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German Pages 372 [370] Year 2014
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung der Stadt
EDITORIAL Die Reihe Szenografie & Szenologie versammelt aktuelle Aufsätze und Monografien zum neuen Ausbildungs- und Berufsfeld Szenografie. Im Kontext neuer Medientechniken und -gestaltungen, Materialien und narrativer Strukturen präsentiert sie Inszenierungserfahrungen in öffentlichen Vor-, Aus- und Darstellungsräumen. Zugleich analysiert die Reihe an Beispielen und in theoretischer Auseinandersetzung eine Kultur der Ereignissetzung als transdisziplinäre Diskursivität zwischen Design, Kunst, Wissenschaft und Alltag.
Die Reihe wird herausgegeben von Ralf Bohn und Heiner Wilharm.
WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT Prof. Dr. Martina Dobbe, Universität der Künste, Berlin Prof. Dr. Petra Maria Meyer, Muthesius Kunsthochschule, Kiel Prof. Dr. Hajo Schmidt, Fernuniversität Hagen
DIE HERAUSGEBER Dr. Ralf Bohn ist Professor für Medienwissenschaften und arbeitet im Schnittpunkt von philosophischer, psychoanalytischer und technischer Medienanalyse. Dr. Heiner Wilharm ist Professor für Designtheorie und Gestaltungswissenschaften und arbeitet mit Schwerpunkt Zeichen, Kommunikation und Inszenierung. Die Herausgeber lehren am FB Design der FH Dortmund und begleiten den MasterStudiengang Szenografie und Kommunikation wissenschaftlich und konzeptionell.
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) INSZENIERUNG DER STADT Urbanität als Ereignis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf Bohn Umschlagabbildung: Mader Stubli´c Wiermann: twists and turns, künstlerisches Video auf dem Uniqa Tower, Wien, seit 2006; Foto: © 2007 Hervé Massard Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Redaktion, Lektorat & Satz: Ralf Bohn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2034-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfreigebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALTSVERZEICHNIS
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EINFÜHRUNG ACHIM PROSSEK
Bilder (k)einer Metropole Zur Inszenierung des Ruhrgebiets als Kulturhauptstadt Europas
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PAMELA C. SCORZIN
Risiko Relationale Szenografie Am Beispiel der RUHR.2010-Kunstprojekte
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ADOLF WINKELMANN
Zeugnisse des Dortmunder U 79
RALF BOHN
Inszenierte Zeitgestalten Zu Adolf Winkelmanns Szenografie des U-Turms
99
DENNIS KÖHLER, MANFRED WALZ
Viel Licht und starker Schatten Zur Gestaltung von Stadt und Region nach Einbruch der Dunkelheit
129
HOLGER MADER, ALEXANDER STUBLI´ c, HEIKE WIERMANN
Simulationen über urbane Räume 145
BERNADETTE FÜLSCHER
Kunststadt Über die Inszeniertheit von Städten mit künstlerischen Mitteln
163
EBERHARD SCHREMPF
Psychotherapie für eine Stadt? 175
ERNEST WOLF-GAZO
Cairo as Collage: Aspects of Metropolis
195
LUDWIG FROMM
Situativ bestimmte Qualitäten im Raum Leibliche Dispositionen situativer Erfahrungen. Ein Studie
215
ANGELUS EISINGER
Die offene Stadt und ihr historischer Kontext Eine historische Einordnung der Grenzen und Potentiale eines Konzepts
229
HEINER WILHARM
Urbanität und Ereignis Über die Inszenierung von Architektur und Stadtraum
289
RALF BOHN
Paris, Ruhr Zur geschichtsliterarischen Inszenierung von Urbanität
345
CHRISTOPH WEISMÜLLER
Inszenierungen des Unbewussten der Metropole 363
DIE AUTOREN
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SZENOGRAFIE & SZENOLOGIE
Metropolen definieren sich durch ihre Wandlungsfähigkeit. Ausdrucksform ihrer transformierenden Kraft ist die Differenz von Selbst- und Fremdinszenierungen, die Ökonomie von gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Beziehungen ihrer Bewohner. Zu ihrer Selbstdarstellung bedürfen Metropolen der Anerkennung von außen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung attraktiver Stadtbilder wenden sich immer mehr Stadtplaner, Marketingexperten und Politiker an Auftrittsexperten, die Architektur und Atmosphäre szenografisch zu vermitteln wissen. Welche Reibungen ergeben sich zwischen Eventmarketing und Stadtfunktionalität, zwischen „Hirn, Hand und Herz“ – wie Fritz Langs programmatische Formel für die Inszenierung „Metropolis“ lautete? Ob Darstellung und Selbstdarstellung den eigenen Bürgern oder Touristen zukommen, Inszenierungen von unten oder oben, Medienfassaden oder Street-Art das reale oder imaginierte Bild der Stadt bestimmen und von den Bewohnern akzeptiert, idealisiert oder verworfen werden – solchen Fragen gehen die Aufsätze auf allen Ebenen urbaner Ausdrucksform nach. Die Beiträge sind unter dem Eindruck des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 entstanden. Aber nicht alle Aufsätze beziehen sich explizit auf dieses Event. Aus unterschiedlicher Perspektive, von Gestaltung und Architektur, Urbanistik, Kunst,Wissenschaft, Philosophie, werfen die Beiträge ein Schlaglicht auf die aktuellen szenografischen Strategien und Techniken der Inszenierung des urbanen Raums und tragen zur szenologischen Reflexion der Stadt als Ereignis bei. Die Herausgeber danken der Fachhochschule Dortmund für die Förderung aus Forschungsmitteln.
Dortmund, Frühjahr 2012
Ralf Bohn, Heiner Wilharm
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EINFÜHRUNG 1. METROPOLIS
Kein „‚wirkliches‘ soziologisches Objekt“ mehr entspreche der „Stadt“, resümiert George Lefèbvre, einer der maßgeblichen Theoretiker von Stadtentwicklung und Urbanisierung, Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Jedenfalls keines, wie es in den Debatten von Architektur und Stadtplanung, in den Konzepten der Politik auftauche. Anstelle dessen habe man es mit Bildern zu tun.1 Zweifellos gilt dasselbe für die Historisierung der Stadtentwicklung, wie sie Lefèbvre selbst an verschiedenen Stellen vorgenommen hat. Er selbst stand nicht an, es zu bezeugen. Die Zerlegung der Stadt in Typen und historische Exemplare vermag nicht gegen ihre Virtualität als Objekt zu intervenieren. Dennoch: Die Stadt verschwindet deswegen nicht im Imaginären. Umgekehrt, die Stadt entsteht aus der Imagination. Aus den Bildern heraus wird sie verwirklicht. Die Konstrukte der Darstellung sind vielfältig. In der Geschichte findet der Forscher „die historische Stadt“, die Stadt als Körper, der altert und sich auflöst. Da dieser Körper kein individueller Körper ist, sondern ein sozialer Organismus, bedeutet seine Auflösung nicht sein Ende, sondern seine Transformation. Eine Transformation in einen Organismus komplexerer Vernetzung – bei zunehmender Verdichtung der Strukturierung in einem mittlerweile globalen Prozess der Urbanisierung. Die Darstellung seiner Genese auf einer Raum-Zeit-Achse verfährt linear. Sie führt zu Konstrukten, die am Beginn der Entwicklung städtischer Konzentration die „politische Stadt“ platzieren.2 Die politische Stadt ist nicht nur politisch maßgeblich, sondern genauso ökonomisch, und meist auch in Fragen von Kult und Religion. Es handelt sich um die antiken Städte der Eroberer, um privilegierte Zentren der Machtausübung, die dem umgebenden Land ihr Siegel aufdrückten. Meist standen sie in Konflikt mit diesen Peripherien ihrer Einflussnahme. Aufgrund der Zentralisierung von Planung und Entscheidung, Erinnerung und Voraussicht, entwickelt sich mit der Teilung von Stadt und Land zugleich eine Trennung von Hand und Hirn. Die Stadt wird zu Geburtsort und Heimstatt des Logos. Ökonomisch betrachtet akkumuliert die Stadt die Reichtümer und Werte, das Wissen und die Künste. Der Überfluss lässt Handel, Austausch und Verkehr 1 Georges Lefèbvre: Die Revolution der Städte. München (List) 1972, S.29; siehe den Beitrag Heiner
Wilharms in diesem Band. bleiben bei dem Beispiel der Lefèbvre’schen Forschung.
2 Wir
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florieren. Doch hat die politische Stadt mit den Anfeindungen des Marktes zu kämpfen. Der Mark liegt zuerst außerhalb der Mauern. Die Einbeziehung des beweglichen Eigentums, von Markt und Warenverkehr und der dazu gehörigen Gewalten in die Stadt geschieht im europäischen Abendland erst gegen Ende des Mittelalters. Nicht Agora oder Forum sind nun Mittelpunkt der Stadt, sondern der Markt ist es. Die „Handelsstadt“ ist geboren. Für Lefèbvre ist damit ungefähr die Mitte der Raum-Zeit-Linie bezeichnet, die seine historiografische Illustration beherrscht. Nur wenige Jahrhunderte später bemerkt man einen „Kippvorgang“, dessen Bewegung in den Mauern der Handelstadt begann. Die Stadt bestimmt die Art der Vergesellschaftung des gesamten Territoriums. Stadtluft beginnt, frei zu machen. „Das Land? Es ist nun nicht – oder nichts – mehr, als die ‚Umgebung‘ der Stadt, ihr Horizont, ihre Grenze. Der Dorfbewohner?“ In seinen eigenen Augen hört er auf, für den Grundherren zu arbeiten. „Er produziert für die Stadt, für den städtischen Markt“. Dort, „auf dem Markt findet er den Weg in die Freiheit“. Die Freiheit der Stadt begünstigt die Freiheit des Gedankens, der sich die Stadt selbst zum Gegenstand seiner Spekulation macht. In einer Mischung von Wahrnehmung und Vorstellung, Erkenntnis und Kreativität wird die Stadt in die Perspektive gerückt, zugleich in der Malerei und in der geometrischen Darstellung. Lefèbvre glaubt, dass sich hiermit die Achsen der Betrachtung grundsätzlich verschoben hätten, dass so erstmals ein Überblick über die Stadt als Ganzes ermöglicht worden wäre. Ein Blick, der nur von oben denkbar ist; zugleich „Blick des Geistes“ und „Blick der Macht“, ein Blick, der sich „auf die Vertikale“ richtet.3 Der Übergang von der handwerklichen zur industriellen Produktion stürzt die Stadt in die Krise. Erneut geht es um die Frage von Integration und Absorbtionsfähigkeit der Stadt. Denn die Industrie ist dem konkreten Ort nach eigenen Gesetzen verbunden, nach Maßgabe von Energiequellen, Rohstoffen, Transportwegen und Ressourcen der Arbeitskraft. Letzteres rückt sie in die Nähe der Städte; ebenso zieht sie die dort angesiedelte Konzentration von Markt, Tausch und Kapital an. In dieser Art verbindet sich die Industrie mit der Stadt und transformiert sie. Sie greift auf die Städte über oder schafft neue, schafft die „Industriestadt“. Die historische Stadt beginnt sich aufzulösen, die Industriestadt kündigt eine weitere kritische Phase an, einen weiteren historischen Kippvorgang auf dem Weg in die Urbanisierung im Weltmaßstab: „Die Nicht-Stadt und die Anti-Stadt erobern die Stadt, durchdringen sie und führen – indem sie sie sprengen, und ins Maßlose aufblähen – letztlich zur vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft, wobei das Stadtgewebe die Reste der von der Industrie bestehenden Stadt überdeckt“.4 3 4
Ebd., S.15-19. Ebd., S.20.
EINFÜHRUNG
Zweifellos ist die historiografische Modellierung eine Art, den Gegenstand „Stadt“ zu verflüssigen, sie zu inszenieren, in unterschiedliche Einstellungen und Szenen zu gliedern und ein entsprechend farbiges und vielgestaltiges Panorama vor Augen zu führen. Normativen Vorstellungen davon, was und wie eine Stadt sein sollte, kommt diese Art begrifflicher und operativer Relativierung des Umgangs mit der Stadt nicht entgegen. Nicht nur Politiker halten sich lieber an eine positiv(istisch)e Bestimmung ihres Gegenstands, an ein Bild für alle. Dass diese Strategie selbst wiederum oft genug damit einhergeht, sich mit ‚historiografischen‘ Mitteln Legitimation zu verschaffen, unterstreicht die Herkunft der „Stadt“ aus den Geschichten über sie, ihre mythische Genealogie. Eine zeitgemäße Aktualisierung des Mythos über die vernetzten medialen Apparate und Institute der – freilich unterschiedlich – informierten Gesellschaften gehört zu den gewöhnlichen Ereignissen urbaner Wirklichkeit. Entsprechend vielgestaltig fallen die Effekte aus, die als Vorstellungen zweiter Hand das Erleben der Stadt prägen und die verschiedensten Entwürfe für ihre Zukunft beeinflussen. Zur Darstellung der Raum-Zeit-Achse, die Lefèbvre seiner historischen Konstruktion zu Grunde legt, wählt er eine Grafik, die eine waagerecht verlaufende Linie zeigt.5 Auf der so gebildeten Skala lässt sich in Prozentwerten von 0 bis 100 die Verdichtung des Urbanisierungsprozesses eintragen. Die Skala ist numerisch, allerdings nicht grafisch aufsteigend dargestellt. Die erstaunliche Bemerkung Lefèbvres, dass es in dieser Organisation der Raum-Zeit zu einem Umbau der Raumentwicklung kommt, und zwar aufgrund der Bewegung der Objekte und Ereignisse selbst, die er auf dem linearen Zeitstrahl anordnet, führt nicht zu einer Umorganisation der Diagrammatik. Obwohl eine solche Operation die Argumente des Soziologen durchaus zu unterstreichen vermöchte. Im Resultat sehen wir die Achse senkrecht angeordnet. Was die Gestaltung betrifft, ist dieser Blick des Geistes und der Macht, von dem Lefèbvre spricht, offenbar ein szenografischer Blick, ein Blick des Gestalters aus der Höhe seines Entwurfs auf das intendierte Werk. Der Entwurf wird hier nicht als das noch Unvollendete langsam sich Formende vorgestellt, sondern das konzeptionell und planerisch detailliert vorliegende Ganze einer Darstellung. Allerdings versteht sie sich als Plan einer Realisierung im Sinne tatsächlicher Ereignisse. Die Betrachtung der aufgerichteten Linie geschieht mithin nicht mehr von der Seite oder von unten, aus einer Ansicht, die wechselnde Orte, Zeiten und Räume beschert, sondern von oben. Räume und Zeiten eröffnen sich einer Zusammenschau, erscheinen im Lichtkegel eines szenografischen Entwurfs – jedenfalls wenn man unterstellt, dass es nicht bei einem einmaligen Wahrnehmungsereignis bleibt, sondern, was so herausgegriffen erscheint, zur Darstellung gebracht wird. Dieser Blick 5 „wollen wir eine Achse zeichnen, 0 ---------------------- 100%, die von der nicht existenten Urbanisierung [...] bis zur gänzlichen Vollendung des Prozesses gehen soll. Diese Achse, die die Wirklichkeit des städtischen Geschehens symbolisiert, verläuft sowohl im Raum als auch in der Zeit“. Ebd., S.13.
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wird sich spätestens im Augenblick der Verlagerung der Achsen – einer Operation, die auf sein Konzept zielt – der Betrachtung selbst bewusst. Und doch, Lefèbvre weist immer wieder nachdrücklich darauf hin, soll dies einer Bewegung der Gegenstände selbst, einer Bewegung der Stadt, geschuldet sein, zumindest dieser Bewegung entsprechen. Der „szenografische“ Blick beinhaltet mithin ein Zweifaches, ein epistemologisches, ein theoretisch gestalterisches, wie ein szenografisches, ein praktisch gestalterisches Konzept. Der szenografische Blick ist zugleich der Blick der Szenografie. Die Stadt wird perspektivisch betrachtet. So erhellt der Gedanke einer materialen Erdung der Darstellungsresulate. Ein erstes Mal in Perspektive zu versetzen, darf als historisches Ereignis gelten. Als die Perspektive erfunden wurde, war den Baumeistern und Künstlern der Zusammenhang von Perspektive und Szenografie bewusst. Sebastiano Serlio definiert die Perspektive im Kontext seiner Architekturtheorie von 1545 6 anknüpfend an Vitruv. Er favorisiert drei Methoden planerisch grafischer Darstellung, die Ichnographie, die Zeichnung der Grundrisse, die Orthographie, den Aufriss der Fassaden, und die Szenographie, die Darstellung im Sinne einer komplexen Aufsicht und Ansicht, des Raums, die den Rahmen eines möglichen szenischen Geschehens vorstellt. Serlio wählt diese Begrifflichkeit mit Rücksicht auf die Praxis der Architekten in der Diktion Vitruvs. In der Systematik Serlios selbst war die Szenographie identisch mit einer Definition des räumlichen Blicks, der neu konzipierten Perspektive. Seither haben wir uns daran gewöhnt, perspektivische Betrachtungen und Darstellungen nicht in Konflikt mit Beschreibungen und Tatsachenbehauptungen treten zu lassen. Umso erstaunlicher, dass wir der Kunst, die nichts anders tut, als der geschilderten Achsenverschiebung zu entsprechen und die Dinge ‚von oben‘, szenografisch, in den Blick zu nehmen, zumuten oder erlauben, gleichviel, dass ihre Tatsachen ganz eigene Qualitäten ins Licht zu setzen vermöchten. Schauen wir auf die Inszenierung der Stadt, findet sich ihre mythische Genealogie, wie sie in der Historisierung verschiedener Stadien und Typen ihrer Entwicklung zum Ausdruck kommt, in der künstlerischen Dramatisierung ihres Schicksals nicht zufällig genau an derjenigen Stelle der linearen Betrachtung, die Lefèbvre als kritische Agglomeration und Zeitpunkt der zweiten Krise, der Negation der Stadt oder ihrer beginnenden Explosion und Implosion, markiert hat. Verlassen wir die lineare Betrachtung des Historikers und versetzen uns in die Perspektive des Künstlers oder Szenografen, heißt dies nichts anders, als dass die zeitgenössische Stadt, die Stadt der Moderne, dort im Bewusstsein ihrer mythischen Wurzeln ins Bild gesetzt erscheint, in den Szenarien und Szenen 6 Die Ausgabe von 1584 ist bei der Heidelberger Universitätsbibliothek online erreichbar. Sebastiano
Serlio: Tutte l‘opere d‘ar-chitettura di Sebastiano Serlio Bolognese (Buch 1-7), Venetia 1584, auf: http:// digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/serlio1584. Ital. Text: Sette libri dell‘architettura, Forni (Sala Bolognese), 1978, Bd. 1, Libri I.-IV.; Bd. 2. Libri V.-VII.
EINFÜHRUNG
solcher Herkunft. Sie illustrieren indes keine nur erfundene Geschichte, sondern, ganz analog zur historiografischen Konstruktion, eine solche Erzählung, die dem Leben der Stadt selbst entspringt. Die Rede ist von Fritz Langs Metropolis von 1927, nach dem Drehbuch von Thea von Harbou. Der Bezug zu diesem wegweisenden Film ergibt sich aus dem Titel des diesem Aufsatzband zugrunde liegenden 3. Scenographers‘ Symposium 2010 an der FH Dortmund, anlässlich der Kulturhauptstadt Europa. RUHR.2010: „Metropolis. Mit Herz und Hand. Zur Inszenierung und Selbstinszenierung der Metropole.“ Die Vertikale wird in Metropolis zum dominierenden Gestaltungsprinzip. Trägt die strukturale, wenn man so will, szenografische Analogie, in der die vertikale Betrachtung in der Theorie mit der Krise der Industriestadt verbunden ist, erschließt sich eine ganze Reihe dramaturgischer und szenischer Optionen der filmischen Umsetzung. Betroffen von diesem szenografischen Konzept ist nicht allein die Organisation des Stadtkörpers, das „Objekt Stadt“, oder die ästhetische Organisation des Plots und seiner Dramatisierung im Aufeinandertreffenden der Akteure. Auch der Körper der Metropolis, der Mutterstadt, erscheint nach historischem und zugleich mythischem Vorbild angelegt. Wie die antiken Metropolen sich in weitab ihres angestammten Territoriums liegende Gebiete ausdehnten und sie besetzten, auf die Gefahr hin, dass die Durchblutung des Gesamtorganismus kollabierte, so vergleichbar die Turbulenzen in der Entwicklung der Stadt, als sie sich auf den Trümmern der historischen Handelsstadt mit den neuen Bedingungen der Verstädterung durch Industrie und Industrialisierung neu erfinden musste, so vergleichbar Langs Metropolis, sie sich von der Höhe eines lenkenden Verstandes bis in die Tiefen historischer, sozialer und mentaler Dissoziation erstreckte. Denn es fällt schwer, die Direktions- und Verwaltungsetagen der hier gegenwartsnah bis zukunftsträchtig inszenierten Metropole als integrierendes Hirn einer Stadt zu verstehen, trotz der panoptischen Halluzinationen, die indes dem Ausblick aus großer Höhe geschuldet scheinen. In der Höhe unterscheiden sich die Auflösungen der filmischen Szenografie von denen der theoretischen. Die Theorie liefert Erklärungsentwürfe, denen folgend sich die theoretische Darstellung inszeniert, der Film zeigt die Disparitäten, ohne dass das ins Bild gesetzte Szenario eine Erklärung der verschiedenen Verwerfungen beinhalten müsste. – Vergleichbar unterschiedliche Perspektiven begleiten den Wechsel von mehr exemplarisch empirischen und theoretisch analytischen Passagen im Duktus der diversen Beiträge unseres Bandes. – Beginnen wir mit der Topografie. Das Normalniveau, den Boden der städtischen Ausdehnung durch Beobachtung auszumachen, ist so gut wie ausgeschlossen. Wenn überhaupt, sollte es von oben gelingen können. Doch Überblick ist von hier aus nicht zu gewinnen; der Blick ist rundum begrenzt. Weder reicht er in die umgebende Weite – sie ist von tiefe Straßenschluchten begrenzenden Wolkenkratzern verstellt – noch in die Tiefe – hier wird es den Augen
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verwehrt, die vielen Trassen des Verkehrs zu durchdringen und an ihrem Grund einen verlässlichen Boden auszumachen. Dass die Zuschauer den Boden der Stadt szenisch beträten, um sich derart illusionär zu versichern, dass die Metropole einen solchen Grund überhaupt besitzt, hat der Regisseur für den, der von hier oben blickt, nicht vorgesehen. Von hier aus gibt es kein erkennbares Handeln. Die Bilder von der Stadt bleiben bei sich. Alles ist Bild und Bild von Bild. Die Entwurfszeichnungen des Filmarchitekten Otto Hunte aus dem Jahr 1925 zeigen dieses Grundlose der Stadt deutlicher noch als die späteren Bilder des Films selbst.7
Abb.1 Bodenlose Stadt. Huntes Stadtpanorama für Metropolis.
Dass die Bilder auf sich selbst verweisen, eröffnet zwei sich ergänzende Aspekte. Es ist Ergebnis der Konzentration des Geschehens, der Ereignisse auf die metropolitane Hermetik, die sich darin ausdrückt, dass alles Wesentliche ‚im Inneren‘ oder auch ‚in der Tiefe‘ passiert. Zugleich resultiert es als Einsicht in das ‚Außen‘. Der Blick wird auf die Medialität selbst gelenkt. Zu ihr gehört nicht nur, was sich als solches zeigt, die Werbefasssaden, das Licht, der Verkehr. Zu ihr 7
Bilder unter: http://bemyownstylist.blogspot.com/2009_10_01_archive.html; (Zugriff 10.2011).
EINFÜHRUNG
gehört das Mediale generell, das im filmischen Bildermachen auf sich, das eigene ‚Innere‘ der Darstellung, auf den szenografischen Entwurf der Metropolis wendet. Der Blick aus dem Turm in luftiger Höhe, der den Mächtigen vorbehalten ist, ist ein Blick in den Spiegel. Die Gesichter, die hier herausschauen dürfen, gehören selbst zu den Media Screens. Oberflächen und Botschaften der Türme rundum verheißen dasselbe. Was sich spiegelt, erscheint zuweilen verzerrt. Je nachdem, ob die Entsprechungen einer mehr demokratischen oder mehr autokratischen Façon huldigen.8 Doch dieser Unterschied scheint vernachlässigenswert.
Abb.2 Die demokratische Stadt. Erastus Salisbury Fields, 1876.
Spiegeln mithin tut sich die Stadt nur an ihren Oberflächen. Im Inneren hingegen offenbart sie sich. Allerdings letzten Endes nach Maßgabe der Szenografie, in einer Perspektive von oben, die sich zwar szenisch relativiert, dies aber vorsieht. Derart ist das Äußere auf das Innere bezogen. Auf den Etagen der Direktion erweist sich die Darstellung der Metropole auf der Höhe der Zeit, sogar visionär.9 Ihre Bilder zeigen, dass ihre Zukunft auf Geschwindigkeit und Beschleunigung programmiert ist, auf Information und Austausch. Was den Oberflächen nicht anzusehen ist: irgendwo muss die notwendige Energie bereit 8
Dieser Spiegelungseffekt – auf gleicher Höhe – ist zum Beispiel deutlicher zu beobachten in der Visualisierung Walt Disneys Experimental Prototype Community of Tomorrow, or EPCOT – Community Projekt für Florida. Siehe http://paleo-future.blogspot.com/2007_04_01_archive.html. (Zugriff 11.2011) In dieser Art auch schon in Erastus Salisbury Fields Darstellung aus dem Jahr 1876: Historisches Monument der Amerikanischen Republik. Eine Selbstinszenierung der demokratischen Stadt! (Museum of Fine Arts, Springfield, Mass.). 9 „In einer phantastischen Stadt Metropolis, gefügt aus Zukunftstürmen und Zukunftsstraßen, leben die Arbeiter unter der Erde“... (Fred Hildenbrandt: Metropolis. Rezension Berliner Tageblatt 11.01. 1927, http://www.filmhistoriker.de/films/metropolis.htm; (Zugriff 8.2011)).
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gestellt, müssen die passenden Technologien und Techniken entwickelt werden. So nahe liegend dieser Schluss, so wenig bekannt indessen sind dem normalen Menschenverstand die genauen Kausalitäten. Metropolis macht uns schlau. Die Energien stammen aus dem Inneren; sie verweisen auf die Inszenierungsmaschine und ihre Geheimnisse. Auch dienen sie keineswegs allein der Darstellung nach außen, sondern ebenso der Strukturierung der Stadt selbst, ihrer Möglichkeit, sich ereignishaft zu entfalten. Lauter Geschichten. Die Kommunikation zwischen den Instanzen im Inneren nutzt durchaus auch schon neueste Medien; sie schicken sich an, die angestammten Rechte des Umgangs in leiblicher Präsenz zu überformen und das Szenische selbst zu prägen. Die Gesamtinszenierung der Szenografie indes enteignet die Szenen zu einem zum Ganzen verbundenen Werk, das trotz aller Einzelgeschichten ‚von oben‘ dirigiert wird, dieses Geheimnis aber verschwinden machen soll. Die unterschiedlichsten narrativen Stränge vermitteln die Botschaft ‚untergründig‘, ‚im Innern‘, und modulieren sie; Geschichten von Vätern und Söhnen, Müttern und Söhnen, Männern und Frauen, Eltern und Kindern, Kapital und Arbeit, Ökonomie und Kunst, Technik und Religion, Information und Energie, von Hirn, Herz und Hand, von Hell und Dunkel, bunt und eintönig, schnell und langsam… Die modernen Apparate dienen der Verständigung wie der Information auch nach innen, freilich einseitig und derart als Instrumente der Kontrolle und der Überwachung, hinein in die Tiefe der Stadt gerichtet, sie detektierend. Zuallererst, um das Funktionieren der Großen Maschine zu überwachen, von dem das Leben der Stadt abhängt. Die Technologie der Maschine weist die Metropole als Stadt im Umbruch aus, auch ohne Rebellion oder Unfall. Die Produktivkräfte genügen den Produktionsverhältnissen nicht mehr. Das Regiment der Metropolis ist dabei, sich elektrisch informationell zu revolutionieren, während ihre Versorgung noch abhängig ist von der Energetik einer schwindenden Welt. Soziale Konflikte, Konflikte der Verständigung sind zu befürchten. Historisch erscheint diese Stadt als Noch-Industriestadt. Doch schaut man aus ihr heraus, spiegelt sich in den Medienfassaden die Global City. Was ihren Grund ausmacht, ist von hier auf den ersten Blick nicht zu ermitteln, auf einen zweiten, aus anderer Perpektive, allerdings sehr wohl. Dass der Blick aus dem Turm, rundum, nur die Höhe zeigt und von daher kein Leben am Grund ersichtlich ist, entspricht der Arbeitsteilung von Dramaturgie, Szenografie und Regie auf der einen, Narration, Auflösung und Szenifikation auf der anderen Seite. Das Geschehen am Boden wird in Szenen des Plots entfaltet. Hier erfahren wir von dem, was Sache ist. Dahinter verbirgt sich die Strategie einer Szenografie, die ihre Macht als reales Geschehen und legitimiert durch Herkunft inszeniert. Deshalb dürfen derartige Szenen dem auf sich selbst gerichteten Blick der Szenografie aus der Höhe nach draußen nicht begegnen. Tatsächlich können wir auch nur erschließen, dass wir uns topo-
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grafisch auf solchem Grund befinden, nicht an den Fundamenten oder an den Wurzeln, sondern auf ebener Erde. Ohnehin eine relative Lage. Fritz Lang bietet uns drei Szenarien am Boden und folglich, wenn nicht ganz außerhalb, in der Vorstadt, im Schatten der Türme und Verkehrstrassen. Wir begegnen der Hütte des Künstlers und Erfinders und der Kathedrale, deren isoliertes Bild als ganz eigene Stadt aus Stein erscheint – wenngleich kein Himmlisches Jerusalem; dies müssen wir in den Türmen rundum imaginieren. Im Unterschied zur Heimstadt des Künstler-Erfinders, der über okkulte Mächte gebietet, liegt die Zentrale der magischen Vermittlung von Hirn und Hand nicht im Schatten der Türme. Es handelt sich um zwei eigenständige – um nicht zu sagen bodenständige – Einund Ausgänge in das Innere der Metropole, die auch nur aus dem Geschehen drinnen zu entschlüsseln sind. Ganz wie der dritte Zugang über eine externe Heterotopie: das Stadion. Kunst, Religion, Sport, welche Vision der medialen Qualitäten weltweiter Urbanisierung und ihrer Ereigniskultur. Genie und Wahnsinn des Erfinders führen nur scheinbar über Wissenschaft, naheliegender über Meta-Physik in die Tiefe der Stadt. An den Fundamenten der Metropole, in den Katakomben noch unter den Residuen der Arbeit, stoßen wir auf ihre Wurzeln: das Heilige. Gleicherweise wird es beglaubigt von der Heiligen Jungfrau wie der babylonischen Hure, zwei Rollen ein und derselben Person. Der Weg der beiden Marien in die Tiefe und wieder zurück an die Oberfläche verbindet die mittelalterlich anmutende Hütte des Magiers Rotwang mit dem profanisierten Tempel, vor dessen Portal beide Figuren ihr Schicksal finden, Scheiterhaufen und Glaubensglück. Der Weg des „anonymen Mädchens“ Maria, das vor unseren Augen gleicherweise eine Persönlichkeitsspaltung wie eine Spiegelung erlebt, zwei Verdopplungen gewisserweise, erschließt dem Zuschauer die Stadt im Inneren und in ihrer ganzen Tiefe. Es sind Effekte, derer die Szenografie generell mächtig ist. „Maria“ ist hier der Name des Mediums. Seine erste Message bestätigt: Die Stadt ist eine Sache des Glaubens, der Imagination und der Halluzination. Schließlich werden Marias und Rotwangs Pfade von Freder gekreuzt. Er gilt als der Erste unter den „Söhnen“. Sie belagern die extravaganten Amüsieretagen der Stadt, die cultura hortorum, und dominieren die nicht fern liegenden Stätten des Körperkults, die nicht weniger Medieninteresse verdienen wie die Fassaden. Der Ertüchtigung der Söhne im Sport korrespondiert als militärische Formierung der Arbeit, wie sie sich noch am vermeintlich gütlichen Ende von Metropolis in den Szenen vor der Kathedrale präsentiert, in denen sich alle Protagonisten zusammenfinden, tot oder lebendig. Die Große Maschine fungiert nicht nur als ökonomischer Index. Als energetische Quelle und Lebensspenderin der Stadt ist sie zugleich Zeichen einer bestimmten Gesamtdarbietung, einer Selbstinszenierung. Die Selbstinszenierung tritt so in Konkurrenz zur ‚Inszenierung von oben‘. In theoretischer Betrachtung konkurrieren Inszenierung qua Szenografie und Inszenierung qua Szenifikati-
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on.10 In den Szenarien des Plots ist die Maschine geeignet, unterschiedlichen Schichten von Historie und Mythos, Realität, Imagination und Halluzination, die disparaten Gegenstände mit den Handlungen und Ereignissen zu verlinken. Die Maschine ist ein Medium wie Maria, deren Aufgabe ausdrücklich darin besteht, die Vermittlung zu betreiben, weniger mit konkreten Aufgaben zwischen Hirn und Hand, wie es oberflächlich scheint, als überhaupt, um ein Dazwischen zu etablieren, die Stadt als Ort der Vermittlung, als Medialität zu besetzen.11 Daraus rührt ihre diesbezügliche Rolle als Vorläuferin. Sie wartet auf ein neues Medium und verheißt eine neue Mediatisierung, die im Narrativ überzeugenderweise die neue Generation der Direktion, Freder, der Sohn des Joh Fredersen, übernehmen soll. Joh Fredersens, dessen zukunftuntaugliche Industrie Tausende Arbeiterkinder der Gefahr zu ertrinken ausgesetzt hat. In der Topografie der Senkrechten, die an den aufrechten Gang, die menschliche Gestalt erinnert, befindet sich die Maschine wohl in der Tiefe, aber doch auch im Zentrum, in der Herzgegend. Die sie bedienen und warten, arbeiten auf der Höhe ihrer produktiven Kraft, wohnen und leben indes auf einer elementareren Ebene des Städtischen, freilich noch über den Katakomben der Verheißung, zu denen sie hinabpilgern. Das Hirn der Szenografie, so die Geschichte über die Prioritäten von Dramaturgie und Narrativ in Metropolis, vermag sich in der Konkurrenz nur unter Schwierigkeiten durchzusetzen, nicht zuletzt aufgrund informationeller und kommunikativer Schwierigkeiten im System. Die „Herzmaschine“ wiederum arbeitet einem GAU entgegen. Wir erleben die Urbanität in der Krise. Doch ist dies nur die Beleuchtung eines einzelnen Drehbuchs. Die Szenografieverantwortung wechselt gerade von den Ingenieuren zu den Entertainmentprofis. Fragt man nach der Heimstatt der Kultur in der Metropole, findet man sie, abgesehen von den Orten des Mittlerkultes an den Fundamenten der Stadt, in den „Gärten der Söhne“ und in der „mondänen Lebewelt des Yoshiwara“. Man wird man sich die räumliche Verteilung in dem großen Zylinder der Stadt so vorstellen, dass weit oben „im Licht“, doch unter den Direktions- und Managementetagen, Balkone herausragen, die dem Spiel und Vergnügen vorbehalten sind. Gedacht sind diese Räumlichkeiten für die „Söhne der Herren“. Hier haben sie „ihren Klub und ihre Gärten, Gespielinnen werden ihnen dressiert“.12 Vermittelt über diese internen Medieninstitute nimmt der Wandel der Metropole seinen Fortgang. Hier werden die neuen Stücke auf 10
Wobei die medientheoretische Bewertung eines Films – Langs Metropolis – keinen Zweifel daran lassen kann, dass die Szenifikation der Szenografie unterworfen ist. Für die Rezeption, den Umgang mit Metropolis, gilt dies nur bedingt. 11 „Der Schriftsteller, der den Film lieben lernte, [...] liebt ihn noch jetzt und liebt ihn trotzdem und liebt ihn gerade und außerdem und läßt ihn nicht im Stich. Er weiß, daß er ihn verteidigen muß, [...], weil zum Beispiel dieser Mittler im Grunde gar nichts tut, als hinundherrennen“; Hildenbrandt, Metropolis, a.a.O. 12 Ebd.
EINFÜHRUNG
den Spielplan gesetzt. Die „gute Maria“, die diesen Wandel betreibt, begegnet hier oben im Garten dem, den sie ganz unten den Sklaven der Arbeit als neuen Heiland verkündet. Die „böse Maria“ trifft hier oben, im Kunstlicht der Berliner Club- und Barszene, auf die Jeunesse Dorée. Dass sie sich demnächst ebenfalls auf eine verträglichere Variante der Regieführung verpflichten lassen sollte, scheint unwahrscheinlich. Doch gibt es auch hier im Innern keinen anderen Ausblick als den einer Spiegelung. Gewaltanwendung und verträglicher Umgang gehören beide zum Spiel. Auf diese Weise erweist sich die Ausstattung der Kultur als bedeutsamer Katalysator des städtischen Verkehrs. Die Kultur beherbergt die überlebensfähigen Medienmaschinen. Verfolgt man den Weg der beiden Mariengestalten im Detail, legen sie einen Pfad durch die Stadt, der vom gegenwärtigen Boden der magischen Praktiken zu den Fundamenten des Kults und der Liturgie hinab geht, von dort aus, veranlasst durch die Krise von Technologie und Ökonomie, nach oben und, nachdem sich die alte Magie mit den avanciertesten Formen der Vergesellschaftung kultureller Identität verbunden hat, zurück zum ursprünglichen Ausgangspunkt führt. Eine ganze Runde im Prozess der Urbanisierung ist dargestellt und vollendet. In vergleichbarer Weise beschreibt Freder diese Bewegung. Nach der Begegnung in den Gärten nimmt auch er den Weg in die Tiefe, teilt heilandgerecht das Los der Maschinensklaven und drängt, nachdem er von der scheinbaren Revolte (die ausgerechnet die gute Maria, die nichts anderes tut, als zum Aufschub der Vermittlung zu animieren, anführen soll) erfahren hat, derart geläutert zur Reform der Verhältnisse. Nur eine Weile kann er gehindert werden, den Stab zu übernehmen. Medialität und Medien gehen mit in eine nächste Runde der Inszenierung. Sie wechseln lediglich ihre Gestalt. Ihre Botschaften bestehen weiterhin darauf, diese Entwicklung als tatsächlichen Fortschritt zu propagieren, als reale Entwicklung zu größerer Effektivität, auch weniger Gewaltsamkeit in der Durchsetzung zusehends urbaneren Zusammenlebens. Ein Blick auf die mit solcher Zukunft zugleich thematisierte Vergangenheit lässt daran zweifeln. Der aktuelle Kult greift weit in den Mythos zurück, der von Zukunft der Türme berichtet. Von hier aus betrachtet scheint die Zukunft besiegelt. Kaum kann es verwundern, dass die Zwangsobsessionen der Gotteskrieger, die die Medienbilder solcher Inszenierung für realitätsgerechte Erlebnisse nehmen, dem Mythos des Turmbaus huldigen. Metropolis tut es auch; allemal da so die Schuldfrage ein für alle Mal erledigt, delegiert werden kann. Turmbau, Urbanität bedeutet Hybris.13 Ein gewichtiges Quid pro quo. Statt die Hybris der Perspektive, nach Serlio also der „Szenographie“ und der aus solcher Perspektive gerechtfertigten Ansichten und Entscheidungen, zu thematisieren, werden die Bilder, die sich aus dem Blickwinkel des Perspektivs bieten, für bare Münze 13 Zu weiteren relevanten Ebenen und Achsen der Topografie und Topologie der Stadt siehe den Beitrag von Christoph Weismüller in diesem Band.
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Abb.3 Stadt im Umbruch. New York, nach dem 11. September.
genommen und als solche beurteilt; nur um auf demselben Weg mit anderen Bildern aus anderer Perspektive konfrontiert und verurteilt zu werden. Die babylonischen Architekten und Bauherren haben ihr Bestes getan. Die Krise war eine Krise der Kommunikation, die mit den Produktionsverhältnissen nicht Schritt halten konnte. In anderen Fällen schickt der Herr in solch kritischen Situationen seine Engel. Sie sorgen für Verständigung und Rettung. Michel Serres hat uns erklärt, dass es sich bei Engeln um Boten, Vermittler, mithin Medien handelt.14 Nicht anderes erzählt Fritz Lang mit seiner Metropolis. Historisch, das heißt in den Imaginationen der Erinnerung einer Vergangenheit, erfolgt der Einsturz und traumatisiert die Memorialität selbst – in weitaus den meisten Fällen eine Darstellung also. Dies gilt als Bedingung, die Affekte der Betroffenen in entsprechendem Sinne realiter modulieren zu können.15 Szenografisch inszenatorisch gehört zur Affektmodulation das Spiel mit den Alternativen, mit der Skala der Möglichkeiten. Der Turm zu Babel stürzt ein und verschüttet alles unter sich, was lebt. Von der Metropole Langs wissen wir nicht, was aus Turm und Türmen wird. Die letzte Szene stellt an ihre Stelle – gleicherweise heuchlerisch wie verräterisch – die säkularisierte Kathedrale, vor der die Arbeitermassen, wenn nicht 14
Engel sind es nämlich, die nach Serres für die Globalisierung des Urbanen durch universale Medialisierung einstehen müssten, eine „Welt, die zugleich durchmischt, lodernd, streng, hermetisch, panisch, heiter und offen ist“; ebenso „für eine Philosophie der Kommunikation, die von netzförmigen Systemen und Störfaktoren durchzogen ist und zu ihrer Begründung einer Theorie der Mannigfaltigkeiten, des Chaos, des Lärms und des Rauschens bedarf“. Michel Serres: Die Legende der Engel. Frankfurt am Main (Insel) 1995. 15 Siehe dazu exemplarisch die Analyse Brian Massumis zur Angstmodulation der New Yorker in der Folge der Anschläge des 11. Septembers über die einschlägigen „Ereignis-Medien“, allen voran das Fernsehen. Angst (sagte die Farbskala), in: Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Berlin (Merve) 2010, S.105-130.
EINFÜHRUNG
im Tumult, dann in Reih und Glied antreten. Die „M-Maschine“, das Herz der Lang’schen Metropolis, erweis sich als Moloch, dem die Kinder der Armen geopfert werden. Ein Hinweis auf die zukünftige Entwicklung der Technologie, die nicht mehr auf solche Ressourcen setzen muss. Die einschlägigen Szenen zeigen, dass es nicht die Herrschenden sind, die solches Unglück verschulden, sondern die Betroffenen selbst – auch wenn sie in Langs Inszenierung nicht wie im Mythos von Baal ihre Kinder verbrennen, sondern ersaufen lassen. Freilich, sie wurden vom Bösen verführt zum Aufstand gegen die Maschine; doch vermochten sie die Mittlerworte der guten Maria von der Agitation der bösen Maria nicht zu unterscheiden. Aber wer kann das schon? Ganz konsequent bleibt es den Engeln überlassen, die Kinder nach oben zu führen. Wenn auch nur auf den Boden der Tatsachen. Rettung gibt es immer nur medienvermittelt. Der Moloch, die M-Maschine ist selbstverständlich schuldlos, trotz ihres monströsen Aussehens. Sie hätte sich vielleicht, ohne den Anschlag des Mobs, durchaus konvertieren, technologisch und technisch anpassen lassen. Groth, der untadelige „Meister der Herzmaschine“ und ihr Verteidiger – der neben Brigitte Helm höchst gelobte Götz George –, verkörpert das beispielhafte Verhalten eines stets dienst- und opferbereiten, pflichtergebenen Anwenders. Die Große Hure Babylon der Geheimen Offenbarung erweist sich als mehrfache Obsession, des besonderen Narrativs wie der Szenografie. In ihrer Figur erscheinen nicht nur die zu Filmbildern entwickelten Halluzinationen der Apokalypse mit Shelly’schen Szenen Frankenstein’scher Experimente und Maschinenmensch-Phantasien der Science Fiction collagiert. Ebenso fließen Männerphantasien ein, in denen Hel (das Wunschobjekt des einen, Ehefrau eines zweiten und Mutter eines Dritten) von Frankenstein als humanoider Robot konstruiert und zu zum Leben einer allseits begehrten Mata Hari erweckt wird, derweil das Bild der Göttin als Statue im Heiligtum der Stadt Verehrung genießt, ein Palladium. Hel ist die Verbor-
Abb.4 „Jede Epoche träumt von einer schöneren Welt“ – Robotic-Angel. Nach der Comic-Vorlage METROPOLIS von Osamu Tezuka, Japan 2001, 107 min. 35 mm, Farbe, Deutsche Fassung, Regie: Rintaro (Shigeyuki Hayashi), Drehbuch: Katsuhiro Otomo.
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gene, die sich Verbergende, und so die Verbergende, die unsichtbar Machende, eine wahre Patronin des Medialen. Für Federsen verkörpert sie die Mutterstadt, die Metro-Polis; für Rotwang – wie für Freder, der als Engel allerdings den Inzest wittert und sich vorerst an die wohltätige Doppelgängerin der wiedergeborenen Mutter, die Mutter Maria hält – eine ihrer medialen Zukünfte, ihrer technischen oder sozialen Zukünfte. Dass dort die Zukunft der Rotwang’schen Träume ausgeschlossen sein sollte, nur deshalb, weil ein genialer Erfinder vom Dach fällt und ein Prototyp des Robotzeitalters verbrennt, wäre alles andere als eine überzeugende Inszenierung. Doch nur vom theoretischen, vom szenologischen Standpunkt aus gesehen. Alle historischen Konstrukte, alle mythologischen Genealogien der Metropole führen in die Gegenwart ihrer Inszenierung, sei es der Szenografie, sei es der Szenifikation, ganz wie Lefèbvre diagnostiziert. Nichts, allerdings, weist darauf hin, dass die angeblich der Vergangenheit angehörigen Geschichten nicht auch zukünftig der Ausdehnung des Urbanen zur Verfügung stünden. Der Handschlag der Schlussszene erfolgt über das Autodafé hinweg. Die Vergangenheit ist wie die Zukunft die Gegenwart. Allerdings gehört es, wie bemerkt, zur besonderen Kunst der Inszenierung, zum gegebenen Zeitpunkt verschwinden zu machen. Und erklärlich ist, dass der Metropolis-Kritiker Hildenbrandt, nachdem er die Vorstellung verlassen hatte, die Macht der Verführung der Szenografie und die Potenzen ihrer transmedialen Weiterungen verspürte. Denn, so war anderntags zu lesen, das alles kann dem Schriftsteller einige noch nicht gehörte Klänge nicht übertönen, einige noch nicht gesehene Farben nicht verwischen, er hört den unsterblichen Ton eines
Abb.5 Fritz Lang: Metropolis. Schlusszene.
EINFÜHRUNG
Märchens unwiderlegbar musizieren [...], und dieses Märchen sieht er übertragen in eine andere Sprache und Musik, in die schnelle und harte Sprache dieser und einer kommenden Zeit, in die tobende und blitzende Legende von Maschinen und Schaltbrettern, in die jähe und herbe Sage vom Verfall des Menschen an Akkumulatoren, Wechselströme und Turbinen. Das geht in wunderbaren Bildern vorüber, das ist mehr als Trick und Einfall, das ist nicht aus dem kalten Handgelenk. Und das ist von einem gemacht, der es nicht nur kann, sondern der es hat. Ob also die Arbeiter einmal so hausen werden oder nicht, ob der künstliche Mensch ein alter Trick ist oder ein neuer, ob die Maschinen technisch erklärbar sind oder nicht, ob die wunderbar geschauten Perspektiven einer Zukunftsstadt so werden oder anders, ob dieses oder jenes ja oder nein, wie herrlich bleibt das Märchen.16
2. PROSPEKT DER LESARTEN
In den meisten der Beiträge zu städtischen Inszenierungen geht es um andere Gesten als Handreichungen und Versöhnungen und um andere Blicke als die Hybris der Höhe. Unter dem transversalen Prospekt – dem ‚Durchblick‘ der Ereignisse der RUHR.2010 zu ihren Bedeutungen – ist festzustellen, dass die Autoren gegen eine Kommerzialisierung der Stadt, ihrer monologischen Narrative und Zwangsuniversalisierung votieren. Stattdessen wird eine, nicht nur für künstlerische Aktionen bestimmende, dialogische Auffassung in der Ökonomie der Selbst- und Fremddarstellung der Stadt und ihrer Bewohner angeregt. In Bezug auf die eher philosophischen Essays wird gefordert, dass nicht eine Dialektik von gesellschaftlicher Offenheit und gemeinschaftlicher Bindung sondern eine ökologische Balance mit wechselnden Bedeutungen Urbanität strukturiert. Eine ‚ökologische Soziologie‘ soll, und hierzu dient der szenografische Aspekt einer Initiation atmosphärischer Setzung (u.a. Fromm), in einer dritten Prospektive, den szenografischen Akt der Wahl einer ‚Lesart‘ der Stadt mitbedenken, insofern die Stadt ihre Vitalität durch Möglichkeitsperspektiven (Verführungen, Entfremdungen, Findungen) erhält. Damit werden Images und Mythen des Urbanen nicht als dispositive Tauschmasse erfasst, denn die Möglichkeit Steine/Architektur umzustellen ist seltener, als Besucher, Akteure und Aktionen/ Ereignisse, respektive ihre Strategen und Planer zu tauschen. Unter dem Ansatz des strategisch inszenierten Rollentauschs (Scorzins ‚Relationale Szenografie‘) wird ein metamorphotischer und anamorphotischer ‚Anarchismus‘ der Stadt zugleich in Balance von Dynamik, Statik und Transformation gehalten. Die ‚Unbeherrschbarkeit der Metropole‘ macht gleichwohl auch ihren oft expansiven Freiheitsdrang aus: den ihrer Bewohner, Agglomerationen und Planungsperspektiven (Eisinger). Der Planbarkeit der Stadt soll die konservativ verwaltende Statik genommen werden, die in väterlicher Hoheit meint die Setzungsinitiativen über den mütterlichen Grund der Metro-Pole innehaben 16
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zu können. Planbarkeit heißt jetzt, das strategische Feld der Freiheit als Agora, Forum, Platz, Park, Boulevard oder Fest bewusst für ‚anarchische‘ Momente und Gruppen vorausschauend bereitzustellen. Dabei geht es nicht nur um Entfesselung der Räume, wie in Langs Metropolis, sondern um Zeitdispositionen und Bedeutungswandel, damit die Ereignisse nicht als unverbundene im Individuellen zerfallen: Dann privatiert die Stadt – als Schlafstadt, der das urbane Leben entzogen ist. Es müsste also der Ökonomie der Stadt eine ‚Ökologie der Gemeinschaft und Bedeutungen‘ als szenologisches Konzept geschrieben werden. Zumindest für die diskurstheoretische Ebene war die RUHR.2010 ein Glücksfall, weil als Monolog, Dialog und ‚Tetralog‘ alle urbanen Ereignisformen fokussiert, gleichzeitig und zum Teil widerstreitend als Prospekt sich darboten. Wie diese ‚suburbane‘ These in den einzelnen Beiträgen aufgegriffen wurde, macht eine – subjektive – Lektüreübersicht deutlich. Unter dem Gesichtspunkt einer Bewertung der RUHR.2010 beschäftigt sich ACHIM PROSSEK vom Standpunkt des Urbanisten mit dem Phänomen der Kulturhauptstadt. Als intimer Kenner der Forschungen um die Metropolregion Ruhr wagt er einen nicht nur auf das Jahr 2010 festgelegten, kritischen Blick über die Planungszeiträume seit der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (IBA, 1989-1999). Ihn interessiert der Imagefaktor einer Region, die sich mit dem Event RUHR.2010 das Ziel gesetzt hat, sichvom altindustriellen Standort (‚Ruhrgebiet‘) wegzubewegen und als lebendiger ‚Metropole Ruhr‘ wahrgenommen zu werden. Inszenierung als Metamorphose der Bedeutung – wie geht das? Ob die Inszenierungsformen des Kulturhauptstadtjahres dem alten Klischee oder dem neuen Ideal gedient haben, untersucht Prossek sowohl begriffspezifisch wie auch an ausgewählten Inszenierungen, die als ‚Magnete‘ des Umfelds wie als ‚Möglichkeitsräume‘ wirken konnten. Dabei ist eben nicht entschieden, ob eine Inszenierung die Metropole oder die Metropole die Inszenierung hervorbringt, oder ob gar unter dem vereinigenden Begriff ‚Metropole‘ etwas ganz anderes gemeint war als der veraltete Gedanke der Initiierung einer Ganzheit – aus monologisch merkantilem Zwang. Aus einer kunstästhetischen Perspektive untersucht PAMELA C. SCORZIN einige herausragende, unter dem Label der RUHR.2010 organisierte Kunstaktionen. Ihr geht es um die Darstellung einer Risikobereitschaft, die gegen den Sicherheitsmodus (siehe Prossek und Weismüller) der Veranstaltungen sich eine subversive Strategie im Sinne Relationaler Szenografie erlaubt. Wie ist der riskante Prozess der Identitätsstiftung über den Prozess der Bilderstehung und des Erinnerungsbildes einzubringen in eine Transformation von Gemeinschaft, die die Wandlungsfähigkeit einer Metropole an ihrem Sicherheitsbedürfnis, nicht nur der Menschen, sondern der Durchplanbarkeit der Aktionen bemisst? Die
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Einbringung einer „Non-Ästhetik“ und eines „kreativen Risikos“ kann, nach Bourriauds Begriff einer relationellen Ästhetik, als Relationale Szenografie erklärt werden. Darunter versteht Scorzin Offenheit für eine partizipative Strategie, in der die Konstellationen von Besucher, Akteur, Regisseur (Szenograf ) zeitweilig wechseln oder sogar offenbleiben können und somit Autorschaft nicht monologisch, nicht dialogisch, sondern kommunikativ ausspielen. Die dabei auftretenden „Verwirrungen“ führen zu der Wandlungs- und Selbstreflexionsfähigkeit, die dem Gedanken einer metropolitanen Kommunikation unterstellt wird und die dennoch unter der Bereitstellung eines szenografischen „Weltenraums“, einer atmosphärischen Situativität, nicht ins Beliebige abdriftet. Wie solche Markierungen und Demarkierungen der künstlerischen Strategie auch auf der RUHR.2010 plaziert werden konnten, die im Kontrast zu den gängigen Massenveranstaltungen – nicht als deren Ersatz – zu fungieren haben, dafür gibt Scorzins Beitrag eingängige Beispiele. Einer der Szenografen, die direkt und mit einem Highlight – der komplexen LED-Großflächenbespielung des Dortmunder U – in die RUHR.2010 involviert war, ADOLF WINKELMANN, hat mit seinen Fliegenden Bildern ein ‚Leuchtturmprojekt‘ über das Jahr 2010 hinausgeführt. Die Fliegenden Bilder versteht er nicht als aufgepepptes Metropolenkino unter neuer Beamer- und LED-Technik, sondern er versucht mit eigenständigen Formaten und Bewegungsmustern, die immer auch ikonisch geerdet sind, eine andere Art der offenen und unterschwelligen (stummen) öffentlichen Aufmerksamkeit zu dirigieren. Sein Beitrag in diesem Band kann denn auch nicht anders als ironisch auf die ‚Leuchtturmprojekte‘ der RUHR.2010 verweisen, um seine eigene, reale Leuchtturmfunktion immer wieder in Frage zu stellen. Die Zeugnisse des Dortmunder U, die Winkelmann historisiert, sind ein Satirespiegel auf die Großmannssucht mancher Metropolen-Szenografen und ihrer Sinngebungsoffensiven. Die Winkelmannschen Bildexperimente und die flanierenden Betrachter innerhalb und außerhalb des U, die einen Blick riskieren, dekonstruieren so – babylonisch – beständig und laufend die Bilderwartungen städtischer Mythen, Informations- und Lenkungszwänge. RALF BOHN antwortet auf die frühromantische Strategie der Selbstironisierung mit einem Verweis auf das historische Konzept, das hinter der von Winkelmann gewählten Metapher des ‚Glöckners vom U‘ steht. Eine lange architektonische und ästhetische Tradition des Turmbaus und seiner Funktion sowohl als Zeitmaschine (Uhrturm), die in der Lage ist, Gesellschaft zur Gemeinschaft zu takten, fundiert sich nicht im Argument des Hochhausbaues aufgrund von Platzmangel. In der Taktung ist stets die gegen die Kirchturmuhr gerichtete Strategie der Verweise auf die Begrenztheit der Zeit sichtbar, ebenso wie die gegen sie gerichtete
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Ranküne, der reinen, todesdrohenden Zeit, eine qualitative, szenische Zeit entgegenzusetzen. Das haben die Figuren- und Glockenspiele der Rathaustürme, die gegen die tickenden drehenden Zeiger agieren, den astronomischen Uhren voraus. In der Tradition der Szenifikation der Zeit, die mit Wind und Wetter, den Jahres- und Tageszeiten spielt, steht auch der von Winckelmann programmierte Ereignisablauf. Dahinter steht die These, dass Rationalität nicht objektiv schicksalhafter Progression, wie z.B. dem technischen Fortschritt, sich anzudienen hat. Dieser Progress muss beständig an der szenischen Atmosphäre mit Bedeutung aufgeladener Situationen gebrochen werden, um ‚Hochtechnologie‘ beispielsweise überhaupt noch operativ – d.h. durch Design vermittelt, konsumierbar zu machen. Eine Logik der Szenifikation muss aus diesen Gründen sich vom Primat des ästhetischen Diskurses befreien und in den soziologischen, politischen und philosophischen eintreten. Zum Thema der Lichtprojektionen und der Verwandlung der Stadt als einer Metropole, ‚die niemals schläft‘, geben DENNIS KÖHLER und MANFRED WALZ einen Befund ab, der sich nicht nur auf den Schwerpunkt der Lichtinszenierung innerhalb des Programms der RUHR.2010 bezieht. Großstädte als „Laboratorien der Moderne“ starten mittels Lichtinstallation – und die beginnt bei der Einführung des Gaslichts – den Versuch, das Wahrnehmungsbild von Naturvorbildern unabhängig zu machen. Die Folgen für den Rhythmus einer Stadt sind gravierend, zuerst in der Beleuchtungsfunktion, dann in der ästhetischen, schließlich in der sozialen. Dabei gilt es, die Unterscheidung zwischen punktförmigem Licht, dass spezifischen Einzelinteressen dient, und einer Gesamtbeleuchtung, die bewusst den Stadtraum gliedert, respektive ästhetische Schwerpunkte setzt, einzuführen. Damit aber wird auch die Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre im nächtlichen Stadtraum problematisiert und planbar gemacht. Insbesondere schließen Köhler und Walz die Frage ein, ob denn nicht auch die Architektur ihre Nachtseite als gestaltete zur Schau stellen kann. Die notwendigen technischen und ökologischen Innovationen seien mit den neuen modulierbaren Lichtquellen und Leuchtmitteln gemacht. Es gilt hinsichtlich dieser neuen Gestaltungsmöglichkeiten die Differenzierung von Lichtarchitekt, Lichtdesigner und Lichtszenografen auszuloten und das Planungswesen dahingehend zu strukturieren. Auch HOLGER MADER, ALEXANDER STUBLIC´ und HEIKE WIERMANN agieren im Umfeld urbaner Licht-, Video- und Tonproduktion und stellen in ihrem Beitrag eigene, weltweit installierte Projekte vor, die die aktuellen Trends der licht- und bildprojektiven Stadtgestaltung in teilweise komplexe, mobile, simulative und dissimulative Formen überführen. Dabei legen sie ihren Schwerpunkt auf die Übergangszonen Innen-Außen. In dem Projekt der Galerie HBK Saar oder des
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Schaufensterraums von der Linden in Mühlheim oder der Flowing Space, Stadthalle Mühlheim, werden solche Trennungen thematisiert, irritiert und überwunden. Gerade durch die relationalen Inszenierungen der Raumdurchdringung, des Zwielichtes und der Auflösung von Lichtraum und Architekturraum, gewinnen die künstlerischen Aktionen einen Reiz, der der Funktion des Lichtes eine neue Dimension abgewinnt, nämlich die, Räume nicht in hell und dunkel zu unterscheiden, sondern sie choreografisch – insbesondere dann, wenn auch Videoprojektionen eingesetzt werden – als dynamische Bildwelten zu semantisieren und zu inszenieren. Mit der Darstellung von ökonomischer und kultureller Durchdringung der Stadt beginnt BERNADETTE FÜLSCHER ihren Beitrag. Dabei geht sie von einer Elementbestimmung urbaner Inszenierung in Architektur, Design und Kunst aus. Da sich ‚Elemente‘ in der Inszenierung verändern und somit – nach Baudrillard – auch die Realität, also die nicht inszeniert gesetzte Situativität, bedarf es einer Präzisierung des Element-, Werk- und Projektbegriffs. Wenn Realität in der Inszenierung selbst eine Umwertung ihrer Elementerfahrung erfährt, zur Simulation oder Hyperrealität wird, folgt daraus eine ‚Stadt ohne Eigenschaften‘, die sich nur noch um einen ‚Mythos‘, eine Erzählung fiktiv – wenn auch in einer gemeinschaftlichen Fiktion – bestimmen lassen kann. Wie ist ein ‚Archiv der Kunststadt‘ möglich? Die Stadien der Destabilisierung der Realität als Elementarität sind: Effekt (Präsentation), Image/Story (Umformung), Simulation (Bedeutungs-/Lageveränderung) und Konstruktion ohne Vorbild. Wie die Entwicklung einer Transformation – von der Reproduktion bis zur Konstruktion – sich im urbanen Raum organisiert, erläutert Fülscher an Projekten der Schweizerischen Landesausstellung Expo.02 und an Inszenierungsobjekten der Stadt Zürich, ausgehend vom Ornament bis zur Großplastik und Architektur. Dabei bleibt offen, ob es eine geplante Kunststadt, im Gegensatz zur Künstlichkeit der Stadt und zur ‚Natürlichkeit‘ ihres Außenraumes, geben kann. Die Aufrechterhaltung einer Fiktivität als gemeinschaftsstiftende Ganzheit bleibt – bei aller Elementarität, die häufig nur durch Autorschaft und Werkzuschreibung begünstigt ist – die wichtigste Aufgabe der Durchdringung von Kultur und Ökonomie. Nach der Zürcher Perpektive widmet sich EBERHARD SCHREMPF einer weiteren ‚Kulturstadt‘: Graz, europäische Kulturhauptstadt im Jahr 2003.17 Graz war weniger mit einem Metropolenanspruch als mit dem der historischen Aufarbei17
Vgl. Karl Stocker, Erika Thümmel: Die Exkstase der Theorie. Theoretische Konstruktionen und gestalterische Entscheidungen. In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Szenografie & Szenologie Bd. 1, Bielefeld 2009, S.329-348.
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tung beschäftigt. Im Umfeld einer der größten erhaltenen barocken Innenstädte ist insbesondere die unrühmliche Geschichte der ‚Hauptstadt der Bewegung‘, die Randlage nach dem Zweiten Weltkrieg und die Aufbruchsbewegungen nach dem Fall der Grenzen thematisiert worden. Der Aufschwung der Stadt bleibt für die Grazer ambivalent: zwischen „extremer Leidensfähigkeit“ und heiterer Aufbruchstimmung, immer im Schatten Wiens. Im Vorfeld der Inszenierungen der Kulturhauptstadt, mit ihrer weit über Europa ausgreifenden Marketingwirkung, verordnete sich Graz eine Therapie der Befreiung, so Schrempf, die die historische Seelenlage auf die aktuale von äußerer und innerer Vergegenwärtigung heben sollte. Schrempf erläutert an konkreten Beispielen, wie dieser therapeutische Ansatz nach dem Kulturhauptstadtjahr als gespiegeltes Bewusstsein einer Selbst- und Fremddarstellung weiterwirkt. An den ‚Potentialen der Kreativität‘, der Universitäts-, Handels- und Touristenstadt, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss einer sehr starken Kreativwirtschaft und dem ‚Therapieinstrument Design‘, hat Graz nach dem Jahr 2003 ganz bewusst sein neu gewonnenes Potential immer wieder in aufmerksamkeitsstarken künstlerischen oft provokativen Inszenierungen darstellen können und bietet eine Antwort auf die Frage: Was bleibt nach dem Kulturhauptstadtjahr? Der Aufsatz von ERNEST WOLF-GAZO entführt uns aus Europa in die Metropole Kairo und in die Geschichte ihrer Entdeckung und Rezeption, insbesondere durch Maler und Literaten zu Beginn des 20. Jh., die Kairo als eine intensive Kulturstadt zu erforschen beginnen. In seiner Collage der Stadt wird man der engen Verbundenheit und der kulturellen Unterschiede und Bewertungen des Charakters der Metropole am Nil gewahr. Gleich welche Besucher die Stadt aus welchen Gründen auch immer betraten – Napoleon zur Eroberung, Sartre zur Inspektion der frühen ‚Revolution‘ Nassers –, jeder, der die Geschichte der großen Hotels an der Gold Coast atmete, gab der Stadt ihre europäische Note. Gleichzeitig ‚orientalisierten‘ sie ihre Ansichten über das andere Funktionieren einer Megacity. Ein Pol dieser Auseinandersetzung, das Café Riche, dient Wolf-Gazo als Fokus für diese Stadt, die für den Fremden weniger in bewussten Inszenierungen als durch tatsächlich erlebte oder im Schatten der langen Nachmittage erfundene Geschichten lebt. Geschichte wird zum Ort der Inszenierung. Die Revolution des Tahrir Square ab dem Frühjahr 2011 fügt dieser Geschichte neue Seiten hinzu – Erzählungen, die von Europa noch Wochen vorher als orientalische Märchen abgewiesen worden wären. Und trotzdem wieder der Vergleich: Ist der europäische Begriff ‚Revolution‘ angemessen für eine Metropole von mehr als 20 Mio. Einwohnern, von denen viele wohl noch nie den TahrirPlatz betraten? – Die Frage des Erfolgs der Revolution, ist das nicht eine Frage aus mitteleuropäischer Perspektive, wie der Begriff der Geschichte selbst?
