiträume. In den Schalterhallen der Hauptbahnhöfe von London, Sydney oder Bristol entfaltet sich zwischen dem Spektakel des urbanen Treibens, dem leisen Drama zwischen Gary und Steve und den weitab auf installativ gruppierten roten Stühlen sitzenden Zuschauern ein performativer Raum der Zeugenschaft. (Abb.4)
Abb.4 Small Metal Objects, 2007 (Fotograf: Prudence Upton). 26
Back to Back Theatre: http://www.backtobacktheatre.com (Zugriff am 14.9.2010).
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Tim Etchell (Forced Entertainment) schreibt in seinem Vorwort zu Jen Harvies theatre & the city: Why city? Because it is contested space. Because it is used at the same time by many people, sectors, factions, groups, whose interests do not by any means coincide. Because it layers commerce, manufacture, leisure, the political sphere – because it demands negotiation, compromise, co-operation, conflict, agreement in order to function, in order to move.27
Der „umstrittene“ Raum der Stadt, wie ihn Etchell prägnant beschreibt, ist Austragungsort gesellschaftlicher Normen, Konflikte und dynamischer Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen, Mehrheiten und Ökonomien. Gleichzeitig ist der Raum der Stadt „verschlossen“, die kommunikativen Prozesse schematisiert, effizient geplant und ausgeführt. Small Metal Objects katapultiert den Zuschauer mitten hinein in ein persönliches und soziales Drama, dessen Protagonisten zunächst nur hörbar sind. In der Masse der Bahnhofsbesucher sind sie erst nach und nach auszumachen, Körper und Stimmen des vierköpfigen Ensembles aus Schauspielern mit und ohne „geistige Behinderung“ müssen einander erst zugeordnet werden und die Zuschauer stellen fest, dass sich diese Zuordnungen verschieben und anfängliche Schemata („behindert – nicht behindert“) auch mehrmals verworfen werden müssen. (Abb.5) Dennoch ist dies keine Theaterarbeit, die sich einzig im Feld der „disability politics“ bewegt. Der Ausnahmeraum, in dem sich die Protagonisten von Back to Back Theatre zueinander verhalten, thematisiert nicht primär eine vermeintliche „geistige
Abb.5 Small Metal Objects, 2007. (Fotograf: Jon Green). 27 Tim
Etchell in Jen Harvies: theatre & the city, 2009, S.xii.
SZENOGRAFIEN DES AUSNAHMEZUSTANDES 257
Behinderung“ der Darsteller. Es ist vielmehr der Raum der Teilhabe an alltäglichen persönlichen Dramen über diskrete technologische Intervention, die ihrerseits auf ubiquitäre urbane Überwachungssysteme verweist, der hier zur Disposition gestellt wird. Die so erreichte Szenografie der „Zeugenschaft“ ist intendiert als Einladung zur kritischen Begegnung mit der eigenen Sichtweise auf Außenseiter der Gesellschaft. Sie ist auch die Einladung zur Begegnung mit einem Raum, der nie stillsteht: „Raum ist nie fertig, nie abgeschlossen. ...Vielleicht sollten wir uns Raum als mehrere, gleichzeitig erzählte Geschichten vorstellen, die fortgesetzt werden“.28 Raum wird stetig konstruiert, über Verhalten, über Handlungen, über Architekturen des Sozialen, Ökonomischen und Materiellen. Back to Back Theatre inszeniert das Fragmentarische urbaner Lebenswelten modellhaft über die Vereinnahmung des Zuschauers als Komplizen in einem partizipativen Konfliktraum von Austausch und Verweigerung, Vertrauen und Risiko. (Abb.6)
Abb.6 Small Metal Objects, 2007 (Fotograf: Jon Green).
Steve und Gary, die beiden Kleindealer, verhalten sich untypisch, widerständig, ja unprofessionell. Sie stellen ihre Freundschaft über einen lukrativen Deal und beschützen einander. Gesellschaftliche Reaktionen auf die unterprivilegierte soziale Herkunft der beiden, ihre kriminellen Biographien und mangelnde intellektuelle Fähigkeit werden in der simplen Geschichte von Small Metal Objects hinterfragt. In der Teilhabe an der szenografischen Raumhandlung der Intervention werden Zuschauer auf der Tribüne und uneingeweihte Passanten, von den Schaupielern angesprochen und in Dialoge verwickelt, zu temporären Zeugen und Komplizen 28
D.B. Massey: For Space, Sage, London 2005, S.9.
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einer Ideologie des Ausschlusses von „unproduktiven“ Mitglieder der Gesellschaft. Das Vertrauen in die Gültigkeit einer Interpretation des Sicht- und Hörbaren weicht auf Zuschauer- und Passantenseite dem Erkennen der Brüchigkeit standardisierter sozialer Klassifikationen.
5.
Ziel der szenografischen Interventionen der Künstlergruppe Artists Without Walls (Palästina/Israel) entlang der Mauer zwischen Israel und Palästina ist es, diese als ideologische Konstruktion sichtbar zu machen. Artists Without Walls, eine lose Gruppe isrealischer und palästinensischer Künstler, Kulturschaffender, Architekten und Szenografen verurteilt die Errichtung und die dehumanisierenden Effekte der „Sicherheits“-Mauer und sieht sich als Forum des Dialogs zwischen Israelis und Palästinensern. Mit gewaltlosen Interventionen versuchen die beteiligten Künstler und Kulturschaffenden, die physische, politische Grenzziehung zwischen den Nationen und die radikalisierte Rhetorik von Bedrohung und Verteidigung in der Öffentlichkeit zur Disposition zu stellen und diesen künstlerische Modelle der grenzüberschreitenden Kommunikation und des politischen Kommentars gegenüberzustellen. Vertrauen und Risiko, als positive und zukunftsgerichtete individuelle, gesellschaftstragende und -verbindende Kategorien idealerweise miteinander verknüpft, sind im Konfliktraum zwischen Israel und Palästina entkoppelt: The segregation and confinement of people is only another step towards alienating Palestinians and Israelis from one another and dehumanizing the conflict. When one ceases to view the other side as made out of individuals with hopes and dreams, violence becomes much easier and the results are tragic for both sides.29
Die ortsspezifischen Interventionen von Artists Without Walls finden in einem Ausnahmeraum statt, in dem jede Begegnung von vorneherein ideologisch gerahmt und klassifiziert ist. Für diesen öffentlichen, dabei streng überwachten Raum entwickelte Artists Without Walls 2004 eine mediale Kommunikationsplattform, die die Begegnung zwischen Palästinensern und Israelis in einem durch die Mauer getrennten Dorf in der Nähe von Jerusalem, der Siedlung Abu Dis, ermöglichen sollte. (Abb.7) Auf beiden Seiten der Mauer wurden Kameras installiert, durch die Mauer ein Loch für die Kabel gebohrt, Videoprojektoren auf beiden Seiten auf die Mauer gerichtet und Live-Aufnahmen auf die jeweils andere Seite geschaltet. Familien, durch die Mauer getrennt, konnten Angehörige sehen, Kinder begannen, gemeinsame Spiele zu veranstalten, junge Männer tanzten, andere, viele, saßen, standen und staunten, weinten. Auf der palästinensischen Seite war keine Polizei zu sehen. Auf 29
Artists Without Walls, http://pia.omweb.org (Zugriff am 14.9.2010).
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Abb.7 April 1st von Artists Without Walls, 2004 (Diagramm: Oren Sagiv).
der israelischen Seite, so Oren Sagiv, israelischer Künstler und Mitinitiator der Aktion, raunten sich Grenzpolizisten zu: „Look, they’ve made the wall transparent“.30 Die Polizisten schritten nicht ein und die Aktion konnte ungehindert ablaufen. In der Begegnung mit dem Anderen liegt für die Künstler die Möglichkeit einer Rehumanisierung des politischen Konflikts. Die Ziele der Gruppe sind konkret und drängend und ihre Mittel sind pragmatisch gewählt: schnell zu transportieren und aufzubauen, schnell wieder abzubauen und wegzuschaffen, um mit größtmöglicher Effizienz Kommunikation zu ermöglichen. Der Modus der partizipativen Szenografie der Abu-Dis-Aktion lag im Aufbau eines kommunikativen Angebots, das zu füllen den Anwohnern freigestellt wurde. Relational, im Sinne Bourriauds, war die Arbeit der Gruppe im Anerkennen des sozialen, informellen Austausches zwischen den Anwohnern auf beiden Seiten, während die Worte der beiden israelischen Polizisten, die staunend feststellten, dass durch immaterielle Live-Projektion die scheinbare Undurchdringlickeit der Mauer subversiv unterwandert werden kann, die politische Relevanz der Aktion zutreffend beschrieben. (Abb.8) In Abu Dis gelingt Artists Without Walls eine partizipative Szenografie des Ausnahmezustands. Nur in diesem kann sie sich so entfalten, nur in diesem erfährt die Begegnung von Individuen, Gruppen und Familien solche existentielle und politische Bedeutung. Nach der „Ethik einer Ethik“ von Emmanuel Levinas erfüllt sich in der Begegnung die Verantwortung für den Anderen als Grundbedingung menschlicher Handlungsweise: „I understand responsibility as responsibility for the Other, for what is not my deed, or for what does not even matter to me; or which precisely does matter to me, is met by me as face.“31 30
Oren Sagiv in Gesprächen mit der Autorin 2009 und 2010, Zürich und Belgrad.
31 Levinas im Gespräch mit Philippe Nemo, in: Emmanuel Levinas: Ethics and Infinity. Conversations
with Philippe Nemo. Übers.: Richard A. Cohen, Pittsburgh, PA: Duquesne University Press 1985, S.95.
260 THEA BREJZEK
Abb.8 April 1st von Artists Without Walls, 2004 (Fotograf: Oren Sagiv).
Die Begegnung mit dem Anderen, so Levinas, bedingt keine Freiwilligkeit der Verantwortung, sondern die Verantwortung entsteht vielmehr in der Begegnung mit dem (sprechenden Antlitz) des Anderen als Teil jeder Begegnung: Bound by our mutual respect for human rights, our opposition to the occupation and to terror of any kind, Artists Without Walls strives to develop models of cooperation, putting ‚humanity‘ back at the heart of our agenda.We firmly believe that no side of the conflict can have peace as long as the other side lives in fear and distress. We further believe that the true values of equality lie in the meeting of one side with the other, that the normalization of ‚daily living‘ can dissipate the hatred and aid in forging a road to peace.32
Die partizipative Szenografie der Abu-Dis-Aktion stellt sich als Kooperationsangebot der Verantwortung im Sinne Levinas’ dar. Als Szenografie des Ausnahmezustandes ist sie zu verstehen, indem sie ortsspezifisch, im Konfliktraum, agiert und die gewählte und partizipativ-kooperativ agierte Raumfigur von der politischen Realität des Konflikts unmittelbar definiert wird. Anzunehmen ist, dass die Kategorien von Vertrauen und Risiko, insbesondere im Sinne einer Vertrauensbildung, um mit Risiko umgehen zu können, durch die Mauer hindurch in der Begegnung mit dem Anderen, zumindest für die Dauer der Aktion, versöhnt werden können. (Abb.9) Die Mauer, als „interdictory space“ konzipiert, wird in Abu Dis tatsächlich für die Dauer der Aktion durchsichtig, visuell durchlässig. Die Kritik von Artists Without Walls verhält sich in direkter Auseinandersetzung mit dem gebauten Monument der Trennung im Angebot einer Raumhandlung, die diese Trennung temporär aufhebt. 32
Artists Without Walls, a.a.O.
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Abb.9 April 1st von Artists Without Walls, 2004 (Fotograf: Oren Sagiv).
6.
Anthony Giddens Modell der Zusammengehörigkeit der Kategorien Vertrauen und Risiko (und damit Raum und Zeit) dient als Ausgangspunkt einer Betrachtung der partizipativen Szenografien des kolumbianischen transdisziplinär ausgerichteten Mapa Teatro um Rolf Abderhalden, der integrativen Theaterpraxis des australischen Back to Back Theatre und der szenografischen Interventionen von Artists Without Walls (Palästina/Israel). Gemeinsam ist der künstlerischen Praxis der vorgestellten Künstler, auf politische, soziale und ideologische Grenzziehungsprozesse, in denen die Balance zwischen Vertrauen und Risiko aus den Angeln gehoben ist, mit partizipativen Strategien zu reagieren. Die szenografischen Raumhandlungen, die in den vorgestellten Projekten ermöglicht werden, finden nicht in der black box des Theatergebäudes statt, sondern ortsspezifisch im jeweiligen Zentrum des thematisierten Konflikts: auf dem Abrissgebäude des Cartucho in Bogotá, auf der BetonOberfläche der Mauer in den auseinandergerissenen Siedlungen in der West Bank und in den urbanen Zentren öffentlicher Ökonomie. Gegen politische, ideologische und materielle Ausschluss-Zonen setzen die Künstler einschliessende, partizipativ angelegte Szenarien. Es wurde im vorliegenden Text gezeigt, wie sich in Konzepten des Ermöglichens von Begegnung der Protest gegen ideologische Konstruktionen des Anderen als Bedrohung künstlerisch artikuliert. Es wurde weiter gezeigt, wie in der Intentionalität einer Rückführung hin zu Zeugenschaft und individueller Begegnung auf nachhaltige Prozesse der Kommunikation und der Veränderung bestehender
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Bedingungen fokussiert wird. Mit Rekurs auf Emmanuel Levinas’ „Ethik einer Ethik“ wird in den vorgestellten Projekten die Frage nach der Übernahme von Verantwortung durch die (Ermöglichung von) Begegnung im Ausnahmeraum und damit einer potenziellen Demokratisierung von Kunst und künstlerischer Praxis und Rezeption spekulativ beantwortet. Den Szenografien des Ausnahmezustands in Bogotá, der West Bank und urbanen Zentren in London, Sydney oder Bristol sind gängige relationale Praxen von kommunikativen und interaktiven Prozessen in einer Vielzahl von unterschiedlichen Konstellationen eingeschrieben. In der Integration jedoch der im politischen und ideologischen Konflikt entkoppelten Kategorien von Vertrauen und Risiko über nachhaltig angelegte Konzepte der Ermöglichung von Begegnung im Ausnahmeraum verweisen sie auf die Fakultät partizipativer performativer Szenarien, politische Kritik und gesellschaftliche Utopie im „Hier und Jetzt“ der Intervention positiv zu verschränken.
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Anke Strittmatter, Oliver Langbein PUSHING THE LIMITS. „Pushing the Limits“ ist der Ausdruck, den man in bürgerlichen, eher konservativen Kreisen Großbritanniens verwendet, wenn man höflich aber doch unmissverständlich deutlich machen möchte, dass jemand den Bogen etwas überspannt hat, dass man ein wenig über das Ziel hinausgeschossen ist. Was daran für uns spannend ist, ist jedoch nicht die Frage, ob diese Bewertung zutrifft, sondern wie der Begriff ein Bild kreiert für das Ausloten der Ränder oder auch des mutwilligen Überschreitens einer wie auch immer gearteten Begrenzung. Für die Arbeiten von osa (office for subversive architecture)1 ist das Erforschen von Grenzen essentiell. Insofern finden wir insbesondere beim englischen Titel des Symposions Staging Trust and Confidence [Inszenierung und Vertrauen] Anknüpfungspunkte an die Arbeitsmethoden und das Wesen der osa-Projekte. Besonders die scholastische Definition von con-fidentia2 steht einerseits für „Freiheit“ und „Mut“, und andererseits für „Frechheit“ und „Übermut“, was eben nicht nur das Selbstvertrauen und die Zuversicht in das eigene Denken und Tun benennt, also den Glauben an eine Sache, sondern auch den Willen, Gegebenes grundsätzlich in Frage zu stellen. Der jeweiligen Aufgabe oder auch dem Ort nähern wir uns auf subversive Weise; nicht im Sinne des politisch „umstürzlerischen“, sondern in einem direkteren Wortsinne „von unten kommend“. Darunter verstehen wir in erster Linie einen veränderten Blickwinkel auf vermeintlich sicher Geglaubtes. Neue Perspektiven schaffen neue Räume und verändern damit auch Grenzen. Ziel ist es also, festgefahrene Sichtweisen auf Stadtraum oder gemeinschaftlich genutzten Raum zu erschüttern und vermeintlich gesicherte gesellschaftliche Verabredungen in Frage zu stellen. Dabei geht es um das Aufspüren und die Sichtbarmachung vorhandener Qualitäten von häufig vernachlässigten oder wenig wert-geschätzten Räumen oder Objekten. Durch Irritation schaffen wie eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich die Räume, mit denen wir uns beschäftigen, 1 osa befasst sich mit der meist temporären experimentellen Gestaltung und/oder Transformation von
Raum, unabhängig von Maßstab und Definition. Die Mitglieder von osa leben und arbeiten an unterschiedlichen Orten, in Berlin, Darmstadt, Frankfurt, Graz, Köln, London und Wien. Gemeinsame Projekte werden in wechselnden Konstellationen im Internet vorbereitet und zu einem vereinbarten Zeitpunkt an einem realen Ort umgesetzt. Informationen zu den Mitgliedern bzw. den Projektteams finden sich auf der osa-Website unter www.osa-online.net. 2 Ludwig von Doederlein (1836): Lateinische Synonyme und Etymologien. Vol. V, S.257.
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weiterentwickeln können. Unhinterfragte Machtansprüche Einzelner oder Gruppen werden in Frage gestellt. Um mit einem Projekt festgefahrene Grenzen zu überwinden und vertraute Erscheinungen und Wahrnehmungen zu ‚stören‘, ist es wichtig, bereits im Entstehungsprozess die eigenen Grenzen herauszufordern. Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen, aber auch wir sind, trotz des zur Schau getragenen Freigeistes, ja Produkte und Mitglieder unserer Gesellschaft und zunächst deren Konventionen verhaftet. Darum unterscheiden wir hier zwischen der ‚inneren‘ Grenzüberschreitung, die wir selbst in der Diskussion, beim Entwickeln eines Projektes untereinander anwenden, und der späteren ‚äußeren‘ Grenzüberschreitung durch das Wesen des Projektes selbst, in physischer oder atmosphärischer Form. In erster Linie – gerade zu Beginn eines Projektes – beim Entwickeln der Konzeptidee, geht es deshalb zunächst um das Überschreiten der persönlichen Grenzen des ‚sich-Trauens‘. Jede noch so absurde Idee soll und muss geäußert werden dürfen und wird von den anderen im Team auch ernst genommen. Das bedeutet nicht, dass sie nicht kritisch hinterfragt wird, sie darf nur eben nicht achtlos ‚weg-gelacht‘ werden, wie es häufiger passiert, wenn ernsthafte Menschen zusammensitzen, um ernsthaft an ernsthaften Lösungen für ein ernsthaftes Problem zu arbeiten. Jeder hat diese absurden, scheinbar unvernünftigen Ideen, die unser Gehirn ständig produziert. In den meisten Fällen gelangen diese nicht einmal an die Oberfläche der eigenen, bewussten Wahrnehmung. Wenn sie es aber schaffen, uns selbst zum Schmunzeln oder Stirnrunzeln zu bringen, dann sind sie es wert, dass wir sie uns näher anschauen. Dieses Grundvertrauen in unseren Kommunikationsmodus ist umso wichtiger geworden, je weiter sich die osa-Partner räumlich voneinander entfernt haben. Mittlerweile sind wir auf etwa ebenso viele Standorte in Europa verstreut, wie wir Mitglieder haben3, und durch die fehlende räumliche Nähe innerhalb eines Büroraumes fehlt auch die alltägliche Vertrautheit im Umgang miteinander. Wichtig ist es, neben dem Verwenden aller verfügbaren Kommunikationsnetze, auch die Verkehrsnetze zu verwenden und sich immer wieder auch im realen Raum zu treffen. In dieser Frühphase der Ideenfindung beschäftigen wir uns also sehr ernsthaft und analytisch mit Assoziationen, die eine Situation, ein Ort, eine Aufgabe in uns auslöst. So werden Konzepte mit der Methode der irritierenden, zuweilen absurd anmutenden Intervention vorangetrieben, ausgelotet, verworfen oder präzisiert. Das Vertrauen, das wir dabei in einen Ort oder auch in ein Thema haben, kann stark 3 Die Mitglieder von osa leben und arbeiten in Berlin, Darmstadt, Frankfurt, Graz, Hamburg, London,
München und Wien, was sich aber auch immer wieder ändert, wenn die Mitglieder aufgrund privater oder beruflicher Gründe umziehen.
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variieren. Und man muss sich immer wieder fragen, ob und warum ein Ort einer Transformation würdig oder bedürftig ist. Einfacher lässt sich diese Frage beantworten, wenn es sich um selbstinitiierte und selbstfinanzierte Projekte handelt. Vorangegangen ist dann in jedem Fall der Moment oder die Phase, in der der Ort einen auf besondere Weise anspricht und damit den Impuls zur Bearbeitung auslöst, z.B. beim Projekt Intact.4 (Abb.1)
Abb.1 Intact, Bahnwärterhäuschen in East London (Foto: Trenton Oldfield).
Auf das unbenutzte ehemalige Bahnwärterhäuschen (ursprünglich komplett in Betongrau und ohne Applikationen) stießen wir zufällig in Shoreditch, East London. Es schrie förmlich nach einer Bearbeitung. Nach erfolglosen Versuchen einer Kooperation mit den Eigentümern beschlossen wir, „es einfach zu machen“. Das Häuschen wurde intakt gesetzt, gestrichen, mit Blumen und anderem Equipment versehen. Getarnt als Bautrupp mit Overalls, Signalwesten und Klemmbrettern wurden wir bei der Arbeit auch von Ordnungshütern nicht behelligt. Schwieriger wird es, wenn es sich um eine Auftragsarbeit mit vorgegebenem Ort und/oder Thema handelt, denn um „nicht wertgeschätzte oder vernachlässigte 4
Intact, illegale Hausrenovierung, Shoreditch, London, 2004-2006. osa (Karsten Huneck & Bernd Trümpler) & Harald Hügues, Trenton Oldfield.
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Orte“ handelt es sich hier nicht zwangsläufig. Es sind die Räume, mit welchen sich der jeweilige Auftraggeber auseinanderzusetzen hat. Sei es durch den täglichen Aufenthalt oder durch eine andere Art der Verantwortlichkeit. Oft kommt der Auftrag auch zustande, weil die Auftraggeber eine bestimmte Arbeit von uns kennen und sich eine ähnliche Neuinterpretation und Hingabe an einen Ort wünschen, den sie an sich gar nicht als defizitär empfinden. Die Kombination aus der uns gestellten Aufgabe, den räumlichen oder baulichen Gegebenheiten, dem architektonischen Anspruch in der Umsetzung und nicht zuletzt dem Scheck des Auftraggebers kann hier hilfreich sein, eine angemessene Lösung zu finden. Äußerlich entsteht also in unseren Projekten eine Spannung zwischen dem vermeintlich unernsthaften Grundanliegen und der Ernsthaftigkeit der Ausführung. Hinsichtlich der ‚äußeren‘ Grenzüberschreitung bedeutet es, dass die Projekte die Grenzen zum Banalen, zum Erlaubten, zum Erwarteten – weil Gewohnten – oder auch zum Machbaren ausloten. Handelt es sich um Arbeiten im öffentlichen Raum, können wir nicht von einer Einschätzung des zu erwartenden Publikums, also einer Grundannahme einer homogenen Gruppe ausgehen, wie dies etwa bei Innenrauminstallationen möglich ist. Im öffentlichen Raum trifft die Arbeit grundsätzlich auf nicht einschätzbare Rezeptionshaltungen, die von Nicht-Wahrnehmen, im Sinne von unbewusstem Übersehen, über das Negieren, die prononcierte Ablehnung, bis hin zu positiver aktiver Teilnahme variieren können. Während der Gegenbegriff zu Vertrauen beim Rezipienten durchaus Misstrauen sein kann, ist er bei den Verfassern das Risiko, also der Mut, sich dieser nicht einschätzbaren Gemengelage auszusetzen. Wenn beispielsweise die Eingangsrotunde der Kunsthalle Schirn in Frankfurt anlässlich ihres 20-jährigen Jubiläums mittels gigantischer Kerzen zu einer Geburtstagstorte transformiert wird, setzt die Installation auf ein geradezu banales Bild, was sich auch im Titel ...zum Geburtstag gibt es Torte! 5 widerspiegelt. Erst die kritische Wahrnehmung der Rezipienten gibt Aufschluss darüber, ob die Arbeit geglückt ist. Für uns ist sie es dann, wenn es gelungen ist, einen Perspektivenwechsel auf den öffentlichen Raum oder in diesem Falle das Gebäude zu erreichen, wenn der Rezipient also erkennt, dass in Wahrheit alles schon da war! Die Torte ebenso wie der Geburtstagstisch. Die Wahl der Mittel wird auch stark beeinflusst von der Zeitdauer der Installation. Im Falle der Kunsthalle Schirn war klar, dass es sich um eine eintägige Installation handeln sollte. Bei einer so kurzen Zeit erscheint es uns vertretbar, die 5
...zum Geburtstag gibt es Torte!, eintägige Gebäudeinszenierung zum Anlass des 20. Jubiläums der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main, 2006. osa (Britta Eiermann & Anja Ohliger mit Anke Strittmatter und Bernd Trümpler).
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Geschichten sehr direkt zu erzählen und auf eine Wirkung in der Erinnerung der Betrachter zu zielen.
Abb.2 ...zum Geburtstag gibt es Torte!, Installation zum Tag der offenen Tür zum 20-jährigen Bestehen der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main (Foto: Norbert Miguletz).
Mit der Negierung von Sehgewohnheiten, mit Erwartetem und Vertrautem spielt auch Anwohnerpark6, eine Installation, bei der sich unvermittelt Parkplätze an einer Wand wiederfinden. Die neuen vertikalen Parkplätze sind zwar räumlich dem Presseparkplatz der Kölner Messe zugeordnet, befinden sich jedoch auf der grenzständigen Brandwand des Atelierhauses KunstWerk.7 Dem gesellschaftlich verabredeten Zeichen für ‚Parkplatz‘ wird durch die Drehung um 90 Grad zunächst jede Ernsthaftigkeit genommen. Bei genauerer Betrachtung jedoch spielt die Intervention mit einer Reihe von Konventionen zum Thema Parkplätze im Allgemeinen und speziell an diesem Ort: Die gefühlte Überkapazität des angrenzenden Presseparkplatzes, der nur bei Pressekonferenzen der Messegesellschaft wirklich stark frequentiert, die meiste Zeit des Jahres jedoch 6 Anwohnerpark, Intervention; großflächiges Graffiti anlässlich der Plan06 am KunstWerk Köln 2006. osa (Britta Eiermann, Oliver Langbein, Anja Ohliger, Anke Strittmatter und Bernd Trümpler) mit dem KunstWerk Köln e.V. (Thomas Deyle, Manfred Gabriel, Andreas Schön. Nicokaus Westenberger & Thorsten Zenk). Gefördert als plan06-Projekt vom Ministerium für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen; Veranstalter: Stadt Köln. Dank an: Kay von Keitz & Sabine Voggenreiter (plan06). 7 Das KunstWerk Köln ist Deutschlands größtes selbstverwaltetes Atelierhaus. Eingebunden in den Kunsthof Köln, der inzwischen ca. 180 Künstler aller Sparten beheimatet, haben sich seit 1995 die Künstler hier eingemietet und die Ateliers in Eigenleistung saniert. Das Kunsthof-Gelände ist Teil einer alten Industriebrache, die rechtsrheinisch direkt an die Zoobrücke grenzt, und setzt einen bunten Farbtupfer in die sonst raue Umgebung. www.kunstwerk-koeln.de.
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fast leer ist, wird noch verstärkt. Die Intervention macht einerseits Aussagen über den Sinn und Unsinn des Flächenverbrauchs der expandierenden Messe und den damit verbundenen motorisierten Individualverkehr, stellt aber paradoxerweise trotzdem für die Messe eine hochwillkommene Aufwertung der optischen Qualität der Brandwand des KunstWerks dar. Für das Atelierhaus KunstWerk ist sie ist ein klares Bekenntnis zur künstlerisch-kulturellen Nutzung der alten Magirus Deutz Werke an diesem Ort; knickt sie doch den spürbaren Raumanspruch der Messe als Vertreterin der Wirtschaft und des Handels um 90 Grad nach oben ab und verlängert ihn in einen nicht nutzbaren, virtuellen Raum irgendwo in den Wolken. Der Parkplatz an der Wand und das bei dieser Gelegenheit ebenfalls zum KunstWerkLogo transformierte ehemalige Zeichen der Deutz-Werke bilden nun eine klare, weit in den Stadtraum sichtbare Adresse: Das KunstWerk ist da, wo die vielen freien Parkplätze sind! (Abb.3)
Abb.3 Anwohnerpark, Köln 2006. Intervention anlässlich der Plan06. Ansicht von der Zoobrücke (Foto: Oliver Langbein).
Eine weitere Ebene ist eine schwelende Auseinandersetzung mit der Stadt Köln, die vom KunstWerk den Nachweiss von 35 Parkplätzen fordert8, obwohl nur sehr wenige der dort arbeitenden Künstler überhaupt ein Auto besitzen. Dabei ist die Haltung der Stadt zu dieser Forderung durchaus ambivalent. Ihr ist die mangelnde Sinnhaftigkeit, ja sogar Schädlichkeit dieser Forderung durchaus 8
Aufgrund von Verordnungen muss die Stadt Köln diese zunächst auch einfordern, da dies nicht der Willkürlichkeit unterliegt. Ausnahmen müssen gut begründet werden, um keine Präzedenzfälle zu schaffen oder andere Gruppen zu belasten.
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bewusst. Eine Ablösung der Parkplätze in Form einer Zahlung an die Stadt würde den Ruin des Atelierhauses bedeuten, was wiederum nicht im Interesse der Stadt ist. Eine bereits vorher erfolgte Markierung von Parkflächen im Hof des Atelierhauses führte zu Konflikten, da der Raum ja eigentlich von den Künstlern als Arbeitsfläche beansprucht wird, durch die Markierung aber immer wieder von Fremdparkern zugestellt wurde. Die Stadt verfolgt diese Forderung denn auch nur mit mäßigem Nachdruck, mehr der mangelnden Flexibilität der Stellplatzverordnungen folgend als einer Strategie. Unsere Lösung, die fehlenden Parkplätze nun unter Einhaltung aller Vorgaben hinsichtlich Stellplatzgrößen und Fahrspurbreiten, lediglich unter Ausnutzung einer fehlenden Querneigungsbeschänkung, einfach an die Wand zu malen, stellt nur im ersten Moment eine Absurdität dar. Genau genommen ist sie die logischste Lösung, werden doch alle Ansprüche befriedigt. Es werden 35 Parkplätze virtuell nachgewiesen, um den virtuellen Ansprüchen der Verordnungen gerecht zu werden. Im Realraum wird aber weniger als 1 m2 Grundfläche dafür in Anspruch genommen, was dem tatsächlichen Bedarf an Parkplatzfläche viel eher entspricht. Der Vertikalparkplatz kann nun zumindest als Anlass genommen werden, die konventionelle Umsetzung der Stellplatzverordnung zu verzögern, um Zeit für eine einvernehmliche Lösung des Problems zu gewinnen. Absurd ist unser Parkplatz an der Wand also nur auf den ersten Blick. Bei genauerer Betrachtung entspricht er den realen Anforderungen wesentlich besser als der tatsächlich benutzbare Presseparkplatz der Messe oder der berechnete Stellplatzbedarf der Künstler. Absurd ist der Parkplatz der Messe und die im Hof eingezeichneten Stellflächen. Abwegig ist die Umsetzung ewig gleichmachender Regelungen, die aus dem ‚vertrauten‘ Denken der Zeit der ‚verkehrsgerechten Stadt‘ stammen. Die Intervention hinterfragt das Vertrauen in die Anwendung egalisierender Regeln und Verordnungen und inszeniert die scheinbare Absurdität, sich individuell aus diesem Korsett zu befreien und nach Lösungen zu suchen, die tatsächlich welche sind. Illegale Projekte oder solche, die sich am Rande der Legalität bewegen, stellen besondere Herausforderungen dar, da wir uns mit ihnen dem potentiellen Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen. Hier müssen wir auf unser Gefühl vertrauen, welche Eingriffe zwar vielleicht illegal im rechtlichen Sinne sind, aber dennoch legitim erscheinen. Damit bewegen wir uns aber eher in einem Bereich, in dem auch Street-Art-Künstler agieren, als in der Tradition politisch motivierter Aktionen wie beispielsweise Hausbesetzungen oder Strassenbarrikaden. Unsere Arbeiten sind weder destruktiv im physischen Sinne, noch stellen sie eine wirklich existenzielle Zumutung für die Eigentümer der Orte dar. Sie sind immer konstruktiv, unserer Profession folgend eher räumlich wirksame, architektonische Interventionen, die
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nur auf Missstände oder versteckte Potentiale hinweisen und eine Veränderung nur anregen. Eine wirkliche Änderung der räumlichen (oder gar politischen) Situationen jedoch bedarf einer breiter angelegten Auseinandersetzung aller involvierten Gruppen. In Zeiten von Hochsicherheit und Terrorangst wird die Einschränkung des öffentlichen Raumes zunehmend als selbstverständlich hingenommen. So ist es vielleicht auch zu erklären, weshalb die Stadt London um das gesamte zukünftige Olympiagelände einen vier Meter hohen Zaun errichten und ein FotografieVerbot verhängen ließ. Genau genommen ist es aber völlig widersinnig, dass sich eine Stadt bei einer so großen städtebaulichen Maßnahme nicht um den Dialog mit der Bevölkerung bemüht. Natürlich sind bei so großen Planungen Konflikte schwer vermeidbar. Ein Dialog mit der Bevölkerung wäre aber sicher nachhaltiger als das sture kilometerlange Präsentieren einer Corporate-Identity-Farbe: einem
Abb.4 Point of View, London 2008. Illegale Aussichtsplattform an der Baustelle für die Olympischen Spiele 2012 (Foto: Karsten Huneck).
blauen Holzzauns. Wir haben darauf reagiert, indem wir die erste – wenn auch nicht genehmigte – Aussichtsplattform, einen Point of View9 (Abb.4) errichtet haben, der den Passanten einen Blick über den Zaun hinweg auf das Areal ermöglichte. 9 Point of View, London 2008, illegale Aussichtsplattform an der Baustelle für die Olympischen Spiele 2012. osa (Karsten Huneck & Bernd Trümpler) in Kollaboration mit dem Magazin Blueprint.
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Normalerweise patrouillieren an dem Bauzaun regelmäßig Security Guards und veranlassen, dass jedes nicht genehmigte Plakat entfernt, jedes Graffiti sofort wieder in hellblau übermalt und jede Veränderung wieder entfernt wird. Unsere kleine Treppe bediente sich jedoch in Farbe und Erscheinung einer so perfekten Mimikry, dass die Sicherheitsbeauftragten wohl darauf vertrauten, sie gehöre zur offiziellen Ausstattung des Zaunes. Jedenfalls dauerte es fast eine Woche, bis die Installation wieder entfernt wurde. Erstaunlicherweise sind wir bislang noch nie für unsere Grenzüberschreitungen rechtlich belangt worden, obwohl alle Projekte grundsätzlich mit Nennung der Verfasser publiziert werden. Unseren Auftraggebern verlangen wir mitunter viel Vertrauen in uns ab, wenn das Geheimnis der Installation aus strategischen Gründen erst im Benutzen gelüftet werden darf, so wie das bei ... nicht wirklich! 10, einer interaktiven Rauminstallation an der TU Darmstadt der Fall war. Dort haben wir bewusst mit der Tatsache gearbeitet, dass es sich um eine homogene Gruppe von Rezipienten handelt. Bei der Installation, die einmal anlässlich eines Städtebau-Professoriums und in weiterer Folge anlässlich der Zusammenkunft eines Evaluationskomitees stattfand, haben wir gezielt mit dem Aufbrechen von Verhaltenskodexen gearbeitet. In beiden Fällen ging es uns darum, einer Gruppe von Professoren und Wissenschaftlern nach einem Tag mit vielen Programmpunkten eine besondere Atmosphäre für informelle Gespräche zu schaffen. Entwickelt wurde die Installation anlässlich eines Städtebau-Professoriums. Dort sollten wir eigentlich einen Vortrag über unsere Arbeit halten, der unsere besondere Sichtweise auf die Stadt zum Thema haben sollte. Dieser Programmpunkt war offensichtlich nachträglich an das Ende eines sehr vollen Programms geschoben und es stand zu befürchten, dass ein Vortrag hier nicht geeignet sein würde, die Arbeit von osa zu kommunizieren. Deswegen haben wir stattdessen eine Installation im Keller des Fakultätsgebäudes vorgeschlagen, in der auch ein Essen gereicht wurde. Der Raum wurde grundsätzlich in seinem Rohbau-Charme belassen, aber partiell durch weisse Stoffbahnen abgetrennt und durch eine festliche Tafel, einen roten Teppich kontrastreich in Szene gesetzt. Unter den Stoffbahnen hindurch war die Weite des Kellerraumes mit seinen technischen Installationen erkennbar, die Tafel stand direkt unter einem Strang von Heizungsrohren. An eine Stirnseite wurde ein Bild projiziert, das vermeintlich von einer Kamera aufgenommen wurde, die auf der anderen Seite der langen Tafel stand. Zu sehen war aber ein Bild des Raumes ohne Personen und Bestuhlung. Auf dem Tisch befanden sich riesige Brotlaibe und Hausmacherwurstspezialitäten, Butter und Kochkäse sowie Weine – alles aus der Region. (Abb.4a-d) 10 ... nicht wirklich!, Darmstadt, interaktive Raum- und Videoinstallation an der TU Darmstadt, 2002
& 2003. osa (Britta Eiermann, Oliver Langbein, Anja Ohliger & Anke Strittmatter).
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Abb.4a ... nicht wirklich! Der Kellerraum mit der fertigen Installation (Foto: Oliver Langbein).
Abb.4b Schnitt durch die Installation ... nicht wirklich! Die Tafel ist ein Modell des Raumes, in dem sie steht, im Maßstab 1:33. Die Projektion im Raum zeigt nicht das Bild der Kamera A, die im Raum steht, sondern das Bild der Kamera B, die unter der Tafel steht.
Diese erste Anmutung der Szenerie, die feierliche lange Tafel mit den einfachen, stark duftenden Speisen, sowie die durch beigelegte große Messer deutlich gemachte Aufforderung, das Brot selbst zu schneiden und den Wein selbst untereinander zu verteilen, ließen den Raum feierlich, fast sakral erscheinen und befriedigten offenbar die Erwartungshaltung der Teilnehmer an die Inszenierung des seltsamen Ortes. Die tatsächliche Natur der Installation offenbarte sich erst im Laufe des Abendessens, als die ersten Gäste unter dem Tisch entspannt ihre Beine ausstreckten. Just in diesem Moment erschienen nämlich riesige Füße in der Projektion an der Stirnseite der Tafel. Erst nach und nach erschloss sich den Teilnehmern, dass das nun kein Film ist, sondern dass sie ihre eigenen Füsse auf der Projektion sehen konnten. Einige schauten unter den Tisch und entdeckten dort die im Maßstab 1:33 verkleinerte Tafel mit dem Dessert – ebenfalls im Maßstab verkleinerten
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Schokoladentorten – sowie eine weitere Kamera, die eben diese Szenerie filmte und als Quelle des Live-Bildes der Projektion diente. Die inszenierte Tafel verbarg also unter dem Tischtuch ein verkleinertes Abbild ihrer selbst. Die Tischbeine entsprachen den Betonstützen, das weiße Tischtuch den Stoffbahnen im Raum, sogar die Heizungsrohre waren als Attrappe unter Tisch angebracht.
Abb.4c ... nicht wirklich! Ansicht über den Tisch auf die Wandprojektion (Foto: Oliver Langbein).
Abb.4d ...nicht wirklich! Ansicht des Modells vom Tisch unter dem Tisch (Foto: Oliver Langbein).
Das langsam einsetzende Erkennen, was sich im Verborgenen, also unter dem Tisch, abspielte und dass alle Gäste Teil dieser Inszenierung waren, führte zu einer radikalen Veränderung der Atmosphäre. Der Grad der Auseinandersetzung konnte frei gewählt werden und reichte von vorsichtigem Staunen bis hin zu aktiver Teilnahme wie etwa dem Anschneiden der Torten, die sich auf dem Modelltisch unter der Tafel befanden.
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Die Teilnehmer, die dazu unter die Tafel kriechen mussten, waren natürlich in der Projektion als vermeintliche Riesen zu sehen. Das Geschehen konnte von den anderen Gästen am Tisch beobachtet werden. „Visuelle Reflexionen erlaubten plötzlich auch gedankliche Reflexionen.“11 So konnte man sich auch theoretisch mit der Situation auseinandersetzen und sich selbst gedanklich unter einen noch viel größeren Tisch projizieren und in eine Reihe von Maßstabssprüngen, „nach dem Prinzip einer russischen Puppe in der Puppe“12, selbst als Bestandteil einer surrealen Modellwelt einordnen. In solch einer Atmosphäre können Masken leichter fallen, können sich Menschen offener austauschen. Es hat hier also ein gezielter Vertrauensbruch „for the better“ stattgefunden. Ein ähnliches Ziel verfolgten die Medieninstallationen in der temporären Lounge re:launch 13 im Schlosshotel Wilhelmshöhe zur Documenta 2007. Hier waren die Rezipienten nicht im Vorfeld bekannt. Jeden Abend nahmen andere Gäste auf den Sofas der re:launch Platz und saßen neben oder gegenüber anderen Menschen, die sie unter Umständen nicht kannten. Auch hier wurde eine absurde Atmosphäre geschaffen, die die Hemmschwelle, mit Fremden zu kommunizieren, durch gezieltes Verletzen vertrauter Situationen und durch die Inszenierung gewisser ‚Vertraulichkeiten‘ herabsetzte. Bei insgesamt sieben ‚interaktiven Tischen‘ wurden die Tische von oben gefilmt und projizierten das Bild mit einigen Sekundenbruchteilen Verzögerung um 180 Grad gedreht wieder auf die Tische zurück. Dadurch wurden banale aber ‚private‘ Handlungen auf dem Tisch – rund um Getränke, Snacks und Zigaretten – sozusagen ‚semi-öffentlich‘, indem sie sich mit den realen Handlungen der schräg gegenüber sitzenden Personen überlagerten. (Abb.5a-c) Durch die physikalischen Gesetze der Video-Rückkopplung14 entstehen zusätzlich farbige Lichteffekte, die durch die Handlungen der Gäste auf dem Tisch in Grenzen steuerbar sind. An drei weiteren Stellen wurde den Besuchern eine Katze direkt auf den Schoß projiziert oder eben auf den unbesetzten Platz des Sofas. Die Katze verletzt durch ihr zutrauliches Handeln direkt die Intimdistanz und versetzt den betroffenen Gast unfreiwillig in den Mittelpunkt des Interesse ohne es jedoch peinlich erscheinen zu lassen, dass dies auch Blicke unbeteiligter anderer Gäste auf sich zieht. 11
Pamela C. Scorzin: „... nicht wirklich!“, ARCH+ Nr. 167, 11/2003, S.22f. Ebd. 13 re:launch, Kassel, interaktive Raum- und Videoinstallation im Schlosshotel Wilhelmshöhe in Kassel, zur Documenta 2007. osa (Britta Eiermann, Oliver Langbein, Anja Ohliger & Anke Strittmatter). 14 Optische Rückkopplung: Durch das Abfilmen des Bildes, das die filmende Kamera selbst ausgibt, entsteht ein selbstbezügliches System und dadurch eine optische Rückkopplung. Abhängig von der Auflösung der Kamera und der Projektion entstehen neben scheinbar unendlichen Wiederholungen von Bildinhalten ästhetische Fraktalmuster. Das Prinzip ist in Grenzen steuerbar, aber im Grunde chaotisch. Vergleichbar mit der Rolle von akustischen Rückkopplungen im Gitarrenspiel von Jimmy Hendrix. 12
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Abb.5a Panorama der re:launch (Foto: Oliver Langbein).
Ebenfalls mit der Kombination von Videoinstallation und anderen inszenatorischen Elementen arbeitet ein weiteres Projekt, diesmal im ländlichen Raum der Süd-OstSteiermark. Das Projekt Landmark Silo15 transformiert die Silos in Feldbach und Studenzen durch installative und performative Eingriffe und ermöglicht es dem Rezipienten, durch Imagination ganz anderer Inhalte einen neuen, überraschenden Eindruck über deren, ihnen innewohnende, Kraft und Schönheit zu gewinnen. Die Silos haben zwar eine ganz besondere Präsenz im Landschaftsbild und damit im öffentlichen Raum, sind der Bevölkerung zwar vertraut, aber nicht sonderlich beliebt. Es handelt sich um überproportional große, schmucklose und rein funktional geprägte Betontürme von bis zu 70 Metern Höhe.
Abb.5b Gäste beim Steuern der interaktiven Tischprojektionen (Foto: Stefanie Pretnar).
Abb.5c Virtuelle Katze „Julia“ (Foto: Stefanie Pretnar).
Die Unverzichtbarkeit ihrer Funktion als Silo für den regional typischen Maisanbau ist an sich allen bekannt, aber tatsächlich gewähren Betontürme keinen 15 Landmark Silo, Südost Steiermark, Performance und Video-Installation im Rahmen der Regionale 08 Diwan, 2008. osa (Anke Strittmatter, Oliver Langbein).