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Mit der Darstellung ‚situativ bestimmter Qualitäten im Raum‘, angelehnt an Gernot Böhmes Begriff der Atmosphären18, beginnt der im engeren Sinne szenologische Teil des Bandes. LUDWIG FROMM beschäftigt sich mit der von Hermann Schmitz angestoßenen (neu)phänomenologischen Frage des Übergangs von Situativität zu Inszenierung. Ihm geht es auch um die von Scorzin aufgeworfene Frage nach der ‚Setzung‘ eines initialen Freiraums, der die Tauschökonomie der Subjekte/Objekte der Inszenierung ermöglicht und sich relativ unabhängig von der Ökonomie des Marktes halten kann. Atmosphären, die als Gefühle wahrgenommen werden, sind ‚leibliche Wahrnehmungen‘, die als Brückenfunktionen zwischen den räumlichen Gestalten und der menschlichen Leiblichkeit dienen. Fromm untersucht, wie diese Brückenqualitäten unter anderem als „Bewegungssuggestive“, als Durchdringung der Perspektiv- und Standortwechsel, vergegenwärtigt werden können – wie also überhaupt Inszenierungsorte/-zeiten als solche im Gegensatz zu bloßen ‚Wahrnehmungen der Realität‘ als ‚Resonanz von Ganzheiten‘ empfunden werden können, unabhängig von der rationalen Demaskierung und der Relationalität einer Inszenierung. Im Übergang zu den Lesarten einer Stadt, folglich auch ihrer Narrative und Narrationen, sucht ANGELUS EISINGER nach „Indizien für eine Geschichte der offenen Stadt“. Er findet die Lesart der ‚offenen Stadt‘ zunächst begründet durch die Transformationen der Gesellschaft nach der industriellen und der Französischen Revolution. Drei Elemente bilden ihr programmatisches Feld: das Versprechen auf „emanzipierte Existenz“, das daraus folgende „städtebauliche Programm“ und die Individuierung des Programms unter der Möglichkeitsperspektive, „Optionen des Alltags produktiv zu kanalisieren“. Die offene Stadt soll in diesem idealen Zyklus sich als „ökologisches System“, das seine transitorischen Momente in einer über eine bloße Systemdialektik hinausgehende Eigentransitorik erfährt, von selbst entfalten. Bürgerliche Existenzgründungen, Haussmannsches Programm und Gendrifizierung der Stadt zeichnen im Paris des Second Empire diese Ökologie nach. Kann, was für Paris galt, für die moderne, am Reißbrett entworfene Stadt gelten? Eisinger geht – nach Paris – von einem zweiten perspektivischen Entwurf aus: Bethnal Green (1950). Ein dritter – der Ressourcenverzehr der Urbanisierung in der Nachkriegszeit – zeigt die Probleme der Ausbreitung und ein vierter die Fähigkeit zu Selbstreflexion, also die kulturell-ökologische Wende der ökonomischen Stadtmaschine. Gerade der Bezug auf die Wirkungsgeschichte zeigt, dass das Phänomen der ‚Offenenen Stadt‘ eher eine Lesart des Planbarkeitswillens ist, 18
Siehe Gernot Böhme: Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma für eine Kunst der Atmosphären. In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd. 4, Bielefeld 2011.
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ein Mythos, und nicht eine historisch nachvollziehbare Entwicklung. In dieser Hinsicht sind ‚Planungen von Inszenierungen‘ als Setzungen in den utopischen ‚Raum‘ zu verstehen, um ihn zum Möglichkeitsraum werden zu lassen. Oder, wie Eisinger feststellt, Planung sollte „ein Wagnis [sein], das gewagt werden muss“. HEINER WILHARM unternimmt eine umfängliche Darstellung der Ereignisform ‚Urbanität‘ historisch und systematisch, und zwar an Hand differenzierter Planungs-, Architektur- und Ästhetikfelder und ihrer professionalisierten Diskurse, von Urbanistik über Semiologie bis Szenografie. Dabei geht er zunächst von dem aus, was sich als ‚infraordinäres‘, als bloße städtische Situation und ‚Vitalität‘ der Inventarisierung und der Aufmerksamkeit entzieht, was nicht Ereignischarakter hat. Diese positive Haltung gegenüber der städtischen Dynamik gehört in das Beschreibungsgebiet der Sozialwissenschaften. Aber die soziologische Perspektive als Ideologie und Ideologieaufklärung ist nur eine unter vielen, sodass sich in der Vielfalt der ‚Bemerkens-‘ und ‚Bedeutungsperspektiven‘ unterschiedliche Topologien und Deutungen der Stadt ergeben. Wilharm stellt sich die Aufgabe, solche Ideologie- und Diskurspositionen als inverse Ansichten der Stadt zu untersuchen. Dabei fällt insbesondere in performativer Hinsicht auf, dass weder von Inszenierung noch von der Unterscheidung in Inszenierung und Szenografie, also der strategischen Selbst- oder Fremdkonfiguration einer Stadt, die Rede ist. Mit dem Begriff ‚Szenifikation‘ aber wäre eine Metaposition der Planungs- oder besser Modellwissenschaften selbst angeregt, insbesondere wenn die Differenz von Situationen (‚Infraordinärem‘) und Szenifikationen explizit wird. Wenn ‚die Stadt‘ nicht existiert, so muss sie erst durch Diskurse, Lesarten ‚über die Stadt‘ Wirklichkeit werden – aber eben im Medium der Fiktion, den verschiedenen Planungszuständen. Die Professionalisierung solcher planungswissenschaftlichen Kompetenz gehört dann unter anderem in den Bereich der Szenologie. Deutlich macht Wilharm die mögliche Nichtübereinstimmung von realer Stadt und fiktionaler Perpektive an der Lesart des Homerischen Mythos und seiner (archäologischen) Realität: Troja. Das gleiche Problem taucht bei der (Neu-)Bewertung der gotischen Kathedrale auf, deren ursprüngliche Idee uns nur als eine Lesart des Abts Suger von Saint-Denis gegeben ist, der sich wiederum auf eine spezifisch legitimierte Lesart des biblischen Heiligen Jerusalem bezieht. Lesarten aber stellen sich nicht nur dar, sondern sie bedeuten immer auch etwas, so Wilharm mit einer Analyse der Peirce’schen Semiosis. Als ‚Tri-relation‘ heben sie die Referenz der Szene in eine Mehrwertigkeit, die bedeutend ist, weil sie als Fiktive im Deutungssog von Realität steht. Dieser Sog, Atmosphären respektive Gefühle (vgl. den Beitrag von Fromm), können „hart oder weich“ sein; jedenfalls erweist sich Szenografie als eine Weise, ‚den Stein zu erweichen‘, Möglichkeiten dem Realitätsprinzip entgegenzustel-
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len. Diese szenische Öffnung erlaubt den für eine Metropole typischen Prozess der beständigen Transformation zu erklären, indem sie szenologisch eine „Grammatik des Übergangs“ von „Entwurf und Realisation“ typologisiert. Die Begriffe ‚Urbanität‘ und ‚Metropolitanität‘ deutet RALF BOHN in seiner geschichtsliterarischen Darstellung am Leitbild Paris (siehe auch Eisinger) als Totalisierungsformen von Lesarten – er folgt also der von Wilharm gelegten Spur. Erst im Medium des theatralen und literarischen Diskurses des privatisierenden Bürgertums, dem über weite Zeit ein mediales Monopol über die Bekenntnisform der Zugehörigkeit oder Distanzierung zu einer städtischen Gemeinschaft zugesprochen wird, kann die Trennung von fiktionalisierter und realisierter Stadt thematisiert werden. Im 19. Jh. wird über die Reflexionsform Literatur ein Gemeinschaftsverständnis gezündet, in dem der organisierte Diskurs der Stadt formuliert werden kann, insofern die städtische Gemeinschaft sich nicht einem signifikanten Akt, sondern einer retroaktiven Sinnstiftung verdankt. Roland Barthes hat in den sechziger Jahren empfohlen, die Stadt gemäß einer Textur zu planen, und damit – ohne es zu explizieren – eben den Gedanken einer inszenierten Stadt eingefordert. „Stadtsemiologie“ als eigenständige Disziplin hätte den Widerspruch zwischen der Bedeutung und der Funktion einer Stadt als Sinn und Textur eines Ensembles diskreter Orte so zu organisieren, dass die permanente Dynamik großstädtischen Lebens nicht simulativ, sondern bedeutsam, im Sinne und in der Sinngebung von Fortschreibung verstanden werden kann. Das kann nicht in Form eines historischen oder postmodernen Symbolismus patriarchalischer Zuschreibung, sondern nur in einem Bemerken der performativen Lenkungen der Sinnentdeckung im hermeneutischen Akt geschehen, der weniger das Ergebnis einer geplanten Struktur als das einer „erotischen Dimension“ der Entdeckung ist. Barthes fordert, so Bohn, die Lektüren einer Stadt und die Unbefangenheit von Lesarten, also interpretativen Darstellungsformen, mit in die Stadt einzubeziehen. Bohn geht dabei von einer Tradition des Stadtpanoramas aus, wie es Hugo in seinem Werk Notre Dame de Paris für den paradigmatischen Wechsel einer Stadt aus Stein (der Kathedrale) durch die Stadt des Buches, insbesondere auch der Rechtsordnung und der theatral-literarischen Inszenierungen, für notwendig hielt. Ansetzend bei der Kathedrale als Stadt aus Stein untersucht Bohn den Hugoschen Paradigmenwechsel unter der Frage entdeckender Stiftung einer ‚Mutterstadt‘ als metropolitane Emanzipation vom fehlenden Signifikanten Vater aus. In dieser Formel, in der die Fiktion nachträglich die Zeugung der Stadt setzt – anders als der patriarchalische Kampf in den Gründungsmythen von Athen oder Rom – soll gegen den topologisch-patriarchalen Signifikanten des Staates sich eine Kommune emanzipieren. Die Stadt im Verhältnis zum Staat
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prägt eine sexuelle Differenz aus, wie sie gerade in der staatlichen Kapitale Paris immer wieder zu weitreichenden Kämpfen führt. Indem sich die Lesarten unter dem abwesenden oder – wie im Ruhrgebiet – stets fernen Signifikanten (Preussen, Berlin) diskursiv ändern kann, wird die Stadt zwar lebendig, aber nicht metropolitan. Das Ruhrgebiet ergreift folglich ein nachträgliches Selbstgründungsfieber, eine Suche nach dem Vatersignifikanten. Gegen die Rede von der Selbst- und Fremdbestimmung einer Stadt ist also ein erotisches oder sexuelles Verhältnis von Stadt und Staat, von Gemeinschaft und Gesellschaft zu konstatieren, wie es etwa Aragon in seinem Roman Le Paysan de Paris beschrieben hat. Dass man von Hugo über Zolas La Ventre de Paris oder La Curée bis Aragon stets auf diese Tradition von städtischem Aufbau und Zerstörung aufmerksam macht, ist ein Indiz für die in der Mitte der Diskursgeschichte der Stadt stehende signifikante Leerstelle, deren Beschwörung sich im künstlerischen Diskurs der Sprache als Sprache selbst strukturiert, und zwar, so Lukàcs, insbesondere in der Form des modernen Romans – von Hugo bis Döblin und Max von der Grün. Die Literatur als Inszenierungsform ist das, was den drohenden väterlichen Signifikanten – die Statik der Stadt – sowohl beschwört als auch abwehrt. Dass die Darstellung szenografischer Ereignisse keine Beschäftigung mit dem bunten Inventar der Spaßgesellschaft ist, führt der Beitrag von CHRISTOPH WEISMÜLLER vor Augen. Er spart die erschreckenden Ereignisse der Duisburger Loveparade als Grenzfall der Massenorganisation ‚Metropole‘ nicht aus falscher Scham aus. Im Extrem erweisen sich nämlich die urbanen Zerstörungs- und Aufbauutopien und Realitäten der Metropolen (siehe die Planungen von Paris, Berlin, Moskau in den dreißiger Jahren) weniger als Bühnen denn als revolutionäre Widerstandsorte gegen drohende Emanzipation einer revolutionären Risikogesellschaft. Stets sind es die unkalkulierbaren ‚Massen‘, die das in der Totalität Verdrängte wieder in Bewegung bringen. „Kurz: Inszenierungen der Metropole sind gewalthafte, ästhetisierende Übergriffe zur Etablierung von – zumeist technisch-medialen – Machtverhältnissen.“ So gesehen wird deutlich, welche Anforderungen an den immer höher gerüsteten Sicherheitsapparat, insbesondere bei Massenevents – die sich neuerdings medial massieren und spontan verdichten – gestellt werden müssen. Letztlich muss dieser Apparat die gesamte Konterkarierung der in den Dingen, Steinen und Strukturen verwahrten Todesabwehr kontrollieren können, ohne jedoch auf Gegengewalt (siehe die urbanen Bewegungen des arabischen Raumes) rekurrieren zu sollen. Wenn der Sicherheitsaspekt auf eine noch so freudige Risikogesellschaft trifft, so Weismüller, ist, wie im Falle der Fluchttunnelschließung von Duisburg, die Katastrophe programmiert. Solche Verschließungen (z.B. auch die der Verkehrsströme) drohen allemal in der Stadt, wo, psycho-
EINFÜHRUNG
analytisch gedacht, der metropolitane ‚Mutterkörper‘ sich den Polizeianweisungen zu substituieren hat. Im Inszenierungsspektakel dürfen sie szenografisch und ‚versicherungstechnisch‘ gebremst dionysisch entfesselt werden. Weismüller weist auf die Rissigkeit dieser Balance von Sicherheit und Kontrolle und Freiheit und Genuss hin, die sowohl technisch-medial als auch durch die Spontaneität modernster ‚Vergemeinschaftungstechniken‘ immer mehr in die Extreme zu gehen droht. Minutiös analysiert er die Veranstaltung der Loveparade auf diese Rissigkeit hin. Ihm geht es dabei nicht um die Verortung einer Schuld, sondern um die Analyse dessen, was im Wahn der Metropole stets vom bürgerlichen Standpunkt als ‚Fest‘ verharmlost wird.
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ZUR INSZENIERUNG DES RUHRGEBIETS ALS KULTURHAUPTSTADT EUROPAS
Das Ruhrgebiet war 2010 Kulturhauptstadt Europas – so wie zuvor Cork, Patras, Sibiu, Liverpool, Antwerpen, Rotterdam, Berlin, Weimar und viele andere Städte. Wenige sind vielen im Gedächtnis geblieben, viele eher wenigen. Andere Städte werden als Kulturstädte angesehen, ohne jemals den Titel Kulturhauptstadt der Europäischen Union getragen zu haben, zum Beispiel Wien oder Bayreuth. Inszenierungsstrategien spielen bei der Apostrophierung als Kulturhauptstadt oder Kulturmetropole daher eine große Rolle: Die Städte wollen Aufmerksamkeit erlangen, für bestimmte Leistungen gewürdigt und wegen ausgewählter Eigenschaften als attraktive Reisedestination nachgefragt werden. Kultur ist heute Standortfaktor und insofern gleichermaßen in der Ökonomie der Symbole wie der realen Wirtschaft verankert. In beiden herrscht das Diktat limitierter Aufmerksamkeit – diese wird dadurch zu einer Art Währung. Für Städte, die hier mithalten wollen, ist das Kulturhauptstadtjahr eine einmalige und prestigeträchtige Angelegenheit. Diese wird schon lange nicht mehr als hauptsächliche Kulturveranstaltung begriffen. Das Kulturhauptstadtjahr ist ein Instrument der Stadtentwicklung geworden, welches nicht nur bauliche und infrastrukturelle Verbesserungen erzeugen soll, sondern vor allem Imageverbesserungen und die Förderung des Tourismus – gerne auch mit einer Steigerung des lokalen oder regionalen Selbstbewusstseins verbunden. All dies ist auch im Fall des altindustriellen Ruhrgebiets gegeben. Überdeutlich trat das Verständnis vom Kulturhauptstadtjahr als strukturpolitischem Instrument, als Imagefaktor hervor. Das Ruhrgebiet hat das Kulturhauptstadtjahr darüber hinaus eng an seinen Identitätsdiskurs gekoppelt und das Ziel der angestrebten Transformation gleich mitbenannt: Metropole Ruhr. Dass das Ruhrgebiet auch eine Kulturregion sei, war also nicht die (Haupt-)Botschaft, sondern die kulturelle Transformation der Region zu einer Metropole. Aus diesen Gründen verdient RUHR.2010 hier besonderes Interesse. Die Inszenierung des Ruhrgebiets als Metropole Ruhr begann zwar schon fünf Jahre zuvor, mit der Entscheidung des Regionalverbands Ruhr, fortan statt von Ruhrgebiet nur noch von Metropole Ruhr zu sprechen, sie bekam aber erst mit dem Kulturhauptstadtjahr als Medium und Instrument Dynamik und große, auch überregionale Aufmerksamkeit. Hier setzt sich nicht eine Metropole (neu) in Szene, so wie man es von Barcelona oder Wien behaupten kann, hier proklamiert eine Region, ehemals größtes Industrierevier Europas, ihre
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Verwandlung in eine Weltstadt. In der Kulturhauptstadt RUHR.2010 sind also die ökonomischen Erwartungen eng mit grundlegenden regionalen Bewusstseinsfragen verknüpft. Als „Kulturmetropole“ positioniert sich die Region weiter und stärker in der postfordistischen und postmodernen Gesellschaft, als sie es strukturell und mental bisher war, allen Strukturwandelbemühungen zum Trotz. Der Beitrag wirft einen Blick auf Form und Inhalt dieser Metropoleninszenierung. Das bedeutet, dass das Selbstverständnis, die Strategie der Veranstalter untersucht wird. Dabei wird die charakteristische Veranstaltungsform des Massenevents auf ihre Metropolitanität untersucht. Anschließend wendet sich der Blick den Projekten zu. Es wird geprüft, welches Metropolenverständnis dort vorzufinden ist und wie es sich auf die Gesamtwahrnehmung des Jahres auswirkt. Dieser Einblick wird vertieft durch Einbeziehung nicht realisierter Projekte, die ein hohes diskursives Potenzial aufwiesen. Abschließend wird abgewogen, inwieweit die Inszenierung eher dem Ruhrgebiet oder der Metropole Ruhr gegolten hat. Bei alledem ist eine Unterscheidung von Inszenierungsstrategien in merkantile und diskursive hilfreich. Deren Erläuterung erfolgt zu Beginn, gemeinsam mit der Klärung, was das eigentlich meint: Metropole. METROPOLE – RUHRGEBIET – METROPOLE RUHR: BEGRIFFE, BEZIEHUNGEN UND BEGEHREN
Metropolen wecken Assoziationen, rufen Bilder vor unserem inneren Auge auf. Sie verkörpern Sehnsüchte gleichermaßen wie Ängste. Sehnsüchte als Ort der Erfüllung verschiedenster Lebensentwürfe, zuvorderst ökonomischer Zwänge, als Ort eines großen Angebots von allem, also der Vielheit, des Überflusses. Das freilich kann in der Bewertung kippen, wenn sich die Wahrnehmung auf die damit verbundene Kehrseite richtet: Es ist auch ein Mehr von Unannehmlichkeiten, Verbrechen, Überforderung. Die Metropole ist ohne ihre Kehrseite nicht zu haben. Metropolen sind Orte der Differenz. Das erklärt die Konjunkturen der Wahrnehmung, die von Abgesängen (noch in den 1990ern) bis hin zu Lobliedern schwanken. Die bejahende Sicht nimmt den Mehrwert von Metropolen in den Fokus. Dieser liegt nach Heinz Reif vor allem in zwei Funktionen/Eigenschaften begründet: erstens als ‚Chancen- und Möglichkeitsräume‘ für die ganze Vielfalt der Bevölkerung, woraus sich eine starke Anziehungskraft ergibt, sowie zweitens aus der ‚kulturellen Magnetfunktion der Metropolen‘, welche gleichfalls Anziehungskräfte entwickle.1 Diese hält Reif für ein grundlegendes Kriterium zur 1 Heinz Reif: Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden. CMS Working Paper Series No 001-2006. Berlin 2006, S.4. URL: http://www.geschundkunstgesch.tu-berlin.de/uploads/media/001-2006_03. pdf; (Zugriff 01.07.2011).
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Bestimmung von Metropolen, zu ihrer Abgrenzung von anderen Großstädten. Wenn das Ruhrgebiet sich als Metropole inszeniert, muss man folglich annehmen, dass es diese Anziehungskraft auch innehaben möchte, dass es attraktiv und spannend für die unterschiedlichsten Menschen von auswärts sein möchte. Interessant ist, dass der Prozess hier umgekehrt wird: Nicht mehr wird die Stadt als Metropole bezeichnet, weil sie durch den spezifischen Mehrwert gekennzeichnet ist, die Bezeichnung also auf bereits vorfind- und spürbaren Eigenschaften beruht. Sie erhält vielmehr den Namen Metropole und soll diesem Mehrwert bereits jetzt, aber vor allem zukünftig immer mehr gerecht werden. Die Städte des Ruhrgebiets versuchen gemeinsam, über die Etikettierung von den positiven Konnotationen zu profitieren, die mit dem Begriff ‚Metropole‘ verbunden sind. Die Anziehungskraft gründet zunächst also auf der reinen Bezeichnung, dann auf dem inhärenten Versprechen. Das Ziel der Inszenierung ist, Aufmerksamkeit zu erlangen, eine Bewegung ins Ruhrgebiet auszulösen. Marketing spielt eine große Rolle. So wird behauptet: „Von den Bohemiens des beginnenden 21. Jahrhunderts wird die Metropole Ruhr gerade entdeckt.“2 Auch andere Kampagnenmotive und Slogans unterstreichen den Anspruch, etwa: „Wo das geht, geht alles.“3 Damit soll Aufmerksamkeit generiert werden. Die Metropoleninszenierung des Ruhrgebiets zielt weniger auf die Anziehung als auf Aufmerksamkeit ab. Man hofft offenbar, im Mantel der Metropole besser dazustehen. Das Kulturhauptstadtjahr stellt einen Impuls zur Generierung von Aufmerksamkeit dar. Das Ruhrgebiet als Europäische Kulturhauptstadt – das ist eigentlich ein bemerkenswertes Ereignis. Aber nach dem Willen der Verantwortlichen ist ja die Metropole Ruhr Kulturhauptstadt Europas 2010. Eine Metropole als Kulturhauptstadt ist viel selbstverständlicher. Aber ist auch selbstverständlich, das Ruhrgebiet als Metropole anzusehen? Das war vor zehn Jahren jedenfalls noch nicht so: Karl Gansers Diagnose kam – zum Abschluss der von ihm geleiteten Internationalen Bauausstellung Emscher Park – zu dem Ergebnis, dass niemand im Ruhrgebiet „Lust auf Metropole“ habe, die Frage danach werde vielmehr als Provokation empfunden.4 Im darauffolgenden Jahrzehnt hat sich die Stimmung offensichtlich geändert. Dies betrifft weniger den Metropolendiskurs mit „ökonomischen bzw. politökonomischen Konnotationen“, den Hans H. Blotevogel für den allgemein führenden hält, als einen kulturellen, präziser wohl: kulturtouristischen Diskurs.5 Und so 2
RUHR.2010 GmbH: Buch eins. Essen 2008, S.20. Ebd., hintere Umschlagseite. Auch bei den Büchern zwei und drei und auf Aufklebern. 4 Karl Ganser: Lust auf Metropole – Eine Frage an das Ruhrgebiet? In: Matejovski, Dirk (Hrsg.): Metropolen. Laboratorien der Moderne. (Schriften des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen: 5). Frankfurt am Main 1999, S.168-173, hier S.168. 5 Hans H. Blotevogel: Gibt es in Deutschland Metropolen? Die Entwicklung des deutschen Städtesystems und das Raumordnungskonzept der ‚Europäischen Metropolregionen‘. In: Matejovski, a.a.O., S.139-167, hier S.146. 3
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scheint sich auch im Ruhrgebiet zu ereignen, was Gerwin Zohlen für westliche Städte allerdings schon seit den 1980er Jahren für charakteristisch hält: „Vieles weist darauf hin, daß Metropole der Inbegriff einer Urbanitätslust und Urbanitätssuche ist“.6 Ebenso lapidar wie zutreffend befindet er ebenda: „Die Rede von den Metropolen ist Rhetorik“, weshalb auch Bazon Brock zuzustimmen ist, wenn er das Leben der Metropolenbewohner mental verortet, nämlich „in der Architektur des menschlichen Geistes, deren Fundamente jenes menschenwürdige Verhalten bildet, das Urbanität definiert“.7 Die Metropole Ruhr ist somit als jüngste Rhetorik einer Sehnsucht zu bewerten, die in der Region seit Jahrzehnten herrscht und spätestens seit den 1980er Jahren darauf abzielt, sich selbst zu überwinden, um den anderen näher zu kommen, ihnen ähnlich, ebenbürtig zu werden. So gesehen handelt es sich um die paradox anmutende, identitätskonstituell aber durchaus gangbare Strategie, sich durch die Entfernung vom Selbst neu zu finden oder zu bestimmen. Dabei kann seit den 1990er Jahren eine Versöhnung mit der Vergangenheit festgestellt werden, die in dem hohen praktischen wie symbolischen Wert der Industriekultur ihren Niederschlag findet. Die Metropolensehnsucht muss innerregional verortet werden, sie hat kaum überregionale Fürsprecher. Diese aber wären ein wichtiges Indiz für die Metropolitanität des Ruhrgebiets. Das gesamtgesellschaftliche und im Feuilleton vielfach reproduzierte Begehren konzentrierte sich seit der Wiedervereinigung jedoch überwiegend auf Berlin.8 Ist das Ruhrgebiet mit seiner Inszenierung also verspätet? Die Antwort ist ein Nein und ein Ja. Nein, weil in einzelnen Städten auch schon in den1980ern Ausbauten der kulturellen Infrastruktur erfolgten (StarlightMusical, Aalto-Oper, Soziokultur, Industriemuseen). Ja, weil dies erst im neuen Jahrtausend zu einer gesamtregionalen Idee und Strategie wurde, aus der späten Einsicht heraus, in einem gemeinsamen Auftritt wettbewerbsfähiger und attraktiver zu sein, auf jeden Fall überregional besser wahrgenommen zu werden.9
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Gerwin Zohlen: Metropole als Metapher. Ein Pastiche. In: Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann, Walter Prigge (Hrsg.): Mythos Metropole. Frankfurt am Main 1995, S.23-34, hier S.24 (kursiv im Original). Das seit den 1980er Jahren ausgebaute Museumsufer in Frankfurt/Main gilt als herausragendes Beispiel für kulturbasierte, auf Metropolitanität zielende Stadtpolitik. Und Stuttgarts vergleichbare Ambitionen werden von der ZEIT als „Metropolen-Gelüste“ tituliert (Die ZEIT Nr. 17, vom 17.04.1988). 7 Bazon Brock: Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der80er Jahre. München 1990. URL: http://www. bazonbrock.de/werke/werkansicht_text.php?wid=32&cid=84 (Zugriff 01.07.2011). 8 Vgl. Susanne Ledanff: Hauptstadtphantasien. Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989-2008. Bielefeld 2009, S.93. 9 Grundlegend dafür vorangegangene regionale Lernprozesse wie die IBA Emscher Park, der Emscher Landschaftspark, die Olympiabewerbung und vor allem die Städteregion Ruhr 2030.
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MERKANTILE UND DISKURSIVE SZENOGRAFIE/OBSZENOGRAFIE
Da das Ruhrgebiet als Metropole inszeniert wird, muss man die Region als szenografischen Raum begreifen. Für die Beurteilung der Metropoleninszenierung kann man folglich auf Überlegungen zur Szenografie zurückgreifen. Frank den Oudsten unterscheidet zwei Typen von Szenografie: merkantile und diskursive Szenografie. Die erste ist monologisch, die zweite diskursiv. Diese Unterscheidung bezieht sich auf die Komplexität und Tiefe der Inszenierung: „Merkantile Szenografie spricht mit einer Stimme: Ihre Botschaft ist monologisch. Diskursive Szenografie dagegen stellt Fragen, initiiert das Gespräch, ist polyvalent und vielfältig interpretierbar und hat eine dialogische Natur, die jede Behauptung im Laufe ihrer Entfaltung sofort untergräbt mit eingebetteter Skepsis.“10 Diskursive Szenografie wird vom „obszenografischen Faktor“ geprägt: „Obszenografie ist eine kritische Instanz, ein intelligenter, korrigierender Faktor, der je nach Kontext stabilisiert oder destabilisiert. Man braucht den Dreck, um die Mythologie des Schönen zu entlarven, und man braucht die Schönheit, um die Mythologie des Dreckigen zu aktivieren. […] Obszenografie ist der eingebettete advocatus diaboli der Szenografie“.11 So entsteht eine offene Struktur, welche den Besucher teilnehmen lässt. Diese Eigenschaft diskursiver Inszenierungen ist hier von besonderer Bedeutung, weil die kulturell-touristische Metropoleninszenierung gleichzeitig als regionaler Identitätsdiskurs geführt wird. Das ist eine zweifache Aufgabe für die Kultur und den Kulturtourismus, weshalb seine Charakterisierung als ‚Heilsbringer‘ für Städte umso gerechtfertiger erscheint.12 Neben der merkantilen ist also auch die diskursive Szenografie gefordert, und zwar stärker als Erstere, weil die Identitätsfrage die gewichtigere ist. Die Frage ist folglich, welche der beiden Strategien letztlich die dominantere war. Der zweite Teil des Beitrags geht dieser Frage weiter nach, indem Strategien und Projekte von RUHR.2010 in den Blick genommen werden. Strategien berühren den Kern, das Wesen der Inszenierung, die Projekte zeigen beispielhaft Reflexionen des Themas und des Anliegens. Auch nicht realisierte Projekte sind für die Metropoleninszenierung aufschlussreich. In der Betrachtung von Realisiertem und Aufgegebenem wird sich zeigen, dass im Laufe der Programmgestaltung das Pendel mehr zur merkantilen Szenografie ausgeschlagen ist.13 10 Frank den Oudsten: Szenografie. Obszenografie. Über die Gratwanderung der offenen Künste – eine
szenische Lesung. In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Szenografie & Szenologie, Band 1. Bielefeld 2009, S.371-402, hier S.375 (kursiv im Original). 11 Ebd., S.375/376. 12 Karlheinz Wöhler: Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen. Wiesbaden 2010, S.135. 13 Das ist aufschlussreich, auch wenn der Prozess nicht in einer detaillierten Diskursanalyse nachvollzogen werden kann. Diese hätte die Kräfteverhältnisse der beteiligten Akteure deutlich werden lassen.
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LONDON PARIS RUHR
Eine Stadt touristisch wahrzunehmen bedeutet, sie mit einem selektiven Blick zu betrachten, im Allgemeinen reduziert auf Hotspots und must sees. Das funktioniert am erfolgreichsten dort, wo die städtische Struktur eine klare Gliederung erlaubt: Stadtzentrum mit wichtigstem Platz, Orte für Erlebniseinkäufe, gut eingebundene Museen, spannende, ‚szenige‘ Viertel für Shoppen jenseits der Malls und Ketten und für Gastronomie und Clubs. Die Linien des öffentlichen Nahverkehrs bilden häufig den Orientierungsrahmen, teilweise sind sie selbst Teil des Besuchsprogramms, etwa in Lissabon, Berlin, Hamburg. Weil sie dies ermöglichen, sind viele dem Modell der europäischen Stadt entsprechenden Großstädte beliebte Reiseziele. Das unübersichtliche, weil polyzentrische Ruhrgebiet ist in dieser Hinsicht benachteiligt. Es kann diesem Modell kaum entsprechen, dafür ist es zu jung, zu sehr von der Industrie und dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Vergleichbar ist es mit Nord-Pas-de-Calais oder dem Oberschlesischen Industrierevier, und es schneidet dabei auch gut ab. Aus kulturtouristischer, auch identitätsfördernder Sicht ist das trotzdem wenig attraktiv. Die Idee „Metropole Ruhr“ gab für das Marketing deshalb eine andere Strategie vor: Textlich und bildlich wird das Ruhrgebiet den großen Metropolen Europas gleichgestellt: London-Paris-Ruhr heißt der metropolitane Dreiklang, den die RUHR.2010-Organisatoren kräftig anstimmten: mit dem manipulierten Satellitenbild „Europa bei Nacht“, auf dem nur die drei genannten Agglomerationen lichttechnisch hervorstechen (anstelle der zahllosen Städte), sowie textlich in den Programmbüchern.14 Man beruft sich dabei vor allem auf die Fläche, die Bevölkerungszahl und die kulturelle Infrastruktur. Die Einreihung in die Spitze der europäischen Metropolen erfolgt somit faktisch, trifft damit aber nicht die allgemeine Wahrnehmung von Metropolen, welche, wie beschrieben, auf der Ausstrahlungskraft und damit Anziehungskraft beruht. Die Reihung suggeriert eine Analogie, die kulturell-historisch, aber auch strukturell nicht gegeben ist. Weder ist die Ähnlichkeit besonders groß – eher im Gegenteil, noch ist Urbanität im Ruhrgebiet besonders ausgeprägt15, noch existieren tiefgreifende kulturelle Verbindungen zwischen den genannten Städten. Das aber wäre wichtig: „Große Städte gelten auch deshalb als Metropolen, weil sie in auffälliger Weise zu transmetropolitanen Diskursen neigen (ParisBerlin, Berlin-Moskau, Moskau-Wien, Wien-London etc.), die nicht zuletzt der gegenseitigen Anerkennung, der Bestätigung von Zugehörigkeit zum Kreis
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RUHR.2010 GmbH (2008), a.a.O., S.54. Dazu ausführlich Achim Prossek: Sie nennen es Metropole. Die Kulturregion Ruhrgebiet zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In: Johannes Springer, Christian Steinbrink, Christian Werthschulte (Hg.): Echt! Pop-Protokolle aus dem Ruhrgebiet. Duisburg 2008, S.92-112.
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der Metropolen dienen.“16 Von gegenseitiger Anerkennung ist im Falle London-Paris-Ruhr bisher nichts bekannt geworden; die Zugehörigkeitsbekundung erfolgt (bisher) nur einseitig. Auch bedeutende engere Verflechtungen zwischen dem Ruhrgebiet und Paris und London sind nicht bekannt, ob kultureller oder wirtschaftlicher Art. MACHT RUHRGEBIETS-MASSE METROPOLE?
Die Trias „London Paris Ruhr“ markiert die merkantil-offensive Sichtbarkeitspolitik, die Region als touristische Destination zu etablieren. Sie steht weniger für Gleichwertig- oder -artigkeit als für das Sichtbarwerden an sich. Diese Absicht, „starke Bilder zu produzieren“, wie besonders der Geschäftsführer Fritz Pleitgen ausdauernd einforderte, trat besonders bei den herausragenden Massenveranstaltungen zutage.17 Das gemeinsame, zeitgleiche Singen, die Besetzung des Autobahnraumes durch die Millionen Körper der Bewohner aller Ruhrgebietsstädte waren explizit Veranstaltungen, deren Ziel die Gemeinsamkeitserfahrung darstellte. Man kann dieses Massedenken aus der strukturalen Logik und der Geschichte der Region herleiten, der kommunalen Zersplitterung und der Organisation montanindustrieller Arbeit in massenhaften Zusammenhängen. Der Zweck des Still-Lebens lag daher nicht in erster Linie in der individuellen Aneignung. Das Menschenband auf der Autobahn diente dem Ziel von RUHR.2010, die Region als Einheit zu erfahren und dazu „Bilder zu produzieren“– wobei zugespitzt formuliert werden kann, dass sich die Region erst durch das Bild als Einheit formiert. Denn für solche Veranstaltungen gilt: „Niemals geht es, wenn Masse ins Spiel kommt, um ästhetische Autonomie. Künstlerische Anteile dienen übergeordneten Zielsetzungen [...]. Auch die gesuchte Metropolenidentität („Wir sind wir“) lässt sich offenbar am besten singend erfahren, im Zeichen des exorbitant Chorischen“, diagnostiziert der Theaterwissenschaftler Guido Hiß.18 Masse muss aufwändig organisiert werden, weshalb die Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung bereits zum Ereignis gehört, ablesbar etwa an der Berichterstattung zur Probemöblierung der Autobahn mit den Tischgarnituren. Kontrolle ist wichtig für das Gelingen, das gesamte Gemeinschaftserlebnis muss in kontrollierter Form ablaufen, nicht nur organisatorisch, sondern auch hinsichtlich des anvisierten Ziels. 16
Reif, Metropolen, a.a.O., S. 4.
17 Das reicht von der frühzeitigen Ankündigung „Wir werden neue starke Bilder liefern“ (NRZ vom
31.10.2007) bis zur Bilanz: „Aber auch die Bilder, die wir mit vielen starken Veranstaltungen produziert haben, werden in den Köpfen bleiben“ (Neue Westfälische Zeitung vom 09.12.2010). 18 Guido Hiß: „Kultur als Klammer“. Zur Inszenierung einer Metropole. In: Schauplatz Ruhr. Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet. RUHR.2010 – Inszenierung einer Metropole. Berlin 2009, S.8-12, hier S.11 (kursiv im Original).
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Damit agiert RUHR.2010 in einer Weise, die der klassischen Funktion von Events in posttraditionalen Gemeinschaften zuwiderläuft. In der Erlebnisgesellschaft ist das Event eine Veranstaltung der Oberfläche. Ihnen fehlt nach Gerhard Schulze generell die Fähigkeit, einen Lernprozess auszulösen oder Teil eines gesellschaftlichen Diskurses zu sein. Die Selbstbezogenheit von Events, Schulze spricht von „Ereignis-Autismus“, führt dazu, dass jede weiterführende Bedeutung umgehend absorbiert, vernichtet wird: „Die Expo ist die Expo. Das Stadtjubiläum das Stadtjubiläum.“19 Das aber läuft dem Anspruch von RUHR.2010 zuwider. Der Versuch, aus dieser postmodernen Ereignislogik auszubrechen, führt RUHR.2010 zurück zur Bildung von Gemeinschaft durch Masse. Sie zählt mehr als das Individuum: Wo sich drei Millionen Menschen im Namen von RUHR.2010 versammeln, muss Metropole sein. DER METROPOLENBLICK: EINE GENERATIONENFRAGE?
Von den Hunderten Projekten haben viele Lernprozesse unterschiedlichster Art ausgelöst, etwa hinsichtlich interkultureller Fragen, jugendlicher Existenzgestaltung oder lokaler Intervention. Viele Projekte haben also konkrete soziale oder räumliche Folgen gehabt. Aber auch das für viele penetrante Metropolenbestreben und Identitätsringen wurde kritisch reflektiert. Der Regisseur Nuran David Calis inszeniert mit verschiedenen Partnern im Ruhrgebiet das Stück Next Generation, welches jugendliche Zukunftsentwürfe entwickelt. Im geballten Metropolenbegehren registriert er eine Überforderung der Region: „Im Moment gibt es mehr Sehnsüchte, als von allen Seiten gestillt werden können.“20 Und mit Blick auf seine Projektpartner stellt er fest, dass diese auch nicht bereit seien, alle Sehnsüchte zu bedienen. Vielmehr reklamieren sie das Recht auf eine eigene Perspektive, die sie näher an dem verorten, was sie für die Wirklichkeit der Region halten: „Das Ruhrgebiet als Sanierungsfall. Im Zukunftshaus in Duisburg-Marxloh haben sie eine Videowerkstatt gegründet und wollen die Dinge einfangen, wie sie sind. Keine Imagefilme nach dem Motto: Schaut-wie-toll-es-hier-ist. Das gesamte Haus ist auf der Suche nach der Wahrheit. Und die muss auch wehtun dürfen. Sie wollen die Chronisten dieser Region werden und ihren Wandel dokumentieren: narrativ, subversiv.“21 Der Anspruch ist, das Nicht-Gefällige nicht auszublenden, sich den Schattenseiten und Schwierigkeiten der Region zu stellen. Dabei wird der eigenen Sicht eine allgemeine, über den Entstehungszeit19 Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. Frankfurt am Main 2000,
S.93ff. 20 Nuran David Calis: Next Generation. Die Neuerfindung des Ruhrgebiets. In: Schauspielhaus Bochum
(Hrsg.): Boropa. Spielzeitmagazin 2010/11. Bochum 2010, S.58-61, hier S.58. Ebd.
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punkt hinaus gehende Bedeutung zugemessen: als Ruhrgebietschronik, die aus einer drängenden Auseinandersetzung heraus entsteht. Für Calis ist die Metropole alles andere als existent, aber das Erlebnis der gemeinsamen Produktion macht ihm Hoffnung: „Und für einen Moment bekommt der vage Traum Kontur: Diese kleinen Dinge werden die Region zu einer Metropole machen. Schritt für Schritt. Vielleicht nicht sofort, aber bald, sehr bald.“22 Und noch einmal wird auf die existenzielle Erfahrung hingewiesen, die die Körper der Protagonisten zu Resonanzräumen der regionalen Widersprüchlichkeit macht: „Es ist schmerzhaft, Dinge aufzugeben und neue Dinge anzunehmen. Sich verwandeln tut weh. Das wird alles andere als eine Party. Das wissen sie. Aber sie stellen sich dem Schmerz. Irgendwann wird auch Zeit für Party sein, aber sie ist nicht jetzt. Auch das wissen sie.“23 Die existenzialistische Sicht hier ist kein Zufall. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass Jugendliche ihre Umwelt reflektieren, ihre Heimat, dass sie ihre Zukunft in Gedanken und Gefühlen befragen. Sie markiert eine Wahrnehmungsdifferenz zu RUHR.2010, indem darauf beharrt wird, dass es für eine Feier – also Zufriedenheit – noch zu früh sei, und zwar nicht nur der Sachlage nach, sondern auch von der Befindlichkeit her. Dem Theaterkritiker Stefan Keim war die Aufführung eine Erwähnung in seiner – insgesamt zwiespältigen – Jahresbilanz wert, sie war für ihn „nichts weniger als ein großer, berührender, wundervoller Theaterabend“, dem gesellschaftliche Sinnstiftung gelungen sei.24 Die Inszenierung der „Neuerfindung des Ruhrgebiets“, so der Untertitel, ist diskursiv im Sinne den Oudstens, sie entspricht auch dem Identitätsdiskurs von RUHR.2010, verweigert sich aber deren nominell feststehendem schönen Ergebnis der Feier der Metropole. Dieses Beharren auf der eigenen Erfahrung, auf der anderen, Schattenseite des Ruhrgebiets hat eine gewisse (subkulturelle) Tradition. Als der Starlight-Express 1986 in Bochum erstmals auf Reisen ging, konterte das Theater Kohlenpott in Herne mit dem Ruhrgebietsmusical Übern Jordan – nomen est omen. Die Konstellation ist vergleichbar: Der aufkeimende Eventtourismus als strukturpolitischer Hoffnungsträger auf der einen Seite („Broadway an der Ruhr“ hieß ein 1990er-Jahre-Slogan), die auf wirtschaftliche und soziale Realitäten verweisenden Künstler auf der anderen Seite. In diesen dualen Konstellationen scheint, so muss man konstatieren, doch etwas Metropolitanes durch, wenn auch anders, als von den Verantwortlichen vorgestellt.
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Ebd., S.61. Ebd. 24 Frankfurter Rundschau vom 17.12.2010. 23
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PIONIERLAND UND RÄUME DES UNTERBEWUSSTEN: DISKURSIVES POTENZIAL ABGESAGTER LEITPROJEKTE
Mehrere der anvisierten Leitprojekte aus der Programmentwicklungsphase, die dann doch nicht realisiert wurden, hatten im Vorfeld bereits Faszination ausgelöst und eine hohe Bekanntheit erreicht: besonders „Land for free“ und „Die Zweite Stadt“. Diese Projekte hätten als diskursive Projekte die benötigte Auseinandersetzung mit der Region vorantreiben können, weshalb sie im Folgenden vorgestellt werden. Zusätzlich interessant wird die Betrachtung, weil sich die Projektbeschreibungen aus der Frühphase der Bewerbungszeit bis zur ersten offiziellen Programmpräsentation sehr unterscheiden. Zumindest ansatzweise ist so möglich, Veränderungen in der Inszenierungsstrategie und ihre Hintergründe zu rekonstruieren. Land for free Bei Land for free sollte entlang der Emscher durch eine internationale Ausschreibung Land an Menschen vergeben werden, die zusicherten, dort tätig zu werden – in welcher Weise und mit welchem Ergebnis auch immer. In der Bewerbungsschrift 2005 wird Land for free als „einzigartiges kulturelles und urbanes Experiment“ apostrophiert und erläutert: „ ‚Land for Free – Die Stadt der Pioniere‘ ist eine konkrete Utopie. Die Utopie einer neuen Stadt in und zwischen den Städten des Ruhrgebiets. Keine Stadt im herkömmlichen Sinne [ ], sondern [ ] entstanden einzig aus der Verwirklichung individueller Lebensträume, ermöglicht durch die Aneignung von brachliegendem Ruhrland.“25 Die Utopie knüpfte explizit an die Einwanderungstradition an, strebte aber keine Fortführung an, sondern setzte sich vom existierenden Ruhrgebiet ab. Dem Unbekannten, Fremden, Anderen sollte Einlass und Raum gewährt werden, in Bewusstsein des ungewissen Ausgangs, aber auf Dauer, über 2010 hinaus, das hielt man für notwendig. Die andere Stadt der Pioniere, hieß es, „die neue Stadt wird bleiben – als noch junge städtische Realität, als das provozierende ‚Alter Ego‘ der heute nicht mehr ganz so jungen, formellen Ruhrgebietsstädte. Und als ständige Aufforderung, im Ruhrland sein Glück zu machen.“26 Im „Buch eins“, der ersten Programmvorschau Ende 2008, wird Land for free als noch nicht gesichertes Projekt geführt. Wieder wird der experimentelle Charakter hervorgehoben, das Unberechenbare aber ist einem konkreteren Anliegen gewichen. Charakter und Zielsetzung der Idee verschieben sich von einer Utopie mit ungewissem Ausgang zu einem ungewöhnlichen Weg der Wirtschaftsförderung. Nun soll Land for free „Kreativaktion, ungewöhnliche 25 Stadt Essen/Regionalverband Ruhr (Hrsg.): Entdecken. Erleben. Bewegen. Essen für das Ruhrgebiet.
Kulturhauptstadt Europas 2010. Bewerbungsschrift. Essen 2004, S.49. Ebd., S.50.
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Standortentwicklung und neuartige Wirtschaftsförderungsstrategie in Einem sein. […] Dabei sollen […] einfache Orte, Netzwerke bzw. Entwicklungsketten und Parkinfrastrukturen entwickelt werden. […] Eine neue Form der Förderung kreativer Ich-AGs.“27 Das Projekt scheint damit zuletzt deutlich nutzenorientierter geplant gewesen zu sein als zunächst beabsichtigt. Aus einer zuvorderst diskursiven Idee wurde ein merkantiles Anliegen. Als ‚anderes Ich‘ hätte Land for free das Potenzial gehabt, die Identitätsdebatte mitzugestalten. Die dortige Dynamik hätte nicht nur bereichert, sondern auch die Differenz zum umgebenden Raum, zum in diesem Sinne Rest-Ruhrgebiet offenbart. Auch wenn über die Gründe des Scheiterns wenig bekannt wurde, kann man eine Verschiebung konstatieren: Ein offenes Projekt wurde immer utilitärer gedacht und letztlich gar nicht gewagt.28 Beides, könnte man sagen, gilt als typisch für das Ruhrgebiet: Den Wert von Kunst an ihrer Nützlichkeit zu bemessen und das Risiko zu meiden. Die Zweite Stadt Bei der Zweiten Stadt ging es um die Erschließung der für die Wasserhaltung noch genutzten Untertageanlagen des Weltkulturerbes Zeche Zollverein. Auch hier können inhaltliche Veränderungen festgestellt werden. Diese verlaufen allerdings nicht genauso gradlinig wie bei der Pionierstadt im Emschertal. Die Zweite Stadt sollte unter Tage, in 1000m Tiefe realisiert werden, hätte also das doppelte Erlebnis der bergbaulichen Erdraum-Erfahrung wie einer Kunstinstallation geboten. In der Bewerbungsschrift werden als Elemente aufgeführt: die oberirdische „Informations-, Kultur- und Gastronomielounge“, die „1000m […] Erlebnisfahrt auf Sohle 14“, gekrönt von dem „spannend inszenierten, 320m langen Rundweg mit Motionride“ in „fahrbaren Simulatoren“, zuerst im realen Bergwerk, dann entlang von „Screens“, auf denen „modernste Illusions- und Kommunikationstechniken […] Visionen des Ruhrgebiets Wirklichkeit werden lassen“.29 Die Beschreibung wird dem Anliegen, einen „touristisch herausragenden Magneten“ auf der Zeche Zollverein zu installieren, voll gerecht. Anderthalb Jahre später, knapp fünf Monate vor der Juryentscheidung in Brüssel, liest sich das Projekt anders. Die Untertage-Erschließung soll nun ‚neue Kunsträume‘ eröffnen sowie „die metaphysische Dimension des Raumes unter der Erde ausloten und durch die ästhetische Erfahrung eine Reise in das Unterbewusstsein der Region ermöglichen. Elektronische und digitale Medien sind 27
RUHR.2010 GmbH (Hrsg.), a.a.O., S.49.
28 Die offizielle Chronik erwähnt das ehemalige Leitprojekt selbst in der Rückschau auf die Program-
mentwicklung nicht mehr. Siehe RUHR.2010 GmbH (Hrsg.)(2011): RUHR.2010. Die unmögliche Kulturhauptstadt. Chronik einer Metropole im Werden. Essen. Das Nichterwähnen betrifft fast alle geplanten und dann abgesagten Projekte. 29 Stadt Essen/Regionalverband Ruhr (Hrsg.), a.a.O., S.60.
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es, mit denen internationale Künstler in einem durch Mechanik geschaffenen Umfeld Räume der Stille entstehen lassen – eine Hommage an die existenzielle Bedeutung des unterirdischen Raumes für die Region.“30 Die Beschreibungen klingen so, als sei die Zweite Stadt zunächst als oberflächliche Inszenierung angelegt, als – wenn auch regionsspezifisches – Spektakel, bei dem der Ort weniger zur Auseinandersetzung als zur Exklusivitätssteigerung beigetragen hätte. Später wird die Sohle 14 als besonderer, durchaus existenzieller Erfahrungsraum stärker gewürdigt. Es wäre der Ort gewesen, an dem das Ruhrgebiet wortwörtlich hätte tief in sich hineingehen können. Hier hätte die sogenannte Programmdramaturgie den „obszenografischen Faktor“ als „kritische Instanz“31 installieren können, sowohl für die Übertage-Struktur und Gestalt des Ruhrgebiets als auch für das Kulturhauptstadtjahr und sein weiteres Programm. Die Zweite Stadt wäre technisch realisierbar gewesen, u.a. wegen der hohen Sicherheitsanforderungen aber nur zu Kosten, die die Projektträger auch gemeinsam nicht schultern konnten. Zudem hätten die Investitionen eine mehrjährige Laufzeit des Projektes bedingt, was von Betreiberseite nicht garantiert werden konnte. Diese beiden Leitprojekte hätten der dialogischen Seite der Metropoleninszenierung deutlich mehr Gewicht geben können, als sie in dem Jahr tatsächlich bekommen hat. Beide Projekte hatten obszenografisches Potenzial, zudem hätte sich eine doppelte, eine Gegen-Bewegung ergeben: Das Ruhrgebiet hätte in sich hinein- und gleichzeitig über sich hinaus gehen können; beides probate Methoden der Selbstfindung oder Identitätsbefragung. Bildmächtig wären diese Projekte wohl auch – aber im Ergebnis weniger vorhersehbar als bei den anderen, realisierten Großprojekten. Ihre Wirkung, ihre Bildproduktion wäre schwieriger zu kontrollieren gewesen. WIE VIEL RUHRGEBIET STECKT IN DER METROPOLE RUHR?
Wer das Image des alten Ruhrgebiets überwinden will, muss auch das Ruhrgebiet selbst hinter sich lassen. Dieser Ansatz zeigt sich in der Verwendung des Metropolennamens und dem Ziel des Metropolenschaffens durch die RUHR.2010 deutlich. Auffällig ist zuerst die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zustandsbeschreibungen, nämlich einerseits die „Metropole im Werden“32, und andererseits die bereits existierende. Letztere muss zwangsläufig zu einem großen Teil aus ‚Ruhrgebiet‘ bestehen, und so erklärt sich vielleicht auch, dass die markantes30
Stadt Essen/Regionalverband Ruhr (Hrsg.): Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel. Bewerbung „Essen für das Ruhrgebiet – Kulturhauptstadt Europas 2010“. Kurzfassung Dezember 2005. Essen 2005, S.27. 31 Den Oudsten, Szenografie, Obszenografie, a.a.O. 32 Das ist vor allem Tenor von Buch eins.
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ten Ereignisse 2010 nicht eine neue Metropole Ruhr haben aufscheinen lassen, sondern eine Bestätigung des Ruhrgebiets waren. Die Geschäftsführung von RUHR.2010 hat sogar die „Geburt des Ruhris“ auf den 18. Juli 2010, dem Tag des Still-Lebens A40, terminiert, als sei dieser nicht altvertrautes Synonym für die Klischees über den Ruhrcharakter. Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass RUHR.2010 mehr dem Ruhrgebietsbild entsprochen hat als der selbst erklärten Metropole Ruhr: Die Open-air-Eröffnungsfeier im Winter galt als erster Beleg für die Art der „Ruhris“, das Kulturhauptstadtjahr auf seine Weise anzugehen: wetterfest, unerschrocken, handfest. Andreas Rossmann spricht in der FAZ die Ironie, die darin liegt, treffend an: „Auch das ist Ausdruck oder Variante eines Arbeitsethos, das den alten Kohlenpott auszeichnet, dessen Fortsetzung in die postindustrielle Zeit. So erweist sich die Prägekraft des Reviers als stärker, als jene wahrhaben möchten, die wie Pleitgen ‚endlich vom völlig veralteten Image des Ruhrgebiets loskommen wollen‘.“33 Die Auftragshymne von Herbert Grönemeyer „Komm zur Ruhr“ ist sowohl textlich als auch musikalisch auf das Ruhrgebiet, auf das alte Klischeebild bezogen (Textauszug: „wetterfest und schlicht“) – welches polarisiert, offenbar aber noch von starker innerregionaler Sympathie getragen wird. Massenveranstaltungen wie der „Day of Song“ und vor allem das „Still-Leben“ auf der Autobahn können als typische Ruhrgebietsaktivitäten gewertet werden, weil sie ihre Bedeutung überwiegend aus der schieren Zahl der Teilnehmer erlangen – und ein sehr weites Kulturverständnis beweisen. Mit der Superlativproduktion in Verbindung mit Kultur(metropolen) behauptung befindet man sich in genau dem Bildraum vom Ruhrpott, aus dem man endgültig ausbrechen wollte. Für die beabsichtigte Tourismusförderung hingegen ist das ein Gewinn. Hier präsentiert sich das ‚echte‘ Ruhrgebiet – echt insofern, als es mit den Vorstellungsbildern und Klischees, mit dem allgemeinen Wissen über die Region übereinstimmt. Vorteilhaft ist dies, weil „die Suche nach dem Echten den Motor des Tourismus“ darstellt, wie Karlheinz Wöhler feststellt.34 Hierin mag der Grund liegen, warum die Verantwortlichen trotz ihrer Metropolenvision immer wieder betonten, wie ruhrgebietstypisch und damit einzigartig die Erlebnisse der Kulturhauptstadt seien. In diesem Sinne hat sich das ‚Ruhrgebiet‘ 2010 bei vielen Gelegenheiten sehr erfolgreich präsentiert, die ‚Metropole Ruhr‘ hingegen ist weniger deutlich sichtbar geworden. Die großen Bilder waren Ruhrgebietsbilder. Die von der RUHR.2010 GmbH vorgenommene Gleichsetzung – Metropole Ruhr ist gleich Ruhrgebiet – muss angesichts der postulierten Ansprüche weiter irritieren. Für die regionale Identität bedeuteten die Aktivitäten dennoch eine gewich33 FAZ vom 09.01.2010. Über den Begriff ‚Metropole Ruhr‘ schreibt Rossmann ebendort: „Die neue Sprachregelung ist vermessen, präpotent und historisch abwegig“, weshalb er die damit verbundene Bild- und Identitätsproblematik klar erkennt. 34 Wöhler, Touristifizierung von Räumen, a.a.O., S.116.
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tige Selbstbestätigung, die in unzähligen kleinen Projekten auch metropolitan realisiert wurde, aber keine Neuerfindung, auch keine bedeutende Weiterentwicklung der Region bedeutet. Die Inszenierung ging streng genommen sogar um Jahrzehnte zurück, weil der Modernisierungsdiskurs der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (1989-1999), in dem ein differenziertes Bild von der Region und ihren Zukunftschancen entworfen wurde, weitgehend ausgeklammert wurde.35 Nicht berücksichtigt wurde infolgedessen auch das daraus abgeleitete Verständnis vom Ruhrgebiet als einem Rhizom (nach Deleuze/ Guattari), obwohl gerade dieses in den Künsten fruchtbar gemacht werden kann, wie Thomas Ernst am Beispiel von Gegenwartsliteratur aus dem Ruhrgebiet dargelegt hat. Für ihn ist das Ruhrgebiet als Rhizom die gegenüber der Metropole weitaus sinnvollere – und ästhetisch spannendere Kategorie.36 Durch das Ausblenden des Identitätsdiskurses der IBA, aus dem immerhin das so genannte ‚Neue Ruhrgebiet‘ hervorgegangen ist, gelingt es, den Innovationsanschein von RUHR.2010 zu vergrößern.37 Das alte Image wurde 2010 wohl so oft bemüht wie seit Ende der 1980er Jahre nicht mehr, von verantwortlichen Akteuren wie Medien. Nur dies ermöglichte die griffige, historisch stark vereinfachende Formel „Kultur statt Kohle“. Der alte Glanz (Fußball!), so wird in einer Reportage anlässlich der Eröffnungsfeier konstatiert, ist aus der Region verschwunden, „jetzt will man sich in Kultur retten“.38 – In diesen Zeilen schwingt Vergeblichkeit mit, da weht der Metropolenduft nur als dünnes Lüftchen über die Brachenlandschaft des Reviers. Die Kulturhauptstadt – eine Vermessenheit? Oder erfolgt hier einfach nur ein Blick auf die Orte und Menschen in der Region, die in maximaler Distanz zur postmodernen Kulturmetropoleninszenierung leben, jedenfalls vor Beginn der großen gemeinschaftlichen Einschlussevents? Hans H. Blotevogel mahnt für Metropolenpolitik an, dass diese sich nicht einfach den Logiken der globalisierten Wirtschaft unterwerfen soll, sondern die Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen der Bevölkerung zur Leitlinie erklärt.39 Denn eines funktioniere nicht und habe zudem eine fatale Wirkung: „Eine Stadtregion wird noch nicht dadurch zur Metropolregion, dass sie sich selbst dazu erklärt […]. Nichts wirkt lächerlicher als eine Stadt oder Stadtregion, 35 Schlagwörter waren etwa „Wandel ohne Wachstum“ oder das Ruhrgebiet als „Modell für die Stadt
im 21. Jahrhundert“, aber polyzentrisch, dezentral, nicht metropolitan. Ernst: Das Ruhrgebiet als Rhizom. Die Netzstadt und die „Nicht-Metropole Ruhr“ in den Erzählwerken von Jürgen Link und Wolfgang Welt. In: Gerhard Rupp, Hanneliese Palm, Julika Vorberg (Hrsg.): Literaturwunder Ruhr. Essen 2011, S.43-70. 37 Das Neue Ruhrgebiet setzt sich, vereinfacht gesprochen, aus dem industriekulturellem Erbe einerseits und postmodernen Erlebnisinfrastrukturen wie dem CentrO andererseits zusammen. Hauptsächlich von 1998 bis 2003 – im unmittelbaren Nachklang der IBA Emscher Park – wurde es auch als Titel für Publikationen genutzt. Siehe ausführlich: Achim Prossek: Bild-Raum Ruhrgebiet. Zur symbolischen Produktion der Region. Metropolis und Region: 4. Detmold 2009, S.127-131. 38 Der Tagesspiegel vom 09.01.2010. 39 Blotevogel, Gibt es in Deutschland Metropolen?, a.a.O., S.167. 36 Tomas
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die sich von bestellten Marketingexperten vorschnell als ‚Metropole‘ verkaufen lässt, wenn die Realität dem nicht entspricht.“40 Damit geht er nicht so weit wie Gerwin Zohlen, für den der Begriff Metropole wegen seiner Unschärfe und seiner überwiegenden Verwendung nichts anderes als eine „Strategie zur Vermarktung der Städte“, ein „Marketing-Konzept“ darstellt.41 Aber beide Stimmen, zusammen mit der nicht eben kleinen Bevölkerungsgruppe, welche die Reportage in den Blick nahm, zusammen auch mit jenen, deren Zukunfts- und Modernitätsdenken in 2010 praktisch keine Rolle gespielt hat, lassen verständlich erscheinen, wenn angesichts der RUHR.2010-Metropoleninszenierung so vehement entgegengehalten wird wie gleich zu Beginn von dem Schriftsteller Jürgen Lodemann. Lodemann weiß, was Metropole bedeutet, und er kennt das Ruhrgebiet sehr gut. Seine Forderung: „Bloß nicht auf Metropole machen!“42 FAZIT
Der Metropole galt aber, wie der Beitrag gezeigt hat, das Bestreben von RUHR.2010. Das Ruhrgebiet sollte sich verwandeln und Metropole werden – eine Inszenierungsstrategie, die als Ausdruck einer tiefen Veränderungssehnsucht zu interpretieren ist, weil sie neben der Tourismusförderung auch auf eine neue regionale Identität zielte. Mit ‚Metropole‘ wurde dabei auf einen Raumtyp gesetzt, dem das Ruhrgebiet kaum entspricht, der aus stadtgeografischer Sicht als überholt gilt, der aber immer noch positiv konnotiert ist, vor allem dank des Symbolwerts von Kultur. Für das Erreichen der Ziele hätte RUHR.2010 mehr diskursive Szenografie benötigt als merkantile. Die Strategie der Inszenierung setzte mit den Leitprojekten jedoch vornehmlich auf letztere, wobei ‚starke Bilder‘ produziert werden sollten, mit Wirkung nach innen und nach außen. Aufmerksamkeit wurde dabei zum Ziel und Wert an sich. Wo sie erfolgreich hergestellt wurde, zeigte sich meist das alte Ruhrgebiet, weniger die neue Metropole Ruhr. Dies gilt vor allem da, wo die Projekte mittels einer großen Menschenmasse auf Gemeinschaft abzielten, damit hinter postmodernes Eventverständnis zurückgehend. Auch die textliche und bildliche Einordnung der Region in die Spitzengruppe europäischer Metropolen gehört zur Sichtbarkeits- und Aufmerksamkeitsstrategie, die der merkantilen Logik folgt, jedoch wenig Anknüpfungspunkte in der Alltagswahrnehmung hat. Ausgleichend wirkten zahlreiche der Projekte, in denen tiefer gehende Auseinandersetzungen geführt wurden. Beispielhaft dafür ist das Stück Next 40
Ebd., S.166. Zohlen, Metropole als Metapher, a.a.O., S.31. 42 Die Welt vom 06.01.2010. 41
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Generation. Es verweigerte sich der Inszenierungsdramaturgie explizit, indem sowohl die offizielle Gegenwartsdiagnose als auch das Vorgehen von RUHR.2010 abgelehnt wurden und dem die subjektive Sicht auf eine ungeschönte Wirklichkeit entgegengesetzt wurde. So hat das Stück diskursive Wirkung entfalten können. Ähnliches Potenzial steckte auch in nicht realisierten Leitprojekten. Sie waren unkalkulierbar beziehungsweise als Reise ins Unterbewusste angelegt, hätten mehr Offenheit erfordert und für die Identitätsbefragung der Region daher großen Wert gehabt. Sie hätten aber nicht im Sicherheitsmodus realisiert werden können, der ansonsten maßgeblich war. Die Inszenierung durch RUHR.2010 hat alles in allem deutlich mehr Ruhrgebiet gezeigt als Metropole Ruhr. Für die Stimulanz von Tourismus ist dies nützlich, für das Selbstbewusstsein der Region auch – aber nur dann, wenn sie das „Ruhrgebiet“ akzeptiert. Metropole kann nach dem Ende von RUHR.2010 als Chiffre für eine erfolgreich kooperierende Region verwendet werden, kaum aber für die Stadtregion selbst und das Leben in ihr. Daher ist sie auch als Zukunftsvision kaum kenntlich geworden.