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‚Einblick‘ in ihr Inneres und die wenigsten werden tatsächlich einmal in den Innenraum eines Silos geschaut haben. Dennoch glauben alle zu wissen, was sich im Inneren abspielt. Landmark Silo hinterfragt das scheinbar Bekannte und Alltägliche. Was ist tatsächlich ‚dahinter‘? Was ist jenseits der allseits bekannten Hülle?
Abb.6a Kletterer beim Abseilen vom Dach des Silos. Die Kletterer ‚horchten‘ die Wand des Silos auf der Suche nach der Ursache der „seismischen Störungen“ ab (Foto: Emil Gruber).
Abb.6b,c Links: Als Forscher getarnte Protagonisten. Rechts: Temporäre Sperrungen der Straßen als Teil der Inszenierung (Fotos: Emil Gruber).
Dieser Frage sind wir in einem performativen Akt auf den Grund gegangen: ‚Seismische Störungen‘ waren im Bereich der Silos festgestellt worden. Wir haben ‚osa‘ kurzerhand umbenannt in ‚Ordnungsamt für Seismische Anomalien‘ und ein international zusammengesetztes Forscherteam zusammengestellt, das versuchte, die Ursache dieser Anomalien aufzudecken. Vorübergehende Straßensperrungen wurden zum Schutz der Bevölkerung notwendig. Unter größtem körperlichem und technischem Einsatz wurde das Silo untersucht: Kletterer bestiegen die Türme und horchten die Wände ab. Dank eines extrem starken ‚Röntgengerätes‘ wurde es möglich, einen Blick durch die Silowand hindurch zu werfen. Eine ‚bemannte‘ Kapsel wurde von oben in den Turm herabgelassen, um die Vorgänge im Inneren zu klären. Das Ergebnis war – im Wortsinne – unglaublich. Entdeckt wurde ein Wollschwein16, 16 Das Mangalitza oder auch umgangssprachlich Wollschwein ist eine ungarische Schweinerasse, die
sich durch krause, helle Borsten – ein ungewöhnliches Haarkleid – auszeichnet. Das Mangalitza
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Abb.6d Die Konfrontation der Forscherkapsel mit dem Rüssel des riesigen Wollschweines als Projektion eines vermeintlichen Röntgenstrahles an der Außenwand der Silos. Am linken Rand ist ein Kletterer zu erkennen, der das Silo von außen abhörte. (Foto: Emil Gruber).
das sich unter bislang noch nicht geklärten Umständen zu enormer und unnatürlicher Größe entwickelt hat und inzwischen das gesamte Innere des Silos ausfüllte ... Das Szenario folgte einem einfachen – aus Hollywoodklassikern hinlänglich bekannten – Katastrophenplot-Schema, um bei den Betrachtern eine Mischung aus Schauer und Neugier zu provozieren. Es wurden reale und virtuelle Elemente gemischt. Außer den Kletterern und dem ‚gefakten‘ Forscherteam am Boden und auf dem Dach der Silos waren vor allem die – lokal bekannten – Akteure der örtlichen Feuerwehren und die Polizeibeamten ‚echt‘ und deren Kooperation schuf jenseits des bohrenden Zweifels Vertrauen in die Plausibilität der Erlebnisse. Die Forscherkapsel und das riesige Wollschwein waren im Vorfeld als 3D-Animationen gerenderte Filme, die mittels eines sehr leistungsstarken Beamer auf die Wände der Silos projiziert wurden. Wir haben echte Mangalitza-Schweine studiert und diese dann am Computer nachgebaut. So hatten wir ihre Handlungen unter Kontrolle und konnten sie Dinge tun lassen, die echte Wollschweine normalerweise nicht tun würden. Der runde Ausschnitt des ‚Röntgenstrahles‘ wurde horizontal innerhalb des Filmes bewegt. Vertikale Bewegungen erfolgten über einen eigens entwickelten Spiegelvorsatz am Beamer. Hier bestand die Schwierigkeit der exakten Synchronisierung von Film und Spiegelbewegung, da der Filminhalt bspw. in der gleichen Geschwindigkeit nach unten fahren musste, wie der Spiegel das Bild nach oben brachte, um den Eindruck einer ‚statischen‘ Realität hinter den Betonmauern des Silos zu erzeugen. Normalerweise würde ja ein Röntgenstrahl sein Bild nicht notwendigerweise auf der Außenwand des Silos hinterlassen, sondern es eher auf einem kleinen Monitor anzeigen. All diese Unstimmigkeiten spielten aber offenbar keine Rolle in der Bewertung des Wahrheitsgehaltes des Erlebten. Wir waren darauf wird in der Region neu gezüchtet und stellt wegen des hochwertigen Schinkens eine wirtschaftliche Hoffnung für die Region dar.
278 ANKE STRITTMATTER, OLIVER LANGBEIN
bedacht, die Anhaltspunkte, die auf einen Fake hinzuweisen schienen, und solche, die die Angelegenheit glaubwürdig erscheinen ließen, in etwa in der Waage zu halten. Medial betrachtet erscheint es äußerst merkwürdig, dass es überhaupt einen Zweifel am fehlenden Wahrheitsgehalt gab. Der gesamte Eindruck vor Ort, die schiere Größe und der immense Aufwand, den Forscher, Polizei, Kletterer und Feuerwehr zu betreiben schienen, wohl auch gepaart mit der stillen Sehnsucht nach einer Sensation im Bereich des Übernatürlichen, die nun endlich auch einmal hier in der Süd-OstSteiermark sicherlich zu einigem Medienauftrieb führen würde, hielten die Zweifel am Leben und nährten den Wunsch nach der Möglichkeit, das Monsterschwein sei real. Der über Stunden genährte Zweifel an der vertrauten, banalen Realität der Maissilos, das wankende Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit bleibt den Silos in der Erinnerung der Rezipienten auf Dauer eingeschrieben und wird ihre Wahrnehmung – zumindest ist das unsere Hoffnung – auf Dauer verändern können. In völligem Kontrast zu diesem ‚B-Movie-Katastrophenplot‘ oder auch einer Lounge für die Gäste der Documenta und deren angeregte Konversation über die aktuelle Kunst steht ein Projekt in Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos. Wir waren eingeladen, einen Vortrag auf dem Kongress COM:PLOT 17 zu halten, und konnten zudem eine Installation im Parque de la Revolución gemeinsam mit lokalen Künstlern18 realisieren. Das Projekt Sitios de seguridad para niños 19 entstand im Rahmen von sitios.20 Vor dem Hintergrund des Drogenkrieges in Mexico21, der bis zur Jahresmitte 2010 geschätzte 26.000 Tote gefordert hatte, wird die Sicherheit im öffentlichen Raum zunehmend Thema in Mexiko. Die Aufrechterhaltung des Vertrauens in die (öffentliche) Sicherheit geschieht mit aus Europa und der USA bereits bekannten Mitteln: Verstärkung der Präsenz von Sicherheitskräften, Überwachung mit Hilfe von Videokameras – wer es sich leisten kann, wohnt in Gated Communities mit Wachpersonal. Im Wesentlichen sind diese Maßnahmen auch in Mexiko nicht besonders wirksam, sondern stellen nur eine Inszenierung des 17
COM:PLOT, accionreaccion, Internationaler Kongress, Architektur und Städtebau, September 2008 in Guadalajara. 18 Bernhard Rehn aus Mexico City und Rodrogo Cortes aus Guadalajara. 19 Sitios de seguridad para niños (spanisch für „Ort der Sicherheit für Kinder“, „sicherer Ort für Kinder“) Parque de la Revolución, Guadalajara, Mexiko, Installation im Rahmen des Architekturkongresses COM:PLOT, 2008. osa & Sitios (Bernhard Rehn & Oliver Langbein mit Rodrigo Cortes & Anke Strittmatter). 20 Sitios ist ein internationales Netzwerk an der Schnittstelle von Architektur, Stadtforschung und Kunst. www.sitios-global.net. 21 Offizielle Bezeichnung der Auseinandersetzungen zwischen der mexikanischen Armee und den Drogenkartellen, aber auch deren Auseinandersetzungen untereinander, seit der Regierungserklärung des mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón vom 11.12.2006, in der er die Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität in Mexiko zu einem seiner wichtigsten Ziele für seine Amtszeit 2006 bis 2012 erklärte.
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Gefühls von Sicherheit dar. Erst seit Februar 2010 hat Präsident Calderón seine Strategie geändert und versucht nun, den Problemen auch mit Investitionen in Bildung, Gesundheit und Sozialarbeit zu begegnen. Der „Eingriffsplan Juárez“22 sieht Investitionen in Höhe von ca. 200 Mio. Euro vor. Die Freiheit im öffentlichen Raum wird unterdessen zu Gunsten einer vermeintlichen Aufrechterhaltung von Sicherheit eingeschränkt und das wird auch von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt.
Abb.7a Der Sitios de Seguridad para niños im Parque de la Revolucíon im Zentrum von Guadalajara (Foto: Oliver Langbein).
Um die kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema anzuregen, haben wir im Parque de la Revolución im Zentrum von Guadalajara einen Spielplatz in einem Käfig errichtet, der mit großen Lettern als Sitios de seguridad para niños betitelt wurde. (Abb.7a-c) Der Käfig war aber so ‚ungünstig‘ platziert, dass er die Benutzung der Spielgeräte unmöglich machte. Ein Gitter verlief genau durch das Sitzbrett der
Abb.7b links: Kinder beim golden Anstreichen des Käfigs. Abb. 7c rechts: Das Schaukelbrett in der Achse der Gitterwand gefangen (Fotos: Oliver Langbein). 22 Benannt nach der Stadt Ciudad Juárez nahe der texanischen Grenze, in der etwa jedes vierte Opfer
des Drogenkrieges zu beklagen ist.
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Schaukel, so dass diese nicht mehr schwingen konnte. Ein Basketballkorb war so angebracht, dass die Zeichnungen des Spielfeldes außerhalb des Käfigs, der Korb aber genau hinter dem Gitter im Inneren des Käfigs lag und somit jeden Korbwurf verhinderte. Wir haben die Installation während einer Nacht aufgebaut, in der wir uns im Übrigen völlig sicher fühlten, obwohl keine Ordnungshüter, sondern nur ein paar feiernde Jugendliche vorbeischauten. Unser Plan sah vor, dass wir am nächsten Tag den Käfig mit äußerster Penibilität golden anstreichen, anstatt uns um die Fragen nach den nicht funktionierenden Spielgeräten zu kümmern. Wir wurden allerdings überrascht von der für Europäer ungewohnt hohen Präsenz von Kindern im öffentlichen Raum, die in großer Zahl unsere Installation erkundeten und nach kurzer Frustration über die mangelnde Funktionstüchtigkeit der Spielgeräte in Ersatz damit begannen, selbst den Käfig golden anzustreichen. Die letzten drei beschriebenen Projekte zeigen eine Bandbreite auf, in denen wir trotz der starken Varianz des jeweiligen Kontextes mit ähnlichen Strategien tätig wurden. In allen drei Fällen haben wir uns für absurde, humorige Interventionen entschieden, die sich nicht anmaßen, Probleme zu lösen. Wir können weder die unmaßstäblichen Betonsilos in der Steiermark entfernen, noch die Einschränkung von Bürgerechten durch Überwachung verhindern oder gar die Drogenkriegsproblematik in Mexiko entschärfen. Wohl aber können wir den Blickwinkel auf diese Situationen und den Umgang mit ihnen verändern. Vertraute Orte und Räume? Das Adjektiv ‚vertraut‘ steht für das passivisch gebrauchte Partizip Perfekt von ‚vertrauen‘, das den Orten und Räumen, denen es zugeordnet ist, das Vertrauen des Publikums aufdrängt und überstülpt. Orte und Räume aus der Umklammerung dieses oft unhinterfragten Vertraut-Seins zu befreien, ist beständiges Ziel unserer Arbeit.
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Ralf Bohn BÜRGSCHAFT DES VERTRAUENS. DIE INSZENIERUNG ALS SANKTIONSFREIER ORT
I. GEDÄCHTNIS UND VERTRAUEN
Um die Verhältnisse zwischen Macht und Inszenierung sowie Gedächtnis und Erinnerung (als ‚Vorstellung‘) darzustellen, werde ich zuerst einige philosophische Grundlegungen versuchen und dann zeigen, wie in Schillers Ballade Die Bürgschaft solche Verhältnisse ästhetisch, politisch und dramaturgisch an der Grenze der Kantischen Bestimmung von Vertrauen (sensus communis) inszeniert werden. Einleitend einige Begriffssetzungen: Erfahrung ist Erinnerung ohne Kausalität. Die ‚Tiefe der Erinnerungsereignisse‘, ihre Wiederholung ohne Gleichheit (Analogie, nicht Identität), schafft Erfahrung. Aus Verlässlichkeit wird Vertrauen als ‚Selbsterfahrung‘. Bezeichnend ist die paradoxe Situation: Weil Ereignisse als erinnerte situativ und szenisch gebunden sind, sind sie mit jenen nicht identisch. Vertrauen muss sich sodann auf irgendeine Weise der ‚Verlässlichkeit des Gedächtnisses‘ (wenn dies nicht schon eine Tautologie ist) versichern. Doch nur das Nichtidentische wird der Macht des Gedächtnisses unterstellt. Ausgewiesen werden kann nicht eine ‚Herrschaftsinstanz von Gedächtnis‘, die quasi den ‚Reichtum der Erfahrungen‘ bewacht – Gedächtnis ist vielmehr die soziologische Form des Tauschorts von Ereignis und Erinnerung.1 Die soziologische Form dieser Nichtidentitätsidentität bildet das Reservoir, aber auch die Autorität des Vertrauens in Dinge und Menschen. Als ‚Menge‘ der Erfahrung bzw. ‚Reservoir‘ der Erinnerungsereignisse gelten im Kantischen Sinne die Analogien der Erfahrungen untereinander und deren Vergesellschaftung. Ihre Logik ist die von Zeitgestalten. Wesentlich an der Erfahrung (und somit an Gedächtnis) ist das Gestaltungsmoment zeitlicher Abläufe und konkreter Daten, respektive das Inszenierungserlebnis als ein Vollziehen von Erfahrungen (negativer Identität) in der Zeit. Um etwas in Erinnerung zu bringen, muss es ‚vorher‘ erfahren sein. Dieses ‚Vorher‘ ist logisch, nicht zeitlich gedacht. Folglich gibt es einen Konflikt zwischen einer Kausalität der Zeit und einer Politik des Vertrauens, der Bemächtigung und Instrumentalisierung dieser ‚vorbildlichen‘ Erfahrung. – Soweit das Szenario der Begriffe im Zeit-Spiel-Raum der Kultivierung von Selbstbemächtigung und gesellschaftlicher Macht, die politisch erst unter Fichte und dann Hegel reüssiert. 1 Das geschieht einfacher, als die Begriffe es nahelegen: Jedes Fotohandy verlagert das visuelle Gedächtnis aus der Körpererfahrung und stellt demnach eine mögliche Bemächtigungsquelle für einen Anderen dar.
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In der Inszenierung sind es paradoxale Regeln dialektischer Gleichzeitigkeit, von denen aus die Subjekte lebendige Erfahrungen ökonomisch und gleichsam spielpraktisch neutralisiert machen sollen: nämlich durch das Zugleichsein von mehreren widersprechenden, dramatisierten Konflikten, Personen und Sachen in einer Kontexterfahrung: der Szene selbst als einer relativen Aussetzung der Zeit und logischer Identität. Umgekehrt darf der Gedanke aufkommen, dass nur dasjenige Ereignis als Inszenierung deklariert werden kann, das den Kontakt zu den tieferen Konflikten des Paradoxons und der Kritik an der Herrschaft von Gedächtnis dramatisiert.2 Die Trennung zwischen ‚Realität‘ und ‚Inszenierung‘ ist demnach vom ökonomischen Standpunkt des Gedächtnisses aus zu ziehen, und zwar nicht von einem rein reproduktiven (hier bilden die Erinnerungen keinen Zeitverlauf, sondern beharren auf Identität in der Zeit), sondern von einem dramatischen, konfliktuösen, defizienten Gedächtnis ausgehend. Das technische Implikat des Inzest einer ‚Selbstbeherrschung‘ von Gedächtnis (respektive Selbstbewusstsein, als Erinnerungsvorstellung) erlaubt es, die Trennung zwischen ‚Inszenierung‘ und ‚Realität‘ in vielfältigen Fusions- und Abwehrkontrollen und Komplexen3 zu differenzieren, dabei geht es im Wesentlichen um die vorgestellte Sichselbstgleichheit der Realität und die differente inszenatorische Ähnlichkeitsbeziehung. Ich schlage vor, die Beziehung von ‚Realität‘ und ‚Spiel‘ nicht metatheoretisch, sondern dialektisch in Bezug auf die Struktur der Abwehr des Inzest der Selbstbeherrschung (im Sinne einer unmöglichen ‚Paravernunft‘) als Vergesellschaftung des Gedächtnisses, als Vertrauen, auszuführen. Vertrauen begründet sich durch die einsichtsvolle Ausgliederung sanktionierender (blinder, reproduktiver) 2 Diese Paradoxien sind durchaus einem neurotischen Charakter der Philosophie geschuldet und beruhen szenisch auf dem „zutiefst paradoxe(n) Charakter des Handelns“. Deswegen kann der philosophische Gedanke nicht umhin, beständig seinen eigenen Telos zu reflektieren, was ihm die Gefahr einer missverständlichen Tiefe, oder schlimmer, die falsche Hoheit eines Blicks von Außen verleiht. Lacan präzisiert: „Der Neurotiker erlebt das Paradox des Begehrens genauso wie alle Welt; denn nichts Menschliches, eingeschlossen in die conditio humana, entgeht dem. Der einzige Unterschied, der den Neurotiker charakterisiert, was das Begehren betrifft, ist der, dass er offen für die Existenz des Paradoxons als solches ist, was ihm selbstverständlich die eigene Existenz nicht einfacher macht, ihn aber unter einem bestimmten Gesichtspunkt auch nicht in eine so schlechte Position bringt.“ Jacques Lacan: Das Seminar Buch V. Die Bildungen des Unbewussten, Wien 2006, S.510. In Bezug auf die Eingeschlossenheit in die Dynamik der Selbstkonstitution zeigt sich beim Zwangskranken der paradoxe Versuch, das Begehren an sich selbst zu vernichten, was die „Performance-Seite jeglicher Tätigkeit“ begründet. Der immer scheiternde Nichtungsversuch ist der matriarchale Agent eines tyrannischen Delirs. Dabei steht der Neurotiker dafür ein, statt der Erinnerungen das Gedächtnis selbst bewahren zu wollen und zu bestrafen, falls es sich nicht fügt. Dieser Umstand verwickelt den Neurotiker in einen szenischen Tremor, dessen Ausweis Arbeit im allgemeinsten Sinne ist – wie jeden Anderen auch, mit dem Unterschied, das der ‚Realitätsbewusste‘ zwischen der Realitätsmacht der Erinnerung und der Gedächtniskraft der Vorstellung eine eindeutige Grenze zieht, sprich, sich im Vertrauen zu sozialisieren weiß. 3 Hier wäre die Einlassstelle für eine Untersuchung von Komplex und Szene mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Psychoanalysemodelle.
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Gewalt in Machtpotentiale als ‚List der Gedächtnisnutzung des Anderen‘. Erst die Trennung von Macht und Gewalt erlaubt z.B. politische Inszenierungen als Optionsmarkierungen politischen Handelns. Dies schafft im Aufschub den Raum für eine Selbstinszenierung von Gesellschaft (Kultur), dem im interioren Bereich des Subjekts der Spielraum des Gedächtnisses entspricht. Der Bereich des Aufschubs (chrono- und topologisch) kann als ‚Ort des Vertrauens‘ charakterisiert werden. Aus dieser Überlegung heraus wird ersichtlich, das Machtdispositionen nur verschoben, nicht aber abgeschafft werden können, z.B. auch als Selbstbemächtigung. Im engeren Sinne wird es nun um die Verortung/Aufhebung/Verschiebung der (Selbst-)Kontrolle der Vergesellschaftung gehen, mit Einschränkung also den funktionalen Selbstinszenierungsort von Vernunft als deren ‚vertrauensvolles Kulturgedächtnis.4 Eine progressiv-regressive Bewegung positiver und negativer Identität verkörpert sich szenisch und situativ, als Ereignis der Erinnerungsbildung.5 Wie aber lässt sich dieses Ereignis selbst darstellen, also erinnerbar machen? DerWahn, der aus der Schleife des Sich-selbst-vorweg-Seins folgt, ist Paranoia/Zwangsvorstellung: Verfolgungswahn, Misstrauen, Eifersucht sind der Wahn der Tyrannen, die selbst der Bannung der Sanktionsmächte (Polizei, Militär, Justiz, jetzt zuweilen an der unlauteren Grenze: die Medien) unterworfen sind, auf der das ihnen entgegen4 Hier müssen sich die Probleme anschließen, die man unter den Begriffen der „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ (Freud), ‚Metapher – Methonymie‘ (Lacan) und ‚Wissen vs. Erfahrung‘ bei Hegel avisiert. Versteht sich von selbst, dass Hegel die Aufhebung des Dritten bis zum Äußersten treibt. Umgekehrt hat Adorno, in der Negativen Dialektik und vor allem in seiner Ästhetik (am Rande auch Bloch) die Dinge bis ins Innerste zu treiben versucht, an deren Ende die Instanz des Dritten auf eine Kritik der Gewalt (pulsion) stößt und sich mit den Triebtheorien wieder kurzschließt. Die Darstellung des szenischen Aufrisses einer minimalisierten Inzestverfehlung als ‚Ereignis der Darstellung selbst‘ bleibt einer kommenden Arbeit vorbehalten. 5 Vgl. Jean-Paul Sartre: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Reinbek 1971, S.81. Die „progressive-regressive Dialektik muß im Verhältnis der Menschen zur Natur, zu den ‚Ausgangsbedingungen‘ und in den Beziehungen der Menschen untereinander gesucht werden. Hier entspringt die Dialektik als Ergebnis der Entwurfskollisionen.“ Sartre spricht die Frage an, ob an Handlungen die ‚moralischen Motivationen‘ deutlich werden. Der Begriff des ‚Entwurfs‘ weist dabei weitaus deutlicher als der des ästhetischen ‚Bildes‘ auf die pragmatische Zeitstruktur als die im ‚Motiv‘ gesetzte psychologische Struktur, wie sie Schiller in seiner Dramentheorie hat legitimieren wollen. Dass das Bild von einer vorlaufenden, zeitlichen Inszenierung präreflexiv diese Disposition erhält, hat u.a. Hans-Dieter Bahr (vermutlich in Anlehnung an die Empirie Piagets) angegeben: „Das je bestimmte Scheinende ist gegenwärtig stets nur in Bezug auf das, was repräsentierbar abwesend und weg ist. Das Sein aber des Gegenwärtigen wie des Vergegenwärtigten ist das Imaginäre. In seinem reinen Scheinen ist es voll-endete Anwesenheit, eine Anwesenheit, der nichts fehlt, und die daher auch nicht, wie das jeweils Scheinende und Verborgene, in einer Dialektik der Positionen, Negationen und Negationen von Negationen erfasst werden kann. Die vollendete Anwesenheit selbst ist das Imaginäre. ... Ihm fehlt das Fehlen selbst und darin ist es nicht dem Mangel, sondern allein einer Offenheit ausgesetzt.“ HansDieter Bahr: Schreckensbilder. Entwurf einer Bildtheorie. In: Petra Maria Meyer (Hg.): Gegenbilder. Zur abweichenden Strategie der Kriegsdarstellung, München 2009, S.109. Dementsprechend ist Szenografie kein Bildgebungsverfahren, sondern eine Darstellungstechnik. Szenografie ist Kunst/ Technik der Darstellung als Vorstellung, von daher ihr Charakter, jeden Bildraum medial zu sprengen.
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gebrachte Vertrauen ihrer Macht beruht. Der Tyrann ist gegen die Sanktionsmacht der Zeit ohnmächtig. Die tyrannische Macht deliriert zwischen absoluter Gewalt und Vertrauen in die Zähmung der exekutiven Organisationen, die in der Regel ausgegrenzt, anonymisiert und blind sind. Das Einzige, was der Tyrann fürchten muss, ist seine eigene Polizei, also den vergesellschafteten Wahn seiner Allgewalt. Diese Beziehung ist offen homosexuell. „Wir weisen lediglich darauf hin, dass die Paranoia in ihren verschiedenen Wahnformen durch ihren Abwehrcharakter gegenüber der Homosexualität definiert wird“6 – so fassen Laplanche/Pontalis den deliranten Vorgang des Versuchs der Selbst- als Fremdbemächtigung zusammen. ‚Szenologie‘ hat den Vorzug, funktional den Vernunft- respektive Machtvorgang in seiner paradoxen Gewaltexklusivität darstellen zu können, weil in ihr die Sanktionsmächte, körperliche Gewalt, aber auch Technikvernunft gebannt sind – nicht exekutiv, sondern allenfalls semantisch auftreten. Szenografie ist auch immer ein affektives, simulatives Spiel mit aufgeschobener Zeitigung, und den moderierten Kräften der Selbstbeherrschung – aktuell tendierend in zwei Richtungen: der Musealisierung/Archivierung (das Gedächtnis als Aufschub betreffend) und der Dramatisierung (die Universalparanoia betreffend). Szenografien dienen als Regulative des Vertrauens, bilden eine externalisierte Form von Gedächtnisvollzügen (nicht Erinnerungen) mit dem Ziel der Bemächtigung von Erfahrungen. Wir werden uns an dieser Stelle nicht explizit mit Formen der Paranoia, also dem paradoxen Selbstverfolgungs- und Beherrschungswahn beschäftigen7, sondern mit der Verlässlichkeit der Bürgschaft des Vertrauens, mit der heterosexuellen Sperre der Selbstverfehlung des Gedächtnisses durch Auslagerung im Verfügungsbereich stets zeitlich begrenzter Machtteilung und -auslagerung und der damit einhergehenden Bannung von Sanktionsmächten. Es geschieht, dass die Einmaligkeit eines Ereignisses (Schock, Trauma) die Dauerhaftigkeit seiner Erinnerung verbürgt. Solche Traumata sind meist wegen fehlender Kontextdisposition nicht valide, haben keine oder eine gestörte (entfremdete) Subjektbeziehung. Erst der Rück- und Austausch von Ereignissen im Gedächtnis über den Außenbezug von Kultur und Gesellschaft sichert dem Trauma Spielräume, innerhalb derer die traumatische Verdinglichung moderiert werden kann und konkrete, nichtrevidierbare Erinnerungskomplexe szenisch umgedeutet werden können. Auf die Identitäts- respektive Wiederholungsfunktion hat sich Freud bezogen, als er mit Unbehagen in der technischen Kultur die paradoxe Dauerhaftigkeit von Schocks sich steigern sah.8 Die Psychoanalyse Freuds, aber auch die Jungs 6 Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. II, Frankfurt am Main
1982, S.367. Tyrannischer Wahn – wie er sich in der Stasi oder im Reichsicherheitshauptamt als große „Gedächtnismaschine“ (Personal-/Volkscomputer) manifestiert. 7 Siehe dazu den Beitrag von Rudolf Heinz in diesem Band. 8 Sigmund Freud: Das Unheimliche, GW Bd. XII, London 1978, S.237: „Es reiht dem Unheimlichen
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ist nicht zuletzt aus diesem Grund einer Kultur der reinszenierten Erinnerungen verpflichtet. Szenologie soll nun jenes Unternehmen sein, das die Wiederholbarkeit von Einzigartigkeit (Ereignis) kritisch darstellt, indem sie den zeitlichen Verlauf der Ereignisbildung unter der Obhut verschiedener (positiver und negativer) Techniken der Erinnerungsbildung und ‚Zeitgestalten‘ unterstellt. Szenografen sind Lehrer der ‚Erfahrungsökologien‘.9 Als Fazit der chronologischen Überlegungen gilt: Es ist die Rücktauschgarantie der Erinnerung, die als Vertrauenswert fungiert, auch wenn diese dann oft schon wieder an den medialen Apparat abgetreten wird. Als szenische Großform dient im Allgemeinen Abenteuer und Heimreise des Helden. Vertrauenskrisen herrschen immer dann, wenn die Sanktionsmächte, also die Selbstbemächtigungsdifferenz (eben der szenische Kontext und seine szenografische Bearbeitung) nicht eigens ausgewiesen wird, wenn der Ausgang der Geschichte, respektive deren mindestens nichttödliches Ende nicht versichert werden kann. Die Krise betrifft dann gleichermaßen die Systeme der Vertrauensbildung wie die Systeme der Machtdelegation. Dass Vertrauenskrisen nicht inszeniert sind und nach einem Krisenszenario, d.h. patriarchaler Vernunft verlangen, ruft wiederum szenografische Kompetenz auf den Plan. Offensichtlich kann man – anders als eine im Wiederholungszwang maschinisierte Wissensgesellschaft – Erinnerungkompetenz nicht befehlen. Sie muss sich im differenten Gedächtnis als Zeit verdinglichen, also im Moment von Tausch- oder Kommunikationsakten. Nur die ‚verfehlende‘ Erinnerung kann als meine angesehen werden, da hier die Instanzen von Erinnerungsgegenstand und Erinnerungssubjekt sich dialektisch aufspalten und wechselseitig bedingen. Die ‚geglückte‘ Erinnerung (Inzest) als idyllische Evidenz (Wissen, als Sanktionsmacht von Realität und Selbst) wird ihren Gegenstand nicht dem Analogiefluss unterstellen, sondern muss auf Datierbarkeit oder bibliothekare Ordnungssysteme verweisen. Insofern braucht man Wissen auch nicht zu vertrauen, es ist als reproduzierbare Identität kein Erfahrungsgegenstand, nicht zeitlich (wenn auch historisch) und zu Recht aufgrund seiner Bemächtigungsstruktur immer Herrschaftswissen. Eine anschauliche Bürgschaft des sich selbst verfehlenden Gedächtnisses des epileptischen Anfalls und der Äußerungen des Wahnsinnigen an, weil durch sie in dem Zuschauer Ahnungen von automatischen – mechanischen – Prozessen geweckt werden, die hinter dem gewohnten Bild der Beseelung verborgen sein mögen.“ Freud knüpft hier lose an ein Konzept Schellings an – eine seiner seltenen Referenzen an die Philosophie des Idealismus. 9 Vgl. den Beitrag von Ludwig Fromm in diesem Band. Szenografien schaffen nicht Vertrauen, sondern machen die Situativität und Relativität der Selbstverfügung wiederholbar, um von der (falschen) Idealität einer einmaligen, unwiederbringlichen Wirklichkeit zu entlasten. Der Szenograf bürgt dafür, dass das Ereignis einmalig, aber im Gedächtnis wiederholbar gestaltet ist. Ereignis ist es im Hinblick auf seine Erinnerbarkeit, durch die hindurch Subjektivität sich stabilisiert, indem es die kontextuelle (dramaturgische) Pro- und Regression des Ereignisses selbst zur bevorzugten Darstellung bringt.
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(‚auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘, könnte man mit Proust sagen), eine Funktionalisierung der Herrschaft des/über das Gedächtnis, gibt eben Schillers Ballade Die Bürgschaft zu bedenken. In ihr ist die produktive Verfehlung der Selbstidentität in der Konjunktur des absoluten Vertrauens aufgehoben. Insofern eben nur die Nichtidentität der Identität (Ich) qua differentialisierendes Gedächtnis eine Bürgschaft wider die Tyrannei der Allverfügbarkeit von Autorität ermöglicht. Dank pädagogischer Kultivierung ist die Ballade in viele Kinderhirne eingebrannt. Auf die Funktionalität der Ballade, in der das Spiel von Herrschaft, Inzestabwehr, Vertrauen und Vergessen, paradigmatisch wird, zielen die nun folgenden Ausführungen ab.
2. GEBEN, WAS MAN NICHT HAT
Medien sind Vertrauen bildend, weil sie kontingent sind – in dieser tautologischen Form bürgen sie für sich selbst. Sie zeichnen sich durch Produktion, Wiederholbarkeit und Archivierbarkeit aus. Als externalisierte Gedächtnisse bilden sie das Substrat des Vertrauens, wie früher das gegebene Wort, der Eid, der Schwur, die Schrift, der Vertrag. Alle diese Medienselbstdarstellungen aber bedürfen eines Unterpfandes, um Vertrauen als Erinnerung zu stabilisieren, nämlich eines Subjekts, das sich in ihnen kritisch differiert. Nicht nur Benjamin spricht vom Mediennutzer als durchweg kritischer Sanktionsmacht, die Ferne und Nähe zum Ereignis evaluiert, er spricht aber auch von dem potentiellen Rausch und Verlust in die Kontingenzstruktur der Medienmächte. Medien transponieren das Inzestproblem auf die Ebene von Vertrauen, z.B. im Paradoxon der Dokumentarität. Wie schwierig der Drahtseilakt des Gedächtnisses, der Reaktualisierung der Archive zwischen Vergessen und Informationsbeschaffung ist, zeigt das Titelmotiv des Seiltanzes. (Abb.1)10 Vertrauen in die Ehe verlangt vor allem die Aufhebung des Gedächtnisses im stabilisierenden Akt der permanenten Vergebung, der heterosexuellen Rücktauschbarkeit. Initial muss das Gedächtnis der Aufhebung des Gedächtnisses einem Dritten, dem Trauzeugen überantwortet werden. Vertrauen ist gerade nicht eine blinde Kreditierung ohne Gedächtnis, sondern setzt sich an Stelle von Gedächtnis, das in der Performanz in Frage gestellt wird. Der Dritte besetzt keine metathematische Position, sondern durch ihn wird die Inszenierung zur Realität beglaubigt, Heiraten nicht bloß eine Technik dualer Abschließung, sondern gesellschaftlicher Konstitution einer Binnen10 Vgl.
dazu Sören Kierkegaard: Entweder – Oder, Teil II. Kierkegaard betont, dass Handeln wählen bedeutet, dass aber der Übergang von der Ästhetik zur Ethik an die Verzweiflung gebunden bleibt, sich selbst als Wählenden wählen zu müssen, mit dem Paradox, letztlich deren Situativität akzeptieren zu müssen. Folgerichtig gibt es bei Kierkegaard zwar eine Theorie der Gabe, aber keine Theorie des Vertrauens, auch wenn Handeln bedeutet, Zeitlichkeit in ästhetische Implikationen einfließen zu lassen, Philosophie also dramaturgisch zu inszenieren.
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differenzierung privater Gewalt, in der der performative Akt der ‚Hochzeit‘ in permanenter Auseinandersetzung dissoziiert werden kann. Es ist geradezu eine Auszeichnung der performativen Geste, dass in ihr die Gewalten nicht getrennt werden können, wenn sie nicht ausdrücklich symbolisch dazu aufgerufen werden – was in der Realität der Person des Trauzeugen beglaubigt ist.11 Offenbar darf nämlich dasselbe Ereignis in seiner Rettung nicht dasselbe sein. Das gleiche schon. Zwischen dem Selben und dem Gleichen liegt die Opfermarge des Vertrauens wie der medialen Rettung. Es erfordert die dramatischen Opferkonzessionen eines narzisstischen Urvertrauens – also Selbstbewusstsein, Vernunft – um jeden Morgen als derselbe aufzuwachen. Man kann niemals zweimal in den selben Fluss steigen, aber man ist auch niemals derselbe. Das Inszenierungsspiel soll dafür bürgen, ein Anderer sein zu können, damit man derselbe sein darf. Das Spiel geht nicht ohne Opfer aus: Die Freiheit, ein Anderer zu sein, ist an die Dialektik des Vertrauens gebunden, wieder in die Selbigkeit zurückkehren zu können. (Abb.2) Damit der Inzest der Gleichheit, also die Fiktion des absoluten Gedächtnisses (Ich), sich in einem Anderen verfehlend erinnern kann, muss das mediale Dritte als operativer Raum der Inversion (des Rücktauschs) der Reflexion12 geöffnet und kontingent sein. Die Bürgschaft des Rücktauschs gelingt niemals vollständig – auch nicht in dem scheinbar sich selbst restituierenden Reproduktionskörper der identischen Ware. Als Bürge steht dem Ereignis der Hochzeit der Trauzeuge bei. Er ist die dritte Instanz, die die Memorialität der Unwiederholbarkeit des Ereignisses sichert. Das gilt es festzuhalten: Nicht das Ereignis, sondern die Unwiederholbarkeit des Ereignisses soll verbürgt werden. Die Bühne dieser Menage a trois hat Heidegger, wie Michael Wetzel gezeigt hat, als „Zeit-Spiel-Raum“ benannt.13 Das ‚dritte Geschlecht‘, das der Trauzeuge repräsentiert, tritt für das performative Ereignis mit seiner körperlichen Präsenz ein. So frei die Rede vom Vertrauen klingt, ohne Körperbürgschaft und -gedächtnis (und das heißt dann auch immer Machtdelegation und Sanktionstrennung) bleibt sie leer. Zwar tauscht man am Altar noch Ringe (also das Symbol der scena als Kreis, dem es um seine leere Mitte geht – so Musils Definition negativer Identität)14 –, das 11
Und in dem Umstand, dass man in der Regel heterosexuell heiratet.
12 Dies ein stehender Topos der Frühromantiker, u.a. Schellings. Vgl. Ralf Bohn: Transversale Inversion.
Symptomatologie und Genealogie des Denkens in der Philosophie Robert Musils. Würzburg 1988. 13 Michael Wetzel: Erweiterter Raum. Inframediale Osmosen zwischen Künstler und Betrachter nach Marcel Duchamp. In: Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.1, Bielefeld 2009. – Deswegen sind Scheidungen in Sozialbeziehungen stets problematisch und können vom ideellen, katholischen Standpunkt auch nicht legitim sein. 14 Musil deutet den Ring als absolute Metapher. Konkreter als diese evidenztheoretische Inversion von Sein und Nichtsein, von ‚Inhalt‘ und ‚Medium‘ ist das berühmte Kapitel 100 des Mann ohne Eigenschaften, mit dem Titel „General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung“. Eine der Erfahrungen, die gleichzeitig als Persiflage auf das Internet-Zeitalter verstanden werden kann, ist die, dass der Bibliothekar niemals Bücher, sondern nur Kataloge über Bücher liest. Hier ist Wissen auf seine homosexuelle Inzestposition
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Abb.1 Strategie der Inzestvermeidung.
wahre Pfand aber ist das affirmative und antizipatorische Versprechen (Futur II)15, das man sich gegenüber dem weltlichen und himmlischen Dritten gibt. Das Ereignis der Hochzeit (wir sehen das gleich in Schillers Ballade) ist eine Vorzeitlichkeit, die der eigentlichen Ehe als Proszenium vorausgeht und diese selbst als (katholische) unwiederholbare Inszenierungsform protegiert. Im magisch ausgetauschten Wort ist der Körper noch präsent, oder war es, als man den Bruch eines Ehrenwortes noch mit einem Duell beglich. In elektronischen Medien, das braucht nicht erläutert zu werden, fällt das Körperpfand des Gedächtnisses aus: Es bleiben Affekte des Vertrauens. Die dialektische Synthesis zwischen Einmaligkeit und Wiederholbarkeit liegt in der Etymologie des Verbums ‚treu‘.16 Es meint ursprünglich ‚fest‘ und ‚flüssig‘ oder ‚flüchtig‘. Raum ist fest, Zeit ist fließend. ‚Festlichkeiten‘ sind in dieser Hinsicht Inszenierungen, die einmalig, aber wiederholbar sind. Feste sind periodisch wiederkehrend und somit verlässlich und Vertrauen erweckend. Sie haben wie Kult und reduziert. „Irgendwie“, so der General Stumm, „geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über.“ Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, GS Bd.2, Reinbek 1978, S.465. 15 Siehe dazu den Beitrag von Christoph Weismüller in diesem Band. 16 Treue ist, abgeleitet vom ahd. Gitruwi, oder altenglisch Triewe, verwandt mit dem außergermanischen drutas. Die Bedeutung ist ‚stark, fest, dick‘ und meint indogermanisch nach dem Substantiv deru ‚Baum‘, namentlich ‚Eiche‘, und betont die Festigkeit, Bodenhaftung und Unerschütterlichkeit der Eiche, aber ihre Langlebigkeit. Diese Bedeutung findet sich heute noch in der engl. Wortgruppe um tree, aber auch im Wort ‚Teer‘, dem Mittel der Holzverbindung und der Wasserabweisung im Schiffbau.
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Abb.2 Politik der kleinen Schritte: Phillippe Petit zwischen den Doppeltürmen des World Trade Centers, 7.8.1974: Die Rückkehr zur sich selbst hat keinen singulären Ort.
Natur ihre unverrückbare Zeit und Zeitgestaltungen, sind, anders als Finanzströme, nicht jenseits der Körper liquide. Im Fest ist das Vertrauen auf zirkulare Zukunft bewahrt und wird als solche ‚Vernunft der Natur‘ im vorwissenschaftlich magischen Sinne gefeiert: als Zeit (Rausch), in der das Gedächtnisproblem ausgesetzt werden kann und dann natürlich auch der Tod, der ein Implikat der Zeit der Gedächtnisverfehlung darstellt. Kultur kann im Spannungsfeld zwischen Dauer und Flüchtigkeit Vertrauen horten und ausweisen. Weil Vertrauen als Ausweis optionaler Rücktauschbarkeit von Raum und Zeit nicht restlos aufgeht, muss man Vertrauen schenken. Die Liebe ist ein solches Geschenk. Sie ist, nach Lacan: „geben, was man nicht hat“.17 Und damit ein negatives Opfer, wie Vertrauen ein Positives. Liebe ist nicht archivierbar, sondern nur je aktuell erfahrbar. Als Inszenierung in Permanenz vertraut sie nicht einer reproduktiv zweifelhaften Gedächtnisform, sondern setzt eben auf direkte Vergebung. Die Ambivalenz des Vertrauensbegriffs deutet Sartre in seinen Entwürfen für eine Moralphilosophie an, indem er ihn mit dem Begriff der Freiheit vergleicht und zu einer Thematisierung der „Freiheit des Anderen“ kommt. Während der Begriff der Freiheit sein dialektisches Avis in dem der Ordnung hat, so hat der Begriff des Vertrauens, also die Akzeptanz der „Freiheit des Anderen“ sein Avis in dem der Kommunikation. 17 Jacques Lacan: Die Ausrichtung der Kur und ihre Prinzipien ihrer Macht. Schriften I, Frankfurt am Main 1975, S.208. Und z.B. ders.: Das Seminar Buch X. Die Angst. Wien 2010, S.139: „Nicht grundlos trichtere ich Ihnen seit jeher ein, die Liebe ist geben, was man nicht hat.“ Vgl. auch Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit-Geben 1, München 1993, S.10 – mit Verweis auch auf den Heideggerschen Gabenbegriff.
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Die Rechtfertigung als geschlossenes Absolutes verliert ihre Rechte; sie wird offene Rechtfertigung mit Erwartung der Zukunft, das heißt Vertrauen. Kritisches Vertrauen, das heißt Feststellung einer Orientierung der Freiheit des Anderen auf ein Werk hin, das man rechtfertigen kann, wenn es getan, das heißt bereits zur nicht zu rechtfertigenden Einsamkeit hin überschritten ist. Andererseits hat dieses Vertrauen nur in meiner Entscheidung, es zu akzeptieren, einen realen Grund, das heißt in der großzügigen Gabe des Werkes. Man rechtfertigt nur die Werke, und die Werke rechtfertigen nichts.18
Wenn Sartre bestimmt: „Vertrauen ist die Vorhersage der Freiheit“19 – dann leitet diese Aussage zu einem szenologischen Aspekt über, nämlich dem der Freiheit (Zwischenraum) der Selbstbeziehung – Schlüssel der Vernunft –, die nur möglich ist mit einem Verweis auf eine zweite (sanktionierende) Kraft – im Fall des Seiltanzes die vertikale Schwerkraft der Erde. ‚Vorhersage der Freiheit‘ meint nicht Zukunftsdeuterei, sondern eröffnet eine gegenwärtig balancierte Möglichkeitsform von Realität und Möglichkeit, d.h. ein Potential des Aufschubs von setzender Gewalt. Hierzu gehört, dass man die produzierten Dinge zurücknehmen kann, das gilt insbesondere für solche Dinge, die als ‚einmalige Sachverhalte‘, z.B. künstlerische Werke nur performativ-aktuelle Realität besitzen.20 Hier ist sozusagen der Rücktauschwert ideal. Vertrauen ist die Akzeptanz des Spiels der Überschreitungen, d.h. der Inszenierungsformen, und damit natürlich ein Mittel, um feste und flüssige Übergänge zu kontrollieren, etwa die Stasen der Zeitlichkeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das aber heißt, man muss sich von der tyrannischen Ordnungsmacht eines absoluten Gedächtnisses emanzipieren und Vertrauen als Spiel mit dem Gedächtnis, das heißt mit dem Rücktausch (und in Schillers Bürgschaft mit der Rückkehr des Freundes, nach heterosexuellem Abenteuer) begreifen. Sartre legt zwischen Ordnung und Orientierung einen weiteren Parameter fest, nämlich den des utopischen Gehalts der Freiheit – Utopie verstanden als Möglichkeit einer Differenzsetzung zwischen unbedingtem (technischem) Realisierungszwang und imaginativer Kritik, Philosophie. Das heißt für den Begriff des Vertrauens, dass dieser weder kausal noch cartesianisch, quasi statisch zu fassen ist, sondern im Sinnbild der Ringparabeln und -metaphern einen Vorgang, Kreislauf, Ringspiel bezeichnet, in dem der eigentliche Gegenstand, das Vertrauen, nur im beständig negativen Umschreiten einer Wunschform der Treue existieren kann – gemäß der von Bloch und Adorno präzisierten Formel, dass die Utopie sich beständig in sich selbst aufschiebt, um nicht zu vergehen: ein Esel, dem man an einem Stecken vor seinem Kopf eine Möhre befestigt, die er im Fortschreiten zu fassen sucht, und 18
Jean-Paul Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, S.137. Ebd., S.138. 20 Dass gerade Kunstwerke mit ihrem ikonischen Wert und der realen Wertlosigkeit spielen, indem sie sich fetischhaft des Goldrahmens oder Brillanten bedienen, charakterisiert ihren Inszenierungsgehalt. Kunst spielt die Rolle eines Objekts, das nicht erscheint, das sich nicht ‚hingibt‘. Siehe dazu auch den Beitrag von Pamela C. Scorzin in diesem Band. 19
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dennoch beständig auf Distanz hält.21 Die Utopie ist die Vorhersage dessen, was nicht erscheinen soll. Auch Die Bürgschaft Schillers erzählt von einer dramatisierten Flucht aus tyrannisch gedachter Gegenwart in die Kontingenz einer Alternative. Im Gegenwartsbezug einer ‚Ballade‘ riskiert Schiller wie Lacan die Formel „geben, was man nicht hat“. Ohne den komplexen Gabenbegriff Heideggers zu traktieren: Vertrauen kann niemandes Eigentum noch Eigenschaft sein, sondern kennzeichnet eine vorlaufende soziale Phänomenalität ausgehend vom Begehren des Anderen. Es ist das Problem der Evidenz, also des Gedächtnisverlustes, das permanent die Evozierung von Vorstellungen – Imaginationen als Inszenierungen auf den Plan ruft, und zwar konträr zur Identitätsunterstellung technischen Wissens. Die spätestens im 20. Jh. quittierten Hoffnungsmodi der Eindeutigkeit von Realität protegierten Vorstellungsbilder vor einer absoluten Dominanz universaler Vergegenwärtigung, einer absoluten Präsenz globaler Selbstverwirklichung und Dauer.22 Heute geht es nicht mehr um die Wahrung eines absoluten Gedächtnisses, sondern um seine inflationäre Entwertung durch die Stabilisierung einer hysterisierten Dauerpräsenz performativer Ereignisse, die alle je für sich einmalig (schockhaft) sind und die nur noch in ihrer Einmaligkeit bewahrt werden: Es genügt die Datierbarkeit, das Fotografische. Drohte doch gerade im Verzicht auf technisch hergestellte Form eines absoluten Gedächtnisses der inzestuöse Kollaps eines Misstrauens in die Differentialität des Selbstbewusstseins: Die bloße Vorstellung davon, das alles nur wahnhaft ist. Nach Lacans Aussage ist Liebe ebenso wie Vertrauen eine Wahnvorstellung. Der Wahn ist eine Illusion, die sich selbst als solche nicht erscheint. Da der Wahn als solcher sich nicht erscheint, blendet er die Unsicherheitsmarge des Geschenks, das man gibt, obwohl man es nicht hat, aus. Nicht Liebe, sondern Wahn ist die Synthesis zwischen Treue und Untreue, da hier der Anspruch nicht im Objekt eines Anderen, sonderen als ‚anderes Objekt‘ artikuliert ist. Denn im Wahn bin ich meiner Untreue treu, weil ich wähne, dass sich Ereignisse nicht auf Dauer halten lassen. So ist Vertrauen nicht zu reduzieren auf eine sichernde Gegenüberstellung zweier Subjekte, denn Vertraute stehen in der Beziehung von zwei Körpern in einem Leib. 21 Lacan verifiziert ‚das Reale‘ als das vagabundierende/kastrierte Objekt, das nur in seinem Nichterscheinen erscheint, in etwa also das Prinzip der strukturalen Lücke/dem fehlenden Elemente. Für Adorno/ Bloch ist das Signum eines jeden utopischen Zustandes, der unendliche Aufschub seiner Realisierung, das von Kritik. Das schließt auch den paradiesischen oder idyllischen Charakter der utopischen Vorstellung mit ein und wehrt einen realistischen Ausdruck ab. Th. W. Adorno/Ernst Bloch: Etwas fehlt ... Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Interview, abgedruckt in: Ernst Bloch: Tendenz–Latenz–Utopie, Frankfurt am Main 1978 (GS Bd.16), S.350-367. 22 Karl Heinz Bohrer hat darauf hingewiesen, dass der Moment ästhetischer Utopie oft mit Motiven eines Inzest (an Motiven bei Proust und Musil) einhergeht. Denn ein absolutes Präsenz lässt sich nur im anderen geschichtlichen Augenblick monadisierter Dauer denken. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981, S.207.
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Hier kommen die Unterschiede zwischen Freundschaft, Liebe und Verwandtschaft zum tragen, also Regulative der Inzestverfehlung.23 Die Mediengeschichte kennt solche gespaltenen personalen Verwandtschaften/Möbiusfiguren zur Genüge: Dr. Frankenstein und sein Monster, Dr. Jekll und Mr. Hyde, Sherlock Holmes und Dr. Watson, aber auch James Bond und Dr. No. Stets handelt es sich um eine monströse Beziehung von utopischer Vernunft (Doktor) und animalischer Imagination, die miteinander im Wahn einer unverbundenen Verbundenheit vagabundieren; stets auf der Suche nach dem Widerstreit von utopischer Erfüllung (Liebe) und Fusionsabwehr der Körper (Inzest).24 Nicht Gedächtnisvollzug, sondern Abenteuer erfüllen ihr Leben. Sämtlich geht es um die Trennung von Machtexekutive und Machtsanktion im und durch den jeweils Anderen, ohne Drittenbezug, der ‚bürgerlichen‘ Statik. So wäre die Formel des absoluten Vertrauens wie der absoluten Macht zu definieren: den Anspruch der Freiheit des Anderen als meine Freiheit in Besitz zu nehmen und zu mehren. Nicht nur das Hegelsche Paradox von Herr und Knecht verweist auf den drohenden Verlust des Selbst durch den Tod des Anderen. Das ist das Ergebnis einer jeden ehelichen Schlussfrage: Wer begräbt den Anderen, wer entzieht sich dem Vertrauen durch Tod? So endet der Streit um die Aneignung des Vertrauens und deren ewiger Gewährung im tyrannischen Wahn des Sadismus-Masochismus oder in der Paranoia der Technik- und Medienmogule von Dr. Frankenstein bis Dr. No, die mit ihren möbiushaften Gegentopologien die Ordnungsmächte der Tauschkontinuität auf den Plan rufen. Wahn und wähnen, diese wagnerschen Vokabeln deuten dunkel an, worum es in einer notwendigen Inszenierung des Vertrauens geht: Die Inszenierung muss verdecken, überspielen, verdrängen, dass, entgegen der illusionären Kraft der Techniken, Vertrauen in die Wiederholbarkeit eines Ereignisses (und mitgedacht: die Dauer eines Werks) stets nur ein „leerer Wahn“ bleiben muss, wenn keiner für den Anderen mit seinem Körper als Opfersubstanz respektive mit einem Dinggedächtnis bürgen will. In der Medienbürgschaft ist dann quasi die Bemächtigung als Zugriff auf 23 Spezifischer habe ich das in Ralf Bohn: Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei
Paul Klee. Szenografie & Szenologie Bd.2, Bielefeld 2009, zu sagen versucht: Es handelt sich um die Spiegelbeziehung einer Lemniskate, d.h. einer chronologischen Form des topologischen Möbius-Bandes, in der das Verhältnis von (Körper-)Innen und Außen als ungetrennt vorgestellt werden muss. D.h. eine Dimension zwischen Fläche und Raum, deren Fetisch die Haut sein kann, aber auch der Körper des Anderen (Double) als Projektion eines immerwährenden Entzugs geglückter Reflexion. In genau diesem Verhältnis ist auch die Unterscheidung von ‚Inszenierung‘ und ‚Nicht-Inszenierung‘ zu denken, nämlich nur dann, wenn man der ‚Nicht-Inszenierung‘ den Status eine realen Objekts verleiht, was, wie man bemerkt, eine reine Fetischisierung ist. Die Diffusion der Unterscheidung erfolgt dann eben auf der von Derrida vorgebrachten Ebene der ‚Gabe von Zeit‘, deren virtuelles Pfand Vertrauen ist. 24 Als Sonderform seien zwei Genre-Filme angeführt: Alien (Ridley Scott, USA 1979): zwei Körper in einem; und: Der Exorzist (William Friedkin, USA 1973): die zur Sichtbarkeit drängende Stimme (des Anderen), die den Körper nicht verlassen kann oder will.
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die Archive der Konflikte demokratisiert. Erst der Rückfall in die Unhintergehbarkeit der (All-)Präsenz führt zur Auflösung der Archive. So heißt das altgerm. wana in seltsamer Tautologie auch ‚eitel‘, ‚leer‘. Vertrauen als leerer Wahn ist die völlig ungesicherte Bürgschaft des Lebens.
3. COMMUNIO UND COMMERCIUM
Freiheit und Selbstbewusstsein, Vertrauen und Misstrauen, Opfer und Leben, Liebe und Leid, das sind die Ingredienzien jeder guten Inszenierung, umso mehr, wenn in ihr jeder Spieler gibt, was er nicht hat, indem er so tut, als wäre er der, der er nicht ist. Das Besondere an den modernen szenografischen Künsten ist die Aufhebung der Dualität der Treue in die technisch-autoritative Bürgschaft des medialisierten Vertrauens. Anders gesagt, Vertrauen zwingt zur hierarchisierenden Organisation in einem Dritten: nämlich der (technischen) Regel oder dem Gesetz, nach dem das Verhältnis von Selbst- und Anderemverhältnis überhaupt erst aufgestellt werden kann. In der Logik der Szene wird nicht eine Regel aufgestellt, sondern der Konflikt selbst inzestuös dramatisiert. Das folgt der systemtheoretischen Unterweisung Luhmanns, nach der „Vertrauen ... die Gegenwart als dauerndes Kontinuum im Wechsel der Ereignisse“25 lebendig hält. Ersetzt man Luhmanns Beziehungssystem ‚Zeit‘, in welcher das Vertrauens die Funktion hat, zu realisieren, wie „die Gegenwart in ihrem Potential, Komplexität zu erfassen und zu reduzieren“26, verfasst ist, durch die Kategorien von Anspruch und Hemmung („Abwehrcharakter der Homosexualität“), wird ersichtlich, wie Vertrauen als Balance von Dramatisierung die Fähigkeit einräumt, das Aktuelle auszustehen und zu bewahren: zum Gelingen von Kommunikation und Gesellschaft, d.h. zu deren Finalisierungs-/Inzestaufschub.27 Die transzendenten Objekte dieser Dramatisierung zweier Subjekte28, die Kant als doppelte Relationen (Analogien) thematisiert, bezeichnet Luhmann als Medien: „Geld, Macht und Wahrheit, ..., sind soziale Mechanismen, die es erlauben, Entscheidungen zu vertagen und doch schon sicherzustellen, also mit einer Zukunft von hoher, unbestimmter Ereigniskomplexität zu leben.“29 Auch hier geht es also um eine Manipulation von Zeit, nicht um deren Erfüllungsvoraussicht 25
Niklas Luhmann: Vertrauen, Stuttgart 2009, S.14. Ebd., S.18ff. 27 Insbesondere sei auf die Aktivität des Zuhörens verwiesen. Vgl. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S.249ff. 28 Zu der Öffnung der Bidirektionalität der Kommunikation über duale Beziehungen hinaus in Gruppenprozesse siehe Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Reinbek 1967. Zentrale Szenifikationen Sartres sind szenologisch weitergedacht in: Ralf Bohn: Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee. Szenografie & Szenologie Band 2, Bielefeld 2009, S.203ff. 29 Luhmann, Vertrauen, a.a.O., S.19. 26
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(Futur II). Worauf Luhmanns Argumentation hinausläuft, ist die Inbesitznahme des Gedächtnisses als objektive Bürgschaft des Vertrauens, und zwar als Gesellschaft, die ihre Sanktionsmächte zur Entfaltung eines unendlichen Tauschs im Warentausch realisiert und entmachtet. Ein Blick auf Kant hilft zu verstehen, was mit der Relation zweier Relationen (Subjekte, resp. Selbstbeziehungen) gemeint ist. Analogie ist, nach Kant, nicht bloße Ähnlichkeitsbeziehung, sondern eine solche von Transponierung, die darauf ausgerichtet ist, Identitätsverhältnisse unendlich aufzuschieben. Dahinter verbirgt sich ein vergleichendes Verhalten, indem der eine sich in die Rolle des Anderen versetzt und damit auf jenes Rollenspiel baut, das eine wechselseitige Anerkennung, nämlich Vertrauen und Vertagungen (‚Triebaufschub‘) sowie Rückkehr ermöglicht. Der logische Ringschluss der Analogie wird bei Kant bewusst in beiden Termini, dem des direkten Tauschs und dem der Vergesellschaftung, gelegt. Kant setzt nämlich voraus, dass es ein „Gefühl“ dafür gibt, dass Subjekte einander ihre ästhetischen Ansprüche im Sinne eines sensus communis unterstellen, aufgrund dessen sie als einander verbundene unterschiedliche ästhetische Urteile zuzugestehen fähig sind. Dabei ist dieser sensus kein idealistischer Vollzug, sondern eine Regel, eine Maxime. Demzufolge gibt es für Kant auch keine Kunst an sich, sondern nur „soziale Praxis“.30 In Analogie zum ästhetischen Urteil, das ja niemals objektiv sein kann, gibt es ein ethisches Urteil vorweg, dessen Gefühl nicht im „Geschmack“, sondern im Vertrauen gegründet ist. Dessen Gegenstand sind nicht ästhetische Erscheinungen, sondern Handlungsinitiationen, Gesten. Gesten sind Maximen von Handlungen, nicht diese selbst, sozusagen, Handlungen, die nichts ins Werk setzen. Als solche müssen sie – in Analogie zur Kunst – in eine kritische, d.h. sie selbst überschreitende Praxis eingebettet gedacht werden. Das aber setzt voraus, dass auch zwischen Inszenierung und Realexekution so unterschieden werden kann wie im Politischen zwischen der legislativen und der exekutiven Gewalt. Wie in der Logik der Analogie üblich, bedarf es zu deren transzendenter Bestimmung (transzendentaler Analogie) eine Tauschrespektive Rechtsordnung, die zwischen dem Rechtsgut des Einzelnen und dem der Gemeinschaft unterscheidet.31 „Das Wort Gemeinschaft ist in unserer Sprache zwei30 Thierry de Duve: Hat die Kunst eine kritische Funktion? Überprüfung einer Frage. In: Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Hg. Jean-Pierre Dubost, Leipzig 1994, S.36f. „Die kritische Funktion stellt durchaus eine Verbindung zwischen Ästhetik und Ethik her, aber sie ist nicht transitiv und ideologisch, sondern reflexiv und analogisch ... das Kunstschöne ist nur durch Analogie politisch.“ (S.34 u. S.36) 31 Vgl. dazu Jan Philipp Reemtsma: Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters. In: Ders: Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002, S.50ff. Reemtsma argumentiert im Sinne Hegels, dass ein Verbrechen keine Aufhebung des Rechts, sondern nur die privatistische Selbstsetzung und Anwendung meint. Die Frage, wer wem Recht und Herrschaft zugesteht, ist per se ‚demokratisch‘ der Repräsentation der Majorität von Macht unterworfen. Um so wichtiger daher die Maxime, Macht und Sanktion zu trennen, da sonst der Mächtige als singulares Subjekt respektive als miniore Gruppe selbst verbrecherische Handlungen durchführt. Das Bindeglied besteht stets in der Unterstellung eines
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deutig, und kann so viel als Communio, aber auch Commercium bedeuten. Wir bedienen uns hier desselben im letztern Sinn, als eine dynamische Gemeinschaft, ohne welche selbst die lokale (communio spatii) niemals empirisch erkannt werden könnte.“32 Kant selbst wählt zur „Natureinheit“ der gemeinschaftlichen Tauschvorgänge (szenischer Freiheit) nicht das Geld, sondern die Zeit als ein „Drittes“, in der „die Möglichkeit der Erfahrung, als einer Erkenntnis“ organisiert, d.h. vertagt ist und nicht in vermittelbare Identität (logisch oder empirisch) sich verdichtet. [B264, A217] Dass Kant mit dieser Präzisierung eines auf Tausch gerichteten Zeitbegriffs empirische Kausalität (und Datierbarkeit) als nachrangig bewertet, aber den Bewusstseinsprozess von Vergesellschaftung im Kern auf eine empirische Grundlage stellt, soll beweisen, dass der Kitt der Gesellschaft, so er denn die Akzeptanz des Anderen in der Andersheit des Eigenen belässt, nicht wissenschaftlich festgelegt werden kann, sich nicht am Akt, sondern im Vollzug, also an der Vergesellschaftung der empirischen Subjekte erweist. Schon Kant ist bewusst, dass technische und soziale Systeme nach unterschiedlichen Realisierungsprinzipien funktionieren – da sie auf unterschiedliche Weise vom möglichen Kollaps des Inzests differieren. Was technisch möglich ist, wird auch realisiert, was sozialutopisch möglich ist, bedarf der beständigen idealistischen Aufhebung. Die ideale Gesellschaft muss sich beständig vor dem Finale ihrer technischen Erfüllung in das Pathos ihrer Selbstinszenierung flüchten, oder, siehe Schiller, die Ästhetisierung des Dramas ihrer Widerständigkeit reanimieren. Der Angriff auf die Ideologie historischer Datierbarkeiten wird ebenfalls von Kant verortet, nämlich in der Erfahrung. Vertrauen ohne Erfahrung ist wertlos. Es bedarf in der Analogie der Freiheit des Rücktauschs von Vertrauen in Herrschaft. Mit der Möglichkeit des (demokratisierten) Rücktauschs (Erinnerung), der nicht eingefordert zu werden braucht, wird der Opfercharakter der Gabe des Vertrauens in der Erfahrung aufgehoben. Denn nur, so Derrida, die Gabe gibt wirklich, die ohne Rücksicht auf Rückgabe Zeitlichkeit als versicherndes Gedächtnis aussetzt – weswegen die Unverbrüchlichkeit der Treue nicht an Zeit gebunden ist: Man kann eben nicht eine Ehe auf Zeit oder eine Freundschaft auf Probe und gegen zertifizierte Garantie der Anullierung eingehen.33 In diesem Sinne ist Vertrauen eine gegenseitigen Vertrauenspotentials, so lange wie die Gewaltenteilung nicht eigens unabhängig der Jurisdiktion unterstellt wird, und zwar nicht in der Setzung einer idealen Rechtsposition, sondern im Aushandeln dessen, was sensus communis sein soll! – Das hat zur Folge, dass sowohl Justitia als auch der Scharfrichter (respektive Polizei, Militär oder Vollzugsorgane) stets blind gegenüber dem sensus privativum sein müssen, was dann auch Geschmacksurteile im Gerichtssaal ausschließen soll. 32 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Bd. III, Frankfurt am Main 1980, B260, A213; Dritte Analogie: Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft. 33 Ebd., S.55: „Man kann Vertrauen nicht verlangen. Es will geschenkt und angenommen sein.“ Derrida verweist auf die zwischen Gabe und Vertrauen angesiedelte „Instanz“ des (absoluten) Vergessens: „Damit es Vergessen in diesem Sinne gibt, muß es Gabe geben. Die Gabe wäre so die Bedingung [condition] des Vergessens.“ Derrida, Falschgeld, a.a.O., S.29. Vergessen ist hier nicht Verdrängung,
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Erfahrungssache. Man kann seinem Gedächtnis nicht befehlen, man muss sich vertrauen. Es ist die affirmative Realität und Realisierung von Gemeinschaft selbst, die im Vertrauen unhintergehbar zur Disposition steht. Vertrauen zeigt sich hier als dialektisches Komplement zum Inzestverbot: Weder absolutes Vertrauen (inzestuöse Autarkie, d.h. ‚Wissen‘) noch Lüge dürfen dem kommunikativen Tausch als Vergesellschaftungsform eingeschrieben werden. Szenologisch gesehen spielt damit die affirmative Treue mit dem Dilemma, szenisch nicht verfügbar zu sein, weil in ihr inzestuös die Darstellung mit der symbolischen Aussage fusioniert. Vertrauen lässt sich deswegen nicht sichtbar ausweisen, bleibt funktional unsichtbar (medial), weil es mit der Möglichkeit von Darstellung (und Gedächtnis) überhaupt identisch ist und allenfalls als Analogie gedacht werden kann. Nach Luhmann entsteht Vertrauen als „kritische Alternative“34 zwischen Lüge und Selbstbildnis, „im Übergehen von primär emotionalen zu primär darstellungsgebundenen Vertrauensgrundlagen“.35 Luhmann thematisiert die Grenze zwischen kausaler oder hierarchischer Vermittlung und solcher szenischer oder künstlerischer Dramaturgie, und zwar, wie Freud das im Mann Moses thematisiert, als Hervortreten des Inzesttabus genau dann, wenn die patriarchale Autorität im Niedergang begriffen ist, kurz gesagt also für kommunisierte-demokratische Konsumgesellschaften, die sich in der Medialität der Selbstversicherung ohne tyrannische Alterität verlieren. Freilich wird deren Gewalt mehr oder weniger durch Binnenverbindlichkeiten moderiert. Dabei stellt Luhmann ein für weitere szenologische Optionen brauchbares sondern Annullierung der Schuld. „Das Schuldgefühl erscheint anlässlich der Annäherung an einen Anspruch, der als verboten empfunden wird, weil er das Begehren tötet“ – Anspruch, der demnach ohne die Möglichkeit des Rücktauschs sein eigenes Vergessen induziert. (Lacan: Die Bildungen des Unbewussten, a.a.O., S.587) Objekte des „unmöglichen Tauschs“ lassen sich nicht in symmetrischen Sphären ansiedeln, verweisen insofern auf die Notwendigkeit virtueller Welten, die von einer anderen Gattung der Fiktion und dem Spiel sich ableiten. Im Übergang zwischen Realität und seiner bloßen Darstellung erscheint das Vergessen als Vorgang der Indifferenz beider, also einer intermedialen Beziehung. Von solchen Beziehungen und der Katharsis des Vergessens leben Inszenierungswelten. Jean Baudrillard: Der unmögliche Tausch, Berlin 2000, S.24, und Jean Baudrillard: Das Andere selbst. Habilitation. Wien 1987, S.38: „Denn von einer Gattung in die andere, von einer Form in die andere überzugehen ist eine Weise des Verschwindens, nicht des Sterbens. Verschwinden heißt, sich in Erscheinungen zu verflüchtigen.“ 34 Luhmann, Vertrauen, a.a.O., S.28. 35 Ebd., S.27. Dieser Schritt wäre dann einer zurück: vom Dramatischen zum Idyllischen. Die Idylle ist die in die Darstellung gesetzte Technik der Evidenz. Sehr prägnant nachzulesen in Salomon Geßners Idylle Die Eifersucht, in der das Imaginäre (Eifersucht als Paranoia) beständig der eigenen, idyllischen Bildsetzung misstraut. In diesem Sinne ist die Idylle keineswegs eine unkritische Darstellung glücklicher Beziehungen, sondern zeigt sich als Bild, in welchem generell Beziehungen als nicht glücklich, weil frei (heterosexuell) stabilisiert sind. Die Idylle ist der Betrug, der sich selbst betrügt: insofern also eine Form des höchsten Vertrauens, sofern man sie funktional zu lesen versteht. Als solche waren Idyllen von Geßner gedacht und von Schiller durchaus auch positiv bewertet und hoch geschätzt. In der Idylle ist der Akt des Verschwindens durch Darstellung in dem dissymmetrischen Übergang von Malerei (eidos, aber auch idea) in Literatur vollzogen. Sie wahrt das Befremden als eine Darstellung des Vergessens. Die Idylle ist deswegen als Gattung eine Inszenierungsform der Malerei.
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vierstufiges Modell vor: 1. Vertrauen ist das, was handelnde Personen, Subjekte in der Performativität ihre Intention offenbaren, 2. Technik der Darstellung – Evidenzsysteme als Vertrauensbeweise und Validierungen des Misstrauens, 3. Medien der Vergegenwärtigung als Präsenzausweise des Vertrauens.36 Dabei entwickelt sich die Struktur des Vertrauens von direkten körperlichen Bürgschaften zu einem Balancemodell der (4.) kleinen und kleinsten Schritte, letztlich also technischer Kontrolle. Für „Vertrauen im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung“ gilt, dass dieses sich „nicht mehr personalisieren, also auch nicht mehr in sozialen Status umsetzen (lässt); es ist nur noch Systemvertrauen“.37 Hier wird klar, wie und warum sich Inszenierungen von ‚Realität‘ durch ihre Selbstdurchstreichungspotenz abgrenzen. Gegen die systemische Selbstauflösung des Menschen in Programme richtet sich die zunehmend szenografische Rücksichtnahme auf Subjekte, die Ereignisse persönlich nachvollziehen wollen – nicht um Vertrauen zu stärken, sondern um die kritische Alternative von Ordnung und Freiheit, also Ambivalenz von Darstellung und Gedächtnis überhaupt zu erfassen, und zwar ohne den exklusiven Entscheidungsdruck technischer Handlung, also den inzestuösen Imperativ der technischen Sinne und Archive. Es ist ein genuines Darstellungsmittel von Kunst, die Unterscheidung von Darstellung und funktionalem Selbstbezug (medialem Inzest) zu dissoziieren und szenisch zu verwandeln. Vertrauen als Differenzthematisierung von funktionalem Selbstbezug und symbolischem Fremdbezug, oder nach Kant, von Analogie und Gleichheit, ist die Widerspenstigkeit der Szene selbst.
4. ÄSTHETISCHE POLITIK
Dem braven Bildungsbürger kommen spätestens hier die Gemeinschaft stiftenden Schlussworte der Bürgschaft in den Sinn, in denen die Analogie von Vertrauen in ein unmögliches Drittenkorrelat sich zu stabilisieren verspricht. Und er, [der Tyrann, R.B.] blicket sie lange verwundert an. Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, Ihr habt das Herz mir bezwungen; Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn – So nehmet auch mich zum Genossen an: Ich sei, gewährt mir die Bitte, In eurem Bunde der dritte!“
Es geht in der Ballade Schillers um jene Bürgschaft eines (homosexuellen) Tauschs (Zeit/Einbildungskraft vs. Naturgewalt), deren Reversibilität die Potenz der Gemein36 37
Ebd., S.27f. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S.313.
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schaft, die Treue der beiden Freunde, ins Unermessliche erhöht, indem der eine für das Leben des Anderen einsteht, just an dem Ort, an dem die patriarchale Tyrannei außer Kraft gesetzt werden soll: Der eine Freund sei das Gedächtnis des anderen, aber auch der eine des anderen Sanktionskörper und beide getrennt vereint und reversibel tauschbar. Nun ist der Tod natürlich des Rücktauschs nicht möglich. Wiederum ist nicht die Rede von der Sanktionsdelegation des Tyrannen, etwa dem Scharfrichter, dem die absolute Treue unterstellt wird: kommt der eine zu spät, wird der andere hingerichtet. Den Tyrannen könnte man noch erweichen, den Scharfrichter nicht. Gerade die Ausfällung der Sanktionsmacht, die von Herrschaft getrennt ist, ist die Bedingung für ein freies szenisches Spiel, innerhalb dessen die Sanktionsmacht keine Geltung beansprucht, weil eben die Leistung der Macht von deren Gewalt (Vollstreckung) getrennt wird. Die Anonymität des Scharfrichters (der durch seine Kapuze oder Uniform des Spiels der Individualität entbehrt; blindes Vertrauen signalisiert) erlaubt, über die Delegation der Macht zu befinden: deren Akzeptanz ist nämlich nur so lange gültig, wie eben die Trennung der exekutierenden Gewalt im Zaum gehalten werden kann, also in der Drohung des Scheiterns von Vertrauen.38 Drei Tage Aufschub bis zur Exekution des Attentäters ermöglichen das dramatische Spiel mit den Naturgewalten, die bekanntlich ebenfalls blind und zum ungünstigsten Zeitpunkt schicksalhaft zuschlagen. Die Pointe aber wie gesagt, besteht in der Ermächtigung der Trennung von Macht und Gewalt, unter der sich die Mitglieder der Herrschaft gleichberechtigt austauschen können, weil auf diese Trennung das Vertrauen, – die sanktionsfreie Szene der Kreditierung von Tauschobjekten (das gilt auch noch für den ‚Frauentausch‘ und die ‚Freiung‘) – aufbauen kann. Den Wert der Treue als leeren Wahn zu bemessen, gelingt der durch und durch kantischen Logik Schillers, indem sie den wechselweisen Tauschverkehr inflationiert, den Tauschgegenstand aber immer selten (respektive im Tod als nicht rücktauschbar) hält – ganz so, wie es die Ökonomie nach Adam Smith, die Kant in seiner Analogiebetrachtung mit Hinblick auf den Commerz im Auge hat, erfordert.39 Je mehr getauscht wird, desto fester die Gemeinschaft – gleichgültig, welche Waren/Bürgen da in Wert stehen. 38 Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002. Reemtsma the-
matisiert den Machtentzug durch Vertrauensentzug. „Mit der Unterstellung, das Regime sei unfähig, die Ordnung weiter aufrechtzuerhalten, verschwindet die Angst vor der möglichen Repression oder minimiert sich doch entscheidend.“ (S.34f.) Diese Pointierung etwa des Vertrauensentzugs in der ‚DDR‘ ist aber nicht hinreichend für den Umsturz. Der besteht eben im Verlust über die Kontrolle der Sanktionsmacht, sprich der russischen Truppen. Andererseits ermöglicht die Trennung bzw. eben Durchdringung von Macht und Gewalt (etwa in den Betriebskampftruppen) kein freies gesellschaftliches Spiel um Vertrauen. 39 Freud setzt in Das Unheimliche (a.a.O.) den Automatismus bzw. Wiederholungszwang an diese Stelle. Die diffizile These, die hinter diesem Argument (u.a. in der Zitation des Sandmann von E.T.A. Hoffmann) steht, ist die, dass die im Wiederholungszwang sich darstellende Triebstruktur die Enteignung des Körpers offensichtlich werden lässt, mit der Pointe, dass die Vernunft sich nun als Ermächtigung eines anderen Körper darstellt, der sich als Herrscher über die Automaten ekstatisch affirmiert.
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Erhöht sich aber die Seltenheit der Ware, wird der Rücktausch schwieriger – Schiller deutet das an der Schwierigkeit der Rückkehr von Damon an. Erfahrung mit den Gewalten der Natur, die Damon aufhalten, wird durch kein verfügbares Wissen ersetzt, dessen Bürgschaft eine allgegenwärtige (mediale) Präsenz von Macht einerseits und Sanktion andererseits leistet. Was wäre schwieriger zurückzutauschen als das eigene Leben? Auf der Bühne bleibt die Sanktionsmacht tabu und durch den agonalen Bühnengraben symbolisch gewährt. Im wirklichen Leben, so setzt Schiller, bleibt der Körper vom Opfer blinder Gewalt nicht verschont – solange diese als Natur bzw. „raubende Rotte“ in die Gewaltenteilung bzw. deren Aufschub einbezogen ist. Deswegen das drängende, jagende Moment der Rückkehr zum Freunde. Vertrauen entfaltet sich nur dort, wo von dieser Drängnis Abstand genommen wird, die „Unverzüglichkeit“ – wir erinnern uns der Worte von Günter Schabrowski am 8.11.1989 – macht alle Verhältnisse unvorhersehbar. Es fehlt auch zwischen den Freunden und im Verhältnis zum Tyrann die Drittenposition: Jurisdiktion – und deren Inszenierungsform ist ja quasi nur der Aufschub, die Verhandlung des Urteils. Jetzt zur Bürgschaft. Die besteht in der Verbürgung der Herrschaft, die Sanktionsmächte im Zaum zu halten und dadurch das Spiel des Vertrauenstauschs innerhalb der Gesellschaft zu ermöglichen und zu garantieren. Genau diesen Anspruch verkörpert die Ware. Sie ist von ihrer Natur her aufgesparte Gewalt in der Designmaske einer inszenierten Darstellung. Der Wert einer Ware hängt nicht nur am Gebrauchswert, sondern entbindet einen Tauschwert – der Tauschwert ist eigentlich ein Rücktauschwert, der u.a. die persönliche Fetischeigenschaft eines Gegenstandes (Garantieanspruch und Erinnerungswert!) bzw. die bürgerliche Gleichstellung von Personen als Tauschpartner respektiert. Herrschaft muss stets in der Erinnerung, also der Drohung der Sanktionsmacht bestehen, nicht nur, wenn der Tyrann mit dem Scharfrichter droht, sondern eher, wenn der Verlust der Bannung der Sanktionsmächte die unmittelbare hierarchisierende Gewalt untereinander entbindet. An Stelle des Scharfrichters tritt in aufgeklärten Gesellschaften der Hofnarr oder Kabarettist als Rücktausch der Macht, die die Freiheit als Vertrauen, sie nicht zu missbrauchen, goutiert. Erst vom Rücktausch her kann ich mich meiner Vergesellschaftung versichern. Der Mehrwert des Rücktauschs wird dem Subjekt durch die gesellschaftliche Rückversicherung der Herrschaft gegeben. Als Vertrauensverhältnis gedacht, zeigt sich die außerordentliche Produktivität dessen, was Kant als Wert der Bewegung (e-motion) angibt und für die der Begriff ‚Zeit‘ eine Ausdrucksform des unmöglichen Rücktauschs ist. Kausale und zeitlogische Progressionen entziehen sich der szenischen Kritik. Eine andere Vernunft ist in der Inszenierung (respektive in der Selbstreflexion des Gedächtnisvorgangs) zu sehen, insofern ‚Zeit‘ der Ausdruck für ein realistisch vorgestelltes, intentionales
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Bewusstsein ist. Und das ist dann auch das Resultat der transzendentalen Analytik und die große Leistung (sowie Grenzziehung) der Kantischen Philosophie, nämlich Selbstbewusstsein vom inzestuösen Selbst zu entkoppeln und vom Anderen in der Gemeinschaft her als Vernunft zu denken: 40 Diese ganze Bemerkung ist von großer Wichtigkeit, nicht allein um unsere vorhergehende Widerlegung des Idealismus zu bestätigen, sondern vielmehr noch, um, wenn vom Selbsterkenntnisse aus dem bloßen inneren Bewusstsein und der Bestimmung unserer Natur ohne Beihülfe äußerer empirischen Anschauungen die Rede sein wird, uns die Schranken der Möglichkeit einer solchen Erkenntnis anzuzeigen. (B294,295, A236)
Für unseren Zusammenhang formuliert geht es Kant darum, die Lehre von der Maske und dem wahren Gesicht dahinter als einen idealistischen Irrtum zu entzaubern, indem er Vernunft nicht als Gabe voraussetzt, sondern deren gemeinschaftspendende Selbstbeherrschung hervorhebt. In diesem Sinne ist seine Philosophie ein Plädoyer für Erfahrung – gegen den Rationalitätsaffekt des Cartesianismus. In seinem Geist gedacht sind Vertrauen und Misstrauen keine Korrelate, sondern Vertrauen ist das Korrelat der Gemeinschaft als ihre Existenzbedingung in der Form, dass in der Gemeinschaft das Gedächtnis als Selbstverfügbarkeit untergegangen ist, und zwar im Vertrauen auf die Bildung der Erfahrung von Herrschaftsdelegation und den Austausch der Archivalien (Waren) untereinander. Misstrauen ist eine Folge des Begehrens nach Autonomie und Autarkie, die aber Kant für Scheinbewegungen hält: paranoischer Wahn, der als philosophischer gerechtfertigt ist, indem er die implizite Erfahrung in ein objektives Wissen von der Bildung des Subjekts überführt. Misstrauen (in Absolutheit des technischen Gedächtnisses) ist somit immer mit der Latenz der Verdinglichung des Einzelnen ausgestattet, die allbekannte Paranoia des Tyrannen, der, weil er sich selbst seiner Autonomie versichern muss, in den Strudel seiner Selbstverfolgung41 gerät. Im masochistischen Selbstverfolgungswahn wird offenbar, dass die Selbstbemächtigung der eigenen Sanktionsmacht und deren Auslagerung letztlich im Binnensymptom des Tyrannen blockiert. Auch in der Darstellung der Wahnhaftigkeit des Tyrannen beherrscht Schiller die Kantischen Vorgaben bis ins Detail. Es muss für Die Bürgschaft nicht weiter in Anschlag gebracht werden, dass Schiller die, wie es der Typus der Ballade annonciert, Zeitverhältnisse in Bewegungsverhältnisse – und also dem szenischen Streit des Einzelnen mit der Gemeinschaft – der Tyrannei des Solipsismus entgegenstellt, dem der paranoische Wahn der unmöglichen Selbstbegründung unterliegt. Dem 40
Ich unterlasse es, an dieser Stelle die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht aufzurollen. Bewusstsein ist sozusagen das Vertrauen in die Selbstbeherrschung der Vernunft unter der Herrschaft des Anderen. Es gilt für Hegel, den unhinterfragten Sinn (sensus communis) dieses Bewusstseins durch die Geschichte aufzulösen. 41 Siehe den Beitrag von Rudolf Heinz in diesem Band.
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Tyrannen auf der öffentlichen entspricht der Held auf der innerlichen Seite. Schiller ist bemüht, die von Kant eingeforderte intellektuelle Trennung von Moral und Ästhetik für den Vorgang der Dramatisierung außer Kraft zu setzen – was in modernen Mediengesellschaften sowieso nur rein schematisch zu trennen ist. Schiller ist an einer Exemplifizierung der Freiheit und nicht an einem Imperativ der Moral (Erfahrung) interessiert, so wie sie eine Gesellschaft fordert, die immer wieder auf Einzelsubjekte rekurriert, also niemals sich in Arbeit historisch aufheben kann. Daher muss Schiller das Risiko des Scheiterns für seine Helden in Kauf nehmen. Das Ende der patriarchalen Strukturen und die Konjunktur einer Gesellschaft des Vertrauens thematisieren im Gedanken der Freiheit zum Spiel auch ihre Orientierungslosigkeit in anarchischer Gegenwart, den Einbruch der Naturgewalten. Das Paradigmatische der Ballade ist, dass Schiller eine von Kafka her bekannte funktionale Choreografie der Annäherung und Distanzierung für sein historisches42 „Lehrgedicht“ wählt, in der die Topik der Stellung des Einzelnen zur Gemeinschaft aus dem Binnenverhältnis in ein äußeres gebracht wird und damit szenischen Charakter einem unsinnlichen Begriff, nämlich dem des Vertrauens, abgewinnt. Darstellung konkurriert funktional mit unvermittelter Präsenz und wird zeitlich („drei Tage Aufschub“) – entzerrt, aber befristet. In diesen drei Tagen gilt es, eine mögliche Verschiebung des Potentials der Sanktionsmacht durchzutesten. Wenn die Ballade Zeitverhältnisse in Räumlichkeit überträgt, so liegt Schillers Darstellungstrick der Selbstdarstellung des Undarstellbaren – nämlich Vertrauen als Aufschub der Gewalten – darin, in der Ballade Zeit- und Raum als Selbstverhältnisse menschlichen Geschicks zu invertieren. Das Pfand oder die Bürgschaft dient noch dem Vertrag der Präsenz, der gerade auf den Rücktausch – nämlich Gedächtnis – Wert legt und auf die Fetischkraft des eingesetzten Pfandes zielt. Auf dem Spiel steht nicht der Freund, sondern die Freundschaft an sich als transzendenter Wert, als Möglichkeit des Rücktauschs, also des Realwertes im Darstellungswert. Exakt für solche Dilemmata, Hysterien und Inzestvermeidungstrategien steht die paradoxe Logik der Szene ein. Nehmen wir Schillers Bürgschaft für ein zeitgeschichtlich ‚klassisches‘ Bild im Übergang zur Romantik und fragen nach dem vermittelnden Dritten, nämlich den leiblich sich in der Szene (der Ballade) organisierenden Körpern, die wiederum – siehe Sartre – als „Organisation“ sowohl Ordnung als auch Orientierung versprechen. Von weit her klingt in diesem Projekt Schillers die Frage nach der Autorität nach, die er in seinen Schriften zur ästhetischen Erziehung zu beantworten versucht. Nämlich, ob nicht alle moralische Tat letztlich nicht in sich, sondern durch eine empirische, also ästhetisch vorlaufende, präreflexive Folge der Imaginierung der Folgen der Tat abgesichert sein müsste, kurz, ob nicht, bevor man handelt, die ‚Vorstellung‘ 42
Die syrakusanische, an die Historie angelehnte Begebenheit der Ballade wird u.a. von Platon im Siebten Brief erläutert. Als Ballade veröffentlicht Schiller sie 1799 und überarbeitet 1804.
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die Folgen dieses Handelns gedächtnishaft zu antizipieren hätte, sodass moralisches Bewusstsein immer mit einer Art Widerstand der Gedächtnisfaktizität von Handeln selbst zu tun hat, von dem es sich gerade durch die Faktizität entbinden will. Der Imaginierung entspricht dann die Blindheit der/als Sanktionsmächte. Genau darin besteht die politische Initiative Schiller’scher Poetologie: zu handeln, obwohl man niemals ganz Herr der Folgen werden kann. Die Kunst der Politik besteht geradezu darin, handeln zu können, ohne in die Implikationen eines beweispflichtigen Gedächtnisses und einer dafür einstehenden Schuld eintreten zu müssen. Fehler in der Politik werden mit Vertrauensentzug bestraft und entbinden in meuternden Massen genau das Sanktionspotential, für dessen Bannung man die Herrschaft der Politik eingesetzt hatte. Das Motiv demokratisch wechselnder Herrschaft ist nicht das von Gerechtigkeit, sondern das der Vermeidung von Rechtfertigung. Ästhetische Politik, so wie Schiller sie versteht, kann dann dieses Selbstentschuldungsprogramm relativ gedächtnisloser Politik legitimieren, indem sie zeigt, was passiert, wenn die Subjekte in ihren Handlungen zwangsneurotisch blockiert sind, z.B. in einer paradoxen Wahl (Bürgschaft für den Freund, Zeuge für die Hochzeit der Schwester). Zwei Möglichkeiten werden thematisiert: Tyrannei als das sich selbst Setzen der Macht der Gewaltenteilung, und Natur als blinde, schicksalhafte Gewalt. Natur hat in diesem Sinne kein Gedächtnis. Moralisches Handeln zielt hier auf die Propädeutik möglicher, dichterischer Welten – Vernunft wird nicht mehr als Vermögen, sondern als entideologisierte Gabe des Menschlichen (der Gemeinschaft und ihrer Tausch- und Vertrauenskreditierungen) verstanden, und auf diese transzendente Gabe hebt die Transzendenz der Dichtung ab: Mimesis als Erinnerung an das Unvordenkliche (Schelling). Der Witz des Bildungsbürgertums ist der, zuerst einmal die Ballade in der Schule auswendig lernen zu lassen – womit Schule a priori die Intention Schillers zunichte macht. Man müsse doch, so wäre Schiller zu interpretieren, entgegen dem klassisch gewordenen Vernunftbegriff mit und auch über Kant hinaus eine Priorität der Ästhetik über die Moral annehmen, bzw. Moral in Ästhetik als Programm der Freiheit von der Aktualität blinder Gewalt (auch die der paradoxen Selbstbemächtigung in der Vernunft) lehren können. Denn Handeln ist zumal die eindeutige Realisierungsmacht, die ihre Vorgeschichte nur im Gedächtnis irrealisieren kann, selten aber in der Rücknahme/Reform der Handlung. Schiller hält diese Ambivalenz der Freiheit aufrecht, um den Menschen aus der Tyrannei seines triebhaften Wiederholungszwangs zu befreien.43 Er, der Mensch ist nämlich – 43 Hier ist zu präzisieren, dass man den Signifikanten zwar qua tyrannischer Gewalt setzen kann, dass aber die Setzung selbst eine Wahl voraussetzt, die als matriarchale Struktur selbst nicht gewählt werden kann, da selbst das Nichtwählen, Vertrauensverlust vorausgesetzt, eine Wahl darstellt, und zwar, nach Kierkegaard und noch im Begriff des frühen Sartre, eine ästhetische Wahl. Worauf jede Inszenierung rekurriert: die Verwandlung und Verhüllung der szenischen Handlung in die Frage, wie kann man ohne absolutes Vertrauen handeln?