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RISIKO RELATIONALE SZENOGRAFIE AM BEISPIEL DER RUHR.2010-KUNSTPROJEKTE
„Alle Städte und Gemeinden, alle Bürgerinnen und Bürger machen mit“, behauptete Fritz Pleitgen, Vorsitzender der Geschäftsführung der RUHR.2010 GmbH, „dieser Gesamtauftritt ist ein unglaublicher Gewinn. Kultur kann viel – hier im Ruhrgebiet sogar Halden versetzen, Halden alten Denkens“. Führt der Weg so leichtens von der schwer arbeitenden Industrie zur Industriekultur und Kulturindustrie? Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel für eine postkarbone Ära im Ruhrgebiet? Die zahlreichen Veranstaltungen und medialen Features zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr in Essen und dem weiteren Ruhrgebiet1, RUHR.2010, hatten zumindest von Anbeginn die große Vision, mit einer Vielzahl unterschiedlichster Inszenierungsereignisse und Ereignisinszenierungen nachhaltig zu einer allseits akzeptierten Selbstdarstellung des ‚neuen‘ alten Ruhrgebiets in der Welt beizutragen. Diese Inszenierungen und ihre Bilder werden zugleich auch als wegbereitend und entscheidend für die Zukunft der Innovationsfähigkeit der polyzentrischen ‚Metropole Ruhr‘ gehandelt. Sie wurden dabei nicht nur als eine visuelle Imagekampagne2, sondern als effektiver Ausdruck und tatsächlicher Motor für den Wandel und die beschleunigte Transformation einer postindustriellen Region im Zeitalter der ‚Glocalization‘ bedacht. Aus kreativen neuen Möglichkeiten für Altbestehendes, aus architektonischen Transformationen, künstlerischen Interventionen und gestalterischen Inszenierungen werden sich neue Bilder des Ruhrgebiets bzw. Bilder eines neuen Ruhrgebiets erhofft, die heute maßgeblich zur Gestaltung und medialen Vermarktung von Metropolen3 im globalen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Attraktivität beitragen. Dabei traut man den Bildern selbst doch allerhand zu, als wäre immer noch in unserer Kultur ein alter magischer Bilder-Glauben an der Macht. Der Künstler Jeppe Hein hat daher entlang der 30 km lang durch das Ruhrgebiet führenden Emscher an verschiedenen Orten luzide Fernrohre für die Besucher aufgestellt 1
Siehe www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de/; (Zugriff 11.11) Vgl. auch den „Film zur Kulturhauptstadt Europas 2010“ (Regie: Peter Schaul, Deutschland, 2008 (Dauer: 1:13min)). 2 Siehe hierzu Julia Frohne, Katharina Langsch, Fritz Pleitgen, Oliver Scheytt: RUHR. Vom Mythos zur Marke. Marketing und PR für die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 (Essen 2010). 3 Vgl. Heinz Reif: Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden. CMS Working Paper Series, No. 0012006, 2006, published by the Center for Metropolitan Studies, Technical University Berlin, D-10587 Berlin, im Internet unter www.metropolitanstudies.de; siehe ferner Friedrich Lenger: Das Ruhrgebiet – eine europäische Metropole? In: KWI Interventionen, Nr. 2 (KWI Essen, 2010), abrufbar im Internet unter www.kulturwissenschaften.de.
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– nur sieht man darin nicht das gezoomte reale Bild des in einem aufwändigen Renaturierungsprozess stehenden Terrains, sondern vielmehr Ansichten aus Vergangenheit oder einer imaginierten, besseren Zukunft. Das große Ziel Renaturierung bleibt gleichfalls oftmals in fernen Verhübschungsmaßnahmen und Verschönerungspraktiken optisch stecken und erreicht dabei weder eine ernsthafte Kultivierung noch radikale Innovation für das Ruhrgebiet, wie Claus Leggewie zu Beginn des Europäischen Kulturhauptstadtjahres bereits resignativ bis pessimistisch in der DIE ZEIT kommentiert hat: [...] aber nachhaltig wirkt es erst, wenn das ausdrücklich übergeordnete Motto »Metropole gestalten« ernst genommen wird. Was diesbezüglich an Stadtbaukultur, Lichtkunst und urbanistischen Projekten angekündigt ist, bleibt nicht nur hinter der legendären IBA (der Internationalen Bauausstellung 1989 bis 1999) zurück, die das Ruhrgebiet in der Tat nachhaltig verändert hat; es fehlt die Pointe einer grünen Zuspitzung, die Eco-Cities andernorts haben, und zwar nicht in Freiburg, sondern in Malmö, Manchester und auch in der anderen Europäischen Kulturhauptstadt Istanbul. [...] Dennoch besteht Hoffnung, dass zum Beispiel die vom scheidenden E.ON-Chef Wulf Bernotat angestoßene Innovation City, das Leuchtturmprojekt einer Niedrigenergiestadt im Ruhrrevier, nicht kaputtgeredet wird. Das wäre ein Impuls für eine grüne Klimametropole, eine neourbane Verdichtung und Attraktion, die Umrüstung kommunaler Wohnbauten könnte Altengerechtigkeit, Verkehrsberuhigung und Klimaneutralität auf einen Schlag erreichen.4
Die durch RUHR.2010 initiierten neuen Bilder und optimistisch gestimmten Szenografien für die Region des alten Ruhrgebiets speisen sich somit aus alten Mythen und jüngeren Erinnerungen an die vergangene Industrialisierung, aus dabei wohl für immer unauslöschlichen Klischees und langlebigen Stereotypen, wie auch lediglich aus Wunschbildern und kühnen Visionen für Gegenwart und Zukunft. Charles Landrys The Creative City (2000)5 und Richard Floridas neoliberalistische Abhandlung Creative Class (2002)6 versprechen dabei immer noch, ganz auf die hiesigen lokalen Verhältnisse übertragen, als schnelle Rezeptbücher auch für den längst nicht mehr nur Kohle fördernden und Stahl kochenden Pott gehandelt zu werden, um den quasi-alchemistischen Transformationsprozess zu beschleunigen – oder polemisch gesprochen: Wie mache ich aus Kohle, Stahl und Bier nur schnell Geld, Gold und Moët?! Denke wie ein Künstler, plane wie ein General, handle wie ein Impresario und spanne weitere Helden dafür ein?! Die Metropole steckt in uns! Neben den offenkundig vorrangig ökonomistischen Interessen auch gerade hinter der Idee von RUHR.2010 wurde in allen Programmveranstaltungen aber immer wieder auch ein neuer genuiner Gemeinschaftssinn für die postindustrielle Region um Emscher und Ruhr beschworen und dabei allemal Claus Leggewie: RUHRGEBIET 2010. Kulturhauptstadt wozu?, in: DIE ZEIT, Nr. 2/2010. Charles Landry: The Creative City. A Toolkit for Urban Innovators, London 2000. 6 Richard Florida: Cities and the Creative Class, New York, NY 2005. 4 5
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die Anstrengungen zu einem neuen ‚Community Building‘ hervorgehoben, für das die medialen Abschlussbilder der Europäischen KulturhauptstadtjahrFeierlichkeiten wieder einmal den schönen alten Topos des gemeinsamen Bootes bemühten. (Abb.1)
Abb.1 RUHR.2010 – Das Finale: Show auf dem Nordsternplatz der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen. Regie: Gil Mehmert. Foto: RUHR.2010/ Manfred Vollmer.
So begründete beispielsweise stellvertretend für die Jury Sven Olderdissen, Mitglied der Geschäftsleitung, Private Wealth Management Deutschland, Deutsche Bank AG, die Übergabe des Preises an die Veranstalter des RUHR.2010Projektes „SchachtZeichen“ (Abb.2) im Rahmen des Wettbewerbes 365 Orte im Land der Ideen – Innovationen aus Deutschland bei einer kleinen Feierstunde in Dortmund: Die Kunstinstallation SchachtZeichen macht die Veränderungen im Ruhrgebiet vom Kohlebergbau bis hin zur Kulturhauptstadt sichtbar. Sie regt zum Dialog an und verweist auf die Orte, an denen alles begann. Mit den SchachtZeichen hat RUHR.2010 einen beispielhaften künstlerischen Ansatz gewählt, um den Strukturwandel in der Metropole Ruhr erlebbar zu machen. Einen Ansatz, der über den temporären Charakter hinausgeht. Denn es sind Netzwerke entstanden von Menschen, die sich mit der Geschichte ihrer Region auseinandersetzen, die den Bergbau als Teil ihrer Vergangenheit betrachten, als Bestandteil ihrer Gegenwart – aber auch als Perspektive ihrer Zukunft.
Ideengeber und Projektautor Volker Bandelow beglückwünschte gleichzeitig „alle, die SchachtZeichen möglich gemacht haben. SchachtZeichen hat so vieles bewegt – die Menschen durch das Ruhrgebiet, ihre Gespräche miteinander, ihre Herzen und ihre Gedanken. So sollte es sein.“7 (Zukünftige) Metropolen mit szenografischen Mitteln gestalten, hieße aber nicht nur Kommunikation 7
Zitiert aus der Pressemitteilung „SchachtZeichen zum krönenden Abschluss von ‚Land der Ideen‘ ausgezeichnet“ der RUHR.2010 (Mai 2010) – www.ruhr2010.de.
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Abb.2 Schacht Zollverein 12, Foto: © Manfred Vollmer.
zu befördern und dabei die Herzen miteinander zu verbinden, sondern auch jedwede grundsätzlichen wie nachhaltigen Voraussetzungen für das gemeinsame konstruktive Bauen neuer Lebenswelten, neuer Formen des Zusammenlebens und der Zusammengehörigkeit, und das Bilden von Gemeinschaften, die durch miteinander geteilte Geschichte(n) und Visionen zusammengehalten werden, zu schaffen. Im Weiteren soll daher dieser Prozess der Identitätsstiftung oder Zugehörigkeit und der Generierung einer neuen Gemeinschaft respektive zukunftsfähigen Gesellschaft mit dem parallelen Prozess der Bildererstehung aus der kreativen Verbindung zwischen Architektur, Stadt- und Raumplanung, Landschaftsgestaltung und Bildenden Künsten im Ruhrgebiet kritisch begleitet und zentrale Perspektiven und Probleme daran aufgezeigt, Ziele und Methoden, Erfolge und Misserfolge der für dieses Großereignis verantwortlichen Szenografien und verantwortlichen Künstlern und Szenografen bereits nah am Ende des Europäischen Kulturhauptstadtjahres bilanziert werden. Daraus ergeben sollen sich aber in diesem zur Verfügung stehenden Rahmen nun nicht eine ausführliche Analyse und Diskussion der im Zuge von RUHR.2010 geschaffenen populären ikonischen Landmarken und der sogenannten neuen ‚Hochzeichen‘ für das Ruhrgebiet (so der verantwortliche Künstlerische Leiter der RUHR.2010 Karl-Heinz Petzinka), die wie etwa Adolf Winkelmanns spektakuläre Medienfassade für die Krone des Dortmunder U, des
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Abb.3 Foto: © THS-Moritz Rendering Turmaufbau: THS-Hauptverwaltung, ehemalige Zeche Nordstern, Gelsenkirchen: Projekt ‚NT2‘ – Aufstockung des Turms von Schacht 2 mit einer Skulptur von Markus Lüpertz, Architekt: Karl-Heinz Petzinka mit Nathalie Ness und René Clasen, Gelsenkirchen.
neuen Zentrums für Kunst und Kreativität, oder in Form gigantischer Freiplastiken wie Markus Lüpertz’ ‚Herkules‘-Koloss auf dem Gelsenkirchener Nordstern (Abb.3) mit bedeutungsschwangerem Signalcharakter einige zentrale Örtlichkeiten im Revier markieren und damit insgesamt gesehen nicht nur eine neue Silhouette für das Ruhrgebiet formieren wollen, sondern auch als ‚Leuchttürme‘ für die noch anzusiedelnden ‚Creative Industries‘ wirken sollen. Es geht im Folgenden auch nicht um die Kritik der Inszenierung von populären Massenveranstaltungen (angefangen beim Still-Leben Ruhrschnellweg A40 (Abb.4) bis hin zu Sing-Day of Song) mit einem doch insgesamt sehr populistisch breiten Unterhaltungsniveau à la Brot und Spiele8, und auch nicht der etwas schalen Wiederauflage von vielen 80er-Jahre-Kunstkonzepten wie Installationen und Kunst im Öffentlichen Raum respektive in der freien natürlichen wie urbanen Landschaft (beispielsweise EMSCHERKUNST.20109, RuhrAtoll oder Ruhrlights10) oder in Privatwohnungen („Biennale für Internationale Lichtkunst 2010/Open Light in Private Spaces“). Der Essay behandelt des Weiteren auch nicht die vielen im Europäischen Kulturhauptjahr veranstalte8 Vgl. hierzu auch Claus Leggewie: RUHRGEBIET 2010. Kulturhauptstadt wozu? in: DIE ZEIT, Nr.2/2010: „Man darf von Kultur nicht zu viel erwarten. Mit Feste feiern, Sprache erfahren, Musik leben, Bilder entdecken und Theater wagen verbinden Einheimische wie Besucher erst mal die nächste Love-Parade und eine lange Kaffeetafel auf der B1/A40 (alias Ruhrschnellweg) oder Verbundprojekte der 20 Ruhrmuseen (‚Mapping the Region‘) oder 60.000 Chorsänger auf Schalke.“ 9 EMSCHERKUNST.2010. Eine Insel für die Kunst. Hrsg. von Karl-Heinz Petzinka und Jochen Stemplewski (Katalogbuch Stuttgart 2010). 10 Ruhrlights: Twilight Zone. Hrsg. v. Söke Dinkla, Karl Janssen, Karl-Heinz Petzinka u. a. (Katalogbuch Stuttgart 2011).
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Abb.4 Ruhr Still-Leben am 17. Juli 2010, Foto: RUHR.2010 GmbH.
ten Fotokunst-Ausstellungen zum Thema Ruhrgebiet in der Ästhetik der x-ten Generation von Becher-Schülern, wie beispielsweise ‚Ruhrblicke‘11, und auch nicht die sensationell neu szenografierten alten Sammlungspräsentationen in neu oder umgebauten Ausstellungsräumlichkeiten (d.h. Chipperfields Neubau für das ehrwürdige Folkwang Museum in Essen12) oder den von vielen inzwischen tief bedauerten Umzug des renommierten Museum Ostwall ins enge Dortmunder U. Er spricht auch nicht von den etlichen Sonderausstellungen im beachtlichen Blockbuster-Format während des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2010 im Ruhrgebiet, wie beispielsweise ‚Das schönste Museum der Welt‘ oder ‚Bilder einer Metropole – Die Impressionisten in Paris‘ in Essen13, sondern fasst zwei im Sinne der Relationalen Szenografie gesehen wirklich innovative und spannende RUHR.2010-Kunstprojekte in den Fokus, die sich der Emanzipation, Partizipation und Integration, der post-ästhetizistischen Non-Ästhetik und dem kreativen Risiko sowie der luziden Beobachtung der aktuellen Ausweitung des Kreativitätsbegriffs jenseits des dirigistisch gelenkten Versuchs der ökonomischen Stärkung von ominösen ‚Creative Industries‘ verschrieben haben. Sprechen wir daher in Anlehnung an Nicolas Bourriauds ‚Esthétique relationnelle‘14 von einer neuen Relationalen Szenografie: Sie entspricht einer post-medialen und post-ästhetizistischen initiativen wie partizipativen Szeno11
Ruhrblicke/Ruhr Views. Hrsg. von Thomas Weski, Katalogbuch Essen 2010. David Chipperfield. Das neue Museum Folkwang. Der Erweiterungsbau von David Chipperfield Architects, Göttingen 2010. 13 Das Schönste Museum der Welt. Museum Folkwang bis 1933 (Katalogbuch Essen 2010), mit einer Einleitung von Uwe M. Schneede; Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris, hrsg. von Hartwig Fischer, Francoise Cachin & Francoise Reynaud, Katalogbuch Essen 2010/11. 14 Nicolas Bourriaud: Esthétique relationelle (= Collection Documents sur l‘art), Dijon 1998. 12
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grafie und bildet jeweils ein spezifisch inszenatorisch vorstrukturiertes, liminales Territorium aus, das von Kreativen in der Funktion von Strategen, Arrangeuren, Operatoren, Mediatoren und Administratoren in Form und Gestalt gebracht sowie dabei mehr oder weniger anonym im Hintergrund und Verborgenen erhalten wird, obgleich es sich durch Einwirkungen, Eingaben und Einflüsse Dritter, seiner Adressaten, Partizipienten und User, permanent verändert, sich fortwährend in wiederholten Interaktionen aktualisiert und in Wechselwirkungen neu konkretisiert. Eine Relationale Szenografie definiert sich somit als ein New Collaborative Design mit kollektiver Arbeitsweise und multipler Autorschaft. Sie akzeptiert das Variable und Virtuelle, das Flexible und Experimentelle, das Performative, Transformative und Transitorische wie auch das Spielerische, Hedonistische und grundsätzlich Konsumistische in der zeitgenössischen Kultur und wertet dies auf. Sie scheut aber auch das Risiko des Scheiterns nicht und geht darauf ein, bezieht es mit Kalkül und Intention mitunter auch für eine besondere Aussage mit ein. Eine derart post-ästhetizistische partizipative und inventive Szenografie mit ihren ereignis- und erlebnishaften Hyperräumen ist dabei gleichzeitig als eine ausgesprochen diskurs- und dialogorientierte, post-historische und post-mediale Gestaltungspraxis der unternehmerischen Wissensgesellschaft der Gegenwart zu verstehen, die an die Stelle einer objekt- und produktfixierten der alten Industriegesellschaften getreten ist. Denn gerade die Beschwörung der Intelligenz und Kreativität der Masse, das ökonomische ‚Crowdsourcing‘, nicht nur als ein verborgener Ausdruck der tief sitzenden Angst vor einem weiter drohenden Bevölkerungsschwund und kulturellen Kompetenzverlust, zielt einerseits auf die Vereinnahmung der Bottom-up-Kreativität einer bis dahin reichen wie vielfältigen ‚Off‘-Kultur und freien Szene (daher finden sich auch bereits zahlreiche Urban- und Street-ArtProjekte im offiziellen RUHR.2010-Programm), andererseits übersieht der die ge-slogante, ökonomisch instrumentalisierte, Kreativität ausrufende gesamtgesellschaftliche neue Imperativ „Sei kreativ und produktiv!“ der Politik gerne auch die bereits bestehenden Realitäten, die nicht nur von einer Totalisierung und erstaunlichen Ausweitung des Kreativitätsbegriffs in der zeitgenössischen Gesellschaft geprägt sind. Gestalterische Kreativität, wo sie die offizielle Kultur offensichtlich überhaupt nicht vermutet oder insgesamt sehen will, und dabei doch gleichzeitig von dort aus zunehmend Konkurrenz erfährt. Denn in Zeiten, in denen man hofft, die gesamte Kreativwirtschaft könnte vom Niedergang, Überalterung und Schrumpfung begriffene postindustrielle Regionen wie das Ruhrgebiet wieder zu ökonomisch boomenden und kulturell blühenden Landschaften transformieren oder zumindest revitalisieren, setzte sich im Bewusstsein der Gesellschaften doch schon längst ein neues Rollenbild fest, in dem der Designer ganz allgemein zum neuen Vor- und Leit-
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bild auserkoren wurde. Es existiert somit längst bereits ein neuer Gestaltungsmythos in den post-industriellen Gesellschaften, bevor dieser auch noch von Marketingexperten und Politikern offiziell ausgerufen werden müsste: Jeder ist ein Gestalter! Kreativität und Innovation geraten tatsächlich seit einigen Jahrzehnten generell nicht nur zu einem neuen gesellschaftlichen Imperativ, sondern auch der Glaube an die neuen, allgegenwärtigen Schöpfer wächst dabei parallel zusehends. Als ‚Weltenmacher‘, nicht mehr und nicht weniger, identifizieren wir beispielsweise auch all jene, die umfassende, neue Wahrnehmungs- und Erfahrungssphären mit generell intuitiv szenografischen Mitteln erzeugen, in die wir heute mit all unseren Sinnen allerorten eingeladen werden. Einerseits erleben wir dabei allerorten eine stark am modernen Marketing orientierte, ökonomisierte Gestaltung, für die hier nur stichwortartig Branding, CI Police oder ‚Tiefendesign‘ wie ‚Design Thinking in Business‘ sowie popkulturelle Castingshows wie ‚Design your Life‘ im britischen Fernsehen erwähnt werden sollen. Andererseits richten sich Menschen gleichzeitig immer häufiger ihre kleinen privaten und subjektiven Welten ein, die oft durch spezifische Codes oder den seltsamen Hype um bestimmte Kultmarken und Celebrities charakterisiert sind. Ob ‚Nail Design‘ oder Schönheitschirurgie, die Bioware wird zum idealen, attraktiven Körper modelliert. Chemie und Biowissenschaften übernehmen derweil ganz selbstverständlich das Planen, Entwerfen und Gestalten von neuartigen Viren und synthetischen Lebewesen mit Hilfe der Gentechnologie – Designerdrogen, Designer-Zellen und Designerbabies längst inklusive. Physiker fantasieren dagegen nach dem epochalen Urknall-Experiment vom 30. März 2010 am CERN ganz ironiefrei vom ‚Designing the Universe‘. Tourismusbüros, Sportstudios und Wellness-Bäder betreiben ein veritables ‚Glücksdesign‘. Möbelbauer und Architekten begnügen sich längst nicht mehr allein nur mit dem Entwurf von beeindruckenden kleinen Wohnwelten und besonderen Stilfragen, sondern kreieren gleich ganze Marken- wie Designerstädte und künstliche Inselparadiese wie in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Wissenschaftler und Technologen visionieren ein Climate Design auf fernen Planeten wie dem Mars und schaffen jetzt schon unsere zukünftigen Lebenswelten – für den Fall, dass die alte Welt nach Klimakatastrophen, Kriegszerstörungen und Ökodesastern nicht mehr zu re-designen wäre. Und etwas Schönfärben, aktualisiert im gefragten Geschäft der Spin Doctors und der Green Washers, gehörte dabei wohl immer schon zum lukrativen Nebengeschäft der professionell inszenierenden Gestalter und der wachsenden Schar von Szenografen. Letztlich dreht sich heute alles um die Gestaltung von Emotion und der Erlebnisintensivierung. Wir erleben somit momentan eine erstaunliche Entgrenzung des Designbegriffs hin zu einem anthropologischen Phänomen und einer universellen Kompetenz: Sind wir nicht alle ‚Weltenmacher‘?! Und welche Verantwortung haben und tragen wir dann für die Welten, die wir damit ins Leben
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rufen? Gibt es überhaupt noch Grenzen – in Bezug auf die gestaltbaren Welten und auf unser eigenes Vermögen? Welche Macht haben ‚wir Weltenmacher‘? Reicht es dabei schon, zum nächsten Baumarkt zu gehen, um ein guter Gestalter und kreativer Mensch zu werden? Wie reagieren die Disziplin Design und die Künste auf die beobachtbare kulturelle Totalisierung des Design- und Gestaltungsbegriffs in den gegenwärtigen Erscheinungen von ‚Total Design‘ oder ‚Design Art‘ – etwa mit Ohnmacht, oder werden sie sich dadurch erst jetzt so richtig auch ihrer Macht bewusst? Was machen wir letztlich daraus? Kreativitätsprozesse lieber doch gleich direkt in die Hände der Masse, der Gemeinschaften übergeben? Kreativ und innovativ sein heißt im Allgemeinen, tatsächlich aber auch stets dem Prozesshaften und Veränderlichen verpflichtet zu sein, und darin bestünde gerade für das Ruhrgebiet mit seiner rasant verlaufenden Entwicklungstradition doch auch eine echte Chance und Herausforderung. Insofern gelte insgesamt Olaf Metzels zynisch-polemischer Kommentar anlässlich seiner Einzelausstellung „Noch Fragen?“ im Museum Küppersmühle in Duisburg im Rahmen von RUHR.2010, in der sein kunterbuntes Memorial Schicht im Schacht (Abb.5), ein künstlerisch-gestalterischer Versuch, das für ihn misslungene offizielle Kulturhauptlogo RUHR.2010 in ein dreidimensionales, drei Meter hohes, Licht ausstrahlendes Metallobjekt zu transformieren, präsentiert wurde: Es gibt hier eine große Geschichte, viele Möglichkeiten, fantastische Museen und Sammlungen, ein großes Engagement – und was passiert in der Kulturhauptstadt? Es wird runtergedimmt. Es beginnt mit Grönemeyers „Komm zur Ruhr“, demnächst wird eine Autobahn gesperrt, dann gibt’s da Essen auf Rädern. Das ist mehr die Richtung Brot und Spiele. Bei Baudrillard heißt es ‚Kultur eint, Kunst entzweit‘. Mein Ratschlag lautet: Schafft die Kultur ab und macht mehr Kunst.15
Ohne dass sein Künstlerkollege Jochen Gerz gleich auch das K-Wort, Kunst oder Kreativität, in den Mund genommen hätte, ging es diesem doch aber mit seinem eigenen RUHR.2010-Projekt für das Kulturhauptstadtjahr im Ruhrgebiet wohl um den gleichen Appell. Während des Europäischen Kulturhauptstadtjahrs wurden dem in Irland lebenden, international wirkenden Konzept-Künstler Jochen Gerz16 in den Ruhrgebietsstädten Dortmund (am legendären Borsigplatz), Duisburg (Sankt-Johann-Straße und Saarbrücker Straße) (Abb.6) und Mülheim an der Ruhr (Hans-Böckler-Platz) insgesamt 57 sanierte Sozialwohnungen für das Projekt 2-3 Straßen von den Kommunalverwaltungen nach langen Gesprächen zur Verfügung gestellt.17 Aus 1.457 Bewerbungen nach einem internationalen 15
Olaf Metzel zitiert nach www.art-magazin.de (Zugriff 01.06.2010). Siehe die Website des Künstlers im Internet unter www.gerz.fr. 17 Siehe zum Projekt auch die offizielle Website im Internet unter www.2-3strassen.eu; (Zugriff 11.11.) 16
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Abb.5 Olaf Metzel: Schicht im Schacht, Installation 2010.
Aufruf wählte der eigentlich von der Literatur herkommende, 1940 in Berlin geborene Künstler zusammen mit einem eingerichteten Projektbüro 78 Projektteilnehmer aus, die ein Jahr lang in einer dieser Straßen im Ruhrgebiet mietfrei leben und nach freier Wahl arbeiten durften. Bedingung war jedoch, an einer nicht weiter definierten kollektiven Chronik mitzuschreiben und sich dabei den (einheimischen) Nachbarn und dem Wohnviertel in irgendeiner besonderen Weise bemerkbar zu machen. Von welcher Art aber dieses Engagement auf einer grundsätzlich kreativen Basis neben dem Leben und Schreiben am neuen Ort sein sollte, wurde den internationalen Teilnehmern vom künstlerischen Initiator nicht weiter vorgegeben. Jochen Gerz bezeichnete dieses Konzept für das Projekt als eine experimentelle ‚Ausstellung‘, die prinzipiell von ihrer Umgebung nicht zu differenzieren, damit auch unsichtbar respektive non-ästhetisch wäre, und deren Teilnehmer und Besucher integrale Komponenten des Gesamtkunstwerks auf Dauer würden, im idealen Fall also eine neue Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Geschichte bilden könnten, die als RUHR.2010-Projekt am Jahresende aber offiziell vorbei wäre, jedoch zugleich auch unbestimmbar weitergehen könnte, wenn dies die Partizipierenden denn selbst so wollten und sich dafür auch als ihr eigenes Lebensprojekt angeeignet hätten.
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Abb.6 Jochen Gerz: 2-3 Straßen, Duisburg, 2010).
Das von der Presse und dem Publikum von Anbeginn an stark rezipierte konzeptuelle RUHR.2010-Projekt 2-3 Straßen sollte für alle Beteiligten nicht nur ein Erlebnis, sondern gerade auch ein einmaliges, tiefgreifendes Ereignis im Leben und Alltag bedeuten: Das Projekt dient nicht der ‚Stärkung des Wirtschaftsstandortes‘, sondern ist ein kulturelles Echtzeit-Experiment ohne Risikoversicherung. Wenn etwas schiefgeht, geht es im Leben schief, aber nicht als Veranstaltungspanne. Die Kreativität der Teilnehmer ist hier keine Frage von Produzieren und Konsumieren, sondern des Handelns und Bewusstseins der Akteure.18
Gerz’ Kunstprojekt für die Region verstand sich dabei als eine risikoreiche soziale, (alter-)ästhetische und ökonomische Alternative zur populären und publikumsträchtigen Event-Kultur im offiziellen Rahmen von RUHR.2010 und sollte von Anbeginn an materialiter lediglich in einer Buchpublikation mit den nicht weiter redigierten, chronologischen Tagebuchtexten der Bewohner und Teilnehmer der 2-3 Straßen dokumentiert werden. In dieser begleitenden Dokumentation, die 2011 als 3.000 Seiten starker Band erscheint, geht es hauptsächlich um Erfahrung und Begriff dieses vordergründig unsichtbaren, nichtästhetischen Kunstwerks und seiner darin verborgenen sozialen Kreativität wie Relationalen Szenografie – aus dem Klappentext geht dabei noch einmal konzise wie im Werbetext die ursprüngliche Vision des Künstlers hervor: Alle wollen die Stadt verändern. Warum nicht mit Kreativität? Europas Kulturhauptstadt RUHR.2010 hat Kreative aus vielen Berufen eingeladen, für ein Jahr Wohnungen in Dortmund, 18 Hermann Pfütze: Die Kunst verschwindet in der Gesellschaft. Die Ausstellung 2-3 Straßen von Jochen
Gerz, während der Europäischen Kulturhauptstadt‘ RUHR.2010. In: Kunstforum International, Bd. 206, Januar-Februar 2011, S.206.
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Duisburg und Mülheim zu beziehen. Sie wurden Teilnehmer eines Kunstwerks und Autoren eines kollektiven Textes. ‚2-3 Straßen‘ von Jochen Gerz ist eine Ausstellung in drei Straßen ohne besondere Vorkommnisse. Straßen, die kein Stadtführer vermerkt. 1457 Menschen aus vielen Teilen Europas und der Welt meldeten sich auf die Anzeige. Grundgehalt: 1 Jahr mietfrei wohnen. 78 wurden Teilnehmer und leben seither in Straßen, in denen Migranten einen hohen Anteil der Bevölkerung ausmachen. Die Veränderung der Straßen ist das Ziel des ungewöhnlichen Kunstwerks. Für die Mietfreiheit schreiben die Kreativen gemeinsam einen Text. Nicht nur sie, auch die alten Mieter schreiben und das gleiche tun im Laufe des Jahres immer mehr Besucher der Ausstellung in den Straßen. 900 Autoren zählt inzwischen dieser Text ohne Vorbild.“19
Ob die selbstorganisierte, kreative Umgestaltung der gelebten großstädtischen Alltagswelt in den ausgewählten Ruhrgebietsstraßen, in den ausgewiesenen Problemvierteln, auch vorbildlich verlief, war freilich Teil des künstlerischen Experiments als urbane Feldforschung. Gerz’ RUHR.2010-Projekt formierte einen schützenden Rahmen für Improvisation und kreativen Ausdruck, und es geht nicht um Kosten und Nutzen. ‚Der schöpferische Akt ist‘ hier nicht ‚wirtschaftlicher Ausgangspunkt‘, wie es im Bericht der Bundesregierung 2009 zur Kreativwirtschaft heißt, sondern sozialer Impuls. Erfolg und Scheitern des Projektes resultieren nicht aus künstlerischer und ökonomischer Konkurrenz, sondern aus seiner Qualität als Gesellschaftserlebnis.20
2-3 Straßen ist ein Fallbeispiel für die Risiken und Chancen einer Relationalen Szenografie, die auch das Gelingen und Erfüllen ihrer Aufgaben und Ziele wesentlich in den Verantwortungssinn ihrer Adressaten und aktivierten Teilnehmer als einen Akt der Emanzipation und Integration übergibt: ‚Natürlich wird hier nicht mal eben aus jedem Schreiber ein Marcel Proust. Viel wichtiger war, dass die gesamte Gesellschaft Produzent dieses Textes wurde.‘ Der Text ist am Ende des Jahres ein gewaltig großer geworden [...]. Per Laptop trugen 1000 Autoren ihre addiert 10000 Beiträge zusammen. Ist das nicht eher eine Text-Collage? Gerz nennt es einen ‚Fluss ohne Ufer, einen großen Strom‘. Es gab kein vorgeschriebenes Thema, jeder durfte auf Wunsch in seiner Landessprache formulieren. Deshalb sagt Gerz auch, dass es ein europäischer Text geworden sei. Es seien fragende, vorsichtige Texte. Und keine Marmor-Texte. ‚Es ist ein Buch von vielen Menschen – so entstanden, wie noch kein anderes zuvor. Und es ist eine Essenz dieses Jahres‘,
wurde Jochen Gerz Ende 2010 nochmals vom Online-Portal DER WESTEN zitiert.21 Wenig überraschend, meldeten sich am Ende des Projektjahres aber auch gleich einige enttäuschte und vom Künstler angeblich vom Projekt wieder früh dispensierte Projektteilnehmer, immerhin nun medienwirksam in eigener Sache schreibend, kritisch zu Wort und sprachen vorzeitig vielmehr von einer Geschichte der 19
2-3 Straßen. Textband und Making of!, 2 Bde., in Zusammenarbeit mit der Kunststiftung NRW, hrsg. von Jochen Gerz und Hermann Pfütze, Köln 2011. 20 Pfütze, Die Kunst verschwindet, a.a.O., S.209. 21 Thomas Richter: 3000 Seiten Text sind Ergebnis des RUHR.2010-Projekts ‚2-3 Straßen‘, publiziert online in DER WESTEN vom 20.12.2010.
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Widersprüche, Missverständnisse, Ausgrenzungen und Frustrationen. War dieses RUHR.2010-Projekt am Ende dann doch wieder ein gutes Spiegelbild des ganz normalen Ruhrpott-Großstadtlebens?22 Und wann beginnen Menschen denn die totalitären Strategien vollkommen durchinszenierter und überwältigend szenografierter Veranstaltungen eigentlich kritisch zu durchschauen und sich davon zu distanzieren oder kreativ dagegen zu wehren? Wann wird man dieser gemeinschaftlich, euphorisch gestimmten „Alle müssen mitmachen und dabei kreativ sein“-Stimmung als Individuum nicht auch überdrüssig? Darin würde gleichfalls die Perfidie des Konzeptkünstlers sowie die mit meta-szenografischen Mitteln verborgene Kritik an mit bestimmten Intentionen durchwirkten Veranstaltungen wie der RUHR.2010 insgesamt stecken, die eben nur vordergründig oder formalistisch, nach versteckten engen Vorgaben partizipatorisch sind! Und Jochen Gerz auch lediglich als künstlerischen Sozialarbeiter in von der Politik aufgegebenen Problemvierteln des Ruhrgebiets verstehen zu wollen, hieße ihn als kritischen Konzeptkünstler nun gerade erst richtig misszuverstehen. Hatte nicht auch Inke Arns, die Leiterin des Medienkunstvereins Hartware in Dortmund, in Hinblick auf die große K-Frage im Rahmen der Ambitionen, „Creative Cities“ (Charles Landry) im Zuge der RUHR.2010 auch im Ruhrgebiet zu initiieren, schon zu denken gegeben: Zunächst, vor allem anderen, braucht es Bildung. Dann braucht Kreativität – als Voraussetzung für Innovationen – offene Räume. Offene Räume in jeder Hinsicht: Nicht nur Brachen und Freiflächen oder Ruinen als gebaute Räume, in denen sich etwas entwickeln kann, sondern auch offene Strukturen in der Verwaltung, in Unternehmen, in Institutionen, vor allem aber im Denken, die kreatives, das heißt ungewöhnliches oder innovatives Denken und Handeln fördern. Diese Offenheit, die einen als Entscheider durchaus auch angreifbar macht, muss man aber auch aushalten können. Und das geht nicht mit Minderwertigkeitskomplexen, sondern nur mit Mut. Ich weiß nicht, ob man Menschen ‚kreativer machen‘ kann. Aber Kreative können Kreative anziehen. So kann eine kritische Masse entstehen. Und das kann eine Stadt fördern. Problematisch finde ich, dass viele Städte das erst dann realisieren, oder erst dann bereit sind, mehr Offenheit zu wagen, wenn sie fast komplett am Boden liegen [...] Denn Kreativität kann nicht von oben nach unten durchgeplant werden.23
Weniger aber noch als den alten Ideologien vergangener kollektiver Arbeitsweisen und Teamarbeiten verpflichtet, entlarvt sich hinter Gerz’ Kunstprojekt jedoch subtil auch ein typisch zeitgenössischer, weil umfassend neo22 Beispielsweise Stephan Hermsen in seinem Artikel „Warum ‚2-3 Straßen‘ enttäuscht und frustriert“,
publiziert online in DER WESTEN vom 28.12.2010: „Der erste Widerspruch schlich sich bereits im Januar ein: der Projektkünstler Jochen Gerz kam und redete, und das einzige, was mir danach klar war, war dies: Schreiben allein genügt nicht. Um die 2-3 Straßen zu verändern, muss etwas geschehen. Aber was? Ausstellungen, Lesungen, Konzerte? Zu sehr normaler Kulturbetrieb. Kaffeetrinken und Spielenachmittag? Zu sehr normales Leben. Konkrete Anregungen, gar Anweisungen? Fehlanzeige. Vielleicht sind wir zur Freiheit verdonnert.“ 23 Inke Arns im Interview mit LAB2010.tv am 17.11.2010, unter www.2010lab.tv/inke-arns; Beitrag: Ich weiss nicht ob man menschen „kreativer-machen“ kann; (Zugriff 11.2011).
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liberalistischer Ansatz, der auch in den Künsten und der kreativen Szene jeden und alle potentiell zum unternehmerischen Subjekt proklamieren will, das zum (wirtschaftlichen) Wohle aller nun nur noch konsumiert wie produziert! Und Metropolen gelten ja immer noch gemeinhin als die weltweiten Hotspots für Produktion und Konsum. Nur die Verlierer haben schließlich im globalen Wettbewerb nichts mehr zu konsumieren wie zu produzieren und werden dabei von der Wirtschaft und Macht stillschweigend exkludiert. Auf die von den Mehrheiten sozial Exkludierten in metropolitanen Großstädten wollte schließlich auch der Künstler Mischa Kuball einmal in Zusammenhang mit dem Europäischen Kulturhauptstadtjahr 2010 im Ruhrgebiet als Einwanderungsregion mit alter Tradition ein größeres Licht werfen. Für die Kulturhauptstadt RUHR.2010 realisierte der Düsseldorfer Medienkünstler das partizipatorische, stark auf narrativen Strukturen und dokumentarischer Fotografie basierende Kunstprojekt NEW POTT. 100 Lichter/100 Gesichter24 – wiederum eine Form neuer Relationaler Szenografie, die sich der pluralistischen, heterogenen und multikulturellen Wirklichkeit der ‚Metropole Ruhr’ zwischen Duisburg und Dortmund stellt. Denn sind nicht Selbstorganisation, Pluralismus, Inklusion heterogener Gruppen, Divergenz und Diversität gerade auch Marker echter Welt-Metropolen? Dabei war Mischa Kuballs Ausgangsfrage, wie sich das von Diversität, Divergenz und Multikulturalität geprägte gegenwärtige Ruhrgebiet künstlerisch-gestalterisch auf einheitliche innovative und anschauliche Weise darstellen ließe. Der in Köln an der Kunsthochschule für Medien lehrende Künstler entschied sich dabei für ein höchst partizipatorisches wie kommunitaristisches Projekt mit experimentellem Untersuchungscharakter, aus dessen formalen Ausgangsbedingungen heraus sich seine End-Ästhetik erst prozessual entwickeln sollte. Menschen und ihre Familien aus aller Welt, die heute, häufig zersplittert in sogenannte Parallelgesellschaften, geographisch im Ruhrgebiet leben und arbeiten, wurden in Kuballs RUHR.2010-Projekt zu aktiven Teilnehmern und inventiven Beiträgern von Inhalt. Mischa Kuball schenkte ihnen lediglich eine Lampe, die ihren Privatraum erleuchtete und dabei gleichzeitig in mehrfachem Sinne jeweils in eine Bühne verwandelte, eine inszenierte Plattform mit Spotlight, auf der sich der Künstler und die eingeladenen Menschen aus hundert unterschiedlichen Herkunftsländern und verschiedenen sozialen Hintergründen erstmals zu intensiven Gesprächen begegneten. Sie erzählten dabei dem 1959 in Düsseldorf geborenen Künstler ihre Migrations- und Lebensgeschichten, von ihren unterschiedlichen Erlebnissen und Erfahrungen zwischen den Kulturen. Dabei dienten die hell leuchtenden Stehlampen als ‚Lichtzeichen‘ der Begegnung und des tatsächlichen Austausches. 24 Siehe hierzu die Informationen zum Projekt „NEW POTT“ auf der Website des Künstlers im Internet
unter www.mischakuball.com/view?id_article=199&id_document=737; (Zugriff 11.2011).
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Egbert Trogemann dokumentierte diese inszenierten Begegnungen in Fotografie und Video. Seine Aufzeichnungen fließen auf diese Weise in die flüchtig-temporäre Arbeit Kuballs ein und verleihen ihr Dauer in Form eines eindrücklichen und unwiederbringlichen Zeitdokuments. Mischa Kuball wählte als Künstler wiederum aus den vielen Aufnahmen für eine Einzelausstellung im Rahmen des RUHR.2010-Programms subjektiv 100 Bilder aus und schuf daraus Tableaus mit Fotografien und Videos der öffentlich interviewten Teilnehmerinnen und Teilnehmer und deren privater Interieurs, die in der Tradition einer vergleichenden, neusachlichen Fotografie stehen. (Abb.7)
Abb.7 Mischa Kuball: New Pott – 100 Lichter/ 100 Gesichter, 2010.
Sie können aber auch als fotografische Studien zu der sich extrem wandelnden multikulturellen Gesellschaft im Ruhrgebiet gelesen werden. Nach Auffassung des Künstlers ermöglichen nunmehr erst multimediale Dokumentationen der Brücken abbauenden Begegnungen den adäquaten Nachvollzug der persönlichen Gespräche zwischen dem Künstler und den Menschen aus hundert verschiedenen Ländern und Nationen, zumal hier die Macht der oftmals Stereotypen liefernden wie generierenden Bilder durch Worte und Sound, ein Voice-Over, auch entscheidend gebrochen werden25 und so ebenfalls in einem neuen Licht betrachtet werden können. Die hundert Gespräche aus den exemplarischen Begegnungen sind künstlerisches Roh-Material einer vielstimmigen multimedialen Erzählung über das Ruhrgebiet im Jahr der europäischen Kulturhauptstadt-Feierlichkeiten. Die hundert interpretativen Begegnungen 25 Vgl. hierzu auch Pamela C. Scorzin: Voice-over Image. In: Images of Illegalized Immigration. Towards a Critical Iconology of Politics, hg. von Christine Bischoff, Francesca Falk und Sylvia Kafehsy, Bielefeld 2010, S.101-110.
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lassen dabei eine neue Karte des Ruhrgebiets entstehen, die ganz im Sinne eines „Mapping the Region“, einem gemeinsamen Ausstellungsprojekt der RuhrKunstMuseen im Rahmen von RUHR.2010, das Ruhrgebiet, bzw. den von Kuball so genannten New Pott, neu kartographiert und in seinem divergierenden Pluralismus ganzheitlich visualisiert. Ein Katalogbuch zur Ausstellung, herausgegeben von Harald Welzer, Christoph Keller und dem Künstler selbst, kommentiert wiederum die hundert transkribierten Gespräche und bietet damit dem Leser ein umfangreiches Material für weitere Recherchen und Analysen an. Einige Gesprächsvideos des Künstlers waren dabei über das Online-Portal 2010lab.tv für das Publikum auch außerhalb der Ausstellung in den Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum jederzeit im Internet abrufbar und erfahrbar. Dies sind zugleich auch die Kernaufgaben und Chancen einer risikobehafteten Relationalen Szenografie mit einem ethischen Anspruch: Kommunikation zu befördern, Gemeinschaften und damit auch Identitäten durch initiierte Erzählungen zu stiften, diskursive Felder zu eröffnen und dabei weitere selbstgesteuerte kreative oder kognitive Prozesse in den Gesellschaften anzustoßen. Sie stellt Beziehungen her zwischen Subjekten anstelle von Objekten. Und zum ersten Mal in der Geschichte schreibt die Masse die Chronik. Eine Relationale Szenografie vermag darin für die soziokulturelle Identität einer Gesellschaft wichtige wie relevante Gemeinschaftserzählungen zu stiften.
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ZEUGNISSE DES DORTMUNDER U PROLOG (RALF BOHN)
Am 21.6.2010, zur Sommersonnenwende, 19.00 nahm sich Adolf Winkelmann Zeit, mir das sich under construction befindliche szenografische Konzept, die für das Dortmunder U vorgesehenen Techniken zu zeigen und die Gesamtinszenierung zu erklären. Dabei deutete er auf den periodischen Charakter der Szenenabfolgen und die Schwierigkeit der tages- und nachtlichtabhängigen Rezeption, sowie den stündlichen und wöchentlichen Wechsel der ‚Sendungen‘.1 Natürlich wollten wir nicht, wie einst Tycho Brahe im Turm der Prager Burg, Tag und Nacht auf die „Fliegenden Bilder“ unterhalb der vergoldeten Initiale der ehemaligen Union-Brauerei starren.2 Während der sich immer mehr astronomischer Präzision nähernden Erklärungen verfolgte ich vom Vorplatz gegen den Turm starrend den Lauf der Bilder. Eine ältere Passantin unterbrach meinen Selbstverlust und Winkelmanns astrophysikalische Erklärungen im westfälischem Dialekt: „Ist ja ein gutes Zeichen, finde ich, im Vorbeigehen schon interessant, bleibt man immer mal wieder stehen.“ Ich antwortete im rheinischen Dialek: „Ja, da spielt sich was ab. Ist doch was fürs Ruhrgebiet!“ Den faux pas, den ich mit dem Begriff ‚Ruhrgebiet‘ gemacht hatte, korrigierte sie sofort: „Nicht Ruhrgebiet. – Das da macht mich stolz. Das ist Heimat!“ Die Szene illustriert eine Strategie der Szenografie Winkelmanns. Bei den Darbietungen handelt es sich nicht um das Metrum des klassischen, narrativen Films. Die Deutung wird durch die kontinuierliche Selbst- und Fremdunterbrechung, die Ironie und das Fragmentarische der ‚beiläufigen‘ Rezeption zu einer Mimesis an Heimat. Die ‚Spielstätte‘, die seit dem Kulturhauptstadtjahr RUHR.2010 sendet, animiert Presse, Betrachter und selbsternannte Leuchtturmwärter zu immer wieder neuen medialen Metaphern. Das Programm generiert Heimatstolz nicht verschämt, sondern im Vollzug einer im besten Sinne mimetischen Ornamentierung. 1 Der Einladung an Prof. Adolf Winkelmann im Rahmen des Symposions Metropolis. Mit Herz und Hand (25.-27.11.2010) folgte ein fulminanter und voller Selbstironie gehaltener Vortrag, der sich wegen seiner perfekten Inszenierung kaum wiedergeben lässt. Winkelmann beschloss, zehn Stationen der „Reise ins Dortmunder U“, mit Kurztexten versehen, mir zum Druck zu überlassen. Mein Beitrag unter dem Titel „Inszenierte Zeitgestalten“ sollte die „Fliegenden Bilder“ Adolf Winkelmanns aus dem „Leuchtturmprojekt“ der RUHR.2010 kulturhistorisch erden. Ihre Erhebung in den Stand des satirischen Romans ist wiederum in Adolf Winkelmann, Jost Krüger: Winkelmanns Reise ins U nachzulesen (Bottrop 2011; Verlag Hanselowsky Boschmann). Die geschichtsliterarische Aufarbeitung literarischer Inszenierung erfolgt in einem weiteren Beitrag von mir (Paris, Ruhr) in diesem Band. 2 Man darf sich im Internet einen Überblick verschaffen: www.fliegende-bilder.de. Fotografien und Filme über die Arbeiten dürfen jederzeit ins WorldWideWeb eingestellt werden
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HEIMTÜCKISCH Die Abbildung zeigt ein Reklamefahrzeug der Union-Brauerei, das 1938 von mehreren LKWs der Konkurrenz in der Nähe von Wattenscheid in den Graben gezwungen wurde. Über die Werbefeldzüge der 30er und 40er Jahre ist wenig bekannt. Der zuständige Dortmunder Brauerei-Fuhrparkleiter G. Augenthaler behauptet im Goldenen Turmbuch: „Inzwischen steht fest, dass benachbarte Marktkonkurrenten sich eigens umfrisierte Kampf- und Kollisionsfahrzeuge angeschafft haben. Perfide getarnt, um unsere Fahrzeuge, unterwegs in friedlichem Auftrag, planmäßig anzugreifen und in Bedrängnis zu bringen.“
ZEUGNISSE DES DORTMUNDER U
SPIEGELBILDLICH Urheber der Idee, den ‚nichtssagenden‘ Turm aufzuwerten und komplett mit Spiegelkacheln zu ummanteln, in denen sich der ihn umgebende Stadtteil mit allen dem Turm zugewandten Häusern und Straßen spiegelt, ist Prof. Heinrich Müller-Deusen. (In Fachkreisen bekannt vor allem durch sein zweibändiges Hauptwerk Über Halluzinationen.) Dem Einwand des Tierschutzes auf der Nutzerkonferenz im November 1999, dass Brieftauben, sich gespiegelt sehend, höchst verunsichert wären und auf die Spiegelfläche zufliegen und aufschlagen könnten, wurde bei einer Gegenstimme stattgegeben. Prof. Müller-Deusen soll wegen des Scheiterns des Projekts seine Heimatstadt verlassen haben und lebt verbittert und zurückgezogen am Waltroper Moor.
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STAUBIG In den Staub-, Smog- und Ruß-Ereignissen, die bis in die 70er Jahre hinein den Himmel verdunkelten, kam es an manchen Tagen zum gänzlichen Unsichtbarwerden des Kühlturms (Phantomisierung). In Schreck versetzte, orientierungslose Passanten und Radfahrer ohne Kompaß und Karte verloren zum Teil den Verstand, zum Teil suchten sie Unterschlupf in Kneipen und Lokalen, um sich bei Frikadellen, Bier und Wacholder in muttersprachlich aufgewärmten Parallelwelten zu anästhetisieren („Was wech iss, iss wech, kommt auch nich widder“) – wieder andere setzten sich einfach auf die Bürgersteige (Vorläufer der Flash Mobs) und warteten das Wiederauftauchen der Landmarke geduldig ab. Nirgendwo in der alten BRD war Lakonismus und Geduld gegenüber himmlischen Erscheinungen höher entwickelt als hier.
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ASTROLOGISCH Aus dem Jahre 1959 ist die Vorhersage der Wahrsagerin Johanna Maria Doornkatt (1914 bis 1977) überliefert, dass der U-Brauereibetrieb an der Rheinischen Strasse zu ihrem 80. Geburtstag eingestellt werden würde. (Tatsächlich gab der Eigentümer Brau und Brunnen 1994 den traditionellen Braustandort am Rand der westlichen Innenstadt auf und verlagerte die Braustätte nach Lütgendortmund mit verbesserter Anbindung an die A 40.) In ihrer Kristallkugel aus Amethyst (Durchmesser 8 cm) sah Frau Doornkatt das Gemäuer des Kühlturms in einer Winternacht durchsichtig werden und wie er sich in seinem Inneren in ein Licht- und Lampenhaus verwandelte. Die Vision hielt sie in ihrem Vorhersagenbuch fest unter dem Stichwort „1000 und 1 Leuchter.“
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ADOLF WINKELMANN
KULINARISCH 1957, während einer Kunststunde der Quinta am Helmholtz-Gymnasium skizzierte Winkelmann erstmals diese Tauben. Da er seinen Zeichenblock vergessen hatte, gab ihm Kunstlehrer Schleich auch diesmal wieder einen Menüzettel der Gaststätte „Krone am Markt“. Der Schüler begann sofort, hastig zu zeichnen. Die fehlenden Farben müsse man sich vorstellen, sagte er, die Tauben sind eigentlich graugrün. Es sind Brieftauben, die die Stadtbewohner ans Briefeschreiben und Wegfliegen erinnern. Auf welchem Weg immer – die Direktion der Union-Brauerei bekam die Skizze zu sehen, ließ umgehend alle auf dem Werksgelände siedelnden Tauben vergiften und konzentrierte sich auf das in der Zeichnung antizipierte U. 1968 wurde der Turm mit einer Leuchtreklame verziert.
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UNWIEDERBRINGLICH Die im Frühjahr 1998 aufgenommene Fotografie zeigt noch die von fürchterlichem Stein- und Staubfraß befallene Dachkrone des U-Turms. Ihren endgültigen Zerfall hielt man ab Mitte der 90er Jahre für unausweichlich und nie mehr umkehrbar. Die Prognosen sprachen von nur noch etwa 20 Jahren bis zum Abstürzen des Goldenen U. Bis dahin müsse das umliegende Gelände an allen vier Turmfußseiten rechtzeitig geräumt sein. Vermutlich müsse sogar der Güterund Bahnverkehr eingestellt, d.h. der Hauptbahnhof komplett verlegt werden. Ursachen des an Bauwerken oft diagnostizierten Fraßes sind flüssige Niederschläge, KFZ-Emissionen, Zerfrostung, Abtragungen durch Flugratten (geringfügig) und – im ehemaligen Kohlerevier vielerorts sich folgenreich bemerkbar machend – unterirdische Flöz- und Schachteinbrüche, die das Gebäudeganze erschüttern.
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VERGÄNGLICH Die Abbildung aus dem Jahre 2046 n. Chr. zeigt umherstreifende Nomaden auf der Suche nach Wasser. Die 45 Meter hohe Düne kam aus Richtung Arnsberg/ Sauerland, überquerte 2045 das Ruhrtal, begrub den Fluss, im Jahr darauf den Phönix-See im Süden Dortmunds, schließlich die gesamte Innenstadt. Nördlich der ehemaligen Stadtteile Mengede und Deusen fiel das Dünengebirge zur Nordsee steil ab. Das ansteigende Meer war bereits 2042 in Amsterdam durch die Deiche gebrochen und füllte von Nordwesten aus die münsterländische Senke. Castrop-Rauxel war vorübergehend Küstenstadt mit Badeort-Status. Dass es zuvor zu der von vielen Westfalen befürchteten Invasion niederländischer Wohnmobile und Kleinlastwagen gekommen war, ist nicht mehr nachweisbar.
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FAMILIÄR Zu spät bemerkten die Bewohner der Bergbau-Metropole, dass sie sich selbst den Boden unter den Füßen aushöhlten und das Land zwischen Emscher und Ruhr um 13 Meter absackte. Mit ungezählten Pumpwerken begannen sie den Anstieg des Grundwassers aufzuhalten, bis das Pumpen nicht mehr finanzierbar war. Im Süden von Dortmund entstand zunächst ein Tümpel (Phönixsee), der sich alsbald in ein Binnenmeer bis an den Rand von Duisburg auswuchs. Die Bevölkerung zog sich an die Ufer zurück, baute Hunderttausende von gemütlichen Strandlauben und schmückte ihre Wohnräume mit Bildern der sprudelnden Flut. Das hier abgebildete Gemälde erzählt die Geschichte des schrecklichen Tages, als der U-Turm, in Folge eines Kurzschlusses innerlich brennend, in den Fluten versank.
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„BABYLONISCHE BUCHSTABENSUPPE“ Uraufführung 28. Mai 2010
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„DER TURM ALS STAHLWERK“ Uraufführung 28. Mai 2010
Alle 10 Abbildungen des Artikels: © Adolf Winkelmann
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INSZENIERTE ZEITGESTALTEN ZU ADOLF WINKELMANNS SZENOGRAFIE DES U-TURMS
I. HEIMAT UND ORNAMENT
Schon für die Moderne hat Gérard Raulet nachgewiesen, dass Heimat sich zwischen Natur (Alltag) und Ornament (Ereignis) als Denkweg eines nicht mehr realisierbaren Zieles ausdrückt, nämlich als Gedächtnisspur. Raulet folgt einer metaphysischen Illusion, die Walter Benjamin einmal formulierte: Heimat sei etwas, was in der Kindheit wohne, aber mit ihr unwiederbringlich ins Reich der Erinnerungen wandere, aus dem nur die Spur des Ornaments herausführt. Als Ornamentspur einer unwiederbringlichen Leiberfahrung stellen Zeitgestalten, nämlich eben jene Gedächtnisakte sich ein, die als Selbstbewusstsein darstellungslos bleiben. Heimat reflektiert sich nicht in Erinnerungsbildern, sondern als Gedächtnisvollzug, als Gefühl von Zeitlichkeit und Dauer. Heimat ist in Gegenwärtigkeit nicht zu erfahren, da sie die Spur vergangener Alltäglichkeit ist, die nie der Ereignishaftigkeit einer Erinnerung für wert befunden wurde. Es sind jene Kindheitsvorstellungen, die als unauslöschliche Erfahrungen inkorporiert sind: Sie können nicht vergessen und nicht überschrieben werden, da das Gedächtnis kein Gedächtnis für sich selbst haben kann. Es gibt also zum Begriff ‚Heimat‘ keinen (topografischen) Gegenwartsort. Gedächtnishaftigkeit, also die Transparenz der Erinnerung für sich selbst (man kann Erinnerungen nicht befehlen), artikuliert und inszeniert sich in Gestaltung szenologischer Zeitordnungen. Der U-Turm ist eine Parallelmaschine der Selbsterinnerung auf dem Weg zur Heimat. Er ist nicht Freiluftkino, sondern erfüllt die alte Bedeutung vom Lichtspielhaus. Die konkrete Zeitgestalt ist die einer Turmuhr, wie sie seit 700 Jahren die Gestaltung von Zeit und die Beziehung von Mensch und Gedächtnis szenifiziert. Wie die Turmuhr der topografische Ort einer topologischen Zeit ist, so wirkt die Winkelmann’sche Szenografie durch relationale Begegnung auf die Selbstinszenierung und Selbst-Inszenierung von Heimat. Wenn beiläufig bekannt wird, dass Adolf Winkelmann in seiner Kindheit und auf seinem Schulweg mit dem U-Turm (damals noch ohne das charakteristische ‚U‘, aber in der Vorweihnachtszeit mit Adventsbäumen geschmückt) aufgewachsen ist, könnte selbst der Autor dieser Zeilen in den Sog geraten, eine Abhandlung über Künstler und (Lebens-)Werk zu schreiben. So einfach sind die ästhetischen Vorgänge nicht in Ordnung zu verbringen, schon allein, wenn man sich vorhält, dass seit Adolf Loos’ Pamphlet aus dem Jahre 1908
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das Ornament als Verbrechen angeprangert wird und auch der billige Begriff von Heimat auf den Unrathaufen funktionalistischer Ästhetik geworfen wird. In diese Reinsträume eines militarisierten Bauhauses können, so wusste schon Benjamin, Spuren sich nicht einschreiben. Heimat wird zum zufälligen Effekt oder Dekor herabgewürdigt, Gedächtnis durch Archivierungsmaschinen ersetzt und eine Aufwertung der Aktualität in Dauerevents macht geschichtliche Erfahrung obsolet. Die Begleitfigur der Zeitlichkeit, das Ornament als Ausdruck von Eigenzeit verschwindet. Das Dortmunder U, das in seiner Form sowohl an die Stufenpyramide von Sakkara als auch den Turm zu Babel erinnert, ist das untergegangene Wahrzeichen der weltoffenen Hanse- und Bierstadt. Es geht nicht um die Reszenifikation einer Erfahrung im Umgang mit der Vielfalt der Zeitgestalten, in denen sich der Gedächtnisvorgang einer Bevölkerung ausdrückt,
Abb.1 Das Kühlhaus der Dortmunder Union Brauerei zur Weihnachtszeit. © Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund.
die von der permanenten Zerstörung ihrer Geschichtsbilder zerrissen wird. Wie in einer szenologischen Analyse üblich, gilt es zunächst die gegenständlichmateriellen, technisch-programmatischen und bedeutungstragenden Elemente der dreiteiligen Szenografie von Winkelmann einzeln in den Blick zu nehmen, um sie als allegorischen Korpus auf den Menschen und seine sinnlich erfahrbaren Szenenbilder zu beziehen. Wir fragen nicht nach Raum und Zeit, sondern nach der Logik des Erscheinens. Wenn Gedächtnis als Zeitlichkeit sich der Bildhaftigkeit widersetzt, müssen Inszenierungen diese nachvollziehbar machen. Inszenierungen aber sind stets zeitlich und terminiert. Solche Zeit- respektive Gedächtnisakkorde können verschiedenen Szenografien von Zeitgestalten zugeordnet werden.
INSZENIERTE ZEITGESTALTEN
Zunächst muss festgestellt werden, dass die multimediale Bild-SoundLicht-Darstellung des Dortmunder Us sich nicht in Worte transscribieren lässt. Das Wesentliche der Erfahrung entgeht zwar gerade nicht dem diachronen Charakter der sprachlichen Darstellung (im Gegensatz zum Nu des Bildes), aber der Gegenstand ist einem Dritten nur über eine Beschreibung des Zeitsinns zu vermitteln, zu dem offensichtlich die gesprochene oder geschriebene Sprache nicht vollen Zugang hat, sonst gäbe es in unserer Zeit nicht die Konjunktur der Events, Inszenierungen, Szenografien und Exhibitionen, in denen das Darstellen als ‚sich darstellen‘, als ‚Selbst-Bewusstsein‘ die schockhaften Belastungen effektiver Arbeitswelt kompensiert. Es geht in der Darstellung jeder Szene immer um die Zeitdarstellung, die funktional in der Sprachdarstellung als rhetorischgrammatischer Abfolge des Satzes thematisiert ist, zumal die Darstellung einer Inszenierung selbst autothematisch eine Darstellung von Zeitdarstellung ist,
Abb.2 Neubeuten vor dem Dortmunder U, 2010. Foto: Ralf Bohn.
nämlich eine Selbstthematisierung von Gedächtnisvollzug und dessen unverfügbarer Versicherung. Nur im Aus-der-Zeit-Sein kann überhaupt Inszenierung von ‚Realität‘ unterschieden werden. Die Inszenierung ist ‚ahistorische Zeit‘. SelbstBewusstsein, das ist seit der Frühromantik bekannt, ist immer Zeitbewusstsein, bzw. weiß sich allein als Ausdruck von Zeit zu thematisieren. Ihre höchste Form ist die poetische Ironie. Sie ist zugleich die höchste Form des Ornaments. Es gilt also zunächst eine Methode der szenologischen Analyse zu präzisieren, in der es im Selbstbezug um den Gedächtnisvollzug geht und um dessen rettende Rückaneignung, deren bedeutendste die von Kindheit ist. Wir werden einige historische Hinweise in Bezug auf die ‚Uhr am Turm‘ bemühen, um die Frage der szenischen und der inszenierten Zeit historisch zu verorten: die Uhr
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als Zeitgeber, als Versammlung von Gesellschaft, als Ornament, als szenischer Begleiter. Außerdem gilt es das Wechselverhältnis von Zeitorganisation und Gesellschaft hinsichtlich ihrer Arbeitstaktung, also der Produktion von Sichtbarkeit (und Dingen) nicht zu vergessen. Versteht sich von selbst, dass das hier nicht mit wissenschaftlicher Vollständigkeit zu leisten ist, sondern im Sinne einer Szenifikation des Unterschiedes von Szenografie und Szenologie mit Blick auf den Dortmunder U(hr)-Turm angedacht werden soll. Es genügt nicht, sich allein auf eine Interpretation der Bedeutungsebene der Bilder, Szenen und ‚Filme‘ Winkelmanns zu verlassen. Mit den herkömmlichen Mediengenres wird man dem „Lichtspielhaus“ nicht gerecht. II. ZEITGESTALTEN UND GEDÄCHTNISGESTALTEN
Das szenografische Event versteht sich als Ausdruck einer zeitlich begrenzten Produktion, Aufführung, Ausstellung, die sich nach der Darstellung oft restlos verkonsumiert. Es betont den Aktual- und Parallelcharakter von Ereignis. In seiner Selbstinszenierung gilt es auf den Unterschied zwischen Aktualität einerseits, Dauer, Wiederholung, Periodizität und Programm andererseits zu verweisen und damit auf die topologische Relationalität von Ereignissen, die sich am gleichen Ort abspielen können. Begriffe, die aus der Funktion des Gedächtnisses her sich ableiten, sind in medialen Momenten gebannt: Die Gedächtnisspur, rituelle Zeit und Gestaltbildungsvorgänge sagen immer auch etwas über die Genese eines Mediums aus. Es soll verstanden werden, dass technische Medien als Bewusstseinsäquivalente nicht vom Himmel fallen, sondern einem komplexen Bildungsvorgang der Verdrängung und Erscheinung von ‚Inhalt‘ und ‚Form‘ sich verdanken, deren klassische Vermittlungsebene die des Ausdrucks ist. In Bezug auf die Zeit als Medium gilt die Turmuhr als die Ausdrucksgestalt schlechthin. Das Signifikat der Szenografie ist nicht die (gesprochene oder geschriebene) Sprache, sondern die Szene selbst. Ihr kommt der Status von Protosprachlichkeit zu. In ihr wird der Streit/Agon um den Wert der Erinnerung als Gedächtnis ausgetragen, indem dieser für einen Dritten zur Darstellung gebracht wird. In der Szene zeigt sich der innere Streit der Handlungsoptionen der zur Realisierung drängenden Vorstellungsgestalten. In dieser Anschauungsweise repräsentiert der Protagonist das, was als Konflikt zum Ausdruck kommt. Performativität ist in diesem Sinne der Versuch der Realisierung ohne Realisierungsfolgen, Versuch der Herrschaft über die Zeit (letztlich über das stets drohende Ende der Zeit). Deswegen ist die Szene in der Regel durch die Attribution von Spiel, Experiment oder Fiktion aus der Realität (dem Darstellungszwang der technischen Normalzeit, der Historie) ausgegrenzt. Technische Realität als solche existiert nicht ohne den Bezug zu einer einheitlichen Zeitordnung, in der logische
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Paradoxien vermieden werden können. Ein technischer Sachverhalt kann nicht zugleich so und anders sein. Die Szene aber gibt der gleichzeitigen Selbstbeziehung des Menschen in einer Beziehung zum anderen Raum. Als Vorspiel der paradoxen Situation, in der jeder andere dem anderen seine Selbstverweisung vorspielt, müssen vergesellschaftende Wechselverweise der ‚Selbstbewusstseine‘ durch Zeitgestalten reinszeniert werden. Es geht um das Geben, Schenken, Rauben und Versprechen von Zeit.1 Die Szenografie ist die Technisierung einer Szene, in der Ereignisse, also Einmaligkeiten, in Erinnerungen verwandelt werden. Jeder dieser Erinnerungen ist mit der anderen nicht durch einen Index an Zeit, sondern durch Indices des Ausdrucks verbunden, die sie sich in ihren Konstellation synchronisieren können, zum Beispiel im Stil. Dieser Index macht den Uhrencharakter des Selbstbewusstseins aus, also den Umstand, dass ich das Bewusstsein meiner Biografie bin. Es gibt und es bedarf keines eigenständigen Zeitsinns, wenn nicht zum Beispiel das Phänomen der Musikalität als ein solcher bezeichnet werden will. Auf diese Weise bin ich nicht mit meinen Erinnerungen identisch, sondern ich habe ein Gedächtnis. Daraus leitet sich der ambivalente Charakter der szenischen und der technischen Zeit ab, auf den im Zusammenhang mit den Inszenierungen Winkelmanns zu verweisen ist. Wie stellt sich eine Szene der Szenografie dar? Das ist kein großes Geheimnis: Sie arrangiert die Interpersonalität von Ich und Anderem (Akteur und Beobachter z.B.) in einer Parodie technischen Gelingens. Solche Parodien sind nicht nur ironisch, subversiv oder travestisch, sondern immer auch paradoxal. Es sind logische Paradoxien, unter denen technische Modalitäten nicht funktionieren, also zu Inhalten ihrer selbst werden, und somit zeigen, dass auch ihre Autorität der Tauschordnung von Form und Inhalt unterliegt. In Bezug auf die Szene wird weniger von Paradoxien gesprochen, als von dramatischen Konflikten, die das ambivalente Leben des Menschen in seiner Beziehung zu seiner (zeitlichen) Begrenztheit, zum Tode thematisieren. Die Idee der szenischen Dimension, die zwischen Ornament und Technik, zwischen bedingtem Alltag und narrativer Imagination vermittelt, findet sich in den Filmsequenzen von Winkelmann insbesondere auch in Gestalt der allegorischen Travestie des Alltags, die er Geständnisse (Neun Fenster – Szenografie des Treppenhauses des Dortmunder U), nennt. Was sind Geständnisse anderes, als Eingeständnisse, dass die technische Ökonomie des Lebens doch eigentlich anderes erzeugt als Freiheit vom Realitätszwang? Bei den Fliegenden Bildern (U-Turm Bilderuhr) handelt es sich nicht um kleine Erzählungen (Kurzfilme), sondern um szenische Miniaturen (Lichtspiele), die sich deswegen entfalten können, weil sie keinen Anfang und kein Ende thematisieren. Das Fragement ist ihnen Einsicht, Genuss und Universalität genug. Sie präsentieren den Alltag 1 Vgl. Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd. 4, Bielefeld 2011.