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übrigens dann noch strenger in der existentialistischen Wendung – in der Lage, sich beständig neu zu erfinden, ohne sich zu verlieren, weil das Medium der Subjektivität als Bürgschaft der Erfahrung, nämlich die Menschlichkeit schlechthin, sich immer auch auf die Präsenz der Anderen als Dritte in Bezug auf die Möglichkeit einer Wahl bezieht.44 Es geht Schiller keineswegs oberflächlich darum, im Theater bestimmte Probehandlungen durchzuexerzieren und Vorstellungen durch Vorstellungen zu wecken, weil genau dadurch die fundamentale Differenz von Realität und Inszenierung als aufhebbar charakterisiert werden könnte. Schiller spielt mit der Bürgschaft des Körpers als einem Aussagesystem, dass sich der Herrschaft verweigert, z.B. im Affekt auf Bühneneffekte. Für die an revolutionären ästhetischen Utopien nicht arme Zeit der frühen Romantik gilt die Priorität ästhetischer Erfahrung, da das Spiel auf der Weltbühne sich gleichsam am Ort des Anderen (real im revolutionären Frankreich) vollzieht: Revolutionäre Handlungen, die auf die deutschen Länder übergreifen sollen, müssen ästhetisch importiert werden und eine Medialisierung der Zustände der europäischen Welt bedeuten. Dies meint aber zugleich auch eine Inkorporierung des Anderen in der Vernunftkritik selbst und in der poetischen Disziplinierung des Bürgers. Die prospektive Vernunft ist der Leib des Anderen in mir, und zwar als meine Beziehung zu den potentiell handelnden Agenten des Außen: mit der Pointe, dass sich der Kantische Vernunftbegriff für Schiller in den bürgerlichen Revolutionsbegriff verwandelt.45 Dass in der Konsequenz, wie etwa der revolutionäre Dreierbund Schelling, Hegel, Hölderlin beweist, es zwar zu engen Freundschafts- und Vertrauensbündnissen (und einem grassierenden Vereinswesen), kaum aber zu revolutionären Taten (und Attentaten) kommt, zeigt die Ausnahmestellung der dt. Klassik und Frühromantik an. Statt Revolutionen sichern wenig später idealistische Ordnungssysteme die prospektiven und retrospektiven Folgen von Handlungen überhaupt ab, indem sie diese synchronisch, also logisch, so Marx’ Kritik an der Absolutheit des Hegelschen Systems, reästhetisieren, nämlich so, als ob Weltgeschichte nun inszenierbar wäre, mit der Pointe, dass es zu einem Ende der Inszenierung (und der permanenten Revolution) kommen könnte, und zwar in der Apotheose quasigöttlicher Gerechtigkeit. Genau hier, am Ende spätestens, schleicht sich die Diktatur der Realitätsmacht wieder ein. Schillers Bürgschaft macht genau dies deutlich: Hier ist nämlich der Freund dem Freund durch die Todeserfahrung als letzter möglicher verpflichtet, zugleich aber auch absolut entfremdet – was eben durch die Entfernung und durch den Aufschub der drei Tage szenifiziert wird. An der Todeserfahrung endet die Bürgschaft des Vertrauens. 44 Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? In: ders.: Drei Essays, Frankfurt am Main 1983, S.31. 45 Man lese nur einmal die Danksagung an den königlichen Staatsminister Freiherr von Zedlitz am Anfang der Kritik der reinen Vernunft, um den darin zum Ausdruck kommenden devotionalen Begriff des Vertrauens an Herrschaft festzustellen.
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Demokratische Politik dagegen heißt, immer auch die Chuzpe zu kultivieren, zu handeln, ohne zu wissen und ohne auf die weiteren Folgen Rücksicht nehmen zu müssen, also Sanktionen zu befürchten.
5. POLITISIERTE ÄSTHETIK
Kommen wir auf Schillers Bürgschaft zurück, die wohl doch nicht ganz so vulgär ist, wie es für Schülerohren den Anschein hat. Konfiguriert Schiller hier doch in kürzester Form das Vertrauensdilemma gerade unter Maßgabe von Körperpräsenz – und Beherrschung, nämlich von dessen leiblicher Disposition, also der Sinnenund Materiediskursivität aus. Vorausgegangen war in Schillers Die Bürgschaft die Verurteilung des Attentäters (Damon) zum Tode. Damit aber der Verurteilte noch rasch die Trauung (!) seiner Schwester ausrichten und bezeugen kann, gewährt der Tyrann Dionys drei Tage Aufschub. Als Bürge für die Rückkehr steht der getreue Freund dem Tyrannen im Wort. Es folgt das ausführliche dreitägige Abenteuer der Rückkehr von der Trauung der Schwester und der Inszenierung einer drohenden Verspätung, das Tauschtheater von Raum und Zeit. Damon gerät dabei mehrfach in Todesgefahr und droht die Chance zu verspielen, den Tod für seinen Freund aufzusparen. Denn das Leben respektive der Tod soll doch nur und allein dem Freunde als mögliche Form der Erfahrung des ganz Anderen (der Treue!) zukommen. Damon, der Attentäter, eilt gerade zur rechten Zeit zurück, um den Freund vor der Hinrichtung zu retten. Nur weil beide den Tod als ultimative Erfahrung für den Anderen bis an die Grenze verteidigen, kann hier Vertrauen (und Sanktionsbannungskompetenz) absolut sein. Der Tyrann verlangt als Dritter nun ebenfalls zu den Selbigen zu gehören und in diese Absolution eingeweiht zu werden. Soll der Tyrann als Beherrscher der Ordnung der Schenkung des Vertrauens der beiden getreuen Freunde würdig sein? Darf man dem Tyrannen vertrauen? Und darf man dem Vertrauen trauen und muss man der Tyrannei – einer vorgeblich planbaren und risikolosen Weltsicht – misstrauen? Spielt der Tyrann mit seinem Leben, wenn er den Attentäter als Freund in seiner Nähe duldet? Ironisch gefragt: Bleibt dem Dreierbund nur wieder die Außenrepräsentation des Dritten z.B. in einer Vereinssatzung?46 Gehen wir kurz auf einige Details der Inszenierung Schillers ein. Vor allem fällt auf, dass Damon um eine Gnade – Gabe ohne Gegenleistung – bittet, die selbst vielleicht noch für die Ohren der Hörer des lateinischen Originals der Fabel, die Schiller hier modernisiert, seltsam anmutet. „Ich flehe dich um drei Tage Zeit | Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit.“ Nur der Tyrann selbst ist in der Lage, die Trennung von Urteil und Sanktion zu goutieren. Darin beruht seine eigentliche Macht. Offensichtlich lebt Damon dagegen in einer vaterlosen Gesellschaft, wäre es 46 Treu-deutsch, Konkordia, Union, Borussia und ähnliche Benennungen inflationieren im Vereinswesen.
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doch die Aufgabe des Vaters (respektive strukturalistisch des Onkels mütterlicherseits), das „Freien“ und damit die Auslösung aus der Naturordnung der Verwandtschaft in eine Kulturordnung der Heirat zu vollziehen. Offensichtlich geht es hier um mehr als um eine Brautzeremonie, nämlich um Wunsch und Abwehr des Geschwisterinzests, unter der Voraussetzung, dass dem Tyrann (dem Vater wie auch Dionys) nicht mehr das Recht des Inzestverbots (des Gewaltaufschubs) zugestanden wird – kurz also die Absolutheit von Naturgesetz und Naturrecht in Frage gestellt wird. An seine Stelle tritt die Kraft des freien Vertrauens als Tausch-Rückgabe-Verhältnis (Bürgschaft, Garantie). Schwester (Inzestabwehr) gegen Freund (Homosexualitätsabwehr als gelingende paranoetische Stabilisierung), das sind die Tauschrelate. Im selben Moment, in dem der Inzest durch die „Freiung“ gebannt ist, tritt das Medium Zeit („Drei Tage will ich dir schenken“) hervor. Diese drei Tage bleiben nicht abstrakt, sondern werden im Kampf mit den Naturgewalten und den menschlichen Verfehlungen (Raub, Mord, Hoffnungslosigkeit des Philostratus) dramatisiert, quasi als funktionale Dimension eines Umwegs, der sowohl die Transposition, das heißt die Nichtfinalisierbarkeit von Tyrannei als auch ihres Analogates, Vernunft, als Inzestdrama konzipiert: heißt hier, in die Gegenwärtigkeit einer gleichberechtigt synchronen Ereigniskette überführt und nicht mehr einer aus dem Ungewissen folgenden Belichtung und in der Zukunft verschwindenden genealogischen Verkettung überantwortet. Noch in jeder Form von Herrschaft steckt auch etwas von der Gedächtnislosigkeit und der Gewalt der Natur, die eben des Aufschubs (drei Tage) nicht fähig ist. Damons Reise ist voller abenteuerlichster Erlebnisse. Deren Erfahrungswert ist, dass er die Erfahrung des Todes für sich nicht leisten kann. Die Erfahrung des Todes ist immer Erfahrung des Todes für den Anderen. Jeglichen metatheoretischen Ambitionen ist damit der Stachel genommen. So lautet die Definition Luhmanns: „Grundlage allen Vertrauens ist vielmehr die Gegenwart als dauerndes Kontinuum im Wechsel der Ereignisse, als Gesamtheit der Bestände, an denen Ereignisse sich ereignen können.“47 Genau diese stets gegenwärtig dauernden (Bergson) Ereignisfolgen (Gedächtnis) außerhalb der aufleuchtenden und vergehenden Zeitmomente stellt die Logik der Szene dar, die quasi außerhalb todsanktionierender Zeit spielt. Und genau am Extrem dieses Dreitageevents von Damon zeigt sich, dass jede Eventpolitik letztlich am Tode scheitert, aber auch an diesem sich hält, als ein permanent geforderter, aber neuzeitlich moderierter Gladiatorenkampf. Es ist eine Logik der Dauer der Aktualitäten48: der menschlichen Gewalt und der Naturgewalten und vornehmlich die der Genealogie des Inzestdramas und die der Bürgschaft als einer freien Form der Vergesellschaftung, wie sie, ganz im Stil der franz. Revolution, als Verbrüderung, 47
Luhmann, Vertrauen, a.a.O., S.14. Erinnerungen sind auch keine Reproduktionen, sondern Analogate der Aktualität, und arbeiten nicht nach dem Prinzip der Medienarchivierung.
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Fraternité lanciert wird. Erfahrung für mich kann also immer nur Erfahrung der Realverfehlung von Identität und damit gelingende Abwehr des Inzests sein. Der affektive Grund der Transposition, das „Freien“ selbst, wird von Schiller nur mit einer Zeile bedacht: „Und ehe das dritte Morgenrot scheint, | Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint.“ Diese Schnelligkeit ist frappierend. Zwei Tage plus Freiung (Hochzeit) sind in zwei Zeilen abgehandelt. Der funktionale Umweg, dessen, was da so „schnell“ über die Bühne geht, also eigentlich der szenografischen Nachlese sich entzieht, wird jedoch als Beschreibung der Rückkehr (in Analogie des nichtdarstellbaren Ehegelöbnisses als Inzestabwehr) und des dritten Tages nicht einfach übergangen: Nein – die detaillierte Beschreibung des dritten Tages, der fristgemäßen Rückkehr zum Freund, enthält in sich den Übergang zwischen Inzest und genealogischer (wie sozialer) Unfreiheit in die Freiheit des Vertrauens, also jener Form der Vergesellschaftung (Freien), die selbst in aller Form durch die Darstellbarkeit des determinierten Wortes gegen die Koinzidenz des performativen Ja-Wortes ausgezeichnet ist, und zwar, wie Stufe vier der Luhmannschen Genealogie des Vertrauens vorgibt, ist „Vertrauen am besten in kleinen Schritten, die im einzelnen nicht viel riskieren“49, zu portionieren: Und genau das ist die ästhetische Form des Kunstwerks, der Ballade wie jedes Ehevollzug, (im Gegensatz zur Hochzeit) und jeder demokratischen Politik, die Schritt für Schritt den ästhetischen Rücktausch operationalisieren, der in der Inzestabwehr das kurzschlüssige Ja-Wort (bis in den Tod!), das jeglicher Dramaturgie entbehrt, unterbindet. Schiller zeigt also wie in einer Differenz von Ereignis und Vollzug Darstellung in der Verhinderung ihrer selbst mit sich kämpft. Die Szenografie ist in dieser Hinsicht auch immer das Spurenlegen einer Metrik, für die die metrische Zeit ja nicht in Anspruch genommen werden kann, da auf vorchronologische Momente des Gedächtnisvollzuges Bezug genommen wird. Das geht weit über das Hinaus, was Freud in seiner „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ als Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung in der Traumdeutung beschreibt. Freilich gehen in der Schiller’schen Praxis gerade die kleinen Schritte nicht ohne Risiko vonstatten. Zunächst kommen die Naturkräfte ins Spiel, „unendlicher Regen“, reißende Ströme, dann, auf dem anderen Ufer, Raub- und Morddrohungen, schließlich glühende Sonne, abgründiger Durst und endlich jagende Zeit und sich dehnender Raum. Alle diese ausgesponnenen Triebdramatisierungen wirken wie traumatische Differenzattacken auf die gefreite Schwester, die als „Gabe, die man nicht hat“, dem Anderen bis in den Tod versprochen wird. Dass Schiller das Risiko der Ehe an die Frage von Leben und Tod knüpft, zeichnet den gewieften Dramatiker aus, der als pedantischer Historiker und Kantianer an den präzisen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung äußerstes Interesse aufbietet. 49
Ebd., S.72.
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Was lehrt uns jene detailreiche Beschreibung des dritten Tages, der Morgenröte der vergesellschafteten Gemeinschaft anderes, als dass ein Ja-Wort unendliche Folgen nach sich ziehen kann, die man aber im Risiko des Eheversprechens unmöglich absehen kann. Frei nach Kierkegaard: Heirate oder heirate nicht, du wirst es bereuen! Der tiefere Grund aber dieser Vertrauensinszenierung beruht darauf, dass man weder das besondere Ästhetische (Freien bzw. Gattenwahl) von dem allgemein Ethischen (Wahl als Handlung) trennen kann, noch unter der Illusion ihrer Trennung (unter der Missachtung der Performativität) verlustlos an Herrschaft überführen kann. Herrschaft ist immer an irgendeine Form der Gabe der Bannung der Sanktionsmacht gebunden. In der Ballade Schillers ist es der Trennungsvollzug vom Freund im Akt des Freiens (der Bruder wählt den Mann für die Schwester), der zu der Beinahekatastrophe der verspäteten Rückkehr führt, was meint, dass man nicht zugleich wählen als auch nicht wählen kann, ja, man kann im Tod des Tyrannen nicht einmal die Gewalt selbst abwählen, insofern der Attentäter selbst sich für den Augenblick der Tat zum Tyrann (Vertrauensparanoiker)50 macht. Das ist das Paradoxon, das Schiller unter anderem auch in Wilhelm Tell zu bedenken gibt. Erst wenn „es etwas anderes gibt als die Dialektik des Kampfes von Herr und Knecht, [nämlich] das Verhältnis des Kindes zu den Eltern, [gibt es] eben das, was auf der Ebene der Anerkennung geschieht, wenn das, was im Spiel ist, nicht der Kampf, der Streit, sondern der Anspruch ist.“51 Die Artikulation des Anspruchs des Anderen in der initialen Gabe der Sprache beendet den Agon der Szene – der Anspruch des Tyrannen: „... gewährt mir die Bitte ..!“ Die Zeit der Verträge ist erst angebrochen, wenn von der Unmittelbarkeit der Erfüllung abgesehen die Mittelbarkeit des Anspruchs des ganz anderen goutiert und in Bürgschaft genommen wird. Erst dann lohnt es sich, absolute Herrschaft auf Tauschdemokratie umzustellen. Doch die Entfernung vom Inzest, vom (ödipalen) ‚Terror der Verwandschaft‘, geht nicht ohne Widerstände vor sich – mit Widerstand ist das gemeint, was Freud als „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ in seiner Traumdeutung anspricht. Darstellbar meint – die Sachverhalte sind schon dem Inzestsog entzogen, auf Ding diffundierende Arbeitsleistung hin abgestellt, aber sie sind noch die Artikulationen eines Anspruchs, nicht deren Ewigkeitsanspruch in der Verdinglichung. Richtstätte und Darstellungsstätte sind getrennt. Auf diese Weise wird der dritte Tag zu einer Kette traumatischer Kämpfe um die Artikulation und die Rettung eines Anspruchs und eines Freundschaftsvertrages im Übergang von eins und zwei zu drei, also zur sich selbst autorisierenden Subjektivität. Jetzt erst kann der Tyrann artikulieren, dass sein Wahn die Suche nach der Grenze seines Gewaltanspruchs im Anderen bedeutete, nämlich nach dem Realen. 50 51
Siehe dazu den Beitrag von Rudolf Heinz. Lacan, Die Bildungen des Unbewussten, a.a.O., S.421.
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An dieser Grenze stabilisiert sich der antagonistische Zug von Genießen und Begehren, Totalisierung und Selbstbeschränkung. Diese Grenze ist der unaufhebbare Rest, der die sadistisch-masochistischen Gewaltprozesse stabilisiert. Der Schnitt des Realen sorgt auch, auf der Ebene der Dramatik (und der Lesbarkeit der Welt), dafür, dass eine jede Inszenierung nicht ihre Endlosigkeit fürchten muss – was überhaupt erst den Genuss der ‚Inszenierung‘ einer ‚anderen Welt‘ ausmacht. Für die Ballade, die formal-stilistisch die Idee des Fragments austrägt, setzt Schiller als Geltung von Selbsterkenntnis nicht die Logik des Idealen, sondern – gemäß der Aussage, dass das Vertrauen kein Objekt hat – Gabe ist, die man nicht hat – sprachliche Transzendenz. Im Gegensatz zum Deutschen Idealismus verweist er damit auf Effekte, die die Frühromantiker unter dem Begriff der Ironie einführten.52 Damit ist auch der einzig möglichen Bürgschaft des Vertrauens gedacht, die für einen Anderen jenseits von Gewalt Gabe sein kann, weil sie unmöglich partialisiert werden kann, das ‚Ich‘, als szenisches Debakel der niemals im jetzt aufgehenden Selbstvergewisserung. Der Umweg zum ‚Ich‘ figuriert in der Ballade zur Weltenreise des Tyrannenmörders, für die wesentlich ist, dass eine Heimkehr stattfindet, dass aber im Opfer der Wiederkunft eine Läuterung stattgefunden hat. „Ich“ – und dieses „Ich“ ist in der vollen Autorität seiner Bedeutung zu lesen – „Ich sei, gewährt mir die Bitte | In eurem Bunde der dritte!“ – und vice inversa, das (kantische) Ich als Opferblockade zurückgekehrter Vernunft: „Ich bin“, spricht der zum Freunde Zurückkehrende, „zu sterben bereit“. Der Tod ist bekanntlich die einzige Erfahrung, die sich weder inszenieren noch zurücktauschen, weder teilen noch mitteilen lässt. Er ist die tyrannische Erfahrung der Erfahrung. Die Vernunft hingegen inszeniert weiter den Seiltanz ihrer Objektivierung, in einer vom Jetzt ausgesetzen Verspätung als Simulation ihrer Selbstpräsenz. In dieser Hinsicht feiert Schiller nicht mehr ein topologisches Ereignis, sondern eine inszenierte Präsenz. Damit greift er einer bewusstseinslogischen Einsicht Schellings vor. Jedes Ereignis, das als Ereignis von Bewusstsein dem Ich gegeben ist, muss zweimal erscheinen, einmal als es selbst und ein zweites Mal als Inszenierung seiner ersten Erscheinung. Auch hier also sind alle Probleme in die Phase der Rückkehr verlagert. In die Ursprünglichkeit des Ereignisses zurückzukehren, ist die szenologische Bürgschaft inszenierter Präsenz.
52 Manfred Frank: Stil in der Philosophie. Stuttgart 1992, S.62, und ders.: Was heißt „einen Text verstehen“?,
In: Ulrich Nassen (Hg.): Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik. Paderborn 1979, S.58-78.
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Hajo Schmidt INSZENIERUNG UND VERTRAUEN IN DER POLITIK. VON DER ENTSCHÄRFUNG DES ZWISCHENSTAATLICHEN SICHERHEITSDILEMMAS
1. EINLEITUNG UND ÜBERSICHT
Inszenierung und Vertrauen – da scheint sich etwas zu beißen, der Zusammenhang stiftet für‘s Erste Misstrauen, und dieses will auch nicht ganz verschwinden, macht man sich klar, dass und wie sehr auch unsere ernsthaft-unschuldigen Versuche, das Vertrauen anderer zu gewinnen, auf Elemente der Selbstinszenierung bauen. Nun, das Misstrauen mag bleiben, ja, wachgehalten werden, schon damit die Inszenierung, die eigene wie die des Gegenübers, nicht zur Täuschung oder bloßen Verführung gerät. Aber zugleich gilt dann auch, dass inszeniertes Vertrauen kein Widerspruch in sich ist, der zuvörderst mit der Sonde des Ideologie- oder Täuschungsverdachts traktiert werden müsste, sondern eigene soziale Bindekräfte erzeugen, wenn auch allein nicht auf Dauer stellen kann. Ich denke, dass Vorstehendes im mikro- wie im makrosozialen Bereich geltend gemacht werden kann. So soll denn im Folgenden an einem zentralen Bereich der internationalen Politik – so zentral, dass sich in der jüngeren Vergangenheit daran leicht das Schicksal der menschlichen Gattung (und damit auch der am Dortmunder Szenografie-Kolloquium Teilnehmenden) hätte entscheiden können – das Verhältnis von öffentlicher Inszenierung und Vertrauen(sbildung) thematisiert und in Ansätzen, hypothesenhaft, verdichtet werden. Die Entschärfung und u.U. tendenzielle Überwindung des zwischenstaatlichen, auch für den Ost-West-Antagonismus konstitutiven, sog. Sicherheitsdilemmas verlangt nach der hier vertretenen Auffassung (mehr als residuales) wechselseitiges Vertrauen. Dieses wiederum bedarf, um ‚das Eis zu brechen‘ und die Bevölkerung(en) dabei ‚mitzunehmen‘, der Inszenierung. Symbolische Politik? Ja, auch, wenn man diese nicht aufgehen lässt in der Ersetzung von Taten durch deren Bilder und Darstellung. Um auch Belastungssituationen durchstehen zu können, ohne als – alles nun viel schlimmer machende – Illusion und Täuschungsmanöver denunziert und erlebt zu werden, weisen politische Vertrauensinszenierungen in doppelter Weise über sich hinaus: Sie bedürfen der (real-)politischen Einbettung und (auch dadurch) des Offenhaltens ihres Inszenierungscharakters.
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2. DAS SICHERHEITSDILEMMA UND DER KALTE KRIEG
Geht man davon aus, dass die oberste Aufgabe des modernen Staates in der Gewährleistung seiner und der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger besteht, so mag ihm das nach innen durch eigene Kraft gelingen, nach außen gibt es ein Problem, und zwar ein strukturelles. Da das klassische Staats- und Völkerrechtsverständnis im internationalen Staatensystem keine dem Einzelstaat vergleichbare Rechtssetzungsund -durchsetzungsinstanz erkennt, sondern die Einzelstaaten als prinzipiell gleichberechtigte, souverän über ihre Geschicke verfügende Einheiten betrachtet, gilt es als prinzipiell anarchisch verfasst. Da sich in einem solchen anarchischen System Interessendivergenzen zwischen den Basiseinheiten immer wieder zu massiven und darum bedrohlichen Widersprüchen und Unvereinbarkeiten auswachsen (können), liegt hier grundsätzlich der Rückgriff auf die ultima ratio, das Setzen auf militärische Gewalt und Krieg, nahe. Ob es zwischen Staaten, Staatenkoalitionen oder gar weltumspannenden Blöcken tatsächlich zum Gewaltausbruch kommt, hängt, das verschärft die Problematik, oft weniger von der Absicht als von der wechselseitigen einschlägigen Wahrnehmung ab, die durchaus falsch oder verzerrt sein kann: Vielleicht wollte die andere Seite rüstungstechnisch nur mit mir gleichziehen, vielleicht sich vor einem Dritten schützen, vielleicht folgte sie nur ihrer von der konkreten Situation ganz unabhängigen, langfristigen Modernisierungsplanung der Waffensysteme. Aber selbst einseitige Abrüstung verdient in diesem strukturellen Bedrohungsszenario Misstrauen, könnte sie sich doch waffentechnologischer Fortschritte auf anderen Feldern verdanken. Kurz: Im internationalen System lassen sich die Aktivitäten potentieller Gegner nie mit letzter Sicherheit interpretieren. Reinhard Meyers hat die Logik des Sicherheitsdilemmas in einem Flussdiagramm verdeutlicht und in seine Bestandteile zerlegt.1 Die Abbildung macht deutlich, dass und warum Rüstungswettläufe in diesem System die Regel und nicht die Ausnahme darstellen. Auch ist plausibel, dass diese Denk- und Handlungsfigur nicht nur auf der Ebene der Einzelstaaten, sondern auch der kollektiver Akteure greift. Sehr anschaulich konnte so Bernd Stöver2 seine Darstellung des Kalten Krieges einleiten mit einer Graphik der Zweiteilung der Welt im Jahre 1955, in der die ganze Staatenwelt, mit Ausnahme der Neutralen und Nicht-Alliierten, sich der USA oder der Sowjetunion zuordnen ließ und dadurch sicherheitsdilemmatisch verbunden war. Ist also das moderne Staatensystem unabweisbar mit dem gewaltträchtigen Sicherheitsdilemma und seinen Aporien verbunden? Grundsätzlich wird man die Frage bejahen müssen, allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass die Gewalt1 Vgl. 2 Vgl.
Anhang des Beitrags, Abb.5. Bernd Stöver: Der Kalte Krieg. München 2003, vordere Einbandseite.
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trächtigkeit des Sicherheitsdilemmas ganz entscheidend von den konkreten Randbedingungen desselben abhängt.
3. ARBEIT AM SICHERHEITSDILEMMA
Kommen wir, in der Perspektive ses Titels, gleich zum Grundsätzlichen, zum Vertrauen, und wenden uns noch einmal der Meyersschen Matrix zu. Sie erlaubt die sozusagen nihilistische Pointe im herrschenden Sicherheitsdenken genau zu markieren: wenn nämlich die einzelnen Akteure ihrer mit guten Gründen konstatierten Unsicherheit beizukommen suchen durch die Erlangung eigener militärischer Überlegenheit, wodurch zwangsläufig die Unsicherheitsgefühle der anderen Seite(n) kräftig bedient werden, was wiederum deren Gewalt- und Rüstungsbereitschaft anheizen wird ... Geht es nicht vielleicht doch etwas konstruktiver, menschenfreundlicher? Die entscheidende Weichenstellung und tendenzielle Transzendierung des Sicherheitsdilemmas besteht darin, das für dessen Funktionieren konstitutive chronische Misstrauen und Überlegenheitsstreben abzubauen und durch Vertrauen und demonstratives Bestehen auf militärischer Nicht-Superiorität zu ersetzen. Es geht, um diese Art Idealismusverdacht sogleich abzuwehren, nicht darum, künftige Fortschritte der Politik oder diese sogar selbst einzig oder vornehmlich auf Vertrauen(sbildungsprozesse) zu gründen, wohl aber, im Vertrauen eine, wenn nicht die entscheidende Motivation und Handlungsressource sozialer Kollektive zu erkennen, im Verkehr miteinander (aus welchen Gründen auch immer mobilisierte) Gewaltpotentiale, Machtansprüche und Unterwerfungsneigungen durch Ethos, Institution/ Organisation und (Vertrags- oder Gewohnheits-)Völkerrecht zu disziplinieren und zu zivilisieren. Diese Formulierung dürfte einmal deutlich machen, dass das Setzen auf Vertrauen, insofern sich dieses jederzeit reiben kann an der allen Teilnehmern am Spiel zuzuerkennenden Freiheit (Souveränität), in Bezug auf den Fortgang der Geschichte gewährlos bleibt. Zum anderen aber scheint offensichtlich, dass obige Referenz auf mehr Vertrauen in der Politik nicht nur normativ zu verstehen, sondern zugleich bezogen ist auf realpolitisch bekannte Verfahren und Vorgänge im internationalen System, die dieses seit langem schon prägen und verändert haben. Denn, um es kurz zu machen, wird erstens seit Jahrzehnten kräftig an der Ent-Anarchisierung des internationalen Systems gearbeit, wozu vor allem der Bedeutungszuwachs und die quantitative Anreicherung internationaler Institutionen und Organisationen das strukturbildende Mittel der Wahl sind. Zum zweiten aber realisiert die Staatenwelt nicht erst seit dem Ende des Kalten Krieges, dass die Sicherheitsbedürfnisse ihrer Mitglieder durch ‚vertrauensbildende Maßnahmen‘ oder ‚Sicherheitspartnerschaften‘ potentieller Gegner vielleicht doch besser bedient werden als durch Überrüstungen.
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Zwei auch von der Friedens- und Konfliktforschung promovierte Konzepte bzw. Maßnahmen(bündel) haben z.B. während des Kalten Krieges Bedeutung erlangt und gewiss zur (unerwartet unblutigen) Auflösung der Blockkonfrontation beigetragen: das Konzept vertrauensbildender Maßnahmen und das des Gradualismus, etwa differenziert ausgearbeitet3 als GRIT (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension-Reduction).4 Was Ersteres betrifft, so verstand z.B. die Schlussakte der KSZE darunter Maßnahmen wie die Ankündigung von Manövern, den Austausch von Manöverbeobachtern oder sogar von Besuchern und militärischem Personal. Weitgehende Verabredungen mit wohltuender Wirkung, das war hier und ist in allen vergleichbaren Fällen ganz offensichtlich. Nur bleibt die intendierte Vertrauensbildung rudimentär, sie dient der Erhöhung des wechselseitigen Sicherheitsgefühls durch Transparenz des Tuns und Wollens, durch die Ermöglichung einer klaren Unterscheidung zwischen bedrohlichen und nicht bedrohlichen Aktivitäten und Absichten. Das ist und bleibt wichtig, zielt aber zuletzt weniger auf Vertrauen als auf (Sicherheit durch) Kontrolle und erweist sich damit als weniger anspruchsvoll als der Gradualismus. Dieser verspricht sich Spannungsabbau und Vertrauensaufbau durch einseitige Vorleistungen und Initiativen sicherheitspolitischer Art, durch Truppen- und Waffenreduzierungen etwa, Bedrohungsbeseitigungen, strategische Zugeständnisse bei Aufrechterhaltung der eigenen Vergeltungsfähigkeit, auch über längere Zeiten hinweg und bei fortwährender Einladung der anderen Seite, diese Initiativen durch gleich gemeinte zu erwidern. Hier geht es um signifikanten Spannungsabbau und zuletzt um eine vertrauensbasierte Bereitschaft der Kontrahenten, die wechselseitige Bedrohung tatkräftig, öffentlichkeitswirksam und verbindlich entscheidend zurückzunehmen – die letzten Jahre des Kalten Krieges liefern eindrucksvolle Beispiele für diesen (vor allem von sowjetischer Seite forcierten) Gradualismus. Warum aber, diese Frage kann damals wie heute uneingeschränkte Aktualität beanspruchen, nicht weiter gehen? Von vertrauensbildenden Maßnahmen über gradualistische Vertrauensbildung fortschreiten zu einer ‚vertrauensbildenden Verteidigung‘, einer Form der Verteidigung also, die wirksam schützt, aber (demonstrativ) niemanden bedroht. Ein alter Traum, gewiss, aber darum keine abstrakte Utopie – zumindest so lange nicht, als man die zum Zwecke führenden Mittel sowie die Implementierungsbedingungen derselben zu benennen weiß. Als Gründer und Mentor der Studiengruppe Alternative Sicherheit hat Lutz Unterseher jahrzehntelang am Konzept vertrauensbildender Verteidigung gearbeitet, 3 Vom
US-amerikanischen Psychologen Charles Osgood. Hierzu und zum Folgenden vgl. den Beitrag von Berthold Meyer: Spannungsreduktion und Vertrauensbildung, in: G. Sommer, A. Fuchs (Hg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim 2004, S.452-465, dort weitere Literatur.
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deren Systematik im nachfolgenden Schema5 eingefangen ist und durch einen kurzen Kommentar meinerseits plausibilisiert werden soll.6 Vertrauensbildende Verteidigung (VV) zielt auf – Gewalteinsätze so unnötig wie unattraktiv machende – Stabilität. Konkretisiert über die in der Matrix aufgeführten Mittel bedeutet das: Die Minimierung grenzüberschreitenden Offensivpotentials sorgt für/befördert Kriegsvermeidung, insofern VV sich konzentriert auf die wirksame Abwehr aggressionsbereiter Gegner, diese aber offensichtlich weder möglichen Angriffen des VV-Staates präventiv begegnen noch in Zeiten der Krise mögliche Blitzangriffe desselben präemptiv zunichte machen müssen. Kommt es gleichwohl zu einem möglicherweise gewaltträchtigen Konflikt, dann bietet eine die Vorzüge des eigenen Territoriums nutzende VV dem Gegner kaum Motive zu weiträumig-schädlichen Manövern auf diesem Grund, liefert diesem auch keine attraktiven, da ihn bedrohenden Ziele und dämpft allfällige Eskalationsneigungen. Zuletzt sorgt sie, durch Konzentration auf geländeangepasste Abwehr, für den weitgehenden Verzicht auf die Beteiligung an teuren und misstrauensgetriebenen Technologie- und Beschaffungswettläufen. Alle vorgenannten Zwecke werden, um die weitere Interpretation dem Leser selbst zu überlassen, gestützt und befördert durch die Mittel 2 und 3, wenn diese auch zuvörderst gerichtet sind auf die Gewährleistung von Konflikt- bzw. Rüstungsstabilität. Dass alle sich wechselseitig verstärkenden Maßnahmen und Zwecke, um volle Wirkung zu erzielen, nach innen wie nach außen der Transparenz und Publizität bedürfen und daher als besonders demokratieverträglich gelten müssen, sei ebenso angemerkt, wie die Erwartung ausgesprochen, dass VV als ein mögliches gemeinsames Projekt von Demokratien deren behauptete Friedensfähigkeit (‚demokratischer Frieden‘) allererst auf eine umfassend belastbare Grundlage stellen dürfte.
4. REALGESCHICHTE: DAS ENDE DES KALTEN KRIEGES ALS KAMPF UM VERTRAUEN
Die vorstehende, durchaus werbende Einführung einer spezifischen Form der Verteidigung erfolgte weniger um der Kritik am ‚demokratischen Frieden‘7 als um der Aufklärung der hier im Thema stehenden historischen Problematik willen. 5 Vgl.
Anhang des Beitrags, Abb.4.
6 Vgl. zum Folgenden die Ausführungen Untersehers im – als Buch im Erscheinen begriffenen – Kurs
der FernUniversität Hagen: Frieden und Verteidigung. Stabilität – Militärstruktur – Intervention, 2007, S.77ff. 7 Nicht umsonst spricht das deutsche Hauptbeforschungsinstitut desselben, die Hessische Stiftung für Frieden und Konfliktforschung (HSFK), mittlerweile von „demokratischen Kriegen“ (vgl. Anna Geis, Lothar Brock, Harald Müller (Hg.): Democratic wars. Looking at the Dark Side of Democratic Peace. Palgrave Verlag 2006).
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Erinnern wir uns, dass der durch den NATO-Doppelbeschluss (Dez. 1979) eingeleitete Abschnitt der Ost-West-Beziehungen von einem tiefen wechselseitigen Misstrauen geprägt war. Der sowjetische Einmarsch nach Afghanistan im selben Monat schien den expansionistischen Charakter der SU, die Stationierung neuer nuklearer Raketensysteme in Europa (SS-20) deren grundsätzlich aggressiven Charakter zu bestätigen; dem neuen Hardliner-Präsidenten der USA, Ronald Reagan, galt die SU 1983 gar als „the Evil Empire“, vor dem er sich und die Welt durch ein weltraumgestütztes Rakentenabwehrsystem (SDI) zu schützen vornahm. Die Sowjetunion ihrerseits, seit Breschnews Erkrankung und den kurzen Amtszeiten seiner Nachfolger eher führungsschwach, sah sich durch die angedrohte Stationierung der Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt – man rechnete in sowjetischen Führungskreisen in der Tat in den achtziger Jahren mit einem nuklearen Angriff der USA!8 Der Boykott der Olympischen Spiele von Los Angeles (1984) war sicher ein pay back für den amerikanischen der Spiele in Moskau (1980), zeigte aber eben dadurch, dass auch bei eher weichen, kulturellen Themen die Zeichen auf Sturm standen. Wie gelangt man aus einer solchen verfahrenen Situation heraus? Aus einem von beiden Blockseiten als massiv und von vielen Politikern als unhintergehbar angesehenen Sicherheitsdilemma (mitsamt eines eminenten, systemisch erzeugten und konservierten Misstrauens der beteiligten Bevölkerungen), bei dem jeder Verzicht auf überkommene Sicherheitsstrukturen als tendenziell lebensbedrohlich erscheinen konnten, und dosierte GRIT-Maßnahmen als wirkungslos sich erweisen mussten? Nun, ohne eine gehörige Portion lebenserhaltender Angst und ein nicht weniger wichtiges, aus Erfahrung und vielleicht auch Selbstkritik gespeistes Rest-Vertrauen kommt man aus der Sackgasse nicht heraus; aber, so scheint die weitere Geschichte zu zeigen, ohne große Inszenierungen, ohne gekonnte, nach außen wie nach innen ausstrahlende politische Szenografien wäre man wohl schnell wieder hineingeraten. Deutlich wurde aber auch, dass in dieser politischen Lage massenmediale Vertrauensinszenierungen über den Tag hinaus nur wirken und beflügeln können durch eben dieses Vertrauen stabilisierende und rechtfertigende Programme, Taten, Ergebnisse. Hierfür sorgte vor allem der 1985 neu installierte Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow. Sein „Neues Denken“ verdankte sich nicht zuletzt einer realistischen Analyse der sozioökonomischen Widersprüche und politischen Verwerfungen eines bröckelnden, glanzlosen Imperiums, dessen Supermachtanspruch sich einzig seiner militärischen Ausstattung noch verdankte. Gorbatschows Amtsantritt (März 1985) erwies sich als radikaler Einschnitt: Die Rüstungskon8 Rolf Steininger: Der Kalte Krieg. Frankfurt am Main 2004, S.49.
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trollgespräche wurden wieder aufgenommen, die Auseinandersetzungen um die Mittelstreckenraketen in die START-Verhandlungen einbezogen, die schon totgeglaubte Gipfeldiplomatie erlebte eine neue Blüte, demonstrierte Gemeinsamkeiten, ohne Divergenzen zu verschweigen, und verfügte, über Genf (1985), Reykjavik (1986), Washington (1987) und Moskau (1988) das „Ende des Kalten Krieges“ (Ronald Reagan, ebd.). Der INF-Vertrag mit Doppelnulllösung (für die atomar bestückten Mittel- und Kurzstreckensysteme) beendete im Dezember 1987 den Albtraum nuklearer Vernichtung Europas, vertieft und ausgeweitet noch durch Gorbatschows bahnbrechende Rede vor den Vereinten Nationen Ende 19889; die erfolgreichen Zwei-plus-Vier-Gespräche (Sept. 1990) und die Vereinigung der beiden Deutschlands signalisierten das definitive Ende des Ost-WestKonflikts. Sicher darf man in diesen Prozessen nicht die wichtige Rolle von Gorbatschows Gegen- und Mitspieler, Ronald Reagan, vergessen, der dessen Initiativen angemessen zu begegnen und der im Übrigen wie Gorbatschow die schwierige Aufgabe hatte, die zahlreichen Gegner einer derart weitreichenden und riskanten Entspannungspolitik im eigenen Lager einzubinden oder kaltzustellen. Aber die Initiative ging durchgehend von Gorbatschow aus, dessen Reformansatz grundsätzliche und ganz unerwartete Impulse sowohl für die Systemebene wie die Ebene der Sicherheitspolitik im engeren Sinne zeitigte, wodurch deren jeweilige Glaubwürdigkeit nicht unerheblich gewann. Gorbatschows „Neues Denken“ setzte grundsätzlich an, versprach den Umbau der sowjetischen Politik („Perestroika“) sowie eine neue „Offenheit“ („Glasnost“), was bald schon zu erheblichen Veränderungen in der sowjetischen Herrschaftsverfassung wie im internationalen Umgang führen sollte. In dieser Perspektive war auch das neue, die Sicherheit der anderen Seite konstitutiv einbeziehende Sicherheitsverständnis von Anfang an mehr als eine Adaption der „gemeinsamen Sicherheit“ des Palme-Reports von 1982 oder der zwischen SED- und SPD-Vertretern in den achtziger Jahren ventilierten, zukunftsträchtigen „Verantwortungsgemeinschaft“ und „Sicherheitspartnerschaft“: Gorbatschows Bild vom „gemeinsamen Haus Europa“, seine Berufung auf universelle Werte wie seine Vision einer kurz- bis mittelfristig zu realisierenden atomwaffenfreien Welt bezeugen dies. Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan stärkte Gorbatschows Glaubwürdigkeit, seine Absage an die Breschnew-Doktrin der „beschränkten Souveränität“ der sozialistischen Staaten, seine Aufforderung an die Bruderstaaten, nach dem eigenen Weg zum Sozialismus zu suchen10, widerrief, ohne auf die sozialistische Perspektive zu verzichten, deren Vasallenstatus und schuf neue Freiheiten im Staatensystem. 9 Vgl.
Unterseher, Frieden und Verteidigung, a.a.O., S.77ff.
10 Wie Gennadi Gerassimow scherzte: statt Breschnew- nun die „Sinatra-Doktrin“: „I did it my way“.
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Nicht weniger radikal und durchdacht erwiesen sich Gorbatschows Umbaupläne und -maßnahmen auf der Ebene der Sicherheits- und Militärpolitik – deren Kurzcharakteristik belegt, wie nahe sie der oben skizzierten VV kam: a) Feindbilder sollten abgebaut und entsprechende Festlegungen aus der Militärdoktrin entfernt werden. b) Die Streitkräfte sollten sich in ihrem Ressourcenbedarf daran orientieren, was als ‚vernünftigerweise hinlänglich‘ (‚reasonably sufficient‘) gelten könne. c) Auch von der Struktur her wäre die Verteidigung so anzulegen, dass die Schutzwirkung optimiert, die von ihr ausgehende provokative Wirkung aber minimiert würde.11
Das blieben keine Ankündigungen, sondern waren die Veranlassung zahlreicher vertrauensbildender Verteidigungs- und Rüstungsmaßnahmen der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, wie der mehrfachen Verlängerung des Atomteststopps, einschneidender Kürzungen der Verteidigungsausgaben und militärischen Personalbestände sowie des strukturellen, die Defensive zulasten der Offensivpotentiale stärkenden Umbaus der sowjetischen Streitkräfte.12 Es scheint offensichtlich, dass Gorbatschows Veranstaltungen den Rahmen klug gewählter GRIT-Maßnahmen und -Prinzipien sprengten und als erhebliche, auch als häufig riskante Vorleistungen zur Ersetzung tiefsitzenden Misstrauens durch neues, weiter tragendes Vertrauen gewürdigt werden müssen. Dass seine Versuche, durch Inszenierung, Sprache und Reformarbeit sicherheitspolitische Transparenz und blockübergreifendes Vertrauen herzustellen, immer wieder ihn oder diese Versuche auf die Ebene des ungemilderten Sicherheitsdilemmas zurückzuwerfen drohten, belegten Helmut Kohls (allerdings bald zurückgenommener) Gorbatschow-GoebbelsVergleich oder die Denunzierung einer Gorbatschows Angebote ernstnehmenden Politik als „Genscherismus“. Diese Erinnerung mag als Veranlassung dienen, die historische Betrachtung durch eine systematische Reflexion zu ergänzen und ihren Ertrag zu bekräftigen.
5. SYSTEMATIK: VERTRAUEN UND INSZENIERUNG
Es wird in der Friedens- und Politikwissenschaft bei der Behandlung friedensfördernder Prozesse wie dem vorstehend beschriebenen zu wenig auf die subjektiven Bedingungen desselben, zumal der Reduktion des – grundsätzlich realitätsgerechten, aber in concreto gewaltheckenden – Misstrauens wie des reziproken Aufbaus von Vertrauen, abgestellt. Ein Gegenbeispiel bietet der bereits erwähnte Beitrag des HSFK-Forschers Berthold Meyer, der über Möglichkeiten von und Erfahrungen mit Vertrauensbildung in der internationalen Politik handelt. 11
Unterseher, Frieden und Verteidigung, a.a.O., S.77, S.144. ebd., S.144f.