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von seiner Mitte her und, wie es frühromantischer Logik genügt, mit Ironie: Man kann zwar mit dem anderen auf gleichem Raum, aber nicht in der gleichen Zeit leben. Sich aber auf Gegenwärtigkeit zu beziehen, heißt schon, sie nicht mehr zu haben. Aufgrund dessen entgeht dem ironischen Fragment das Schicksal, narrativ geschlossen zu sein und als ‚Inhalt‘ aufgefasst zu werden. Es wäre das Ende der Inszenierung, die Geständnisse und die Fliegenden Bilder als Kurzkino bzw. Fernsehen am U-Turm aufzufassen. Auf die Parodie des medialen Verschlusses technisierter Realität und Rationalität antwortet Winkelmann mit der Struktur des Fragmentarischen. Die Sendungen des U-Turms sind kein Programm (obgleich sie technisch programmiert werden), sondern zu betrachten, wie man eine Turmuhr betrachtet, beiläufig, schnell und auch mal mit dem Blick für den Turm selbst. Die Programmatik kann gesteuert oder dem Zufall überlassen werden. Der philosophische Blick wird bemerken, dass die Rationalität eine Lösung für die Welt der Paradoxien und menschlichen Verstrickungen bereithält, nämlich die zeitliche Entzerrung unter der Vorgabe eines einheitlichen, linearen, eindimensionalen Mediums physikalischer (newtonscher) Zeit. Paradoxien werden als Problem der Synchronität übersetzt, das es gilt, diachron, in Klassen von Problemen (so der Lösungsansatz von Bertrand Russell) abzuarbei-
Abb.3 Das Mannesmann-Hochhaus (1958) in Düsseldorf (links angeschnitten der Bau von Peter Behrens, 1912). Architekten: Egon Eiermann und Paul Schneider-Esleben. Foto: Ralf Bohn.
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ten. Solches Abarbeiten nennt man Programm. Das Programm ist das logisch still gestellte Gegenstück zur Szene, in der die menschliche Selbstbeziehung als Unmöglichkeit der Gleichzeitigkeit von Ich und Anderem begriffen wird. Industrielle Programmatik ist geometrischen Reinigungsbemühungen unterworfen. Hochhäuser in diesem Stil haben eine modulare Oberflächentextur, keine symbolisch-synchrone Tiefenstruktur. Unter dem einheitlichen Programm einer Weltzeit ist zu verstehen, dass ein dezidiertes Interesse am Szenischen darin besteht, einerseits Gleichzeitigkeiten technisch ökonomisierbar zu machen, um sie andererseits als synergetische, synästhetische und multimediale Ereignisse konsumpflichtig aufzubereiten. Das Rationale und das Szenische stehen sich dialektisch gegenüber als zwei Zeitgestalten unserer Tauschwertgesellschaft. Es ist ein Zeichen modernen Medienkonsums, im Buch, im Kino, am Fernseher auf relativ diachrone Rezeption angewiesen zu sein. Ereignisse dagegen, in denen man ‚eintauchen‘ kann, werden als besonders erfahrungsintensiv gewertet, weil in ihnen die Unrast der Gedächtnisbildung synthetisch, szenografisch hysterisiert. Dieses Eintauchen ist immer mit der Gefahr verbunden, nicht wieder auftauchen zu können. Deswegen gibt es für Szenografien Grenzbedingungen der Kontextualität, die als Rahmungen das Ornat ihrer chronologischen Bestimmung tragen. Das sind Datierbarkeit, Archivierung und in der Regel Öffentlichkeit. Die dialektische Bestimmung von Inszenierung und Nichtinszenierung wird jeder verstehen, der zum einmaligen Ereignis einer Hochzeit vergisst, den Fotografen zu bestellen. Der Hochzeitsfotograf ist eine Institution wie der Priester und der Trauzeuge: Sie versichern die einmalige Performanz und sie halten davon ab, die Ewigkeit der Einmaligkeit je erinnernd zu verstetigen. Geheiratet nämlich wird nur einmal. Auch wenn das Ereignis nach Jahrzehnten verblasst, die Ehe als kontextueller Lebensvollzug hat Bestand. Der Wert von Inszenierungen liegt also in der dialektischen Verwandlung alltäglicher Lebensvollzüge in Gedächtnisvollzüge und somit von inkorporiertem Bewusstsein. Mit Heimat ist genau dieses Aufgehen von Ereignishaftigkeit in die Kontextualität des Lebens gemeint. Die Ordnung eines Programms ist die der Zeit: Wie viel Zeit braucht der Rechner, um eine synchrone Ordnung in eine diachrone Ordnung mit hinreichender Genauigkeit abzuarbeiten? Steigt z.B. die Zahl der Parallelrechner, wird ihre Synchronität, d.h. die Genauigkeit ihrer Uhren zum Problem. In Wirklichkeit ist das Programm nicht an einer Lösung der Paradoxien interessiert. Die Winkelmann’schen Großrechner leisten (unter Aufnahme von elektrischer Energie und Abgabe von Wärme) in dieser Hinsicht einiges. Ohne Rechner und aufwendige Programmierung ist eine solche Szenografie nicht zu denken. Deswegen gehört die Frage der Technik zur Frage der Zeitgestalt der bewegten, fliegenden und anamorphotischen Bilder. Und deswegen gibt es neben der Projektion der Fliegenden Bilder in der Galerie des U-Turms, den Geständnissen im
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Rolltreppenhaus, den Ruhrpanoramen im Foyer, einen dritten Ort der Darstellung, den Raum der ‚schwitzenden‘ Rechnerkolonnen, und darin ein Modell zur experimentellen Simulation dessen, was sich auf der Außenfassade abspielt und von einem inneren Terminal aus, eine Art Glashaus, programmiert wird. Die Programmierdarstellung gehört selbst mit zur Koppelung von Ereignis, Ereignisprojektion und Ereignisabfolge, d.h. der Komposition der Filme und bewegten Fotografien, die gegenüber der technischen Normalzeit eine Eigenzeit behaupten, die sich, der Lichtspieltechnik entsprechend, im Zusammenspiel mit den Tages- und Jahreszeiten periodisch, nicht programmatisch entwickelt. Schon die Einführung einer astronomischen Zeit in urbane Räume der Normalzeit (MEZ) ist eine Besonderung. Die Verwandlung der Zeitgestalt sich überlagernder Perioden macht die Gesamtinszenierung Winkelmanns exemplarisch für die Analyse von Uhrtürmen als Symbole der Zeitgestaltung, der Form und Funktion von Gedächtnis in unserer Aktualitätsgesellschaft. Die Technisierungsebene der fußballtorgroßen LED-Module und das Zusammenspiel der Rolltreppenhausbeamer unterliegt der Rücktauschbarkeit diachroner Rechnerzeit in synchrone szenische Zeit. Die Serialität der Arbeitsprozesse zeigt an, dass ein spezifischer, von der Kunstwissenschaft stets hervorgehobener Unterschied zwischen Ornament und Muster, Dekor und Textur, zwischen Serie, Periode und Dauer besteht. Es ist eben ein wichtiges Charakteristikum der Fliegenden Bilder, dass sie keine elektronischen Muster, sondern Szenen darstellen, deren organische Qualität gerade noch (als Wasseroberfläche, Bierschaum etc.) gegenständlich zu erkennen sind, während doch auch ein Gedanke sein könnte, mit der zufälligen Serialität zu spielen. Für andere Lichtfassaden mag dieses Konzept des dekorierten Raumes aufgehen, für Winkelmanns Verständnis von ornamentaler Zeit nicht. III. UHRTURM UND TURMUHR
Am Eiffelturm haben die Lichtdesigner es vorgezogen, mit der Dämmerung und der Verwandlung der Farbe des Eiffelturms zu spielen, sowie mit dem komplementären Nachbild, das im Auge des Betrachters entsteht, wenn nach 10 Minuten die Vorführung (im Sommer in der Phase der Dämmerung nach Sonnenuntergang von 22.00 bis 22.10 Uhr) abbricht. Es bleibt jedoch bei der Diagnose: Die Blitze sind mathematisches Dekor des Zufalls. Kunsthistorisch sind sie eine Reminiszenz an den Impressionismus. Die Designer haben (außer als wissenschaftliches Zitat) im Gegensatz zu Winkelmann (siehe YouTube) verboten, nichtautorisierte Fotografien in Umlauf zu bringen. Auch hier wieder der für ‚Künstler‘ typische Fanatismus der ‚Einmaligkeit‘ – des historischen Zeitsolitärs mit seiner bornierten Ewigkeitsattitüde.
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Abb.4 Öffentliche Lichtinstallation mit urheberrechtlich geschütztem Lichtdesign. Die Vermarktung in der Nacht ist geschützt, am Tage erlaubt. Das Foto entstand in der Dämmerung. Foto: Ralf Bohn.
Der Balanceakt zwischen Muster, Ornament, Episode (ohne narrative Dramaturgie) zeigt, dass es sich bei den Sendungen des U-Turms keinesfalls um ein avantgardistisches Open-Air-Fernsehen handelt, auch wenn Winkelmann dieser Branche und der des Kinos seine Reputation verdankt. Hier ist anderes zu denken, nicht zuletzt auch projektiv die Frage, welche neuen Techniken in welchen Szenen zu neuer Heimat als einer ‚Selbstbeziehungskonstante‘ zukünftiger Gedächtnisspur gerinnen. Eine Spur ist zu verfolgen, die den U-Turm selbst als Uhrturm auffasst und über die Kirchturmspolitik des Ruhrgebiets hinaus weist. So hat man in Düsseldorf (und überall dort, wo der Turm primär die Funktion eines Sendemastes erfüllt) anders als in Paris sich auf die altertümliche Variante verlegt, am Rheinturm im Medienhafen eine Lichtuhr zu installieren, die, wie könnte es für Düsseldorf anders sein, als ‚größte digitale Uhr der Welt‘ bezeichnet wird. In komplizierter und ohne Anweisung nicht verständlicher Weise wird die Inszenierung der nichtinszenierbaren, mathematisierten Mitteleuropäischen Zeit angezeigt. Die Normalzeituhr in Düsseldorf hat keine ornatische und keine ornamentale, sondern eine dekorative Funktion. Sie wirft nur nachts und von Norden aus zu sehen ihre bildlos digitalen Lichtpunkte über die Stadt.
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Abb.4 Das Wilhelm-Marx-Haus in Düsseldorf. Erbaut 1924 als höchstes Eisenbetonbauwerk in Europa. In der Turmspitze war – wie im Dortmunder U – aus Brandschutzgründen ursprünglich ein Wasserbehälter untergebracht, der durch die Balustraden verborgen werden sollte. Architekt: Wilhelm Kreis. Foto: Ralf Bohn.
Ein weiterer Uhrenvergleich bezieht sich auf das Wilhelm-Marx-Haus in Düsseldorf, das erste Hochhaus in Deutschland aus dem Jahre 1924 (57m, erbaut von Wilhelm Heinrich Kreis; das historische Lichtdesign des Gebäudes ist in sehr guter Qualität unter www.dus-illuminated.de einzusehen). Das Gebäude ist 3 Jahre jünger als das Dortmunder U, das im Jahre 1927 als Kühlturm der Unionbrauerei fertiggestellt worden war. Es besteht eine formale Ähnlichkeit der Dachlandschaft. Ob hier die Dacharkaden ebenfalls Scheinwerfer zur Illumination enthielten, ist mir nicht bekannt. Darauf spielt die Technik der LED-Projektion im Dortmunder U an, wenn man sie aus dem kleinen Dachrestaurant betrachtet – die LED-Flächen lassen von innen einen Rundblick auf Dortmund zu. Was von außen als Lichtwand wirkt, ist von innen erstaunlich transparent. Das Wilhelm-Marx-Haus ziert eine vergoldete Uhr auf der Schauseite. Die Uhr soll den Turmcharakter des Gebäudes unterstreichen. Der Rheinturm dagegen unterstreicht den Uhrencharakter im Sinne einer gesellschaftlichen Taktung. Wir sehen, wie Uhr und Turm sich gegenseitig inszenieren und kontextualisieren können. Bei genauer Betrachtung des Wilhelm-Marx-Hauses sieht man, dass die Dacharkaden in Arabesken verschlungen sind und nicht die Sachlichkeit der Dacharkaden des Dortmunder Us aufweisen. Beide Gebäude verdecken
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die kupferverkleidete Dachhaube, die in Dortmund zwischen den Fliegenden Bildern am Tage noch rotgolden hervorleuchtet. Vermutlich, um Verhältnissen wie am Piccadilly-Circus oder Broadway zu entgehen, vermeidet man Werbelichteffekte. Der Unterschied zwischen Leuchtreklame und Lichtinszenierung wird angesichts neuester, flächenwirkender Bewegtbild- und Lichttechniken aufs Äußerste strapaziert und zeigt sich schon in der verwandelten Symbolkraft des Signets der Dortmunder Union-Brauerei. Welche Idee von Kultur als Form der Kultivierung von Gedächtnis, von der astronomischen über die biologisch-agrarische Uhr, bis zur Einheitszeit kann sich entwickeln, wenn der Uhrturm nicht nur die Zeit, sondern die Zeitgestalten in ihrer Gleichzeitigkeit anzeigen kann? Was erwartet uns in Zukunft an Lichtdomen und Leuchtbomben, an Blitzen und Dämmerungen, die visuell oder akustisch anzeigen, was die Zeit geschlagen hat? Wie wird gezeigt, dass Dortmunds künftiger Kreativstadtteil zwar Aufmerksamkeit sucht, ohne aber in den Nepp des Piccadilly zu verfallen? Kommen wir darauf zu sprechen, was die Rhetorik der Szene als ‚synchrone Technik der Konflikte‘ auszeichnet. Die realitätserzeugende und -kontrollierende Instanz der Technik zeitigt Ergebnisse auf der Grundlage einer summativen Archivierung von Aktualität (Fakten). Durch szenische Zufälligkeiten und Ausdrucksbildungen werden diese bedroht. Das beste literarische Zeugnis dafür liefert Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt aus dem Jahr 1873. Der Fetischist der Greenwich-Zeit, Phileas Fogg, wird beständig von den Exzentrizitäten der szenischen Zeit bedroht und schließlich auf seiner Reise um die Welt durch die Unterscheidung beider Zeitgestalten von seinem Spleen geheilt, und zwar, indem er sich einer einzigartigen Synchronisierung verschreibt: der ‚Hochzeit‘. Die Pointe der dialogischen Verwandlung ist die, dass man an der Wahrnehmung des dialogischen Partners wahrnimmt, wie Wahrnehmung möglich sei, d.h. wie der Zwang zur Erkenntnis sich in eine Möglichkeitsperspektive verwandelt. Bekanntlich hat nämlich jeder Standpunkt seinen eigenen Blickwinkel. Das wird an anamorphotischen Standpunktverzerrungen deutlich und ist seit dem Barock ein beliebtes Instrument, dem anderen seinen Blick aufzuzwingen. Anamorphosen sind das szenische Thema der Geständnisse, die, über Beamer gesteuert, synchron in einem expressionistisch verzerrten Winkel an einer Wand des Rolltreppenhauses projiziert werden. Lange, gegenläufige Rolltreppenpassagen schaffen anamorphotisch-expressionistische Bildbeziehungen und Sinnstiftungen und veranschaulichen den Vollzug von Erkennen und Wahrnehmen, dem der Besucher auf einer Rolltreppe auch nicht entfliehen kann. Der Dialog, auch der innere, wie ihn Alfred Döblin in seinem Metropolenroman Berlin Alexanderplatz erstmals literarisiert hat, ist auf diese Möglichkeitsperspektive hin angelegt. Wahrnehmung und Bedeutung geraten in eine floatierende Relations-
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Abb.5 Die Geständnisse (Neun Fenster), Adolf Winkelmann. Projektionen im Rolltreppenhaus. Foto: Dieter Menne.
beziehung, ohne dass sich Bilder stabilisieren. Die Metropole an sich trägt damit Züge der Möglichkeitsperspektive und verwandelt ihre Menschen in Projektionsflächen. Das vergoldete ‚U‘ hat gegen diese Möglichkeitsperspektiven stabilisierende Funktion. Es ist sowohl funktional aufstrebendes Moment eines ‚Leuchtturms‘ (im eigentlichen und im übertragenen Sinne als ‚Leuchtturmprojekt‘, ‚Highlight‘) und es ist Visualisierung des Vokals ‚U‘, der Buchstabenform, die seit archaischer Zeit Empfängnis symbolisiert, wie Alfred Kallir in seiner Darstellung Sign and Design nachweist.2 Was dem ‚U‘ eignet, ist die Selbstdarstellung seiner symbolischen Genese der Zentralisierung. Der Sendeturm ist auch ein Empfangsturm. Unter einer Möglichkeitsperspektive werden Handlungen gehemmt, da sie die Frage der Wahl aufwirft. Davon sind jene Kronzeugen des Alltags befallen, die sich in den Geständnissen offenbaren. Es sind Personen, die im weitesten Sinne die Schuld von Handlungen eingestehen, die sie in der Möglichkeitsperspektive erzählen. Sie handeln nicht, das ist der Regel für eine filmische Darstellung kontraproduktiv, sondern möchten Handlungen revidieren und spielen damit auf die Archivierungshysterie von Präsenz in metropolitaner Wirklichkeitserfahrung an. Es besteht nicht die Zeit, auf die Zeit entschuldend zurückzuschauen. Gehen wir weiter hinein in die Rhetorik der dialogischen Szene, so fällt auf, dass die Differenz zum anderen immer in einer Logik des Vergleichs, des identischen und differenten Selbst münden muss, als deren Witz die Lösung erscheint, dass alle Menschen unvergleichlich sind und dass als Effekt wiede2
Alfred Kallir: Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets. Berlin 2002.
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rum genau dieses Problem fiktionalisiert werden muss: dass sie es vielleicht nicht immer waren, es vielleicht werden (Union, UN) und vielleicht auch (im Zuge der Globalisierung, der Universalisierung und der Totalisierung) eines Tages nicht mehr sein könnten, so wie der Mythos der Parthenogenese bei Platon spekuliert. Die Möglichkeit der Vereinigung (z.B. die der Ruhrgebietsstädte zur Metropole als Ruhrunion) schafft eine utopische Zeitperspektive. Wenn aber alle gleich sind, dann ist die Herrschaft der Technik total und der Mensch in ihrer programmatischen Matrix gefangen, so die reichhaltig ästhetisierten Vorwegnahmen der Science Fiction. Also muss jeder Wille auf Vereinigung mit dem anderen stets auf Repulsion eines wahrnehmenden Abstandes bestehen, damit die Szene nicht im- oder explodiert. Nicht Gleichheit, nicht Gerechtigkeit, sondern deren Unmöglichkeit agiert die Szene. Die Anamorphose verweist auf den engen Spielraum der Distanz des fremden und eigenen Blicks, anders das Kaleidoskop des Journalismus, dessen grafische Figuren keine symbolische Stabilisierung erfahren können. Es ist eine Eigenheit der Architektur des U-Turms, dass seine Seiten nicht rechtwinklig, sondern schief sind. Allerdings lassen sich dadurch keine anamorphotischen Effekte erzielen wie im Rolltreppenhaus. Die Krönung der Idee einer Gesellschaft der Gleichen ist in der Bedeutung des Wortes ‚Union‘ (Einheit) in ihrer vierfachen Emblematik (vier vergoldete Buchstaben) zur ornamentalen Gestalt geronnen. Die Vierung vereinigt die vier Raumrichtungen und übernimmt die Funktion eines Kompasses oder Wetterhahns. Die Einheit ist nicht das totalitäre Eine und auch nicht das Eine, das sich selbst hervorbringen kann, wie die Clons der Twin Towers in New York oder die der Deutschen Bank in Frankfurt suggerieren. Dieser Wille zur technisch absoluten Reproduktion und damit dem Verschwinden von Gedächtnis und Zeitlichkeit ist szenologisch gesehen antiquiert. IV. METAMORPHOSEN UND ANAMORPHOSEN DER ZEITORDNUNG
Im Zuge der Versachlichung, die ein Effekt der Technisierung ist, sind Ornamente in die Medieninhalte hinein verschwunden. Das Ornament ist im tieferen Sinne nicht zeitgemäß. Die alte Funktion des Glöckners (Winkelmann bezeichnet sich als Glöckner des U-Turms) ist die, mittels einer Stundenglocke die Zeit akustisch zu verräumlichen. Für eine Kirchturmglocke ist das selbstverständlich. Unter ihrem Klang organisiert sich die Arbeit der Gesellschaft. Der Klang der Heimatglocke schafft Heimat, indem er Raum und Zeit tauschlogisch organisiert. In eben dieser Organisation sind viele Nebenbedeutungen der Fliegenden Bilder zu verstehen: Wochentags sind die grauen Brieftauben die Stundenbilder, sonntags die weißen Schmucktauben. Das versteht man natürlich nicht, wenn
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Abb.6 Die historische Uhr von 1302 in der Kathedrale St.Pierre in Beauvais. Foto: Ralf Bohn.
Abb.7 Die astronomische Uhr von 1868 in der Kathedrale St.Pierre in Beauvais. Als Uhrenhaus dient eine Silhouette des Himmlischen Jerusalem. Foto: Ralf Bohn.
man das ‚U‘ nur ein einziges Mal besichtigt. Die Fliegenden Bilder muss man Tag für Tag erleben. Immerhin ein Grund, entweder aus Dortmund fortzuziehen, um sich vom Lichterlärm nicht mehr belästigen zu lassen, oder ein Grund, die Stadt zum rhythmisierten Zeit-Spiel-Raum, so Heideggers Explikation der ‚Lichtung‘, zur Heimat der autogenetischen Selbstveränderung und -stabilisierung zu erklären. Das Zeitornament muss als Funktion der Vergesellschaftung verstanden werden, in der Natur und Heimat zu ihrer das Gedächtnisband bewahrenden Einheit gelangen: Heimat ist, bei sich selbst zuhause zu sein. Nun handelt es sich bei den Fliegenden Bildern nicht um eine akustische Verwandlung von Zeit in Raum (Akustisches im öffentlichen Raum des U-Turmes ist noch in Planung, aber stets heikel, da man nicht weghören kann), sondern um eine visuelle Entzerrung der spontanen Momente der Raumgebung. Auch dafür gibt es Vorbilder oder dialogische Gegenbilder. Eine der wichtigsten Erfindungen der Kathedralgotik ist die der Räderuhr mit Hemmung, zugleich die erste Erfindung einer Maschine überhaupt. Eine der ältesten aus dem Jahr 1302 steht in Nordfrankreich, in Beauvais. Die
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Uhr der Kathedrale wurde nicht am Turm angebracht, sondern befand sich, wie damals üblich, in einem eigenen Uhrenhaus in der Kirche. Ihre sozialisierende Funktion wurde sinnvollerweise nicht optisch, sondern akustisch übertragen: durch das Glockenwerk. Eine Hommage an diese Tradition ist die astronomische Uhr aus dem Jahr 1868, die alle Arten von Himmelsereignissen in kalendarische Ordnung übersetzt, Zeit also in gehemmten Raum zurückverwandelt. Auf diese Rückverwandlung der astronomischen Jahres- und Tageszeiten in einen analogen Rhythmus geometrisierter Zeit beruht jeder Zeitmechanismus, ob es nun die anamorphotische Flächenwandlung des Himmelslaufs der Sonne in der Sonnenuhr oder die kreisförmige der linearen Sonnenbewegung in einer Uhr mit rundem Zifferblatt ist. Stets wird Zeit als Raumbewegung in Raumbewegung verwandelt, und zwar kontinuierliche (z.B. Sonnenuhr) in technische, diskrete, in der Hemmung der Räderuhr. Die seltsame Erfindung der Hemmung, von der man nicht genau weiß, ob sie aus der Mühlentechnik der Sarazenen abzuleiten ist, ist auch die Grundlage jeder Filmprojektion, indem 24 mal pro Sekunde ein ‚gehemmtes‘ Filmbild über den Mechanismus des Malteserkreuzes im Auge die Illusion einer fließenden Bewegung erzeugt und somit auch die Illusion der Zeit. Das ist elektronisch nicht anders. Nur arbeiten die Komponenten hier unter dem Ohmschen Gesetz die Variablen Widerstand, Spannung und Stromstärke ab. Insgesamt müssen drei Zeitdarstellungen und ihre szenischen Meta- und Anamorphosen unterschieden werden: analogisch-anamorphotische, diskretdigitale, szenisch-biografische. Jede Darstellung der Zeit ist die Illusion einer Verwandlung von Raumbewegung zur konkreten menschlichen Tätigkeit im Vollzug von Vergesellschaftung, die sich durch diese Tauschmöglichkeiten konstituiert. Das hört sich abstrakt an, ist aber immer schon gegeben, wenn wir unsere moderne Konvertierbarkeit im Geld wahrnehmen: Im Geld steckt Arbeit, Zeit ist Geld, Geld lässt sich in Dinge verwandeln und Geld ist ein diskretes, d.h. beliebig stückelbares Gut. Die Erfahrung der Vergesellschaftung durch Geldtausch ist abstrakt an die Utopie der Zahl als universaler Einheit gebunden. Universale Tauschbarkeit, also die Morphosen des Wandels auch der Sinne untereinander, wie sie in vielfältigen Uhrenkonstruktionen auftauchen, können zwar die astronomischen und agrarischen Naturperioden ordnen, aber bei der binnensubjektiven Tauschordnung versagen sie. Es gilt nicht zuletzt die Freudsche Erfahrung nicht zu vergessen, dass der „Traum an sich zeitlos sei“. Die ‚innere‘ Einbildungskraft ist als eine Art ‚Bewusstseinsuhr‘ zu akzeptieren, die mein Selbstverhältnis gegen das Selbstverhältnis des anderen zu tauschen hat und im Tauschmehrwert respektive in seiner Verfehlung allererst Zeitabfolgen als paradoxe Gabe begründet. Dieses Zeitschenken ist nachgerade der Witz der Zeitphilosophie, die mit und seit Heidegger die Formel ‚Einbildungskraft ist Zeit‘ aus der kantischen Philosophie
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und der der Frühromantiker abgeleitet hat. Die Zeit des inneren Bewusstseins, das ‚wie ein Film in uns abläuft‘, kann man leider nicht so vergesellschaften wie Glocken- oder Uhrenzeit, sondern immer nur in der Präsenz oder Repräsentanz eines anderen Subjekts, insofern der Tausch in der reellen Zeit subjektiver Handlungen, Bewegungen, Theatraliken sich abspielt, nämlich so, als wären sie direkt am Körper des anderen szenisch und gestisch ablesbar. Es muss also eine Art szenische Zeit geben, in der zwei Subjekte sich gegenseitig ihrer Möglichkeiten versichern, um die Not ihrer Selbstbeziehungsparadoxien (Wer ist Ich?; Ich bin Ich!; Ich zweifle, also bin ich; etc.) als das Menschliche ihrer selbst zu gewahren. Die abstrakte Form dieser Vergesellschaftung aller gegen alle ist das Realitätsprinzip. Die Realität ist als Normalzeit in jeder Raummorphose gültig. Die Funktion der Uhr am Turm, wie immer sie auch gestaltet ist, ist also zunächst ein performatives Symbol der Vergesellschaftung, vor allem auch der mittelalterlichen Metropolenbildung. Die Kathedrale wird nicht nur von einer Stadt gebaut, sie schafft erst diese Stadt, die sie als Himmlisches Jerusalem dann auch real verkörpert. Das Spiel zwischen Zeitgewinn und Zeitintensität, das in der Synchronität der Mediennutzung aktuell geworden ist, experimentiert mit dem Paradoxon der Erlösung vom und als Tod, aber auch mit dem Bestand von Gesellschaft. Im Rollentreppenhaus des Dortmunder Us sind die panoramatischen Zusammenstellungen je nach Ab- und Auffahrt dialogisch, relativieren also das Prinzip der universalen Vergesellschaftung durch Zeit und Tausch. Ob sie auch dialektisch sind, ob in ihnen eine höhere Bewegung nachvollziehbar ist als die Paranoia des ‚höher, weiter, schneller‘, müssen wir erörtern. Die Frage, die sich der Metropolit stellt, ist die der Zeit in Beziehung auf den Tod als die zeitliche Grenze des Selbstbewusstseins, insofern der Tod sich der Inszenierung entzieht, obwohl er das Element der Szene selbst ist, nämlich das im Mangel des Begehrens aufreißende Möglichkeitsgefüge der menschlichen Einsamkeit. Wären alle eine Einheit (Union), also die Utopie der (kommunistischen) Gesellschaft erfüllt, gäbe es nicht mehr den anderen, an dem sie sich erfüllen könnte. Stets fehlt mindestens ein Element zur Erfüllung des strukturalen Spiels, wie der fehlende Stuhl in dem Kinderspiel Die Reise nach Jerusalem. Aber ohne den fehlenden Stuhl (Element des Todes) würde das Begehren am Spiel nicht entfacht. Mit dem Tod kann man nicht handeln, ist er doch die reine Metamorphose selbst und sonst nichts. Dagegen ist ein Wesen der Normalzeit, dass sie, mathematisch gesehen, keine Lücke und kein fehlendes Element hat. Die Zeit der Uhr verdrängt den Tod, den sie eigentlich ankündigen sollte. Es gilt, unter dem Joch dieser Zeit schneller zu sein als der Tod. Der wieder zum Leben erweckte Kühlkeller der Union-Brauerei durchlebt derzeit eine zweite Geburt, die nicht mehr – pardon – dem Rausch verpflichtet ist, sondern eine Wiederauferstehung feiert, die Überlistung der Tauschresistenz des Todes. Und genau auf diese Wiedergeburt besinnen sich die Uhrmacher
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Abb.8 Spielwerk von 1908, nach flandrischem Vorbild am Münchner Rathausturm. Foto: Stadtarchiv München.
des Spätmittelalters als einer Geburt in und durch die Gesellschaft, gegen die Tyrannei der Uhr, indem sie vor allem in die Rathäuser der Bürgerstädte neue, szenische Uhren einbauen, die sowohl akustisch als auch figürlich eine Inszenierung des wahren Lebens und der wahren Zeit, nämlich der Zeit der Einbildungskraft, in Erinnerung rufen. Die Spieluhren an flandrischen und flämischen Rathäusern, etwa auch die gut restaurierte am Münchner Rathaus, zeigen das Bekenntnis zum tätigen Leben in inszenierter Zeit noch heute. Mitten in den tanzenden Spielszenen wird stets der Schnitter Tod gezeigt, dessen Klappergestell eine Sense schwingt. Erst am Rathaus, der Stätte des profanisierten Handelns, kann die Bedeutung der Endlichkeit der Zeit und der absoluten Hemmung vor Augen geführt werden. In und an den Kirchen sind sie kein Ereignis, sondern evident, solange die (katholische) Kirche mit einem ‚Kirchspiel‘, dem Friedhof umgeben war und die Zeit ‚katholisch‘, d.h. unteilbar war. Übergangsformen zwischen Kirche und Rathaus (Periodizität und Event) sind im zweideutigen Gebrauch des Wortes Messe erhalten. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Kommunalbau des Dortmunder Us als Kreativstätte in seinen Fliegenden Bildern solche spätmittelalterlichen, bis in den Barock hinein bekannten Alltagsszenen figürlich nachbildet. Allerdings sind die im näheren Sinne zum Glockenspiel tanzenden Figuren in
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den medialen Zwischenbereich von Innen und Außen, das Rolltreppenhaus verlegt, während im Außenbereich des Dachs opak und transparent der Tausch zwischen natürlichem Licht und Kunstlicht ausgespielt wird, ohne konkrete Figuren. Im Atrium wird, gleich den szenischen Rathausspielwerken, das personale Schauspiel der Alltäglichkeit auch akustisch angeboten. Der dritte Bereich, das Haus der Räderuhr, sprich: die programmatische Rechnertechnik, wird mit einer Modellsimulation des großen U-Turms und des Rolltreppenhauses als Experimentierbühne invertiert. Damit beziehen sich Außenbereich: Bildmelodie; Zwischenbereich: Bildthematik des szenischen Alltags; und Institutsbereich: Bild- und Inszenierungstechnik (Hemmungen des sofortigen Lebens-TodesÜbergangs) aufeinander. Die Szenografie in ihrer Gesamtheit nimmt auf die Architektur und den ‚Strukturwandel‘, die permanente metamorphotische Verwandlung einer Region ‚Ruhrgebiet‘ Bezug, die niemals zu sich selbst finden kann, weil sie noch nicht vollständig geboren wurde. V. PARADOXIEN DES ZEITBILDES
Winkelmanns Szenografie zeigt, dass sich jenseits des Kunst- und Kreativitätszwanges antagonistische Zeitbilder begegnen können, von denen wir drei (Glocke = Raumzeit; Uhr = gehemmte Zeit; Rathausspiel = szenische Zeit) genannt haben, die aber nun auch auf deren dialektische Synthese hin befragt werden müssen. Damit kommen wir auf bestimmte Formen der Dialogizität zu sprechen, nämlich der Heimat, als das, was war und in Zukunft wieder sein soll, aber nie sein wird: Kindheit und Einmaligkeit des Ursprünglichen (Wiedergeburt) und Ornament als Verweis auf eine Zukunft der universalen Vergesellschaftung, deren Erreichen zugleich den Tod des Begehrens darstellen würde. Zwischen diesen Extremen konturieren die Geständnisse Alltagserfahrungen. Die feinfühligen szenischen Beobachtungen der ‚geständnishaft‘ offenbarenden Filmszenen im anamorphotischen Dialog zwischen Rolltreppenhaus und auf- und abfahrenden Besuchern dynamisiert die Bewegung gleich einem Mobile durch zufällige Positionierungen und Blickwinkel, die im eigentlich narrativen Sinne keine Handlung und keinen dramatischen Konflikt haben. Ihnen fehlt der Anfang (Geburt) und das Ende (Tod), es sind vermittelte und selbstvermittelte Gesten. Dadurch aber, dass ihnen die Heldenextreme des narrativen Films fehlen, befreien sie den Film vom Zwang dramatischer Exegese. Der Film reminisziert seine Kindheit als ‚Lichtspieltheater‘ und zeigt, dass seine mythologetische Nachäffung im Sinne des erwachsenen Erzählkinos eine mediale Sackgasse für die Idee der Befreiung der Bilder darstellt. Winkelmann sieht natürlich seine Inszenierung der Rezeptionsgefahr ausgesetzt, als Open-Air-Fernsehen bzw. Kino oder Reklame verspottet zu wer-
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den, und handelt dagegen. Dem Finalisierungsdruck der Reklame und dem musterhaften Dekor der Selbstinszenierung elektronischer Spielerei mit ihren grafischen Geometrisierungen will er durch die Komposition und Periodisierung seiner dreiteiligen Szenografie entgehen. Er verweigert Anfang und Ende als zwanghafte Selbstdarstellung des Programms einer Gesellschaft, die sich der totalen Eroberung des Selbst in der totalisierten Individualität verpflichtet hat und an diesem Konflikt militant gärt. Die Verweigerung im ehemaligen Kühlund Gärturm der Brauerei ist nicht zufällig, sondern filmtheoretisch und analytisch kühl in die technologische Zukunft des kinetischen Bildes gedacht. Das verschafft übrigens den Fliegenden Bildern wie den Geständnissen eine äußerst strenge Rhetorik, von der abzuwarten bleibt, wie lange sie sich mit Variationen bewähren kann. Kritikern dieser Darstellungspraxis wird nicht der Mund verboten, sondern das redliche Argument genommen, hier ginge es um teure Leuchtreklame für die Utopie des Ruhrgebiets. Es handelt sich aber um eine (subventionierte) Gabe, der es um Sinnstiftung, nicht um Sinnmonopolisierung und deswegen auch nicht um Symbolisierung geht, wie sie das vergoldete ‚U‘ darstellt. Damit im Laufe der Zeit keine Abnutzung des Sehens stattfindet, beugt Winkelmann mit einer astronomisch langen Periodizität der Themenwechsel (und rhapsodischem Bezug auf Aktualitäten) vor, die im Wechsel der Jahreszeiten ihre Wirkung entfalten, bzw. im Rolltreppenhaus in Bezug auf den Besuch der Dauer- und Wechselausstellungen, getauscht, ausgetauscht und ergänzt werden können, oder sich vielleicht sogar auf die jeweilige Ausstellungen selbst beziehen sollen. Gerade im Affekt von Alltagsszenen entfaltet sich ein Bildbewusstsein, von dessen Wirkung auch die urbanistischen Planungen der Internationalen Bauausstellung Emscher Park seit 1989 ausgeht. Es galt, den Bild-Raum Ruhrgebiet als Teil einer symbolischen Produktion einer Region, so der Titel einer Untersuchung von Achim Prossek, erst einmal herzustellen und die Bilder des rußgeschwärzten Malochers aus den Köpfen der Schimanski-Adepten (die Winkelmann schon in seinen frühen Ruhrgebietsfilmen persifliert) zu verbannen, um das Bild kontinuierlicher Wandlung zu erzeugen. Daran wird das Problem der Statik des bildhaften Symbols deutlich. Wie eingangs geschildert, sieht der Passant nicht mit starrem Blick minutenlang auf die ablaufenden Bilder, sondern versteht sie als Episoden, die im Vorbeigehen rezipiert werden, denn man geht gelegentlich wieder hier vorbei oder vielleicht zweimal täglich, im Hellen und im Dunklen. Auch der Dortmunder ist stets in Zeitnot, innen wie außen auf der Rolltreppe des Lebens unterwegs. Soweit die Planungen des Vorplatzes zu überblicken sind, gibt es keine theatralen Ränge, Sitzgelegenheiten oder Treppen, die eine Daueransicht der Fliegenden Bilder am U-Turm protegieren würden. Und die Rolltreppen des Atriums lassen sich sowieso nicht anhalten. Ohne den didaktischen Zeigefinger
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auf die Schnelllebigkeit unserer Zeit laden die Vorführungen nicht zum Verweilen ein, sondern zum Nachdenken darüber, warum sie nicht zum Verweilen einladen, ist das doch sonst die genuine Aufgabe narrativer Filmerlebnisse unter der klassischen Vorgabe der ‚Reise des Helden‘. Den Dualismus von Dekor und Funktion, den Gérard Raulet in seiner Analyse Natur und Ornament als szenische Unvermitteltheit von Technik und Bedeutung für den Imperialismus und Kapitalismus des 19. Jh. verifiziert, gilt es, szenisch wieder in Streit zu bringen. Die aktuelle Situation, angesichts neuer technischer Möglichkeiten, sich in einem „Ornament der Befreiung“ artikulieren zu können, verlangt das allmähliche Erlernen einer gestischen Ausdruckskraft. Welche Fähigkeiten, welche Rhetorik und welche Grammatik hat die Post-Postmoderne zu artikulieren, um eine Selbstbegegnung, also Heimat, so Raulet, zu entwickeln? Diese Frage beantworte ich, im Rahmen der Analyse der szenografischen Vorhaben und in Anbetracht einer szenischen Logik, nicht mit einem Blochschen Hinweis auf die Versöhnung von Natur und Technik, sondern im Sinne der Heideggerschen Besinnung auf die irreduzibelen Ausdrucksformen der Zeit. Als transformatorischer Ort ist der Gedanke der Heimat der Vergegenwärtigung von Abwesenheit verpflichtet. Dazu gehört auch, über die Abwesenheit einer ästhetischen Sprache zu spekulieren. Wenn die Intonation des Steigerliedes zum Running-Gag jeder Ruhrgebietsinszenierung wird, beantwortet sich die Dialogfähigkeit vom Bild-Raum Ruhrgebiet von selbst. Es geht Winkelmann nicht um Originalität, sondern um die Stiftung von Originalen. Und daran ist das Ruhrgebiet so reich wie jede andere Region. In ihnen ist die Gegenwart mit der Utopie nicht versöhnt, sondern wird der Widerspruch ausgehalten und ausgetragen – von Adolf Tegtmeier über Herbert Knebel bis Winkelmann selbst. Vielleicht braucht dann das Ruhrgebiet keine neuen Bilder, sondern einen Blick, der ums modische ‚Neu‘ herumkommt. Dass es darüber hinaus um die philosophische Frage der Stiftung von urbaner Gesellschaft gehen könnte, lässt sich in der dreigliedrigen Szenografie verstehen, wenn man das Ensemble der Architektur um das Dortmunder U von außen nach innen durchschreitet und dabei die Geschichte der alternativen Zeitgestalten als Geschichte der Szenografie, die in jeder Phase neuer Medientechniken ihre Kindheit nachspielt, begreift.
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ZUR GESTALTUNG VON STADT UND REGION NACH EINBRUCH DER DUNKELHEIT
1. DIE ÖFFENTLICHEN RÄUME ZUR KUNSTLICHTZEIT – ZWISCHEN VERSUCHUNG UND VERBLENDUNG
Die Diskussionen über die lichtgestalterische Inszenierung von Städten oder auch über die flächendeckende Einrichtung von Funktionsbeleuchtungen werden seit Beginn des elektrisch erzeugten Lichts von verlockenden Versprechen und selbstbewussten Rhetoriken begleitet. Ein amerikanischer Wirtschaftsverband der Leuchten- und Stromindustrie veröffentlichte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Publikation für Stadtverwaltungen, um die Installation von Straßenbeleuchtung wie folgt zu propagieren: „Consider the case of Minnesota Street [...]. In 1910 it was a gloomy thoroughfare, flanked by dreary buildings, most of them dilapidated. In 1912 it is a prosperous street in which new buildings are taking the place of the old. Good street-lighting and nothing else did that.“1 „Licht lockt Leute“, warben die Lampenhersteller dann in den 1930er Jahren und bewarben ihre lichte Produktpalette als psychotechnisches Mittel der Verkaufsförderung. Im Hintergrund fordistischer Paradigmen avancierte auch das künstliche Licht zum Inbegriff und Indikator einer prosperierenden, von Naturprozessen abgelösten Großstadt – die Stadtbeleuchtung war das Symbol des Fortschritts und kultureller Distinktion. Imagefaktoren spielten hier bereits früh eine bedeutende Rolle: Denn neben „den praktischen Gesichtspunkten [...] tritt bei den Städten auch das Bestreben hervor, durch gute Beleuchtung ästhetisch zu wirken, und der Wunsch, konkurrierende Städte zu überbieten und sich lobende Anerkennung zu verschaffen, mag bei vielen Kommunen sogar zu einer Beleuchtung über das Maß des Bedarfs hinausführen“.2 Mit voranschreitendem Wissen und Nicht-Wissen über die affektiven Wirkungen des besonderen Mediums „Licht“ hat sich die Bandbreite an Erwartungen, die eine Steigerung der Lichtverwendung hervorbringen soll, und der kommunale Tatendrang selbst nach 100 Jahren nicht geändert – insbesondere nicht in der 1
National Electric Light Association. Ornamental Street-Lighting: A Municipal Investment and its Return. New York 1912, S.5. 2 Carl Joseph Basch: Die Entwicklung der elektrischen Beleuchtung und der Industrie elektrischer Glühlampen in Deutschland. Universität Tübingen, Siemenroth, Berlin 1910, S.15.
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aktuellen Stadtentwicklung, die nach schnellen, kostengünstigen und effektvollen Lösungen urbaner Probleme sucht, und bei der sich trendsicher und zeitgleich „Nachhaltigkeit“ postulieren lässt. Seit einigen Jahren widmet sich die Diskussion über eine vermeintlich sichere, schönere und ökologischere Stadt intensiver denn je einer auf positive Effekte hoffenden Lenkung des Stadtlichts. Hierbei lässt sich entnehmen, dass mit Hilfe von Licht städtische und insbesondere stadträumliche Qualitäten behauptet werden, die den Prinzipien einer nachhaltigen Stadtentwicklung gleichermaßen Rechnung tragen sollen. Die Rede ist von durchgängig besserer Orientierung und Aufenthaltsqualität, von höherer Sicherheit und einer „Auflösung“ von Angsträumen, von reduziertem Energieverbrauch und höherer Wirtschaftlichkeit bei geringerer Umweltbelastung, von mehr Besuchern in den Einkaufsbereichen und höherem Kaufkraftzufluss, von einer Darstellung intensiver Urbanität mit Kunstlicht und einem veränderten Image der Stadt. In der Überzeugung, dass ein neues Licht-Bild der Stadt bei Nacht den bekannten physischen Raum kostengünstig und unverwechselbar überzeichne, hat in den vergangenen Jahren bei den Kommunen die lichtgestalterische Inszenierung des öffentlichen Raums deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen. In energischer Konkurrenz versuchen die Kommunen, mit einer ästhetisierenden Beleuchtungspraxis anspruchslose Stadtansichten aufzuwerten, Interesse weckende Alleinstellungsmerkmale zu erzeugen oder ihr Selbstverständnis einer prosperierenden Stadt in die Region strahlen zu lassen. Nicht selten ist mancher Kommune die reißerische und opulente Beleuchtung ein Mittel der Wahl, um eine unverwechselbare Identität herzustellen oder aber auch die Sicherheit ihrer mobilen Stadtgesellschaft mit einer dazu in Kausalität gewähnten Erhöhung der Lichtintensitäten zu steigern. Dabei produzieren diese auf bloße Dekoration oder intendierte Funktionalität ausgerichteten Beleuchtungsstrategien allesamt das gleiche Dilemma: die raumbezugs- und kriterienlose Übertünchung von belebten und unbelebten Objekten mit starkem, grellem oder buntem Licht – zu jeder Zeit, an jedem Ort. Dass hierbei die Hoffnung auf positive Effekte nicht vergeht, hat mit vielen un- und mittelbaren Eigenarten des Mediums Kunstlicht zu tun: Der Konstruktion und Empfindlichkeit unseres Wahrnehmungsorgans Auge geschuldet, zieht es mit abnehmender Tageshelligkeit blitzschnell unsere Aufmerksamkeit auf sich und suggeriert zugleich Formen des urbanen Daseins, des modernen Fortschritts und Wachstums. Kunstlicht bietet ungeahnte Möglichkeiten der Selbstdarstellung, kommunikativer und geselliger Aktivität im öffentlichen Raum. Und das Medium Licht bietet etwas, das Lokalpolitiker und Stadtentwickler, Kaufleute und Gastronomen sofort einnimmt: Mehr als es alle anderen Instrumente je könnten, bietet Licht die Möglichkeit, die gebaute Permanenz der Stadt, ihre Objekte und Orte ungehemmt zu interpretieren, neue Orte des
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Aufenthalts vorzuschlagen und Atmosphären in Straßen und Platzräumen selbst über juristische Grenzziehungen hinweg zu beeinflussen. Es ist der Anspruch des vorliegenden Aufsatzes, hierbei einen Beitrag in der Diskussion über den zielgerichteten Umgang mit „Kunst-Licht“ in der „Nacht-Stadt“ zu leisten. Im Ziel wird ein Umgang mit künstlichem Licht im öffentlichen Raum angeregt, der die Eigenschaften des Mediums nicht auf seine Eignungen zu visueller Ästhetisierung reduziert. Der im modernen Gesellschaftsverlauf bisher geronnene Status künstlichen Lichts besitzt Konnotationen, die z.B. zu atmosphärischen Stimmungen oder auch zu symbolischen Gesten führen, die – sofern sie im wissenschaftlichen Stand belegt und operationalisiert werden können – zu (Neben-)Wirkungen, gar (Mehr-)Werten führen können, die nicht nur in Großstädten – den „Laboratorien der Moderne“ – einen Beitrag zu mehr Lebensqualität und Zufriedenheit mit der umbauten und bewohnten Umwelt leisten. Das bedeutet, einen rein individualistisch und kulissenerzeugenden Lichtgebrauch in eine kriteriengeleitete Verwendung zu überführen, die in einer Lichtgestalt resultiert, die auf die öffentlichen Räume, ihre sozialen Bedingtheiten und ihre kulturellen Inhalte eingeht – am Ort, in der Stadt und in der Region. Auch wenn dieser Aufsatz aufgrund des hier begrenzten Platzes keine umfangreiche Auseinandersetzung bieten kann, so führt er von einem Einblick in die zu reflektierende Ausführungspraxis, über phänomenologische Beschreibungen städtischer Lichtwirkung, zur Benennung von Rahmenbedingungen und Standpunkten im Umgang damit. Dieser Aufsatz mündet in eine Diskussion über Kunst-Licht und Licht-Kunst in der Ruhrregion. Insbesondere das Ruhrgebiet gab und gibt Anlass über die Art und Weise der raumkonzeptionellen Installation von Lichtprojekten zu reflektieren. Ausgehend von unserer geografischen Heimat und aus Anlass, der fortdauernden Hervorhebung einer „Metropole Ruhr“, die „mittlerweile als eine der beeindruckendsten Lichtlandschaften Europas“ bezeichnet wird3, liegt es umso näher, sich durchaus kontrovers mit dem nächtlich schimmernden und mancherorts überstrahlenden Ruhrgebiet auseinanderzusetzen.
Ein Merkmal der Urbanisierung Als Georg Simmel4 (1903) konstatierte, dass die Stadt keine räumliche Tatsache mit soziologischer Wirkung sei, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt, lebte erst ein Bruchteil der Bevölkerung in Großstädten. Die Verschiebung der Verteilung von Stadt- zu Landbevölkerung hat mit dem Wandel der Siedlungsstrukturen mittlerweile ein Ausmaß erreicht, in dem sich für 3 4
Ruhr.2010 GmbH (Hrsg.): Buch zwei. Essen 2009, S.67. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt am Main 2006, *1903.
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die Mehrheit der entwickelten Länder das Ende ihrer großräumigen Verstädterung ankündigt.5 In diesen – insbesondere aufgrund der Industrieentwicklung und der in den Städten folgenden Tertiärisierung der Beschäftigung – rasant vonstatten gegangenen Entwicklungsprozessen erhöhte sich nicht nur die Konzentration der Bevölkerung in den Stadtregionen. Es änderten sich auch ihre Lebensweisen, sodass der mit der Verstädterung einhergehende Wandel in Arbeitsprozessen, Alltag und Stadtkultur Tagesrhythmen und Lebensformen stark beeinflusst und diversifiziert hat. Was in den städtischen Lebensumgebungen vorrangig wirksam bleibt, manchmal hinzukommt, verdichtet oder weggenommen wird, ist die körperliche Figur der Stadt: das beständige Gerüst der von Simmel so benannten „soziologischen Tatsache“. In ihrem funktionalen Anspruch und im historischen Entwicklungsprozess – stets sozialen und ökonomischen Bedingungen folgend – gerinnt der Stadtkörper in gebaute Form und rahmt unseren gewohnten Alltag. Doch die gesellschaftlichen Verhaltensweisen und Ansprüche der stetig voranschreitenden und immer kürzer getakteten urbanen Veränderungsprozesse fordern das Korsett gebauter Stadtlandschaften alltäglich heraus. Sie fordern eine besondere Stadtentwicklung und -planung ein, um mit neuen Aneignungsangeboten und -möglichkeiten des Städtischen den Bedingungen und Bindungen der insbesondere räumlich und zeitlich entgrenzten Stadtgesellschaft gerecht werden zu können. Auch wenn Planung und Entwicklung an dieser Stelle in der Regel mit der konzeptionellen Orientierung auf eine Stadt des Tages – allzu häufig technizistisch und entlang ihrer materiellen Form – vollzogen wird, ist in den letzten Jahren auch die Rolle öffentlicher Räume nach Einbruch der Dunkelheit deutlicher geworden. Finanzielle oder energetische Effizienz, ökologische Besonnenheit, aber auch stadtgestalterische Qualitäten setzen Anforderungen, die bei einer gezielten und zielgerichteten Beleuchtung mit künstlichem Licht unmittelbar zusammenfallen. In Bezug auf die Lebensqualität in der Stadt und die Identifikation mit der städtischen Umwelt sowie in Hinblick auf die Anteile von künstlichem Licht bei Schadstoffbelastungen und Energieeinsparpotenzialen gewinnt die städtische Beleuchtung zunehmend an Bedeutung. Da fallen bei kommunalen Entscheidungen zur Entwicklung der Stadt und ihres An-Sehens besonders die Möglichkeiten ins Kalkül, stadträumliche Strukturen kurzfristiger, kostengünstiger und insgesamt einfacher verändern zu können, als bauliche Maßnahmen es zuließen – bei gleichzeitig einholbarer höherer Aufmerksamkeit. Die Einsicht zur Notwendigkeit einer umfangreicheren Lichtauslegung der Stadt wird dabei insbesondere von der raum-zeitlichen Entwicklungsdynamik unseres gegenwärtigen Lebensstandards befördert. Zwar findet ein Großteil 5
Hartmut Häußermann, Dieter Läpple, Walter Siebel: Stadtpolitik. Frankfurt am Main 2008, S.22.
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menschlicher Aktivitäten immer noch zu Tageslichtzeiten statt, doch egalisierte sich mit der postfordistisch geprägten Gesellschaft das Verständnis profilierter Aktivitäts- und Zeitrhythmen so weit, dass es den Anschein haben mag, natürliche Zeitgeber wären bedeutungslos geworden. In industrialisierten Ländern zeigt sich dies anschaulich an einer nahezu flächendeckenden Lichtverwendung, die den Anschein erweckt, rund um die Uhr auf Leistungen unterschiedlichster Art zurückgreifen zu können – auch wenn Wegeverbindungen, Ticketautomaten oder Schaufenster weitgehend ohne Benutzende und Betrachtende die Nacht überdauern.6 Dabei ist die Verwendung bei gleichzeitiger Verschwendung von künstlichem Licht kein Phänomen der Gegenwart, wie es die Einleitung zu diesem Aufsatz bereits umriss. Mit dem Beginn der künstlichen Lichterzeugung wird die Beleuchtung von städtischen Räumen mit der besonderen Erwartung ihrer ausgedehnteren Brauchbarkeit verbunden.7 Nachdem Großstädte wie Paris und London im 18. Jahrhundert vorlegten, erreichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann auch die kleineren und mittleren Städte das nennenswerte Interesse an der öffentlichen Beleuchtung, die im Sinne des Gemeindewohls darin eine – industriell stimulierte – ökonomische Notwendigkeit erkannten. Die Straßenbeleuchtung konsolidierte sich als eine öffentliche, sozialpolitische Aufgabe, um die Sicherheit des steigenden Verkehrs zu garantieren und damit gleichzeitig dem Produktionsfortschritt zweckdienlich zu sein. In einem kumulativen Prozess war die Funktionsbeleuchtung Mittel und Symbol dieser Entwicklungsgänge, die bis heute ein nahezu ungeschriebenes Gesetz infrastruktureller Ausstattung geblieben ist. Doch mit dem vorrangigen Begehren, Verkehrswegfläche horizontal ausgiebig anzuleuchten, verbleibt die Achtsamkeit ihrer Wirkung auf vertikalen Gebäudefassaden und Raumelementen lediglich als Restanspruch, deren Vernachlässigung durchaus hinnehmbar aus dem primären Aufgabenbereich öffentlicher Fürsorge heraus fällt und sich in den besten (aber wenigsten) Fällen auf den Lichtschutz privater Wohnräume reduziert. Wie eine kompensierende Strategie wirken dagegen die Fassadenilluminationen in den Zentren, deren bunter Schein selten über das einzelne, aus einer diffusen Lichtumgebung herausgerissene Objekt hinaus reicht. Während sie in ihren Ansprüchen, Urhebern und Motivationen sehr unterschiedlich bleiben, schließen diese Beleuchtungsstrategien hingegen zu einer Gemeinsamkeit auf: eine Hervorhebung von Oberflächen, Fassaden und Gegenständen mit Licht, die lediglich ihrer einzelnen Objektlogik folgen und bei der die Gesamtheit stadträumlicher Strukturen und Atmosphären im resp. mit Licht als summatives Zufallsprodukt zurückbleibt. 6 Lucius Burckhardt: Die Nacht ist menschgemacht. In: Klaus Stanjek (Hrsg.): Zwielicht – Die Ökologie
der künstlichen Helligkeit. München 1989, S.143-150; S.143. 7 Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-Stadt-Haus- und
Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung – 65. Teil, Berlin 1796, S.378.
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Der wesentliche Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Stadträumen des Tages und der Nacht ist die visuelle Auflösung von materiellen Raumbezügen und deren Überführung auf vorrangig einzelinteressengelenkte Lichtflächen und -punkte unterschiedlichster Urheber. Aufgrund geringerer Quantitäten und Qualitäten gegenüber dem natürlichen Licht ist das künstliche Pendant weder geeignet noch kann es dessen Aufgabe sein, Sonnenlicht zu substituieren. Umso bedeutsamer wird es hierbei, die Zusammenhänge zwischen den Potenzialen und Problemen künstlichen Lichts sowie den Anforderungen und Bedarfen, die sich aus den Bedingungen einer nachhaltig ausgerichteten Stadt- und Regionalentwicklung ergeben, aufzuzeigen und eine Lichtverwendung zu projektieren, die ökologische, ökonomische, kulturelle und soziale Aspekte berücksichtigt. Nicht zuletzt geht es bei dem hier besprochenen Gegenstand auch um die „Würde der Stadt, die sich im öffentlichen Raum verkörpert“.8 Zwar kann dieser besondere Ort nicht aufgrund einer Verhaltensänderung seiner Nutzer an Bedeutung verlieren, jedoch verändert er „seinen Charakter durch Widmung und durch Umwidmung: durch Privatisierung (…) und durch Privilegierung“.9 Insbesondere im zeiträumlichen Abschnitt der Nacht scheint sich die in der Tagstadt nur allzu gewohnte Scheidung von Öffentlichkeit und Privatheit aufzuheben. In banalen Situationen, wenn z.B. das öffentliche Licht der Straßenlaterne ins Wohnzimmer reicht und umgekehrt das erleuchtete Wohnzimmer die Kulisse der Straße bildet. Und in nicht ganz so banalen Situationen, wenn z.B. die beleuchtete Fassade als wertsteigernde Zutat der eigenen Immobilie instrumentalisiert wird. Zusammenwirkend und in gegenseitiger Konkurrenz verschärft – und das gilt insbesondere für Werbemaßnahmen – verkehrt sich das Resultat einzelner Aufwertungsmaßnahmen nicht nur zu einem atmosphärischen, sondern auch zu einem energetischen, ökologischen, sozialen und letztlich baukulturellen Missstand. Diese durchaus vertraute Praxis stellt den öffentlichen Raum und darüber hinaus auch die im Interesse des Gemeinwesens nachhaltige Entwicklung der Stadt zur Disposition privat-wirtschaftlicher Bestrebungen. Die Wirkung von Licht endet nicht an Eigentumsgrenzen und deshalb „droht der Stadtraum und damit auch die Möglichkeit der Gliederung und Identifizierung des Stadtkörpers mit Kunstlicht, die allen zugute käme, zur Spielwiese privater Selbstdarstellung abgewertet zu werden. (…) Zugespitzt formuliert handelt es sich dabei um die Privatisierung öffentlicher Räume zur Nachtzeit mit dem Gestaltungsmittel Licht.“10 8
Thomas Sieverts: Die Gestaltung des öffentlichen Raums. In: Die demokratische Gemeinde. Die Stadt – Ort der Gegensätze. Bonn 2003, S.162. 9 Karl-Jürgen Krause: Enzyklopädie der Stadtbaukultur. TU Dortmund 2006, S.2289. 10 Manfred Walz: Auf dem Weg zur Nachtgestalt der ganzen Stadt ... und Dortmund? In: Hermann Böhmer u.a. (Hrsg.): Stadtentwicklung in Dortmund seit 1945. Blaue Reihe, Dortmunder Beiträge zur Raumplanung, Bd. 135, 2010, S.337-344; 343.
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Im Hinblick auf die zuvor betonte Bedeutung öffentlicher Räume entfaltet die vernachlässigte Lenkung und Qualitätssicherung beleuchteter Stadträume so ihre ganz eigene Brisanz – deutlicher aber gleichsam harmloser wirkend, als bauliche Maßnahmen es könnten. Denn der Interessierte, dem die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen, kann den öffentlichen Raum mit Licht nicht nur gestalterisch, sondern auch so auslegen, dass er einseitig nach seinen Vorstellungen sicht- und nutzbar wird. Öffentliche, vom Gemeinwesen eingerichtete Beleuchtung kann dieser autonomen Praxis strahlender Selbstdarstellung nicht vollständig begegnen und eine für alle Akteure und Nutzer gleichwertige Lichtumgebung herstellen. Weitergedacht kann dies insofern schichtenspezifische Auswirkungen haben, als über eine gesellschaftliche Verständigung Lichtqualität mit einer materiell-wertsetzenden, semantischen Komponente ausgestattet wird oder über die Inszenierung von Atmosphären symbolische Schwellen erzeugt werden. Während z.B. ein kriterienloses und mit schlechten Haushaltslagen begründetes Abschalten von Beleuchtung unmittelbar mit der Vernachlässigung benachteiligter Wohnquartiere gleichgesetzt werden würde, könnte dagegen ein exklusiv wirkendes „Lichtklima“11 als Distinktionsmerkmal gutsituierter Stadtbereiche – in denen ohnehin die Kompetenz zur Mitbestimmung größer ausfällt – direkt auf den jeweiligen Sozialstatus verweisen und letztendlich diskreditierend wirken. Auch wenn die Benennung der vielfältigen ökologischen Dimensionen künstlichen Lichts hier vernachlässigt werden muss, kann konstatiert werden, dass Licht im Stadtraum nicht nur eine ökonomische Größe als Orientierungshilfe und Sicherungsmittel öffentlichen Lebens ist. Es handelt sich um ein Gestaltungsmittel, das soziale und kulturelle Belange im Sinne von Atmosphären und die Identitäten einer Stadt in Dämmerung und Nachtzeit beeinflussen kann – durchaus unterschiedlich im Blick der verschiedenen Akteure. 2. DER NACHTBLICK ALS PLANUNGSGEGENSTAND
Soziokulturelle Zusammenhänge sowie die Betonung auf praktizierte Ausführungsschwächen und planungstheoretische Bedenken zunächst vernachlässigend, widmet sich der folgende Abschnitt der visuellen Repräsentation von Kunstlicht in städtischer Umgebung. Im Ziel steht eine vorläufige Systematisierung der Planungsgegenstände resp. eine Synthese von Kunst-Licht im Stadt-Raum. Kunstlicht: Wahrnehmungskategorie der Nachtstadt Die Erscheinungsform unserer nächtlichen Umwelt wurde in den vergangenen 11 Dr. Gamma: Lichtarchitektur. In: Martin Mächler (Hrsg.): Deutsche Bauzeitung, Heft 40, Berlin SW 48, 1934, S.789-798; 996.
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Abb.1a Eindruck einer Innenstadtstraße im Tag/Nacht-Vergleich. Licht_Raum, FH Dortmund.
Abb.1b Visuelle Transformation der Straße nach Einbruch der Dunkelheit. Licht_Raum, FH Dortmund. Fotos: © Bartels.
Jahrzehnten vom steigenden Gebrauch künstlicher Lichtquellen geprägt. „Spatial forms and their interrelations are overlaid with a different type of pattern because of illumination at night, and the city has more than ever a double life.“12 Dieses „Doppelleben“ der Stadt kennzeichnet sich, wie Kepes es zusammenfasst, durch unterschiedliche Seiten visueller Kontinuität. Die Übergänge verlaufen über die morgendlichen und abendlichen Dämmerungsphasen, so dass sich ein fein pointiertes Kunstlichtbild der Stadt in nahezu alltäglicher Gewöhnung über die materiellen Strukturen der Stadt legt, bis es die visuelle Dominanz übernommen hat. Während in der Dämmerungsphase zunächst noch die Kanten, Flächen und Abstände der raumeinnehmenden Umweltelemente den Rahmen der Orientierung bilden, formen sich mit fortschreitender Dunkelheit aparte, im Kunstlicht begründete Anordnungen aus beleuchteten Oberflächen und strah12 György Kepes: Notes on Expression and Communication in the Cityscape. In: Daedalus. Vol. 90, Cambridge, Massachusetts 1961, S.147-165, S.158.
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Abb.2 Die Fassade als Bildschirm. Temporäre Installation am Potsdamer Platz, Berlin. realities:united, 2005. Foto: © Bernd Hiepe/ Bernd Hiepe Fotografie (CC BY-NC-ND 3.0).
lenden Lichtquellen. Die visuell erscheinende Stabilität der physischen Strukturen, die im Tageslicht noch Gültigkeit beansprucht, wird von einer Ansicht abgelöst, die sich von Ort zu Ort wechselnd eher als inkonstant und sporadisch erweist. „Points, lines, plane figures, and volumes of light – steady and winking, moving and still, white and colored – form windows, signs, spectaculars, headlights, traffic lights, street lights, combine into a fluid, luminous wonder – one of the great sights of this or any age. This impressive sight is a byproduct of utility, an accident if you will.“13 Diesem angenommenen Zufall folgend, lassen sich im Dunkel der Nacht baulich-räumliche Konstellationen des Stadtgefüges je nach Lichtsituation nur reduziert erschließen. Mit den sich präsentierenden Lichtpunkten und -flächen entfaltet sich eine eigenwillige Oberflächentextur der gebauten Stadt, die ein Funktionsdiagramm urbaner Zivilisation darlegt und in der sich die morphologische Gesamterscheinung in einzelnen Illuminationen und Lichtobjekten auflöst. Der materiell bestimmte Stadtraum bzw. seine Strukturen werden im Kunstlicht völlig neu interpretierbar. Bedeutsamkeit suggerierend, folgt die Aufmerksamkeit der Betrachtenden dem Leuchtenden und Beleuchteten, wobei die informationsgeladene Vollständigkeit der dinglichen Gesamtgestalt auf ihre dabei sichtbaren Fragmente reduziert wird. Hinzu kommt, dass einige Elemente des Stadtgefüges wie zum Beispiel großflächige Fassaden – den neuen technischen Möglichkeiten folgend – selbst zu leuchtenden Figuren werden und Stadträume sekundenschnell nahezu beliebig verwandeln. Mit Licht dynamisierte Gebäudehüllen werden dabei zum Träger medienrelevanter Botschaften; die baulichen Kubaturen verbleiben als zurückgedrängte Behälter einer renditeträchtigen Flächennutzungslogik. Lediglich die Höhe der Investitionskosten entscheidet hierbei, inwiefern die Oberflächen dieser Gebäude in einen computergesteuerten, 13
Ebd., S.160.
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ikonographischen Großbildschirm umgewandelt werden.14 Bezogen auf den gesamten Stadtraum wirken diese Einzelinszenierungen der baulich orientierenden Figur massiv entgegen – das zusammenhängende Gerüst der Stadt wird von spektakulären Beleuchtungsansprüchen aufgeweicht und weggewischt. Den öffentlichen Bereichen bleibt ein von Einzelnen bestimmtes Schicksal: Sie werden weggeblendet, verschwinden hinter gleißenden Lichtprojektionen, vergehen im Lichtschein des leuchtenden Nachbarn oder im Dunkel der Nacht.15 Über Lichtarchitekturen hinaus – die Nachtgestalt des Stadtraums Da die künstliche Beleuchtung in einem vollkommen anderen Maßstab als das natürliche Licht auftritt und sich dabei in Quantität und Qualität vom Licht der Sonne unterscheidet, unterliegt der Eindruck der nächtlichen Stadt, ob gestalterisch bewusst oder unbewusst, einer massiven Transformation. Die „Möglichkeiten des künstlichen Lichtes als lichtoptischer Gestaltungsfaktor“16 halten dabei grundsätzlich zwei diametral zueinander wirkende Gestaltungsrichtungen bereit: Das ist zum einen eine entsprechend ihrer Taggestalt gleichgerichtete Erscheinungsform der Objekte und Stadträume – sie werden angestrahlt. Und das ist zum anderen eine Nachtgestalt, die Objekte und Räume mit Licht zielgerichtet auswählt – sie werden kriteriengeleitet z.B. in Helligkeit und Helligkeitsverteilung, in Lichtfarben oder Rhythmik komponiert. Ressourcenbedingt bleibt eine tatsächliche Imitation der Taggestalt zur Nachtzeit immer nur ein technisch bedingter Versuch der Angleichung. Insofern ergibt die mit Kunstlicht hervorgebrachte Darstellung physischer Stadtelemente stets ein eigenes, in den Eigenschaften des Kunstlichts begründetes Ergebnis. Nicht nur die Beleuchtungslage und Lichtrichtung, sondern auch die lichtphysikalischen Merkmale (Lichtspektrum, -temperatur usw.) beeinflussen die Wirksamkeit der physisch gegebenen Gestaltquellen aus Form, Material, Textur, Körperfarbe, Reflektionsgrad usw. auf ihre ganz eigene Art. In der Bemühung, unterschiedlicher Lichterscheinungen in Definitionen zu typologisieren, spricht Gabriel17 in diesem Zusammenhang u.a. von einer „Manipulierpossibilität“ und meint die Fülle von Möglichkeiten, „im Rahmen gesetzter Grenzen Lichteffekte zum freiwählbaren Zeitpunkt an einem bestimmten Ort [...] in zeitbedingt technisch möglicher Quantität und Qualität zu zeigen und zu modulieren“ – angesichts der heute gegebenen technischen Möglichkeiten der Leuchtmittel ein durchaus prophetischer Satz. 14
Dietrich Neumann: Architekturen des Augenblicks. In: Jürgen Hasse (Hrsg.): Stadt im Licht. Die Alte Stadt, Jg. 34, Heft 1/2007, S.32-44; 41f. 15 Hugo Häring: probleme um die lichtreklame. In: Hannes Meyer (Hrsg.): bauhaus zeitschrift für gestaltung, 2. Jg. 1928, Nr.4, S.7. 16 Hans Gabriel: Das künstliche Licht in der Architektur – Analysen, Begriffe, Definitionen. Stuttgart 1974, S.12. 17 Ebd., S.142.
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So entsteht die Gelegenheit, eine Nachtgestalt einzelner Gebäude mit künstlichem Licht zu entwerfen, bei der „Architektur einerseits [...] vor allem auch das vom Geleucht ausgehende Licht andererseits [...] zu einer künstlerischen Einheit (verschmelzen), so innig und untrennbar, dass man von einer Lichtarchitektur sprechen muss“.18 Teichmüller illustriert hiermit weit vor Gabriel den Übergang von Architekturlicht, welches die Architektur des Bauwerks in ihrer Form zeigt und erklärt, zu einer Lichtarchitektur, die entsteht, wenn ausschließlich mit Licht, „und n u r mit ihm, besondere architektonische Wirkungen hervorgerufen werden, die gleichzeitig mit dem Lichte entstehen und verschwinden“.19 Der Entwurf ist dabei nicht mehr allein als Produkt im Licht zu verstehen. Teichmüller verstand das steuerbare künstliche „Licht als Werkzeug“20, welches kalkulierbar räumliche Qualitäten und architektonischen Ausdruck bestimmen kann. Was Teichmüller hierbei noch nicht deutlich genug hervorhob bzw. gar nicht thematisierte, ist die konsequente Trennung von Licht und Beleuchtetem auf der einen Seite und ein stadträumlich integrativer Entwurf auf der anderen, was ihm als Elektroingenieur – der den damaligen Architekten zuerst noch den Begriff Lichtarchitektur vorstellen musste – nachzusehen gilt. Zwar war die künstliche Beleuchtung im Architekturentwurf zum Ende der 1920er Jahre mehr als nur eine rein zierende Applikation, die Merkmale des jeweiligen Baustiles überhöhen sollte oder als Beimischung mit eigenästhetischer Wirkung Verwendung fand. Insofern war das künstliche Licht im unmittelbaren Architekturentwurf und die sich hier heraus zeigenden, mittelbaren stadträumlichen Wirkungen bei den Architekten als Gegenstand integrierter Gestaltung erkannt und in der Fachdebatte zunehmend etabliert.21 Doch wurde künstliches Licht als Gestaltungsmittel nur im Einzelentwurf berücksichtigt, um eine auf die stadträumliche Situation hin wirkende Prägnanz zu erzeugen. So stellte sich eine visuell übergeordnete Definition gewisser Stadtbereiche mehr oder minder zufällig ein, da sich die lichterfüllten Stadtzonen – und insbesondere die lichtgestalterischen Maßnahmen – auf gewisse funktionale Teile der Großstadtzentren bezogen (z.B. Vergnügungsviertel). Dies erstaunt insofern, als das planerische Verständnis für die gebaute Raumstruktur der Gesamtstadt und ihrer Organisation, bei der nunmehr Kriterien einer visuellen Raumästhetik berücksichtigt wurden, schon deutlich vorangeschritten war.22 Erst in den 1930er Jahren wurde die kohärente Integration und Organisation der verschiedenen Stadtlichter in das städtische Gefüge systematisiert 18 Joachim Teichmüller: Lichtarchitektur. In: Licht und Lampe. Sonderband 13 und 14, Berlin 1927, S.6. 19 Ebd., S.7. 20 Ebd., S.27. 21 Vgl. Max Landsberg, 1927 nach Werner Oechslin: Lichtarchitektur. In: Flagge, I. (Hrsg.): ArchitekturLicht-Architektur. Stuttgart 1994, S.100-117; S.114. 22 Paul Zucker: Entwicklung des Stadtbildes: die Stadt als Form. München 1929, S.67f.
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betrachtet, auf ganze Städte und deren Verbund mit Ortschaften erweitert und öffentlich zur Diskussion gestellt. Ein gewisser, historisch unbekannt bleibender „Dr. Gamma“ forderte Instrumente zur Umsetzung einer Lichtgestaltung für Städte, die einen gestalterischen und ganzheitlichen Anspruch besaßen.23 Er erkannte die Eigenschaft des künstlichen Lichts, Objekte atmosphärisch zu inszenieren, als Fähigkeit, das „Erlebnismilieu“ oder ein „soziales Milieu“ der Gegenstände zu ändern, und forderte ein jeweils angemessenes „Licht-Milieu“ der Stadt, welches die „Aufstimmungsheimat des Großstädters“ – die abendliche Stadt – charakterisiert. Denn dieser Großstädter lebe „nicht in den Tag hinein – er lebt in den Abend hinein“.24 Gamma war der Auffassung, dass der „städtisch gewordene Mensch“ sein „ganzes Erleben und schließlich auch das charakteristische große Gebilde seines Willens und seiner Vorstellung“ auf den Abend in der Stadt einstellt. Um die Stadt in ein entsprechendes Lichtbild zu überführen, forderte er eine „Lichtplanung für Städte“ und Instrumente, die außerhalb technischer Disziplinen eingegliedert sein müssen, da die Praxis lediglich in weniger genutzten Straßen die Lampendistanz verändern würde und „das ganze System der Straßenbeleuchtung [...] nichts anderes als die alte Methode der Tischbeleuchtung“ sei: „eine reine Horizontalbeleuchtung“.25 Ein „planmäßiger Lichtaufbau der einzelnen Straßen und ein planmäßiger Lichtaufbau der ganzen Stadt auf bestimmte Höhepunkte hin“ seien der gängigen Praxis unbekannt gewesen.26 Exemplarisch imaginierte er eine eigene Nachtgestalt der Stadt, die in und über Berlin eine aus Licht und Lichtbeziehung bestehende „Traumstadt“ spannt. Eine Licht-Stadt aus besonderen Orten, bei denen die Umgebung und die zuführenden Straßen „lichtmäßig“ organisiert würden, „so daß über Räume und Dunkelheit hinweg die Lichter miteinander in eine Ordnung und Beziehung treten“. So würde seiner Meinung nach über die „faktische Stadt“eine „taktische gebaut“ werden.27 Die Planung und Organisation einer solchen Lichtstadt wäre „Aufgabe eines ‚Stadtrates für das Lichtbauwesen‘“. Städte und Ortschaften sollten dabei in einem regional gedachten Maßstab mit „Lichtgängen“ verbunden und durch „prägnante Lichtpunkte“ zugleich voneinander abgehoben werden, damit ihre Unterscheidung und Verbindung verdeutlicht würde – sämtliche Grundgedanken Gammas verblieben in der Fachwelt; seine Handlungsempfehlungen fanden keine Beachtung, weder bei Architekten noch bei Stadtverwaltungen.
23
Dr. Gamma, Lichtarchitektur, a.a.O. Dr. Gamma: Lichtarchitektur. In: Martin Mächler (Hrsg.): Deutsche Bauzeitung. Heft 51, Berlin SW 19, S.996-1012; S.996. 25 Ebd., S.1004. 26 Ebd., S.998. 27 Ebd., S.1001. 24
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Stadtlichter Wird der Gebrauch von Licht als Sender und die Modulation der angestrahlten Umgebung mit Bedacht vollzogen – und den Gebäuden nicht lediglich „übergestülpt“ – können die architektonischen Zeichen im Ergebnis zu mehr oder andersartiger Klarheit geführt werden; zu einer Klarheit, die völlig neue Aneignungsmöglichkeiten bietet und bei der die Auslegung der Form mithin in einer neuen Identität resultieren kann. Mit unvergleichbar höherem Aufwand sind die gleichen Potenziale auch für öffentliche Räume denkbar: für das „nächst höhere“ Gestaltelement der Stadt. Denn hier ist das einzelne architektonische Objekt nur Fragment einer Gesamtheit, die es mit anderen selbst herstellt. In dieser Raumdimension ist die „Gestalt der Stadt“ – ihre ästhetische Dimension – über ihr visuell erscheinendes Äußeres hinaus zu verstehen. Selbst im hier behandelten Vordergrund visueller Aspekte bleibt die „befriedigende Form“ der Stadt ein auf emanzipierter Handlung beruhender Prozess ihrer Gesellschaft – das Resultat der Abwägung ökologischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Bedingungen der Gegenwart. Eine Stadtbeleuchtung, die lediglich Eigenlogiken folgt, d.h. keine auf die Bedingungen des Ortes ausgelegte und ausschließlich formalistisch hinzugesetzte Beleuchtung ist, ist eine versäumte Möglichkeit, eine Nachtgestalt des Stadtraums auszulegen, eine Nachtgestalt, in der Licht und Dunkelheit gemeinsam und auf differenzierte Bedarfe hin zielgerichtet geplant sind. Ein Blick auf die aktuelle Erscheinung der nächtlichen Stadt hingegen legt nahe, dass hierfür unterschiedlichste Lichter, die unterschiedlichsten Akteuren unterstehen, in Betracht zu ziehen sind. So hat Auer28 bereits darauf hingewiesen, dass der öffentliche Raum der Stadt vier Arten der Beleuchtung kennt. Diese Typisierung wird hier aufgenommen, ergänzt und für die Stadtgestaltung mit Licht weiter entwickelt. Wir unterscheiden wie Auer, benennen sie aber als „Sorten“ und weisen auf die Urheber der jeweiligen Lichtquellen hin. Mit dieser Sortierung werden die jeweiligen Akteure und ihre Intentionen deutlicher, so werden Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung aufgezeigt und der Bereich der Planbarkeit der Lichtsorten abgegrenzt. Die Vielfalt der Stadtlichter lässt sich gruppieren in: Die öffentliche Funktionsbeleuchtung Sie dient den Nutzungsansprüchen der sich seit dem 19. Jahrhundert stark umstrukturierenden Stadtgesellschaft. Neben frühen Fackelilluminationen von Stadttoren, einzelnen Gebäuden sowie den absolutistischen Ordnungs-, Kontroll- und Herrschaftsbeleuchtungen beginnt mit dem 17. Jahrhundert die Eta28
Gerhard Auer: Lightbranding. In: plan project (Hrsg.): plancamp02reader stadtlicht. Köln 2003, S.5-13; S.9. Und: Gerhard Auer: Meta Dekor. In: Jürgen Hasse (Hrsg.): Stadt im Licht. Die Alte Stadt, Jg. 34, Heft 1/2007, S.55-66; S.59.
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blierung der Beleuchtung von Verkehrswegen und einzelnen Stadtbereichen. Die öffentliche Straßenbeleuchtung, die im 19. Jahrhundert zunächst durch privatwirtschaftliche Betriebe organisiert und dann wiederum in die Verantwortung der Gemeinde überging, weitet sich flächendeckend aus. Sie bildet eine Art Grundversorgung im öffentlichen Raum und stellt eine Beleuchtung für die sichere Funktion von Wegen, Straßen und Plätzen. Die individuelle Beleuchtung Sie ist im privaten Bereich als persönlicher Bedarf begründet und wirkt zugleich in den öffentlichen Raum hinein. Hierunter fällt z.B. die Beleuchtung des eigenen Wohnraums, die die Architekturen in ihrer nächtlichen Außendarstellung durch helle Öffnungen formiert. Die Illumination des privaten Gebäudes ist darin ebenso angesprochen wie die privaten Außenräume und ihre Vorbereiche, die für ihre sichere Funktion erhellt werden. Hierunter fallen Industriebeleuchtungen, aber auch private Parkplatzlichter und Leuchten der Flugsicherheit. Allesamt fallen sie nicht in die direkte Verantwortung der Kommune. Die merkantile Beleuchtung Sie will die Blicke auf Waren und Marken lenken und Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum auf sich ziehen. Diese Lichtinstallationen können in Form beleuchteter und selbstleuchtender Werbetafeln, -zeichen oder -transparente oder mit Schaufenstern und Scheinwerfern wirken. Das gestalterische Licht Gestalterisches Licht (und Beleuchtung) dient dekorativen, formbildenden oder gestalterischen Zwecken im architektonischen oder stadträumlichen Kontext. Die Lichtgestaltung verleiht den öffentlichen Räumen dabei eine bestimmte und dauerhafte Lichtatmosphäre, sie zeigt die Bedeutung des Orts, der Stadtsituation für Stadt oder Stadtteil an, lässt Aufenthalte angenehm oder interessant werden. Die temporäre Sonderbeleuchtung Sie verleiht in kurzzeitig eingesetzten Illuminationen oder Lichtszenerien den sakralen oder säkularen Festen eine besondere Atmosphäre, ob als freies (Feuer-)werk oder kontrolliertes Kunstlicht. Für die Stadtgestaltung sollte von einer Festbeleuchtung gesprochen werden, die ausschließlich temporärer Natur ist und zur Stimmung besonderer Anlässe beiträgt.
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Schließlich ist neben und mit den Variationen städtischen Lichts auch ihre Abwesenheit zu nennen. Das Nicht-Licht – die Dunkelheit – ist ein wesentliches Gestaltungsmittel für die Stadt: Die Dunkelheit hat als Gliederungselement unmittelbare Bedeutung für die Stadtgestaltung. Nur „im Zusammenspiel mit der Finsternis haben Dinge im Licht Kontur, Tiefe, Prägnanz“.29 Die Dunkelheit ist nicht nur als Grundlage zur gestaltbildenden Nutzung von Kunstlicht zu verstehen. Sie verdient heute erhöhte Berücksichtigung als eigenes Gestaltungselement im ökologischen, ökonomischen und sozial-kulturellen Verständnis. Jede der aufgeführten Lichtsorten ist auf charakteristische Weise gestaltwirksam und untersteht einem jeweils eigenen Zugang. Gleichwohl können sie gegliedert werden: – nach stadträumlicher Lage ihrer Lichtwirksamkeit, – nach privater und öffentlicher Zuständigkeit, – nach Zielintention(en) des Beleuchtungsaktes und der tatsächlichen Wirkung, – nach Akteur oder Akteuren, sowie Nutzenden und Betroffenen. Im Zusammenwirken bilden die Lichtsorten den visuellen Gesamtein- und -ausdruck der ganzen nächtlichen Stadt und ihrer Teilbereiche. Die Sorten dienen dabei jedoch nicht nur dem ihnen zugewiesenen Zweck und wirken für sich. Die bloße Wirkung von Helligkeit zum Sehen von Gegenständen, die man als funktionales Licht bezeichnen könnte, vermengt sich ununterscheidbar im gestalterischen Licht und umgekehrt. Dementsprechend durchdringt sich die sortenscharfe Trennung in der Realität. Funktionale Beleuchtung kann ästhetisch wirken wie merkantiles Licht gestalterisch.30 Zielsystem für die Nachtstadt Angesichts der Fülle möglicher Lichtwirkungen sollen nun anzustrebende Ziele für die Gestaltung und Entwicklung der Nachtstadt skizziert werden. Eine nachhaltigen Ansprüchen folgende Nachtgestalt der Stadt wirkt auf einer stadtbaukulturellen Ebene: – Diskriminierungsfreie Berücksichtigung gemeinsamer Bewegungsverläufe und Aufenthaltsbereiche unterschiedlicher Nutzergruppen. – Beteiligungsorientierte Profilierung von Stadträumen entlang ihrer zugewiesenen Identitäten, Bezüge und Nutzungen. 29
Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre. München 2006, S.12. Vgl. Robert Campbell: WGBH looks to wrap new headquarters in digital skin. In: The Boston Globe. February 1, 2004. Im August 2011 digitalisiert abgerufen unter: http://www.boston.com/ news/globe/living/articles/2004/02/01/wgbh_looks_to_wrap_new_headquarters_in_digital_skin; (Zugriff 11.11).
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– Differenzierte „Lesbarkeit“ und kriteriengeleitete Interpretation der einzelnen öffentlichen Räume im Zusammenwirken der ganzen Stadt als sozialer und räumlicher Einheit der Vielfalt. auf einer ökologischen Ebene: – Kriterien- und prinzipiengeleitete Lichtvermeidung in unbebauten Bereichen. – Lichtnutzung entlang ökologischer Rahmenbedingungen (Flora und Fauna) bei gleichzeitiger Vermeidung der Aufhellung privater Innenräume. – Reduktion von Energieverbräuchen und damit einhergehender Emissionen. – Lichtnutzung ohne himmelseitige Streuverluste. und auf einer ökonomischen Ebene: – Lichtnutzung nach Grundsätzen der Energieersparnis- und des Ressourcenschutzes, nach Investitionsaufwand sowie permanenten Aufwendungen in Betrieb und Wartung. – Bedarfsgerechte Lichtnutzung nach stadtfunktionalen Aktivitätsmustern. Mit einem derartigen Zielsystem ist nicht nur eine Lichtplanung gefordert, die alle Akteure der Lichtplanung miteinander in Gespräch und abgestimmtes Handeln bringt, sondern die deutlicher auf den – in seinen Anforderungen differenzierten – Raum als vieldimensionale Kategorie bezogen sowie schlussendlich verbindlicher in der formellen Stadt- und Regionalplanung verankert werden sollte. 3. AUS DER STADT IN DIE REGION – DAS RUHRGEBIET ALS BEISPIEL
Ebenso wie Stadt mehr ist als die Addition einzelner Architekturen, so ist die Region zweifellos mehr als die Addition einzelner Städte. Als topografisch profiliertes Gebilde ist die Region immer auch ein sozial und kulturell konstituierter Großraum für sich, der ökonomisch und ökologisch als Einheit bestimmbar ist. Insbesondere auf dieser Maßstabsebene stellt sich die Frage, wie weit derartige Zusammenhänge am einzelnen Ort wahrnehmbar sind oder in einer Kommune bewusst werden. Für den vorliegenden Ansatz heißt dies: Welche Zusammenhänge besitzt die nächtliche Region und wie weit kann künstliches Licht diese Zusammenhänge herausarbeiten oder gar verstärken? Diese Frage stellt sich auch im Hintergrund der Beobachtung, dass – mitunter aufgrund der „Inter-
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nationalen Bauausstellung Emscherpark“ – die Bereitschaft der Kommunen im Ruhrgebiet merklich zunimmt, Kunstlicht als regional strahlendes Mittel für die Profilierung und Nutzung ihrer öffentlichen Räume bei Nacht zu denken. Doch bleibt diese Lichtverwendung einmal mehr hinter den mit dem Medium genuin verbundenen Möglichkeiten zurück. Die regional-konzeptionelle Perspektive wird bei der einzelnen Lichtplanung und Lichtgestaltung im Ruhrgebiet nur ausnahmsweise gesehen, konzeptualisiert und umgesetzt. Nachtsicht der Region Blicken wir zunächst auf die nächtliche Region und vergewissern wir uns des im künstlichen Licht Sichtbaren. Zunächst ist die weite Übersicht in nächtlicher Vogelschau wahrzunehmen. Es zeigen sich die warm leuchtenden Lichtzentren der Innenstädte, die kalten Lichtinseln der verschiedenen Industriekomplexe, die schwach schimmernden Wohngebiete, die scharf ausgetrennten Dunkelzonen der Grünzüge und die Schwarzkonturen der Halden, der Fluss- und Kanalbänder – allesamt „eingehängt“ in beleuchtete Netze der Infrastrukturen, insbesondere der Hauptund Nebenstraßen. Lichtpunktuelle Prägnanz beanspruchen die Einkaufs- oder Gewerbezentren, die vereinzelt illuminierten Kirchtürme und die in den Himmel strahlenden Tankstellen in blau, gelb oder grün. Tiefer, im Schrägblick von den Bergehalden aus betrachtet, geht das Netz der Straßen in einen Horizont über, der nur durch eine dichter werdende Sammlung verschiedener Lichtpunkte abschließt. Im Panoramablick zeigt sich die Region dabei als Archipel schwach verbundener und ineinander übergehender Lichtinseln der Stadt- und Industriezentren. Sporadisch scheinen farbige Lichtkomplexe in besonderer Lage auf; sofern bekannt, können die fernwirksamen Landmarken der Nacht vereinzelt inszenierter Förderturm-Denkmälern, Industrie-Schornsteinen oder Skulpturen auf Haldenköpfen zugeordnet werden. Verlassen wir die ungewöhnlichen Sichtebenen von Vogelschau und Panoramablick und gehen auf die Augenhöhe von Passanten, Rad- oder PkwFahrenden. Hier wird unsere Raumwahrnehmung maßgeblich durch die in der Perspektive verdichtete Folge der Straßenbeleuchtung bestimmt, die durch private oder Werbebeleuchtungen akzentuiert, stimuliert oder gestört wird. Gerade hier sind es die leuchtenden Lichtquellen selbst, die durch ihre Attraktion unserer Wahrnehmung eine eigene Wirkung entfalten und in ihrem Zusammenhang den Charakter eines eigenen, von der Materialität des Straßenraumes und Stadtkörpers abgelösten Lichtsystems erreichen. Die Region, der regionale Zusammenhang ist hier nicht sichtbar, er ist – bewusst gemacht – bestenfalls erinnerbar.
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Abb.3 Außergewöhnliche und allabendliche Sicht einer regional bedeutsamen Lichtgestaltung im Zusammenspiel der Lichtsorten: „über(n)ort“ von Kirsten und Peter Kaiser, Bochum-Gerthe 2003. Licht_Raum, FH Dortmund. Foto: © Blossey.
Regionale Zusammenhänge und Systeme – das Ruhrgebiet eine Metropole? Heute ist das Ruhrgebiet zunächst als eine materiell-physisch zusammengewachsene Agglomeration einer Vielzahl unterschiedlicher Kommunen anzusprechen. Sie zeigt Stadtkerne, Industrie- und Gewerbekomplexe, die ineinander übergehen, die Leerstellen riesiger Brachen und dünn gewebte, kaum trennende Grünzüge des „Emscher Landschaftsparks“. Die Stadtbereiche sind unterschiedlich deutlich aufeinander bezogen und unterschiedlich intensiv miteinander vernetzt. Insbesondere hier kann der gezielte Umgang mit Licht und Dunkelheit einen Beitrag zur Erkennbarkeit dieser internen, d.h. historischen, stadträumlichen, sozialen, kulturellen und sogar der ökologischen Strukturen leisten: zum inhaltlichen Bezug der Raumeinheiten untereinander und ihren Verknüpfungen. So könnte die nächtliche Sicht auch eine identifizierbare Einheit, eine „Metropole“ behaupten. Da solch ein Attribut allein mit Licht und ohne inhaltliche Hinterfüllung aber nicht glaubhaft hergestellt werden kann, bleibt die Frage, wie also die Region Ruhr zu charakterisieren ist und wie weit regionale Bezüge nennbar und darüber hinaus als „metropolitane“ Qualitäten darstellbar sind? Die Agglomeration Ruhr kann in Zonen gegliedert werden, die über ihre materiell-physischen Eigenschaften hinaus eher nutzungsorientiert und in ihren sozialen Charakteristiken erkennbar sind. Von Süd nach Nord folgen grob abgegrenzt drei breite Siedlungsbänder aufeinander: – die eher landschaftlich geprägte Ruhrzone, inzwischen mit gehobenem Wohnen, – die Hellwegzone mit einer „Perlenkette“ historischer Stadt- und Industriekerne
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Abb.4 „über(n)ort“ von Kirsten und Peter Kaiser, Bochum-Gerthe 2003. Licht_Raum, FH Dortmund. Foto: © Bartels.
– und die Emscherzone mit einem Konglomerat aus Dorfkernen und großen Güterumschlagzentren, den Industriekomplexen der Kraftund Chemiewerke, den ehemaligen Großzechen und der neuen Hügellandschaft ihrer aufgeschütteten Reste. Die Zonen sind überlagert und verbunden, dabei gleichzeitig getrennt und gestückelt von den technischen Infrastrukturen der Autobahnen und Hauptstraßen, der Hauptlinien von Werks- bzw. Eisenbahnen oder der Rohr-, Strom- und Kanaltrassen – so stark, dass sie eher als komplexes Netz denn als gegliederte Zonierung lesbar werden. Auch die – immer noch – von West nach Ost, mit den Gewässernetzen von Emscher und Ruhr offengehaltenen Grünzüge können nur einen begrenzten Beitrag regionaler Fassung leisten. Faktisch ist die großflächige Zonung des Ruhrgebiets heute eher als eine planerisch gewünschte, analytische Gliederung anzusprechen. Über die vorhandenen historisch entwickelten räumlich-physischen Vernetzungen und funktionalen Gliederungen hinaus zeigen die identitätsbildenden Charakteristika der Einzelkommunen einen weiteren Zusammenhang als Region. Zum einen wären dies die seit den 1970er Jahren sichtbar laufenden strukturellen Veränderungen von der industriellen zur Dienstleistungs- und IT-Region. Auf dem Weg dieses Strukturumbruchs zeigen sich nicht nur Brachen und neue Entwicklungspole der neuen Technologien und Dienste, sondern gleichzeitig auch die von Kommune zu Kommune durchaus unterschiedliche „Beatmung“ von entleerten Industriekomplexen mit punktuellen, temporären oder permanenten kulturellen Nutzungen. „Der Industrie- folgt die Kulturproduktion, oft in denselben Gebäuden der industriellen Vergangenheit,
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die dazu musealisiert oder zu Aufführungs- und Erlebnisorten umgewidmet werden.“31 Werden diese wechselseitig laufenden Prozesse von Aneignung, Umnutzung und Fortentwicklung regional gefasst und organisatorisch verstetigt, kann mit ihnen ein neuer Charakter für die Region gewonnen werden. Beginnend mit der Bauausstellung Emscherpark (IBA) in den Jahren 1989-99 konnte so der wesentliche Impuls für das post-industriell behauptete Ruhrgebiet gesetzt werden. Durch architektonisch, städtebaulich, sozial und ökologisch pointierende Projekte konnte durchaus ein Stück mehr Lebens- und Wohnqualität gewonnen werden. Insgesamt erhielt die Rückseite der Region – genauer das Emschertal mit seinem naturnahen Rückbau und der gleichzeitigen Verbannung ihrer Funktion als Abwassersammler in den Untergrund – mehr Aufmerksamkeit und Aufwertung. In gleicher Richtung eines regionalen Zusammenhangs wirkten bisher temporär die „Ruhrtriennale“ und einige Veranstaltungen der „Kulturhauptstadt RUHR.2010“. Um nachhaltig zu wirken, muss es sich bei diesen Programmen natürlich um Ansätze einer Identitätsbildung handeln, die „real-strukturell“ basiert sind, damit der Zusammenhang gestaltbar wird. Für das Ruhrgebiet heißt das, dass hier „kein homogener Raum, sondern ein polyzentrisches, vielschichtig miteinander verwobenes Raumgefüge“ die Grundlage bildet.32 Das Ruhrgebiet lebt und funktioniert eben (noch) nicht als eine zentrale Einheit, wie eine Metropole, die das Umland mit zentralen Diensten versieht und global gesehen unverwechselbar wäre. Dies ist besonders daran erkennbar, dass die städtischen Zentren des Ruhrgebiets jeweils mit ihrem unmittelbaren Umland mehr verflochten sind als miteinander. Zum Beispiel steht Duisburg weit mehr mit der Rheinschiene und Dortmund mehr mit Ostwestfalen und dem Sauerland in Verbindung. Von einer „funktionalen Differenzierung“33 der Stadtzentren für das Umland, wie sie von einer Metropolregion zu fordern wäre, ist das Ruhrgebiet (noch) deutlich entfernt. Region Ruhr – der leistbare und der faktische Beitrag des Lichts Eine Lichtgestaltung für die Region kann den definierbaren Gesamtraum, die verbindenden Gemeinsamkeiten, aber auch die Differenzierungen des Gemeinsamen herausarbeiten und betonen – sie darf dabei, wie alle ernst gemeinten Initiativen, nicht inhaltsleer und lediglich behauptet sein. Im Resultat wirkt sie 31 Thomas Hackenfort: Die Macht des Gegenwärtigen. Lichtprojekte und ihr Beitrag zur Stadtimage-
bildung. In: Dennis Köhler, Manfred Walz, Stefan Hochstadt (Hrsg.): Lichtregion – Positionen und Perspektiven im Ruhrgebiet. Essen 2010, S.166. 32 Jörg Bogumil: Steuerung und Koordination der „Metropolregion“ Ruhrgebiet. In: K. Engel u.a. (Hrsg.) 2011: Phönix flieg! Das Ruhrgebiet entdeckt sich neu. Essen, S.577-593; S.577f. 33 Ebd., S.581.
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orientierend, was insbesondere bei Rückbau und Umnutzung zahlreicher Industrieanlagen eine bedeutende Rolle spielt: zum einen als Orientierung des Image, in der die historisch eingelagerte Identität der schwerindustriellen Arbeitsregion den neuen Nutzungen und Charakterzügen der Region angepasst wird. Zum anderen aber auch als Orientierung der materiell erfahrbaren Umwelt: der polyzentrisch gegliederten Region als vernetzter Einheit. Einen der gleichermaßen image- und raumorientierenden Impulse lieferte so die IBA-Emscherpark, bei der an den markanten Umbau der vor Zeiten flachen Region zwischen Ruhr und Emscher angeknüpft wurde. Die mit Halden und Deponien vollständig neu profilierte Topografie ist seitdem als Orientierungssystem erkannt und auch schon ausgebaut worden. Mit ihren Aussichtspanoramen geben sie einen Einblick ins nahe Umfeld und zugleich einen Blick über das entfernte Umland. Und mithilfe krönender Landmarken bekam das Ruhrgebiet vor allem am Nordrand ein Profil, das auch von unten einen neuen „roten Faden“ der Stadt- und Landschaftsabfolgen kenntlich macht. Die Möglichkeit, diesen Ansatz mit besonders wirkendem Kunstlicht weiter zu stärken, wurde – gleichwohl viel zu spät – ebenso erkannt. Die Bestückung einiger Hochpunkte mit Lichtinstallationen wirkte symbolträchtig über ihre Tagwirkung hinaus und brachte ein bis dahin ungeübtes Raumverständnis nach Einbruch der Dunkelheit hervor. Die Konzepte der punktuellen Lichtsetzungen kamen allerdings nur in zwei Fällen über eine auf den eigenen Ort bezogene Selbstdarstellung hinaus – namentlich das „NachtTagPanorama“34 und die „Yellow Marker“.35 Seither belegen insgesamt weit mehr als 135 permanent eingerichtete Lichtgestaltungen – ob nah- oder fernwirksam – in den öffentlichen Räumen von 25 Kommunen des Ruhrgebiets, dass sich die besonderen Lichtgestaltungen oder Illuminationen als ein bewusstes Mittel von Stadtentwicklung oder -marketing etabliert haben.36 Dies mit dem Ziel, den jeweiligen Ort mit Licht inszenatorisch zu zeichnen, ohne dabei – bis auf die genannten zwei: „Yellow Marker“ und „NachtTagPanorama“ – auf den regionalen Zusammenhang bezogen zu werden. Einzelne Ensemble – wie z.B. das Hochofenwerk Meiderich, die Kokerei Zollverein oder die Jahrhunderthalle Bochum – arbeiten inhaltliche Identitäten der Industriegeschichte und des Strukturumbaus heraus. Besonders hier zeigt sich, dass die grenzüberschreitend und über weite Distanzen wirkende Orientierungs- und Prägekraft künstlichen Lichts für Region, Stadt und Einzelraum überprüft und im Sinne eines regionalen Konzepts nachdrücklich „eingefangen“ werden sollte. Anstatt die Vielzahl objektbezogener Inszenierungen in 34
Georg Kiefer und Manfred Walz, 1994-2001. Mischa Kuball, 2001. 36 Dennis Köhler, Manfred Walz: Ansatz zum Konzept einer regionalen Lichtgestalt. In: dies. u.a. (Hrsg.) 2010: Lichtregion – Positionen und Perspektiven im Ruhrgebiet, a.a.O. 35
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ein größeres Ganzes zu überführen, eine Koordination der vielen Lichtsorten zu fordern sowie die Konzepte auf die Stadt im regionalen Zusammenhang und die darin praktizierten Bewegungsformen und kulturell basierten Aktionsformen der Bewohnerschaft zu beziehen, werden wieder einmal Fassaden übertüncht und eine nicht zu hinterfragende Lichtkunst heraufbeschworen. Zielorientierungen für die Nachtregion Das Ruhrgebiet zeigt als multizentrische Region Zusammenhänge der Städte und Orte, die über den einzelnen Stadtkörper hinausgehen. Einige dieser Zusammenhänge wurden zuvor umrissen. Durch eine große räumliche Reichweite, die weitaus größer ist als andere bildnerische Gestaltungsmittel, eignet sich das Licht, aber auch das Nicht-Licht – die Dunkelheit – für die Darstellung dieser räumlichen Zusammenhänge (aber auch inhaltlicher Bezüge) demnach ganz besonders, so dass der Anspruch nicht allzu hoch gesetzt ist, die Region nach Einbruch der Dunkelheit konkreter herauszuarbeiten, bewusst zu machen und dadurch zu stärken. Licht ist grenzüberschreitend sichtbar und die typischen Hochpunkte präsentieren heute schon durch Panoramablicke eine spezielle Nachtansicht der Ruhrregion. Diese Nachtansicht sollte jedoch in eine qualifizierte Lichtgestalt übersetzt werden, um sie für Bewohner wie auch Besucher lesbar zu machen, Ressourcen der Energieerzeugung zu schonen, kunstlichtbegründete Aufhellungen des natürlichen Nachthimmels zu reduzieren und lichtsensible Lebewesen auch großräumig zu schützen. Eine überregionale Nachtgestalt zielt dabei auf die spezifische Identität ihrer Bewohner, zeigt ihr ökologisches und ökonomisches Selbstverständnis und profiliert ein eigenes Image. Hierfür ist eine gemeinsam genutzte Plangrundlage mit Leitvorstellungen, Grundsätzen und Regeln der Lichtverwendung, die von einer dauerhaft legitimierten Institution gehalten und im Prozess umgesetzt wird, dringend notwendig. Gemeinsam mit den ökologischen und ökonomischen Zielsetzungen für den Umgang mit Kunstlicht können die sozialen und kulturellen Maßstäbe der Lichtgestaltung auf den oben formulierten Zielen der Nachtstädte aufbauen und zugleich in einer Synthese über sie hinaus auf ihr Zusammenwirken in der Nachtregion hinweisen. 4. LICHTREGION RUHRGEBIET – EIN VOR-BILD
Auch wenn dieser Aufsatz nur die Kriterien für die Nachtgestalt einer Region umrerißen kann, bleibt zu konstatieren, dass Licht mehr kann, als nur den physischen Raum örtlich sicht- und nutzbar zu machen. Licht kann mehr, als attraktive Situationen in der Stadt zu betonen oder unattraktive bunt zu bemalen: Licht hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Konstituierung von
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Räumen und Herstellung von Atmosphären. Inwiefern dies methodisch in Stadt und Region zu operationalisieren ist, kann hier nur theoretisch skizziert bleiben. Gleichwohl bleibt künstliches Licht zu seinen jeweiligen Zeiten ein integrierter Teil der Stadtnutzung, der sich nicht selbst genügen darf, sondern auf die Prozesse der Stadt und ihrer Bereiche eingehen sollte. Es wird deutlich, dass es sich bei der nächtlichen Gestaltung von Stadt und Region um mehr handeln muss als um die gängige, bisweilen planbegründete Legitimation einer irgendwie gearteten Beleuchtung städtischer Einzelmerkmale und -objekte. Mit dem Anspruch, die unterschiedlichen Lichtsorten auf das Wesen der Stadt und die bestimmenden Zusammenhänge der Region zu Kunstlichtzeiten auszurichten, muss es sich vielmehr um einen Prozess handeln, der als integrierte Lichtleitplanung begriffen werden soll. Viel abstrakter, gleichwohl für derartige Maßstäbe zielführend, ist der Prozess über der informellen Stadtentwicklungsplanung der Einzelkommunen in der Regionalplanung zu verankern. Mit einer solchen Voraussetzung kann hier eine Annäherung an ein Konzept zur Nachtgestalt der Region vollzogen werden. Wir schlagen hier eine regionale Nachtgestalt vor, die eine spezifische Identität der polyzentrischen Region stützt und die gleichzeitig auf die Lebensqualität ihrer Bewohner eingeht. Im Anspruch eines gleichermaßen gestalt- und energiewirksamen Konzepts unterscheiden wir hier zwischen einer Lichtstruktur (Lichtsorte „öffentliche Funktionsbeleuchtung“) der Region und einer prozessorientierten Lichtgestaltung (hier vor allem die Lichtsorten „gestalterisches Licht“ und „merkantile Beleuchtung“) auf kommunaler Ebene mit regionalem Bezug. Für das örtlich wirksame Lichtsystem, die lokale Lichtstruktur, verweisen wir an erster Stelle auf die Initiativen der Städte, diese auf ihre regionale Wirkung zu prüfen und zu integrieren. Die kooperative oder auch restriktive Formung der Lichtwerbung ist dabei der kleinräumlichen Lichtsituation und -gestaltung der Städte zuzuordnen. Anknüpfend an die vorhandene Lichtstruktur und festgemacht an den besonderen stadt- und regionalwirksamen Lichtgestaltungen der Region, formulieren wir hier nur die leitenden Themen und Ideen, den methodischen Weg mit den erforderlichen operationalisierten Begriffen und eine erste Vorstellung. Kurz: Wir legen den Umriss eines Konzepts vor, den wir als einen Impuls für den Umgang mit einer schon rudimentär vorhandenen und eher zufällig wirkenden regionalen Lichtgestaltung und ihrer Entwicklung verstehen. Es ist daran zu erinnern, dass der Aufbau einer regionalen Lichtgestalt des Ruhrgebiets mit mehr als 50 beteiligbaren Kommunen als ein Prozess der Integration der genannten Lichtsorten und der Dunkelheit als Gestaltungselemente anzulegen ist. Er ist zwar methodisch nicht wesentlich anders, dagegen aber organisatorisch und zeitlich deutlich aufwändiger durchzuführen als die Nachtgestalt für eine einzelne Stadt. Für die Region ist es daher hilfreich, die Lichtstruktur – die funktionale Grundbeleuchtung – als stabiles Ausgangssys-
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tem der regionalen Verbindung zu nutzen und in Richtung auf eine integrative Elementierung zu differenzieren und auszubauen. Sie sollte zugleich mit den kommunalen und mit künstlerisch angelegten Konzepten örtlicher Lichtgestaltungen verbunden werden, die sich ihrerseits auf eine regionale Gliederung und Bezug richten, z.B. in stadträumlich bestimmten Aufgaben der Akzentuierungen der Ortsränder, der „Stadteingänge“, zu inneren Platzgestaltungen und zur Inszenierung besonderer regional wirksamer Objekte. Drei Schichten einer regionalen Lichtgestalt Die inhaltlich leitenden Themen zur Lichtgestaltung bietet die Region selbst. Sie gehen deutlich über die Ordnung und Gestaltung einzelner Objekte und Situationen mit Licht hinaus. Für die Region stehen Schichten regionaler Vernetzung mit Licht im Vordergrund, das einzelne Objekt oder Ensemble kann nach seinen Vernetzungsmöglichkeiten den jeweilig „nahen“ Teilen der Lichtstruktur zugeordnet werden, es ist darin aufgehoben. Die folgenden drei Schichten, die entsprechend den zuvor genannten Zielsetzungen für die Nachtregion zu einer regionalen Lichtgestalt Ruhr „überlagert“ werden können, sind: Schicht I – Lichtstruktur als Mittel typologisch gestützter und durch Sichtbezüge gestärkter Vernetzung der Region Erstes inhaltlich tragfähiges Vernetzungsmuster ist die funktionale Grundbeleuchtung der öffentlichen Räume. Hier kann eine klare Typologie von öffentlichen Bewegungs- und Aufenthaltsräumen als Elementen der polyzentralen Region entstehen. Werden sie lichtgestalterisch deutlicher und ihrer Nutzung entsprechend unterschiedlich herausgearbeitet, können sie die Region selbst erklären – aus Bodensicht und noch deutlicher von den Hochpunkten der neuen Landmarken aus: Es zeigt sich dann ein Raumbild der Region, das aus den Zentren der Städte und aus den Stadtteilen, aus Wohnquartieren, Gewerbe- und Industriearealen, den Technologieparks und den Inseln der Freizeitparks zusammengesetzt ist. Das Raumbild wird gegliedert durch die Dunkelbänder des Kanals, von stillgelegten bzw. zu Fahrradtrassen umgebauten Betriebsbahnen und durch die Dunkelzonen fragmentierter Landschaft des Zwischenraums der Städte, die randscharf zur Bebauung definiert sein können. Das hierarchisch dimensionierte Straßen- und Wegenetz sowie das der betriebenen Eisenbahntrassen verknüpfen und durchschneiden gleichzeitig Bebauungszonen und Landschaft. Die funktionale Beleuchtung dieser linearen Infrastrukturen kann in Sequenzen mit der Bebauungsstruktur korrespondieren und in den Landschaftsfragmenten so weit zurückgeschaltet werden, dass Ortsränder deutlicher definiert und Dunkelzonen stabilisiert sind. Direkte Sichtbezüge und Sichtketten über die Hochpunkte der Region und Stadtmarken können die Region in ihrer typologischen Gliederung zeigen.
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Sie erleichtern dadurch die Identifikation des beobachteten Quartiertypus und klären die Außenansicht der jeweiligen Stadt im regionalen Verbund. Schicht II – Lichtgestaltungen unterstreichen die historische Entwicklung, zeigen gegenwärtige Potenziale und geben einen Vor-Schein der zukünftigen Entwicklung der Region Die Ruhrregion ist seit den 1970er Jahren charakterisiert durch einen dramatischen Strukturbruch, der sich im Abbau der Bergbau-, Stahl- und Bierindustrien zeigt und der sich in den folgenden Jahren im Aufbau neuer Zentren für spezialisierte Technologien der Produktion und Logistik, von Einkaufszentren und Freizeitparks vor den und innerhalb der Kernstädte konkretisiert. Die großen Industrien konzentrieren sich räumlich in durchaus kompakteren und leistungsfähigeren Anlagen wie z.B. denen der Stahlindustrie in Duisburg am Rhein oder in denen der Zechen und Kraftwerke am Nordrand des Ruhrgebiets. Manche Unternehmen kehren mit ihren Zentralen ins Ruhrgebiet zurück und zentrieren sich neu. Im physischen Erscheinungsbild zeigt sich diese Entwicklung auch als Umbau in der Topografie mit inzwischen mehr als 250 Halden, im Brachfallen und im offenen Zugang zu bisher unzugänglichen Industriegebieten, im Aufbau neuer Warenverteilzentren oder im stufenweisen Ausbau von spezialisierten, aber deutlich kleinteiligeren Bebauungsstrukturen. Hinzu kommt weiter das Entwickeln und Entdecken neuer Wohnqualitäten an ungewohnten Standorten wie z.B. an den ehemaligen Rückseiten der Region: an Kanal und Emscher. Bevölkerung und Beschäftigung nehmen ab, sie schichten sich räumlich und sozial deutlich um. Im physischen Erscheinungsbild bleibt dabei mancher Zechenoder Industriestandort mit z.B. neuer musealer Nutzung erhalten, eine Vielzahl von Fördertürmen und Maschinenhäusern bleibt als seltsam nackte Platzhalter einer Industrie zurück, die ihre Produktion räumlich umgesetzt oder ganz abgezogen hat. Lichtgestaltungen können diese Strukturbrüche, die sich im Wandel der Produktionsanlagen zu Gehäusen neuer Nutzungen zeigen, in typenbezogenen Inszenierungen der zurückgebliebenen und der inzwischen neu entstandenen Objekte, Ensembles und Räume „erleuchten“ (wie z.B. „Oval Light“ der ehemaligen Zeche Mont Cenis von Mischa Kuball in Herne) bzw. erinnernd zu klären versuchen (wie z.B. in der Leuchtlinie „über(n)ort“ von Kirsten Kaiser in BochumGerthe oder in der Landmarke der Halde Rheinpreußen von Hermann Prigann in Duisburg). In den neuen Objekten und Räumen zeigt sich andererseits der Vor-Schein zukünftiger Entwicklungen. Eine Lichtgestalt kann diese historischen Strukturbrüche, die baulichen und sozialen Umbauprozesse unterschiedlich thematisieren und als neues charakteristisches Bild der Region zeigen.
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Schicht III – Nutzungsbezüge und soziale Gliederungen ermöglichen den Aufbau einer dynamischen Identität der Region Lichtgestaltungen können die Nachtgestalt der Region binnenstrukturell insbesondere für die Nutzung und den Aufenthalt in den öffentlichen Räumen der verschiedenen Stadtquartiere verstärken. Durch unterschiedliche Lichtstärken und -farben und insbesondere durch eine raumbezogene Lichtführung können die Wahrnehmung, der Gebrauch und damit die Bedeutung konkreter öffentlicher Räume für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ausgebaut werden. Lichtgestaltungen können auch die Wahrnehmung der Nachtgestalt von Quartieren, Stadt und der ganzen Region von außen sichtbar stützen und zugleich über die Bilderinnerung thematisch zusammenhängender Einzelgestaltungen verstärken. Dabei ist zu beachten, dass Räume nicht nur materiell begründete, sondern zugleich oder allein sozial begründete Strukturen sein können. Das Raumgefüge in der Stadt und der einzelne Stadtraum werden dabei als relationales Gefüge nach geschlechts-, alters- milieu- und schichtspezifisch unterschiedlichen Bezügen konstituiert und fortlaufend verändert. Daraus ergibt sich eine Vielzahl an sozial bedeutsamen Räumen und Stadtimaginationen. Hierbei sind begründete Potenzialräume entlang der nutzungs- und bedeutungsspezifischen Strukturen sowie der Aktionsmuster der Stadt zu Kunstlichtzeiten zu suchen, mit Licht zu definieren und zu stärken. Die sich daraus ergebende Abbildung der kulturellen und sozialen Gefüge der Stadt und letztlich auch der Region ist nicht ausschließlich an ihre morphologischen Strukturen gebunden. Damit kann – anders als an aktuellen Lichtplanungen für Städte vorgeführt – eine eigenständige strukturelle Ordnung der Nachtstadt begründet werden. Sie zeigt eine dynamische Gestalt, die sich das statische morphologische Gefüge von Stadt und Region aneignet und interpretiert. Diese Aneignungsprozesse können mit dem Gestaltungsmittel Licht gestärkt oder auch behindert werden. Gestaltungsrahmen und -grundsätze für die Lichtregion Die Nachtgestalt der Region kann als vernetzter baulicher und sozialer Zusammenhang mit Licht, deutlicher als es am Tag möglich ist, erkennbar gemacht werden. Sie ist Ergebnis des Zusammenwirkens von Lichtstruktur und ihren Dunkelzonen, der temporären und permanenten, thematisch geordneten Lichtgestaltungen, sowie der laufenden Nutzungs- bzw. längerfristig angelegter Identifikationsprozesse. Gestaltungsgrundsatz I – Die Lichtstruktur zeigt die Gliederung der Region Die Lichtstruktur unterstützt die Orientierung und sichert den Gebrauch der Nachtregion. Sie strukturiert und erläutert die räumliche Gliederung der einzelnen Stadt und der Region im Ganzen. Die Beleuchtung der öffentlichen Räume
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ist nachhaltig und energiesparend: Die Leuchtdauern sind dem faktischen Gebrauch angepasst, die Leuchtmittel sind energiesparend und auf die lokal verfügbaren Energien ausgelegt. Gestaltungsgrundsatz II – Die Lichtgestaltungen sind autark und energetisch nachhaltig ausgelegt Die Lichtgestaltungen ergänzen und unterstreichen die entsprechenden Gliederungen der Lichtstruktur in den öffentlichen Räumen. Sie inszenieren historisch und sozial bedeutsame Objekte, Ensembles und Orte. Der Energieeintrag geschieht in der Regel durch Solarenergien, Energiemixe mit lokalen Energien, und entsprechend dem Eintrag der Sonnenenergie solar gesteuert. Wenn die Nutzungsanforderungen es nicht anders vorgeben, verlöschen die Leuchtmittel, sobald die am Tag eingebrachte und gespeicherte Energie verbraucht ist. Gestaltungsgrundsatz III – Landschaft und landschaftsorientierte Räume sind als Dunkelräume geschützt Anbaufreie innerstädtische Bereiche, besonders aber Landschaftsräume, erhalten keine permanente Funktionsbeleuchtung. Notwendige Beleuchtungen von durchquerenden Straßen oder Sportstätten und Veranstaltungsorten werden nur zur Nutzungszeit beleuchtet und sind auf den konkreten Ort gerichtet, nach innen, also in die Bebauung hinein. Die Dunkelräume sind scharf gegen das Streulicht bebauter Bereiche abzugrenzen und zu schützen. Die Leuchtmittel sind in den Lichtfrequenzen so ausgelegt, dass sie nachtaktive Tiere nicht stören oder desorientieren können. Die Lichtregion im Augen-Blick Blicken wir auf die Region, die Spuren ihres Strukturbruchs und auf die Spuren, die zu einer neuen Entwicklung führen, so könnte sich eine Lichtgestalt in zwei Phasen zeigen: Lichtgestalt im Dämmerungsblick Mit dem verlöschenden Tageslicht tritt die Lichtstruktur der Region, das Grundlicht für sichere Orientierung im öffentlichen Raum in den Blick. Es zeigt sich ein Netz, im Bereich der Vorstädte ein Gitter der Lichtpunkte. Die Netzfigur ist stark gegliedert: Die Stadtquartiere sind entsprechend ihrer Hauptnutzung deutlich voneinander unterschieden: Wohngebiete unterscheiden sich von Gewerbegebieten und von den Stadtzentren, sie werden in ihren Mitten akzentuiert. Das Werbelicht überschreitet nach Lichtfarbe und -stärke nur geringfügig das Umgebungslicht, es bestimmt nicht die Lichtatmosphäre des öffentlichen Raums, es ist ihr integrierter Bestandteil. Die Hauptstraßen sind in Raumabschnitte gegliedert, die den seitlichen Nutzungen folgen. Vor einem neuen Stadtquartier zeigt eine kleine Zäsur, eine Lichtfuge, ein größerer Leuchtenabstand das Ende des
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Raumabschnitts, eine besondere Leuchtenposition den Beginn des nächsten an. Straßen, die Landschafts- oder Grünzugabschnitte queren, sind nur in dem Maße beleuchtet, wie kommender Verkehr Beleuchtung anfordert. Lichtgestaltungen inszenieren gegenüber der Lichtstruktur nur besondere Orte, Stadträume und Objekte, z.B. historisch bedeutsame Gebäude, wichtige Aufenthaltsräume und fernwirksame Stadtmarken. Die Ortsränder zur Landschaft oder zum Grünzug sind klar erkennbar durch niedrige Lichtpunkte mit geringer, in das Baugebiet hinein gerichteter Leuchtstärke. Landschaftsräume sind lichtgeschützte, mindestens aber lichtgeschonte Dunkelräume. Lichtgestalt im Nachtblick Die nachhaltige und nutzerorientierte Lichtgestalt der Region der Dämmerung ändert sich im Verlauf der eingetretenen Nacht deutlich: Die Lichtgestalt der Region wird mit voranschreitender Nachtzeit nach und nach im Wesentlichen nur noch von der Lichtstruktur, dem Grundlicht bestimmt. Lichtgestaltungen und Werbelicht verlöschen nach und nach – in Sommernächten später als in Winternächten. Lichtgestaltungen sind solar betrieben oder zumindest solar gesteuert. Sie verlöschen, wenn die tags am Standort gespeicherte Sonnenenergie verbraucht ist. Die Stadtzentren sind die Taktgeber der gesellschaftlich verabredeten Zeit. Große Industrieanlagen und Einkaufszentren leuchten nach innen nur noch entsprechend ihrer Betriebszeiten. Streulicht in den Nachthimmel und in die Dunkelzonen wird durch die besonderen Lichtrichtungen der Betriebsbeleuchtung vermieden. Die Landschaftsräume und -fragmente sind unbeleuchtet, sie grenzen als Dunkelräume die Stadtquartiere ab. Sie gliedern so die Stadt und erzeugen außerdem die Rhythmen der Straßenabschnitte. Die Dunkelräume sind die Taktgeber der biologischen Zeit. Die leuchtende Nachtgestalt der Region führt den Aufbau und die Gliederung einer polyzentrisch gegliederten Region eindrücklicher vor Augen als es im Tageslicht möglich wäre. Für den aufmerksamen Betrachter der Ebene unterstützt die mit Kunstlicht gegliederte Nachtgestalt Bewegungssequenzen, Aufenthalte und Aufenthaltsorte. Sie kann in besonderen Stadt- und Landmarken, aber auch in vergangenen Strukturen, die täglichen Veränderungen und den Vor-Schein zukünftig möglicher Entwicklungen zeigen. 5. FAZIT UND AUSBLICK
Die Grundvoraussetzungen für eine raumkonzeptionell zusammenführende Lichtgestaltung der Region sind günstig, das Interesse bei den regionalen und kommunalen Akteuren ist gewachsen und der Bedarf dazu bei den Kommunen war noch nie so deutlich formuliert. Dazu haben offensichtlich sowohl die in
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Erarbeitung und Umsetzung befindlichen Masterpläne bzw. lokale Lichtgestaltungskonzepte der Kommunen (z.B. Bergkamen, Bottrop, Bochum, CastropRauxel, Dortmund, Duisburg, Essen, Hamm, Oberhausen, Unna) beigetragen als auch die förderungspolitischen Möglichkeiten und Verpflichtungen zur Modernisierung des Stadtlichts. Dabei ist hingegen eine Beleuchtung zu fordern, die sich nicht – wie üblich – auf den Bereich des Technischen oder rein Dekorativen beschränkt, sondern einer spezifischen Raumkonstituierung und Aktivitätsstrukturierung der nächtlichen Stadt folgt, ohne eine gestalterische „Überanspruchung“ öffentlicher Räume hervorzurufen. Für die Region gehen wir einen Schritt weiter, denn mit diesem Beitrag wird hier ein bisher nur schwach „beleuchtetes“, gleichwohl deutlich sichtbares Themenfeld angesprochen. Die Nachtgestalt der Stadt, konstituierendes Element der Region, ist heute deutlicher als je zuvor Thema von Stadtgestaltung und Stadtentwicklung. Darüber hinaus ist das verbindende Element – das „Infrastrukturnetz“ – als Grundlage einer Lichtstruktur bereits vorhanden und dennoch planerisch wenig bewusst oder gar eingesetzt. Ebenso werden in regionaler Sicht nicht nur verbindende Qualitäten, sondern auch Problemlagen der einzelnen Nachtstädte und ihrer Zwischenräume erkennbar. Insbesondere der Landschaft als Dunkelzone wächst in diesem Zusammenhang eine bedeutende Aufgabe zu – nicht nur für die faktische räumliche Gliederung der Region bei Nacht, sondern auch für eine dauerhafte Stabilisierung der Lebensqualitäten ihrer Bewohner und eines naturräumlichen Ressourcenschutzes. Das Thema „Nachtgestalt der Region“ wird hier vorgelegt, weil regionale Lichtgestaltung gerade im Ruhrgebiet einen Beitrag zum vielgestaltigen Zusammenwachsen und Identifizieren der über 50 Städte geben kann. Das Ruhrgebiet ist hier als ganze Region ins Blickfeld gerückt. Es wird empfohlen, einen konzeptionellen Impuls regionaler Entwicklung zu formulieren. Damit dies geschehen kann, bedarf es aber einer zielorientierten Anstrengung nicht nur der beteiligten Akteure, der Städte und regionalen Institutionen. Auch die Nutzenden und „Beleuchteten“ müssen konsequent und regelmäßig einbezogen werden. Vor allem bedarf es eines für diesen Ansatz deutlich verbindenden und zugleich offenen und transparenten Planungsprozesses. Die hier vorgelegten Argumente und Bilder mögen in dieser Richtung wirken!
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HOLGER MADER, ALEXANDER STUBLI´ c, HEIKE WIERMANN
SIMULATIONEN ÜBER URBANE RÄUME Die Medienkünstler Holger Mader und Alexander Stubli´c sowie die Architektin Heike Wiermann arbeiten mit ihren Projekten im Spannungsfeld von Realität und Simulation und untersuchen in diesem Zusammenhang Mechanismen der Wahrnehmung. Indem die raumbildenden Mittel der Architektur um zeitgebundene Medien, wie Licht, Video und Ton, ergänzt werden, entstehen neue Zusammenhänge und weitere, komplexe Möglichkeiten des Raumerlebens. Die im Folgenden dokumentierten Projekte im urbanen Raum zeigen diese Auseinandersetzung exemplarisch.
TWISTS AND TRUNS. UNIQA TOWER WIEN,SEIT 2006
An der Fassade des Uniqa Towers in Wien wurde nachträglich ein LED-Raster angebracht. Dies ist ein weitmaschiges Netz von videofähigen LED-Punkten, die in die Fassadenzwischenräume integriert sind. Es entsteht ein Zusammenspiel von Architektur und der sich zeitlich ändernden Bespielung.
Abb.1 Uniqa Tower, Wien. Fotos: © Hervé Massard 2007 und MSW 2006.
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Das Gebäude wird nicht wie bei einer herkömmlichen Medienfassade zum Bildschirm oder Informationsträger, sondern integriert sich als abstrakte, in der Zeit modulierte architektonische Form in die Stadt. Die umlaufende Fassade besteht aus 160.000 LED-Punkten verteilt auf 7.000qm. Die Bespielung lagert sich zunächst an die Architektur an, löst sich aber im Verlauf der Choreographie mehrmals von der konkreten Ausformung des Gebäudes ab und etabliert neue Räume, die dynamisch ineinandergreifen. Dem Gebäude werden immer neue virtuelle Schichtungen hinzugefügt.