12 Vgl.
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Gestützt auf die einschlägigen Ausführungen Niklas Luhmanns13, betont er nicht nur die Bedeutung der wechselseitigen „Generalisierung von Erwartungen“ für alle geschilderten Vertrauensbildungsprozesse. Die begrenzte Erfolgsbilanz und Reichweite der GRIT-Strategie erklärt sich Meyer vor allem durch die Risikoarmut ihrer Initiativen, die im Widerspruch stehe zu Luhmanns Erkenntnis, dass Vertrauen erst durch „riskante Vorleistungen“ zustande komme.14 Riskant ist ein Vertrauensangebot dann, wenn der „Schaden beim Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus dem Vertrauenserweis gezogen wird“. Und Meyer spitzt mit Luhmann weiter zu, dass der Partner, „das Vertrauen zu enttäuschen ... nicht nur die Möglichkeit, sondern ein gewichtiges Interesse“ haben müsse! Tatsächliche Vertrauensbildung erfordert also den (gewollten) Einsatz beider Seiten, was zusätzlich voraussetze, dass die Beteiligten nicht nur den Einsatz kennen, von den Interessen, Chancen und Gefährdungen wissen, sondern dass sie auch „voneinander wissen, dass sie es wissen“. Das allerdings könne u.U. ein Zuviel an Wissen bedeuten, „wenn die Beteiligten auch noch wissen oder sich gegenseitig unterstellen, dass der Prozess dem Aufbau von Vertrauen dient. Denn dann wird die Frage nach dem Wozu, die Frage nach dem Motiv, unabweisbar, die sehr leicht in Misstrauen umschlagen“ könne. Während Meyer an dieser Stelle das zumal für Demokratien schwer lösbare Problem hervorhebt, wie diese zu Antworten finden sollen, die zugleich nach innen (den allein Legitimität verleihenden Souverän) wie nach außen (den prekären Partner/Gegner) überzeugen müssen, möchte ich auf die Grenzen einer Vertrauensbildung durch Risikobereitschaft verweisen. Das insistierende Fragen nach dem Motiv des jeweils anderen wirft die Beteiligten auf den rauen Boden des voll ausgeprägten Sicherheitsdilemmas zurück. Hierzu dürfte die amerikanische Regierung auch nach dem Genfer Gipfel mehr als einmal geneigt haben – nicht ohne gute Gründe. Hätte Gorbatschow hierauf mit einer einigermaßen zutreffenden Beschreibung des Zustands und der Bedürfnisse des sowjetischen Riesenreichs geantwortet, hätte die Bereitschaft aller Entspannungsgegner und -skeptiker, den Gegner lieber totzurüsten als mit ihm die Politik neu zu gestalten, gewaltigen Auftrieb erhalten und sich realpolitisch wohl durchgesetzt (zu welchen Konditionen und mit welchen Folgen auch immer). Stattdessen haben die amerikanische Öffentlichkeit und der Kongress die Karte des (zu) erwidernden Vertrauens gezogen, als sie gegen die Reagan-Administration 1986 und 1987 Rüstungskontrollen und Abstriche am SDI-Programm durchsetzten und den Präsidenten zwangen, „seinen Willen zur Verständigung unter Beweis zu stellen“.15 13 Vgl. Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1973; die folgenden Luhmann-Zitate ebd. S.27, S.23f., S.45f. 14 Hierzu und zum Folgenden siehe insbesondere Meyer, a.a.O., S.457-459. 15 Stöver, a.a.O., S.100.
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Dieses Vertrauen ins (angebotene) Vertrauen hat sich nicht nur in diesem Fall bewährt, es lebt von der Gewissheit, dass letztlich Vertrauen Vertrauen schafft. Vertrauensbildung in den internationalen Beziehungen, zumal unter den hier geschilderten desolaten Bedingungen, bedarf einseitiger Vorleistungen und wechselseitiger Risikokalküle – sie findet darin aber weder ihren Anfang noch ihr Ende. Zweifellos hat die sowjetische Interessenlage entscheidende Veranlassung zu Gorbatschows Vertrauens-Initiative und deren inhaltlicher Ausprägung gegeben. Aber sie hat ihr weder das Maß noch die Richtung definitiv vorgeben können: Vertrauensbildungsprozesse entwickeln gelingendenfalls ihre eigene Dynamik, und am Ende des hier thematisierten Prozesses stand eine neue, eine beiden Protagonisten unvorhersehbare Welt. Politische Szenografien, auf Sinnlichkeit, Affekt und Ästhetik abstellende Inszenierungen spielten und spielen in diesem Prozess der Fundierung wechselseitigen Vertrauens als Grundlage gemeinsamen Handelns offensichtlich eine eigene, unersetzliche Rolle. Zweifellos bedürfen sie der Bestätigung und Bestärkung durch die Realpolitik, durch überprüfbare Strategien, Maßnahmen und Ergebnisse. Sie scheinen nicht nur wichtig, um den Souverän, um das Volk tout court zu informieren und zu interessieren. Sie sind unerlässlich, um die freiwillige, die politische Selbst-Bindung der Vertrauenden und um Vertrauen Nachsuchenden öffentlich, dadurch aber verbindlich und glaubwürdiger zu machen. Sie schließlich vermögen den affektiven und Sinnüberschuss (‚Ausstrahlung‘) zu produzieren, der neue Wege gangbar erscheinen lässt und friedens- wie sicherheitspolitische Gestaltungsmöglichkeiten jenseits von Transparenz und Kontrolle eröffnet. Bevor wir uns einzelnen, in Fotos eingefrorenen und dem kollektiven Gedächtnis der ZeitgenossInnen eingeschriebenen Inszenierungen abschließend zuwenden, versuchen wir, deren Charakter genauer zu bestimmen. Im Grundlagenteil ihrer Studie Gebaute Bilder – künstliche Welten16 unterscheidet Bernadette Füllscher, nach einem komprimierten Abriss der Begriffsund Sachgeschichte von Inszenierung und über eine kritische Sichtung der einschlägigen Literatur, vier Typen von Inszenierung: Inszenierung qua „Übersetzen, Präsentieren, Simulieren und Konstruieren“, mit, wie die Erfahrung lehrt, meist fließenden Übergängen.17 Diese Unterscheidung treffe, hierin scheint die Verfasserin mit Baudrillard einig, sowohl die historische wie die systematische Ausbildung der Inszenierungsvarietäten.
16 Mit dem Untertitel „Szenografie und Inszenierung an der Expo.02“, Baden 2009. – Die Ausführungen
der Verfasserin und das Gespräch mit ihr versetzten mich allererst in die Lage, den spezifischen Inszenierungscharakter der behandelten politischen Objektivierungen genauer zu verstehen und ein Urteil über deren Auswirkungen zu wagen. 17 Ebd., S.42.
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Arbeitet die Inszenierung als „interpretierende Übersetzung“18 an der Umwandlung des Originals und des vorgegebenen Inhalts in eine neue Form, so verleiht die „effektvolle Präsentation“19 dem Inhalt eine neue Prägung und verlangt darüber eine „Neubewertung des Gegenstands“.20 Näher kommen wir den hier verhandelten Gegenständen, dem Vertrauen und der Vertrauensbildung, in Zusammenhängen der internationalen Politik, über den dritten und vierten Inszenierungstyp. Zur „simulierenden Inszenierung“21 gehört die Täuschungsabsicht, durch Weglassen eher als durch Hinzufügen von Aspekten der Form und/oder des Inhalts des inszenierten Gegenstandes, wobei die Täuschung sich auch als habituell, da eingelassen in die technische Ausstattung, die Materialität der Medien, erweisen kann. Die Inszenierung als „künstliche Konstruktion“ dagegen kommt ganz aus ohne Original, das zu übersetzen, neu wahrzunehmen oder vorzutäuschen wäre, und erzeugt „ein Simulakrum ohne Bezug zu einem Vorhergehenden“22, aber mit ganz eigenem Wirklichkeitsanspruch. „Ihre ‚Durchschlagskraft‘ “ nämlich beziehen diese Inszenierungen „daraus, dass sie beispielsweise gegenstandsunfähige Sachverhalte so vergegenwärtigen können, dass diese dem Bewusstsein wie Wahrnehmungen erscheinen. Inszenierungen als künstliche Neukonstruktionen treten daher besonders häufig auf, wenn Bedeutung überhaupt erst konstruiert werden soll.“ Eine Steilvorlage für die Politik, auch in den Augen der Verfasserin: „Die Autoren – zum Beispiel Politiker – inszenieren dabei etwas, was zuvor nicht existiert hat – etwa Sicherheit, Reichtum oder Öffentlichkeit.“23 Oder eben Vertrauen – wir kommen sogleich (unter Abschnitt 6) darauf zurück. Die (mit dem medialen Zeitalter besonders eng verbandelten) Inszenierungstypen drei und vier könnten ein weiteres Mal, wegen der dort eingebauten Täuschungs- und Künstlichkeitsdimension, die Frage nach der Un- bis Schwervereinbarkeit von Inszenierung und Vertrauen aufwerfen lassen. Traktiert man das Problem auf der hier gewählten Ebene der Alltagserfahrung – und nicht auf der einer in der Tat beunruhigenden, da erkenntniskritisch das Überwältigungswesen und die Listen medientechnisch vermittelter Realitätserzeugung thematisierenden Technikphilosophie24 –, so ändert sich an der hier gegebenen Antwort nichts, solange der Inszenierungscharakter präsent gehalten und außerinszenatorischen Faktoren verbunden bleibt. Eben diese Bedingungen scheinen auch gegen die Gefahr hin18
Bernadette Fülscher: Gebaute Bilder – Künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02, Baden 2009 (Hier+Jetzt Verlag), S.35. 19 Ebd., S.37. 20 Ebd., S.38. 21 Ebd. 22 Ebd., S.41. 23 Ebd., S.42. 24 In der Nachfolge der Arbeiten von Günther Anders etwa; gr. techné bedeutet auch List.
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reichend zu wappnen, dass die offensichtliche Zunahme der Simulationspraxen und Simulakrenproduktion den Glauben an bzw. das Vertrauen in das Vertrauen definitiv erschüttert oder verunmöglicht.
6. EXEMPLA
Versuchen wir zu ergründen, was die Foto-Stills an Inszenierung aufbewahren (warum gerade sie ein Ereignis bezeugen soll(t)en), was die Botschaft ist, und warum gerade sie – das betrifft wahrscheinlich Abb. 1 und 3 stärker als Abb. 2 – so nachhaltigen Eingang in das kollektive Gedächtnis25 fanden.
Abb.1 Gipfel in Genf, November 1985 (http://de.academic. ru/pictures/dewiki/82/ Reagan_and_Gorbachev_ hold_discussions.jpg).
Personalisierend – den Begegnungsort, das Verhalten und das Verhältnis in Szene setzend … resümiert dies Bild auf schwer überbietbare Weise den erhofften Neu-Beginn der verfahrenen Supermacht- und Blockbeziehungen durch den Genfer Gipfel vom November 1985. Deren Repräsentanten, Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, sind lachend-lächelnd einander zugewandt, das helle Leder der Bequemlichkeit und Bedeutsamkeit signalisierenden Sessel profiliert fast scherenschnittartig Körper und Körperbewegung der sich einander zuwendenden, dunkel-seriös gewandeten Politiker. Diese sitzen sich weder direkt (‚konfrontativ‘) noch ungezwungen-offen 25 Der Deutschen?, der Europäer?, der US-Amerikaner? – jedenfalls der bewusst und besorgt die Blockkonfrontation Verfolgenden!
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gegenüber, sondern seitlich abgewinkelt zueinander, so dass die dem anderen zugewandte Seite zugleich als vom Kaminfeuer gewärmt erscheint. Die Protagonisten bewegen (man sehe die vor dem Betrachterblick ungeschützten Schuhsohlen der beiden) und geben sich vielleicht etwas übertrieben entspannt und gut aufgelegt (ein Witzchen des US-Präsidenten?), was leichte Befangenheit auch auf den Gipfeln der Macht verraten könnte, verstatten aber eben darum keinen Zweifel an ihrer Bereitschaft, sich auf den anderen (und beider Papiere) einzulassen. Zwischen den Staatsmännern fällt der Blick auf das lodernde Kaminfeuer, das die organisierende Mitte des Bildes abgibt, den Raum(ausschnitt) teilt und die beiden Politiker auseinander- und zusammenhält. Der vor dem Kamin aufgebaute Bei- und Abstelltisch für Tassen und (natürlich:) Papiere stört nicht, scheint die Flammen (nach Art der Olympischen?!) eher zu tragen, das Feuer resp. die von ihm ausgehende Wärme hervorzuheben. Der Kamin/das Feuer ist streng symmetrisch positioniert zwischen den wuchtig-warmen (dunkelgrünen) Steinquadern der Wand und den eingelassenen Holzstützen, auf denen ein auch den Kamin abschließender mächtiger Holzbalken ruht. Zumindest im Nachhinein fällt es schwer, hierin keine Anspielung auf Gorbatschows ‚gemeinsames Haus Europa“ zu erkennen – die Achse Rückrat/Kopf der Politiker steht jeweils senkrecht zum Balken – und wiederum symmetrisch zur Feuerstelle – und indiziert deren Trägerfunktion für das Haus.26 Offensichtlich, dies versteht sich auch ohne jeden Rückgriff auf die Bedeutung des Kaminfeuers in den jeweiligen Nationalmythologien, vermag ein solcher Ort neue Kräfte freizusetzen, neue Beziehungen nahezulegen: Hier taut (endlich) das Eis, legt Neues, (hoffentlich) Verbindendes frei, ersetzt Misstrauen (kalt) durch Vertrauen (warm). „Ich verlasse Genf in der Zuversicht“, erklärte Reagan, „dass dieser Gipfel der Kamingespräche zu einer besseren Welt in Frieden beigetragen hat.“27 Beide Seiten bestehen auf Bewegung der jeweils anderen (SDI, SS-20, Afghanistan/ Nicaragua ...), stimmen jedoch überein in der definitiven Ablehnung des Strebens nach militärischer Vorherrschaft und eines Atomkriegs. Jedoch, um noch einmal Reagan zu zitieren (das hätte auch Gorbatschow sagen können): „Echtes Vertrauen muss auf Taten beruhen, nicht auf Worten. Das ist das Kriterium für die Zukunft.“ Und auch das Kriterium, an dem sich, widrigenfalls, das Pathos , die Faszinationskraft der Vertrauensinszenierung bricht, das Bild bröckeln, 26 Insofern eine Vorwegnahme der institutionellen Struktur der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), mit ihrem europäischen und ihrem transatlantischen (USA, Kanada) Pfeiler. 27 Dieses wie das nächste Zitat aus der Internet-Fassung des Manuskripts der „Stichtag 19. November 2005“-Sendung des WDR mit dem Titel: „Vor 20 Jahren: Gipfeltreffen von Reagan und Gorbatschow in Genf“, unter: www.wdr.de/themen/kultur/stichtag/2005/11/19.jhtml.
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die Erinnerung schwinden würde. Merke: Es gibt etwas Extra-Inszenatorisches, an das die durch Inszenierung mobilisierte Vertrauensbildung gebunden bleibt. Was aber wird inszeniert, was ist die Botschaft? Hier vertrauen sich zwei? Das wäre, gemessen an der Vorgeschichte, eine unglaubwürdige, eine fast lächerliche Behauptung. Hier sind zwei bereit, sich zu vertrauen – einander zuzuhören, miteinander zu reden, zu beratschlagen, zu entscheiden. Diese Deutung scheint plausibler, zudem die Protagonisten in die Pflicht nehmend, das Publikum aber immer noch wärmend, Erinnerungen mobilisierend und Phantasien entzündend. Auch hält sie eher den Inszenierungscharakter der Vertrauensbildung offen und verweist auf beglaubigende Zukunft. Das zweite Foto (Abb.2) dokumentiert, wie einige andere vom Reykjavik-Gipfel, das Thema Abschiednehmen, wobei unklar ist, ob es sich um eine Tagesverabschiedung oder die Abreise handelt – jedenfalls: nach getaner Arbeit. Die Szene signalisiert Vertrautheit und ‚Nähe‘ („Kriegst du den Zug noch?“ „Das müsste klappen, ist ja erst zehn vor!“ „Vergiss nicht, Deine Frau zu grüßen“ – ein solcher Dialog könnte doch durch das Foto glaubwürdig-anschaulich illustriert werden ...), durch die Gestik
Abb.2 Gipfel in Reykjavik, 1986 (http://www.monstersandcritics.de/downloads/ downloads/articles3/132098/article_images/ image4_1238779405.jpg).
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(Reagans linker Arm an Gorbatschows rechtem oder dezent auf dem Rücken), die leichte Neigung der Köpfe und von Gorbatschows Schultern aufeinander zu – beide scheinen wirklich auf die Uhr zu schauen! Lediglich Reagans zur Faust geballte rechte Hand indiziert Anspannung. Offensichtlich hat man, zumal der Kleinere, Gorbatschow28, den Gesprächen und Ankündigungen am Kamin Taten folgen lassen: So bestätigt sich und wächst eingesetztes Vertrauen, trägt beim zweiten Gipfel-Arbeitstreffen Züge des Gewohnten und ‚Normalen‘ – so trifft man sich (morgen, bald) gerne wieder. Wie schon auf dem Genfer Foto verzichtet der abgebildete Raum auf alle Herrschaftsinsignien oder -bezüge, es scheint sich nicht um Amtszimmer (etwa der isländischen Regierung) oder Repräsentationsräume (etwa der UN in Genf ) zu handeln, die als solche, im völkerrechtlichen Sinne ‚guter Dienste‘, Anspruch erheben könnten, prädestiniert für Gespräche solcher Art zu sein. Was immer ihre eigentliche Funktion sein mag, sie scheinen ausgewählt und (eher bescheiden) hergerichtet zu sein allein für den guten Zweck, auf Vertrauensbildung und Ausstrahlung hin inszenierte Räume, so gesehen eher Simulakren denn (frühere Gipfel oder Konferenzen zitierende) Simulationen. Die Fotografie von Robert Maass (Abb.3) bewahrt einen einzigartigen Moment in der Karriere des Michail Gorbatschow und der Endphase des Kalten Krieges. Nach der Abfolge von Gipfeln in Genf, Reykjavik, Washington und Moskau, die beide Seiten das Ende des Kalten Krieges konstatieren ließ, nach der Unterzeichnung des INF-Vertrages Ende 1987, mit einer Reihe friedensfördernder sowjetischer Maßnahmen im Gefolge, nach eindrucksvollen Belegen für Perestroika und Glasnost im Innen- wie im Außenverhältnis der UdSSR und den Appellen an gemeinsame Werte kann Gorbatschow mit globaler Anerkennung seiner Person und seiner Leistungen wie mit weltweiter Aufmerksamkeit für seine Ideen und Absichten rechnen. Das betrifft nicht zuletzt die von ihm und seinen Helfern betriebene Neuregelung der Verkehrsverhältnisse innerhalb und außerhalb der sozialistischen Staatenwelt sowie die Bemühungen um eine gewaltarme Außenpolitik und eine nicht bedrohende Verteidigung, die dem Gleichheitsprinzip des Völkerrechts und dem Kernauftrag der UN als zentraler Welt-Friedensorganisation zuarbeiten. Die im Bild eindrucksvoll eingefangene (bzw. seinerseits inszenierte) Inszenierung der Rede, in der Gorbatschow konkret eine Truppenreduzierung der sowjetischen Truppen in Europa sowie die Selbstbestimmungkompetenz der mittelund osteuropäischen Staaten verkündet, rückt den Redner, durch Lichteffekte und geschickte Verteilung der Hell/Dunkel-Farbwerte, in den Mittelpunkt, auf dessen leuchtendes mächtiges Rednerpult die Augen der im Halbkreis um ihn angeordneten Vertreter aller UN-Mitgliedsstaaten gerichtet scheinen. Die Positionierung des 28
Der zu Beginn des Jahres das „Neue Denken“ mit „Perestroika“ und „Glasnost“ ankündigte.
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Abb.3 Gorbatschows UN-Rede, Dezember 1988 (Foto: Robert Maas, Corbis) (http://www.demokratiezentrum.org/uploads/pics/Abb1_ Gorbatschow_UNO.jpg).
Redners unter dem gewaltigen UN-Logo macht aus einem der zahllosen Redner vor der UN-Versammlung deren berufenen Sprecher, lässt Gorbatschow geradezu als den Mund erscheinen, der ihre Ziele und Prinzipien formuliert.29 Saalregie und Fotograf scheinen Hand in Hand zu arbeiten, zumindest in die gleiche Richtung: „Die Monumentalität des Augenblicks wird hier bewusst in Szene gesetzt, der Vortragende erscheint geradezu als Quelle des Lichts in dem ins Dunkel getauchten Saal.“30 Als Quelle des Lichts fungiert im Okzident, zumal Europa, die Aufklärung, und so erweist sich dieses Bild als Teil der Inszenierung des Staatsmanns Michail Gorbatschow, der neues Licht wirft auf die (in der UN-Charta niedergelegten) Prinzipien und die geeigneten Mittel der Friedenssicherung. Das Licht wird gespeist aus, oder anders: das Vertrauen, das hier bestätigt und neu erzeugt wird, beruht auf den positiven Erfahrungen der Welt, der Politiker wie des Publikums, mit der Gorbatschowschen Entspannungspolitik sowie auf Versprechungen auf die Zukunft, deren Einlösung grundsätzlich überprüfbar bleiben. Der Verweis auf das Extra-Inszenatorische wird, paradox gesprochen, unterfüttert durch eine Reihe von zeitnahen ‚Unterinszenierungen‘, in denen nachrangige Militärs und Politiker des sozialistischen Lagers die Gorbatschow’schen Ankündigungen operationalisieren und bekräftigen. Der der Inszenierung selbst eingeschriebene Inszenierungsvorbehalt aber steckt im Bildaufbau und dessen Botschaft: Die Gorbatschow hier zugemessene Funktion ist im UN-Organigramm nicht vorgesehen, kann nach den Statuten besetzt bzw. ausgeübt werden einzig durch die Generalversammlung oder den Sicherheitsrat. Inszenierungstheoretisch erleben wir also wieder einen Fall der von Füllscher als gängig konstatierten Verschachtelung der Inszenierungstypen, die aber primär auf den zweiten Typus der „effektvollen Präsentation“, verbunden mit der „Neubewertung des Gegenstands“: Gorbatschow und das von ihm gesuchte Vertrauen, abzielt. 29
„La bouche, qui prononce les paroles de la loi“, nach Montesqieu.
30 Benjamin Drechsel: UN-Rede Michail Gorbatschows. Bildanalysetext zur Abb. 1 der Ikone ‚1989‘, in:
Online-Modul Europäisches Politisches Bildgedächtnis. Ikonen und Ikonographen des 20. Jahrhunderts, 09/2009, unter www.demokratiezentrum.org/themen/europa/europaeischesbildgedächtnis/1989/abb1-unrede-michail-gorbatschows.html.
INSZENIERUNG UND VERTRAUEN IN DER POLITIK 325
ANHANG
Anarchisches internationales Selbsthilfesystem Unsicherheit des einzelnen Akteurs Sicherheit begriffen als militärische Überlegenheit militärischer Schutz der Rüstung A rüstet auf B fühlt sich bedroht
B rüstet marginal stärker als A A fühlt sich bedroht
A rüstet marginal stärker als B
Abb.4 Systematik Vertrauenbildende Verteidigung. Nach: Lutz Unterseher, a.a.O., S.77.
Abb. 5 Die Struktur des SicherheitsdilemmaTheorems. Aus: R. Meyers: Begriff und Probleme des Friedens, 1994, S.123, Abb.29, Die Struktur des SicherheitsdilemmaTheorems.
B fühlt sich bedroht
usw.
B rüstet marginal stärker als A
1. Minimierung grenzüberschreitenden Offensivpotentials
A. Kriegsvermeidung: – stabile Abhaltung – Präventionsstabilität – Krisenstabilität
2. Vermeidung struktureller Verwundbarkeit
B. Stabilität im Konflikt: – Bewegungshemmung – Zielverweigerung – Eskalationseindäm.
3. Effizienz und Kosteneffektivität der Verteidigung
C. Rüstungsstabilität: Abkopplung von Technologie- und Beschaffungswettläufen
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Ludwig Fromm SZENOGRAFIE IN GEDENKSTÄTTEN. SINN UND GRENZEN DES SZENOGRAFISCHEN PRINZIPS Ja, ich rolle den Fels immer wieder den Berg hinauf. Imre Kertész
Die großen KZ-Gedenkstätten werden derzeit neu gestaltet. Auf der Grundlage ähnlicher Intentionen kommen unterschiedliche Konzepte der Präsentation zur Anwendung. In den zurückliegenden Jahren wurden neue pädagogische Ansätze und Methoden entwickelt und zur Diskussion zu gestellt. Gedenkstättenarbeit will als Erinnerungsarbeit verstanden werden, die sich sowohl mit Fragen nach der Erinnerungsfähigkeit und Erinnerungsbereitschaft als einem aktuellen gesellschaftlichem Problem, als auch und im Besonderen mit den Rezeptionsbedingungen heutiger Jugendlicher auseinandersetzten, um Möglichkeiten und Grenzen pädagogischer Handlungsräume abstecken zu können.
1. GEDENKSTÄTTEN
Die besonderen Anforderungen an die Ausstellungskonzeptionen ergeben sich zwangsläufig aus der Relevanz und Singularität des Inhalts. Das Gedenken gilt Menschen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts, mit Beginn der Phase des Machtausbaus des NS-Regimes in Deutschland, systematisch verfolgt und getötet wurden, als politische oder weltanschauliche Gegner oder als Objekte einer verbrecherischen Rassenpolitik, einer industriell ausgerichteten Tötungslogik, oder dem Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer fielen. Unvorstellbares soll dargestellt, vor dem Vergessen bewahrt werden. Als die alliierten Soldaten 1945 die Tore der Konzentrationslager öffneten, wurde öffentlich, was die Soldaten bislang noch nie gesehen hatten. Mit dem Begriff ‚Hölle‘ wurde das Unfassbare versucht sprachlich zu greifen. Der Boden der Gedenkstätten ist ein blutgetränkter Boden. Und um diese negative Fundamentierung nicht zu verlieren, muss man sich immer wieder vergewissern, dass das letztlich ein Friedhof ist. Anhand dieses Friedhofes hat alles seinen Platz: sowohl das Schweigen und Verstummen als auch das Reden darüber, was man machen kann, damit so etwas nie wieder passiert. Insofern sind diese Orte immer beides: Ein Friedhof und ein Museum.1 1 Rikola-Gunnar Lüttgenau im Interview:
„Er wird in die Hölle von Buchenwald gehen“, KONTAKT online, http://derstandard.at/fs1244116946974/Interview-mit-Gedenkstaetten-Leiter-Er-wird-in-dieHoelle-von-Buchenwald-gehen?sap02&_pid=13168798, 04.07.2009, letzter Zugriff: 18.07.2009.
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Abb.1 Buchenwald Weimar, Thüringen.
2. VOM ORT DES VERBRECHENS ZUM MUSEUM
Der inhaltliche Bogen der Gedenkstätten der Opfer des deutschen Nationalsozialismus spannt sich vom Totengedenken zu Methoden historischer Bildungsarbeit. Gedenkstätten sind eben auch Orte des Ausstellens. Somit sind ihre Räume Ausstellungsräume. Also Räume, die als ‚atmosphärisch bestimmte Programmräume‘ zu verstehen sind. Es handelt sich um Räume mit ‚gesetzter‘ Notation, mit einer Raumwirkung, die das Ergebnis einer Atmosphärenkonstruktion ist. Der Begriff ‚atmosphärisch bestimmte Programmräume‘2 verweist somit auf unterschiedliche Raumschichtungen: Im Zentrum steht das Programm, die Aufgabe, etwas soll so oder anders sein. Atmosphären sind immer an Situationen gebunden, von ihnen werden sie durchzogen, wie es der Philosoph Hermann Schmitz3 nennt. Und Situationen wiederum sind Bedeutungen, die Sachen beliebiger Art ganzheitlich zusammenhalten. Zum Beispiel das Lesen von Texten, mit seiner eigenen Logik, die Verhalten bestimmt. Bedeutungen haben drei Aspekte: Bedeutungen sind einmal Sachverhalte (Es ist etwas.), Bedeutungen sind Programme (Etwas soll so oder anders sein.) und Probleme (Ob etwas, was sein soll, ist oder nicht ist.). Soll eine Situation in einem Lager (z.B. die Art der Unterbringung, Zwangsmaßnahmen, Tötungen) dargestellt werden, hilft die Formulierung eines Programms, 2 3
Ludwig Fromm: Die Kunst der Verräumlichung. Gestalt & Diskurs, Kiel 2009. Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. München 2005, S.131.
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die Art der Präsentation nicht einer Beliebigkeit zu überantworten. Das Adjektiv im Titel „atmosphärisch“ verweist auf die Anwesenheit von einem bestimmten Gefühl. Denn Atmosphären sind Gefühle, in einem konkreten, situativ bestimmten Zusammenhang, der bedeutungsträchtig oder -mächtig ist. Die Bestimmung und Ermöglichung einer Gefühlslage ist eine der Aufgaben ‚atmosphärisch bestimmter Programmräume‘. Die Verknüpfung Atmosphäre und Gefühl verweist auf Emotionalität, womit zwangsläufig die besondere museale NS-Gedenkstätten-Problematik aufgerufen ist. Wie lässt sich ein als Hölle erlebter Raum, eine als Hölle empfundene Situation darstellen? Kann es überhaupt ein Ziel sein, das Unfassbare abbilden zu wollen? Sind die Stätten der Vernichtung nicht Orte der Meidung? (Die ersten Denkmäler im thüringischen Weimar wurden nicht im KZ-Gelände Buchenwald geplant, sondern in der Stadt, auf dem heutigen Goetheplatz und im so genannten Gauforum. Diese Plätze schienen geeigneter, das Ereignis zu erinnern, als das ehemalige Barackenlager.) Was wissen wir eigentlich über unsere Adressaten? Gedenkkultur muss ansprechen, formuliert der ungarische Schriftsteller Imre Kertész4 in einem Interview. Wen soll Gedenkkultur sensibilisieren? Die Frage nach der Zielgruppe drängt sich auf. Das Thema ist nicht auf ausgesuchte Altersgruppen zu begrenzen, aber die Jugend, mit ihrem zunehmenden zeitlichen Abstand zu NS-Realität und Holocaust, steht im Zentrum politischer und kultureller Anstrengungen. Aber Jugend ist keine homogene soziologische Entität. Für spezifische Gruppen, unter ihnen auch Jugendliche mit Migrationshintergrund und antiisraelischen Tendenzen, sind spezielle Programme und Konzepte zu entwickeln. Darüber hinaus sind Bildungsangebote, Lehrmittel und methodische Angebote zielgruppenorientiert einzusetzen. Gedenkstättenpädagogik ist ein zunehmend wichtiger werdendes Thema.
3. ORTE DES LERNENS
Die Entwicklung der Museen kennt mindestens drei Stationen: von der ‚Wunderkammer‘ zu ‚Orten der Erziehung‘ haben sich Museen heute, auf der Grundlage neuer szenografischer Gestaltungskonzepte zu ‚Lernorten mit Erlebnisorientierung‘, emanzipiert. Parallel zu dieser Entwicklung hat sich unser Bildungsbegriff erweitert. Bei Wolfgang Nahrstedt ist zu lesen: Die Entwicklung zur Wissensgesellschaft hat durch die Verstärkung der virtuellen Information und Kommunikation einerseits die Spannung zum sinnlich emotionalen Erlebnisbereich verschärft, anderseits aber auch die Ausweitung des Wirklichkeitsbegriffs befördert und die Integrationsmöglichkeit unterschiedlicher Bedürfnisbereiche erhöht. 4
Imre Kertész: Interview, das Gespräch führte Sönke Petersen, in: Blickpunkt, erschienen am 31. Januar 2007.
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In der Wissensgesellschaft ist auch der Bildungsbegriff räumlich zu erweitern... Informationen sind überall vorhanden und zugänglich.
Die Konsequenz daraus ist unausweichlich: Die Orte des Lernens sind nicht mehr ausschließlich an die offiziellen Bildungseinrichtungen wie Schule und Universität gebunden. Dies gilt in besonderer Weise für Gedenkstätten, die als Artefakte vor Ort ihre Präsenz entwickeln. Aber die Entwicklung einer auf die NSVergangenheit ausgerichteten Gedenkkultur ist eingebettet in ein kollektives bzw. gruppenspezifisches Selbstbewusstsein, das, im phänomenologischen Sinne, durch Einleibung die persönlichen Situationen der Menschen durch Fremdzuschreibungen imprägniert hat. Vor diesem Hintergrund behalten die Ausbildungsstätten, insbesondere die Schulen, besonders mit Blick auf rechtsradikales Gedankengut, als möglicher Inhalt von Fremdzuschreibungen, ihre bildungspolitische Bedeutung. Der bereits zitierte Lüttgenau, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald auf dem Ettersberg in Weimar, formuliert dazu wie folgt: Wir haben leider immer wieder Fälle, wo nicht nur Schüler Unsinn machen, sondern tatsächlich Rechtsradikale sich produzieren, weil sie sich an der vermuteten Allmacht der SS aufgeilen. Das ist einfach zu beantworten, bei diesen Rechtsradikalen hilft nur die Polizei. Viel schwieriger ist, dass solche Orte gerade bei Schulklassen häufig zu Verunsicherungen führen, weil die Schüler nicht wissen, wie sie mit dem Ort umgehen sollen. Gerade deswegen braucht es die entsprechende Vorbereitung durch die Lehrer, daher versuchen wir als Gedenkstätte die Lehrer so gut wie möglich auf den Besuch vorzubereiten. Denn wenn bei einem KZ-Besuch solche Schieflagen entstehen, liegt das fast immer an der mangelnden Vorbereitung durch die Lehrer.5
Neben ihren klar definierten Bildungsaufgaben der offiziellen Bildungseinrichtungen steht die Erkenntnis, dass Bildung auch – ich zitiere Wolfgang Nahrstedt – „... Erfahrungen des Denkens einschließt, die außerhalb der Sprache liegen, die auf nichtsprachlichen Ausdrucksweisen beruhen, auf visuellen Formen der Kommunikation, auf synästhetischer Kommunikation und auf digitalen Formen der Interakation“.6 Damit verändern sich auch die Anforderungen, die wir traditionell an Lernorte gestellt haben. Es geht nicht mehr ausschließlich um die durch SenderEmpfänger-Mechanismen geprägten Lernorte eines funktionalistisch orientierten Kommunikationsdenkens. Gefragt sind auch die atmosphärischen Qualitäten der Umgebungen, die nicht auf sprachlichen Ausdrucksweisen aufbauen, sondern Formen der visuellen und synästhetischen Kommunikation zulassen. Das Wissen um die Gründe der politisch, kulturell oder religiös begründeten Ressentiments gegenüber einzelnen Opfergruppen, wie Sinti und Roma, Homo5
KONTAKT online, derStandard.at, ebd., letzter Zugriff: 18.07.2009.
6 Wolfgang Nahrstedt: Lernort Erlebniswelt. Neue Formen informeller Bildung in der Wissensgesellschaft,
IFKA, Bielefeld 2002, S.77.
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sexuellen, dem Staat Israel und damit gegenüber der jüdischen Kultur im Allgemeinen, ist sicher eine notwendige Voraussetzung, um im pädagogisch-didaktischen Feld kundig und aufklärend tätig zu sein. Zugleich bedarf es methodischer Zugänge, um die Adressaten unterschiedlicher Veranstaltungen im schulischen oder außerschulischen Rahmen zu erreichen. Hierbei soll neben der reflexiven Ebene auch die Bedeutung der affektiven Dimensionen des Lernprozesses vermittelt werden. Diese besonderen Lernorte wurden von der Wissenschaft Studios genannt, inhaltlich betrachtet handelt es sich dabei um erlebnisorientierte Räume der informellen Wissensvermittlung. Hier hat die Szenografie ihre besondere Aufgabe gefunden. Nicht alleinige Konfrontation mit Information charakterisiert die Position der Besucher, sondern ein In-der-Szene-Sein. Petra Maria Meyer gebraucht den Begriff des „In-Mitten-Sein“ mit Blick auf Merleau Ponty. „Dieses In-Mitten-Sein ist nicht mit bewährten Vorstellungen von einem Gegenstand in einem Container oder einer Schachtel zu verwechseln. Nach Merleau Ponty ist das In-Mitten-Sein eine grundlegende Verfassung menschlicher Existenz, durch die er seine Wirklichkeit immer schon durchwirkt.“7 Szenografie kann vor diesem Hintergrund als eine Methode verstanden werden, ein „In-Mitten-Sein“ bei Museums-, Ausstellungs- und natürlich auch bei Gedenkstättenbesuchern zu ermöglichen. Dann wäre Szenografie wirklich die Kunst der Verräumlichung von Ideen und/oder zum Beispiel historischer Situationen (in einem NS-Vernichtungslager) mit inszenatorischen Mitteln. Über erlebnisorientierte Lernsituationen wird vordergründig im Zusammenhang mit Science Centern, Zoos, Themenparks, Funparks, in Brandparks und in UEC’s (Urban Entertainment Center) gesprochen. Die Verbindung zu Gedenkstätten der Opfer des Nationalsozialismus scheint unpassend und äußerst fragwürdig. Aber auch das Museum und damit auch die hier behandelten Gedenkstätten bedürfen unterschiedlicher Vermittlungsformen, zu denen auch die emotionalitätbasierten Formen zählen.
4. ERLEBNISORIENTIERTE LERNORTE 8
Ein Erlebnis ist ein Ereignis im Leben eines Menschen, das sich vom Alltag des Erlebenden so unterscheidet, dass es ihm lange im Gedächtnis bleibt. Erlebnisse können von befriedigender Art (die Teilnahme an einer Feier, Sex), von aufregender Art (z.B. ein Abenteuer oder eine Reise), aber auch von traumatisierender Art sein (Opfer von Verbrechen). 7 Petra Maria Meyer: Der Raum, der dir einwohnt. In: Ralf Bohn/Heiner Wilharm: Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.1, Bielefeld 2009, S.114. 8 Siehe auch Fromm, Die Kunst der Verräumlichung, a.a.O.
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Ein Erlebnis unterscheidet sich vom Ereignis dadurch, dass es vorrangig vom Erlebenden selbst als besonders empfunden wird: Was der eine aufgeregt als Erlebnis schildert, kann für den anderen belanglos sein. Entscheidend ist die subjektive Einordnung und Bewertung eines Ereignisses. Die Autoren Wolfgang Nahrstedt, Dieter Brinkmann, Heike Theile und Guido Röcken schlagen in ihrem Forschungsbericht Lernort Erlebniswelt unter anderen zwei Ausrichtungen für die Konzeption von erlebnisorientierten Lernorten vor, die außerhalb ökonomischer Interessenlagen in der Wissensgesellschaft der informellen Bildung dienen und damit für den hier behandelten Inhalt von Bedeutung sind: • Lernorte als Orte der inszenierten Gemeinschaft und • Lernorte als Orte der emotionalen Orientierung und des selbstgesteuerten Lernens.9 Orte inszenierter Gemeinschaft schaffen, heißt, in einer Gesellschaft radikaler Individualisierung Gemeinschaft sichtbar und erlebbar zu machen, mit nachhaltigen Folgen für das spätere Handeln. Besonders anzusprechen sind Jugendliche, die zum Beispiel in Klassenverbänden entsprechend ihren Altersgruppen aktiv sein können. Gemeinschaft schließt auch die Behinderung mit ein, Stichwort ‚Barrierefreiheit‘. Die Ausstellungsräume sollten gänzlich barrierefrei sein, Aufzüge, WC für Rollstuhlfahrer nach DIN geplant werden und für Blinde und Sehbehinderte sollten Kurzinformationen in Brailleschrift angeboten werden und Audio- und Multimediaguides verfügbar sein. Inhaltlich haben sich in der Ausstellungspraxis die Konzepte als tragfähig erwiesen, deren Gestaltung der Ausstellungsbereiche nicht nur Interesse generieren kann, sonder die räumliche Situationen beinhalten, die eine gewisse Initiative verlangen, die dann durch bereitgestellte Informationen belohnt werden, die nur durch aktives Agieren erreichbar sind. Orte der emotionalen Orientierung und des selbstgesteuerten Lernens zu schaffen, bedeutet nicht zuletzt Wissenstransfer zu fördern und möglichst viele an der Wissensgesellschaft und, das ist im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig, möglichst viele auch an ihren Wertorientierungen zu beteiligen. Hier haben die Gedenkstätten eine besondere Aufgabe. Zeigen sie doch die Möglichkeiten auf, wie leicht selbst s.g. Kulturstaaten den Pfad Menschlichkeit und Demokratie verlassen können.
9
Nahrstedt, Lernort Erlebniswelt, a.a.O., S.108ff.
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5. GRENZEN DES SZENOGRAFISCHEN PRINZIPS
Motivation und Erlebnis setzen Sehen, Wahrnehmen voraus. Bernhard Waldenfels weist darauf hin, wie bedeutungsvoll die Selektion als ein Mittel der Orientierung beim Sehen ist. „Ohne Selektionsleistung und Reliefbildung gäbe es überhaut nichts zu sehen außer einem monotonen Einerlei.“10 Das ‚Sehenswürdige‘ wird gewählt. Allzu oft trifft die Wahl das Bekannte, das Sehgewohnte. Dazu Waldenfels:„Erst wenn wir, mit Husserl zu reden, eine Blickenthaltung üben und von der natürlichen Blickrichtung abweichen, zeigt sich das Sichtbare als solches mitsamt seinen perzeptiven, kognitiven und praktischen Horizonten, die weit über das Gesehene hinausweisen.“ Natürlich, und so wird es auch von Waldenfels dargestellt, ist Sehen nicht nur eine Funktion des Gesichtssinnes. Wahrnehmen realisiert sich synästhetisch. Soll die angesprochene Selektivität der Wahrnehmung soll nicht immer das Unbekannte aussondern, von der natürlichen Blickrichtung abweichen (Husserl), sind Stimulationen angebracht. Hier kann das szenografische Prinzip greifen. Es kann mit dem Mittel der Inszenierung Sehzwänge neutralisieren, mit Sehgewohnheiten brechen, um die „Eigenvalenz der Dinge und ihre mögliche Polyvalenz“ erscheinen zu lassen. Natürlich sind gerade an dieser Stelle Verwerfungen möglich, Überzeichnungen oder Fehlinterpretationen. Die mögliche Fehlinterpretation erzeugt Ersatzwelten, zum Beispiel den Schein des Fernen und Schönen oder die Formen der Banalisierung. „Weinen bildet nicht!“, war der Titel einer Seminars der Landeszentrale für politische Bildung im April 2008, das in der Gedenkstätte Buchenwald stattfand und nach Vermeidungsstrategien gegen museale Fehlleistungen suchte. Bei Fehlleistungen löst sich der Schein vom Artefact, entwickelt eigene, nicht mehr inhaltlich begründete Sachverhalte, die Bedeutungen beliebig kreieren. Die Szenografie verliert ihr Zentrum, vagabundiert in Erlebniswelten. Ein Thema wird durch ein anderes ersetzt. An diesem Punkt setzt Waldenfels seine Kritik an, nicht ein Tausch der Welten ist das Ziel, sondern die Möglichkeit, die gewohnte Welt anders zu sehen, „in gesteigerter, zugespitzter oder verfremdeten Form“. Die Eindruckstechnik verführt! Hermann Schmitz bringt sie in Zusammenhang mit Hitlers Festkultur und Formen der Werbung. Jedenfalls dann wenn Eindruckstechniken aktuelle, impressive Situationen so arrangieren, dass sie im zeitlichen Verlauf durch Wiederholung der Vorführung zu zuständlichen Situationen werden, die sich mit der persönlichen Situation auf Dauer verbinden und so ihre Wirkung tun. Abhängigkeiten entstehen, die ideologisch (und kommerziell) ausgebeutet werden können. Szenografie als die Kunst der Verräumlichung sollte aber im Dienst einer erlebnisorientierten Wissensvermittlung (Lernorte) stehen. Machen, Probieren, Verändern, 10
Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main 1998, S.227.
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Wiederholen sind Grundlagen des Lernens, Voraussetzungen für neue Erfahrungen. Hinzu kommt ein kommunikatives Moment, schließlich will das Gesehene vermittelt werden. Daraus leiten sich drei mögliche Wirkungsebenen des szenografischen Prinzips mit unterschiedlichen Implikationen ab: • Szenografie ist In-Szene-Setzen. Petra Maria Meyer, wie oben dargestellt, hat mit Blick auf Merleau Ponty darauf hingewiesen. Das bedeutet, auf einer ersten Ebene wird Szenografie als eine Methode verstanden, ein „In-Mitten-Sein“ bei Museumsund Ausstellungsbesuchern zu erzeugen. • Szenografie weist über das Gesehene hinaus. Sie kann Sehgewohnheiten brechen, das Unsichtbare im Sichtbaren erscheinen lassen. Szenografische Inszenierungen entreißen das Gesehene der Unauffälligkeit, können Sehzwänge auflösen, neue Perspektiven zulassen, um erscheinen zu lassen, was im Gesehenen verborgen blieb. • Szenografie ist Atmosphärenkonstruktion. Sie beeinflusst mit räumlich wirksamen Gestaltungsmitteln die Notation des Raums, die sich weder als Zustand der Wahrnehmenden begreifen lässt (Atmosphären sind räumlich ergossene Gefühle), noch als Eigenschaften einzelner Dinge auftritt. Das szenografische Prinzip basiert auf einer angenommenen Explizidität der Welt. Nicht nur Menschen sind für die Wahrnehmenden in ihren Gesten und sprachlichen Äußerungen explizit, auch Landschaften, Tiere, Dinge (und natürlich auch Raum) werden als ausdrucksfähig angesehen. Die Expressivität des Raumes fördert Verstehen zwischen den Polen des gestischen und des symbolischen Ausdrucks, zwischen Natur und Kultur, zwischen leiblicher und sprachlicher Kommunikation. Die Ausschließlichkeit der sprachlichen Kommunikation würde unsere Wahrnehmung auf kognitive Erkenntnisprozesse reduzieren. Die Menschheit wäre, aufgefasst in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache, und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden.11
6. ‚... DAS GANZE SYSTEM‘
„Geschichte ist das Arsenal unserer Erfahrungen; man muss sie kennen, um aus ihr bestätigt oder gewarnt zu werden. Das politische Urteil, im Entstehen und in seiner Anwendung, ist mitangewiesen auf Vergleiche.“12 11 Wilhelm 12
Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 7, Göttingen 1992, S.87. Eugen Kogon: Der SS-Staat. München 1974, S.5.