Abb.2 Uniqa Tower, Wien. Fotos: © Hervé Massard 2007 und MSW 2006.
FOLDED SPACE, SESC POMPÉIA, SÃO PAULO, 2008
Wie behauptet sich eine durch bewegtes Licht relativierte und neu aufgeladene Architektur? Der Torre Pompéia ist als Neubau von der Architektin Lina Bò Bardi in den 80er Jahren errichtet worden. Die Videoinstallation folded space nutzt die spannungsreiche Konstellation massiver Gebäudeteile und Brückenarrangements für eine temporäre Neuinterpretation. Die Projektion besteht aus abstrakten zweidimensionalen Strukturen, die sich in einer ca. 12-minütigen Choreographie im Raum formieren, Motivund Perspektivwechsel durchführen und dadurch in der Zeit veränderliche Räumlichkeit erzeugen. Die Videobespielung legt sich als neue Schicht auf das Gebäude, sie ‚fließt‘ über die Oberfläche des Hauses und ‚bricht‘ sich an ihren Kanten. Das Video wird im Raum ‚gefaltet‘, der einheitliche Bildraum in Frage
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gestellt. Die Installation erhält dadurch eine Ereignishaftigkeit, die – abhängig vom Betrachterwinkel und Zeitpunkt – spontane/unerwartete räumliche Konstellationen zulässt. Die aus der Computersimulation stammende Logik der projizierten Lichträume wird von der Haptik der realen Architektur ‚aufgebrochen‘ und umgedeutet. folded space ist als Experiment angelegt und geht der Frage nach, wie architektonische Formen in einer von medialen Ereignissen geprägten Wahrnehmung bestehen und eine urbane Bedeutung kommunizieren können.
Abb.3 und 4 São Paulo SESC SP Mostra de Artes 2008 Video-Installation am Torre Pompéia, São Paulo. Konzeption, Bespielung: Mader Stubli´c Wiermann. Fotos: © MSW 2008.
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CAM. CHELSEA ART MUSEUM, ENTWURF 2008/9, NEW YORK
Dem Gebäude wird eine Fassadenschicht mit Abstand vorgesetzt, die die Bauhöhen der benachbarten Gebäude mittels vertikal gesetzter LED Stäbe aufgreift. Da diese Technik sehr dünne Querschnitte erlaubt, legt sich die neue Schicht wie eine transparente Hülle um das Gebäude. Die Bespielung sieht abstrakte Strukturen und Raster vor, die jene der alte Fassade erweitern, teilweise überlagern und sie dann wieder zu Tage treten lassen. In der Choreographie werden Strukturen entwickelt, die durch die Knickung an der Ecke Dreidimensionalität ausbilden können. Durch die räumliche Trennung der alten und der neuen Schicht behalten beide Fassadenteile ihre Eigenständigkeit und erlauben je nach Bespielung und Betrachterstandpunkt immer neue räumliche Konstellationen.
Abb.5-7 Auftraggeber: Chelsea Art Museum/Miotte foundation. Realisierung war geplant für 2010. Fotos: © Aubrey Mayer 2008.
Die neue Fassade ersetzt nicht die alte, sondern spielt mit deren Oberfläche und Volumen. Das Innere des Museums kann auf neue Art und Weise nach außen treten, direkt in den Stadtraum wirken und mit dem neuen architektonischen Volumen eine stärkere räumliche Präsenz in der Stadt erreichen.
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SAME AS IT NEVER WAS. NEUE GALERIE HBK SAAR, 2010
Die Neue Galerie der Hochschule für Bildende Kunst in Saarbrücken ist am Rande des weitgehend barocken Ludwigsplatzes gelegen. Der Aufbau eines Geschosses auf das alte Seitengebäude wird als Galerie genutzt. Diese öffnet sich über eine großflächig verglaste Raumecke nach zwei Seiten. Tagsüber ist so der Einblick in die Galerie gegeben. Bei Einbruch der Dunkelheit fährt eine Rückprofolie in Form eines Vorhangs vollflächig hinter die Scheiben. Fünf synchron geschaltete Videoprojektoren erzeugen ein nahtloses Bild über die gesamte Fläche. Der Blick nach innen wandelt sich zum Blick auf die Projektion.
Die Bespielung same as it never was geht auf die räumlichen Bedingungen der Galerie und der Ecksituation am Platz ein. Verschiedene im Computer generierte Raumkonstellationen werden in die vorhandene Architektur ‚eingebaut‘, die Projektionen liegen passgenau auf der Fläche. Dabei werden vorhandene perspektivische Linien aufgegriffen und neue etabliert. Wichtig hierbei ist die relativ fixe Position, die der Betrachter im Wunsch nach Überblick automatisch so einnimmt, dass er das Geschehen immer im Bezug zur Ecke erlebt. Von dort aus kann die reale Ecksituation neue Richtungen in den virtuellen Räumen glaubhaft etablieren. Im Laufe einer Verarbeitung werden die räumlichen
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Elemente zerschnitten, geschichtet, und die sich ergebenden Fragmente neu collagiert. Durch die Fragmentierung erfahren die raumerzeugenden Aspekte eine Neuinterpretation. Im Virtuellen platzierte Lichtquellen erzeugen Schatten und alternative Raumstimmungen.
Abb.8-10 HBK Saar, Saarbrücken. 5 Videoprojektoren, Computersteuerung, streaming sound: Thomas A. Troge. Fotos: © MSW 2010.
IN AN OTHER LIGHT, GLOW, EINDHOVEN, 2009
Im Rahmen von GLOW, dem Forum für Licht in Kunst und Architektur, das vom 6. bis 15. November 2009 in Eindhoven stattfand, realisierten Mader Stubli´c Wiermann eine Lichtintervention an dem Hooghuis in der Stadtmitte. Die klare kubische Bauform des Gebäudes wird zweiseitig fast über die gesamte Höhe mit computergenerierten Videoprojektionen bespielt. Zunächst lehnt sich die Videobespielung an die bestehende Architektur an und schafft über abstrakte und nüchtern bewegte Licht-Geometrien eine ins
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Virtuelle erweiterte Realität. Die geometrischen Formen simulieren ein Lichtund Schattenspiel analog zum realen Gebäude. Es wird eine Dreidimensionalität in neuer Qualität geschaffen – Realraum und virtueller Raum ergänzen sich hierbei. Im weiteren Verlauf entfernt sich die Bespielung von der vorhandenen Geometrie des Gebäudes, die Linien verkippen, sie verkrümmen sich, wie handgemalt, zwischen den Fensterbändern bis hin zu expressiven, an Graffiti erinnernde Strukturen/Sequenzen. Die Bespielung wird gestenreich und zeichenhaft, sie formt keine Räumlichkeiten mehr aus. Das Licht wird umgedeutet vom Volumen formenden ‚Bau‘-Element zum narrativen Zeichenträger auf der Oberfläche bis schließlich zur reinen flächigen Ausleuchtung der Fassade. In diesem Licht taucht der spannungerzeugende Schatten eines (computergenerierten) Cowboys auf. Ein Schuss aus dem Revolver lässt ‚Licht‘ und ‚Lichtbild‘ in Scherben fallen. Licht materialisiert sich in diesem kurzen Moment des Zerfallens. Zurück bleibt eine Hochhausfassade, die nur von sich erzählt, bevor der Videoloop neu startet.
Abb.11-14 Rahmen: GLOW, Forum für Licht in Kunst und Architektur, 6.-15.11.2009. Entwurf und Realisierung: Mader Stubli´c Wiermann. Kuratoren: Bettina Pelz, Tom Groll. Ort: Hooghuis, Eindhoven, Niederlande. Technik: 4 Videoprojektoren, 15.000 ansi-Lumen und Computersynchronisation. Fotos: © MSW 2009.
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Die Installation nutzt sowohl abstrakte geometrische Formen als auch individuelle, zeichenhafte Strukturen. Zwischen Raum und Fläche, Abstraktion und Erzählung, Simulation und Verweis wird ein Bogen gespannt. Es entstehen diverse Mischungen von Realität und Simulation – auf der Suche nach verschiedenen Qualitäten des Lichts. EXPANDED SPACE, UN-KLIMAKONFERENZ (COP15), KOPENHAGEN, 2009
Die zwei großen Kraftwerksgebäude sind auf der stadtzugewandten Seite mit Videoprojektionen bespielt. Beide Projektionsflächen befinden sich in einer Ebene; die Bespielungen sind Teil eines zusammenhängenden Bildes. Durch die pure Dimension des Videobildes im Zusammenspiel mit der archetypischen Form der Gebäude erlangt die Installation architektonische Dimension. Sie definiert den Um-Raum neu und wird zu einem weithin sichtbaren Zeichen. Dieses wird durch die raumsimulierende Video-Bespielung in einer neuen dritten Dimension verankert. Eine Ausweitung in den realen dreidimensionalen StadtRaum erfährt die Installation auch auf einer anderen Ebene: Mobile Einheiten verteilen das Zeichen. Dieser Teil der Installation hat den Charakter einer Aufführung, die die Stadt als Bühne nutzt und die zeichenhafte Medien-Architektur räumlich greifbar macht.
Video-Bespielung und Wind. Die Grund-Bespielung besteht aus einem vorgefertigten Film, der eine Kamerafahrt durch abstrakte, computergenerierte Räume zeigt. In Abhängigkeit von der realen Windgeschwindigkeit vor Ort gerät dieser zunächst auf den Projektionsflächen haftende Film in Bewegung und löst sich – wie ein überdimensioniertes, im Wind flatterndes Tuch – ab. Projektionsfläche und Filmebene sind nicht mehr deckungsgleich. Der Film wird zum Material auf der Oberfläche der Gebäude. Die virtuellen Räume des Filmes werden physisch beeinflusst von dem Naturphänomen Wind.
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Mobile Einheiten und Wegpunkte. Mehrere LKWs sind zu mobilen Einheiten umgebaut. Diese zeigen auf ihrer Rückfront synchron zu den beiden Großprojektionen die Grund-Bespielung, jedoch aus einer jeweils eigenen Kameraperspektive. Die mobilen Einheiten fahren nach einem festgelegten Muster im Stadtraum und treffen sich an bestimmten Wegpunkten. Diese sind für Besucher definierte Orte, an denen das Zusammenspiel der großen Projektionen und der mobilen Einheiten erfahren wird.
Abb.15-19 Mobile Einheiten erweitern die Installation über das gesamte Industriegebiet. Videoinstallation auf dem Avedøre Kraftwerk und in dem umgebenden Industriegebiet Avedøre Holme, Kopenhagen, 07.-18.12.2009, Teil des Lichtfestivals LysLyd, anlässlich der UN-Klimakonferenz (COP 15). Fotos: © MSW 2009.
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REFLECTION. TWILIGHT ZONE RUHR.2010. VON DER LINDEN, MÜHLHEIM.
Die Fenster des Schaufensterraumes werden flächendeckend mit Videoprojektionen bespielt. Dazu wird innen eine Rückprojektionsfolie aufgebracht und die im Inneren befindlichen drei Projektoren über eine Mediensteuerung synchronisiert. Von außen ergibt sich ein zusammenhängendes Bild. Die architektonische Umgebung wird punktuell ausgeleuchtet. In einer mit der Videobespielung abgestimmten Choreographie dimmen einzelne Leuchten zeitweise ab.
Im 3D-Programm werden virtuelle Raumkonstellationen entwickelt. Dabei sind Teile der vorgefundenen Architektur bzw. städtebauliche Details der realen Umgebung im Virtuellen nachgebaut und in einen neuen räumlichen Kontext gestellt. Es entstehen mögliche und unmögliche virtuelle Räume, die über die Projektion in das reale Gebäude ‚eingebaut‘ werden. Veränderliche
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Lichtquellen bewegen sich im Virtuellen durch die (projizierten) Räume und beleuchten sie punktuell. So wird die Beziehung zur Umgebung unmittelbar hergestellt. In abgedimmten Szenen und dunklen Bereichen des Videobildes spiegeln sich die beleuchteten Teile des Umraumes in der Scheibe.
Eine Toninstallation dringt aus dem Raum-Inneren und unterstützt oder konterkariert die aufgebaute Stimmung. Das Fenster als Mittler zwischen Innen und Außen wird hier zum Interface zwischen Realität und Simulation. Realer Raum, Spiegelbild und virtuelle Szenarien liegen an der Schnittstelle – dem in die reale Umgebung eingebetteten Fenster – in mehreren Schichten übereinander. Die Installation verwendet Video nicht narrativ, Film wird als ‚Baumaterial‘ eingesetzt. Virtuelle Räume werden als Teil der Architektur der Stadt etabliert. Sie können, wie Architektur, Träger von Utopien und Träumen sein. Sie können Realität erweitern.
Abb.20-24 Videoprojektionen auf die Schaufenster des Möbelgeschäfts von der Linden in Mülheim an der Ruhr, 17.09.-19.09.2010 im Rahmen von Twilight Zone, RUHR.2010.
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FLOWING SPACE. TWILIGHT ZONE RUHR.2010. STADTHALLE, MÜHLHEIM.
Vor der Stadthalle in Mülheim befindet sich eine großzügige abgestufte Platzund Treppenanlage, die zwischen Gebäude und Umraum vermittelt. Sie ‚gräbt‘ sich förmlich in das Gebäudevolumen hinein und ‚ergießt‘ sich in einer großen Fläche in unmittelbarer Nähe des Flusses. Der Aspekt des ‚Fließens‘ des Raumes soll herausgestellt werden und damit sein verbindender Charakter. Dazu wird das Naturphänomen Wasser als ironisches Zitat eingesetzt. Wasser als verbindendes und vermittelndes Element – das Klischee des Mediums und die Strenge der Architektur gehen eine neue Symbiose ein. Die Architektur der Treppenanlage wird im Computer als 3D-Modell nachgebaut. Wasser in verschiedenen Qualitäten, Fließgeschwindigkeiten, Mengen und Richtungen fließt – entsprechend der Architektur – über die (virtuelle) Anlage und bricht sich an ihren Kanten. Einzelne, besonders Architektur
Abb.25 und 26 Videoprojektionen auf dem Platz vor der Stadthalle in Mülheim an der Ruhr, 17.09.-19.09.2010 im Rahmen von Twilight Zone, RUHR.2010. Fotos: © MSW 2010.
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beschreibende-(Wasser-)Bereiche werden aus dem virtuellen Raum deckungsgleich über die reale Anlage gelegt. Kaskadenförmig und historisierend verbinden sich die einzelnen projizierten Abschnitte zu einer Gesamtanlage, die in Verbindung mit der kulturell genutzten Stadthalle in ironischer Weise Fragen aufwirft, zur Präsenz und zum Inhalt realer Räume, zu kulturellen Räumen heute und zu Räumen allgemein. 4D HOUSE. TWILIGHT ZONE RUHR.2010. JÜDISCHES GEMEINDEZENTRUM, DUISBURG.
Die ausgreifenden, konzentrisch angelegten Bauteile sowie die angrenzenden weißen Wandflächen des von Zvi Hecker geplanten symbolvollen Gebäudes werden mit Videoprojektionen bespielt. Die Einzelprojektionen sind synchronisiert und so beschnitten, dass sie genau auf die unregelmäßigen Flächen der Gebäudeteile passen. Die Bespielung besteht aus digital erstellten, abstrakten Strukturen, die auf verschiedene Art und Weise aus dem Licht- und Schattenspiel und dem Spannungsgehalt des Gebäudes entwickelt sind. Das Grundmotiv der Bespielung kann mit dem Begriff ‚Reibung‘ umschrieben werden. Aus sich überlagernden und gegeneinander bewegenden
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feinen Strukturen entstehen fast immaterielle Moirées, die wie ein Spannungsfeld wirken und neue Energien freisetzen. Großdimensionierte Linien- und Rasterkonstellationen werden diesen Moirées entgegengesetzt und überlagert. Sie verdrehen und bewegen sich gegenläufig auf den verschiedenen Hausteilen; sie lehnen sich an das Licht- und Schattenspiel der Architektur an.
Abb.27-30 7 Videoprojektionen auf Teile des Jüdischen Gemeindezentrums Duisburg, 24.09.-26.09.2010 im Rahmen von Twilight Zone, RUHR.2010. Fotos: 27-29 © Werner Hannappel 2010. Foto 30: © MSW 2010.
Das Gebäude ist maßstabsgetreu in 3D nachgebaut und mit den beschriebenen Strukturen bespielt. Licht-Spots im virtuellen Raum erzeugen bewegte Schatten auf dem simulierten Gebäude und legen sich über die abstrakten Strukturen. Die so bespielte Architektur wird (noch im 3D-Raum) aus einzelnen
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feststehenden Perspektiven betrachtet und so ein Rohmaterial gewonnen, das auf verschiedene Weise gedreht werden kann – um schließlich wieder auf dem Gebäude zu liegen. Über mehrere Zwischenschritte wird diese Choreographie letztendlich deckungsgleich auf das Gebäude des Gemeindezentrums gebracht. Schattenbilder des Gebäudes in der blauen Stunde sowie Schattenstrukturen, die durch die Projektionen selbst hervorgerufen werden, kommen hinzu. Die ausladende Form der Architektur läßt viele Durchblicke zu und damit sehr unterschiedliche Kombinationen der verschiedenen Strukturen. Das Haus erzeugt so auf eigene Art und Weise räumliche Collagen. Es interpretiert das Video und lässt, je nach Bewegung des Betrachters, ‚spontane‘ Konstellationen zu. Die Entwicklung der Choreographie wechselt zwischen realem und virtuellem Raum, sie durchläuft verschiedene Stadien von Flächigkeit und Dreidimensionalität, von Abbild und Zustand. Da die Bespielung aus der Form des Gebäudes selbst sowie seinem Spannungsgehalt entwickelt ist, sind die LichtStrukturen kein Abbild, sondern werden durch die vorhandene Präsenz erzeugt – die dem Gebäude innewohnende Dynamik wird auf der Oberfläche visualisiert. Die Installation interpretiert Video als Licht. Die Bespielung wird erst durch das Licht sichtbar (und durch Schatten unsichtbar) und liegt in verschiedenen Schichten auf und zwischen dem Gebäude. Die mit weißem Licht beleuchtete Oberfläche selbst ist ebenfalls eine ‚Bespielung‘.
Die Installation thematisiert die Schnittstelle zwischen Bespielung und Gebäude, Form und Inhalt, zwischen Simulation und Realität.
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BERNADETTE FÜLSCHER
KUNSTSTADT
ÜBER DIE INSZENIERTHEIT VON STÄDTEN MIT KÜNSTLERISCHEN MITTELN
Städte – sowie das Städtische oder Urbane als spezifische Eigenschaft – erfreuen sich seit dem späten 20. Jahrhundert in Europa neuer Beliebtheit. Manche Kleinstadt und vor allem die Metropolen gelten als attraktive Orte für unterschiedliche Bereiche wie Arbeit, Freizeit, Kultur, Tourismus und Wohnen. Dabei hat sich unter den Städten ein Wettbewerb um Standortvorteile entwickelt, der um finanzkräftige Akteure – um Investoren, Steuerzahler und Konsumenten – buhlt. Diese Entwicklung ist etwa zeitgleich mit einem bemerkenswerten Aufschwung von Kunst und Kultur erfolgt, die beide in der urbanen Gesellschaft an Bedeutung gewonnen haben und zu einem ökonomisch relevanten Faktor geworden sind. Der Wirtschafts- und Sozialgeograf Philipp Klaus spricht sodann von einer „Ökonomisierung der Kultur“, welche mit einer „Kulturalisierung der Ökonomie“ einhergeht: Zum einen bestimmen ökonomische Werte die Kultur, zum anderen nehmen kulturelle Werte in der Wirtschaft eine wichtige Rolle ein.1 Stadt, Kunst und Kultur haben heute besonderen Stellenwert. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass auch Architektur, Außenraumgestaltung und Kunst im öffentlichen Raum, die das ästhetische Erscheinen unserer Städte wesentlich mit bestimmen, erhöhte Aufmerksamkeit genießen. Nicht nur das Interesse und die Wertschätzung von Bevölkerung und Behörden haben diesbezüglich zugenommen, sondern auch die ökonomische Relevanz: Architektur, Design, Landschaftsarchitektur oder Kunst kommen gezielt zum Einsatz, wenn Stadtquartiere und öffentliche Räume aufgewertet werden und wenn es darum geht, ihre ‚Standortattraktivität‘ zu erhöhen. Dabei wird davon profitiert, dass die ästhetischen und kulturellen Seiten der genannten Disziplinen in der Gesellschaft zunehmend positiv konnotiert sind: Städtische Quartiere sollen als besonders ‚attraktiv‘, ‚hochwertig‘, ‚schön‘, ‚spannend‘ und ‚lebenswert‘ wahrgenommen werden und die ‚Lebensqualität‘ in den Augen der Bevölkerung steigen. Ob der Erfolg solcher Tendenzen nachhaltig ist, sei hier dahingestellt. Im Zentrum des Interesses stehen die strukturellen Eigenschaften von gestalterischen Interventionen, die erlauben, dass auf einfache Weise positive Assoziationen generiert und ein Mehrwert in individueller und ökonomischer Hinsicht erzeugt werden kann. Bei meinen Überlegungen gehe ich davon aus, dass das Moment 1 Philipp Klaus: Stadt, Kultur, Innovation. Kulturwirtschaft und kreative innovative Kleinstunternehmen
in der Stadt Zürich. Zürich 2006, S.39-73, hier insbes. S.39 und S.55.
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der Inszenierung wesentlich dazu beiträgt, dass Architektur, Design und Kunst heute in Städten so erfolgreich eingesetzt werden. Ich werde sodann darlegen, was ich unter Inszenierung verstehe, welche Merkmale ich damit in Verbindung bringe und inwiefern diese Eigenschaften für die Gestaltung unserer urbanen Umwelt und für unsere Wahrnehmung dieser gestalteten Umwelt bezeichnend sein könnten. Meine Thesen möchte ich anschließend anhand von zwei Beispielen verdeutlichen. Das erste Beispiel bezieht sich auf die im Jahr 2002 in vier kleineren Schweizer Städten angelegte Landesausstellung: Mehrere hundert Vertreter aus den Bereichen Architektur, Design, Kunst und Szenografie hatten für die „Expo.02“ unter dem Motto „Szenografie“ neue Formen von Innen- und Außenräumen erprobt und Räume geschaffen, deren ausgeprägte Inszeniertheit mich beeindruckte. Das zweite Beispiel widmet sich der Stadt Zürich: Auch hier sind seit der jüngsten Jahrhundertwende gestalterische Neuerungen zu beobachten, die stark auf Inszenierungen basieren – namentlich bei der Außenraumgestaltung, bei Neubauten sowie bei künstlerischen Interventionen. Anhand der Kunstwerke im öffentlichen Raum, die im Gegensatz zur szenografisch angelegten Expo.02 während mehreren Jahrzehnten und Jahrhunderten entstanden sind, möchte ich aufzeigen, weshalb aus kunsthistorischer Sicht Inszenierungsformen im 20. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle gespielt haben könnten. Abschließend will ich diskutieren, wo die Möglichkeiten und Grenzen der heutigen ‚Kunststadt‘ liegen. INSZENIERUNGSMÖGLICHKEITEN IN STÄDTISCHEN RÄUMEN
Der Begriff „Inszenierung“ feiert im deutschen Sprachraum seit den 1990er Jahren großen Erfolg. Verschiedentlich wurde versucht, den Begriff zu definieren und jene Prozesse oder Zustände zu umschreiben, die als „Inszenierungen“ bezeichnet werden.2 Dabei blieb weitgehend unberücksichtigt, dass Inszenierungen in grundlegend verschiedenen Formen auftreten. Im Folgenden möchte ich sodann eine Unterscheidung von vier Inszenierungstypen vorschlagen, die einerseits Aufschluss geben über die variierenden Eigenschaften von Inszenierungen, andererseits aber auch über ihre Gemeinsamkeiten sowie über die
2 Vgl. exemplarisch Erika Fischer-Lichte: Inszenierung und Theatralität. In: Herbert Willems, Martin
Jurga (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998, S.8190; Josef Früchtl, Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens. In: Dies. (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main 2001, S.9-47; Joachim Klein, Barbara Wüsthoff-Schäfer: Inszenierung an Museen und ihre Wirkung auf Besucher, Berlin 1990; Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, a.a.O., S.48-62.
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dahinterstehende Handlung des Inszenierens.3 Festzuhalten ist zunächst, dass wir stets ‚etwas‘ inszenieren – dass jede Inszenierung also ein Objekt erfordert, das gegenständlich oder abstrakt sein kann. Dieses Objekt wird durch die Inszenierung verändert: Es ist ‚nach‘ seiner Inszenierung ein anderes als ‚vor‘ seiner Inszenierung – es ist ‚nach‘ seiner Inszenierung ‚inszeniert‘, während es vor der Inszenierung „noch nicht“ inszeniert war. Bei einer Inszenierung wird ein Objekt also auf eine noch unbekannte Art verändert. Den verschiedenen strukturellen Möglichkeiten, ein Objekt in seiner Form oder seinem Inhalt zu beeinflussen, entsprechen die unterschiedlichen Formen des Inszenierens. Nehmen wir als erstes Beispiel die Gegenstände im Museum, die wir als ‚inszeniert‘ bezeichnen, weil sie auf den Sockel gestellt, von anderen Objekten weggerückt oder auf besondere Art beleuchtet werden. Diese Exponate bezeichnen wir als ‚inszeniert‘, weil ihnen durch die Inszenierung besondere Bedeutung verliehen wird. Der Ausstellungsmacher inszeniert ein Ausstellungsgut, damit das Publikum erkennt, dass es sich um ein wichtiges, wertvolles, besonderes oder einzigartiges Exponat handelt. Solche Inszenierungsformen, die hier als effektvolle Präsentation bezeichnet werden, spielen auch bei der Gestaltung von Städten eine zentrale Rolle. Ein zweites verbreitetes Beispiel für Inszenierungen sind jene aus dem Theaterkontext. Ein Regisseur ‚inszeniert‘ ein Theaterstück, indem er auf die schriftliche Vorlage zurückgreift und ihr schließlich auf der Bühne zu einer neuen Form verhilft. So beispielsweise Frank Castorfs und Bert Neumanns Inszenierung Berlin Alexanderplatz, die 2001 in Zürich uraufgeführt wurde und auf Alfred Döblins Roman von 1929 zurückgreift. Der Begriff ‚Inszenierung‘ meint in diesem Zusammenhang eine Übersetzung oder Übertragung in eine neue Form. Auch dieser Inszenierungstyp ist inzwischen in unseren Städten anzutreffen – nämlich dann, wenn die Entwicklung von Stadtquartieren auf einer thematischen, bildhaften oder narrativen Grundlage basiert und vorgegangen wird wie bei einem Themenpark. Bei Fragen zu Stadtentwicklung und Stadtmarketing lassen sich Städte (wie zum Beispiel Zürich) von ‚Storyexperten‘ beraten, die beteuern, dass es „im Prinzip egal [sei], ob man Turnschuhe oder eine Stadt verkauft, Hauptsache, die Story stimmt“.4 Seit jüngerer Zeit wird der Begriff ‚Inszenierung‘ für ein drittes Phänomen verwendet: Ist im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau von Baudenkmälern 3 Die Untersuchung des Phänomens ‚Inszenierung‘ und seiner verschiedenen Ausformulierungen ist im Rahmen meiner Dissertation an der ETH erfolgt und publiziert in: Bernadette Fülscher: Inszenierungstypen. In: Dies.: Gebaute Bilder – künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02, Baden 2009, S.32-43. 4 Aussage von Thomas Sevcik in Finn Canonica: Die Stadtmaschine. In: Das Magazin, 29, Zürich 2003, www.dasmagazin.ch/index.php/die-stadtmaschine (11.11.2010).
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– etwa beim Stadtschloss in Braunschweig – von der ‚Inszenierung‘ des Stadtschlosses die Rede, so wird darauf angesprochen, dass das ‚neue‘ Stadtschloss mit dem ursprünglichen, dem ‚Original‘, nicht identisch ist. Das inszenierte Stadtschloss scheint das ursprüngliche Stadtschloss zu simulieren. Auch wenn die Stadtverwaltung von Paris in den Sommermonaten eine Straße entlang der Seine für den Autoverkehr sperrt und unter dem Titel Paris Plage (Paris Strand) eine Strandsituation einrichtet, ist von „Strandinszenierung“ die Rede, bei der Strandatmosphäre nicht nur gespielt, sondern auch gelebt wird.5 (Abb.1)
Abb.1 Strandinszenierung von Paris Plage im Sommer 2003.
Folgen wir dem französischen Philosophen und Soziologen Jean Baudrillard, so bringen solche Simulationen ein besonderes (und aktuelles) Verhältnis zwischen Realität und Bild zum Ausdruck. Laut Baudrillards 1981 formulierter Simulakrumtheorie hat sich das Verhältnis zwischen Realität und Bild im Laufe der Jahrhunderte grundlegend verändert und lässt sich heute in vier Phasen unterteilen.6 Die erste und zweite Phase liegen in einer Zeit, in der ‚Realität‘ für den Menschen stark von einem religiös bestimmten Glauben geprägt war: Baudrillard schrieb von einer „réalité profonde“ – einer „tiefen“ und von religiösem Glauben geprägten Realität, in der die Dinge und Ereignisse des Alltags entsprechende Bedeutung hatten. Reale Bilder seien dabei zunächst als „Verkörperungen“ und später dann als „Abbilder“ von etwas anderem verstanden worden. Mit der Aufklärung, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Errungenschaften ist laut Baudrillard der Glauben an eine „réalité profonde“ allerdings 5 Vgl. exemplarisch Stefanie Kahls: Stadtstrände. Südseefeeling in deutschen Großstädten. Hamburg
2009, S.19. Jean Baudrillard: Simulacres et simulation. Paris 1981, insbes. S.16f.
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nach und nach zerfallen; fortan habe der Mensch die Realität des Alltags selbst zu lenken und zu beherrschen versucht. In diese Zeit fallen gemäß Baudrillard die Phasen drei und vier: Die Menschen beginnen Realität zunehmend selber zu schaffen, indem sie sich an einer vermeintlich noch existierenden „réalité profonde“ orientieren und diese simulieren. Wenn man aber Realität zunehmend simuliere, so würde sie mehr und mehr „aufgebraucht“ werden – bis schließlich keine simulierbaren „Originale“ mehr zur Verfügung stünden und nur noch Simulationen simuliert werden können. Dies entspreche dann der vierten Phase – der Phase der Simulakren und der Hyperrealität. In seinem Essay Generic City („Die Stadt ohne Eigenschaften“) griff der holländische Architekt Rem Koolhaas 1994 implizit auf Baudrillards Theorie zurück: Auf unserer ständigen Suche nach Identität, die „von physischer Substanz, von Geschichtlichem, vom Kontext und von der Realität determiniert“ werde, würden wir Vergangenheit aufbrauchen und dabei jede noch bestehende „Identität zu bedeutungslosem Staub zermalmen“.7 Folge davon sei die Entwicklung von Städten wie Paris: „Paris kann nur noch ‚pariserischer‘ werden – es ist bereits auf dem Weg zu einem Hyper-Paris, einer auf Hochglanz polierten Karikatur.“8 Simuliert (und damit auf eine spezifische Weise auch ‚inszeniert‘) wird in der Hauptstadt Frankreichs aber nicht einfach nur vergangene Zeit: Im Zentrum des Designs von Außen- und Innenräumen steht vielmehr der positiv konnotierte Mythos einer vergangenen Zeit. Damit löst sich einstiger Sinn und Bedeutung vom materiellen Träger – und das nunmehr sinnentleerte Zeichen wird gemäß Baudrillards Theorie zu einem „frei flottierenden Signifikanten“, dem sich beliebig neue Inhalte aufpropfen lassen. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit einer vierten Form von Inszenierung, die sich anschaulich anhand von Edouard François’ Intervention am Hôtel Fouquet’s Barrière erläutern lässt (Abb.2). Das 2006 umgebaute Luxushotel in der Nähe der Champs-Elysées wirkt inszeniert, weil die in Beton gegossene und vor den bestehenden Baukörper gehängte Fassade rein formal auf die typischen Pariser Blockrandbauten der Haussmann-Ära Bezug nimmt, als Kulisse mit blinden Fenstern aber selbst dem Mythos einer vergangenen Zeit ironisch begegnet: Wir sehen hier die Simulation einer Simulation, die Inszenierung einer Inszenierung oder eine künstliche Konstruktion, die auf keiner direkten Vorlage mehr beruht. Insgesamt lassen sich in Städten sodann folgende vier Formen von Inszenierungen antreffen: 7
Rem Koolhaas: Die Stadt ohne Eigenschaften. In: Arch+, 132/28, Aachen 1996 (engl. 1994), S.18-27, hier S.18. 8 Ebd.
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Abb.2 Hôtel Fouquet’s Barrière (2006) in der Nähe der Champs-Elysées in Paris von Edouard François (Umbau).
1. Inszenierungen städtischer Elemente, die effektvoll hervorgehoben werden (eine effektvolle Präsentation mit neuer Bedeutung); 2. Inszenierungen städtischer Räume, die gezielt ein „Image“ oder eine „Story“ übersetzen (eine Übertragung eines Inhalts in eine neue Form); 3. Inszenierungen städtischer Räume, die formal und inhaltlich einen anderen Raum simulieren (eine Simulation); 4. Inszenierungen städtischer Räume, die Teil einer gezielt angelegten, neuen künstlichen Realität sind, welche nur noch locker und assoziativ mit einer inhaltlichen Bedeutung verbunden ist (eine künstliche Konstruktion ohne Vorlage). Bemerkenswert bei dieser Aufstellung verschiedener Inszenierungsformen ist, dass sich die verschiedenen Inszenierungsbegriffe seit dem 17. Jahrhundert in der obigen Reihenfolge entwickelt haben. Dabei hat das jeweils neue Verständnis von ‚Inszenierung‘ das bisherige nicht abgelöst, sondern vielmehr ergänzt – so dass wir heute nicht nur Inszenierungen im vierten Sinne antreffen, sondern alle vier Inszenierungstypen nebeneinander. Ebenfalls offensichtlich sind die Parallelen dieser Aufstellung zu Baudrillards Vier-Phasen-Modell, das vom Wandel des Weltbildes ausgeht. SZENOGRAFISCHE RÄUME – DAS BEISPIEL DER EXPO.02
Aufschlussreich sind weiter die Ähnlichkeiten zwischen der Entwicklung verschiedener Inszenierungsformen und der Gestaltungsdisziplin Szenografie im späteren 20. Jahrhundert. Szenografien lassen sich als ein spezifisches Mit- und
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Nebeneinander verschiedener Inszenierungsformen betrachten, die alle relativ komplex ineinander verschachtelt und aufeinander aufgebaut sind.9 Hinweise dazu liefert der Blick auf die Begriffsgeschichte. Im 4. Jahrhundert v. Chr., als das altgriechische „skenographia“ im Zusammenhang mit dem griechischen Theater geprägt wurde, stand der Begriff für das Bühnenbild.10 Etwa drei Jahrhunderte später übertrug ihn der Architekturtheoretiker Vitruv ins Lateinische und erweiterte die Bedeutung von „scaenographia“ auf die Disziplin, ein Bühnenbild zu entwerfen.11 Dieses breite Verständnis einer Szenografie, die nicht an konkrete gestalterische Mittel gebunden ist, hat sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt: Wenn heute von Szenografie im Film, in der Literatur (etwa bei Roland Barthes), in Ausstellungen oder als Vorstellungsbild in unseren Köpfen (Umberto Eco) die Rede ist, so handelt es sich stets um erlebbare oder erlebte Darstellungen von etwas Abwesendem – die dadurch zustande kommen, dass sie das Abwesende auf unterschiedliche Art und Weise inszenieren.12 In den späteren 1990er Jahren hat sich ‚Szenografie‘ im deutschsprachigen Raum als Begriff für eine besondere Art thematischer, bildhafter und narrativer Räume durchgesetzt. Wegweisend waren die Vorbereitungen für die EXPO 2000 in Hannover und die Expo.02, die Schweizerische Landesausstellung von 2002: Beide Großausstellungen waren explizit szenografisch angelegt und die beteiligten Gestalter verfolgten bei der Erstellung von Innen- und Außenräumen ähnliche Entwurfsstrategien. Im Fall der Expo.02 war es die künstlerische Leitung, die den Ausschlag für die szenografische Gestaltung gab.13 Für die Konzeption thematischer Räume gab sie ein Themenfeld und eine knappe Botschaft vor und verlangte, dass die Gestalter in einem ersten Schritt dazu ein passendes „Raumbild“ sowie ein „narratives Szenario“ entwickelten. In einem zweiten Schritt 9 Die Beziehung von Szenografie und Inszenierungsformen sind dargelegt in Fülscher, Gebaute Bilder
– künstliche Welten, a.a.O., S.29-32 und S.164-175. 10 Aristoteles: Poetik. Stuttgart 1994 (4.Jh.v.Chr.), S.14. Zum Begriff ‚Szenografie‘ vgl. Pedro Azara:
Architekten inszenieren: Das Spiel von Licht und Schatten. In: Pedro Azara, Carlos Guri Harth: Bühnenund Ausstellungs-Architektur, Stuttgart/München 2000 (span. 1999), S.6-29. Zur Geschichte des Begriffs ‚Szenografie‘ vgl. Fülscher, Gebaute Bilder – künstliche Welten, a.a.O., S.13-29. 11 Vitruvius/Vitruv: De Architectura Libri decem / Zehn Bücher über Architektur. Darmstadt 1964, S.38 u. S.13. Zur Vitruvschen Übersetzung des Begriffs ‚Szenografie‘ vgl. Werner Oechslin: Zwischen Malerei und Architektur. Künstlichkeit und Eigenständigkeit der Bühnenbildkunst. In: Daidalos 14, Berlin 1984, S.21-35, hier S.21. 12 Zur Szenografie im Film vgl. exemplarisch Xavier de France: Eléments de scénographie du cinéma. Paris 1989; James Monaco: Film und neue Medien. Lexikon der Fachbegriffe, Reinbek 2000, S.160. Zur Szenografie in der Literaturwissenschaft vgl. Roland Barthes: Plaisir / écriture / lecture. Propos recueillis par Jean Ristat (1972). In: Ders.: Le grain de la voix. Entretiens 1962-1980, Paris 1981, S.149-164, insbes. S.159. Zur Szenografie als Vorstellungsbild in unseren Köpfen vgl. Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München u.a. 1987, S.99. 13 Zur Szenografie an der Expo.02 und zur Entstehungsgeschichte dieser sechsten Schweizerischen Landesausstellung, die zwischen Mai und Oktober 2002 im Westschweizer Drei-Seen-Land stattfand, vgl. Fülscher, Gebaute Bilder – künstliche Welten, a.a.O.
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sollten Raumbild und Szenario mit gestalterischen Mitteln sowie unter Einbezug von Personal und Besucher realisiert und aktualisiert werden: Die Raumbilder wurden physisch gebaut und die Szenarien wie in einem Rollenspiel eins zu eins gespielt und erlebt. Auf diese Weise waren an der Expo.02 die Innenräume der Ausstellungspavillons ebenso gestaltet wie die weit angelegten Außenräume der Ausstellungsgelände, deren Vorläufer sich in den Themenparks der Nachkriegszeit finden; sie dürften den Blick der hiesigen Gestalter für eine inszenierte und szenografische Außenraumgestaltung nachhaltig beeinflusst haben. Auffällig bei allen szenografischen Innen- und Außenräumen der Expo.02 ist das Bestreben, thematische ‚Welten‘ zu schaffen, die ausgesprochen stark kontrolliert sind und alltägliche Elemente als eigentliche Fremdkörper ausschließen. So zum Beispiel beim Ausstellungsgelände von Yverdon-les-Bains. Ausgangslage waren das Themenfeld ‚Ich und das Universum‘ sowie die Begriffe ‚Sinnlichkeit‘ und ‘Sexualität‘: Die Autorengruppe Extasia wählte das Raumbild einer organischen Welt, die mit begehbaren Hügeln und einem Wasserpark zu einem „Park der Sinne“ werden sollte, und sah ein Szenario vor, in dem der Besucher das Gelände auf einem orchestrierten ‚Weg der Verführung‘ durchschritt und seine Sinne auf verschiedene Weise betört wurden. (Abb.3) Bei der Umsetzung
Abb.3 Ein Park der Sinne von Extasia zum Thema ‚Ich und das Universum‘, Arteplage Yverdon-lesBains, Schweizerische Landesausstellung Expo.02 (2002).
wurde einerseits auf den eigentümlichen und etwas fremdartigen Charakter der Landschaft geachtet, andererseits aber auch auf ihre Plausibilität und ihren kontrollierten nahtlosen Übergang zur bestehenden Umgebung; damit erreichten die Gestalter, dass die geschaffene ‚Welt‘ zwar künstlich und traumhaft, zugleich aber auch authentisch und realistisch wirkte. Auch bei kleineren Ausstellungs-
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räumen wurde auf ähnliche Weise verfahren. So zum Beispiel bei der Ausstellung ‚Heimatfabrik‘ in Murten, die sich dem Thema Heimat widmete und die Botschaft vermitteln wollte, dass ‚Heimat‘ etwas Dynamisches sei und von jeder Person individuell definiert wird. Die Architektin Barbara Holzer wählte hierzu das Raumbild und das Szenario einer ‚Heimatfabrik‘, welche ‚Heimat‘ in sechs ‚Produktionsschritten‘ auf einer ‚Fertigungsstraße‘ produzierte, der die Besucherinnen und Besucher auf ihrem Parcours durch den Pavillon folgten. Das spezifische Vorgehen, ein Thema und eine Botschaft in ein Raumbild respektive ein Szenario zu übersetzen, war bei allen vierzig szenografisch gestalteten Innen- und Außenräumen der Expo.02 zu beobachten. Strukturell lässt es sich mit einer Theaterinszenierung vergleichen, bei der eine aufgeschriebene Geschichte interpretiert und in eine neue Form übersetzt wird. Durch die physische Umsetzung von Raumbild und Szenario folgte auf diese erste Inszenierung eine zweite, die in der Regel einer Simulation gleichkam: Die begehbaren künstlichen Welten simulierten zum einen das Raumbild – und mit den Rollen, die dem Personal und den Besuchern zugewiesen wurden, wurde zum anderen das Szenario simuliert. Als Folge dieser miteinander verschränkten Inszenierungen begannen sich an der Expo.02 Alltags- und Ausstellungsrealität zu überlagern und zu vereinen. Besonders weit wurde dieses Spiel mit Realität und Fiktion beim Heiratspavillon „Oui!“ („Ja!“) getrieben, wo sich zwei beliebige Personen für 24 Stunden vermählen konnten: Das Raumbild war ein Standesamt, bei dem sich die „heiratswilligen“ Ausstellungsbesucher zu ihrer „Hochzeit“ anmeldeten, um daraufhin von einem Standesbeamten zu einem Parcours durch mehrere Räume begleitet zu werden, die mit einem „Vermählungsraum“ endeten. Nicht bei jedem Paar blieb dieses Spiel bloß Spiel: Für jene heiratenden Personen, die tatsächlich ineinander verliebt waren, wurde die vorgeschlagene Ausstellungsrealität zu einem persönlichen, symbolischen Erlebnis, das sich mit einem Simulakrum im Baudrillard’schen Sinne vergleichen lässt. Diese Vermischung von Ausstellungs- und Alltagsrealität trieb Jean Nouvel, der sich selbst intensiv mit Baudrillards Theorien beschäftigt, in Murten auf die Spitze, indem er das Ausstellungsgelände und das Themenfeld ‚Augenblick und Ewigkeit‘ auf die gesamte mittelalterliche Kleinstadt ausweitete und bewusst auf eine Grenze des Ausstellungsgeländes verzichtete.14 (Abb.4) Welche baulichen, landschaftlichen oder künstlerischen Interventionen zur Expo.02 gehörten oder schon lange Teil des Murtener Alltags waren, ließ sich nicht mehr klar unterscheiden: Ganz Murten wurde Szenografie – und diese wurde kontrollierte, 14
Eine gemeinsame Auseinandersetzung ist publiziert in: Jean Baudrillard, Jean Nouvel: Les objets singuliers. Architecture et philosophie. Paris 2002.
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Abb.4 Verwischung von Ausstellungs- und Alltagsrealität von Jean Nouvel zum Thema ‚Augenblick und Ewigkeit‘, Arteplage Murten, Schweizerische Landesausstellung Expo.02 (2002).
thematisch und räumlich unbegrenzte Realität. Dabei wirkte der städtische Außenraum besonders ‚inszeniert‘, weil einzelne Elemente – bestehende Bauten, angehäufte Kieshügel oder aufgehängte Baustellenlaternen – als Zeichen im Kontext des Ausstellungsthemas ‚Augenblick und Ewigkeit‘ gelesen und inhaltlich aufgeladen wurden. Die Faszination solcher surreal wirkender Räume, in denen ausgeblendet wird, was nicht zum Thema passt, und die wie abstrakte Bilder komponiert und mit einprägsamen Formen und Farben versehen werden, ist weit verbreitet. An der Expo.02 wurde ein Zeitgeist aufgegriffen und versucht, die Grenzen des Möglichen im Kontext einer Ausstellung auszuloten. Gerade in der Schweiz sind seither verschiedene inszenierte und szenografische Räume aber auch in einer ausstellungsunabhängigen urbanen Umgebung entstanden. ARCHITEKTUR UND KUNST IM ÖFFENTLICHEN RAUM – DAS BEISPIEL DER STADT ZÜRICH
Seit dem frühen 20. Jahrhundert gehören geometrische Formen und Flächen ohne ornamentale Zutat sowie präzis gewählte Farben und Strukturen zum Vokabular von Architekten und Künstlern. Ziel der Neuerung war damals, auf den semantischen Ausdruck bisheriger Gebäude, Bilder und Skulpturen zu verzichten und ‚reine‘ ästhetische Formen zu schaffen, die von jeglicher Bedeutung befreit waren und auf nichts Konkretes verwiesen. Insbesondere die Architektur hat damit das Bild vieler europäischer Städte seit der Nachkriegszeit grundlegend verändert. Für die Inszeniertheit von städtischen Außenräumen ist dabei bestimmend, dass die typischen
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Merkmale eines Hauses negiert werden: Ornamentaler Schmuck, Fenster, Türen und ihre Rahmen, aber auch Vordächer oder Balkongeländer werden weggelassen beziehungsweise als nicht gegenständliche Formen und Volumen gestaltet und zu einer Gesamtkomposition arrangiert. Dieser zwei- oder dreidimensionalen Anordnung wird überdies ein letzter alltäglicher Ausdruck genommen, indem unkonventionelle Farben, Formen und Körper den Bau prägen. Das in dieser Hinsicht wohl extremste Beispiel in Zürich ist die 2010 fertig gestellte Wohnsiedlung Frohheim von EM2N und Müller Siegrist Architekten (und der Farbgebung des Künstlers Jörg Niederberger): eine Komposition einfacher Kuben, welche in horizontale Streifen greller Farbe unterteilt sind und die Fenster als dunkle Flächen innerhalb eines schwarzen Streifens verschwinden lassen. (Abb.5)
Abb.5 Wohnsiedlung Frohheim (2010) in Zürich Affoltern von EM2N und Müller Siegrist Architekten, Farbkonzept von Jörg Niederberger.
Neben der Architektur hat auch der Beizug von Kunst die inszenierte Wirkung von städtischen Räumen und Bauten erhöht; gemeint ist damit eine gezielt konzipierte Bildhaftigkeit, die sich durch nicht gegenständliche Formen auszeichnet und deren Bedeutungsgehalt sich auf lockere Assoziationen beschränkt. Anhand eines chronologischen Überblicks auf einige künstlerische Werke, die in Zürich seit dem 19. Jahrhundert im öffentlichen Raum entstanden sind, soll dies im Folgenden veranschaulicht werden.15 Die Geschichte der Zürcher Kunst im 15 Meine Auseinandersetzung mit der Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Zürich begann 2004/2005
anlässlich eines Forschungsprojekts an der ETH Zürich. Der Abschlussbericht ist publiziert in: Bernadette Fülscher: Stadtraum und Kunst. Stadtentwicklung, öffentliche Räume und Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Zürich seit dem 19. Jahrhundert, in: Christoph Schenker, Michael Hiltbrunner (Hg.): Kunst und Öffentlichkeit. Kritische Praxis der Kunst im Stadtraum Zürich. Zürich 2007, S.141-199. Vgl. weiter: Bernadette Fülscher: Die Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Zürich. 1300 Werke – eine Bestandesaufnahme, Zürich 2012.
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öffentlichen Raum lässt sich dabei in groben Zügen skizzieren. Bis Ende 19. Jahrhundert beschränkten sich die öffentlich platzierten Werke vorwiegend auf den Schmuck von Brunnen und Bauten. Die Motive der Plastiken und Reliefs umfassten menschliche Figuren und Tiere (mit oftmals mythologischen oder historischen Bezügen) und waren in der Regel begleitet vom klassischen Vokabular der Ornamentik mit Blumen und Blattwerk, Urnen, architektonischen Elementen wie Gesimsen, Pilastern, Rocailles und Voluten sowie Faunen und Putten. Die Kunstwerke traten dabei nicht als eigenständige Objekte auf, sondern waren Bestandteil größerer Anlagen und übernahmen repräsentative Funktionen. Selbst bei den ersten frei stehenden Skulpturen – den Portraits, Büsten und Figuren von Personendenkmälern – gehörte zum eigentlichen Werk ein Postament oder die architektonische Konstruktion einer Ädikula. Durch diese Einbindung in ein übergeordnetes Ganzes sind die Werke stets als ‚Kunst‘ erkennbar: Sie sind – im Sinne einer effektvollen Präsentation – als Kunst ‚inszeniert‘. Im frühen 20. Jahrhundert kam es dann zu einer tiefgreifenden Veränderung. Die Architekten verzichteten zunehmend auf den künstlerischen Schmuck ihrer Bauten, und die plastischen Arbeiten, die einst unmittelbar mit dem Gebäude verbunden waren, ‚lösten‘ sich scheinbar von der Fassade und wurden
Abb.6 Idealisierte Figur in realistischer Umgebung: Aphrodite (1921) von Einar Utzon-Frank, seit 1931 in Zürich.
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als freistehende Figuren auf Mauern und Sockeln vor den Gebäuden platziert. Gleichzeitig wurden Skulpturen auch unabhängig von Bauwerken im öffentlichen Außenraum aufgestellt, um nunmehr Räume (anstelle von Objekten) zu schmücken. Dabei kamen Motive aus der Mythologie oder der Geschichte nur noch selten zum Zuge und wurden ersetzt durch Darstellungen anonymer Figuren von Menschen und Tieren, die der unmittelbaren Lebenswelt der Stadtbewohner näher waren. (Abb.6) Insbesondere die vielen (oft weiblichen) Aktfiguren wirken wegen ihres Maßstabs, ihrer Proportionen und ihrer anatomischen Merkmale ausgesprochen realistisch. Die jung aussehenden makellosen, schönen Körper machen aber auch einen idealisierten Eindruck: Sie stehen unter Bäumen, blicken auf den See oder gehen auf einer Mauer – so, wie auch wir es tun, wenn wir uns ungestört fühlen und uns den Gedanken hingeben. Dabei wirken sie meist unbeschwert und mit sich selbst und der Natur im Einklang. Aufgrund ihrer Mischung aus Wirklichkeitstreue und Idealismus sehen die Werke glaubwürdig aus und dem Betrachter nahe; sie dürften im frühen 20. Jahrhundert, das von belastenden Umwälzungen ebenso geprägt war wie von Hoffnung und Glauben an eine bessere Zukunft, als Projektionsfläche gedient und kompensatorische Aufgaben erfüllt haben. Ihre Aufstellung in Grünanlagen, die als stille Oasen der Erholung von gesellschaftlichen Missständen und den Auswirkungen der Urbanisierung abgeschirmt waren, erhöhte zum einen die idealisierende Wirkung; zum anderen wurde dadurch die Umgebung der Stadtbewohner ‚mitinszeniert‘ und zum Bestandteil jener Geschichte gemacht, die mit der aufgestellten Figur erzählt wird. Die Inszenierungs-Tendenz erinnert dabei an die Inszenierung von Geschichten im Theater. Ebenfalls im frühen 20. Jahrhundert formulierte Walter Benjamin seine Erkenntnis, dass im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit die Aura eines Kunstwerks verkümmere, sein „Hier und Jetzt“ entwertet werde, sein Kultwert und seine Ritualfunktionen zugunsten des Ausstellungswerts aufgegeben würden und das Kunstwerk zur Ware verkomme.16 Seine Beobachtungen treffen dabei auch auf die Veränderungen des Schmucks an Stadtzürcher Bauten nach der Jahrhundertwende zu: Die zeichenhafte Bauplastik früherer Jahrhunderte wurde damals von einfachen und oft sinnentleerten Formen abgelöst und verschwand später komplett von den nunmehr verputzten Fassaden der Gebäude. Die Tendenz der ästhetischen Verschmelzung von frei aufgestellten Skulpturen mit ihrer Umgebung wurde in der Nachkriegszeit durch die Aufstellung nicht 16 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (frz. Übers. 1936, dt. 1955). In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 1977 (1963), S.7-44, hier insbes. S.13-20.
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gegenständlicher Werke verstärkt. Ihr Schwerpunkt lag auf formalen Kriterien, die erlaubten, das Werk und seine Umgebung neu wahrzunehmen. Dabei ging es um eine rein ästhetische Wahrnehmung: Objekte und Räume wurden ästhetisiert, darstellende und verweisende Zeichen vermieden und städtische Räume dadurch musealisiert. Dass die künstlerischen Arbeiten auch mehr und mehr Platz einnahmen, trug zusätzlich zu dieser Wirkung bei: Kunst wurde zur Monumentalskulptur, zur begehbaren Rauminstallation, zum Platz, zur Landschaft und schließlich zur Architektur. (Abb.7) L’art à l’état gazeux – der sinnfällige Titel einer Publikation von Yves Michaud, der die Theorie von Walter Benjamin zu Beginn des 21. Jahrhunderts fortführt – beschreibt sodann, dass sich die Kunst im 20. Jahrhundert auf die gesamte Alltagswelt ausgedehnt hat – und sich als allgegenwärtiger, Raum umfassender „gasförmiger Zustand“ im selben Zuge verflüchtigt.17
Abb.7 Eine Rauminstallation, die mit ihrer Umgebung verschmilzt: Pavillon-Skulptur (1979) von Max Bill, seit 1983 in Zürich.
Die bislang jüngste Veränderung der Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Zürich erfolgte an der Wende zum 21. Jahrhundert. Bis dahin hatte die weit verbreitete Skepsis der Bevölkerung gegenüber zeitgenössischen Kunstwerken dazu geführt, dass kaum je künstlerische Arbeiten platziert wurden, die den aktuellsten Haltungen der Kunstwelt entsprachen. Vielmehr hinkte die Zürcher Kunst im öffentlichen Raum dem internationalen Kunstschaffen jeweils einige Jahrzehnte nach. Dies hat sich allerdings in den letzten Jahren spürbar verändert. Das wachsende Interesse der Gesellschaft für Kultur und Kunst und die 17 Yves
Michaud: L’art à l’état gazeux. Essai sur le triomphe de l’esthétique. Paris 2003.
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zunehmende Relevanz künstlerischer Äußerungen in ökonomischer Hinsicht haben dazu geführt, dass die öffentliche Hand professionelle Arbeits- und Fachgruppen gegründet hat, die Wettbewerbe initiieren, Strategien entwickeln und sich dem Thema der Vermittlung widmen. Zudem werden beratende Kunstexperten beigezogen und Werke einer jüngeren Künstlergeneration mit internationaler Ausstrahlung gefördert. Bei diesen Werken handelt es sich vornehmlich um ortsspezifische Interventionen im öffentlichen Raum. Auffällig ist, dass sie aufgrund ihrer formalen Ähnlichkeiten mit anderen Alltagsobjekten nur schwer als Kunstwerk identifiziert werden können und dass sie aufgrund ihrer konzeptuellen Anlage ohne spezifische Kenntnisse nicht verständlich sind. Sie erfordern vom Betrachter ein Verständnis für die Mechanismen der Gegenwartskunst, ein Interesse und waches Auge für mögliche Interventionen im Raum und oftmals auch ein Wissen über den spezifischen „Code“, der einem Werk zugrunde liegt. Dass sich Gegenstände überhaupt individuell codieren und mit Bedeutungen versehen lassen, hat gesellschaftliche und kulturelle Hintergründe, von denen bereits eingangs die Rede war: Die einst fest in der Gesellschaft verankerten Bedeutungen und Werte von Zeichen sind, so Baudrillard, seit der Aufklärung nach und nach einem freieren Verständnis der Dinge gewichen.18 Zu diesem Prozess haben die Arbeiten avantgardistischer Architekten und Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich beigetragen. Sind Objekte erst einmal von altem Sinn befreit, lassen sich ihnen beliebig neue Inhalte und Bedeutungen zuweisen. Die Schwierigkeit bei Kunstwerken im öffentlichen Raum ist dabei, dass die meisten Betrachter die individuellen Codes eines Kunstwerks nicht kennen: Für diese Leute strahlen die künstlerischen Objekte etwas Kryptisches – etwas Inszeniertes aus –, weil sie alltäglich erscheinen, zugleich aber auch von den Konventionen des Alltags abweichen. Für das nicht eingeweihte Zürcher Publikum ist nicht eindeutig erkennbar, ob es sich bei den an einer Stützmauer zwischen den Flüssen Limmat und Sihl angebrachten Lettern „Ljmmat“ und „Sjhl“ um einen Lausbubenstreich, eine Werbung oder um ein Kunstwerk handelt. (Die Intervention von Hannes + Petruschka Vogel nimmt Bezug auf die Initialen von James Joyce, der 1915-1919 in Zürich weilte, sich oft in der Nähe des heutigen Kunstwerks aufhielt und in seinem Buch Finnegans Wake von der Sihl und der Limmat geschrieben hat.) (Abb.8) Dabei wird offensichtlich, dass derart codierte Kunst stets auch ein Quantum bewusster oder unbewusster Machtdemonstration (oder Machtinszenierung) von Seiten der Kunstwelt aufblitzen lässt.
18 Vgl. insbesondere seine Überlegungen zum Wandel der Wohnungseinrichtung in: Jean Baudrillard:
Le système des objets. Paris 2003 (1968).
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Abb.8 Sjhl und Ljmmat (2004) – eine Hommage an James Joyce von Hannes + Petruschka Vogel in der Nähe der Zürcher Platzspitz-Anlage.
DIE KUNSTSTADT – EIN FAZIT
Ästhetische Produktion ist in Zeiten des Spätkapitalismus – um mit den Worten Fredric Jamesons zu sprechen – „integraler Bestandteil der allgemeinen Warenproduktion geworden“.19 Der ungeheure ökonomische Druck, immer neue Schübe immer neuer Waren zu produzieren, weise den ästhetischen Innovationen und Experimenten eine immer wichtiger werdende strukturelle Aufgabe und Funktion zu. So sieht Jameson als Merkmale unserer Zeit erstens eine neue Oberflächlichkeit, die auf den Verlust einer Tiefendimension folge, zweitens die daraus resultierende Einbuße von Historizität und drittens eine völlig neue, emotionale Grundstimmung, die sich mit dem Wort „Intensität“ beschreiben lasse.20 Man könnte anfügen: „Inszenierungen aller Art“. Bildhaftigkeit, Oberflächlichkeit, Intensität, Inszeniertheit, Künstlichkeit und Kunst – das alles wird hier unter dem Begriff „Kunststadt“ subsumiert. Ästhetische und ästhetisierte Installationen, Interventionen und Inszenierungen fallen auf, involvieren, faszinieren und irritieren. Vor diesem Hintergrund ist auch mein letztes Beispiel der Stadtlounge von St. Gallen zu sehen (Abb.9): Der Verband der Schweizerischen Raiffeisenbanken hat hier im Jahr 2005 – in Zusammenarbeit mit den Stadtbehörden – ein Kunstwerk von Pipilotti Rist und dem Architekten Carlos Martinez ausgeführt, das mitten in der City eine Hinterhofsituation bei zahlreichen Bankgebäuden aufgewertet hat. Ziel war es 19
Fredric Jameson: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus (engl. 1984). In: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek 1986, S.45-102, hier S.48. 20 Ebd., S.50.
KUNSTSTADT 161
Abb.9 Stadtlounge (2005) in St. Gallen – eine Platzgestaltung der Künstlerin Pipilotti Rist und des Architekten Carlos Martinez im Auftrag des Verbands der Schweizerischen Raiffeisenbanken.
auch, Aufmerksamkeit zu lenken, die Bevölkerung und Touristen anzuziehen und damit der Stadt und dem involvierten Privatunternehmen ein positives Image zu verleihen. Die ‚Kunststadt‘ heißt aber nicht nur so, weil sie Arbeiten von Künstlern einbezieht, sondern auch, weil sie kontrolliert und kontrollierend vorgeht und in diesem Sinne ausgesprochen künstlich ist. In szenografisch angelegten Kunststädten können die Passanten zudem die Rolle geführter Spielfiguren übernehmen: Gemäß dem Szenario der Autoren dürfen in St. Gallen Besucher und Raiffeisenbank-Kunden über den von der Bank ausgelegten roten Teppich spazieren. Für mich als Bewohnerin hat die Kunststadt durchaus faszinierende Seiten; aber sie irritiert und befremdet auch, weil es nicht nur darum geht, mir ein traumhaftes Ambiente mit kompensatorischen Funktionen zu bieten. Die Kunststadt soll der Stadt (in Zürich beispielsweise mit dem Plan Lumière, einem
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auf Beleuchtung bezogenen Gestaltungsplan) nämlich nicht nur „ein schillerndes nächtliches Gesicht [verleihen] und […] die Einzigartigkeit der Stadt [stärken]“, sondern auch die Orientierung verbessern sowie das Wohlbefinden und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erhöhen. Der öffentliche Raum erhalte damit mehr Lebensqualität und den öffentlichen Einrichtungen werde mehr Sorge getragen.21 Mit Kunst und Design – und mit ihrer vielfältigen Inszenierung – wird im Rahmen der Kunststadt nebenbei eben auch Politik betrieben.*
21
Plan Lumière, http://www.stadt-zuerich.ch/plan-lumiere (24.11.2010) *Sämtliche Fotos stammen von der Autorin.
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EBERHARD SCHREMPF
PSYCHOTHERAPIE FÜR EINE STADT? Komplexe und Konflikte, Ängste und Sehnsüchte liegen bekanntermaßen tief im Inneren dessen verankert, was man landläufig als ‚Bewusstsein‘ oder ‚Seele‘ bezeichnet. Teilt eine beträchtliche Anzahl an Personen auf einem lokal überschaubaren Gebiet diese Erfahrungen, so lässt sich von einem kollektiven Bewusstsein, einem ‚Seelenzustand‘ sprechen. Erfahrungen des Individuums werden zum Gedächtnis einer ganzen Gemeinschaft und verdichten sich im Laufe von Jahrzehnten zu einem ‚Lebensgefühl‘, einem spezifischen Ausdruck des lokalen Gemütszustands. Nicht selten schwingen in diesem Gemütszustand gemeinsame historische Erfahrungen mit, die erlebt und tradiert werden und die Erzählung einer Stadt oder einer Region bis in die jeweilige Gegenwart weiterschreiben. Und nicht immer ist diese Seelenlage innerhalb jenes Spektrums, das man einer wie auch immer definierten Normalität zurechnen könnte – möglicherweise deshalb, weil sich ‚Stadt‘ und ‚Normalität‘ diametral gegenüberstehen. Die Stadt Graz, mit ihren knapp 300.000 Einwohnern, mit ihren Universitäten und Fachhochschulen, mit ihren – durchaus präsentablen – Leistungen in Kunst und Kultur, Wirtschaft und Forschung, erscheint im Kontext ihrer historischen und damit auch psychosozialen Entwicklung als ein nachgerade prototypisches Beispiel eines ambivalenten emotionalen Gefüges. ‚Psychotherapie für eine Stadt‘ lässt sich also vielleicht gerade anhand der steirischen Stadt an der Mur exemplarisch durchexerzieren. Dazu bedarf es freilich mehrerer Dinge: Es braucht eine gute Kenntnis über den Klienten/die Stadt, und es braucht einen Ausgangspunkt, eine ‚Diagnose‘, auf die sich alle nachfolgenden Maßnahmen beziehen können. Im Fall von Graz könnte dieser (populär)wissenschaftliche Befund lauten: überdurchschnittlich gesteigerte Leidensfähigkeit bei unterdurchschnittlich entwickeltem Selbstbewusstsein. Wie aber ist es dazu gekommen? „In Graz muss man nicht gewesen sein.“ (Thomas Bernhard) Es ist kein besonders freundliches Urteil, das die österreichische Literaturikone Thomas Bernhard (1931-1989) über die Stadt Graz abgegeben hat. Wo man nicht gewesen sein muss, kann auch nichts gewesen sein. Und in der Tat: Graz hatte über viele Jahre seiner Geschichte ein Problem, vor allem auch geografischer Natur. 50 Kilometer östlich befand sich Ungarn, 40 Kilometer südlich Jugoslawien, beide Teil des sowjetkommunistischen Staatenverbands mit seiner unerschütterlichen Logik der Grenze, kurz: Graz war am Ende der Welt. Darüber hinaus kämpft(e) die Stadt mit einer weiteren geschichtlichen Erblast, die sich im kollektiven Lebensgefühl zumindest der höher Gebildeten
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und Künstler empfindlich spürbar macht(e): dem ‚Titel‘ von Graz als ‚Stadt der Volkserhebung‘. Diese zweifelhafte Auszeichnung verwies auf die überproportional große Zahl von nationalsozialistischen Demonstrationen vor dem Anschluss an Hitler-Deutschland im März 1938. Graz sollte die einzige Stadt des ‚Dritten Reichs‘ bleiben, die sich mit dieser Auszeichnung schmücken durfte.
Abb.1 Uhrturmschatten, Markus Wilfing, Foto: © Harry Schiffer.
Graz ist leidensfähig Vor diesem Hintergrund mag es durchaus zutreffen, dass die lokalen und regionalen Kunstschaffenden ein stärkeres Bedürfnis verspürten, sich hörbarer als anderswo zu artikulieren. Dass dies letzten Endes auch gelungen ist, ist nicht nur ein Ergebnis künstlerischer Anstrengung, sondern auch einer relativ offenen Kulturpolitik, die dem ausgeprägten Sensorium der Künstlerinnen und Künstler ein nicht minder ausgeprägtes Sensorium der Politik gegenüberstellte. So wurden in Graz in der allgemeinen Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre Institutionen gegründet, die bis heute einen wichtigen Teil des Kulturschaffens darstellen. Das Forum Stadtpark zählt beispielsweise dazu. Die Autorinnen und Autoren dieses gerne auch als „Grazer Gruppe“ bezeichneten Literatur-Think-Tanks konnten sich zu diesem Zeitpunkt über einen beispiellosen Erfolg freuen, der weit über die Grenzen von Graz und der Steiermark hinausging. Namen wie Peter Handke, Wolfgang Bauer, Elfriede Jelinek (Literaturnobelpreisträgerin 2004), Barbara Frischmuth, Gert Jonke, Gerhard Roth oder Alfred Kolleritsch stehen für eine künstlerische Avantgarde, die drauf und dran war, der Stadt einen neuen Titel zu verleihen, nämlich den der „heimlichen Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur“. Der Autor Wolfgang Bauer (1941-2005) hat diese Stimmung auf eine ambivalent-ironische Art ausgedrückt: „Zum Schreiben brauche ich eine Stadt, in der es innerlich tobt, zum Beispiel New York oder Graz.“
PSYCHOTHERAPIE FÜR EINE STADT? 165
Abb.2 Festivalposter des steirischen herbstes 1991.
So sehr der Erfolg der Grazer Autorinnen und Autoren sich in den literarischen Zirkeln von Hamburg bis Klagenfurt festgesetzt hat, so vergleichsweise wenig war davon für die Bevölkerung zu spüren. Dass Kunst als Empörungsinstrument weit in den öffentlichen Raum – und somit in die Köpfe der Menschen – hineinwirken konnte, geht vor allem auch auf den Aktionismus des Kunstfestivals steirischer herbst zurück. Seinen unaufhörlichen Interventionen im öffentlichen Raum ist es zu verdanken, dass Kunst im öffentlichen Raum allmählich zu einer Konstante wurde, zu einem Erlebnis gleichermaßen wie zu einem Ärgernis. Für den oben aufgestellten Befund der gesteigerten Leidensfähigkeit gab es zu dieser Zeit die ersten Indikationen – und sie sollten sich im Laufe der Jahre weiter steigern. Graz darf alles Zu diesem Zeitpunkt – also in den 1960er Jahren und auch danach – sind wichtige Vorarbeiten für die weitere Entwicklung der Stadt geleistet worden. Aus der triumphalistisch-selbsterhöhenden Volkserhebung wurde allmählich eine atavistisch-selbsterniedrigende Kunstempörung. Das Ziel wurde jedoch erreicht: Kunst im öffentlichen Raum, sichtbare Zeichen, Landmarks etc. gehören seit dieser Zeit zum Grazer Stadtbild dazu. Das naive „Ja-dürfens-das-denn-überhaupt“ wurde zu einem unverrückbaren Anker im Bewusstsein der Menschen, und mit der Zeit hatte man sich offenbar so sehr daran gewöhnt, dass man die lange und erfolgreich praktizierte Selbsterniedrigung plötzlich ins Gegenteil umkehren konnte. Gemeint ist damit das für Graz extrem erfolgreiche Jahr 2003, in dem die Stadt an der Mur – als einzige in diesem Jahr! – Kulturhauptstadt Europas war. Dass dieses Jahr ein echter Meilenstein für die psychotherapeutische Behandlung von Graz war, zeigen die Reaktionen aus der Bevölkerung,
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aber auch die Reaktionen aus den Medien: „Graz 2003 – ein Ausnahmezustand, der nach dem Willen der Grazer Normalität werden soll“ (Stern); „wo in Wien Tradition und Repräsentation lähmend wirkten, gärte es aufrührerisch an der Mur“ (FAZ); „Mehr Kultur geht nicht. So viel Graz war nie“ (Prisma); „This is no slumbering southern backwater. With the pending expansion of the European Union, Graz moves from the eastern fringes of 20th-century Europe to a strategic position as a 21st-century crossroads“ (The New York Times).1 Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. So viel – und vor allem so positive – internationale Resonanz ist logischerweise Balsam auf der Seele des Klienten. Fazit: Plötzlich war Graz wer, und damit waren auch die Grazerinnen und Grazer wer, und diesmal vollkommen frei von unliebsamen ideologischen Altlasten, und weit entfernt von jedem provinziellen Hinterherhinken. Man war ganz einfach stolz auf Graz, aus freiem Herzen und aus Überzeugung! Die Slogans des Kulturhauptstadtjahrs haben das neue Grazer Lebensgefühl auf den Punkt gebracht: „Graz – wer hätte das gedacht?“, und vor allem: „Graz darf alles.“ Therapie mit Programm Kulturhauptstadt Europas wird man natürlich nicht von heute auf morgen. Rund 15 Jahre hat man an der Mur daran gearbeitet, 1998 erfolgte der Zuschlag für das Jahr 2003. Was dann folgte, war eine Aufbruchsstimmung, die sich bei allen bemerkbar machte, die sich in mehr oder weniger intensiver Art und Weise mit der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt auseinandersetzten. Bleibt man in der Metapher der Medizin, so wäre Beschäftigungstherapie durchaus ein Wort, das die Jahre bis 2003 geprägt hat – und zwar bei weit mehr Menschen als ‚nur‘ bei den Kulturschaffenden. Stadtpolitik und -verwaltung haben richtungsweisende Entscheidungen getroffen, die in weiterer Folge auch umgesetzt werden mussten. Zuallererst sind in diesem Zusammenhang jene architektonischen Landmarks zu nennen, die ohne das Kulturhauptstadtjahr nie errichtet worden wären, allen voran das Kunsthaus Graz der Architekten Peter Cook und Colin Fournier, die Graz nicht nur einen modernen Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst, sondern ein neues Wahrzeichen gegeben haben. International nicht minder beachtet: die Murinsel – geplant vom New Yorker Künstler Vito Acconci nach einer Idee des aus Graz stammenden Kulturmanagers Robert Punkenhofer –, die jenseits ihrer Funktion als Bühne und Naherholungsraum auch eine weitere Brücke über den Fluss gebracht hat und damit die Mur den Menschen als Lebensraum ein Stück nähergebracht hat. Das gesamte Programm von Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas hatte sich das ambitionierte Ziel gesetzt, die lokale Szene mit der internationalen Kunstwelt zu verknüpfen und dabei gleichzeitig die Grazer Bevölkerung in einem hohen Maß 1 Eine große Auswahl an Zitaten zum Thema ist auf der Homepage von Graz 2003 zu finden: www.graz03.at.
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Abb.3 Kunsthaus Graz, Murinsel und Mursteg, Foto: © Gery Wolf.
partizipieren zu lassen. Neben der Teilnahme von internationalen Stars wie Vito Acconci, Henning Mankell oder Nikolaus Harnoncourt wurde vor allem auch darauf Wert gelegt, in der Stadt und in den Menschen die Sensibilität anderen gegenüber, die Aufgeschlossenheit für Neues und die Begeisterung für ein lebendiges kulturelles Leben zu wecken. Vor diesem Hintergrund waren Begriffe wie Toleranz, Akzeptanz, Teilhabe und Diversität als zentrale Werte in der Auswahl des Programms zu sehen. Folgerichtig waren im Laufe des Jahres nicht allein künstlerische Arbeiten2 zu sehen, sondern auch viele, die sich genau diesen Themen verschrieben haben. Eines jener Projekte, das sich nachhaltig in die Herzen der Bevölkerung spielte, war die im Zentrum der Altstadt erstmals ausgetragene Homeless-Streetsoccer-Weltmeisterschaft. Dabei wird die positive und lebensverändernde Kraft des Fußballs genutzt, um Phänomenen wie Obdachlosigkeit und soziale Marginalisierung buchstäblich ein Spielfeld zu geben. Wie zu Beginn des Fußballsports wird dabei auf der Straße gespielt. Für Österreich ging eine Grazer Mannschaft an den Start, die ausschließlich aus der wachsenden schwarzafrikanischen Community stammte und sich in der nationalen Vorausscheidung durchsetzen konnte – und schlussendlich den WM-Titel nach Graz holte. Die Jahre danach Das Kulturhauptstadtjahr 2003 hat die Stadt Graz als Erfolgsgeschichte in ihren Annalen verankert. Der Erfolg hat sich dabei gleich auf mehreren Ebenen manifestiert: Graz 2003 war ein touristischer Erfolg, der sich auch heute noch 2
Stellvertretend für die große Vielfalt sei an dieser Stelle lediglich auf zwei besonders auffällige Arbeiten verwiesen, nämlich auf den Marienlift, der es ermöglichte, der Mutter Gottes von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, sowie auf den Uhrturmschatten, eine 1:1-Nachbildung des Uhrturms in seiner unmittelbaren Nähe.
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Abb.4 Stadthalle, Architekt: Klaus Kada, Foto: © Werner Krug.
Abb.5 Helmut-List-Halle, Architekt: Markus Pernthaler, Foto: © Harald Eisenberger.
bemerkbar macht; Graz 2003 war ein architektonischer Erfolg, der auch heute noch sichtbar ist.3 Und Graz 2003 war ein Erfolg für das Selbstverständnis der Stadt, der auch heute noch spürbar ist. Der Eintritt in die und der gelungene Auftritt in der Oberliga der internationalen Rezeption hatte natürlich auch seinen Preis – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Das hatte zur Folge, dass auf die intensiven Kulturhauptstadt-Monate eine lange Phase der Ernüchterung folgte. Es wäre jedoch falsch, diesen Zustand nur als Katerstimmung abzutun. Vielmehr – und das ist das eigentliche Entscheidende daran – wurde damit eine 3
Dazu ein Faktum: Das Kunsthaus Graz war im Jahr seiner Eröffnung in Architektur-Fachmedien eines der meistrezensierten Gebäude weltweit.
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Entwicklung eingeleitet oder vielmehr weitergetrieben, die Graz heute, im Jahr 2011, zur ersten UNESCO Creative City Österreichs und zur zehnten UNESCO City of Design gemacht hat. So wurde aus dem Kater nach und nach eine Katharsis, an deren Ende eine Vielzahl an unleugbaren Fakten und Verdiensten stand, die Graz im oben skizzierten historischen Abriss erworben hat. Und die aktiv und selbstbewusst für den vorerst letzten Schritt in der psychosozialen Genesung des Klienten Graz genutzt werden sollten. Das Potenzial der Kreativität Ein derart einschneidendes Ereignis wie das Kulturhauptstadtjahr stellt eine Stadt vor eine ganze Reihe von Herausforderungen, die letzten Endes alle darauf abzielen, die entstandene Lücke sinnvoll zu schließen. Dementsprechend intensiv waren auch die Anstrengungen in der Stadt, an dieses Großereignis anzuknüpfen. Und letzten Endes war man es nach den jahrzehntelangen Interventionen und Aktionen von steirischer herbst und Graz 2003 der Grazer Bevölkerung ja beinahe schuldig, wieder „etwas Großes“ auf die Beine zu stellen – und zwar bevor die Erinnerung an die stolzen Tage erhöhter weltweiter Wahrnehmung verblasst und die Mechanismen einer nachgerade paradoxalen Selbsterniedrigung wieder zu greifen beginnen. Wo aber ansetzen? Eines kam dem kollektiven Grazer Nachdenken sehr zugute, und zwar der weltweite Paradigmenwechsel der modernen Gesellschaften. Lautete das wirtschaftliche Zauberwort früher ausschließlich Produktion, so gesellte sich dazu allmählich der Begriff ‚Dienstleistung‘ und damit die Termini ‚Wissen‘ und vor allem ‚Kreativität‘. Im Jahr 2006 wurde die steirische Forschungseinrichtung Joanneum Research mit einer Studie4 beauftragt, die das kreative Potenzial im Großraum Graz untersuchen sollte. Die Ergebnisse waren überraschend. Daraus ging nämlich hervor, dass im Großraum Graz, also in den Bezirken Graz und Graz-Umgebung, zu diesem Zeitpunkt 24.810 Beschäftigte in der Kreativwirtschaft tätig waren, was einem Anteil von 12,5 % der Gesamtbeschäftigten entsprach. Die Branchen der Kreativwirtschaft erwirtschafteten damals im Großraum Graz 1,5 Milliarden Euro an Bruttowertschöpfung, das entsprach einem Anteil von 14% an der gesamten Wertschöpfung. Zum Vergleich: In Berlin liegt dieser Anteil bei 11%. Steiermarkweit zählten 2006 rund 40.000 Arbeitsplätze zum Bereich Kreativwirtschaft, Tendenz steigend. Der Schwerpunkt der Grazer Kreativwirtschaft liegt damals wie heute in den unternehmensbezogenen Dienstleistungen, das heißt, Kreative im Großraum Graz arbeiten zum überwiegenden Teil für andere Bereiche der Grazer Wirtschaft, allen voran die Industrie, die in Graz vor allem im Bereich Fahrzeugbau eine große Bedeutung besitzt. 4
Siehe auch: Creative: Graz. Potenzialanalyse Kreativwirtschaft im Großraum Graz. Hrsg. von der Sparte Information und Consulting der Wirtschaftskammer Steiermark, Graz 2006.
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Die Creative Industries Styria Die Politik hat auf diese Entwicklungen schnell und effizient reagiert. Die Kreativwirtschaft wurde nämlich zum Stärkefeld der steirischen Wirtschaft erklärt. Was noch fehlte, war die Installation einer zentralen Drehscheibe, eine Netzwerkgesellschaft, die als Anlaufstelle für die Anliegen der Kreativen dienen kann. Die 2007 gegründete Creative Industries Styria GmbH erfüllt nunmehr diese Aufgabe und hat in den ersten Jahren ihres Bestehens wichtige Aufbauund Vernetzungsarbeit geleistet, um den Zusammenhalt in der kreativen Szene zu fördern und ein zielgerichtetes Kommunizieren nach außen zu ermöglichen. Dabei nimmt sie die Rolle einer Vermittlerin und einer Ansprechpartnerin ein, und zwar sowohl für Unternehmen aus dem Bereich der Kreativwirtschaft als auch für jene Betriebe, die an Kooperationen und Partnerschaften mit KreativUnternehmen interessiert sind.
Abb.6 Der Grazer Hauptbahnhof, Gestaltung: Peter Kogler, Foto: © Manuel Gorkiewicz.
Mit der Einrichtung der Creative Industries Styria konnte auch jenes Projekt in Angriff genommen werden, das die immer noch existierende Lücke nach dem Kulturhauptstadtjahr endlich auffüllen sollte: die Bewerbung der Stadt Graz als UNESCO City of Design. In den Bewerbungsunterlagen, die ab Frühjahr 2008 erarbeitet und im Juli 2009 der UNESCO übermittelt wurden, hat man neben der exakten Darstellung der Stadt hinsichtlich ihrer ökonomischen und soziokulturellen Besonderheiten unter anderem darauf geachtet, die Traditionslinien der Stadt nachzuzeichnen, so wie das auch im vorliegenden Essay gemacht wird – ohne dabei die spezifischen Befindlichkeiten des Soziotops Graz preiszugeben. Denn der letzte Meilenstein in der städtischen Psychotherapie war noch nicht gesetzt, und ein Scheitern dieses Bewerbungsprozesses hätte ohne
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Zweifel unliebsame Folgen nach sich gezogen und die Stadt möglicherweise in einen Zustand zurückkatapultiert, dem man eigentlich schon entkommen war. Was die Grazer Bewerbung – und das wurde auch immer wieder von Seiten der UNESCO bestätigt – besonders gemacht hat, war die Öffentlichkeit, mit der dieser Prozess durchgeführt wurde. Bereits bei Graz 2003 wurde auf die Einbindung der Menschen in der Stadt großer Wert gelegt, und diese Erfahrung hat man in die Bewerbung als City of Design mitgenommen. ‚Öffentlich‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Bevölkerung von Anfang über den bevorstehenden Schritt informiert wurde. Die Bewerbungsunterlagen selbst wurden als Zeitschrift veröffentlicht und sollten dadurch die Teilhabe möglichst breiter Schichten sicherstellen. Dafür gab es auch gute Gründe, denn ‚Design‘ ist ein zwiespältiger Begriff, den man Menschen nicht unvorbereitet und vor allem unkommentiert vorsetzen sollte.
Abb.7 Frog Queen, Architekt: Splitterwerk, Foto: © Nikolaos Zachariadis.
Therapieinstrument Design Wovon ist also eigentlich die Rede, wenn von Graz als einer City of Design gesprochen wird? Vieles musste in diesem Zusammenhang erst wieder in Erinnerung gerufen bzw. erst einmal bewusst gemacht werden, etwa die Existenz und der internationale Erfolg der Designstudiengänge an der Grazer Fachhochschule Joanneum (Industrial Design, Informationsdesign, Ausstellungs- und Museumsdesign, Media and Interaction Design), wo Design auf höchstem Level unterrichtet wird und Absolventinnen und Absolventen weltweit in Design-Spitzenpositionen tätig sind. „Sichtbar machen“ und „bewusst machen“ lauteten folglich auch die Prämissen, unter denen die Arbeit gestartet wurde. Damit wurde auch ein therapeutischer Ansatz verknüpft, nämlich über die
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permanente Kommunikation des Themas Design und seiner Relevanz für den Großraum Graz jenen Stolz wieder zurückzuerobern, den die Grazer Bevölkerung zu Zeiten des Kulturhauptstadtjahres bereits verinnerlicht hatte. Eine Arbeit, die einen langen Atem braucht und viele kleine Schritte. ‚Awareness‘ avancierte im Laufe der Jahre zu einem Schlüsselbegriff, galt es doch, den etwas unscharfen Begriff Design zurechtzurücken und mit den Möglichkeiten und Potenzialen der Stadt zu verknüpfen. So wurde – bereits lange vor der Aufnahme in das UNESCO Creative Cities Network – eine Vielzahl an Aktivitäten gestartet, die das Thema Design den Menschen näherbringen sollten, zuallererst ein Verständnis von Design, das weit über die naive Verschönerung von Dingen hinausreicht, nämlich als zentrales Instrument in der Kreation und Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen verstanden wird. Die Creative Industries Styria hat dabei neue Formate ins Leben gerufen, die für unterschiedliche Zielgruppen von Bedeutung waren und sind. Das Projekt Designers in Residence beispielsweise richtet sich an steirische Unternehmen, die an einer Zusammenarbeit mit Designern interessiert sind, um dadurch ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Für die breite Öffentlichkeit wurde im Jahr Frühjahr 2009 erstmals der Designmonat ausgerichtet, der unterschiedliche bereits bestehende Aktivitäten in der Stadt Graz (etwa die international renommierten Festivals spring oder assembly) unter einem gemeinsamen Dach promotet. Große Öffentlichkeit – und das auf einem in dieser Form durchaus überraschenden internationalen Level – erzielte auch das Projekt „Ready. Steady. Go.“, bei dem mehrere innerstädtische Straßenzüge mit einer roten Laufbahn überzogen wurden, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf dieses Viertel zu richten, in dem einst blühende Handelsstraßen zu eher problematischen
Abb.8 Ready. Steady. Go. Laufbahnbemalung der Klosterwiesgasse, Jansen+Koller. Fotograf: © Stefan Sobotka.
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Verödungszonen geworden sind. Ziel war die Aufwertung des Viertels und die Ansiedlung von Unternehmen der Kreativwirtschaft. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Sichtbarmachung von Design im öffentlichen Raum im Rahmen von Projekten zum Thema Stadtmöblierung. Die Stadt wird dabei zum Objekt einer bewussten Inszenierung, und zwar einer Inszenierung von Design im öffentlichen Raum. Der Fokus liegt dabei freilich nicht auf einer oberflächlichen Behübschung, sondern auf einer langfristigen identitätsstiftenden Wirkung, die Design als gestalterische Konstante erlebbar macht. Design-De-Zentrale? Wenn sich Städte – wie im Fall von Graz hier kurz beschrieben – in eine Art psychotherapeutische Behandlung begeben, dann handelt es sich wohl zumeist um Städte mittlerer Größe, „Second Cities“ oder wie auch immer man sie nennen möchte, jedenfalls nicht um Metropolen. Letztere können nämlich alles und sie dürfen auch alles. Niemand wird einer Stadt wie Berlin ihren Status als Designstadt und Zentrum für ohnehin fast alles ernsthaft in Abrede stellen wol-
Abb.9 Getier. Design: Petrus Gartier, Thomas Perz, Foto: © Lupi Spuma.
len. Aber Graz? Was kann so eine Stadt leisten? Ist sie nicht eine Fehlbesetzung? Ist sie nicht zu klein, hat sie nicht zu wenig zu bieten? Fragen wie diese wurden und werden in Graz seit den Aktivitäten rund um City of Design wieder gestellt. Die Antworten darauf sind vergleichsweise einfach zu finden: Ein Blick auf die eigene Geschichte der letzten 4 Jahrzehnte reicht, um sich wieder in Erinnerung zu rufen, was möglich ist, wenn aus Reibungspunkten und -flächen ganze Energiefelder entstehen und das Potenzial einer Stadt nicht nach ihrer Einwohnerzahl und dem Klang ihres Namens, sondern nach der Zahl ihrer kreativen und
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konspirativen Akteure und dem konkreten gestalterischen Output bemessen wird. Dann lösen sich nämlich die Komplexe der Stadt auf – man kennt das bereits aus dem Kulturhauptstadtjahr und aus der Basisarbeit der 1960er Jahre – und die Menschen sind zu Recht stolz darauf, dass ihre Stadt als UNESCO City of Design auf der Designlandkarte und in den Köpfen und Herzen ganz oben steht. Fazit: Experiment gelungen, Klient lebt!
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ERNEST WOLF-GAZO
CAIRO AS COLLAGE: ASPECTS OF METROPOLIS PRELIMINARY REMARKS
The American pop artist Andy Warhol pointed out, in the 1960s, during the student revolt from Berkeley to Berlin, in the context of Marshall McLuhan’s ‚Gutenberg Galaxy‘ and Global Village announcements, that there will be a time during the communications revolution that anyone and anything can be famous for five minutes world-wide. Indeed, this prophetic pronouncement by Warhol materialized beyond his wildest dreams. Between January 25 and February 11, 2011, it was Cairo’s turn to become world famous, more than simply five minutes, but all cameras, Youtube, Twitter, and, of course, Internet and Facebook focused on the center of Cairo downtown, namely Tahrir Square, the place were suddenly Egypt’s young generation revolted against an old Pharaoh, who was, after a thirty year rule, deposed from the throne. Ever since, Cairo and Egypt find themselves, at the moment of this composition, in a ‚revolution in progress‘. The outcome is not certain, but the hopes are high, the cameras focused, yet, the human spirit, especially alive in Cairo, had this to say to the tourists and population, in form of graffiti on a wall near Tahrir Square reading, ‚Enjoy the revolution‘. In the meantime we take time out to reflect on this megacity, or better, metropolis, in a more subjective mood that may express the true sense of a city that never sleeps, is always in action, always moving towards something, beyond the immediate concerns of ordinary life. It is no surprise that the Pyramids were built nearby, and that the Nile, should provide sustenance for life. INTRODUCTION
Metropolis has always fascinated the human spirit. It is the place that provides various forms of sociology, massive, sometimes structured, at times very individualistic, it excites the senses and gives birth to new combinations of ideas, and not the least, gives us a sense that there is more to life than simply our daily bread. This sense was already described by the great biographer of the 18th century, James Boswell, when he commented to Dr. Samuel Johnson in 1776: „I enjoyed the luxury of our approach to London, the high and varied intellectual pleasure which it furnishes.“1 1
See Leon Edel: Writing Lives: Principia Biographia. New York 1984, p.54.
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Indeed, a fellow Scotsman David Roberts (1796-1864), painter and illustrator, whose work is bought by many tourists arriving in Cairo in postcard form, makes this entry in his Journal of December 24, 1838: From the heights of the Citadel, the spectacle offered at night fall was magnificent … the Pyramids loomed on the horizon, dark as the clouds that hung over them, and the Nile reflected the last glimmers of light, while the city stretched out as far as the eye could see, studded with fantastically shaped minarets.2
Roberts was to be the last artist who saw Cairo and Egypt through the eyes of the painter, and not yet through the photographic lens. The subsequent year everything would change when the Daguerreotype was publically announced in Paris and the Pyramids and Cairo were to become the first objects for the camera. Francis Frith (1822-1898), his successor traveler was to initiate the classic phase of photographing Cairo and the Land of the Pharaohs. The German photographers Rudolf Lehnert (1878-1948) and Ernst Landrock (1878-1966) were to establish a gallery and bookshop in 1904, as Oriental Art Publishers, whose photographic activities attained celebrity as well as photo status claimed, by now, classic. The oriental imagery of Cairo prevailed well into the mid-20th century that was to have its abrupt end with the Revolution of 1952. However, before the beginning of World War I, the German painter Max Slevogt (1868-1932), observed the following in 1914: Kairo ist in seinem ursprünglichen Teilen eine ganz tolle Stadt, und keine Beschreibung reicht aus, die Fremdartigkeit all dieser hundert von Racen und Farbungen, Trachten einigermaßen zu schildern … Die Kalifengräber, Moscheen unglaublich schön, – Bazar und das abends etwas verrufene Viertel, der sog. Fischmarkt, mit den Kaffeehäusern, Tänzerinnen, Musikanten. Vermutlich ganz einzig auf der Welt, so unverfälschter Orient.3
Slevogt, an artist of distinction in his own right, writes in simple German, but in such direct felt impressions that the reader can ‚feel‘ his descriptions of multicolored forms experienced, especially if he actually lives in the place. The life Slevogt describes is for the painter and not for the camera, or photographer, since the emotions that are exhibited are, in fact, the interpretations that go along with the dance, with the bazaar activities, the coffeehouses, or the prayer at nearby Hussein Mosque, not too far from the famous Fishmarket. And we discover Paul Klee (1879-1940) in Cairo in 1928, at the time he was a teacher-painter at the famous Bauhaus School in Dessau, this master of the classic modern style, still could enjoy simple beauty and be open to the expe2 3
Cf. David Roberts: Egypt. Yesterday and Today. Lithographs and Diaries. Cairo 2010, p.212. Cf. Robert Sole/Marc Walter (Hrsg.): Legendäre Reisen in Ägypten. München 2004, p.102.
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rience of the five senses that he cultivated, already during his Tunisia expedition in 1914, with his friend August Macke. The oriental experience meant to Klee as well as Macke, the full color spectrum, the experience of pure light, in which color plays in subtle and extreme ways upon the senses. Anyone familiar with the work of Klee and Macke sees immediately the Orient experience operating on their canvases. We read in his 1928 Notebook entry on Cairo: Zuerst besuchte ich das Aegyptische Museum. Das kennen wir zwar alles zur Genüge aus unseren Museen, nur etwas, wie die Ausgrabungen Tuteuchamon habe ich noch nirgends gesehn, das ist, als ob es gestern geschaffen wurde. Gewiss ist es über kultiviert, aber schön schon! Im Übrigen sah ich herrlichen Schmuck und irgendwo ein kleines Musikinstrument, das mich sehr bezauberte.4
No doubt, Max Weber’s pronouncements about the „die Entzauberung der Welt“ had not yet reached the ear of Klee. By the time the Second World War was approaching the time of the Grand Tour was over and last travelers of the 19th century style simply enjoyed the terrace of the old Shepheard’s Hotel with a sense that modernity too, has entered the Orient, especially in Cairo, with the influx of thousands of British soldiers, readied for the Desert War to come. Such traveler was Paul Morand, who commented in 1938: „Doch ich schätze es auch, nach einem Vormittag im Museum, unter dem großen Sonnensegel des Shepheard’s der Ruhe zu pflegen, den Helm auf den Knien, den Ginfizz in der Hand. Das Shepheard’s.”5 ALONG THE ‚GOLD COAST‘ CORNICHE
I start my daily walk at the southern tip of Garden City, the district of downtown Cairo, sandwiched between the main avenue Qasr al-Aini, leading from the famous Qasr al-Aini Hospital, leading directly to Tahrir Square, and running parallel, the Corniche Road and the river Nile. Garden City is a development founded in 1900 where Egypt’s modern rulers had been housed until the 1952 Nasser revolution; the district houses most embassies in villas, mansions, and apartment buildings of the fin-de-siècle style, late 19th century art deco, with some Bauhaus innovations, and Neo-Mamluk style. The British Army Headquarters, at 10 Tolumba Street, known to veterans and historians of the Second World War as ‚Grey Pillars‘, directed the El-Alamein campaign against Rommel’s Afrika Corps. For art historians of the late 19th and early 20th century, Garden City is a jewel to be discovered, since the architecture and architectural landscape 4 5
Ibid., Paul Klee, p.82. Ibid., Paul Morand, p.78.
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is original, as well as its numerous, highly interesting gates, elevators, and entrances. Its concentric web like streets, confusing, but entertaining, since at almost every corner there is to be made a discovery, architecturally, or historically; the rich, the powerful, the famous, and the beautiful lived here to rule the destiny of modern Egypt for more than a century. First the British in the form of a Protectorate, then King Fouad and his son Farouk with entourage, would handle the internal affairs of Egypt. As I walk I see, on my right, the French Girls’ Boarding School ‚Mere de Dieu‘, still operating, housing Egypt’s modern day upper-middle class, as it has always done. The language of instruction is Arabic, but French co-exists, as a sort of bilingual acquisition education. Yet, the property owner is the Vatican, this, too, is contemporary Egypt. As I turn the corner, greeting Egyptian soldiers, who protect the embassies, along with local police, since February 11, 2011, with the deposition of President Mubarak, I see the Italian Embassy, in its elegant mixture of art deco and futuristic style of the 1920s. After ten minutes I make a left turn and see the newly build Four Seasons Hotel, the Corniche Road, and across, the Grand Hyatt Hotel and, the Nile. As I move to cross the Road I see to my left the Greek Embassy with its Neo-Mamluk style building. I cross the street at Four Seasons Hotel, and reach, at last the Corniche, directly near the river Nile. This stretch, from the Italian Embassy until the Qasr al-Nil Bridge, near the Arab League, was known, as ‚Gold Coast‘. Indeed, it is a breath taking view, especially at dawn and sun set when, on a clear day we can recognize the Gestalten of the Pyramids. However, the best view still, can be had from the terrace of the old French Meridian Hotel, a view of the expansive Nile, the feluccas, the Cairo Tower, the Qasr al-Nil Bridge, while the drums, ever present, either by the players at the terrace restaurant, or on the numerous boats that glide by the terrace, always celebrating, deep into the night. I walk along the Corniche, to my left the Nile, to my right the Road and its multi architectural landscape; after ten minutes I see the newly inaugurated Kempinski Hotel, with its German and Egyptian flags, signaling friendship between the two countries, then the garden side of the British Embassy. I can see the Union Jack alongside the EU blue and gold stars flag; of course, this mid-19th century building, reminding one of an Edwardian style mansion, from the inside, had been the most important building in Garden City, housing the British Viceroy, then Pro-Consul, including Lord Kitchener and Lord Cromer. Suddenly I am reminded of British writers, who lived in Garden City during the 1940s, previously stranded in Greece with the advance of the German Army: Lawrence Durrell, who worked in the cultural attaché section of the Embassy, until he transferred to Alexandria. Out of this experience he worked out the famous Alexandria Quartet, a work of art, dealing with his experience of people and events in Garden City and Alexandria. Also, I am reminded of Olivia Man-
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ning, the most successful English-language woman writer of the Second World War and her husband Reggie Smith, who lived at 13 Ibrahim Naguib Street across from the Embassy, around the corner of my former apartment building. Manning’s Levant Trilogy dealt with the fortunes of war, its social and political consequences for people in the Balkans, as well as the Middle East, especially Cairo. Many scenes and characters of the book we find located in Garden City, around the British Embassy. Her recognition came when a television series ‚The Fortunes of War‘ was aired in the United States and Britain, based on her work. Aside Durrell and Manning there were other British writers, exiled in Cairo in the 1940s, such as Keith Douglas, the foremost British Second World War poet, who died during the Normandy campaign. The Anglo-Egyptian Union was the place for literary activities were Durrell, Terence Tiller, Bernard Spencer, Robin Fedden, and John Cromer laid the groundwork for the literary journal called Personal Landscape, that was to become a landmark in the history annals of British Second World War literature. It is difficult to believe that in spring of 1943 Cairo’s upper echelon society celebrated ‚Gone with the Wind Party‘ that made headlines in Cairo. My attention, for a few minutes moved to the other side of the Corniche, the island of Gezira, also known as Zamalek district, where the Cairo Tower greets every visitor to downtown. The Tower was inaugurated by Gamal Abdel Nasser (19181970) and Nikita Khrushev (1894-1971) in 1956, at the time where socialist Egypt and the Soviet Union had a close partnership that was terminated with Sadat’s ‚Open Door‘ policy. A comprehensive view, from the top of the tulip shaped Tower can be had of the entire downtown area. The next historic site is the new Shepheard’s Hotel; of course, the new site was built in memory of the Grand Shepheard’s, established by Samuel Shepheard in the 1840s near the Ezbekiya Gardens, where Napoleon and his Generals were housed in 1800. The old Shepheard’s was the most famous hotel in the Near East, as the region was known then, and turned out to be the place to be seen, heard, and observed. Oriental travelers like Gertrude Bell, Edward Lear, or the famous ‚Lawrence of Arabia‘ (T.E. Lawrence), or Howard Carter, would go in and out. On the terrace and the Long Bar of Shepheard’s the latest news were exchanged about el-Alamein, or political wrangling of the Abdine Palace, the official seat of King Farouk and his family. Thus, British colonialism operated in Egypt from the British Embassy, the Shepheard’s, the British Army Headquarters in Garden City, to the Gezira Sporting Club, and Victoria College in Alexandria and its branch in nearby Maadi, in which the young Edward Said grew up with his friend Omar Sharif, who was to turn out Egypt’s most famous film export. Lately, the new Shepheard’s revived some memories in the Canadian film Cairo Times (2009) that plays at the doorsteps of the new Shepheard’s presenting a romantic view of modern day Cairo.
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I arrive at Semiramis Hotel, across from the new Shepheard’s and walk in a few minutes onto the famous Qasr al-Nil Bridge. From there I can view the entire region of the Nile to the south as far as El-Gamma Bridge, leading to Cairo University (in the 1920s known as Fouad I University, where Robert Graves taught English literature, the German Arabist Enno Littmann giving lectures, or Orientalists such as Louis Massignon and A.J. Arberry, as well as Jean-Paul Sartre and Simon de Beauvoir, in the 1950s, would hold court with Nasser in the audience). Cairo was a metropolis long before the modern name was invented for such a concept. The modernization of Egypt started with Mohammad Ali, a Kurdish soldier who reigned on behalf of the Sultan in Constantinople, but made himself independent of Ottoman rule. In subsequent years his dynasty continued modernization which culminated in the building of the Suez Canal in 1869. It was especially during the reign of Khedive Ismail (1830-1895) that Cairo was turned into a Paris on the Nile. Haussmann’s city planning combined with Neo-Mamluk style architecture was to be the direction the new and modern Cairo took. Khedive Ismail Pasha wanted to improve the transportation systems in the new Cairo by linking Gezira Island with the downtown area, the center of power. He commissioned the Qasr al-Nil Bridge, started in 1869 and completed in 1871, and was considered, at the time, an extraordinary achievement. The demands of modern and quick transportation, as well as the increase of volume made the bridge an important milestone in Cairo’s modernization project, in the latter half of the 19th century. A painting by M. Rabes of 1894 shows the Bridge with a market at its entrance, with donkeys, camels, and horses, surrounding a vegetable market. The bridge was also used for toll collection. Particularly at present, 2011, the most significant icons of the bridge are its four bronze lions; the Khedive had placed two lion statues on granite pillars, at each entrance of the bridge, imported from France, and still ‚defends‘ the bridge today. Instead of camels, donkeys, and horses, we find massive traffic, rush hour, stop-and-go almost twenty-four hours. From the bridge we can see directly the 1950s Arab League Building with its unifying Green Flag, and next to it, the newly named The Nile Ritz-Carlton Hotel (the former Nile Hilton Hotel and previous location of the British Army Barracks during the Second World War). Somewhat further, within eyesight we see the burned out headquarters of Mubarak’s political headquarters, that went up in flames during the January 25 uprising. Far to the left we can make out the towers of the Marriott Hotel (the author’s favorite since twenty years residence). The Marriott Hotel has historical significance since it was commissioned by the Khedive Ismail as the Gezirah Palace in order to accommodate the European dignitaries, especially Empress Eugenie of France, wife of Napoleon III, for the inauguration of the Suez Canal in 1859. A visitor to the Hotel’s (later renamed Marriott) main lobby can make out on the original wall paintings the celeb-
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rations and excitement of the opening of the Suez Canal. It was Egypt’s entrance to the world community, but, unfortunately, also bankruptcy, turning into a Protectorate of the British, thanks to Prime Minister Disraeli. Yet, the Palace has also architectural significance: the Khedive had engaged the German architect Julius Franz to design the Palace, while Carl von Diebitsch (1819-1859), took on the interior aspects of the Palace. Many decorative aspects of the Palace had been pre-fabricated in his workshop in Berlin and transported to Cairo, which the contemporary visitor and tourist still can admire in its original configuration. This wonderful Palace with its historic 18th century style garden was well preserved and handled by Marriott, serving not only as an exquisite Hotel, but also an icon of Cairo’s belle époque period. The Qasr al-Nil Bridge leads directly into Tahrir Square, the center of modern downtown Cairo. HEARD AT CAFÉ RICHE: NAGUIB MAHFOUZ AND CAIRO’S LITERARY CIRCLES
No doubt, awarding the Nobel Prize for Literature in 1988 to the Egyptian writer Naguib Mahfouz (1911-2006) was highly significant for the acknowledgment of modern Arab literature. It was especially Mahfouz who developed the Arab form of the novel in the 20th century. He reminds us of Thomas Mann in its scale and grandeur of narrative chronology, enmeshing personal life with the historical context. Mahfouz’s masterpiece known in translation as The Cairo Trilogy (consisting of Palace Walk, Palace of Desire, and Sugar Street) tells of an Egyptian lower middle class family, spanning from the First World War until the end of the Second World War, 1917-1944, living in the historical district of el-Gamaliya, near Khan el-Khalili, where Mahfouz spent his childhood. In the Trilogy we find a sort of John Galsworthy’s Forsyte Saga, or Thomas Mann’s Buddenbrooks. The Trilogy was published in the early 1950s in Egypt and was recognized immediately as a master piece. Considering that most Egyptians could not read or write, although there is some improvement by 2011, but still half of women are illiterate, Mahfouz’s novel was adapted to the television screen in series and was, thus, recognized by the public as the Egyptian writer. I was fortunate to associate with a colleague in the early 1990s at the American University in Cairo, Dr. William Maynard Hutchins (son of the famous Chicago University President Robert M. Hutchins), who was one of the principal translators of the Trilogy. That collegial situation gave me many opportunities to discuss the translation process from Arabic into English, the work and language nuances by Mahfouz. Of course, the reason I mention Mahfouz and Café Riche is, simply, they were inseparable for many years. Whoever wanted to discuss literary and
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Abb.1 Café Riche, Cairo. Foto: © Magdy Abdel Malik.
political events with Mahfouz would show up at Café Riche, probably the most famous literary Café in Cairo, for the last hundred years. Café Riche, a ten minute walk along Talaat Harb Street from Tahrir Square, celebrated its One Hundred Anniversary in 2008. I was lucky, as a foreigner in Cairo, to have found an elderly Egyptian gentleman as a friend in Mursi Saad el Din who celebrates his ninetieth birthday in 2011. He belongs to Mahfouz’s generation and had graduated from Cairo University in 1943. At that time, he tells me, he was able to meet many exiled writers from Europe, such as Durrell or John Cromer, with whom he co-authored a book on the influence of Egypt on British writers. Mursi was generous as to have me participate in cultural events that were aired on Egyptian Cultural channels. We, at one time, participated in a Cairo round table at a literary setting at the annual Cairo Book Fair. The literary set was gracious to me in that they would translate my commentaries into Arabic to the audience, while, at the same time, would translated their own speech, originally in Arabic, into English to have me participate. This was a typical procedure I have experienced in many meetings with Cairo’s intellectual class that would meet in various café’, especially at Café Riche. This Café not only housed Egypt’s literary elite, but gained a reputation for its food and specialties, such as Turkish coffee, cappuccino, tabula, tahina (that turned out to be the favorite dish of Jürgen Habermas, while visiting in 1998), Stella beer, whiskey for the rich, cognac for the less-well-off , and brandy for the modest. Mursi was a perfect mediator between the British and Egyptian intellectuals, since he spent twelve years as the Egyptian Cultural Attache’ at the Egyptian Embassy in London, was active in Radio during the 1950s, was the information service spokesman for the Sadat government, was editor of the well-
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known magazine Egypt Today, and wrote, for many decades a column for the Al-Ahram Weekly (the English version of the Arabic major newspaper of Cairo and the Middle East). Thus, Mursi was certainly well equipped cultural, as well as very well informed, as to the cultural activities in Cairo throughout the decades, from pre-Nasser times to the end of the Mubarak Era. Meeting Mursi in Café Riche, he tells me stories of all the writers, actors and singers, whose photograph and portraits are on the wooden panel walls of the Café, one hundred, with the place of honor at the center, Naguib Mahfouz. Some time the present owner, Mr. Magdy Abdel Malek would join us, and adds details he remembers from his father’s stories, or, he would tell about the times of Nasser at Riche. Personalities from the music life of Cairo, such as the legendary Umm Kulthum would show up, or, at a time Dalida, the Egyptian-French singer from Alexandria, famous during the 1950s. Some of the literary celebrities I would recognize, Taha Hussein (1889-1973), Yusuf Idris (1927-1991), Tawfik al-Hakim (1898-1987), Gamel al-Ghitany (born 1945), Sonallah Ibrahim (born 1937), Mohammed Choukri (1935-2003), who was the Arabic translator and friend of the American expatriate in Morocco, Paul Bowles (1910-1991) famous for the novel The Sheltering Sky (the film version of 1971 by the Italian director Antonioni and American actor John Malkovich is considered a movie classic), or the Sudanese writer Tayeb Salih (1929-2008), whose work Season of Migration to the North, attained a modern classics literature status with Penguin Press. These are only some of the notables whose photographs and portraits on the walls of the dining room of Café Riche are in memory of their great cultural service, but also as participants in the numerous literary affairs, conducted in that historic place. Still active in December 2010 at Café Riche is a waiter, known to all as Mr. Filfil, who had been active in the Café since 1943. He is, in fact, along with Mursi, historical witness of the events of the literary life of Cairo. In his Tarboosh, the old headgear of Khedieval Cairo, and blue attire he serves in the old style with politeness, respect for the customer and reverence for the literary elite of Cairo. He recalls as he served many literary figure, at times famous singer or actors, with a sense of humility and humor. Mr. Filfil tells his story: It was my first time in Cairo. I remember we reached Mahattet Masr (Cairo Railway Station). The city lights were amazing. We never had such lights in our Nubian village. There they used to tell us that going to Cairo it’s like going to al-Hijaz to perform pilgrimage. I went to my late uncle’s house in Manial. He bought me new cloths and then brought me to Café Riche.6
The journalist Hassan Ibrahim relates: 6
See The Chronicles: Economic and Business History Research Centre, American University in Cairo, 100 Years of Café Riche: A Memory of the City, Fall 2007, p.18.
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One of my earliest memories of childhood is Café Riche. Ever since I was three, I became attached to this place. At the age of 16 I was like my home away from home… Then the real motivators of society and the Left used to sit in the other corner with Naguib Mahfouz and Abbas al-Aswamy. It helped me to formulate a trend of thought … Whenever, I come to Cairo the first place I come to is Riche. It was the first place I had a scuffle with the law. I was arrested just outside Café Riche in 1977 for having taken part in the uprising against Sadat’s decision to lift subsidies. It was the happiest time of my life because I was imprisoned with la crème de la crème of the Egyptian society. After I was released I didn’t even go home, I came to Café Riche.7
The critic Farouq Abdul Qadir tells his story: When Gamal Abdul Nasser died in September 1970, I noticed that Naguib Mahfouz started spending all his time in Café Riche. He changed his system completely. He used to go to Riche from morning to night. He used to come in the morning, spend a few hours, then leave for two hours, perhaps to get lunch or to change, and then he would come back in the afternoon. I learnt that he similarly changed his system in 1967. Abdul Nasser died on a Sunday and the funeral was supposed to take place on the following Thursday. We used to go to Riche. … We were looking for a high place from which we can follow the funeral. … We saw the plane that carried Nasser’s body flying over Cairo and landing. The funeral started by being very organized until it reached Qasr al-Nil Bridge. In Tahrir Square, people got hold of Nasser’s body. After all that, we returned to Café Riche. I found Naguib Mahfouz there. I heard the most truthful comment from Mahfouz about Nasser. He told me King Fouad died in 1936; he was a dictator; and still, people took to the streets to mourn him.8
Lastly, the businessman Azer Farag Azer, relates his experience with Café Riche as follows: I followed Mahfouz to Café Riche. Here you found everyone, the liberals, the remaining of the Wafdists, as well as some pashas … Everyone … All the writers known today by the generation of the 1960s came out here. Naguib Mahfouz used to come here every Friday at 6:00 p.m. If he got here at 5:55 p.m., he would walk to the nearby Madbouly bookshop and come back at 6:00. He used to leave at 8:30 p.m. sharp, even if they tell him that Gamal Abdul Nasser is coming to visit him in Café Riche tonight. Through his gathering, I came to know all writers at the early times, Gamal al-Ghitany, was still working in the Cooperative for Carpet Marketing in Khan Al-Khalili; Gamil Atteya was a fresh employee; Bahaa Taher was working in the radio with al-Birnamej al-Thani; Ibrahim Mansour was a communist who gave all his time to public affairs; Yehia al-Taher Abdullah, Amal Donqol and Abdul Rahman al-Abnoudy had just come from their villages in the south.9
We can see from these testimonies that Café Riche was the paramount public space to exchange ideas and debate the political fortunes of Egypt and the Middle East. It was metropolis as public space in which the intellect and cultural refinement reigned.
7
Ibid., p.19. Ibid., p.20. 9 Ibid., p.20. 8
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THE YACOUBIAN BUILDING:„I ADORE PARIS, I LOVE CAIRO“
In 2002 the second novel of Alaa al Aswany was published with the title The Yacoubian Building. Alaa was the son of Abbas al Aswany a writer and frequent visitor to Café Riche. His son’s novel was an immediate success, but considered highly controversial. The novel deals in a realistic fashion with the underside of Egyptian contemporary society. There are things in Egyptian society that are not spoken in public, but practiced in private, with eyes closed, ears shut. The novel was put into film in 2006 and an immediate success. The interesting part is, that the people presented in the novel as well as in film are proto-typical of the seamier side of Egyptian society, however, the philosophic aspect deals with the residence at a specific address downtown Cairo, Talaat Harb Street 34, known as The Yacoubian Building, located near Café Riche and Talaat Harb Square, situated near another famous site, namely the Groppi coffee house. During the Second World War Groppi at Talaat Harb Square was a favorite of British officers and their entourage. The architecture is fin-de-sieclé, especially Groppi itself, even in our day 2011, an exquisite Art Deco entrance hall. One of the reasons why Mahfouz and a younger generation of writers, headed by Alaa al Aswany, are important lies in their sharp analysis of societal contradiction that prevail in Egyptian society, that are normally not spoken off. Moreover, for a western reader the novels of these two Egyptians are highly relevant to understand underlying tendencies of Egyptian society, especially Cairo, because there are very few serious works in sociology that deal with Cairo’s social problems. Generally speaking, problems that appear in Cairo turn out to be the problems of the whole Egyptian society. Alaa al Aswany is a dentist by profession, his dental clinic is located not too far from the Italian Embassy in Garden City and, he, like Mahfouz, spends time to meet his literary and political friends to deal with Egypt’s social ailments. His situation is somewhat like the German poet Gottfried Benn, or Alfred Döblin, who dissected the social and political ills of Berlin in the 1920s and 1930s. Both, Benn and Döblin are medical doctors by profession and derive from their specific experience in the medical field and their engagement with their patients a reality level that few writers achieve; likewise, Alaa who, as a dentist deals with many people on a daily basis from different levels of Cairene society. At one point I had the good fortune of meeting Alaa al Aswany sometime in April of 2008 at the Afaq Book Publishers and Bookshop at Qasr alAini Street, not too far from his office and my apartment building. There was a reception in his honor, dealing with his book and discussing the film at the same time, causing controversy in the press and, especially religious communities. His excellent English he attained during his student years at the University of Chicago, and having lived in Chicago for twenty years, until he decided to
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return to Cairo. Ironically, his subsequent novel was called Chicago. He is a soft spoken man who has an acute sensor for social development and movement and was involved, personally, in the Tahrir Square uprising. He is not a classic revolutionary, but a responsible Egyptian citizen who tries to contribute to his society elements of civil society, that are not yet in place in an Egyptian society that is still, basically, tribal in nature. And I should add, he, like Mahfouz, has a keen sense of humor who understands the fragile nature of human beings. At one point Alaa describes the Egyptian situation, set in the 1960s, but meant to be a contemporary analysis of the Mubarak years: Downtown remained, for at least a hundred years, the commercial and social center of Cairo, where were situated the biggest banks, the foreign companies, the stores, the clinics, and the offices of famous doctors, lawyers, the cinema, and the luxury restaurants. Egypt’s former elite had built the downtown area to be Cairo’s European quarter, to the degree that you would find streets that looked the same as those to be found in any of the capitals of Europe, with the same style of architecture and the same venerable historic veneer. Until the beginning of the 1960s, Downtown retained its pure European stamp and old-timers doubtless can still remember that elegance. It was considered quite inappropriate for natives to wander around in Downtown in their gallabiyas and impossible for them to be allowed in this same traditional dress into restaurants such as Groppi’s, A l’Americaine, and the Odeon, or even the Metro, Saint James, and Radio cinemas, and other places that required their patrons to wear, for men, suits, and, for the ladies, evening dresses. … Then came the 1970s, and the downtown area started gradually to lose its importance, the heart of Cairo moving to where the new elite lived, in El Mohandiseen and Medinet Nasr. An inexorable wave of religiosity swept Egyptian society and it became no longer socially acceptable to drink alcohol.10
Indeed, in our conversation I noted that by the 1990s, when I arrived in Cairo, in the early days terrorism started hitting the downtown area. Along with it more and more young woman started to wear headgear so that by the year 2000, at the turn of the century, the majority of Egyptian women, especially the younger generation wore hijab. The older generation, of the 1950s, their mothers and grandmothers were somehow confused, since they really did not understand why this change of attitude expressed in conservative clothing. Of course, as I noted to him, the gap between rich and poor was enormous and the traditional middle class was losing in stature and economic security. An important factor was the petro dollar; many fathers and elder sons went to go work to Saudi Arabia, Kuwait, also in Iraq, at one point, and imported the conservative Wahabi ideology as well as the more radical Salafi perspective into Egyptian society. The idea of tolerance, in matters of religion, has always been a kind of lifestyle in Egyptian society, however the influence of the petro dollar ideology tested Egyptian society. He agreed with me that contemporary Egyptian society is at a crossroad between conservatism and liberal attitudes and is trying somehow, like the daily traffic we could observe on Qasr al- Aini Street from Afaq Bookshop, to survive that traffic without too much damage. The uprising at Tahrir Square was 10
Cf. Alaa Al Aswany: The Yacoubian Building (tr. By Humphrey Davies). Cairo 2004, pp.32-33.
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to be the first episode of that survival. We find ourselves, in contemporary Egypt, 2011, in a societal transformation in progress. The book as well as the film is actually a declaration of love to Cairo, despite its ironic and critical attitudes shown in the book and screenplay. One of the highlights of the film the well-known actor Adel Iman, standing near Talaat Harb Square with his maid, in front of the Yacoubian building, during midnight scene shouts, „I adored Paris, but I love Cairo!“ This reminded me of a remark the actor Omar Sharif made, at a private meeting at American University, sometime in 2003, upon his return from Paris, after a prolonged stay in a hospital, when he replied to a young student who asked why he stayed away from Egypt so long, he replied, „Europe is my mistress, Egypt my wife“. It is the earth bound, the family oriented, the religious ground, and the Nile Valley history that swings along in the metropolis of Cairo, ancient or modern, in the deep psychology of Egyptians. This is what Mahfouz tried to make clear, this is what Alaa Al Aswany is trying to reiterate, and this seems to be the deep message of an even younger generation of Facebook, Youtube, Twitter, and Internet. Modern, yes, but accompanied with a Nile Valley feel. REVISITING TAHRIR SQUARE IN 2011: A REVOLUTION IN PROGRESS
I check my calendar in order to be able to recall a few facts that help me to get events ordered in my memory. On January 15, 2011, a Tunisian street vendor, in Sidi Bou Sid near Tunis, put himself on fire in order to protest the brutality of the police on the streets of Tunisia. The young man, a college graduate, couldn’t find employment and in order to support himself and his family started his small street vendor business, selling vegetables. Apparently he did not have a license to operate his business and the police wanted to confiscate his operation. In the scuffle a female police officer slapped his face, his dignity as a man and human being was violated, especially in an Arab cultural environment. That was the straw that broke the camel’s back and he made his fateful decision to incinerate himself in public. This event was to turn out to be a symbolic event and millions of young men, in the Middle East identified themselves with their Tunisian brother-in-arms. The global communications possibility, Internet, Youtube, Twitters, turned the images of that eventful day into a global event. The daily humiliation, the brutality of local security police, the utter hopelessness of finding meaningful employment for college graduates, not to mention the ordinary young men hanging about in the streets, day and night, in the major cities of the Middle East, fueled the tension of despair and frustration in the air not only in Tunis, but also in the metropolis Cairo. No one seems to care; there
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was a sense of hopelessness for the future of the next generation. Marriage, the rite of passage in any Middle Eastern society, for young men and women, was almost impossible to achieve without jobs and money, unless one may be lucky enough to find a job in the oil rich countries, such as Saudi Arabia, or Kuwait, or Dubai. All the young men in North Africa and Middle East identified with the young Tunisian man, which broke into a storm of protest and uprising against the local regime and police security apparatus, from Tunis, to Cairo, to Bahrain and Yemen. Later, Tripoli and Syria were to join the tornadoes of the Arab youth uprisings against their authoritarian regimes. In happier times, Sidi Bou Sid, on my visits to this beautiful outskirt of Tunis, with its dreamlike coast line, conducive to any artist’s soul to be invited by the intense light to experiment with the play of the color spectrum. Indeed, I remember, that it was in April 1914, the German painter August Macke (18871914) and his friends Paul Klee and Lois Moilliet spent time at the Sidi Bou Sid Café De Natte, which was known, during my 2006 visit, as Café Al Alia.11 Many tourists frequent Sidi Bou Sid and Al Alia Café, where copies of Macke’s water color paintings of the Café and the region can be bought and his ‚Tunisreise‘ commemorated. Irony has it, that a ten minute walk from the Café to the main road, was to be the location from where the Arab youth uprising was to ignite. The Tunis event turned out to be a symbolic event: the young man humiliated stood for a generation of young people that make up half of the population in all Arab-speaking countries. In Egypt, that was to be the epicenter of the uprising, and still in progress, over half of its eighty-two million people is under the age of thirty, and ninety per cent of these, are unemployed (according to UNESCO statistics). The uprisings were more of a demographic earthquake that was waiting to erupt, sooner or later, until the tensions and contradictions, accompanied the social structures, for decades, could no longer be denied. Not to forget in 1991 the Internet was born for public use and Egypt’s population was able to have access to mobile phone service in 1995. Thus, demographic imbalance in favor of a very youthful population, without any serious chances of a future and the possibility of a global communications reach, came of age. The signs of disconnect between the young and the ruling regimes and local authorities and autocrats in most Arab-speaking societies, did not go unnoticed. The Zeitgeist and sign of the times were ready to be ignited by the Tunisian street vendor at Sidi Bou Sid. It is difficult to compare what happens in Tunis, Libya, Egypt, Syria, Bahrain, or Yemen, to the classic revolutions in France of 1789, or the Soviet Revolution of 1917, or the Iranian Revolution of 1979, not to mention the reunification of Berlin in 1989. I suggest that the student revolt in Europe and 11
Cf. August Macke: Die Tunisreise. Aquarelle und Zeichnungen. Köln 1984, p.14.
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the United States, then around the world in 1968, comes closer to the essential aspects of the uprising of Arab youth in 2011. In both cases, the leaders derive from academic and upper-middle class youth. It is the frustrated educated young person, equipped with the latest communication technology that led the revolt, in 1968, as well as in the squares of the Arab world. At a particular moment, when fear was lost and had no longer a hold on the psychology of the population there was no stop to the demonstrations and rebellion against the regimes. Both rebellions, 1968 and 2011, share common elements: the sheer bulk and numbers of the young generation, those born after the Second World War and those born after 1991, the year of the Internet appearance, manifest themselves in public space as the majority of the population. They are articulate and are able, with the help of new developed communications technology, to demand their rights and aspirations. The old elite responded with old fashioned methods and outdated concepts, material responses, from tanks to guns and violence. This crude kind of response, like in Prague by Russian tanks, but Tahrir Square no longer intimidated the educated and the young, many protestors had to pay with their life; yet, at a particular moment life triumphed over death. Of course, there are differences: the student rebellion of 1968 had their charismatic leaders and the newly emerging television color images would provide the rest for society, on evening news in their homes, spectacles, entertainment, whose underlying intentions went unnoticed, until the son or daughter joined the rebellion. The middle class elite did not quite understand what was going on until it was too late; likewise, Egypt’s political elite grasped the reality of rebellion much too late. Yet, if they would have paid attention over the last decade they could have seen the writing on the wall, but the eyes turned blind, or they simply looked the other way, built gated communities and mansions, in suburbia new Cairo. A sense of Marie Antoinette was in the air, „Let the masses in Cairo’s street eat cake“. The problem was that there was no longer subsidized cake to be had. The revolution of a life style, from the Puritanism of the Victorian age still dictated the black and white melodramas of the television series on American public television, Mr. Smith goes to Washington. By the time the revolt marched through the institutions and the youth alienated from their parents, the revolt turned global, „Don’t trust anybody over thirty“, and „Make love, not war“. At times, as in Tahrir Square, there was delightful clever humor displayed, in 1968, a poster showing, Marx, Engels, and Lenin, had a caption underneath, „Workers, don’t let them take your villas in Tessin.“ At Tahrir Square, I could read on a wall, „Antique Shop: Pharaoh for Sale“. Victorian morality was swept aside and a joyful anomie entered the social life, first, of Europe and America’s middle class, then the rest of society followed. Again, also in Egypt it was the educated upper-middle-class that was heavily involved and, I may add, many of my students from the American University. I
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would like to think that, perhaps, because many of the students at the university took my philosophy courses, over the period of twenty years, ideas and ideals, from Plato to Kant, from Hegel to Habermas, may have contributed somewhat towards the manifest uprising. In fact, I had invited Habermas as a guest of honor to Cairo, who spoke on the topic, „Can we learn from Disaster?“; that was in 1998, and I wondered, in the meantime, if Egypt’s younger generation did learn something from philosophy. The decisive factor, however, no doubt was the demographic bulk sweeping North Africa and the Middle East: youth operates on hope, operates on ideals, operates on unfulfilled dreams, and aims at the future. When these hopes are not acknowledged by their elders and the rest of society, the social network that holds the enmeshments of social bonding in institutions will no longer function, the generational trust and connection will be disconnected and mistrust will set in. The breaking point of 1968 was the Vietnam War; the breaking point for the Arab youth revolt was Sidi Bou Sid in January 2011. The British poet Stephen Spender, a sensitive witness and reporter of the events of the student rebellion of 1968 in Berkeley, Berlin, Paris, New York City, and Prague, had this to say: The breakdown of communication between generations, which has contributed to the militancy of the students, is the result of a particular kind of situation. This situation is liable to occur when a government, the ruling class, or/and the political establishment acts in a way which seems to the young a violation or betrayal of ideals.12
Indeed, the pronouncements in the Internet, blog sites, Youtubes, twitter, and mobile phone SMS, not to mention the actual protests witnessed, from Tunis to Cairo, from Bahrain to Yemen, is the violation of the ideals that Arabspeaking youth feel in their heart, had been tossed aside into the dirt, and that personal freedom and human dignity were not possible. The demand of Arab youth is less about life style, more about being able to live a life in dignity. For this message was also pronounced in the mosques during Friday prayers in Cairo and other major cities in the Middle East, that we are God’s children and have a right to a dignified life and not of slave existence. The religious background is always there, but, somewhat less emphasized at public meetings by the educated middle class youth. It is a religious message in secular form that Marx had already taught the young people in the West, during the 1968 rebellion. Arab youth made it clear in Tahrir Square, and in many demonstrations, that their leaders had treated them like stupid animals, worthless beings, not be noticed, simply to be used as slave labor. The immorality of the local rulers, in the form of secret brutality, and not so secret corruption, was staggering. This Arab uprising does not simply follow a political agenda, but follows a moral imperative; 12
Cf. Stephen Spender: The Year of the Young Rebel. New York 1969, p.129.