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Gedenkstätten vermitteln Geschichte. Als Orte der Geschichte sind sie dazu geradezu verpflichtet, zwischen Vergangenheit und dem aktuellen Zeitgeschehen eine Verbindung zu schaffen. Denn Geschichte will nicht nur aufgezeichnet werden, sie will auch vermittelt und somit dargestellt werden. Nachdenklich fragt der oben zitierte Eugen Kogon an gleicher Stelle, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, Berichte über Methoden der Vernichtung zu veröffentlichen. Denn für Kogon stehn derartige Texte an der „Grenze des Sittlich-Erlaubten“, findet sich, seiner Meinung nach, doch wenig „Gutes“ in und zwischen ihren Zeilen. Seine Antwort ist dann aber doch eindeutig. Das Schreiben über den Holocaust ist eine Art der Spiegelung der menschlichen Natur, „die nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben“.13 Für Kogon bedarf es eines Spiegels, denn sein Spiegelbild kann warnend aufzeigen, dass das Böse auch im Normalen seine Heimstadt findet. Aus diesem Grund fordert der Chronist Wahrheit, die nackte Wahrheit der Darstellung: „alles so, wie es war, nicht anders, nichts verniedlicht, nichts zurechtgemacht ad usum delphini, nichts verschwiegen“.14 Neben der Forderung nach Wahrheit in der Geschichtsdarstellung legt Kogon besonderen Wert auf Vollständigkeit der Informationen. Nicht einzelne Ereignisse sollen geschildert werden, „sondern das ganze System.“15 So ist auch der Titel seines Buches zu verstehen. Der Text ist keine Sammlung von Ereignissen aus Buchenwald (das Lager, in dem Kogon gefangen gehalten wurde), sondern die Beschreibung von SS-Staat und Konzentrationslagern als einem ganzheitlichen System. Nun ist die Frage berechtigt, ob das, was für ein Buch richtig erscheint, auch für Gedenkstätten sinnvoll und praktikabel ist? Jedes Einzellager im Gesamtsystem der deutschen Konzentrationslager hat seine eigene Geschichte, die bauliche, organisatorische, politische, ideologische, rezeptive und die anderer Aspekte, die als eine Summe von Einzelgeschehen, je nach Forschungsstand, dargestellt werden können. Ein komplexes Geschichtsverständnis lässt sich aber erst vor dem Hintergrund des geschichtlichen Kontextes entwickeln. Hier werden Art und Weise von Methoden und Strategien der Geschichtsdarstellung bedeutsam. Gelingt es, das lokale Einzelgeschehen auf dem Boden historischer Bedingungen zu entwickeln und darzustellen? Geschichtsdarstellung ist maßgeblich vom historischen Befund abhängig, vom Quellenmaterial, verstanden als Basis der Vermittlung zwischen Vergangenem 13
Ebd., S.6. Ebd. 15 Ebd. 14
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und der Gegenwart, sowie vom Verhältnis zwischen Darstellung und Dargestelltem. Die Beziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem wird von gewählten Methoden von Darstellung und Narration beeinflusst und von den Vermittlungsstrategien, die die Fragen nach den erwünschten Rezeptionsmustern mit einschließen. Hier wird das szenografische Prinzip wirksam, das mit einer gewissen Hierarchisierung der Informationsfülle des Quellenmaterials verbunden ist. Die Diskussion um die Bedeutung der Beziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem ist durch zwei Alternativen geprägt, die sich um die Frage ‚fictum oder factum?‘ ranken. Das Verhältnis zwischen fictum und factum ist selbst historisch geprägt. Das traditionelle Primat des Faktischen vor der Darstellung wurde unter Einfluss des linguistic turn gebrochen: die Fakten verloren ihre Verbindlichkeit zugunsten der Repräsentation. Eine Vermittlung dieser gegenläufigen Positionen ergibt sich bei Anwendung des Slogan ‚Form follows Content‘, das vom Stuttgarter Büro Brückner vertreten wird. Einigkeit herrscht darüber, dass es keine „privilegierte Darstellungsform geben (kann), in der etwaige objektive Fakten eingelagert sind“.16 Die Vergangenheit ist eben ein sich ‚letzten‘ Gründen entziehender Gegenstand.17 Auch Leben und Sterben in nationalsozialistischen Konzentrationslagern kann durch angewandte Darstellungsformen nur Annäherung widerfahren. Fragt sich, ob es überhaupt möglich ist, Vergangenes nachfolgenden Generationen wahrheitsgemäß zu übermitteln oder gar zu vermitteln, d.h. „so, wie es war, nicht anders“? Auf jeden Fall sollten die anzuwendenden Methoden der Selektion und der Interpretation von historischen Fakten geeignet sein, das Kreieren von Scheinwelten tunlichst zu vermeiden. Lässt sich also Kogons Forderung nach Wahrheit („alles so, wie es war, nicht anders, nichts verniedlicht, nichts zurechtgemacht ad usum delphini, nichts verschwiegen“) in einer Gedenkstätte also gar nicht erfüllen?
7. EINZELSCHICKSALE
Eine Puppe, ein Kaffeeservice, Schuhe, ein alter Koffer, Schriftstücke und Fotografien der früheren Besitzer, kombiniert mit biographischen Daten, lassen Einzelschicksal erscheinen, die Empathie, Teilnahme, Identifikation bei Gedenkstättenbesuchern entstehen lassen. Was Statistiken, Beschreibungen historischer Bedingungen oder Systemanalysen nicht vermögen, es gelingt der ‚persönlichen Ansprache‘ durch Opfer mit einem Bild, einem Namen, einer konkreten Geschichte (Biographie). Der Genozid 16 Vittoria Borsò, Christoph Kann (Hg.): Geschichtsdarstellung. Medien–Methoden–Strategien, Köln 2004, S.2. 17 Ebd.
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bekommt ein Gesicht. Die abstrakte Masse der Vernichteten erhält eine persönliche Zeichnung, Identifikation mit den Opfern, dem Ingenieure dem Schüler, der Lehrerin, der Bäuerin etc. wird möglich. Zeitgeschichte an konkreten Einzelschicksalen dargestellt, wird erlebbar. So wird im Jüdischen Museum in Berlin verfahren, in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, im Museum Haus am Checkpoint Charlie, dem Mauermuseum, in der Gedenkstätte Stille Helden in der Nähe des Hackeschen Marktes in Berlin oder in der neu gestalteten Gedenkstätte Bergen-Belsen. Die ‚stillen Helden‘ halfen untergetauchten Juden im nationalsozialistischen Deutschland zu überleben. Dabei gefährdeten sie nicht nur ihre Freiheit, sondern ihr Leben. In die Biographie von neun Einzelschicksalen wird filmisch einführt. Persönliche Dokumente und Fotografien berichten über das Leben, die Helfer und ihre Aktionen der Rettung und des Scheiterns. Besuchern gelingt es, sich in Zeit und Personen hineinzuversetzen, Lernen wird emotional getragen. Auf diese Möglichkeit vertraut auch das neue Ausstellungskonzept in Bergen-Belsen. Die ausführlichen historischen Ausstellungen werden durch individuelle Zeugnisse von ehemaligen Häftlingen und Kriegsgefangenen flankiert. Das Material besteht aus persönlichen Berichten, Briefen aus dem Lager, Tagebuchaufzeichnungen oder schriftlichen Zeugenaussagen. Mit dieser Unterstützung konnte in Bergen-Belsen eine Ausstellung entstehen, in der die Perspektive, der einzelnen Häftlinge im Vordergrund stehen ... Bergen-Belsen wird damit eine Gedenkstätte, in der nicht nur die Begegnung mit dem historischen Ort möglich ist, sondern auch ... mit Menschen, die an diesen Ort verschleppt wurden.18
Einen authentischen Zugang zu Erlebtem von Deportierten, Häftlingen, Zeugen oder Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie liefert die Literatur. Bereits in Ghettos und Lagern wurden Erlebnisse und Erfahrungen literarisch verarbeitet, lange bevor Überlebende, Zeugen des Holocaust, in Konzentrationslagern gemachte Erlebnisse in Romanform vorlegten. Diese Literatur, die so genannte Holocaust-Literatur19, hat Texte unterschiedlichster Art hervorgebracht. Literarische Erfindung stößt in die der Geschichtsschreibung oft verschlossenen Innenräume von Protagonisten vor und erschließt uns die Perspektiven von Opfern (z.B. in Arthur Alexander Beckers Drama Mauthausen!, Tätern (z.B. in Franz Kains Erzählung Der Weg zum Ödensee, Zeugen (z.B. in Christoph Janacs’ Erzählung Das Fenster und Helfern (z.B. in Thomas Karnys dokumentarische Erzählung Die Hatz; lyrische Bildkonstellationen von Julian Schutting machen die Gegenwärtigkeit der Geschichte in unserem Alltag sichtbar; 18 Bernd Busemann in: Gedenkstätte Bergen-Belsen 2007, Begleitheft zur Dauerausstellung, Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, S.5. 19 In jüngerer Zeit werden auch Werke von Schriftstellern zur Holocaust Literatur gezählt, die erst nach dem 2. Weltkrieg geboren wurden. Sie behandeln zum Beispiel Themen aus der Kindheit der Autoren, als Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
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die Zitatmontagen von Heimrad Bäcker demaskieren die Sprache der Vernichtung und ihre Untertöne, die unser Sprechen über die Lager begleiten. Form hat Funktion, auch in der Literatur über die Lager. Sie weckt unsere historische Vorstellungskraft, schärft unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung und stärkt damit unser Reflexionsvermögen. Grenzen sind der literarischen Erfindung und dem Sprachspiel dort gesetzt, wo Verbrechen geleugnet oder, wie im Fall Wilkomirski, wo Erdachtes als autobiografisch vorgetäuscht wird.20
Diese Bücher, in der Regel überleben sie ihre Autoren, bleiben verfügbar, stellen auch für zukünftige Generationen noch einen wertvollen Fundus dar, das Erinnern zu befördern. Dazu noch einmal Christian Angerer: Damit die Erinnerung an die Verbrechen der nationalsozialistischen Lager virulent bleibt, ist eine breite Erinnerungsöffentlichtkeit nötig, eine Vielfalt wissenschaftlicher, künstlerischer, musealer, journalistischer Diskurse. Im Konzert der Diskurse mischen die Stimmen der Literatur mit. Literarische Texte bekommen, da sie Geschichte vielfältig an Sinn und Sinne vermitteln können, für eine künftige Zeit ohne Zeitzeugen immer größeres Gewicht.21
James Edward Young22 weist darauf hin, dass sowohl der Schreibende (der Überlebende) als auch der Leser die verfassten Texte als authentische Texte lesen. Der Schreibende schöpft die Gewissheit aus der erlebten Verbindung von Erfahrung, Autor und Text, während der Lesende in der Erzählung symbolische Zeichensysteme findet, die auf das Geschehene direkt Bezug nehmen. Durch die vorgefundene Erzählstrategie, die Textstruktur und den individuellen Stil des Schreibenden vermittelt sich dem Leser die Interpretation des vom Schreibenden Erlebten. „Dieser Brechung von Unmittelbarkeit durch die literarische Form geht die Bearbeitung des Erinnerten im Erinnerungsprozess voraus. Die Erlebnissubstanz wird von der Erinnerung so organisiert, dass sie sich in Weltbild und Identitätskonzept des Individuums einfügt.“23 So entsteht Authentizität, also Echtheit des Erlebens konkreter Ereignisse in persönlich situativ bestimmter Sicht. Der Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész erscheint 1975 in Ungarn. Aber erst die deutsche Neuübersetzung, 1996 erschienen, wurde als literarisches Ereignis gefeiert. Inzwischen wird seine ‚Trilogie der Schicksallosigkeit‘ als eines der Schlüsselwerke des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet und 2002 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Neben Kertész als Vertreter der Holocaust-Literatur ist Primo Levi zu nennen.24 Beide, Kertész und Levi, sind Überlebende des Holocaust, der Konzentra20 Christian Angerer: 329 km Erinnerung – Absenz. In: XING – Ein Kulturmagazin, Sonderheft 07, Jänner 2007, S.35. (Fußnoten im zitierten Textauszug wurden weggelassen.) 21 Ebd., S.37. 22 James Edward Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt am Main 1992. 23 Angerer, a.a.O., S.34. 24 Primo Levi: Ist das ein Mensch?, München 1992.
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tionslager Auschwitz und Buchenwald, Zeitzeugen. Ihre Berichte sind authentisch, beschreiben Leben und Sterben in Konzentrationslagern. Und doch unterscheiden sie sich in der Art ihrer Reflexion. Tragendes Thema für Primo Levi ist die systematisch betriebene Entmenschlichung der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft. (Primo Levis bohrende Frage Ist das ein Mensch? birgt ja die Verneinung der entwürdigten Existenz schon in sich.) In Imre Kertészs Beschreibungen steht der Alltag im Konzentrationslager im Vordergrund und: Er warnt vor der Labilität der menschlichen Natur, die, einer verbrecherischen Ideologie ausgesetzt, leicht dem Bösen verfällt. Mit einfacher Sprache zeichnet er seine Erinnerungen auf und erklärt das Geschehene. Kertész beschreibt Erlebnisse aus Konzentrationslagern, Erlebnisse als Verarbeitung von Ereignissen, gefiltert durch die jeweiligen persönlichen Situationen, die das aktuelle Erleben gefärbt haben. Hier wird nicht konstruiert, das Ziel ist nicht das sprachliche Erfassen eines vermeintlichen Kollektivgefühls. Kertész bleibt bei sich. Die im Folgenden ausgewählten Zitate vermitteln einen Überblick über die Entwicklung persönlicher Situationen des fünfzehnjährigen Häftlings Kertész und das sich damit für ihn ändernde Handlungs- und Wahrnehmungsverhalten. Sie eröffnen eine ganz spezifische Sicht auf das individuelle Empfinden von Kertész.25 Vor uns wird ein Szenario aufgebaut, das Einblicke in das Konzentrationslagerleben zulässt. Es sind individuell geprägte Sichtweisen, der Autor leiht uns, mit seinen Texte seine Wahrnehmungen, und lässt uns teilhaben an seinem eigenen Erleben. Wie wirklichkeitsnah und in der Folge lebensbedrohlich für einen Autor das Schreiben sein kann, der erinnernd wieder mit dem Erlebten konfrontiert und vom Erlebten erfasst wird, offenbart Jorge Semprún unter dem Titel Schreiben oder Leben.26 Danach legt das Erinnern psychische Verletzungen frei, ruft überwundene Traumata zurück, bringt die Existenz des Schreibers in Grenzsituationen.27 Eine Auswertung der Holocaust-Literatur unter dem hier geschilderten Aspekt kann eine Basis für künstlerische Inszenierungen bilden, die das Erleben von Menschen in Konzentrationslagern zum Thema haben. Die erste ausgewählte Passage, die die Ankunft in Auschwitz in einem überfüllten Bahnwaggon erzählt, zeigt den fünfzehnjährigen Deportierten in relativer Ruhe, noch überzeugt von der Anwesenheit und Wirkmächtigkeit des Normalen, einer Denkkategorie des Vorstellbaren. Die Morgenfrühe draußen war kühl und wohlriechend, über den weiten Feldern graue Nebelschwaden ... Ich nahm dann noch ein Gebäude wahr, eine gottverlassene Station 25 Siehe dazu in diesem Text: Resumè. Einen authentischen Zugang zu Erlebtem von Deportierten, Häftlingen, Zeugen oder Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie liefert die Holocaust-Literatur. 26 Jorge Semprún: Schreiben oder Leben. Frankfurt am Main 1995. 27 Paul Celan, Jean Améry und Primo Levi beendeten ihr Leben selbst.
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oder vielleicht den Vorboten eines größeren Bahnhofs, gleich links von mir. ... vor meinen Augen verfestigte es sich im nebeligen Dämmerlicht zunächst zu einem wirklichen Umriß, das Grau ging in Violett über, und gleichzeitig blitzten die Fenster rötlich auf, als die ersten Strahlen (der Sonne, A.d.A.) darauf fielen. Andere hatten das Gebäude auch wahrgenommen... Sie fragten, ob ich nicht einen Ortsnamen daran ausmachen könne. Das konnte ich, und zwar gleich zwei Wörter, im Frühlicht, an der schmalen, ... auf dem obersten Teil der Wand: „Auschwitz-Birkenau“ – stand dort, in der spitzen schnörkeligen Schrift der Deutschen, verbunden durch ihren doppelt gewellten Bindestrich. Aber was mich betrifft, so versuchte ich vergeblich, in meinen Geographie-Kenntnissen nachzuforschen, und auch andere haben sich nicht als kundiger erwiesen.28
Der Moment der Aufnahme, besser, der Inbesitznahme der eigenen Person durch unbekannte sich verengende, sich in die Tiefe staffelnden Räume, löst Verwirrung, aber keine Angst aus. Das analytische Denken wird reduziert. Leibliches Wahrnehmen, Spüren, erspüren der Situation dominiert: die Wirkung einer unbekannten Kraft, die den Deportierten tief in ein Inneres, einen abgeschlossenen Ort drängt. Ich weiß nicht, wer die Anordnungen traf, auch nicht, was geschah: ich erinnere mich nur noch, wie mich irgend wie ein Druck ergriff, mich ein Schwung mitnahm und vorwärts schob... immer weiter, durch immer neue Höfe, zu immer neuen Toren, Hecken und Zäunen aus Draht; ein sich öffnendes und schließendes System, das zuletzt vor meinen Augen zu verschwimmen und verwirrend durcheinanderzugeraten begann.29
Eine weitere Passage beschreibt den Blick zurück auf eine Unterlassung, die auf einer Meidung (Schauer vor dem Leben der Gefangenen) beruhte. Nicht kognitiv bestimmte Handlungsmotivationen werden beschrieben, sondern Reaktionen auf einen emotionalen Zustand. Die Schlussfolgerung (für den Bedarfsfall unvorbereitet zu sein) ist wie die beklagte Reaktion emotional bestimmt, da die Situation, vom erkannten Verlust bestimmt, die für den momentanen Zustand geringe Bedeutung des Nichtgelesenen überhöht (für das Verhalten in NS-Konzentrationslagern gibt es keine Regeln). Etwas bereue ich hier aber sehr. Ich hatte zu Hause einmal aufs Geratewohl ein Buch vom Regal genommen, das, wie ich mich erinnere, etwas versteckt war... Es war von einem Gefangenen geschrieben, und ich hatte es dann nicht zu Ende gelesen... weil es mich überhaupt nicht interessierte, nun ja, und dann auch, weil mich vor dem Leben der Gefangenen etwas schauderte: auf diese Weise war ich für den Bedarfsfall unvorbereitet geblieben.30
Atmosphären sind als im Raum ergossene Gefühle erklärbar. Der sich anschließende Textauszug beschreibt das Wahrnehmen von Atmosphären in einer Situation des vollkommenen Eintauchens in das Leben im Konzentrationslager. „Von den folgenden Tagen sind mir ... schon weniger Einzelheiten in Erinnerung geblie28
Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, Hamburg 2008, S.87. Ebd., S.112f. 30 Ebd., S.114. 29
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ben, sondern mehr ihre Stimmung, ein Gefühl, ein allgemeiner Eindruck sozusagen. Nur fiele es mir schwer, diesen genauer zu umschreiben.“31 Schmerz oder Hunger sind Phänomene existenzieller Bedeutung und ihr Spüren nicht wirklich kommunizierbar. „Doch weder Eigensinn noch Beten, noch sonst eine Art von Flucht hätten mich von einem befreien können: vom Hunger.“32 Das Verständnis von Zeit ist an Erleben gebunden. Ich möchte behaupten, daß wir bestimmte Begriffe erst im Konzentrationslager wirklich verstehen. In den dummen Märchen meiner Kindheit kam zum Beispiel jener „Wandergesell“ ... vor, der sich um der Königstochter Hand willen beim König verdingt, und das umso lieber, als es nur für sieben Tage ist. „Aber sieben Tage bei mir sind sieben Jahre“, sagt der König; nun, also, genau das Gleiche könnte ich auch vom Konzentrationslager sagen. Ich zum Beispiel habe nie gedacht, daß aus mir so schnell ein verschrumpelter Greis werden könne. Zu Hause braucht das Zeit, mindestens fünfzig bis sechzig Jahre: hier hatten schon drei Monate genügt, bis mich mein eigener Körper im Stich ließ.33
Vergleiche setzten Kenntnis voraus. Hölle als Vorstellung von einem Jenseits, einem Ort oder Zustand der Qual mit Hinweis auf die Welt der Toten, ist begrifflich kulturell geprägt, aber nur intellektuell, nicht als Erfahrungswert erschließbar. Der Versuch Außenstehender, das Phänomen Konzentrationslager mittels Vergleich KZ-Hölle zu erschließen, ist verständlich, aber falsch. Der Begriff ‚Hölle‘ will unser Vorstellungsvermögen für den unwirklichsten Ort menschlichen Daseins beschreiben. Er beschreibt nicht leiblich erfahrene Qual, die eher sprachlos macht oder nach speziellen Formen der Erklärung sucht. „Haben wir uns denn“, fragte er, „das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?“, und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er es wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht.34
8. RESUMÉ
Die basale, grundlegende, wichtigste Aufgabe von Gedenkstätten der Opfer des Holocaust ist, das Erinnern zu fördern. Dieses Erinnern an die Verbrechen der nationalsozialistischen Lager ist an eine breite „Erinnerungsöffentlichtkeit“ (Christian Angerer) gebunden. So schlägt Angerer vor, die wissenschaftlichen, künstlerischen, musealen, journalistischen 31
Ebd., S.131. Ebd., S.180. 33 Ebd., S.182f. 34 Ebd., S.172. 32
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Diskurse miteinander zu verknüpfen. Im musealen und speziell im szenografischen Zusammenhang ist das Thema ‚Erinnerungsöffentlichtkeit‘ unter anderem eine Frage der Zielgruppendefinition, die eingangs bereits formuliert wurde. Wie dargelegt ist das Thema ist nicht auf wenige, ausgesuchte Altersgruppen zu begrenzen. Grundsätzlich sind alle Altersgruppen anzusprechen. Die Jugend steht aber, mit ihrem zunehmenden zeitlichen Abstand zu NS-Realität und Holocaust, im Zentrum politischer und kultureller Anstrengungen. Da aber Jugend keine homogene soziologische Entität darstellt, sollten für spezifische Gruppen (Jugendliche mit Migrationshintergrund, Jugendliche mit antiisraelischen Tendenzen) spezielle Programme und Konzepte unter Mitwirkung der Gedenkstättenpädagogik entwickelt werden. Der Boden der Gedenkstätten ist ein blutgetränkter Boden. Gedenkstätten sind Friedhof und Museum in einem. In den Massengräbern und Verbrennungsöfen nationalsozialistischer Konzentrationslager pervertierten Sterben, Tod und Bestattung zu einer funktionalistischen Entsorgungsstrategie. Die Gedenkstätten sind Orte der Erinnerung und der Trauer. Ursprünglich waren Friedhöfe eingefriedete Kirchhöfe, später verlor sich diese Bedeutung zu Gunsten der Bezeichnung ‚Höfe des Friedens‘. Bestattung und Gedenken an Verstorbene ist kulturell codiert. Im Unterschied zu Friedhöfen mit Bestattungswesen ist in Gedenkstätten eine große, nicht immer bekannte Zahl von Mordopfern verscharrt oder verbrannt worden. Ein individuelles Gedenken an einzelne Opfer als Individuen ist somit nur selten in Verbindung mit einem konkreten, identifizierbaren Leichenfund möglich. Die Dimensionen der NS-Verbrechen und die Dimensionen ertragenen Leids der Opfer bleiben unvorstellbar. Vor diesem Hintergrund können Gedenkstätten nicht ausschließlich Orte der Information sein. Nicht Konfrontation mit Information, sondern ein In-der-Szene-Sein der Besucher ist Ziel szenografischer Aktivitäten. Das Nebeneinander zwischen kognitiven und atmosphärischen Wahrnehmungsangeboten wird der Tatsache gerecht, dass die menschliche Vorstellungskraft nicht ausreicht, um all das zu verstehen, was die Realität der Vernichtungslager bestimmt hat. Imre Kertész: Auschwitz kann man sich nicht vorstellen. Das ist eine so demütigende, unmenschliche Lebensform, dass man selbst als jemand, der das erlebt hat, staunt, wie man das ertragen konnte. Die physischen Schmerzen und Veränderungen vergehen; was aber bleibt, sind die Erinnerungen, die Brüche, die Erlebnisse, die sich zu einer Fiktion vermischen. Woraus ein Kunstwerk entstehen kann. Zu einem Kunstwerk aber kann man Auschwitz nicht wieder machen, denn Auschwitz war kein Kunstwerk. Auschwitz war Wirklichkeit.35 35
Kertész, Interview, ebd.
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Aufgabe der Szenografie wird es sein, geeignete Methoden zu generieren, die emotionalisieren, ohne, im Sinne Waldenfelds, Ersatzwelten durch Fehlinterpretationen zu schaffen. Die Wahl der Formate bzw. eine Erweiterung, Neuentwicklung von bekannten Präsentationsformen ist entscheidend für die Qualität neu zu gestaltender Ausstellungen in Gedenkstätten. In-der-Szene-Sein bedeutet Präsenz, Da-Sein, „In-Mitten-Sein“ (MerleauPonty). Das In-Mitten-Sein ist eine grundlegende Verfassung menschlicher Existenz.36 Szenografie kann vor diesem Hintergrund als eine Methode verstanden werden, ein „In-Mitten-Sein“ bei Gedenkstättenbesuchern zu ermöglichen, das Gedenken zulässt, Vergangenes gegenwärtig sein lässt, in Erinnerung bringt, auffrischt, aktiviert, bei jedem Besucher auf andere Weise. So wird Szenografie zur Kunst der Verräumlichung von Ideen, Erinnerungen oder von historischen Situationen (in einem NS-Vernichtungslager) mit inszenatorischen Mitteln. Biologisch bedingt, werden in absehbarer Zeit keine Zeugen nationalsozialistischer Zwangsmassnahmen ihre direkte Ansprache an uns halten können. „Der Nationalsozialismus entfernt sich aus der Reichweite der autobiografischen Erzählung und das Menschheitstrauma wird ein Problem der medialen Vermittlung an die Nachgeborenen.“37 In Zukunft werden die Wissenschaftler ausschließlich auf Auswertung (Interpretation) historischer Fakten und Artefakte angewiesen sein. Auf die Frage: „Was bleibt den nachkommenden Generationen, wenn es keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt? Verlieren dann Auschwitz, Buchenwald und die anderen Schreckensorte ihre furchtbare Singularität, werden sie zu bloßen Geschichtsorten und -daten?“, antwortet Imre Kertész: Das hängt weniger von uns Alten, sondern von den nachfolgenden Generationen ab. Viele jüngere Künstler haben das Thema ja bereits wieder aufgenommen und belebt. Einige möchten aber auch gerne den berühmten Schlussstrich ziehen. Aber wir können es nicht. Weil die Katharsis ausgeblieben ist.38
Und, weil die Jugend in Deutschland in immer größere zeitliche, intellektuelle und gefühlsmäßige Distanz zu der Geschichtsepoche des Nationalsozialismus gerät. Die Bedeutung von Gedenkstätten der Opfer nationalsozialistischer Herrschaft nimmt mit fortschreitender Zeit weiter zu. Und die Erwartungen an die gesellschaftlichen Wirksamkeiten szenografischer Prinzipien werden gesteigert, es werden neue szenografische Aufgaben auf ganz unterschiedlichen Feldern herangetragen. 36
Meyer, Der Raum, der dir einwohnt, a.a.O., S.114. Angerer, 329 km Erinnerung, a.a.O., S.37. 38 Kertész, Interview, ebd. 37
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Szenografie als die Kunst der Verräumlichung sollte ausschließlich im Dienst erlebnisorientierter Wissensvermittlung stehen, denn nur dann ist szenografische Verräumlichung ein Prozess der Installation von Orten des Lernens, ganz im Sinne und Dienste einer Wissensgesellschaft mit einem demokratisch bestimmten Bildungsbegriff, der davon lebt, dass Informationen verifiziert, überall vorhanden und zugänglich sind oder sein sollten. Dies setzt aber voraus, dass bei der Konzeption oder Neukonzeption von Dauer- oder Sonderausstellungen in NS-Gedenkstätten nicht an ‚gewachsene‘ Erinnerungsbildungen angeschlossen werden kann; vielmehr muss die zum Tragen kommende Aussage auf Sachforschungen39 aufbauen. Auszuschließen ist demzufolge der Einsatz von politisch vorformierten oder anderweitig an Gruppeninteressen orientierten ‚Erkenntnissen‘.40 Mehr und mehr werden historischen Ausstellungen durch individuelle Zeugnisse ehemaliger Häftlinge ergänzt, die die Perspektive der einzelnen Häftlinge in den Vordergrund rücken. Durch die Präsentation von Einzelschicksalen bekommt die abstrakte Masse der Vernichteten eine persönliche Zeichnung, Identifikation mit den Opfern, dem Ingenieure dem Schüler, der Lehrerin, der Bäuerin etc. wird möglich: Information wird vermittelbar, erhält Präsenz. Auch hier gilt es, die bestimmenden Aussagen auf Sachforschungen zu gründen, das heißt Art und Umfang der verwendeten Musealien (persönliche Berichte, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, schriftliche Zeugenaussagen etc.) sollten transparent gemacht werden, denn die gewünschten emotional dominierten Reaktionen der Besucher entstehen auf der Grundlage mehrfacher Brechungen. Auf der kuratorischen Ebene werden Artefakte selektiert und damit entsprechend der inhaltlichen Fokussierung der jeweiligen Ausstellung konzeptionell bewertet. Ein zweiter Bruch wird durch die Präsentationsart spürbar, die ihrerseits eigenständige Inhalte generiert, zum Beispiel durch die Art der Kombination der Artefakt, die ebenfalls bewertend wirkt. Und schliesslich erfolgt eine dritte Brechung der biographischen Daten durch die Betrachter selbst, die ihrer persönlichen Situation entsprechend ganz individuelle Wahrnehmungs- und Reflexionsverhalten entwickeln. 39 Zur oben beschriebenen konsequenten Gründung ausstellungsrelevanter Aussagen auf Sachforschung gehört zum Beispiel auch ein baulicher Aspekt, nämlich der Schutz von historischem Raum als „Denkmal aus der Zeit“. Die ‚Lagerarchitektur‘, der Charakter der Baulichkeiten der Lager, mit ihrer Enge, ohne Spielräume der Selbst- und Lebensgestaltung, und ihrer massiven Einschränkung der Freiheit, war Teil des geplanten Programms dieser Räume, deren Sinn nicht Behausung, sondern die Zerstörung von Körper und Geist der Inhaftierten war. Diesen räumlichen Aspekt der Vernichtungspraxis transparent zu machen, setzt nicht zuletzt szenografisch wirksame Methoden, mit kognitiven und atmosphärisch (leiblich) spürbaren Wirkungen, voraus. 40 Siehe dazu: Volkhard Knigge: Statt eines Vorwortes: Vorgeschichte einer Ausstellung. In: Gedenkstätte Buchenwald (Hg.), Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945, Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, Wallstein, Göttingen 1999, S.12ff.
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Einen authentischen Zugang zu Erlebtem von Deportierten, Häftlingen, Zeugen oder Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie liefert die Holocaust-Literatur. Die Holocaust-Literatur als eigenes Format ist, anders als schriftliche Zeugenaussagen, berichtend und reflektierend zugleich angelegt. Ihre Authentizität gründet auf der erlebten Verbindung zwischen Erfahrung, Autor und Text. Schreibend wird im Erinnerungsprozess durch die Anwendung literarischer Formen das Erlebte durch die Persönlichkeitsstruktur des Schreibenden gefiltert. („Natürlich hat das Kunstwerk, der Roman etwa, seine eigenen Gesetze. Wenn wir diese Gesetze verlassen, dann können wir nicht die Wahrheit wiedergeben. Je grausamer die Prosa ist, desto fremder wird sie für den Leser erscheinen.“41) Entstandene Texte entwickeln so eine Erzählstrategie, die als authentisch bezeichnet werden kann, da sie konkret erlebte Ereignisse in ihrer persönlich situativ bestimmten Sicht beschreiben. Das bedeutet für den Leser, in der vorgefundenen Textstruktur und dem individuellen Stil des Schreibenden eine individuelle Interpretation von tatsächlich Erlebtem finden zu können. Wie die Textauswahl aus dem Roman eines Schicksallosen zeigen konnte, sind literarische Texte geeignet, individuelle Wahrnehmungs- und Reflexionsweisen authentisch auszumachen. Der Umfang der Holocaust-Literatur ist überschaubar. Eine detaillierte, vergleichende Analyse unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Reflexionsverhalten, die den einzelnen Werken der Holocaust-Literatur zu Grunde liegen, ist noch nicht erstellt worden. Die Vergangenheit ist ein sich ‚letzten‘ Gründen entziehender Gegenstand und ihr kann durch szenografische Darstellungsformen nur Annäherung widerfahren. Bei der Selektion und Interpretation historischer Fakten als Grundlage szenografischer Präsentationen ist das Kreieren von Scheinwelten zu vermeiden. Die Aufgaben des szenografischen Arbeitens wurden bereits dargelegt.42 Kognitiv und emotional wirksame Ausstellungsgestaltungen, Installationen, Inszenierungen etc. werden nebeneinander stehend genutzt, um Inhalte darzustellen. Gezielt und gesteuert Emotionalität zu erzeugen (Atmosphärenkonstruktion), setzt Wissen und Verantwortung voraus. Dies gilt in besonderem Maße im Zusammenhang mit hier besprochenen Inhalten. Entgleisungen und Fehlentwicklungen durch Präsentationsformen sind provozierter Voyorismus, Opferdiskreditierungen oder Täterverherrlichungen. Emotional wirksame Praktiken sind nicht grundsätzlich auf realistische Darstellungen angewiesen. Oft sind Vergleiche (unvorstellbare Größenordnungen 41 42
Kertész, Interview, ebd. Siehe: Punkt 5. Grenzen des szenografischen Prinzips.
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in Beziehung zu Bekanntem setzen), Spannungsbögen (Aufbau von Erwartungen), Personifizierungen (Auffindbarkeit von Einzelnem, Identität) oder Verweise (Zeichenhaftigkeit der Narration) effektiver, da das zu beschreibende Phänomen in der Phantasie der Betrachter konstituiert wird und somit eine einzigartige Präsenz erhält. Auf jeden Fall richtet sich die Wahl der anzuwenden Präsentationsformen, ihr Ausdruck, nach dem gestellten Ziel, dem gewünschten Verstehen, der Erzeugung von affektiver Betroffenheit durch die gewählten Ausdrucksformen, der Aktivierung eines Willens zur Kritik, der einer Kritik vorausgehen muss. Denn was einmal gewesen ist, kann sich wiederholen, ganz oder teilweise oder so ähnlich. Nicht nur die Weltgeschichte, sondern auch die Europäische Geschichte nach 1945 belegen dies. Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, mitmenschliche Solidarität, die entschiedene Verneinung von Antisemitismus, Rassismus und Feindschaft den angeblich Fremden gegenüber und schließlich Menschenrechte sind auf praktisch gelebte politische und individuelle Verantwortung angewiesen. Sonst existieren sie nicht. Wenn die Ausstellung über die Bewahrung des Wissens um die deutschen Verbrechen in der Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt eine Funktion hat, dann liegt sie in diesem Fazit, das immer wieder neu mit Inhalt und Leben gefüllt werden will.43
Mit der Anwendung szenografischer Methoden haben sich die Möglichkeiten der Vermittlungsformen potenziert. Die Dichte szenografisch entwickelter Umwelten nimmt zu. Das szenografische Prinzip wird von einem Vertrauensvorsprung der Ereigniskonsumenten getragen. Aber Vertrauen besteht nicht per se, Vertrauen ist eine fragile Beziehung. Es hat für alle Seiten eine performative Qualität. Denn alle Dialogpartner sind mit ihren jeweiligen Erwartungen und Haltungen als maßgebliche Akteure am Aufbau einer Bühne konstitutiv beteiligt, auf der als Auftakt eines zukünftigen Schauspiels als erster Akt Vertrauen in der Gegenwärtigkeit totaler Sichtbarkeit mit mehr oder weniger bewussten szenografischen Mitteln aufgeführt wird.44
Vertrauen meint, in Kompetenz vertrauen. Pamela C. Scorzin verknüpft damit die Begriffe: Authentizität, Glaubwürdigkeit, Personalisierung, Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Stringenz45, als Schlüsselbegriffe szenografischer Praktiken, die kompetent Kompetenz ausstrahlen können und sollten. Ein, wenn auch sehr großmaßstäbliches, Beispiel räumlich wirkender Installationen ist Peter Eisenmanns Holocaust-Denkmal in Berlin. Nach seinen eigenen Worten ist das Denkmal ein „Place of no meaning“, ein Ort ohne bestimmte Bedeutung.46 „Ausmaß und Maßstab des Holocaust machen jeden Versuch, ihn 43
Knigge, Statt eines Vorworts, a.a.O., S.13. Siehe den Beitrag von Pamela C. Scorzin, Der „Messias-Faktor“. 45 Ebd. 46 Peter Eisenman: Artikel in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. August 2003. 44
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mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren, unweigerlich zu einem aussichtslosen Unterfangen. … Unser Denkmal versucht, eine neue Idee der Erinnerung zu entwickeln, die sich deutlich von Nostalgie unterscheidet.“47 Beim Durchschreiten der Anlage wird affektive Betroffenheit als Folge leiblichen Spürens, wie es Hermann Schmitz beschrieben hat, bewirkt. Nicht die Kognition, sondern Leiberfahrung als eine Form der „hinnehmenden Wahrnehmung“ (Husserl) schafft Erfahren.
47
Peter Eisenman: Information der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, 1998.
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Ernest Wolf-Gazo RITUAL AND SCENOGRAPHY IN THE CONTEXT OF TRIBAL SOCIETY.
1. PRELIMINARY REMARKS
The phenomenon of rituals, or ritual patterns, seems to belong to ethnology, specifically cultural anthropology. Yet, in the new century in which the globalization process manifests itself over the globe we must reassess the understanding of ritual. We focus on tribal society, or communities within the context of scenography; that is to say, scenography needs to be expanded and include possibilities that had not been possible prior the internet and world-wide-web communications. For ritual, as scenography is not simply a location, place, or space in a specific region of the globe, or exclusively a village or rural phenomenon. Due to modern communications technology, such as the videotape and internet, scenographic ritualization, such as a marriage and its accompanying festivity, are transported along internet transnational communities, having their roots originally in African countries, but living in Europa and the United States. The real rituals is performed, in the manner of the art of impression management (Erving Goffman), in the original place of its performers, or as exiles and émigrés in a temporary country of domicile, in waiting, to be reunited with the original extended family on foreign soil. However, the basic bond, or the cement that keeps the extended family or clan united, extends from the real ritual transformed into a virtual reality ritualistic performance. In order to understand this new form of re-enactment of rituals (like the events of birth, marriage, and death) of a tribal society it is necessary to assess the phenomenon of ritual not only from an historical perspective, but also include elements of economics, sociology, psychology, politics, and not the least anthropology, in order to understand the changing nature of various forms of rituals within varies sites of scenographic frameworks. Every ritual has its own scenography and every scenography promotes its own forms of rituals.
2. INTRODUCTION
This presentation will treat theoretical aspects of Aristotle (oikos), Ibn Khaldun (asabiyya), Max Weber (Sippschaft), Arnold Gehlen (Institutions), Clifford Geertz (ritual and social change), as well as Erving Goffman (impression management), and Edward T. Hall (anthropology of space). These theoretical frameworks will
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help us to come to terms with empirical reality of tribal habits and psychology of ritualization and its transformed virtual presentation via cyperspace. We will treat Bedouins of the Eastern as well as the Western Deserts in Egypt; of villagers migrating to cosmopolitan of Cairo, or migrants in Western Europe and the United States, while asking the question: what happens to the Bedouin honor code? What happens to the loyality (asabiyya) cemented by kinship relations, moving from the original scenographic environment to a foreign environment, perhaps hostile to the rituals of the newcomers? Max Weber pointed out in his monumental Wirtschaft und Gemeinschaft, dealing with the phenomena of community (Vergemeinschaftung) and society (Vergesellschaftung), „Der Sippenverband ist der urwüchsige Träger aller ‚Treue‘.“1 We would like to see what happens to this ‚Treue‘ in the process of globalization, scenographic transformations, or, as we would put the situation, how does the ‚Desert‘ challenge the ‚Polis‘? Scenography itself is an emerging field of inquiry that challenges traditional classification of disciplines, especially within a university curriculum; as a sub-discipline it could be anchored within theatre, architecture, visual arts, music, choreography, design and communications studies. However, within the last decades scenography has shown to be in emergence as a mature field of study and crosses individual disciplines within the humanities, but also between the social sciences focusing on trust and confidence within the confines of ritual and scenography contextualized in tribal society, in terms of international experience (i.e. comparative cultural contexts), imagination and logic. Of course, ritual is easier to locate in a tribal community, but scenography doesn’t have a sharp edged definition in the field natural sciences. Using our imagination and thinking of the varieties of scenographic diagrams of the atomic arrangements in crystals that we can study in crystallography it will be clear, in due time, that scenography opens up a new perspective (in the sense of Leibniz’s perspectives) that enriches many of the disciplines afore mentioned. In this presentation we want to try our hand at a mixture of cultural anthropology (or ethnological studies), sociology, behavioral psychology, geography, body language, mass communications and symbolic interaction. Some aspects of this approach we find in a more traditional research setting in the works of Aby Warburg and Ernst Cassirer. Yet, we want to compliment their insights of wisdom with our own immediate experience in rural areas of Turkey and Egypt, as well as in the metropolis of scenography, namely Cairo, wherein tribal settings mixed within the context of a so-called megacity is exemplary. We will also add some theoretical aspects in terms of a philosophical sociology, by contrasting the polis of antiquity and medieval society in the Near East (known in modern times as Middle East) as ‚trust community‘, by reminding 1 Vgl.
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1976, S.219.
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ourselves of Aristotle’s Politics and Ibn Khaldun’s The Muqaddimah (Prolegomena to World History). Of course, the Tunisian historian and philosopher, originally from Al-Andalusia, meant by ‚world‘ exclusively the Islamic West and East. We will make short excursions into the Eastern and Western deserts of Egypt contrasting the setting with the sociology of the people of the Nile Valley and the Eastern polis, Cairo. We want to see how trust and confidence operate in the medium of particular urban space in which tribal society, at least psychologically is still embedded. The essential olfactory communication, especially in Middle Eastern communities and societies is paramount in order to come to grasp the quintessential elements that cement their sociological foundation. The well-known ‚wasta system‘, prevalent in all eastern societies, has an ethnological communication system cast, very often, in pure scenography, in which theatre, olfactory elements, as well as symbolic gesturing has its own grammar. For the wasta, as it is simply known to the peoples of the Middle East, has its own grammar book, formal and informal, to be studied. A formal sociology is not be sufficient to come to terms with wasta; it is more like swimming, you must learn how to swim in real water in order to be able to survive in water and will be able to control the direction of your flow. Ritual, formal and informal, scenic choreography becomes as important as oxygen, as well as the reinforced body language gestures in ordinary life. Lastly, we also want to hint at a transference of ritual and scenographic choreography in transnational virtual communications, such as audio-visual communication at-a-distance, not to mention webcam which turns out to be a life-line for the diaspora of peoples from Africa and the Middle East in their quest of a secure, equitable, prosperous life worth living, denied to the multitude in their home countries. And let us remind ourselves of the famous dictum of Aristotle, applied to all who consider themselves Anthropos, that to merely exist is not enough (stones, sticks, and my chair also exist), but to be living is the essence of the good life, applied to all. Thus, it is clear that we must restrict ourselves, in the limits of this presentation, to some excursions that are ethnological, historical, philosophical, and that delineate rituals modes as scenography applied to tribal communities and societies that may or may not be tribal in the classical sense of the word because they are in transition of becoming, in the process of globalization, neo-tribal societies, or modern, if not ultra-modern societies.
3. THE TRUST COMMUNITY: ARISTOTLE AND IBN KHALDUN
The two descriptions of a trust community that come to mind are Aristotle and Ibn Khaldun. Especially in Aristotle’s understanding of the life of the polis, as politics, and the life of morality, as ethics, we find an analytic version of what ethnology calls ethos and habit. The ethos in the polis is the sociological network of habits of the
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koinonia, things that are shared by a household and the polis at large. It is in the household that we find economics, sociology, politics, and morality played out. It is basically a „trust community“.2 However, trust in the base of koinonia is an ongoing process that is reenacted everyday of the week. Simply, it is the presupposition of anthropology, meaning, the basic understanding of what it means to live as humans (anthropoid) in community. For, according to nature, the oikos is prior to the individual who is born into the household management; in that sense the study of humankind is a study of physis and not yet of nomos (rules and laws). The stage of rituals, however, is already a part of ethos and nomos. However, sociology is prior to ethos for the simple reason of survival. Food and shelter are primary elements for humans in order to survive physically; yet, the organization of the food supply and the sheltering accommodation is already a part of process of the ritual that signifies what sort of intention are at play within the group. The rituals and the significations, that may turn out to have symbolic character and value, are in essence sociological. That is to say, signals and symbols, like ritual dance or body language, are always conducted towards the group and community. The individual members of the community adapt to this sort of communications for the simple reason that each want to survive. A chance of misunderstanding or misinterpretation of the signs and symbols could mean death. Thus, anthropos sees death as something negative, non-life, at least at the stage of Urmensch (proto-man), as Arnold Gehlen would express it.3 We find ourselves on the stage of animism in which sticks and stones have practical value and not yet empowered with spirits. The traditional amulet used to ward off the evil eye has not yet been envisioned. Human beings are confronted with the raw forces of nature; sunshine, rain, hurricanes, desert storms, lightening. In such an environment there is no time for developing sophisticated religious pantheons. These are results of a sort of surplus economics in which a particular segment of the community has time to handle the rituals addressed to the pantheon of gods. In the world of Aristotle men and woman operate according to nature, by necessity, they reproduce. Again, it is a basic situation in which trust and ritual are elementary components of survival instincts. The rest is organization of the oikos that starts out with a division of labor in the household according to the rank that rules and nomos assigned to each member of the community. Children have not yet status since they need to grow into a basic functionality in which they take their role assigned by their parents. From the point of view of nomos children and foreigners have the same status as women with the exception, of course, of specific women, like the leading lady of the household. The head of the household, the father and husband, represents the whole family in the agora. He needs to insure that his household can 2 Vgl. 3 Vgl.
Aristotele: Politics. Bk. I. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Frankfurt am Main 2004.
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trust him, from an anthropological point of view. Yet, the trust, at this point is a matter of ethos, rules, and nomos. That is the reason why slavery has a Janus face in the ancient world: the slave hoped that his master would treat him well, but there was no necessity to do so. Thus, trust was a matter of choice between the slave and the master. By the time Hegel comments the affairs of world history that trust was gone; the logos entered into the realm in which the slave started to partake, thanks to the French Revolution. However, in the time of Aristotle logos was reserved for the elite conducting business in the agora. Philosophy is born not with trust and ritual but with logos. By the time that was made clear by Socrates, Plato and Aristotle, the idea of a trust community needed reevaluation. The tribal society became a thing of the past, at least for the more advanced segments of world history. When Aristotle declares that the primary goal of an ethical life is the achievement of happiness, striking a balance between extremes, trust became the cement of the underdeveloped communities. Tribal societies don’t think in terms of happiness, but of food, shelter, and survival. The rest is sociology of how to organize these basic necessities. The polis of Aristotle is no longer a tribal community but a sociological organization in which ritual and trust is part of nomos that declared that Socrates must forfeit his life since the polis and its laws have priority. In Ibn Khaldun we have a different case of a trust community. He describes Arab and Berber society on a quintessential level in which they are rooted: asabiyya.4 In simple words, blood relations are the elementary community connections. Blood relations means to reinforce the membership in the patrilineal system through marriage promoted by the spouses’ family. This paradigm is translated into an ideal type of marriage in Muslim communities of the Middle East for a man to his father’s brother’s daughter known as ‚bint ‘amm‘, the alternative is the first cousin of the mother’s brother’s daughter known as ‚bin khall‘. Only blood relation is significant for the community. Blood is prior to anything else; even ethos and nomos are handled in terms of blood relations. The saying, blood is thicker than water, is certainly true in Ibn Khaldun’s Arab society. Considering that water has special significance particularly of peoples who live and must survive in a desert climate, water is the most elementary necessity in a desert situation. Yet, it is not water that elicits trust, but blood. The basis of social cohesion and group loyality is rooted in blood relations. This is also true between men and women. Although reproduction takes center stage in that relationship, the family situation and the blood relation determine the modes of how reproduction distributes the status of each member of a community. Blood, ethos, ritual, but not logos has priority in the Arab community, and is identified by Ibn Khaldun as asabiyyah. Without that basic bondage the community, or the society, will disintegrate. Loyality is based upon it, which, in turn determines the 4 Vgl.
Ibn Khaldun: The Muqaddimah. An Introduction to History. Princeton 1970.
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hierarchy of the community make-up. Trust in Ibn Khaldun’s world is not a matter of believing in what one says or does, but, in the psychology of blood relation that evokes solidarity in the group and between each member of the community. This is also the case in the relationship between male and female: sexuality is important, but it doesn’t determine the intensity of loyality and solidarity that is expected of men and woman towards each other. The veil, misunderstood in the western world, is a case in point. It is not simply something religious, but a signifier of boundaries the members of the tribe can’t transgress. Moreover, it delineates the social status of each member or specific groups within the tribe, unmarried, or married, for instance, to symbolically tell other specific members of the tribe how to behave and what to expect under certain circumstances. Or, veil and pieces of clothing function as a reminder who is part of the group and who an outsider and stranger. We can say that, in a way, blood relates to scenography like the earth to the sky. The ‚scenic appearances‘ are not managed or staged, say the distance of sitting between parents, husband and wife, unmarried woman to unmarried males, these are serious existential scenographic situations that define ontologically the person or member of the tribe. This is no dramaturgical engineering in the sense of Erving Goffman, as we find it in socially modern societies, but the existential ‚drama‘ that is played out in the tribe has a specific scenographic context and background and is an essential aspect of identity of the group as well as each member of the tribe. There is no secondary reflection in Hegel’s sense of ‚List der Natur‘, this is the species operating in order to preserve and reenact reproduction of the tribe and its identity. Only, Ibn Khaldun would say, Hegel (although, unfortunately they never meet except in the mind of this author) reflects from the historical position of an industrial society in the 19th Century making, while the Berbers and Bedouins are nomadic and sedentary communities who are engaged in the natural struggle to survive and reproduce. The modes of scenography enacting trust and loyalty are basic common denominator to all and are enforced rigorously because survival is at stake. This is not show-business, but real life-cycle drama moving between birth, marriage, and death. This is the reason why children are so important in tribal societies, especially, of course, for the female. The status and total identity as a full member of a tribe is gained by the female of having children; again, children are not something of existential romantic philosophy in a nuclear family society, or, in some post-modern setting, a late-comer addition in the middle thirties of an emancipated female feeling, suddenly ‚empty‘. In the eyes of a Bedouin woman that is play-acting at life, and not the real life drama. However, to save Hegel’s face, it must be said, that the talk about alienation (that also includes the young Marx of 1844) would be totally strange and incomprehensible to tribal member in the Western or Eastern Deserts of Egypt, since that would mean the destruction of the tribe and social existence thereof. That is the reason why reinforcement of the rituals,
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reenacting of festivities, birth, marriage, funeral procession, are of utmost existential importance to the tribe’s very existence. Ibn Khaldun understood and explained these facts quite well as a sharp observer in Tunisia and Cairo. Lastly, we must remember that we are dealing with communities and societies that do not operate and function with identification cards (ID), national or international. The tribal psychological connotations are very deep embedded in the soul of each member and transmitted from generation to generation. This author, as a philosophy teacher at a university in Cairo witnessed these aspects first hand for two decades, including in the classroom: for some time I simply called out the university ID of each student as not to develop favoritism, when it comes to grading. However, it turned out that many students, mainly from Middle Eastern background, resented the fact that I did not always know their full name, meaning the name of the grandfather, the father, and their given name. It was a matter of honor and identity that calling the name is the recognition not simply of a name, an individual, but a whole family and tribe, perhaps, to which a particular students feels ‚asabiyya‘. We can see that despite the encroachment of modernity in the life of Middle Eastern societies, the ‚asabiyya memory‘ lasts a long time and establishes itself as a normative orientation for individual members as to whom they belong and identify with. Comparing notes with Aristotle and Ibn Khaldun is an excellent exercise in multi-cultural interpretation of the human species as to how it organizes itself and how it manages its survival. The scenography of Hollywood High School and the car drag-racing in the classic movie Rebel without a Cause, starring James Dean and Sal Mineo, is no different in its existential scenographic meaning, as is the Mulids (birthday and anniversaries of special saints and holy men) celebrated by Coptic Christian and Muslims together in Cairo, at specific times in order to reinforce the identity with one’s people, although these celebrations date back to ancient Egyptian traditions. The time and place may be far removed, but the existential meaning of the scenography, drama, tension, the tribal group mentality of the students of Hollywood High, the test of courage, defying death by testing one’s masculinity, is not different from the drama and group rituals that take place in every village of Egypt. We move on to some specifics that delineate the ‚Desert‘ from ‚the Polis‘ in order to see how the mode of life is demarcated between these two ways of organization social life along the norms of loyalty, trust, and scenographic enactment.
4. DESERT VERSUS POLIS
The topic Desert versus Polis is, of course, metaphorical. What we mean is this: there is a tension, especially in contemporary Middle Eastern societies between the developing form of modernity of the city (polis) and the memory that encased the
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tribal form of life, habits, and institutions. Especially Egyptian cinema has presented this specific topic to its audience in memorable movies such as The Honor of the Bedouin (Charaf el Badawi) filmed in Alexandria in 1918 with one of Egypt’s first actor Mohammad Karim, in which the crisis between Desert and Polis is shown in terms of village and city.5 The clash of morality between the rural regions and urban environment; or the first Arabic novel entitled Zeinab published in 1914 by Muhammad Husayn Haykal, later adopted as a movie in 1930, deals with transgressing the boundaries of the village code of conduct, especially by female members. Better known to the Western movie audience McLean’s Lawrence of Arabia with Omar Sharif and Peter O’Toole, we find the tense scene in a rugged desert terrain near a water hole where Lawrence is forced, by the Bedouin code of honor to execute his young friend because he stole water from that water hole, belonging to another tribe. Water has the same value as the horse in the Old American West whereby the horse thief was hanged immediately. Moral values and the social order, the setting of boundaries and transgression, are important themes for the Desert and constitute the basic social problem in contemporary Middle Eastern Societies. Religion is only part of the picture, but the memory of the code of the desert and its usurpation in the city, like Cairo, provides the environment for cultural warfare. Blue Jeans versus the headgear, business suit versus the gallabiya (the traditional Egyptian garment worn by the Nile valley farmers), these are daily occurrences in the streets of Cairo. And the culture war continues.6 Again, Max Weber and Arnold Gehlen, as well as the British philosopher R.G. Collingwood, were much aware of the transformation of the ‚beautiful world‘ of the fairy tale (the enchantment of the world) into modernization in the form of disenchantment.7 By the time Grimmes’ Fairy Tales are presented as sociology of morality and The Beauty and The Beast as a subtle Freudian tale of libidinal repression, the enchantment of the world was over. Magic, myth, and totemism, as Claude Levi-Strauss has taught us were entwined with blood relations and developed analogous social-political structures of the desert. The scenographic context was especially enacted by the Shi’ite ideology at the annual reverence shown to Hussayn, the son of Ali, and grandson of the prophet Muhammad. Of course, the pioneering initiative by the Egyptian pharaoh Akhenaton, promoting the worship of the sun’s rays was an important historical step towards the figuration of monotheism that became, in the eyes of Max Weber and underscored by the pioneering research of 5 Vgl. Mohamed Awad and Sahar Hamouda (Hg.): The Birth of the Seventh Art in Alexandria (Catalogue of Bibliotheca Alexandrina). The Alexandria and Mediterranean Research Society 2007. 6 Vgl. Samia Mehrez: Egypt’s Culture Wars. London 2008; Asef Bayat: Life as Politics. How Ordinary People change the Middle East. Stanford Press 2009. 7 Vgl. R. G. Collingwood: The Philosophy of Enchantment. Hg. David Boucher et al. Oxford University Press 2005; Wolfgang Schluchter: Die Entzauberung der Welt. Tübingen 2009.
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Professor Jan Assmann, the pinnacle of what Karl Jaspers called the ‚Axial Age‘ in world history.8 The development of the human species from hunter to sedentary existence, from demons, ghosts, and magic to revealed religion of an invisible Deity, must be reexamined in the light of a new global consciousness. No doubt the drama played out by the desert against the polis is part of this world historical scenario. Let us inspect a crucial part of the Bedouin Honor Code in order to see immediately why trust and loyalty have taken on such paramount importance in Desert Culture. The Bedouin values a person’s word, it’s the equivalent of the old western handshake, ‚a deal is a deal‘, but it is more, the Bedouin word means that the whole person guarantees by his personal honor trust, honesty, and truth. Some concept take on essential positions in the value scale of the Bedouin honor code: honor (sharaf ), excellence (fadhila), sincerity and honesty (sadag), generosity and hospitality (karam), dignity (karama), salutation (salamaat).9 These are some of the most important values that guide every member of the Bedouin tribe. We must understand that this situation is not simply a value scheme of the German philosophers’ Max Scheler, or Nicolai Hartmann, that many German university students used to hear in their Ethics Lecture, but results of Desert peoples who challenged their hostile environment, in the sense British historian Arnold Toynbee spoke of, challenge and respons: the desert was the challenge, the honor code the response. This, of course, took many generations to work out based on a trial-anderror basis. Agnation, kin recognition had its own structural constellation that needed to be transmitted to every member of the tribe, generation to generation. Imitative rituals and habits were the best techniques and methods to endorse respective actions: persons not related simply shake hands, if related, kin or friend, kisses on either cheek, salutations invoking the blessings upon the family according to the will of God, are standard. A structural sociology accompanies the value system of the Bedouin: the household (bayt, buyout, Aristotle’s oikos), then the clans (‘ayla), then the tribe (gabiila) is the largest unit of the Ma’aza Bedouins who live in Egypt’s Eastern Desert.10 The kinship segments and structure runs analogous to the economic activities of pastoral nomads. Thus, the household, linage, clan and tribe, operate according to prescribed scenographic choreography that are embedded in the social, economic, and political activities of the community. Repetition and imitating the elders by the youth are the teachers of the specific scenographic contexts and not movie directors. The script is part of the memory-bank of the tribe that enacts the honor code. The wedding party 8
Vgl. Jan Assman: The Price of Monotheism. Stanford University Press 2010 (orig.: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München 2003). 9 Vgl. Joseph J. Hobbs: Bedouin Life in the Egyptian Wilderness. University of Texas Press 1989, S.50ff.; L.A. Tregenza: The Red Sea Mountains of Egypt/Egyptian Years. Oxford University Press 1955/1958. 10 Ebd., Hobbs, S.4-11.
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is being videotaped to be sent to the polis as to who got married and acquired a new status in the tribe. The videotape reinforces strong family ties of those who migrated to the polis; many single women attend the feast as to attract potential suitors, as well as friends of the married couple. These on-going activities, captured by the videotape and digital technology become important information and scenographic messages to the transnational families and diaspora via cyperspace turning them into virtual communities that have their roots in the desert.11 Interaction between Desert and Polis in cyperspace is a special topic that needs to be researched. Due to the internet revolution the Bedouin Honor Code can be transmitted as virtual reality that has an effect on the polis members who remember the desert days and have a pedagogical tool at hand to exhibit their tribal members the values webcam. Again, these are special topics and need to be investigated from polis to polis, continents to continents, but, no doubt would yield interesting results.
5. A CRITIQUE OF ERVING GOFFMAN’S AMORAL ISSUE OF ENGINEERING IMPRESSION
Goffman’s dramaturgical approach and impression management in the presentation of self in everyday life is of great importance in sociological literature. His methods and approach has found many imitators, yet, there are some serious concerns on part of ethnologists and philosophers as to what extend the Goffman approach holds up examining the value system of a Bedouin Honor Code. It is important to point out a specific critique by Columbia University Professor of Ethnology Lila Abu-Lughod who, in her standard work, Veiled Sentiments: Honor and Poetry in a Bedouin Society, published in 1986, that has a metaphysical component aiming at the essence of the Bedouin value system.12 Abu-Lughod points out that the dramaturgical view misconstrues the social conformity in Bedouin society. For the Bedouins (she refers to the Awlad ‘Ali society in the Western desert of Egypt near the Libyan border and Al Alamein region) conforming to the honor code is not a put-on or make-up of appearances, or playacting, but an existential situation in which each member has nowhere else to go but the tribe. Rituals and scenographic contexts are the reinforcement of the code and its ideals, up front, as the saying goes, of the tribal moral values, perpetuating the system. The reason why our modern societies are not geared to understanding such 11 Vgl.
Mulki Al-Sharmani: Livelihood and Identity Constructions of Somali Refugees in Cairo. Forced Migration and Refugee Studies (FMRS), Working Paper, No.2, July 2003 (American University in Cairo); Diane Singerman: Avenue of Participation: Family, Politics, and Networks in Urban Quarters of Cairo. Princeton University Press 1995. 12 Vgl. Lila Abu-Lughod, Veiled Sentiments: Honor and Poetry in A Bedouin Society. University of California Press 1986.
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tribal sensitivities is, of course, that modern societie’s activate out of rules and laws according to ‚human rights‘ that are necessary in societies that no longer has, in fact, a tribal blood connection. Especially immigration societies, after a few generations lose that special asabiyya that connected the previous generations of immigrants. It is no surprise that actors and actresses are adored and followed as role models in societies that have lost touch with communities that shares tribal loyalties, structures and allegiance. The show must go own, whatever the cost, since time is money, and money is time. It is of great interest that the sport of football (European soccer) within the last two decades has developed ritualistic aspects that remind the viewer of the spectacle, like the recent World Soccer Championship in South Africa 2010, of tribalistic activities that are classified as entertainment and exploited, by the business world. In fact before each game starts, national anthems and flags are presented in a style that reminds us of village patriotism; however, the paradox of such situation can be read of the lips of those players who don’t either know the text of the respective national anthem, or don’t want to sing along, for the simple reason that their assabiyya lies with their native village, land, or people their families originally emigrated from. Thus, France and recently Germany presented football team in which almost half of its players have their roots in another country. Again, this is interesting research for the future on a global scale. Abu-Lughod’s critique makes it clear: Belonging is essential because there is no life outside the group, no alternative social group other than the community of agnates into which one is born or, in some cases, another community to which one attaches, composed nevertheless of other Bedouins. Thus, respectability achieved through embodiment of the code’s virtues is isomorphic with selfrespect. This fusion of self-regard and the respect of others makes meaningless Goffman’s distinction between realizing moral standards and giving the impression of realizing them. For individuals in Awlad ‘Ali society, conformity to the code of honor and embodying the cultural ideals set by that code for the individual are not empty acts of impression management but the stuff of morality.13
There seems to be an ontological divide between Goffman’s analysis of Western society and Abu-Lughod’s reconstruction of Bedouin notion of self in a tribal community. The problem is that of the ‚stage‘, in fact, all modern societies are staged, in one way or another, since the interaction of modern societies in the polis are not based upon tribal or blood relations necessarily, but on social-economic foundations, exclusively. Professional competence and its respective function, as Max Weber had pointed out, replace the personal relationships, not to mention blood ties. We present two passages from Goffman’s main texts in order to clarify the critical situation: „Throughout Western society there tends to be one informal or backstage language of behavior and another language of behavior for occasions 13
Ebd., S.237/238.
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when a performance is being presented.“ Then, from a systematic angle we find this relevant passage that is especially subject to Abu-Lughod’s critique: The cultural and dramaturgical perspectives intersect most clearly in regard to the maintenance of moral standards. The cultural values of an establishment will determine in detail how the participants are to feel about many matters and at the same time establish a framework of appearance that must be maintained, whether or not there is feeling behind the appearance.14
Clearly, this differentiation between authentic feeling and appearance doesn’t exist in a tribal society, since the feeling, as such, is the existential anchor of the members of the tribe. There is no contract between individuals, written or unwritten, as is the case in modern societies, since the interaction is linked to the agnation. You can escape the city, but you can’t ever deny, hide, or escape the tribe, since blood relates to everyone and everything. This is also the reason why clothing in tribal societies is not simply a piece of acting appearance, but clothing is an integral part of the scenographic situation. That the Byzantine Emperor was the only person to be allowed to wear red shoes is no joke, since, if someone else tried to imitate the Emperor he would be put to death, perhaps, except the joker.
6. CONCLUSION
We have seen that the topic ritual and scenography in the context of tribal society is a complex affair. Of course, we could not discuss and deal with many interesting topic are relevant in the age of globalization: olfactory communication and trust (as researched by Edward T. Hall)15, the wasta system (known in German as Vetternwirtschaft) and its ritualization that includes more than simply economic exchanges, but also social etiquette and reverence for the status of different sorts of people, especially in the age of the internet, webcam, iphone, the transnational virtual communities that appear as virtual diaspora, such as Somalis in Cairo, Iranians in Los Angeles, and many exiled groups and refugees in various parts of the world. There are types of rituals that take on formal or informal character, private and public, or, hyphenated rituals that combine ancient and modern versions of ritualization, accompanied by digital scenographic structures. Many possibilities open up in the internet age that have not yet been identified and need further observation, scrutiny, and studies. There is no doubt that the potential for scenographic studies was only started: we are at the beginning of a new version of old habits and patterns. But we must find out to what extend scenography can fit into the whole picture of human interaction. 14 Vgl. Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959, S.128, S.241/242. 15 Vgl.
Edward T. Hall: The Hidden Dimension. New York 1969.
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The late sociologist Norbert Elias pointed out in his pioneering study of Die höfische Gesellschaft, that Erving Goffman had read in the original German edition of 1939, that the whole gamut of etiquette in the Versailles of Louis XIV was a highly sensitive and complex world in which a certain estate establish power networks accompanied by structures of etiquette.16 Needless to say, that this world of 17th century aristocracy in France had its rituals that had as much significance as it had among the Bedouins in the desert, or the celebration of rite-of-passage graduating from Hollywood High School in Rebel without a Cause. These events and figurations, as Elias pinpointed special networking at a specific historical period, have the same foundation, namely the human species trying to cope with survival and experimenting with different degrees of ‚Vergesellschaftung‘. We read in Elias’s remarkable style of doing ‚sociology‘: Die höfische Etikette, die entsprechend den Wertmaßstäben bürgerlich-industrieller Gesellschaften als etwas recht Unwichtiges, bloß ‚Äußerliches‘ und vielleicht als etwas Lächerliches erscheinen mag, erweist sich, wenn man dem Aufbau der höfischen Gesellschaft seine Autonomie läßt, als ein höchst sensitiver Anzeiger und als ein höchst zuverläßiges Meßinstrument für den Prestigewert des einzelnen im Netzwerk seines Beziehungsgeflechtes.17
Again, needless to say, the ritualization at Versailles certainly developed an elaborate scenographic choreography that encompassed not only social manners and ways, but also political arrangements, economic dependency, and not to mention erotic scenarios that television series, portraying the social and economic background of the French revolution, owe their popularity. The abundance of celebrations and festivities, the sheer delight in color and scenographic arrangement are not simply for adornment, as art nouveau (Jugendstil) would have us believe, but have existentially authentic value that contextualized the social network of the world of Louis XIV Versailles. It seems that Goffman may have gotten his cues from Elias’s early works but understood immediately that there was a real world out there of the 1950s and 1960s applying, instead the sociology of etiquette, a dramaturgical approach to social interaction. It seems that the philosophic aspects were forgotten because the mid20th century American society had no use, if it ever had, for philosophic speculation. The example of the Bedouin honor code shows that the human species has not changed since, as Elias pointed out, Die praktizierte Etikette ist m.a.W. eine Selbstdarstellung der höfischen Gesellschaft. Jedem einzelnen, voran dem König, wird darin sein Prestige und seine relative Machtstellung durch andere bezeugt. Die gesellschaftliche Meinung, welche das Prestige des einzelnen 16 Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt am Main 1983; Thomas J. Scheff, Goffman:
Unbound! A New Paradigm for Social Science. Boulder 2006, S.60-63. Elias, Die höfische Gesellschaft, a.a.O., S.19.
17
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konstituiert, wird innerhalb einer gemeinsamen Aktion nach bestimmten Regeln durch das Verhalten der einzelnen zueinander zum Ausdruck gebracht. Und in dieser gemeinsamen Aktion wird also zugleich die existenzielle Gesellschaftsgebundenheit der einzelnen höfischen Menschen unmittelbar sichtbar.18
In fact this description could be used to characterize also the behavior of individual members of a tribe accompanied by analogous scenographic situations and scenographic figuration, to adopt a term from Elias. The constellation of figurations possibilities are endless for Vergesellschaftung, despite the human species needs remain constant, as well as the enormous variety of scenographic constellations have not yet been discovered in the age of the internet and digital photography and light choreography. In sum, the structural relation between ritual and scenography is of great interest since the alignment of these structures themselves must make sense to the participants that have existential stakes involved in the social network of their respective community. Thus, this conclusion is only a preface to a future of endless possibilities of reassembling social configurations that are suitable for the human species in the post-internet age to come.
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Ebd., S.154.
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Alexander Kluge FRÜCHTE DES VERTRAUENS. EIN KURZINTERVIEW
Bohn: Sie sprechen in ihrem Vorwort zu Ihrer DVD-Sammlung Früchte des Vertrauens1 von Freuds Begriff ‚Urvertrauen‘. Wie sehen Sie diesen Begriff im Gegensatz zum Begriff der Gabe in den ökonomischen Theorien, insbesondere bei Heidegger. Kluge: Urvertrauen und Gabe bei Heidegger sind Begriffe, die einander ähnlich sind, d.h. sie überschneiden sich, besitzen aber eine unterschiedliche Herkunft. Der Begriff ‚Urvertrauen‘ kommt von Sigmund Freud und bezieht sich auf die Mitgift eines jeden Menschen, die in der gesellschaftlichen Evolution übrig blieb und die darauf beruht, dass jedes menschliche Lebewesen einen an seinem Realismus nicht geprüften Vertrauensvorschuss der Welt entgegenbringt, meist schon den Urobjekten. Ohne diesen Vorschuss könnten Menschen nicht überleben. Der Grund für Urvertrauen liegt also weit zurück und gehört insofern zum Umkreis der Gabe bzw. der Mitgift. Früchte des Vertrauens knüpft an John Steinbecks Roman Früchte des Zorns an. Das Buch antwortet darauf, dass die Krise von 1929 und somit das Kapital in Form eines Kollateralschadens die selbstbewussten Landgebiete der USA erreicht. Bohn: Ist die Korrelation von Geld und Vertrauen eine dialektische? Verbirgt sich dahinter nicht die Korrelation Tausch und Kommunikation? Kluge: Das ist richtig. Man kann Geld nur verstehen als einen hochspezifischen Modus der Kommunikation: Ich begehre und bezahle etwas von Dir, dass mir wichtig ist, möchte aber im Übrigen nichts mit Dir zu tun haben. Dies ist eine sehr spezialisierte Form der Unhöflichkeit. Bohn: Wird unter dem Begriff der Gabe Lebenszeit selbst zu einer Währung, die sich mittels Arbeit kapitalisiert? 1
Das Interview mit Ralf Bohn erfolgte im Zusammenhang mit einer kommentierten Aufführung einiger Teile aus Alexander Kluges DVD-Veröffentlichung Auf was kann ich mich verlassen? Die Aufführung fand unter freundlicher Genehmigung von Alexander Kluge am 10.12.2009 im Rahmen des Symposions Inszenierung und Vertrauen an der FH Dortmund, FB Design statt. Alexander Kluge: Früchte des Vertrauens. Finanzkrise, Adam Smith, Keynes, Marx und wir selbst: Auf wen kann man sich verlassen?, Frankfurt am Main 2009 (filmedition suhrkamp; 4 DVDs).
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Kluge: Immer. Bohn: Sorgt nicht das falsche Wechselverhältnis zwischen Arbeit und arbeitendem Kapital für einen primären Vertrauensverlust? Kluge: Gäbe es den Warenfetisch nicht, würde sich dieser Vertrauensverlust realisieren. So aber, durch die Täuschung über den tatsächlichen Tauschprozess also, führt diese grundlegende Diskrepanz zwar zu einer schleichenden Vertrauenskrise, erfahrungsgemäß sind es aber andere, drastische Auslöser, welche den Vertrauensverlust dann bewirken: Eine Niederlage im Krieg zum Beispiel und nicht die ihr zugrunde liegende vorangegangene Erosion des Vertrauens. Bohn: Wenn Vertrauen eine Kommunikationsform ist, die sich auf Hortung als Archivierung von Wissen bezieht, sind dann konstruktivistische Theorien besonders geeignet, die Selbstbezüglichkeit aufzuklären? Kluge: Die Frage kann nicht kurz beantwortet werden. Bohn: Gibt es eine angemessene Inszenierungsform für den Baum, an dem die ‚Früchte des Vertrauens‘ reifen? Kann man Vertrauen inszenieren oder kann man Vertrauen nur inszenieren? Kluge: Grundsätzlich entsteht Vertrauen spontan und zehrt von einem Vorrat, der durch Inszenierung allein nicht verstärkt werden kann. Allenfalls könnte er gestützt oder erhalten werden durch Inszenierung. Man überschätzt den Rang von Inszenierung, wenn es um Vertrauensverhältnisse geht. Dort, wo solche Inszenierung zum Beispiel historisch beim Begriff Volksgemeinschaft stattfindet, verdeckt die Inszenierung die realen Prozesse, die Bindungen auslösen. Bohn: Ist der Film-Essay gegenüber dem Essay (nach Adorno) vertrauensstärker oder schwächer? Was wäre die mediale Synthesis von Geld und Vertrauen? Reklame? Märchen? Kluge: Klug sind nur die Märchen. Bohn: Schaffen nicht sowohl Vertrauen als auch Geld Projektionen in Zukunft, die stets einen utopischen Rest bewahren müssen? Kluge: Das ist richtig. Insofern enthält auch das Geld einen Bodensatz an
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utopischem Versprechen. Dieser Bodensatz, subjektiv gestützt von den Menschen, ist antirealistisch orientiert und gegenüber praktischer Erfahrung immun. Bohn: Zu Vertrauen und Wunsch und zu Freud zurück: Ist nicht der Aufschub des Todes Grund genug, den Kredit des Vertrauens niemals einzulösen? Kluge: Die Kreditspanne zum Tode hin ist tatsächlich die maßgebliche subkutane Währung. Das ist der Grund, warum dieses Wissen so schwer gegenwärtig zu halten ist. Das Vertrauen weiß, wo sein unerbittlicher Gegner sitzt. „Denn alle Lust will Ewigkeit.“ (Nietzsche) Bohn: Die Krise des Vertrauens: Zu wenig Arbeit – zu viel Erfüllung? Also eigentlich eine Erfolgsmeldung? Kluge: Wenn ein Mensch des Anderen Spiegel nur durch die Arbeit sein kann, ist die Verkürzung zwischen Wunsch und Ziel bzw. die Abkürzung von Arbeit keine Erfolgsmeldung.
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Frank den Oudsten, Ralf Bohn BALANCE UND BLINDES VERTRAUEN. EIN BRIEFWECHSEL
Amsterdam 11. Juli 2010 Lieber Ralf, Interessanterweise ist unsere Beziehung von einer Kontinuität geprägt, die exemplarisch ist für die Szenografie und ihre Tektonik an sich. Nach meiner ersten Dortmunder Performance: Szenografie. Obszenografie. Über die Gratwanderung der offenen Künste.1 am 14. Dezember 2007 hast Du die 100 schwarzen und weißen Dachlatten, die das Granulat meiner Urhütte der Szenografie bildeten, ganz kongenial memory sticks genannt. Objekte, die nicht nur die Beherbergung der Idee dingfest machen sollten, sondern darüber hinaus auch im Gedächtnis als Locus der Identität selber wurzelten – Metaphern also. Gedächtnismetaphern aus der simplen Ästhetik von Dachlatten und einer Halbwertszeit von Plutonium. Das heißt, das Ereignis der Benennung bliebe lange genug in Erinnerung, um das schöpferische Intervall zwischen dem ersten und zweiten Dortmunder Symposium zu überbrücken. Zufällig und spontan gab es plötzlich eine unvermeidliche Kontinuität zwischen meiner Gratwanderung aus 2007 und dem Symposiumsthema von 2009: Inszenierung und Vertrauen. Stärker: Das Leitbild ‚Hochzeit bzw. Ehe als Seiltanz‘ ließ sich ganz evident assoziieren mit den von Dir als Souvenir aufbewahrten memory sticks. Eine weiße Dachlatte transformierte sich vom Icon der Szenografie zur Metapher der Instabilität des Gedächtnisses. So ist es mit dem Kreislauf von Erinnerung und Imagination. Die Dinge sind, was sie sind. Nur, manchmal eben nicht. Die Vorstellung ist ein Balanceakt des Vertrauens: im delikaten Gleichgewicht auf dem Seil oder unausgewogen und abstürzgefährdet. Gratwanderung, Seiltanz, Balanceakt. Nicht zu tanzen, heißt nicht zu überschreiten. Das immanente Risiko des Cross-Overs ist Teil seines ephemeren Inhalts. Jede Dramaturgie, die diese inhaltsspezifische Instabilität der Dinge nicht sieht, umgeht oder ignoriert, verliert ihre Sprache. Das ist das Paradox der Szenografie. Eine Idee ist nur greifbar, wenn man ihre proteïsche Natur akzeptiert. Sie lässt sich semantisch nur sichern, wenn man das Risiko einer störrischen Syntax eingeht. Die Form spricht nur dann Klartext, wenn der Szenograf mit der Halbwertszeit ihrer Relevanz rechnet. Im Seiltanz der 1 In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis, Szenografie & Szenologie Bd.1,
Bielefeld 2009, S.371-403.
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Szenografie sind entfesselte Assoziation und akuter Gedächtnisverlust letztendlich gleich. In Bezug zu unserem Thema ‚Vertrauen‘ hast Du mich gefragt, was es heißt, drei oder mehr Stunden auf der Bühne zu improvisieren, welche Art von Sicherheit einer solchen Aktion zu Grunde liegt und welcher Faktor die Inszenierung inspiriert und zusammenhält, wenn es kein detailliertes Libretto gibt. Alles das hat mit Gratwanderung und Seiltanz zu tun und mit Lampenfieber, genauso wie mit dem Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sämtliche Assoziationsketten instantan und temperiert in einen aussagekräftigen Fluss von Wörtern und Handlungen transformieren zu können. Allein, um Dir zu beschreiben, wann und wo die Faszination für die Bühne bei mir anfing, muss ich Dir zwei Geschichten erzählen. Die erste Geschichte handelt von der Züricher Hochschule der Künste und spielte sich in den vergangenen zehn Jahren ab. Die zweite Geschichte handelt von meiner Jugendzeit, als ich als Siebzehnjähriger in Rotterdam ein Jazzkonzert von Ornette Coleman miterlebte, das meine Haltung zur Welt tief greifend verändert hat, unmittelbar nachher und später auch immer wieder auf unterschiedlichen Ebenen der eigenen Aktion. Im Jahre 2000 wurde der deutsche Künstler-Kunsthistoriker Hans Peter Schwarz zum Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich ernannt. Bei seinem Antritt – zutiefst inspiriert von den disziplinübergreifenden Experimenten von Bauhaus und Black Mountain College präsentierte Schwarz die Vision einer Hochschule – ein offenes Haus der Kunst, das die transdisziplinären Tendenzen in der Gesellschaft und die kollektive Neugier auf das Andere in seinen Curricula kanalisieren wollte. Das Haus der Kunst verstand sich als kulturelle Produktionsstätte mit einer vom Gesamtkunstwerk abgeleiteten Ausdrucksform, für die Schwarz den Neologismus der Multimedia Opera entwickelte, eine Orientierung, die gleichermaßen als Ästhetik und Haltung begriffen werden sollte. Gestaltung sollte getanzt werden, so wie der Tanz die primäre Dynamik aller Künste sein sollte. Im Rahmen dieser Vision fragte mich Schwarz 2001, ob ich ein neues Curriculum entwickeln könne, das sich auf die konzeptuelle Achse zwischen Museum und Theater, zwischen Ausstellung und Bühne fokussieren sollte. Diese Studienrichtung, während ihrer Genese immer wieder als Auftakt für die anstehende Fusion von Hochschule für Gestaltung und Kunst und Hochschule für Musik und Theater betrachtet, wurde von mir Scenographical Design getauft und hat ab 2002 drei Generationen von Diplom-Studierenden und zwei Generationen von BachelorStudierenden aufgenommen, die als Szenografen ihren Weg in die internationale Praxis fanden. Aber, was ist eigentlich ein Szenograf? Was kann die Szenografie? Wie denkt der Szenograf?
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Ich war und bin immer noch der Meinung, dass man die Studierenden und sich selbst mit einer möglichst großen Komplexität konfrontieren sollte. Szenografen müssen lernen, mit Komplexität, mit einer Vielfalt von Sichtweisen und manchmal gegensätzlichen Haltungen intuitiv umzugehen. Ab der ersten Seminarstunde wird die bekannte Welt zum finsteren Labyrinth mit berauschenden Optionen, der sich nur mühsam eine sich entwickelnde Orientierung entgegensetzen kann. Es ging nicht mehr primär um den eleganten Entwurf, sondern um die Erfindung einer prägnanten Entwurfsstrategie, die tief im selbstdefinierten Inhalt wurzelte. Ein solcher Anspruch ist der eines Autors. Die Szenografen, die ich mir vorstellte, waren denn auch keine Gestalter, sondern Autoren. Aus diesem Ansatz ergab sich eine völlig andere Unterrichtskultur: eine Hochschulpraxis, die von cross-over und coteaching geprägt war, ein Hochschulalltag, in dem die Disziplinen und Jahrgänge projektbasiert gemischt waren, eine Hochschulgemeinschaft, in der die Beziehung von Dozenten und Studierenden nicht von irgendwelchen anderen Hierarchien dominiert war außer der horizontalen Hierarchie unterschiedlicher Erfahrung. Schwarz war mit diesem Programm völlig einverstanden, dessen Implementierung aber blieb akzidentiell, weil von Kollegen und Management bestritten. Zu komplex, zu viel durcheinander, zu teuer – das waren die bekannten Angriffe gegen eine als zu bedrohlich empfundene Freiheit. Obwohl das Institut top-down die Eigensinnigkeit predigte, konnte es die manifeste Eigensinnigkeit vom Arbeitsflur bottom-up kaum akzeptieren – was ich erst später erfahren habe. In dieser Zeit habe ich auch für mich das Potential der Bühne wiederentdeckt. Eine andersartige Interaktion zwischen Dozent und Studierenden setzt auch einen anderen Spielraum mit anderen Konventionen voraus. Ich fand es zum Beispiel wichtig, jede Vorlesung und Projekt-Präsentation als Performance zu verstehen. Jeder Studierende sollte sich die Dramaturgie seines Auftritts überlegen und ihn verteidigen. Jeder Dozierende sollte sich in seinen Seminaren und Vorlesungen regenerieren und neu erfinden, im übertragenen Sinne die Gefahrenzone der Spekulation betreten. Persönliche Hypothesen zu testen, in einem Terrain, wo nicht alles kartografiert ist und es kein ‚TomTom‘, keine Navigationshilfe gibt, das ist spekulative Theorie. Sich auf der Bühne in den Spielraum der Spekulation zu begeben, heißt, die Hypothesen auf die Rampe zu stellen und sie im Rampenlicht zu überprüfen. Bühnenprojekte im Unterricht sind deswegen interessant, weil sie in allen Phasen der Vorbereitung und eventuell auch der Aufführung eine andersartige Zusammenarbeit mit den Studierenden ermöglichen. In 2004, Mitte des zweiten Jahrgangs des Scenographical Design, spürte ich das Bedürfnis, das Konzept des Studiengangs auch einmal nach außen groß zu präsentieren. Format war die neue, von Schwarz initiierte Reihe von Ringvorlesungen, die sich auf Grenzgebiete des Designs und der Kunst ausrichten sollte. Ich hatte für meine Präsentation den Titel Reise in
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die Erlebniswüste. Ein extrem fokussierter Überblick eingetragen und wollte in einem satirischen, unterhaltenden, medial berauschenden Gestus Aspekte der Szenografie reflektieren. Mit etwa zehn Studierenden der ersten Generation wurde die Identität der Inszenierung im Vortragssaal diskutiert und erarbeitet. Die szenografische Orientierung kristallisierte im Stichwort Fremder Vogel, der auch als riesiger Strauß umgesetzt war. Der bunte Archäopteryx war mit kybernetischen Flügeln ausgestattet, die ihm zum Abheben dienen sollten, was aber nicht ganz gelang, weil ich seine Vertrauen erweckende Erscheinung als Stütze für meine Sicherheit brauchte. So standen und improvisierten wir, badeten im farblichen Licht und quadrofonischen Klang. Die Kollegen, die eine strukturierte Präsentation des Curriculums erwartet hatten, empfanden die obszenografische Natur und implizite Kritik als Affront. Doch, nie zuvor wurde eine Ringvorlesung so gut besucht. Nie wieder auch habe ich in Zürich ein Klima für solche Ereignisinszenierungen gespürt. Die Geschichte der ZHDK ist im Kern eine traurige Geschichte, weil sie verneint, was Bazon Brock in einem Appell auf unserem Symposion zum Vertrauen formuliert hat: „Exponiert euch! Musealisiert euch! Macht mich staunen!“ Wenn Brock leidenschaftlich zum Erstaunen aufruft, markiert er die Grenze eines Gebiets, das von Risiko dominiert wird. Unbekanntes Terrain, das ohne Gefahr nicht betreten werden kann. Gerade da steckt das Dilemma: Wie kann man das Neue oder das Andere ahnen, wenn erst alle Werte eine Umwertung verlangen? Oder besser: Wie schafft man die Voraussetzungen für eine neue oder andere Sicht der Dinge, wenn keiner bereit ist (und sich vertraut), die sicheren Grenzen der eigenen Anschauung zu verlassen? Die wachsende Unsicherheit über die materiellen und geistigen Voraussetzungen einer Existenz, in der eine dominante Orientierung für das Handeln im Schmelztiegel der Kulturen zu verschwinden droht, hat auch im Kunsthochschulunterricht in intellektueller Hinsicht einen Rückschlag eingeleitet, der – und da greift unser Szenografiediskurs an – nur kompensiert wird von mehr oder wenig spektakulären programmatischen Finten, die alle auf dem Wunsch oder der politischen Notwendigkeit zur so genannten gesellschaftlichen Relevanz basieren, de facto aber wird eine Tendenz schrumpfenden Denkens maskiert. Die Orientierung fehlt, also wird sie konstruiert, top-down. Nicht als berauschende Vision, die bottomup von der institutionellen Gemeinschaft getragen werden kann, so wie sich Schwarz das erwünscht hat, sondern als statistisch fundierte Prognose mit einem machbaren Grad politischer und technischer Sicherheit. Das Mantra der eigenen Wichtigkeit, deklamiert vom Management isolierter Fakultäten, gestützt von quasi intelligenten Marketingparolen, ist nichts anderes als der konditionierte Reflex eines politischkorrekten Kunstunterrichts. Robert Wilson würde sagen: „Burn the schools!“ –
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Die zweite Geschichte erzählt vom Musiker Ornette Coleman, der am 17. Februar 1968 im Konzertsaal De Doelen in Rotterdam auftrat. Es war mein erstes LiveJazzkonzert, zu dem mich Freunde eingeladen hatten. Der Ruf von Ornette Coleman als Erfinder und Autor des Free Jazz hatte auch bei mir alle Erwartungen in die Höhe geschraubt. Colemans Konzert war in der ersten Hälfte ein für seine Verhältnisse ganz normales, herkömmliches Konzert, das das Publikum gemäß seinen Erwartungen völlig zufrieden stimmte, obwohl sein Quartett eine unübliche Besetzung von Drums, zwei Bässen und Altsax hatte. Ein Klavier wurde nicht gespielt, da dieses Instrument, laut Coleman, nicht länger in der Lage war, die freie Improvisation mit neuen Impulsen anzuregen. Als wir aber nach der Pause in den Konzertsaal zurückkehrten, hatte sich die Situation der Bühne komplett transformiert. In der damaligen Zeit wurden Jazzkonzerte durchweg ohne elektrische Verstärkung mit akustischen Instrumenten in kleinen Lokalen gespielt. Wenn das Publikum zahlreich war, spielte man in Tonhallen, in denen der Raum als akustischer Verstärker diente. Nun aber war auf der Bühne eine Wand aus Lautsprechern aufgebaut – so kannte man das nur von Auftritten der Jimi Hendrix Experience. Es muss eine 4-teilige 1000-Watt-Marshall-Verstärkeranlage gewesen sein, die als 2x2 Matrix aufgebaut war, sodass die Controls und Steckanschlüsse sich oberhalb Kopfhöhe befanden. Allein die Präsenz dieser Apparate aus einer für den Jazz völlig fremden Welt trieb die Erwartungen zum Siedepunkt. Wer hatte damals ein Jazzkonzert mit elektrisch verstärkten Instrumenten miterlebt? Vermutlich keiner. Nach der Pause kam nicht das Ensemble, sondern nur Ornette Coleman solo die Treppe zur Bühne herunter, gekleidet wie in eine Schlangenhaut, in goldenen und schwarzen afrikanischen Klamotten. Auf dem Kopf trug er einen glänzenden Fez. Er hatte eine Geige dabei, mit einer Schnur, wie sie normalerweise zur elektrischen Gitarre gehört. Dann auf der Bühne ging Coleman in aller Ruhe auf die Marshall-Lautsprecherwand zu und steckte seine Geige ein. Obwohl mir einigermaßen bekannt war, wie die Lautsprecher eines angeschalteten 1000-WattVerstärkersystems reagieren würden, wenn man ein Instrument einsteckt, war der Moment von Coleman doch als veritabler Schock inszeniert. KRRahhKK! In einer Millisekunde wurde klar, wie die Akustik des Doelensaals auf einen solchen Impuls reagierte. Einmal on-line, fängt Coleman an, die Geige zu testen. Er spielt kontinuierlich eine Note, wobei er den Bogen quasi als Säge einsetzt. Nach einer Weile erreicht der monotone Lärm die Schmerzgrenze. Coleman hört nicht auf, hält den Sägeton an, bis die Empörung des Publikums sich als Unruhe zu manifestieren beginnt. So geht es eine Weile weiter. Die ersten Leute stehen auf, dann ganze Gruppen. Coleman sägt weiter. Einige Leute verlassen wütend den Saal. Coleman hört nicht auf. Alle Konventionen der Konzertgänger werden geprüft und bei manchen zerbrochen.
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Die Konventionalisten gehen, der Rest bleibt. Dann, nachdem der Saal sich wieder beruhigt hat und Coleman die Überzeugten mit dieser isolierten Note quasi durch musikalisches wasteland hindurch geführt hat, kamen die anderen Mitglieder seines Ensembles die Treppe zur Bühne herunter. Das Schlagzeug legte ein rhythmisches Muster unter den noch immer anhaltenden Geigenton. Die zwei Bässe generierten melodische Ausbrüche, die Coleman als Geiger entfesselten. Es folgte ein Konzert, das für mich in der Intensität nur vergleichbar ist mit dem außerordentlichen musikalischen Kampf der Saxophon-Titanen John Coltrane und Pharaoh Sanders im Stück Selflessness. Der Impact bei Coleman aber war szenografischer Natur. Es war die Radikalität der wohltemperierten Performance, der als akute Wasserscheide diente, mit der Coleman mich tief inspiriert hat. Wie Du weißt und vielleicht jetzt besser nachvollziehen kannst, betrachte ich die Szenografie ganz romantisch im Kern als eine Art quantenmechanischer Unsicherheit, deren Position vis-à-vis (bezüglich Ereignis und Semantik) von William Shakespeare im Hamlet aus dem Jahre 1600 treffend beschrieben wurde. In der deutschen Übersetzung von A.W. Schlegel von 1798 sagt Hamlet in der zweiten Szene, fünfter Akt: „Nein, ja nicht! Ich trotze allen Vorbedeutungen; es waltet eine besondere Vorsehung über den Fall eines Sperlings. Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles.“ Heute Abend wird das WM-Endspiel Holland-Spanien ausgetragen. Prime time für Inszenatoren. Der Grundton ist – nach der wochenlangen akustischen
Abb.1 Frank den Oudsten: Performance zu ‚Blind Faith‘, Dortmund, 13.12.2009.
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Massage – tief im corpum callosum des kollektiven Vertrauens eingebettet. Die Vuvuzela-Szenografie wird die Grenzen einer mondi-medialen Extase erreichen: „If it be now, ‘tis not to come. If it be not to come, it will be now. If it be not now, yet it will come: the readiness is all.“ Die schwankende Grenze ist das Mantra. Mal schauen, wie es mit Hollands Bereitschaft zum Weltmeister steht. Frank den Oudsten
Meerbusch, 23. Juli 2010 Lieber Frank, Ich danke Dir für deinen Brief, der so offenherzig die Probleme der szenografischen Ausbildung anspricht. Leider hat das Endspiel (nicht das von Hamm und Clov) gezeigt, dass die Mannschaft mit dem geringsten Risiko gewinnt – quasi in italienischer, neuerdings spanischer 1:0-Manier. Das ist eben nicht das, was Du unter einer szenografischen Leistung verstehst. Dein Argument zielt eher auf das Balancieren auf der Grenzlinie, der nietzscheanische Seiltanz, der die risikoscheuen Sicherheitsoptimierungen selber scheut. Zurück zur Sache: Ich möchte unsere Ausführungen zu Sicherung und Risiko des Gedächtnisvollzugs in der Phantasie ergänzen. Meine szenografischen Erfahrungen sind so alt, wie meine Erinnerungen reichen. Im Alter von drei oder vier Jahren habe ich auf einem der ersten sehr schlechten Fernsehapparate der frühen 60er Jahre Peterchens Mondfahrt 2 gesehen. Die Bühnenausstattung des Spiels war erbärmlich, und hätte ich damals schon Jules Vernes Von der Erde zum Mond gelesen, ich hätte gewusst, das Szenografie auch ein amerikanisches Geschäft ist, nämlich die Unwägbarkeit des Fiskaltausches durch technische Artillerie in Visualisierungen einzutauschen. Im Fernsehen waren damals aber auch die Kindersendungen noch Kammerspiel und forderten die Phantasie heraus. Die schlechte Bildqualität ergab eine weitere Abstraktion. Noch ist niemandem gelungen (Sohn-Rethel, Marx und Max Weber haben es versucht), den Tausch von Geld gegen Ware, dieses Mirakel des Kapitalismus, in seiner Bewegung sinnfällig zu machen, und zwar gerade in dem Moment, in dem im Tauschakt die Nichtäquivalenz den opferlosen Rücktauschs unmöglich macht. Wie kommt man durch ein Äquivalent an Arbeit an ein Stück Brot oder in ein Konzert, wenn im Gelde nicht schon eine Äquivalenz nur vorgespiegelt wird? Im Warentausch wird das Unvergleichliche vergleichbar gemacht. Der Applaus als Kurswert der Bühnendarstellung ist ebenfalls nur organisierter Lärm, der als Abstraktum einer Sprache der Neutralisierung organisiert. In der Vergleichung des Unvergleichbaren hilft vorerst nur blindes Vertrauen an die Fetischkraft des 2
Gerdt von Bassewitz: Peterchens Mondfahrt (*1915).
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Geldes. In Vernes Von der Erde zum Mond (Direkte Fahrt in 97 Stunden und 20 Minuten; 1867) wird ja auch gerade eine mögliche Rückkehr ausgespart und damit der freien Phantasie unterstellt. Vielleicht ist das Faszinosum jeder Inszenierung darin begründet, dass sie (im Gegensatz zum Rausch des Traditionalismus) den Rücktausch ermöglicht. Zu jener Zeit, als meine Erinnerungen wach wurden, ist mein Bruder Peter im Alter von drei Wochen verstorben. Ich habe keinerlei Erinnerung an dieses Ereignis, aber offensichtlich ist mit ‚Peterchens Mondfahrt‘ eine unbewusste Assoziation an eine Fahrt verknüpft, von der man nicht zurückkehren wird. Vielleicht kommt daher mein ambivalentes Verhältnis zur Rationalität, wie wohl bei vielen Gestaltern. Diese Überlegung lässt mich auf ein zentrales Desiderat Deines Briefes zu sprechen kommen. Am Anfang stellst Du Dir die Frage, was die Szenografie ist, im Zusammenhang mit der Emphase, die man einem Anderen benennbar machen will. Wie soll
Abb.2 Jules Verne: Die Reise zum Mond. Originalillustration nach der Erstausgabe von J. Hetzel, Paris 1867.
Szenografie gelehrt werden? Vielleicht sind die Versuche der suchenden Benennung von Sichtweisen, die wir im Begriff ‚Szenologie‘ versammeln, auch Erkundungen der Namengebung von etwas, das (noch nicht?) eine eigene Sprache ist, das auch kein eigenes Medium darstellt, sondern einen Zustand der Protomedialität, einen
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Vorzustand der Kontingenz, der die (technische) Sicherheit und realitätserzeugende Kraft eines modernen Mediums noch nicht erreicht hat; ein Gespenst, das zwischen den unterschiedlichsten Kräften wandert, namenlos, ziellos, ohne Tod, als Geist (Hamlet!), der über den Spielraum der Möglichkeiten wacht … im Niemandsland zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Erde und Mond. Ich scheu mich, das einfach ‚Raum‘ zu nennen. Mit dieser Einsicht ist mehr gewonnen, als sich auf die Seite von Rationalismus und Wissenschaftlichkeit oder Kreativität und Intuition zu schlagen. Es war auch Jules Verne, der den nahezu perfekten Tausch von setzender Rationalität in inszenierten Reisen durchdacht hat. Autorschaft ist in Deinem Sinne nicht eine Form der Begriffsbildung, sondern eine Sprachfindung, eine Taufe, unter deren Stern der Benannte sein Leben ausrichten kann, Inszenierung des Ursprungs an Stelle der stets unwägbaren und erdrückenden Vaterschaft – so auch wenigstens der berühmte Hinweis Walter Benjamins an die Tauschgenealogie Sohn-Rethels: „Und wenn ich ein Buch lese?“
Abb.3 Kapsel der Apollo 8-Astronauten Borman Lovell und Anders nach ihrer erfolgreichen Rückkehr am 27. Dezember 1968.
Die Romane von Verne sind in diesem Sinne den technischen Sprachen verpflichtet, zeigen aber kritisch, wenn auch durch Ironie im Geist der romantischen Literaturauffassung, deren Grenzen auf: Fortschritt scheint geradezu der Ausweis von Rückkehrlosigkeit zu sein.
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Der magische Akt der Benennung markiert ein erstes Selbst der Erfahrung zwischen der Realität und dem Imaginären. Ich glaube, es ist in deinem Sinne, wenn wir das als poetische Form verstehen, die zu lehren in Zeiten der Wissensökonomisierung und -äquivalenz Konfliktpotential birgt. Das Wissen, das man noch so im Schnelldurchgang in Massenhochschulen lehrt, haben die Maschinen schon übernommen. Und die können es besser. Das hybride Modell von Verne mit der Kombination aus Phantast und Ingenieur ist vielleicht die Grenze dessen, was in der Ausbildung gerade noch geduldet wird (mehr Ingenieur, scheint mir). Es bleibt aber auch am Telos des Ingenieurs die Frage offen, die Kritik Vernes sichtbar: Wie kommt man vom Mond zurück, den zu erreichen den Technikern zur Gewohntheit geworden ist? Dass die Mondfahrt in den 70er Jahren ihr rasches Ende fand, zeigt, wie wenig sie zur Befreidigung der Sehnsüchte taugte. Dennoch, vertraut wird den Mondfahrern auch die Organisation der Rückreise, wie Verne zum Ende seiner Geschichte resümiert: „Zudem weiß ich, daß es kluge, erfinderische Männer sind, die alle Hilfsquellen der Kunst, der Wissenschaft bei sich haben. Damit richtet man aus, was man will, und ich bin völlig sicher, daß sie ihr Schicksal meistern werden!“ Wir in Dortmund sind jedenfalls „in Bereitschaft“ und versuchen auf dem doch ungefährlicheren Terrain der Sprache, der Reflexion und des Denkens auszutesten, was geht: The readiness is all. – Apropos das Risiko einer Fremdsprache auf mich nehmend: readiness kommt doch von lesen, und lesen heißt versammeln, und versammeln heißt doch zur Szene versammeln? Wäre das nicht ein unvergleichlicher Weg, die Szenografie als Technik der Verschriftung zu verstehen, der Markierung und des lesenden Abschreitens des fraktalen ‚Raumes‘ (auch in all seinen gebrochenen Dimensionen) ohne cartesianischen Nullpunkt: Topologie, Chronologie, Szenologie? Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Arbeit der Szenografie das ewige Kreisen um einen verlorenen und niemals heimzuholenden Ursprung, nach Benjamin, die Kindheit, die die Heimat des Spiels ist. Ralf Bohn
Amsterdam, 16. September 2010 Lieber Ralf, Verzeihe mir die lange Funkstille: es war Urlaubszeit. Danke auch für Deinen anregenden Brief, der seine Aktualität neulich noch in meiner Praxis beweisen konnte, als ich letztes Wochenende in Basel als Tagesvorsitzender der EIS-Jury (Europäische Initiative Szenografie) einen Nachwuchswettbewerb in den Kategorien exhibition design und performance arts zu bewerten hatte, wobei das Problem der Benennung, das Du zu Recht betonst, die Debatte und die Entscheidungsbildung dominierte.
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Warum werden die Sphären der Szenografie überhaupt als Kategorien getrennt? Nur, weil ihre Realisierung eine andere praktische Expertise voraussetzt? Aber davon soll hier nicht die Rede sein. Die Manifestation wäre nicht das Problem, es ist gerade die Phase der Invention, die eine sinnstiftende Orientierung, eine innere Logik und Relevanz zu erfinden hat. Für die Metaphysik der Szenografie fehlt die Terminologie und auch das Idiom, so dass dein Weg der Szenologie, der von mir anfangs als zu artifiziell betrachtet wurde und der im angelsächsischen Raum mit dem Terminus „Scenology“ meines Erachtens gewiss auf Befremden stoßen würde, in der heutigen Übergangsphase des neu zu definierenden Fachgebiet, doch funktionell die Geburt dieser paradoxen Sprache der Sprachlosigkeit einleiten könnte. Das ist das Gewicht der Benennung, wenn diese sich überhaupt sinnvoll an die Ereignisse heften kann. Ist die Szenografie nicht fundamental von schwarzen, unbenennbaren Löchern bestimmt? Einfach, weil sie ein ephemeres Potential freizusetzen hat, das genauso ephemer tausend Interpretationen zulässt? Die Szenografie wird von Dir treffend als semantisches Kraftfeld beschrieben, das „noch nicht eine eigene Sprache ist, das auch kein eigenes Medium darstellt, sondern einen Zustand der Protomedialität, einen Vorzustand der Kontingenz“. Das ist ganz in meinem quantenmechanischen Sinne. Gewiss, die Szenografie ist „ein Gespenst, das zwischen den unterschiedlichsten Kräften wandert, namenlos, ziellos, ohne Tod, als Geist ...“ Und meinetwegen auch als religionsloser Gott oder fließende Wahrheit – als Proteus also, dessen Erscheinung sich verwandelt, wenn man sich ihm nähert. Was ist Szenografie im diskursiven Sinne? Ist sie nicht immer die Fahrt zum Mond und zurück? – während die merkantile Szenografie sich nur um den Hinweg kümmert und, so wie Verne, die Rückfahrt den Experten der Kunst und Wissenschaft anvertraut? Wenn es uns um den relevanten Diskurs geht, sollten wir die Rückfahrt miterfinden. Immer wieder. Das könnte man tatsächlich als das ewige Kreisen um einen verlorenen und niemals heimzuholenden Ursprung: die Kindheit, betrachten, wie Du meinst. Nur, auch hier gibt es keinen cartesianischen Nullpunkt: auch die Kindheit ist fließender Zustand, sodass das Spiel, wenn richtig gespielt, uns ein ganzes Leben lang heimbringen kann. Heim ist, wo der Herd ist, und im Herd brennt das Feuer unserer Imagination. So ist es: Ich bin Herr Sumsemann, der Maikäfer aus Peterchens Mondfahrt, und die Kindheit ist mein verlorenes, sechstes Beinchen, das ich vom Mond zurückzuholen versuche. Wenn die Erzählung berauscht, gelingt das gewiss. Das Problem liegt anderswo: Im spektakulären Märchen unserer Welt verliert jeder Mann und jede Frau unaufhörlich ein sechstes Bein und somit die symmetrische Balance. Die alltägliche Schlittenfahrt auf der Milchstraße schafft erst merkantile Szenografie. Die narrative Luftbrücke aber, vom Mond zur Erde zurück, ist unsere diskursive Aufgabe, für die wir im Sinne der Reästhetisierung der Abstraktionen einstehen.
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Der Kreislauf von Erinnerung, Ereignis, Benennung und Imagination schließt sich. Dann ist alles Sprache und Interpretation, elastisch, vorübergehend, instabil. Im Unterchied zu Dir halte ich auch das Terrain der Reflexion und der Benennung für risikovoll. In der Szenologie gilt es, genauso gut in Bereitschaft zu sein. Das hat nicht so sehr mit der Lesbarkeit der Dinge zu tun, sondern mit der Mentalität des Lesers. Denn readiness kommt etymologisch nicht von to read, (be)raten – sondern von ready, bereit. Trotzdem trifft dein unvergleichlicher Weg von lesen, versammeln, inszenieren, in den Raum hineinschreiben, den Kern. Szenografie hat alles mit Markierung und Raumlesen zu tun. Ich möchte sie aber nicht als Technik, sondern als Kunst der Verschriftung verstehen, als poiesis statt techne. Die Szenografie ist näher an der Kunst als am Design, weil sie primär auf die weichen Parameter der Situation fokussiert. Ein Kraftfeld verdichtet sich, bis die semantische Ladung am Schauplatz die Densität von Sprache erreicht und die Idee sich in einer Form kristallisiert, die spricht. Dieses Kraftfeld, die Semantik am Schauplatz und die sprachliche Prägnanz sind komplexe Funktionen von Ort und Zeit. Die Fahrt vom Mond zur Erde zurück ist daher ein Seiltanz, ein offenes Kunstwerk also. Frank den Oudsten
Meerbusch, 20. September 2010 Lieber Frank, Funkstille tritt ein, wenn die Astronauten den Mond umrunden und aus dem Funkschatten wieder zur Erde fahren – das habe ich Weihnachten 1968 beim Flug von Apollo 8 ergriffen verfolgt. Auch weil zum ersten Mal Menschen die Rückseite des Mondes betrachten konnten und sich die Chimären von seiner Besiedlung noch hielten. Mit Recht bringst du jetzt mein begriffliches Mondgestein wieder zur Erde zurück: Bereit (ready?) heißt für eine Fahrt gerüstet (beritten) zu sein. Beim Lesen gleitet diese Fahrt über die Buchstaben hinaus. Deswegen wohl meine überschießende Etymologie. Gerüstet für die Fahrt des Lesens heißt aber auch, eine glückliche Verbindung von Wissen und Erfahrung zu investieren, auch gerade poietisch. Und da können unsere Studenten zwar bis zur Perfektion in Photoshop agieren, nicht aber das Vorwort zu ihren Fotobüchern schreiben. In dieser Hinsicht spreche ich mich ganz einfach für einen besseren Umgang mit Grammatik, Rhetorik und Dramatik aus, um das Risiko einzuschätzen, dass mit der Verwirklichung eingegangen wird. Freilich: auch die Begriffe und gerade sie taugen zur sichernden Risikoüberschreitung. Das ist der Unterschied zwischen Begriffen und Formeln. Das Thema Vertrauen, so haben wir wohl beide verstanden, spricht stets die Frage der Rücktauschbarkeit an, ist mehr als Kreditierung. Hier können wir in
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die Logik der Szene einsteigen: Sie muss ihr Äquivalent in der ästhetischen Praxis haben und unterscheidet sich dadurch von einer Topologie, die auch rein abstrakt mit mehrdimensionalen Räumen und völliger Unanschaulichkeit rechnen kann. Im Übrigen sind die von Dir genannten komplexen Funktionen von Ort und Zeit Rationalisierungen. Träume und Phantasien gehorchen gerade dieser Rationalität nicht, jedoch einer anderen, zu entdeckenden. Sie sind alles andere als „irrational“. In einer ästhetischen Praxis werden Träume und Phantasien zu komplexen Funktionen von Ort und Zeit, sobald sie sich in Material und Medien der Szenografie manifestieren. In der Äbwägung dieses Übergangs liegt der Ereignishorizont des Szenografen. Es gibt eine andere, zu entdeckende Wirklichkeit. Szenologie dagegen ist differenzierende Kritik der Logik ästhetischer Erscheinungen in Bezug auf die menschlichen Bewegungen (Gesten, Reisen). Ihr Medium ist die Repräsentation des Gedankens im generativen Systemen (Sprachlichkeiten), dann auch der geschriebenen (graphein) Sprache und natürlich die der ‚Medialitäten‘. So passt die Szenifikation der Reise Sumsemanns: Nur vom „Mond“, also aus der utopischen Perspektive, ist der opferlose Rücktausch gewährt, nämlich in der medial negativen Einbildungskraft. Als Peterchen und Anneliese aus ihrem Traum erwachen, sind alle fehlenden Dinge wieder da. Wird die negative Logik des Mediums Phantasie dagegen missachtet, wie in Vernes Darlegung der „Reise zum Mond“, die ja technisch realisiert wird, bleibt die Rückkehr verwehrt. Diese Argumentation schützt vor dem Glauben, alles sei Szenografie. Sie ist es nur dann, wenn die Möglichkeit mitbedacht wird, zur Ausgangsposition (wenn auch nur vergleichend) zurückzukehren. Dazu gehört sicher auch der Kreisgedanke in der Topologie der Szene, aber auch die Geschichte von Hans im Glück. Sie spricht vom Glück der Heimkehr und vom vertrauensblinden Rücktausch des Arbeitslohnes, als gäbe es eine Negation von Arbeit. Dramaturgisch relevant werden diese „Reisen des Helden“ deswegen, weil die Einsicht in die reversible Logik gelingenden Rücktauschs nur im Vergessen liegen kann, das sich aber nicht rationalisieren lässt. Man kann Vergessen nicht anbefehlen. Und bekanntlich ist Vergessen – nach Freud – eine Unmöglichkeit. Diese logische Unmöglichkeit wird in jeder Inszenierung (in einer Logik des Spiels) als Ort der Verdrängung der Realitäten inszeniert. Vielleicht ist es einmal möglich, vom kritischen Standpunkt Vernes aus die Logik der Szenografie, Reise- und Medientechniken als Verdrängungsmaschinen, zu untersuchen; perverse, obszöne Maschinen, mit denen man in die Phantasie hinein und sicher aus ihr hinaus fände. Damit würden wir aber in einen anderen Kreis von Fragen eintreten. Ich meine, diese Verdrängungsleistung der Rationalisierung selbst (ihre Selbstinszenierungshysterie), das ist es, was Freud als Urszene bezeichnet, und was aufgrund der Selbstbezüge und fehlender Implikation eines Dritten nur schwer in Balance gehalten werden kann. Ralf Bohn
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Die Autoren PROF. DR. GERNOT BÖHME
Professor (Emeritus) für Philosophie. Promotion 1965 in Hamburg, Habilitation für Philosophie in München 1972. Seit 2005 Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie, e.V., IPPh., www. ipph-darmstadt.de. Arbeiten zur Zeittheorie, klassischen Philosophie (bes. zu Platon und Kant), zur philosophischen Anthropologie, Wissenschaftsforschung (Finalisierungsthese), Goetheforschung. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Ästhetik (bes. Naturästhetik), Ethik und Theorie der technischen Zivilisation, Selbstkultivierung.
PROF. DR. RALF BOHN, DIPL.-DES.
Studium Philosophie, Literatur, Design. Diplomarbeit über Allegorie und urbane Signifikationen. Promoviert bei Rudolf Heinz (Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens bei Robert Musil, Würzburg 1988); Habilitation bei Bazon Brock (Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004). Seit 1981 Creative Director, Konzeptioner, Texter und Autor. Seit 2007 Professor für Medienwissenschaften am FB Design der FH Dortmund. Zahlreiche Monografien, u.a.: Verführungskunst. Politische Fiktion und ästhetische Legitimation, Wien 1994. Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium, Würzburg 2005; Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee, Bielefeld 2009, Szenografie & Szenologie Bd.2. Zusammen mit Heiner Wilharm Herausgeber der Reihe „Szenografie & Szenologie“ im transcript Verlag, Bielefeld.
PROF. DR. THEA BREJZEK
Theaterwissenschaftlerin. Professorin und Leiterin des Doktoratsprogramms Szenografie, Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) / Universität Wien http://sceno.zhdk.ch Bis zur Aufnahme ihrer Lehrtätigkeit als Musiktheater-Regisseurin (Oper und Neue Musik) tätig. Kuratorin für Theorie der Prague Quadrennial for Performance Design and Space. Veröffentlichungen (Auswahl): From social network to urban intervention: On the scenographies of flash mobs and urban swarms’, in: International Journal of Performance Arts and Digital Media 6.1.109_1; A Theatre of Ghosts? Some Thoughts relating to the Representation of Art and Scenography. In: Exhibition on the Stage, Prague 2008; Physicality and Virtuality: Memory, Space and Actor on the Mediated Stage. In: The Potentials of Spaces, Bristol 2006; Szenographie, in: Raumwissenschaften, Frankfurt a. Main 2008 (mit G. Mueller von der Haegen, L. Wallen), Monitoring
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Scenography Volumes 1-3: Space and Power/Truth/Desire (Hg., mit W.Greisenegger und L.Wallen), ZHdK Zürich 2008-10. Inszenierungen (Auswahl): Ariadne auf Naxos (R. Strauss), Opera Australia, Sydney; As I Crossed a Bridge of Dreams UA (Eötvös), Donaueschinger Musiktage/ Ensemble Intercontemporain, Paris; IOSIS UA (Gesualdo et al), Eclat Festival für Neue Musik, Stuttgart.
PROF. UWE R. BRÜCKNER
Professor für Ausstellungsgestaltung und Szenografie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel, ist der kreative Kopf des Stuttgarter Atelier Brückner. 1957 in Hersbruck geboren, absolvierte er von 1978 bis 1984 ein Architekturstudium an der TU München. Später ergänzte er seinen Bildungsweg um ein Kostüm- und Bühnenbildstudium, welches er 1992 an der Stuttgarter Kunstakademie abschloss. Zwischen beiden Studien wirkte Uwe R. Brückner im Architekturbüro Prof. Sampo Widmann in München; im Anschluss daran arbeitete er im Stuttgarter Atelier Lohrer. 1993 gründete er das Atelier Brückner in Stuttgart. In seiner heutigen Form etablierte es sich 1997 infolge der Ausstellung Expedition Titanic in Hamburg, die zu den erfolgreichsten Ausstellungen in Deutschland zählt. Zum derzeitigen Zeitpunkt sind im Atelier rund 60 Mitarbeiter aus neun unterschiedlichen Berufssparten tätig: Architekten, Bühnenbildner, Innenarchitekten, Lichtgestalter, Kommunikationsdesigner, Grafiker, Produktgestalter, Dramaturgen und Kunsthistoriker. Seit 1997 übernimmt Uwe R. Brückner regelmäßig Lehraufträge, so zum Beispiel an der Universität Stuttgart, der Fachhochschule Köln, der HfG Karlsruhe, der KHM Köln und der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGK) in Basel. 2003 wurde ihm die Professur für Ausstellungsgestaltung und Szenografie an der HGK übertragen, angesiedelt im Institut für Innenarchitektur und Szenografie, zu dessen Gründungsmitgliedern Uwe R. Brückner zählt. Seit 2002 ist Uwe R. Brückner Mitglied im Art Directors Club Deutschland, Abteilung „Kommunikation und Raum“. In den D&AD London wurde er im Jahr 2007 aufgenommen.
DR. ANDREAS CUSUMANO
Fellow am Goldsmith, Department of Drama, University of London. Dozent in MA Performance Theory and Practice und MA Creative Practice for Narrative Environment am Central Saint Martins College of Art and Design. Visiting Lecturer am Rose Bruford College. Leiter des O.M.Theatre Orchestra, mit dem er an zahlrei-
DIE AUTOREN 383
chen Orten in Europa gespielt hat. Cusumano ist Mitbegründer und Präsident des CeSDAS (Space Applied Dramaturgy Experimentation Centre) in Palermo. Arbeitsschwerpunkte: Theater, Live Art, Malerei und Installation. Eine Vielzahl an Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Theaterprojekten.
PROF. DIPL.-ING. BERNHARD FRANKEN
Beendete sein Studium als Dipl.-Ing. Architekt 1996 an der TU Darmstadt und an der Städelschule, Institut für Neue Medien, Frankfurt. Nachdem er 5 Jahre freiberuflich für ABB Architekten arbeitete, bildete er von 2000-2002 eine Arbeitsgemeinschaft mit ABB. 2002 gründete er Franken Architekten GmbH, 2008 Franken Consulting GmbH und Franken/Nguyen Consulting Ltd., 2009 Franken/Nguyen Development GmbH. Seit 2010 Professor an der FH Frankfurt für Digitales Entwerfen. Ab 1996 Gastprofessor, unter anderem an der Universität Kassel und der SCI-Arc in Los Angeles tätig. Franken Architekten entwickeln narrative Konzepte und Umsetzungen für Corporate Architecture, Städte- und Wohnungsbau, Hotel und Gastronomie, Bürogebäude, Retail, Museen, Ausstellungen, Messeauftritte, Corporate Design, Installationen, Erlebnis- und Markenwelten. Eines der aktuellen Projekte ist das städtebauliche Projekt „U-Silk City“ in Hanoi (größtes im Bau befindliches Projekt in Vietnam). Frankens Projekte wurden weltweit in der Fachpresse veröffentlicht und mit über 45 Awards im Bereich Architektur und Design ausgezeichnet. Neben der ersten Einzelausstellung 2008 im Deutschen Architektur Zentrum Berlin fanden Gruppenausstellungen wie Blobmaster im DAM, BIACF in Korea und Performalism im Tel Aviv Museum of Art statt.
PROF. DR. LUDWIG FROMM
geboren 1950 im Eichsfeld, 1968-1973 Studium an der HAB Weimar. 1974-1980 Mitarbeit in Architekturbüros in Berlin, Paris und Wien, 1980-1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin. 1981 Bürogründung mit Günther Fischer. Planung, Gutachten, Wettbewerbe, Preise und Auszeichnungen, Journalistische Tätigkeit, Preisrichtertätigkeit, Ausstellungen; 1984 Aufnahme in den BDA-Berlin; Promotion an der TU-Berlin. Seit 1993 Professur an der Muthesius-Hochschule in Kiel, von 19992005 Rektor der Muthesius-Hochschule in Kiel; 2005-2006 Gründungsrektor der Muthesius Kunsthochschule. Seit 2005 Prof. im Bereich Raumstrategien, Lehrgebiet Raum, Ensemble und Wirkung; seit 2004 Mitglied im Beirat für Stadtgestaltung Kiel; seit 2006 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Schleswig-Holsteinigen
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Freilichtmuseums Molfsee e.V.; seit 2006 Mitglied im Programmrat der HeinrichBöll-Stiftung SH – anders lernen e.V.; seit 2008 Mitglied im Fachausschuss Sportboothäfen und wassertouristische Anlagen der Hafentechnischen Gesellschaft (HTG). Praktische Tätigkeiten/Arbeiten: In der Bürogemeinschaft Fischer/Fromm und Partner: Wohnungsbauten, Städtebauliche Projekte und Realisierungen, Gewerbebauten, Kulturbauten, Museumsbau, Denkmalschutz und diverse Wettbewerbe. In der Arbeitsgemeinschaft Living_on_Water: Maritime Projekte und Hausboote. – In Zusammenarbeit mit dem Art Department Studio Babelsberg: Ausstellungsprojekte, Inszenierungen, Design und Content.
PROF. HEIDE HAGEBÖLLING, DIPL.-DES.
Professorin an der KHM Köln. Lehrt Video/interaktive Medien & Szenografie und etablierte den Bereich der interaktiven Dramaturgien. Ihre akademische und künstlerische Tätigkeit befasst sich mit den Beziehungen von Kunst, Design, neuen Medien und Kultur. In diesem Bereich organisierte sie internationale Kolloquien u.a. für die UNESCO, Paris. Beteiligung an Gruppenausstellungen und Veranstaltungen u.a. Centre Pompidou, Paris; Bauhaus Museum, Berlin; Ars Electronica, Linz; L’Immagine Elettronica, Bologna; Cité des Sciences/La Villette, Paris; Imagina, Monte Carlo and MILIA, Cannes. Ihre Arbeit und Lehre betrachtet Heide Hagebölling als offenen Prozess für künstlerische Entwicklungen und Forschung auch in interdisziplinären Begegnungen mit Musik, Tanz, Theater und Architektur. Vorlesungen und Präsentationen u.a. Harvard University; University of Pennsylvania; MIT; New York University; Pratt Institute, NY; University of Art and Design Helsinki; University of Art; Université Paris VI; Tongji University Shanghai, Renmin University, Bejing, China. Art-Direktion/Konzeption für multimediale Projekte und Events u.a. für Internationes/Goethe Institut (1994); Post- und Kommunikationsmuseum Frankfurt 1986-88; Deutsches Post- und Telekomministerium, Bonn 1987; im Bereich Architektur/öffentlicher Raum und mediale Kunst u.a Zeidler Architekten, Toronto/London 1992; Multi-Media-Station Köln 1992-95; Informationssphären EXPO 2000, Hannover. Publikationen u.a.: „Interactive Dramaturgies“, „Pablo Picasso in Documentary Films“, gemeinsam mit Manfred Eisenbeis „Synthesis – the Visual Arts in the Electronic Culture“. Mitglied der European Academy of Sciences, Arts and the Humanities, Paris. 1992 Erhalt der Miró-Medaille der UNESCO.
DIE AUTOREN 385
PROF. DR. RUDOLF HEINZ
Universitätsprofessor i. R. für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; psychoanalytische Ausbildung, kontinuierliche klinische Tätigkeit mit Schwerpunkt auf Supervision. Zurzeit Mitarbeiter in den „Klinischen Einrichtungen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf/LVR-Klinikum“. Publikatorisch spezialisiert auf das Wechselverhältnis zwischen Philosophie und Psychopathologie (Psychoanalyse); zahlreiche Fachpublikationen. Aufsätze und Monografien, erschienen und erscheinen in den Verlagen Die Blaue Eule, Essen; Passagen Verlag, Wien; Peras Verlag, Düsseldorf
PROF. DR. HANS DIETER HUBER
Geboren 1953, lebt in Stuttgart. Studium der Malerei und Graphik sowie der Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie. Promotion 1986 in Kunstgeschichte (System und Wirkung. Interpretation und Bedeutung zeitgenössischer Kunst. München 1989, Assistent an der Universität Heidelberg; wiss. Mitarbeiter an der Städtischen Kunsthalle Mannheim. Habilitation Universität Heidelberg mit einer Arbeit über Veronese. 1997-1999 Prof. für Kunstgeschichte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig. Seit 1999 Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. 2000-2004 leitete er das Modellprojekt Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter im Rahmen des Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter. 20012003 wissenschaftlicher Berater des EU-Projektes 404 Object Not Found. Was bleibt von der Medienkunst? Fragen der Produktion, Präsentation und Konservierung von Medienkunst. Seit 2006 Leiter des Intern. MA-Studiengang, Konservierung Neuer Medien und digitaler Information an der Staatl. Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Von 2006 bis 2009 als Professor am Graduiertenkolleg Bild, Körper, Medium an der HfG Karlsruhe assoziiert. Wichtige Monografien: System und Wirkung. Interpretation und Bedeutung zeitgenössischer Kunst, 1989; Dan Graham. Interviews. Ostfildern 1997; (zus. mit H.Locher u. K. Schulte): Kunst des Ausstellens, 2002; (zus. mit B. Lockemann u. M. Scheibel): Bild Medien Wissen, 2002; Bild, Beobachter, Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft, 2004; Paolo Veronese. Kunst als soziales System, 2005; Kunst als soziale Konstruktion, 2007; Der Zugang zum Schönen. Bilder in der Erlebnisgesellschaft, 2010 (in Vorbereitung).
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PROF. DR. ALEXANDER KLUGE
Geboren 1932 in Halberstadt. Als Dr. jur wurde er juristischer Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Vertrauter von T. W. Adorno. Anfang der 60er Jahre wurde Kluge als Schriftsteller und Filmemacher bekannt. 1966 erhält er als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig für „Abschied von Gestern“ mit Alexandra Kluge in der Hauptrolle. Spiritus rector des deutschen Autorenfilms. Bis Mitte der achtziger Jahre veröffentlicht Kluge 14 abendfüllende Spielfilme, schreibt er mehrere Bände Geschichten und setzt zusammen mit Oskar Negt die Kritische Theorie philosophisch-soziologisch fort. Ab 1988 führt Kluge das Konzept der Politik der Autoren in Kulturfenstern im Privatfernsehen fort. In knapp 20 Jahren entstehen ca. 1500 Stunden Sendezeit (öffentliche und private Sender) aus Gesprächen mit Künstlern, Wissenschaftlern, Musikern, Filmern, Schriftstellern, Politikern, aber auch mit neuen TV-Formaten wie Musikmagazinen, Bildern ohne Worte oder der bekannten Reihe Facts & Fakes. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts meldet er sich auch wieder als literarischer Autor mit mehreren umfangreichen Erzählungsbänden zurück (Bremer Literaturpreis zum zweiten Mal 2001, Büchner Preis 2003). Wenn Kluge sich literarisch, in Bildern und wissenschaftlich in Begriffen äußert, so handelt es sich weder um verschiedene Themen, schon gar nicht um verschiedene Ziele, sondern um unterschiedliche Ausdrucksformen ein- und derselben Sache: der authentischen Vermittlung von Erfahrungen in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der starke Kräfte auf Verschüttung und Entwertung von Erfahrung gerichtet sind.
DIPL.-ING. OLIVER LANGBEIN
Geb. 1967, verh. 3 Kinder, Achitekt, Netzwerker und Urbanist. Seit 1995 Gründungsmitglied von osa – office for subversive architecture mit Vertretungen in Deutschland, Österreich und England. Seit 2003 Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Darmstadt, Fachbereich Architektur. 2001-2004 Assistent, 2004-2006 Interimsvertretung des Fachgebietes Entwerfen und Stadtentwicklung. Lehraufträge/ Kooperationen mit der Universität Kassel, UAM Mexico City, Universität Innsbruck, TU Graz. Gründungsmitglied der Forschungsgrupe FOG – Forum oeffentlicher Gegenwartskultur – und Sitios, einem transatlantischen „Netzwerk der Netzwerke“ im Bereich Architektur, Urbanismus und Kunst im öffentlichen Raum (Darmstadt, Graz, Mexico City, New York). Hauptbetätigungsfelder: Architektur und Stadtentwicklung, Performative Rauminstallationen sowie transdisziplinäre und internationale Lehrprojekte an der Schnittstelle von Architektur, Städtebau und Kunst.
DIE AUTOREN 387
PROF. JÖRG U.LENSING
1960 in Düsseldorf geboren. 1981-87 Studium Komposition an der Folkwang Hochschule. 1987-89 Aufbaustudiums „neues Musiktheater“ bei Mauricio Kagel an der Musikhochschule Köln. Mai 1987 Gründung des Theaters der Klänge in Düsseldorf. Regietätigkeit, teilweise Choreographie, sowie Komposition von Bühnenmusik und größtenteils szenografische Konzepte für bis heute fast alle Produktionen des Theaters der Klänge und einige Auftragswerke weiterer Theater. Seit 1988 Komposition von Filmmusik zu Künstler- und Dokumentarfilmen. Insbesondere dabei verstärkte Zusammenarbeit mit Sascha Hardt (Dynamik der Großstadt) und Lutz Dammbeck (Herakles Höhle; Herzog Ernst; Zeit der Götter; Dürers Erben; Das Meisterspiel; Das Netz). 1992 Gastdozent für Schauspielregie im Rahmen der „1. internationalen Bühnenklasse“ am Bauhaus Dessau. Seit 1996 Professor für Tongestaltung/Sound-Design an der FH-Dortmund. Sites: www.film-sound-design. de; www.theater-der-klaenge.de; de.wikipedia.org/wiki/Jörg_Udo_Lensing. Wichtige Veröffentlichungen: Fachbuch Sound-Design/Sound-Montage/ Soundtrack-Komposition. Mediabook Verlag; Hörbücher im HörZeichen Verlag und Musik-CDs bei Fenn Musik; Filmmusik auf DVDs von Lutz Dammbeck – edition filmmuseum/Goethe Institut.
PROF. FRANK DEN OUDSTEN
Studierte technische Physik, Fotografie und Film. Szenograf, Medienkünstler und Professor für Szenografie an der Züricher Hochschule der Künste bis 2009. Inhaber des Szenografie-Büros FDO Concepts, Amsterdam. Seine berufliche Praxis umfasst neben performativen Experimenten auf und für die verschiedensten Bühnen vor allem Medieninstallationen im Ausstellungskontext, u.a. für das Niederländische Architektur Institut, Rotterdam; Gemeentemuseum, Den Haag; Rijksmuseum Kröller Müller, Otterlo; Centraal Museum, Utrecht; Walker Art Center; Minneapolis, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a.M.; ZKM in Karlsruhe. Frank den Oudsten erarbeitet Gesamtkonzeptionen für narrative Räume und setzt sowohl traditionelle als auch avancierte Medientechnologien zur Darstellung von Objekten und Inhalten ein.
PROF. DR. HAJO SCHMIDT
Hajo Schmidt, geboren 1947, Professor für Philosophie an der FernUniversität in Hagen, Geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts „Frieden und Demokratie“ sowie der Landesarbeitsgemeinschaft Friedenswissenschaften NRW. Einschlägige Publikationen u.a.: The role and realities of public opinion. In: Gérard
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Duprat et al. (Hg.), European Democratic Culture, Milton Keynes 1993, S.139174; Kriegsbilder. Bildmedien und demokratische Öffentlichkeit. In: Focus Award 2003, Dortmund 2003, S.142-151.
DR. DIPL.-ING. SANDRA SCHRAMKE
Architektur- und Städtebaustudium an der TU Dortmund, Mitarbeiterin in Architekturbüros in Deutschland und Spanien. Von 2002 bis 2008 Wiss. Mitarbeiterin an der Bauhaus-Universität Weimar mit Schwerpunkt Architekturtheorie. Seit 2009 wiss. Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich Wissens- und Kulturgeschichte. Als Band 3 der Reihe Szenografie & Szenologie erschien 2010: Kybernetische Szenografie. Charles und Ray Eames – Ausstellungsarchitektur 19591965.
PROF. DR. PAMELA C. SCORZIN
Kunst- und Medientheoretikerin, geb. 1965 in Vicenza (Italien), 1992 Magister Artium und 1994 Promotion zum Dr. phil. an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, 2001 Habilitation am Fachbereich Architektur der TU Darmstadt, danach verschiedene Dozenturen und Lehrstuhlvertretungen in Siegen, Stuttgart und Frankfurt am Main, seit Ende 2008 Professur am FB Design der FH Dortmund für Kunstwissenschaften und Visuelle Kultur. Mitglied der AICA seit 2005.
DIPL.-ING. ANKE STRITTMATTER M.A.
Geb. 1965, Architektin und Urbanistin. Seit 2008 Professur an der FH Joanneum in Graz, Studiengang Ausstellungs- und Museumsdesign, Lehrbeauftragte an der TU Graz, zuvor Gastdozentin an der Universität Trisakti in Jakarta und Assistentin und Lehrbeauftragte an der TU Darmstadt. Vorstandsmitglied des Haus der Architektur Graz. Seit 2002 Mitglied von osa – office for subversive architecture mit Vertretungen in Deutschland, Österreich und England. Gründungsmitglied der Forschungsgrupe FOG – Forum oeffentlicher Gegenwartskultur und Sitios, einem transatlantischen „Netzwerk der Netzwerke“ im Bereich Architektur, Urbanismus und Kunst im öffentlichen Raum (Darmstadt, Graz, Mexico City) Hauptbetätigungsfelder: Architektur und Stadtentwicklung, Performative Rauminstallationen sowie transdisziplinäre und internationale Lehrprojekte an der Schnittstelle von Architektur, Städtebau und Kunst.
DIE AUTOREN 389
PROF. DR. CHRISTOPH WEISMÜLLER
Dr. phil.; Professor im Fach Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Lehrbeauftragter an der FH Dortmund, FB Design, Medienwissenschaft; Leiter des Instituts für Philosophische Beratung und Pathognostik in Düsseldorf; zweiter Vorsitzender von Psychoanalyse und Philosophie e. V. (Mitglied der Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf e.V.), Redaktionsleitung von Psychoanalyse und Philosophie. Pathognostica; Leitung des Peras Verlags; Dozent in den Fachbereichen Psychologie, Musik und Literatur. Auswahl Buchpublikationen: Philosophie der Medien, Düsseldorf, Peras 2009; Psychoanalyse – und wie anders? Texte-Gaben zum 70. Geburtstag von Rudolf Heinz (Hg. zus. mit Heide Heinz), Düsseldorf, Peras 2009; Fragen nach der Mathematik (Hg.), Düsseldorf, Peras 2007; Das Humane der Globalisierung, Düsseldorf, Peras 2004; Zwischen analytischer und dialektischer Vernunft. Eine Metakritik zu Jean-Paul Sartres ,Kritik der dialektischen Vernunft‘, Würzburg 2004; Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Würzburg 2001; Jean-Paul Sartres Philosophie der Dinge. Zur Wende von Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft sowie zu einer Psychoanalyse der Dinge, Düsseldorf, Peras 2000.
PROF. DR. HEINER WILHARM
Philosoph, Sozial- und Kulturwissenschaftler. Seit 1990 Professor für Designtheorie, seit 2003 Professor für Gestaltungswissenschaften, Medien und Kommunikation am FB Design der FH Dortmund. Zusammen mit Ralf Bohn Herausgeber der Reihe „Szenografie & Szenologie“ im transcript Verlag, Bielefeld. Leiter des Studiengangs Szenografie & Kommunikation. Mehr unter www.designradio.net.
PROF. DR. ERNEST WOLF-GAZO
Studium der Philosophie an der George Washington Universität (B.A. 1969) und der Universität Bonn (Dr. phil. 1974). Habilitation Universität Münster 1984. Postdoctoral Fellow an der Yale Universität. Gastprofessuren in Louvain, Ankara, Georgetown, Kuala Lumpur, Teheran. Professor der Philosophie und Ästhetik an der American University in Kairo, Ägypten seit 1991. Veröffentlichungen über A.N. Whitehead, Max Weber, Islamische Philosophie; ästhetische und transkulturelle Studien.
Szenografie & Szenologie Ralf Bohn Inszenierung als Widerstand Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee 2009, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1262-2
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Ereignis Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie 2009, 406 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1152-6
Sandra Schramke Kybernetische Szenografie Charles und Ray Eames – Ausstellungsarchitektur 1959 bis 1965 2010, 186 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1508-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de