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Kant’s image would have fitted well onto the posters, portraying the martyrs of the uprising. In fact, the Arab youth rebellion is a moral uprising, a moral protest on behalf of betrayed values found Islam’s Holy Book. Some Wahabi and Salafi extremist ideology had tried to exploit the situation, but to no avail. The young people in Tahrir Square know the difference between Islamic and Christian values, as they were taught in ordinary daily life by their parents, or in the Churches and Mosques of Cairo. The demands of modern life and the moral demands of their religion is for many no contradiction, but a challenge that must be met, not with petro dollars, but education and the belief that life in a civil society is worth all the efforts. Being in Washington, D.C., on my annual Christmas visit and semester break from teaching at the university in Cairo, on January 20, 2011, I encountered my friend Dr. Nasr in the well-known restaurant Mall Pennsylvania Avenue 2000, ten minutes walking distance from the White House. The charming and eminent Iranian scholar of Islamic culture, Dr. Seyyed Hossein Nasr, University Professor of Islamic Culture and Religion at the George Washington University; I would see him, over a decade, either in Washington, D.C., or Cairo, and discuss the situation in Iran and the Middle East. Always polite and inquisitive, Dr. Nasr, as he prefers to call himself, asked what was going on in Cairo these days. I mention the protests of journalists, some labor demonstrations at the local Mahalla textile factory, and in front of the Egyptian Parliament Building (known as Shura Council) on Qasr al-Aini Street, as well as the inflationary prices for bread, oil, and other basic necessities. Especially the marriage crises that exists in Egyptian society because the young men, particularly, can’t find jobs and earn a decent salary to offer marriage, the most important social institution in Egypt, since it signifies the rite of passage of the young into responsible adulthood. I told him about my bawhab (Hausmeister) who replied with a sense of Gelassenheit, when I asked about the difficult economic situation of the population and what he thinks will happen, he simply replied, „Pasha, we Egyptians have survived many Pharaohs over the thousand years and we will survive this one too, Inshallah“. Dr. Nasr and I smiled, since we knew about the wisdom of Egypt’s doorkeepers, who see all, know all, yet, little did we know that an uprising would be brewing very soon in Tahrir Square, in front of my doorsteps. On Friday, January 28, I returned to Cairo, via Frankfurt, and landed in the afternoon at the Cairo’s International Airport, about two hours drive from downtown, Tahrir Square. As soon as I entered the passport control area and the main lobby I noticed the utter chaos, especially among the tourists, and rumors about tanks in the streets of Cairo. My driver couldn’t pick me up, mobile phone and any other modern communication technology was down, in effect, not functioning. I noticed, suddenly, how depended we have become on modern communications technology. Getting to my home in Garden City
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was impossible. However, I knew that Egyptians are survivors and very flexible when it comes to life situation; they may be fatalists, but they are superb artist of survival on a day-to-day basis. I offered an inflated sum to a taxi driver to get me to a nearby Hotel in Heliopolis. With a smile he said, „Of course, Pasha“. The next morning at the hotel I found another elderly taxi driver to get me to Qasr al-Aini Hospital, which was located near the end of Qasr al-Aini Street, and my home, but we would have to take a back street, along the route of Saladin’s Citadel, along the Roman Aqueduct Walls, leading to the Corniche in order to circumvent the whole downtown area. On the way we encountered numerous Egyptian tanks and military. We were checked several times, and each time, I would show a smiling face to the military tank commander. My taxi driver would comment, „Today is Judgment Day for the Pharaoh, Inshallah“. Over the course of eighteen days, from January 25 until February 11, during that time the regime interrupted communications, especially Internet and mobile phone, except orders and propaganda on state national television, for the consumption of the population. Subsequent events could be followed on satellite television. I did visit Tahrir Square once, during the crisis, but felt it was too dangerous, as a foreigner, especially, to stay around the square. At the same time I followed the newsman Ben Wideman, of CNN, whom I have met several times in person, living in Maadi with his family for many years, and superb Arab knowledge, was one of the few western commentators that made meaningful statements on the events of Tahrir Square. Many, including myself, did get nervous when, in rhythm of every ten minutes, a fighter jet would fly very low over our buildings and heads, making enormous noise, injecting fear that Egypt’s air force might start bombing Tahrir Square. Fear is the essence that every dictatorship tries to exploit in humans; and the situation that day was no exception to the rule. The rumor had it that many prisoners escaped from various prisons around Cairo and that these criminals were roaming the streets. A curfew was imposed from afternoon until the next morning; while Internet was made dysfunctional by the regime. Suddenly, over night the police disappeared completely from the streets of Cairo and, immediately, vigilantes started to be formed by neighborhoods. Embassies advised their citizens to leave Egypt and offered flights home. Cairo found itself in a state of chaos and fear, yet, it was a kind of chaos with a flow and ebb, that made life in this metropolis unique. Edward Said, once he revisited the Zamalek district of Cairo in June 1999, the home of his childhood days, said at a party, given to him by the American University in his honor that, when he got off the plane and moved into downtown Cairo, he could feel the vibration of the city, which was unlike any other that he experienced, including New York City. Cairo traffic, an organized chaos, requires quick reflexes, quick reactions, a sense of fatality and humor, an acute sense of spatial proportion in such a way, that Gestalt psychology would
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find a perfect laboratory in the traffic of Cairo. Life and security are at a premium in the times of crisis and by the time communications and security was restored by the military, tensions relaxed. On Saturday morning, Feburary 12, I revisited Tahrir Square: the atmosphere was circus like, relaxed, many young people busy cleaning up the square and the streets, as an act of purification from the dirt of the old regime, some of my students spotted me with jubilation, events were discussed, then they continued cleaning up. At that point class barriers, so prevalent in Egyptian society, were relaxed. Soldiers on tanks were given flowers, reminding me of 1968 again, flower power in Cairo, and young families with their children would take memorable photos with soldiers, tanks, and the Egyptian flag. Again, I noticed graffiti on a wall, „Please leave, I need my peace“, or „Greetings from Facebook generation“. Despite the Pharaoh Egyptians had not lost their sense of humor, even in crisis and a revolution in progress. The question on everyone’s mind in contemporary Egypt is: will the revolution of Tahrir Square succeed at the end? The question, perhaps, will be answered by the first free parliamentary election, scheduled to be held in September 2011 in Egypt, Inshallah. SELECTED BIBLIOGRAPHY – Galal Amin: Egypt in the Era of Hosni Mubarak, 1981-2011. Cairo 2011. – Alaa Al Aswany: On the State of Egypt. A Novelist’s Provocative Reflections. Cairo 2011. – Ahmed Abdel-Gawad: Enter in Peace. The Doorways of Cairo’s Homes: 1872-1950. Cairo 2007. – Janet Abu-Lughod: Cairo. 1000 years of the City Victorious. Princeton 1974. – Doris Behrens-Abouseif: The Minarets of Cairo. Cairo 2010 (New Edition). – Kristina Bergmann: Filmkultur und Filmindustrie in Ägypten. Darmstadt 1993. – John Bierman and Colin Smith, Alamein: War without Hate. London 2003. – Alain Blottiere, Vintage Egypt: Cruesing the Nile in the Golden Age of Travel. Paris 2009. – Neville and June Braybrooke: Olivia Manning: A Life. London 2004. – Crane Brinton: The Anatomy of Revolution. New York (1939) Revised and Expanded Edition, 1965. – Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt am Main 1981. – Artemis Cooper: Cairo in the War, 1939-1945. London 1995. – Virginia Danielson: The Voice of Egypt. Umm Kulthum, Arabic Song and Egyptian Society. Chicago 1977. – Mustafa Darwish: DreamMakers on the Nile. A Portrait of Egyptian Cinema. Cairo 1998. – Lawrence Durrell: Alexandria Quartet. London 2005 (New Edition). – Jaroslaw and Agnieszka Dobrowolska: Heliopolis. Rebirth of the City of the Sun. Cairo 2006. – S. N. Eisenstadt: Die Antinomien der Moderne. Frankfurt am Main 1998. – Francis Frith: Photographs of Egypt and the Holy Land. Cairo 1999. – Pierre Gazio, Van Leo: Photographer, Cairo: Portraits of Glamour. Cairo 1997. – Albert Gerhards und Heinzgerd Brakmann (Hrsg.): Die Koptische Kirche. Einführung in das ägyptische Christentum, Stuttgart 1994. – William Golding: An Egyptian Journal. London 1985. – Maria Golia: Photography and Egypt. Cairo 2009. – Chafika Soliman Hamamsy, Zamalek: The Changing Life of a Cairo Elite 1850-1945. Cairo 2005. – Heinz Halm: The Fatimids and their Traditions of Learning. London 1997. – Sahar Hamouda and Colin Clement, eds.: Victoria College. A History Revealed. Cairo 2002.
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SITUATIV BESTIMMTE QUALITÄTEN IM RAUM LEIBLICHE DISPOSITIONEN SITUATIVER ERFAHRUNGEN EINE STUDIE
Der Text ist in drei Abschnitte gegliedert. Eine Einführung, die als Einstimmung auf das Thema angelegt ist, versucht, den Atmosphärenbegriff als Grundlage vorliegender Überlegungen zu konturieren. Im Anschluss wird Graf Karlfried von Dürckheims Sicht auf Raum und räumliche Wahrnehmung dargestellt, um dann mit einem weiteren Schritt den Einfluss situativer Qualitäten auf den Ausdruckswert räumlicher Atmosphären zu untersuchen.
Abb.1 Wien, Karlskirche.
I. ATMOSPHÄREN + GEFÜHLE: EINE EINSTIMMUNG
Der Text beschäftigt sich im Folgenden mit Wahrnehmungsaspekten von Atmosphären. Aus phänomenologischer Perspektive nehmen wir Atmosphären als Gefühle wahr. Das auf die räumliche Gestalt bezogene leibliche Wahrnehmen basiert nach Hermann Schmitz auf einer Beziehung zwischen dem Charakter der Gestalt und der Struktur der menschlichen Leiblichkeit. Beide Pole werden durch so genannte Brückenqualitäten miteinander verbunden. Solche Brückenqualitäten sind die Bewegungssuggestion und synästhetische Charaktere.1 1
Ludwig Fromm: Die Kunst der Verräumlichung. Kiel 2009, S.87ff.
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Nach der hier vertretenen These, deren Entwicklung sich wesentlich an Argumentationen von Graf Karlfried von Dürckheim orientiert, werden bei der Wahrnehmung von Atmosphären die genannten Brückenqualitäten, Bewegungssuggestion und synästhetische Charaktere, von Erfahrungen flankiert, die ‚leibliche Dispositionen‘ generieren, die wiederum mit situativ besetzten Qualitäten im Raum Resonanzen erzeugen können. Daraus lässt sich ableiten, dass uns situativ besetzte Qualitäten in gleicher Weise wie bewegungssuggestiv und/oder synästhetisch wahrgenommene Qualitäten, als Gefühle im Raum begegnen. Sie sind ein Bestandteil, ein Aspekt leiblich spürbarer Atmosphären. Situativ besetzte Qualitäten haben kulturelle, gesellschaftliche, politische oder andere Ausgangsbedingungen, die atmosphärisch gespürt, sich in Zuständlichkeiten verwandeln. Ein vorausgegeangenes Erleben wird zuständlich, durch Programmierung, die dann Sinnstiftung gegenwärtigen und zukünfigen Erlebens ermöglicht. Atmosphärenkonstruktion kennt zahllose Methoden. Eine der effektivsten ist der gezielte Einsatz von Oberflächenqualitäten, besonders im Zusammenspiel mit Licht und Lichtführung. Die Materialität in ihrer spezifischen Erscheinung hat einen ganz spezifischen Anteil an der Konstruktion von Atmosphären. Am Beispiel der Verwendung von Stein im Kirchenbau erklärt Gernot Böhme den Zusammenhang von Synästhesien und Bewegungsanmutungen bei der atmosphärischen Materialwirkung und weist auf ein die Wirkung ergänzendes Element hin: Für Böhme gibt es eine ‚Sprache der Materialien‘.2 In einem Artikel in Daidaolos 95 bezieht er sich dabei begrifflich auf Thomas Raff.3 Böhme schrieb bereits 1995: „Der Sache nach ist die Sprache der Materialien sicherlich so alt wie die Kunst selbst, nur hat die Kunstwissenschaft in ihrer Prälavenz4 für die Sprache der Formen dieses Faktum bisher nicht hinreichend gewürdigt: Auch Materialien sind Bedeutungsträger.“ So unterscheidet Böhme ganz logisch nicht zwei, sondern drei Gruppen von Stimmungsqualitäten: die Bewegungssuggestionen, die Synästhesien und die gesellschaftlichen Charaktere 5, denen er die erkannte Bedeutungsträgerschaft zuordnet. Die hier zu besprechende Form des Erlebens beschreibt einen Teilaspekt der atmosphärischen Wirkungen von Raum, die sinnlich nur wahrgenommen 2 Gernot Böhme: Inszenierte Materialität. In: Daidalos 56, Gütersloh 1995, S.36ff. Sowie: Architektur und Atmosphäre. Paderborn 2006, S.125. 3 Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonographie der Werkstoffe. München 1994. 4 Böhme, Inszenierte Materialität, a.a.O., S.41. 5 Böhme, Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S.124.
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werden können, wenn wahrnehmend auf leibliche Dispositionen zurückgegriffen werden kann, die das momentane Erleben mit vorausgegangenem Erleben verknüpft, das Bezüge zum Hier und Jetzt konstruiert. Dann mischen sich bewegungssuggestiv und synästhetisch verursachte Gefühlslagen mit bedeutungsbasierter affektiver Betroffenheit, die situativ bestimmtes individuelles und kollektives Selbstbewusstsein voraussetzt; ein Selbstbewusstsein, dass zu sinnlich erlebbaren Einleibungen führt, so wie wir den Ausdruckswert einer gesellschaftlichen Krisis spüren, verinnerlichen oder einleiben, damit unmerklich, also nicht reflektiert, unseren Bezug zur Welt ändern, was sich in unseren Handlungen niederschlägt, zum Beispiel im Konsumverhalten. Dieses kollektive oder individuelle Selbstbewusstsein wird mehrheitlich atmosphärisch gespeist, Informationen haben Bedeutungen für uns, aber erst Stimmungen, also Atmosphären oder Gefühle werden leiblich produktiv und bestimmen unser Unterbewusstsein, unser ‚Zur-Welt-sein‘, wie es Merleau-Ponty sagen würde. „Gefühle sind (nach Hermann Schmitz) [...] unbestimmt weit ergossene Atmosphären, in die der von ihnen affektiv betroffene Mensch leiblich spürbar eingebettet ist.“6 Nach der Logik dieser Feststellung existieren Gefühle außerhalb unseres Selbst. Affektive Betroffenheit durch Gefühle führt zu leiblichen Regungen. Atmosphären verändern also das leibliche Befinden, sie gelten als diffuse Hintergründe, die nicht handlungsaktiv wirken. Sie beeinflussen, regen an, aber fordern keine Handlungen ein. Ihre Wirkung ist keine ästhetische, sondern ist leiblich ausgerichtet. Ausgangspunkt sind „impressive Situationen, vielsagende Eindrücke, in denen ein binnendiffuser, nie vollständig expliziter und doch mit einem Schlage sich zeigender Hof von Bedeutungen mit der Atmosphäre eines Gefühls (auch eines Mischgefühls) erfüllt ist“.7 Das auf die räumliche Gestalt bezogene leibliche Wahrnehmen basiert nach Hermann Schmitz auf einer Beziehung zwischen dem Charakter der Gestalt und der Struktur der menschlichen Leiblichkeit. Nach Hermann Schmitz werden beide Pole durch so genannte Brückenqualitäten miteinander verbunden. Solche Brückenqualitäten sind die Bewegungssuggestion und synästhetische Charaktere. Die Theorie der Bewegungssuggestion basiert auf der menschlichen Fähigkeit, tatsächliche oder angedeutete (suggerierte) Bewegungen leiblich zu spüren. Auf dieser Grundlage nehmen wir auch Gesten und Mimiken wahr und schreiben ihnen Bedeutungen zu. „Bewegungssuggestionen sind ubiquitär, ebenso im sichtbaren wie im hörbaren Bereich (besonders im musikalischen) wie im tastbaren Bereich, ebenso an ruhenden oder bewegten Gestalten wie an 6 7
Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum. Bonn 1969, S.185. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S.251.
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Bewegungen selbst; jede Gebärde empfängt ihren Gebärdensinn durch eine der ausgeführten Bewegung aufgeladene Bewegungssuggestion. Bewegungssuggestionen sind Gestaltqualitäten, die gegliederten Gestalten, z.B. Melodien, die eindringliche, übersummative Ganzheit verleihen.“ Das synästhetische Wahrnehmen, Voraussetzung für das Funktionieren der zweiten Brückenqualtität, die synästhetischen Charaktere, ist, so sieht es Merleau-Ponty, ‚ein Ergebnis der Einheit der Sinne; einer Einheit, die nicht als eine Form der Subsumierung der Sinne unter unser ursprüngliches Bewusstsein zu lesen ist, sondern als die nie zu vollendende Integration der Sinne in einen einzigen Erkennungsorganismus.‘8 Der Ort dieser Verbindung ist der Leib. In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung systematisiert Merleau-Ponty im Kapitel zur Räumlichkeit des eigenen Leibes drei unterschiedliche Verständigungsformen, Praktiken des Zur-Welt-Seins, also, ganz allgemein, Formen des Welt-Bezugs menschlicher Existenz. Er geht davon aus, dass alle Verständigungsbzw. Rezeptionsformen des leiblichen Spürens auf der Fähigkeit des Verstehens von sinnlich-leiblich wahrgenommenen Gesten gründen.9 Inwieweit alle sinnlich-leiblichen Verständigungs- bzw. Rezeptionsformen ausschließlich gestisch oder gestisch-mimisch orientiert sind, also auf Bewegung und Richtungen beruhen, kann in diesem Zusammenhang nicht geklärt werden. Schenken wir Merleau-Ponty Glauben, basiert auch das synästhetische Wahrnehmen auf Bewegung, da die notwendige Synchronisierung zwischen Leib und Wahrnehmungsobjekt in jedem Fall Resonanz, also Bewegung, voraussetzt. In diesem Sinne ist für Meleau-Ponty, Erfahrung einer Qualität die Erfahrung einer bestimmten Weise der Bewegung und des Verhaltens, zum Beispiel die eines Tons oder die einer Farbe. II. RAUMBEWUSSTHEIT „... DAS WASSEIN, DAS SOSEIN UND WOSEIN DES RAUMES.“ (von Dürckheim)
Raumbewusstheit, die Grundlage des atmosphärischen Spürens, des Gegenständlich-Gegenwärtigsein, beschreibt Graf Karlfried von Dürckheim10 in seiner Schrift: Untersuchungen zum Gelebten Raum, als das wache Erleben in oder gegenüber einem Raum. Dem Erlebenden ist das ‚Wo‘ inhaltlich klar (er befindet sich in einem Zimmer, in der Kirche oder im Freien etc.), er weiß auch, wie der Raum, das
8
Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S.273. Ebd. 10 Graf Karlfried von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum. Frankfurt am Main 2005. 9
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Zimmer, in dem er sich befindet, beschaffen ist, und er weiß, dass dieses Zimmer sich in einem Haus befindet. Damit sind die drei Kriterien der Raumbewusstheit durch Fragestellungen an den Raum klar definiert: Was ist das für ein Raum?, Wie ist er beschaffen und: Wo befindet sich der Raum meiner Gegenwärtigkeit? Diese inhaltliche Charakterisierung von Raumbewusstheit ist äußerst aufschlussreich. Zeigt sie doch, wie sich Mensch im Gegenwärtigsein oder auch im Innewohnen, im wachen Erleben Orientierung suchend, in oder gegenüber einem Raum verhält. „Worauf es dem Erlebenden [...] ankommt, ist: das Wassein, das Sosein und Wosein des Raumes.“ (Dürckheim) Jeder der drei genannten Fragestellungen an den erlebten Raum ordnet Dürckheim Charakteristika zu, er spricht von Bestimmungsrichtungen des Raumerlebens. Diese Charakteristika breiten das jeweilige inhaltliche Feld aus, indem sie die Themen benennen, die sich hinter den drei Fragestellungen verbergen. Das Wassein (In was für einem Raum befinde ich mich?) korrespondiert mit Fragen nach dem Sinn und der Bedeutung von Raum. Das Sosein (Wie ist dieser Raum beschaffen?) definiert sich gleich über mehrere Charakteristika, wie räumliche Ordnung, Raumgestalt, das Verhältnis zwischen Raum und Bewegung, den Raumcharakter, Stimmungen, sogenannte Vitalqualitäten, das Wesen des Raums und Raum als Lebensraum. Wie gesagt, alles Beschreibungen, die für die Beschaffenheit des Raums von Bedeutung sind. Das Wosein (Wo befindet sich der Raum, in dem ich gegenwärtig bin?) wird als Platzbestimmtheit, das Verhältnis zwischen dem gegenwärtigen Raum und anderen Räumen und Raumsystemen, beschrieben. Der Charakter eines Raumes basiert also nach Dürckheim auf einer ganzheitlichen Wahrnehmung. Das ‚Was‘, das ‚Wie‘ und das ‚Wo‘ eines Raumes bestimmen im Zusammenklang über eine räumliche Wirkung. Bildet sich bildlich gesprochen im Zusammenspiel der Aspekte eine ‚Klangstruktur‘, ein Motiv oder eine Melodie heraus, wird ein ganz bestimmter und bestimmbarer Charakter des Raumes leiblich wahrnehmbar. Der Raum mutet an, macht, wenn persönliche Situationen es zulassen, (affektiv) betroffen, erklärt sich auch als ein Raum des Situativen – und als Raum eingeschriebener Bedeutungen. In dieser Gemengelage verbergten sich kulturelle Prägungen, die, so sieht es Gernot Böhme, als sogenannte „gesellschaftliche Charaktere“ im atmosphärischen Spüren Wirksamkeit entwickeln. Böhme führt am Beispiel der Begriffe Gemütlichkeit, Heiligkeit und Herrschaft aus, dass Bewegungssuggestion und synästhetischer Charakter zwar massgeblich die atmosphärischen Wirkungen begründen, aber nicht allein
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agieren, sondern von „traditionellen Charakteren“11 begleitet sind, die leibliches Wahrnehmen provozieren, dessen Richtung bestimmt wird durch sinnliches Erleben eingeleibten, kollektiven (Selbst)Bewusstseins. Leibliches Befinden, das sich als Entspannung, Müdigkeit, Schreck, Schwindel, Anspannung etc. äußert, ist als Ausdruck des eigenleiblichen Zustandes eine Form der Betroffenheit jenseits kultureller Wertungen. Anders orientiert, stehen Befindlichkeiten, zum Beispiel im Zusammenhang mit Tätigkeiten, sehr wohl in einem kulturellen Bezug. Jürgen Hasse weist genau aus diesem Grund darauf hin, dass Befindlichkeiten mitunter durch „kulturelle Einschreibungen einer wertspezifischen Sensibilität“12 bestimmt sein können. Zitat Hasse: „In der Generalogie des Unbewußten zeigt sich [...] eine deutliche kulturelle Gravur, die eine leibliche Disposition hinterläßt. Noch einmal bestätigt sich in psychoanalytischer Sicht, dass Leiblichkeit nicht ausschließlich im Rahmen der Natur steht. Sie hat ebenso tiefe Wurzeln im Kulturellen.“13 Diesem Gedanken wird im Folgenden nachgegangen. Es wird also die Annahme zugelassen, dass nicht nur die Materialität als Bedeutungsträger atmosphärische Wirkungen moduliert, Böhme nennt noch Heiligkeit und Herrschaft, sondern dass noch weitere situationsbestimmte Aspekte mit ähnlicher Definitionskraft existieren. Die Anregung zu diesen Überlegungen wurde im Verlauf einer Übung mit Studierenden gegeben. Mit dem hier gezeigten Formular ausgerüstet, analysieren Studierende einmal im Semester Räume in der Stadt Kiel. Die Studierenden kreuzen je nach ihren Eindrücken entsprechende Felder an, die Ergebnisse werden zusammengestellt und diskutiert. Es gibt immer Abweichungen, mal mehr, mal weniger, zwischen 40% und 25%. Ein Beispiel für eine 40%ige Abweichung war eine Bankhalle. In der anschließenden Diskussion stellte sich heraus, dass biographisch begründete, also erfahrungsbedingte Einstellungen in die Bewertungen mit einflossen. In das Atmosphärische mischen sich also Bedeutungswerte, die aber nicht auf Grund rationaler Überlegungen zu besseren oder schlechteren Bewertungen führen, sondern unterbewusst in der sinnlichen Wahrnehmung wirken. In dieser Untersuchung wird der Begriff der ‚Bedeutung‘ nicht auf seine sprachwissenschaftliche Dimension begrenzt. Er wird vielmehr im Sinne der Argumentationen von Dürckheim genutzt. Für Dürckheim ergeben sich Bedeutungen situationsbedingt aus Beziehungen zwischen Menschen und Menschen und Dingen. Nicht singuläre Wirkungen, sondern Gemengelagen produzieren Bedeutung. Es gibt Bedeutung in 11
Böhme, Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S.125. Jürgen Hasse: Fundsachen der Sinne. Freiburg/München 2005, S.145. 13 Ebd. 12
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diesem Sinne als etwas, das aus einem Ganzen nicht herausgelöst und deshalb auch nicht als Einzelnes bestimmt werden kann. Mit Bedeutung im Dürckheimschen Sinne kommt nicht ein ‚Signifikant‘ als semiotischer Begriff in den Blick, sondern eine gefühlte Bedeutung, die sich in der Handlungsdynamik des gelebten Lebens an Eindrücken festmacht und assoziativ mit einer erlebten Situation verbindet.“14
Abb.2 Atmosphärencharakteristik, © Ludwig Fromm.
Der Begriff der Resonanz trifft diese Beschreibungen am genausten. Unsere Resonanzfähigkeit ist Ausdruck unserer Leiblichkeit und damit auch ein Wahrnehmungsphänomen. Resonanz basiert auf Bewegung. Das Bewegte führt zu Eigenbewegungen. Resonanz setzt aber Beteiligtsein voraus: in Bewegung kommen und Bewegung zulassen, also bewegt sein. Die Sprache macht es deutlich. ‚Bewegtsein‘ hat eine zweifache Bedeutung. Ein Ereignis führt zu einer Bewegung im Raum oder bewegt als affektives Wahrnehmen. ‚Bewegtsein‘ meint den Ortswechsel und die leibliche Betroffenheit. Für Anna Dorothea Brockmann15 ist Resonanz, hier die Kopplung zwischen wahrgenommener Bewegung und leiblicher Reaktion, grundlegend ein Bewegungsphänomen, und das in doppelter Hinsicht. Die erste Seite der Resonanz zeigt sich als Selbstbewegung, als 14 15
Ebd., S.178. Prof. Dr. Anna Dorothea Brockmann, Professorin in Ruhestand, Universität Bremen.
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Spiegel eigener Handlungen, der so zur Grundlage einer Bewusstseinsfähigkeit der eigenen Leiblichkeit wird. Erst die zweite Seite leiblicher Resonanzen ist das Mitbewegen, das auf der Grundlage unserer Fähigkeit der Selbstbewegung beruht. Die Bewegung eines Anderen, eines Menschen, eines Dings, der Musik (Rhythmus), eines Raums etc. führt zu Resonanzen. Die Eigenbewegung des Gegenüber (des Anderen) provoziert Bewegtsein, schafft Handlungsimpulse.16 Als Ausgangspunkte dieser Betrachtung stehen die folgenden Argumentationen zur Verfügung: – Atmosphären lassen sich als Gefühlslagen deuten, – Mensch, Natur und Dingwelten erscheinen ausdrucksmächtig, – was wir leiblich-sinnlich wahrnehmen, sind Qualitäten ([...] beim Sehen sind Lichter und Farben, beim Hören Laute, beim Empfinden Qualitäten gegeben;17) und – Qualitäten sind keine Bewußtseinselemente, sondern Eigenschaften eines Gegenstandes.18 – Weiter: Bewegungssuggestion und synästhetsiche Charaktere sind als Brücken zwischen dem Charakter der wahrzunehmenden Gestalt und der Struktur der menschlichen Leiblichkeit wirksam, – und dieser Brückenschlag lässt sich als Resonanzverhalten deuten, welches Dürckheim als eine Beziehung zwischen Mensch und Raum erklärt, also der Welt, auf der Grundlage einer strukturellen Verbundenheit oder Einheit des Selbst mit (bestimmten) Räumen. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚Körperschema‘, dass nicht an Gesetzlichkeiten gebunden ist, sondern in Erfahrung gründet, Erfahrung der leibhaften Gegenwart.19 III. SITUATIV BESTIMMTE QUALITÄTEN IM RAUM
Dürckheims mehrfach zitierte Untersuchungen machen Resonanzen zwischen Mensch und Raum (Welt) erklärbar und beschreiben Folgen der Schwingungsübertragungen. Resonanz wird als strukturelle Verbundenheit oder Einheit des Selbst mit (bestimmten) Räumen charakterisiert, die, im Verbund mit dem Zustand der Gegenwärtigkeit, Raum als gelebten Raum erscheinen lässt. Über den empirisch ermittelten Wahrnehmungsakt wurden Bedeutungsaspekte als Teil komplexer Raumwahrnehmungen sichtbar. 16
Anna Dorothea Brockmann: Resonanz. Resonanz als leibliches Phänomen. Reflexionen zum Symposion 2008. S.1. 17 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S.22. 18 Ebd., S.23. 19 Ebd., S.220.
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Für Merleau-Ponty bedeutet das sehende Wahrnehmen eines Gegenstandes ein gleichzeitiges Empfinden von Qualitäten jenseits des Gesehenen, das haptische, das klanglich erfassbare Sein und ein Sein, dass der Sinnlichkeit nicht erreichbar, sich kulturell darstellt. Ich zitiere: „Einen Gegenstand sehend, ‚empfinde‘ ich stets, daß da noch etwas jenseits des Gesehenen ist, und nicht allein noch weiteres sichtbares Sein, sondern ferner noch berührbares, durch das Gehör erfaßbares Sein; und nicht allein Sinnliches Sein, sondern darüber hinaus eine Tiefe des Gegenstandes, die keinerlei sinnliche Aufnahme je zu erschöpfen vermag.“20 Also auch hier Gravuren kultureller Welten, die durch erworbene leibliche Dispositionen in Erscheinung treten. Leibliche Dispositionen, von denen hier die Rede ist, können als Ergebnis von Lernakten des Leibs verstanden werden. Zitat Merleau-Ponty: „Man sagt, der Leib habe verstanden und die Gewohnheit sei erlangt, wenn er von einer neuen Bedeutung sich hat durchdringen lassen, einen neuen Bedeutungskern sich angeeignet hat.“21 Beiden Autoren gemeinsam, Dürckheim und Merleau-Ponty, ist also das Verständnis für die Anwesenheit eines kulturellen Seins im wahrnehmenden Erkennen der Welt. Die Begriffskombination des Titels dieses Abschnitte ist sicher noch eine unbefriedigende und nur als Arbeitstitel zu verstehen. Die Begrifflichkeiten beziehen sich im weitesten Sinne auf Gernot Böhmes Formulierung ‚Gesellschaftliche Charaktere‘, der damit aber eine Brückenqualität beschreibt. Mit der hier verwendeten Begriffskombination ‚situativ bestimmte Qualitäten im Raum‘ werden ausschließlich Eigenschaften beschrieben, denn, so ist es bei Maurice Merleau-Ponty zu lesen: „[...] Qualitäten sind [...] Eigenschaften eines Gegenstandes.“22 Das gilt ganz allgemein, für alle Gegenstandseigenschaften, die wir sinnlich/leiblich wahrnehmen. Durch das Adjektiv ‚situativ‘ sollen zwei Charakterisierungen der hier zu behandelnden Qualitäten (oder Eigenschaften von Gegenständen) beschrieben werden, die nachfolgend benannt sind. Aus phänomenologischer Sicht ist der situative Aspekt sinnlich/leiblicher Wahrnehmungen von einer Tiefe bestimmt, die die Möglichkeiten des rein sinnlichen Wahrnehmens überschreitet (siehe weiter oben Merleau-Ponty). Das kann nur bedeuten, dass sinnlich/leibliche Wahrnehmungen auch durch erworbene leibliche Dispositionen in Erscheinung treten können. An dieser Stelle drängt sich der Zeitgeist-Begriff auf, der kulturübergreifend ein spezifisches Phänomen beschreiben will,23 das in Goethes Faust bereits ausgedeutet wird: 20
Ebd., S.254. Ebd., S.177. 22 Ebd., S.23. 23 Steffen Kluck: Der Zeitgeist als Situation. Rostocker Phänomenologische Manuskripte. Rostock 2008, S.1ff. 21
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Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.24 Steffen Kluck nennt noch weitere Autoren aus der Entstehungszeit des Faust, die den Begriff ‚Zeitgeist‘‚ wie Goethe oder in ähnlicher Form verwendet haben (Friedrich Hölderlin, Sören Kierkegaard, Georg Friedrich Wilhelm Hegel) und verweist auf Lothar Kremper, der drei Blütephasen der Zeitgeisttheorie ausgemacht hat: im 18.Jahrhundert [...], in der Zeit von 1830 bis 1848 [...] und in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts [...].25 Das Spezifikum der Zeitgeistdefinition, wie es seit Hegel Verwendung findet, hat seine Ausrichtung in der Abgrenzung von Ideen, Zeitgeist als Wahrheiten zu verstehen, die durch Ewigkeitsansprüche und Objektivitätstatus26 bestimmt sind. Dieser Geist, in dem Zeiten sich bespiegeln, wie Goethe es im Faust sagen lässt, kann auch im Sinne von Herrmann Schmitz27 als eine besondere Situation interpretiert werden, in der sich die ‚Herren‘ gemeinsam befinden. Der schon zitierte Steffen Kluck schlägt vor, Zeitgeist als eine ‚gemeinsame, implanierende, zuständliche Situation‘28 zu verstehen. Zum anderen sind Situationen an Ort, Zeit und Lebenswelt gebunden. Das heißt, dass sie im soziologischen Sinn gruppenspezifisch sind und, zeitlich betrachtet, auch an historische Phasen gebunden sind. Zum Beispiel wird, was ‚gemütlich‘ ist, äußerst unterschiedlich bewertet. Das gilt sowohl für die historischen Zeiten als auch für unterschiedliche Szenen und sogar für unterschiedliche Individuen. Wenn leibliche Kommunikationen, wie hier praktiziert, in Sinn- bzw. Ausdruckskommunikation und Bedeutungskommunikation getrennt werden, dann geschieht das aus analytischem Interesse, ohne dabei zu vergessen, dass jede räumliche Wahrnehmung, jedes Zur-Welt-Sein, immer eine ganzheitliche Wahrnehmung ist und immer in Situationen stattfindet, kulturell, gesellschaftlich oder individuell: als Einstellung des Wahrnehmenden zur Welt. Der Mensch, lesen wir bei Merleau-Ponty, ist ein ‚Gegenwartsfeld‘29, das sich selbst nur durch und in der gegenwärtigen Natur- und Kulturwelt versteht. „Die Gegenwart vollbringt die Vermittlung [...] von Individualität und Generali24
Johann Wolfgang von Goethe: Faust, Der Tragödie Erster Teil. ©Kiwi Tech, LLC, 2009, Seite 74. Kluck, Der Zeitgeist als Situation, a.a.O., S.5. 26 Hier haben nationalsozialistische Argumentationen ihren Ausgangspunkt, die den Begriff Zeitgeist vereinnahmten, in dem sich selbst und ihr Handeln als Vollstrecker und Vollstreckung des Zeitgeistes darstellten und somit legitimieren wollten. 27 Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. München 2005. 28 Kluck, Der Zeitgeist als Situation, a.a.O., S.27. 29 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S.512. 25
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tät.“30 die hier behandelte Kategorie von Wahrnehmungsqualitäten müsste also richtiger ‚maßgeblich situativ bestimmte Qualitäten im Raum‘ heißen, was diesen Titel aber nur verkomplizieren würde. Also noch einmal: Alle räumlichen Wahrnehmungsqualitäten haben einen Situationsaspekt. Einzig die sogenannten ‚situativ bestimmten Qualitäten im Raum‘ fußen ursächlich nicht auf sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, sondern auf situativer Erfahrung, die durch Einleibung (Merleau-Ponty: ‚der Leib hat verstanden und gelernt‘) verfügbar werden. Auf den Situationsbegriff, wie ihn Hermann Schmitz definiert hat, hatte ich bereits hingewiesen. Situationen basieren für Schmitz auf Bedeutungen, die sich aus Sachverhalten, Programmen und Problemen konstituieren. „Bedeutungen … sind Sachverhalte (dass etwas ist, überhaupt und irgendwie), Programme (dass etwas sein soll oder möge) und Probleme (ob etwas ist).“31 Nach Hermann Schmitz beziehen sich Situationen auf Ganzheiten, in denen Bedeutungen binnendiffus (nicht zerlegbar in Einzelbedeutungen) erscheinen. Das Kognitive spielt bei dieser Art des Wahrnehmens eine untergeordnete Rolle. „Das normale Wahrnehmen ist kein Registrieren von einzelnen Sinnesdaten, sondern von vorneherein ein Bemerken, was los ist, d.h. ein Umgang mit Situationen…“32 Nur so ist es zu verstehen, dass sich wahrnehmend Haltungen, Einstellungen oder Zumutesein herausbilden. Dass sich sogar Stimmigkeits- und Unstimmigkeitserlebnisse auf der Basis leiblichen Wahrnehmens einstellen können, hängt mit einem ‚Abgleich‘ zwischen Sachverhalt und Programm zusammen, in dessen Ergebnis sich bei festgestellter Programmabweichung ein Problem einstellt und sich als Unstimmigkeitserlebnis äußert. Vor diesem Hintergrund sind die signifikanten Abweichungen, die unterschiedlichen Reaktionen der Studierenden auf die Analyse der Atmosphäre einer Bank in Kiel erklärbar. Jede Studentin, jeder Student ist schon bei dem Betreten der Räumlichkeiten Situationen ausgesetzt: einer aktuellen und einer ganz persönlichen. Die aktuelle teilt sie/er mit den Mitstudierenden, die persönliche ist den gemachten Erfahrungen geschuldet. Wie verhielten sich zum Beispiel die Eltern in ihrer/seiner Kindheit bei dem Thema Bank. Welche Atmosphäre bildete sich bei Gesprächen über Bankangelegenheiten heraus, wie war die Situation bestimmt. So oder so, es wurden Bedingungen für eine ganz bestimmte, individuelle leibliche Disposition geschaffen, die beim Bankbesuch wirkungsmächtig ist. Ein bestimmter Sachverhalt, eine Bedeutung wurde eingeleibt, das heißt, das Programm der vorgefundenen Situation wurde leiblich aufgenommen. Intentional werden aus der wahrgenommenen Szene Sinn-Struktu30
Ebd., S.513. Schmitz, Situation und Konstellation, a.a.O., S.89. 32 Ebd., S.131. 31
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ren isoliert, die resonanzfähig affektive Betroffenheit beeinflussen können. In diesem Sinne ist auch eine Bank ein Gefühlsraum. Die Situation bestimmt das sinnlich/leibliche Fühlen, das sich als Teilhabe oder Fremdheit äußern kann. Prozesse dieser Art führen zu unterschiedlichsten Einleibungen von situativ bestimmten Bedeutungen, wie zum Beispiel die Wirkung von Stein in Sakralbauten oder die Kraft von Konventionen, die bestimmen kann, was beispielsweise als gemütlich akzeptiert wird. Im Rahmen von Projektarbeiten haben sich fünf verschiedene Gruppen oder Varianten situativ bestimmter Qualitäten gezeigt. Als Arbeitsgrundlage wird von einer institutionellen Variante ausgegangen, die sich mit dem Begriff ‚Zweckraum‘ erklären lässt. Beispiel Bank: als Finanzunternehmen – einer materialorientierten Variante, das Stichwort gab Gernot Böhme, nämlich ‚Charakter der Materialien‘; einer konventionell bestimmten Variante, die das Thema ‚Gemütlichkeit‘ aufgreift; einer Empathie generierenden Variante und schließlich von einer Variante, die sich auf Genese und Verfall sozialer, kultureller oder mentaler Räume beziehen lässt. Zwei dieser Varianten werden im Folgenden skizziert, die, die sich als kulturell bestimmte Materialqualitäten erkennen lassen, und jene räumlichen Eigenschaften, deren situative Bedingungen Empirie in sinnlich/leiblichen Wahrnehmungen hervorrufen können.
Alle Raumformen sind uns lebendig. (von Dürckheim)
Die Materialorientierung Auch Materialitäten33 können Formen affektiver Betroffenheit erzeugen. Nämlich dann, wenn mit ihrer Erscheinung Situationsbezüge hergestellt werden, deren Programm leibliche Dispositionen anspricht, die sich als Einschreibungen von in Situationen gemachten Erfahrungen herausgebildet haben. Gernot Böhme hat den möglichen Ausdruck von Materialien mit ihrer Herkunft (Exotik), mit ihrer eingeschrägten Verfügbarkeit (Wert), mit ihrer modisch bedingten Beliebtheit oder mit ideologischer Bedeutung (Konvention) erklärt.34 Materialien können aus dem Heiligen Land stammen, von besonderer Seltenheit sein, vaterländisch erscheinen (Granit) oder besonders billig wirken. Die Wirkungen von Materialien sind ontologisch oder kulturell codiert, können so entschlüsselt werden oder im Wertewandel an Bedeutung verlieren. Hier sei an die wechselnde Rezeptionsgeschichte der Kunststoffe erinnert, die als Novität 33 Siehe dazu Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonographie der Werk-
stoffe. München 1994. Böhme, Architektur und Atmosphären, a.a.O., S.159.
34
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begrüßt, als ‚Ersatzstoffe‘ verachtet und heute in einzelnen Fällen als hochqualitative Materialentwicklungen gewürdigt werden. Raum bestimmende Materialien wirken durch ihren bestimmten Charakter, der als die Struktur ihrer „atmosphärischen Ausstrahlung“ (Böhme) verstanden wird. Materialien können kalt, warm, glänzend, stumpf, rauh etc. sein. Ihre Anmutungen provozieren Näherung oder Meidung, sie verbreiten Gemütlichkeit oder distanzierte Kälte. Sie werden mit allen Sinnen wahrgenommen, gesehen, gefühlt, gerochen, gehört…, was auf synästhetische Qualitäten verweist. Ihre Strukturierung, Spuren der Herstellung, natürliche Maserungen, Linien und vieles mehr, lassen ihre Oberflächen bewegt erscheinen oder sind befähigt, physiognomische Assoziationen zu erzeugen. Und: Im gebauten Raum haben sie immer Form und Richtung. Somit bilden sie auch den Ausgangspunkt von Bewegungssuggestionen. Die zweite Seite ihrer Wirksamkeit ist situativ begründet. Das heißt, es besteht die Möglichkeit, dass Materialien zum Beispiel zeitgeistbedingt mit Bedeutungen aufgeladen werden können. Materialien können Wertsysteme transportieren, unterschiedliche Assoziationen bedingen, die am Zeitstrahl gemessen variant erscheinen. Ihre Bewertung ist kulturell bedingt. Der ästhetischen Nobilitierung eines Baustoffs geht meist seine Dienerrolle voraus: Gewöhnliche Natursteine wurden bemalt, bevor man ihre asketische Schönheit erkannte; Hölzer und Ziegel waren Baustoffe der Ärmsten, bevor sie die respektable Symbolik bürgerlicher Rechtschaffenheit annehmen durften; aus Stahl und Glas konstruierte man inferiore Gewächshäuser und Bahnhofshallen, bevor sie in Kristallpalästen verherrlicht wurden.35
Aber nicht nur arm/reich oder Statusdefinitionen wurden als Bedeutungen in die Materialität eingeschrieben, auch Erhabenheit, Heiligkeit und Herrschaft finden ihren Ausdruck in einzelnen Materialien. In einer Beschreibung von einem uns Europäern ungewöhnlich erscheinenden schwarzen Haus zeigt Alban Janson die Unterschiedlichkeit kultureller Beurteilungen der Phänomene Dunkelheit und Schwärze auf. Für die japanische Tradition werden die Dinge im Spiel von Schatten und Dämmerlicht in ihren wahren Eigenschaften erfahren, während die europäische Tradition das Wahre in strahlender Helligkeit sucht. „Es ist die Macht der konventionellen Bedeutungswelten – unablösbar von unserer jeweiligen kulturellen Herkunft –, der wir uns nicht entziehen können, auch wenn diese zu Klischees verdorrt sind.“36 Werteinschreibungen in die Anmutungsqualitäten von Materialien können sich als Sinn-Strukturierungen des Unbewussten, in der Leiblichkeit wirk35 Gerhard Auer: Baustoffe sind von Natur aus künstlich. In: Daidalos 56, Gütersloh 1995, S.36ff. und
Böhme, Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S.27. Alban Janson: Hiroshi Nakao: Schwärze. In: Der Architekt 7-8, August 2003.
36
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sam verfestigen und so „Raumgewicht“ (Dürckheim) erhalten, das Spüren beeinflussen, eine Atmosphäre bestimmen. Stellungsqualitäten im Sinne der Dürckheim’schen Terminologie werden wirksam, die ein Sich-Öffnen oder ein Sich-Verschließen bewirken.37 Als Ursache benennt Dürckheim den Doppeldrang des Menschen: „in diesem Raum einerseits man selbst und für sich zu bleiben, anderseits sich mit seinem gegenwärtigen Raum zu einen“.38 Dies erklärt, warum die schon genannten Studierenden angesichts des gleichen Raums ganz unterschiedlich empfinden. Einigungswille oder Isolierungsdrang ergeben sich aus der Nähe des Wahrnehmenden zu dem jeweilig erscheinenden Wertsystem. Der persönlichen Situation entsprechend ist er Teil der Werteordnung oder von ihr ausgeschlossen. Die leiblichen Reaktionen unterscheiden sich logischer Weise signifikant. Dabei ist es nicht relevant, von welcher Art die wahrgenommenen Wertsysteme sind, ob ökonomisch, politisch, ideologisch oder kulturell.
Die folgende Auflistung versammelt Begriffe, die mit in Situationen wirksamen Wertvorstellungen verknüpft sind und die sich in Materialwirkungen eingeschrieben haben. Ihre Wirksamkeiten sind kulturell bzw. nur binnenkulturell zu denken, eine Unterscheidung in kulturell bestimmte oder ontologisch begründete Materialaufwertungen konnte nicht gemacht werden. Materialien, deren Gebrauch (situativ ausgerichtete Anwendung) besondere Rezeptionsmuster provozieren kann, sind zum Beispiel Gold, Silber, Edelstein als erkennbar wertvolle Stoffe, deren Wirkung auf Seltenheit und Einmaligkeit beruht. Glas, Lackaufträge, glänzend oder matt, die wie eine Glasur ein Objekt umschließen, oder Edelstahl, wirken in entsprechenden Konstellationen durch die Feinheit ihrer Oberflächen, können elegant erscheinen. Die Zuweisung von Exklusivität oder Eleganz als wahrgenommene Qualitäten (oben genannter Materialitäten) kann das sinnlich/leibliche Wahrnehmen situativ begründet beeinflussen, ihm Richtung geben. Stein und Eisen können Macht repräsentieren, wenn ihr Einsatz Wirkungen generiert, die als Stellungsqualitäten leiblich verschlossen oder drohend erlebt werden, Stahl und Aluminium können für Progressivität stehen, wenn ihre Wirkung Resonanz bewirkt und Dispositionen aufruft, die mit Erfahrungen von Bewegung oder Prozessen besetzt sind. Auf ähnliche Weise lassen sich Materialien und Materialkonstellationen nutzen, um eingeschriebene Wertvorstellungen wie zum Beispiel Modernität, 37 Von 38
Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, a.a.O., S.77. Ebd., S.78.
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Sicherheit oder auch Vergänglichkeit über die situativ bestimmten Eigenschaften von Materialien kommunizieren. Gewiss, weil wir doch einmal so gemacht sind, dass wir alles mit uns und uns mit allem vergleichen...39 Empathie Eine weitere Variante situativ bestimmter Aspekte des Atmosphärischen ergibt sich aus der menschlichen Fähigkeit, von Formkonstellationen auf Gestalten zu schließen. Erzeugen die wahrgenommenen Ganzheiten bestimmte Wesensanmutungen, wird Resonanz auf eine besondere Art und Weise erzeugt, die unsere momentane Situation in Beziehung zur wahrgenommenen Gestalt setzt, kann sich Empathie für das Gegenüber entwickeln, als Reflexion eines momentanen Bewusstseins. „Weil und indem [...] (Resonanz, A.d.A.) Bewegung ist, zeigt [...] (sie, A.d.A.) am eigenen Leibe Wahrnehmung für Daseinsformen und Daseinsbewegungen eines Anderen.“40 Ein Raum der Wahrnehmung entsteht und „[...] in ihm ein bewusstseinsfähiges leibliches Feld, in dem Anderes sich als Bewegtes spiegelt und sich mit der Eigenbewegung des Beobachtenden, des Wahrnehmenden verbindet. Wahrnehmung meint hier also gleichsam eine Vergegenwärtigung und damit eine ‚Objektivierung‘ von Resonanz als einer wechselseitigen Schwingungsfähigkeit.“41 Im bereits genannten Text Überlegungen zum gelebten Raum 42 gibt es einen Abschnitt mit der Überschrift: Der gegenwärtige Raum als Lebensraum einer bestimmten Lebenseinheit. Das dort Ausgeführte soll im Folgenden eine Betrachtung begründen, die einen mitfühlenden Aspekt atmosphärischen Wahrnehmens erklärbar machen will. Der Mensch entwickelt Empathie in der Konfrontation mit Situationen von Dingen, die Vergleiche mit der eigenen Situation oder mit schon erwarteten, gefürchteten, erlebten etc. Situationen und damit affektive Betroffenheit erzeugen. Hier wird eine soziale Facette des so genannten „gegenwärtigen Erlebens“ (Dürckheim) aufgezeigt. Dürckheim führt aus, dass dann, wenn der räumlich Erlebende mit einem Ganzen, mit dem Raum in seiner komplexen Ganzheit verbunden ist, die Bestimmtheit eines Raumes an Deutlichkeit gewinnt. Noch einmal Dürckheim: „Die spezifische ‚Bedeutsamkeit‘, die jedweder Raum hat oder gewinnt, gründet ganz wesentlich im Mithaben des besonderen Lebens, 39
Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Köln 2005, S.55. Brockmann, Resonanz, a.a.O. 41 Ebd. 42 Ludwig Fromm: Überlegungen zum gelebten Raum. In: Michael Großheim: Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz. Freiburg/München 2008, S.238ff. 40
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als dessen Lebensraum dieser Raum genommen wird.“ Dürckheim weist auf die für dieses Phänomen wahrscheinlich ursächliche Affinität hin, die das erlebende Selbst zu anderem Leben sucht. Dürckheim: „Selbst vom Schicksal eines Lebens erfüllt, Träger eines Lebens im eigenen Raum, spricht es aus der Tiefe unwillkürlich auf andere Schicksale an und spürt verstehend die räumlichen Zeichen schicksalhaft sich erfüllenden Lebens auch dort, wo dieses von anderer Art ist.“43 Hier findet leibliche Kommunikation statt, ein spezifischer Zustand, eine spezifische Situation von Dingen oder Räumen wird eingeleibt. Die „Eigenartigkeit einer Gestalt“, wie ihr Alter, ihre „Gebeugtheit oder Verwitterung“ (Dürckheim), sprechen von ihrem eigentümlichen Leben, das berührt, da es sich in der erlebten Gestalt abbildet. Dieser besondere Charakter berührt je nach der Verbundenheit mit den besonderen Lebensbeziehungen des Erlebenden im Raum, die ähnlich oder konträr seien können. Im allgemeinen Sprachgebrauch nutzen wir eine Vielzahl von Adjektiven, um Äußeres oder Charakterzüge von Personen zu beschreiben. Dabei unterscheiden wir zum Beispiel zwischen Charakterisierungen des Körperbaus, der Kleidung, oder zwischen spezifischen Eigenschaften der zu beschreibenden Person. Für die Beschreibung des Körperbaus stehen uns Adjektive wie groß, klein, winzig, riesig, dick, dünn, mollig, schlank, fett, dürr, mager, schmächtig, schmal, jung, alt etc. zur Verfügung. Gesichter qualifizieren wir als rund, oval, länglich, blass, sonnengebräunt oder vielleicht zart. Augen, Wimpern und Augenbrauen können groß, klein, tief, hervorstehend, rund, lang, dicht, gezupft, schmal, schön, blau, braun, hell, dunkel oder leuchtend sein, Haare hellblond, blond, dunkelblond, braun, schwarz, gesträhnt, hell oder dunkel, eine Nase erscheint uns stupsig, knollig, lang, kurz, gerade, leicht gebogen, der Mund groß, klein, schmal, breit, dick, voll, Ohren groß, klein, anliegend, leicht abstehend und so weiter und so fort. Die menschliche Kleidung ist mal auffallend, modern, altmodisch, bequem, chic oder cool, dann mal mehr elegant, und sie kann neu, teuer, billig, bunt, dreckig, hübsch, fesch, sauber, schäbig, schön, schräg, schrill und vieles mehr sein. Und die Eigenschaften unserer Mitmenschen bewerten wir als lustig, fröhlich, nett, höflich, fleißig, freundlich, pünktlich, brav, ruhig, ordentlich, mutig, liebenswert, ehrlich, eifrig, fein, großzügig, gescheit, cool, herzlich, 43 Von
Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, a.a.O., S.44.
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hübsch, intelligent, schlau, interessant, kräftig, stark, lieb, anständig, artig, schüchtern, selbstständig, sportlich, tüchtig, verlässlich, vornehm, weise und so weiter, wenn wir sie als gute Eigenschaften wahrnehmen, und unpünktlich, unfreundlich, schlimm, laut, müde, böse, trotzig, traurig, schlampig, faul, zornig, unhöflich, furchtsam, böse, dumm, einfältig, verlogen, feig, frech, geizig, gemein, grob, habgierig, hässlich, lästig, nachtragend, schäbig, streng, unverbesserlich, verrückt, verwahrlost, vorlaut, wild, zerstreut, wenn wir sie den schlechten Eigenschaften zuordnen. All diese Eigenschaften, die das menschliche Äußere, seine Kleidung beschreiben, übertragen wir auf Häuser oder Dinge, einen Baum zum Beispiel, und nennen sie groß, klein, winzig, riesig, dick, dünn, schlank, schmächtig, schmal, jung oder alt. Ganz im Sinne der Dürckheim’schen Feststellung, dass das erlebende Selbst eine Beziehung zu anderem Leben auch dann sucht und findet, wenn dieses von anderer (vielleicht lebloser) Art ist, ‚vermenschlichen‘ wir beim sinnlichen Wahrnehmen Landschaft, Ding und Architektur und ermöglichen auf diesem Wege ein Ein- oder Mitfühlen auch mit einem leblosen Gegenüber. Was aber nicht bedeutet, dass wir eigene Gefühlslagen in die Dinge hineininterpretieren. Aber, und deshalb zähle ich das Empathie-Empfinden auch zu den situativ bestimmten Qualitäten, das Wahrnehmen einer bestimmten Qualität ist von einem aktuellen Bewusstsein abhängig, von einer aktuellen, persönlichen Situation mit einer existenziellen Bedeutsamkeit. Die Näherung, das Erkennen scheint den Bedingungen einer Begegnung zu ähneln, bei der es ein Gegenüber gibt, das als ausdrucksmächtig wahrgenommen wird: eine augenblickliche Aufmerksamkeit auf etwas Erscheinendes, die die Anwesenheit ganzheitlichen Erlebens durch eine Situation der Begegnung kurzfristig überlagert. Das Erlebnis des In-Seins im Raum wird zu einer Konfrontation mit einer als Wesen erlebten Gestalt, die ausdrucksmächtig affektive Betroffenheit auslöst, leibliche Kommunikation bewirkt. Geübt darin, den Ausdruck von Körpersprache oder Gesten einzuleiben, also nonverbal wirken zu lassen, nehmen wir formale Besonderheiten an Dingen oder Vegetation als vermeintlich eingeschriebene Bewegungen einer Körpersprache oder Gesten wahr. Für den Menschen sind nicht nur Menschen explizit, diese Fähigkeit schreiben wir auch Dingen zu. Das Spezielle der hier diskutierten Form atmosphärischen Wahrnehmens ist das Erscheinen eines „besonderen Lebens“, das sich erlebbar aus der übersummativen Ganzheit herauslöst, sich gleichsam vor die Ganzheit schiebt und so im binnendifusen Wahrnehmen einen Akzent setzt, der ‚Mithaben‘ bedeutet.
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Dieses Mithaben gründet auf Erfahrungen mit der eigenen Existenz, auf einem ‚Katalog‘ gelebter persönlicher Situationen, auf den durch die Beobachtung von Situationen, die sich als Zustände anderer Wesen zeigen, zurückgegriffen wird. Die Vertrautheit der wahrgenommenen Situationen, der Abgleich mit dem eigenen subjektiven Erleben, fördert Empathie. Vor dem Hintergrund oben ausgeführter Zusammenhänge dienen physiognomisch wirkende Erscheinungen an Gestalten in Natur und Dingwelten der Erkennung von Wesen, deren Körperhaltung, Körperbewegungen, Mimik und Gesten Formen körperlichen Ausdrucks sind, die für uns Gefühle und Befindlichkeiten des begegneten Wesens spiegeln. Formale (auf die Form bezogene) Besonderheiten von Gestalten bilden Sachverhalte, die als Situationen wahrgenommen werden, die Stimmungen transportieren und so affektive Betroffenheit generieren. Diese Stimmungen lassen sich als Zustandsbeschreibungen festschreiben, die einen Status verkörpern. Für Versuche, eine Systematisierung von Gestalt-Zuständen zu finden, die fähig sind, wahrnehmend Empathie zu begründen, ist es noch zu früh. Zur Zeit werden in den Projekten der Muthesius Kunsthochschule Zustandsbeschreibungen (die dort als statusbezogene Zustandsbeschreibungen geführt werden) noch über Zusammenstellungen von Adverbien charakterisiert: tot/lebendig, vergänglich, fragil/ewig, dauerhaft, beständig, verletzt/unversehrt (ganz), gedrückt, gestreckt, gestaucht, schief/gerade, schielend/blind, gefährdet, wacklig, gestützt, gehalten/stark, fest, trotzend, krank/gesund, nackt/bedeckt … ZUSAMMENFASSUNG
Einer der Schlüsselbegriffe des leiblichen Wahrnehmens ist die Situation. Grundsätzlich lässt sich sagen, alle räumlichen Wahrnehmungsqualitäten, haben einen Situationsaspekt. Noch allgemeiner formuliert: Der Mensch befindet sich immer in irgendeiner Art Situation. So, wie wir uns ein Leben ohne Raum nicht vorstellen können, gibt es das situationslose Leben nicht. Der Situationsbegriff, wie ihn Hermann Schmitz definiert hat, bildet eine der Grundlagen dieser Arbeit. Nach Hermann Schmitz beziehen sich Situationen immer auf Ganzheiten, in denen Bedeutungen binnendiffus (nicht zerlegbar in Einzelbedeutungen) erscheinen. An anderer Stelle wurde darauf bereits ausführlich Bezug genommen.44 Im phänomenologischen Sinne ist Raumbewusstheit die Voraussetzung, wahrnehmend Raum zu erleben, ihn erfahren zu können. Begriffe wie Bedeutung, Raumgestalt und Raumsysten sind die Aspekte des Raums. Sie zu befragen 44
Ludwig Fromm: Die Kunst der Verräumlichung, a.a.O.
SITUATIV BESTIMMTE QUALITÄTEN 213
ist Sache analytischer Forschungen, sie zu gestalten ist Sache raumstrategischer Aktionen. Das eine ist Grundlage des anderen. Was für eine Bedeutung hat der Raum? Wie ist seine Raumgestalt beschaffen? Und wo befindet sich der Raum meines Erlebens? Unser Raumerleben, also das ‚Erleben der sinnhaften Mannigfaltigkeit in Ganzheiten‘ (Dürckheim), Funktion der Leiblichkeit des Erlebenden, der im Raum einen jeweils ‚absoluten Ort‘ innehat, wird über Resonanzfelder, die so genannten Brückenqualitäten vermittelt. Sie transformieren Ausdruck in Empfindungsqualitäten. Affektives Betroffensein oder Bewegungsmotivationen sind die Folgen: leibliche Reaktionen auf Ausdruck. Eine Sonderstellung nehmen die hier im Fokus stehenden ‚situativ bestimmten Qualitäten im Raum‘ ein, und das in doppelter Hinsicht. Erstens: Sie beschreiben Situationen, nicht ausschließlich in Folge räumlicher Konstellationen, und zweitens: Sie fußen nicht ursächlich auf sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, sondern auf situativer Erfahrung, die erst durch Einleibung, verfügbar wird. Affektives Betroffensein hat somit zwei Aspekte: Sie beruhen auf der Art und Weise der jeweiligen Erscheinungsformen räumlicher Situationen, deren leibliche Resonanzen Ausdrucks- oder/und Wertsysteme übertragen.
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ANGELUS EISINGER
DIE OFFENE STADT UND IHR HISTORISCHER KONTEXT
EINE HISTORISCHE EINORDNUNG DER GRENZEN UND POTENTIALE EINES KONZEPTS
Die offene Stadt ist ein fragiles, voraussetzungsreiches Konstrukt. Bereits die sprachliche Ebene lässt hierüber nur wenig Raum für Zweifel. Indem sich Attribut und Subjekt nebeneinander schieben, wird uns angezeigt: Das Offene gehört nicht einfach zur Stadt. Die Sprache bedient sich des Offenen als einer Präzisierung, vielleicht auch einer Auszeichnung der Stadt, die sich jederzeit von ihr lossagen, aber auch wieder mit ihr verbünden kann. Eines bleibt dabei in jedem Falle unbestritten: Die Sprache kennt kein Verschmelzen der beiden Worte, vielmehr wirft sie die Frage nach ihren Bindekräften auf. Was sich sprachlich bereits als flüchtige Verbindung präsentiert, begleitet auch die Suche nach Indizien für eine Geschichte der offenen Stadt auf Schritt und Schritt, die ja Thema dieses Essays sein soll. Sobald das Wort von der offenen Stadt fällt, beginnt unsere Erinnerung ein reiches Panorama von Momenten, Bildern, ja sogar Stadträumen zu collagieren. Der Historiker kann nun dieses Panorama zum Ausgangspunkt seines Arbeitens machen. Er kann die einzelnen Episoden des Panoramas isolieren, sie begutachten und auf ihre Inhalte besehen. Er kann für jeden Eintrag zur offenen Stadt Beziehungen zwischen den jeweils konstituierenden Elementen in den Blick nehmen, Besonderheiten festhalten, Ursprüngen nachgehen. Am Ende wird er aber immer wieder dem gleichen paradoxen Phänomen begegnen: Je akribischer er sich mit den konkreten Einträgen in seine Liste der Beispiele der offenen Stadt auseinandersetzt, desto mehr beginnt sich diese eigentümliche Liaison zu verflüchtigen. Die offene Stadt wird zum Phantom. Doch schon während sich diese Erkenntnis zu formen beginnt, regt sich dagegen Widerstand. Die Atmosphären, Bilder und Versprechungen, die der Begriff der offenen Stadt zu evozieren vermag, verlangen nach ihrem Recht. Sie erinnern uns hartnäckig daran, wie unentwirrbar ihre Botschaften in den Erwartungshorizont eingewoben sind, mit dem wir Stadt begegnen. Damit kennt die offene Stadt zwar weder Chronik noch Längen- und Breitengrade, doch können wir nicht darauf verzichten, uns auf eine fortwährende Suche nach ihr zu begeben. Zu eng war sie von Anfang an verknüpft mit dem Versprechen auf geglückte Existenz – die heute, in Anbetracht der Verstädterungsziffern, gar nicht anders kann als urban zu sein. Die dabei zu beschreitende Route durch die Stadtgeschichte folgt den Collageelementen des Panoramas, sie hält dort inne,
216 ANGELUS EISINGER
wo Versprechungen und Erwartungen erhoben, entworfen und umgesetzt worden sind. So schlägt dieser Essay vor, die Geschichte der offenen Stadt zu einem Nachdenken über Stadtalltage und Gedankenbewegungen, über konzeptionelle Vorschläge und konkrete Interventionen sowie über die Tragfähigkeit städtischer Ideale und Realitäten zu machen. Eine erste Abgrenzung des historischen Raums der offenen Stadt Die Geschichte der offenen Stadt, so die Ausgangsbehauptung, erstreckt sich nicht einfach über die gesamte Geschichte der Stadt. Vielmehr sind ihre Anlagen noch recht jungen Datums. Sie finden sich in der Gemengelage von gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und technologischen Transformationen, welche die französische und die industrielle Revolution nach sich gezogen haben. In dieser Einschätzung folge ich den grundlegenden Arbeiten Eric Hobsbawms: Der britische Historiker sieht in den beiden Ereignissen die zwei epochalen Wendepunkte, die gemeinsam den Entwicklungspfad der Menschheit komplett neu definierten.1 Für die Reflexion der offenen Stadt gilt es, die implizite städtische Dimension dieser Überlegugen zu fokussieren. Vor diesem Hintergrund geht der Essay von der These aus, dass die offene Stadt untrennbar mit der Entstehung und den Transformationen der modernen Gesellschaften verwoben ist. Es mag zwar auch zuvor immer wieder disparate Momente gegeben haben, die bei uns heute ähnliche Zuschreibungen hervorrufen. Allein: Deren strukturelle Bedingungen lassen sich nicht mit den Grundlagen der städtischen Existenz in den letzten zwei Jahrhunderten vergleichen. Weiter begleitet die beiden Revolutionen eine universelle Dimension, deren Geltungsansprüche sich, historisch gesehen, an erster Stelle in den Städten manifestiert haben. So bündeln sich ihre Versprechungen von individueller Freiheit und wirtschaftlicher Prosperität zu einem Anspruch, der zwar nicht explizit von Stadt spricht, aber implizit eminente Forderungen an sie erhebt. Konkret erscheint die offene Stadt dabei als programmatisches Feld, das sich um die drei folgenden Elemente aufbaut: Erstens bildet sie ein umfassendes Versprechen auf emanzipierte Existenz. Dieses Versprechen führt zweitens zu einem impliziten städtebaulichen Programm. Drittens schließlich fungiert die offene Stadt als ermöglichender Raum, der Optionen des Alltags produktiv kanalisiert. Die Vorgeschichte Die Wucht, mit sich der sich die städtischen Lebensweisen über die letzten zwei Jahrhunderte verändert haben, enthüllt sich bei der Kontrastierung heutiger 1
Eric Hobsbawm: The Age of Revolution 1789-1848. London 1962, S.7ff.
DIE OFFENE STADT 217
Stadtlandschaften – der dominanten städtischen Existenzform der Gegenwart – mit der vorindustriellen Stadt. Veduten mittelalterlicher Städte künden von einer klaren Ordnung der Welt.2 Sie zeigen eine unmissverständliche Trennung zwischen zwei vollkommen voneinander geschiedenen Welten innerhalb und außerhalb der Stadtmauern – baulich, biografisch, kulturell, räumlich, sozioökonomisch. Diese bipolare Aufteilung der Welt spiegelt sich insbesondere in den idealtypischen Stadtdarstellungen der Renaissancezeit: Die Stadt verkörpert das Artefakt, die Gegenlogik zur außerhalb der Stadtmauern herrschenden Natur.3 Ablagerungen solch prototypischer Repräsentationen prägen die Art und Weise, wie wir Stadt begegnen, bis in eine Gegenwart, in der statistisch erstmals mehr als die Hälfte der Menschen in Städten lebt. Nun versammeln sich aber unter der Klassifikation „Stadt“ unterschiedlichste bauliche Artikulationsformen, unter denen die europäische Stadt, die im Prospekt unserer Erwartungen, Hoffnungen und Irritationen gegenüber der Stadt wesentlich bestimmt, nur eine Marginalie darstellt. Noch um 1800 war die Welt praktisch ausschließlich ländlich geprägt. Schätzungen zufolge lebten damals nur 2 bis 3% der Weltbevölkerung in Städten; in Europa waren es durchschnittlich etwa 12% – dies bei erheblichen regionalen Differenzen.4 Gleichzeitig war die dominante städtische Realität die der Kleinstadt, übersichtlich, beschaulich und kontrolliert. Nur gerade London besaß um 1800 über eine Million Einwohner und die übrigen Städte in Europa mit mehr als 100.000 Einwohnern ließen sich an wenigen Fingern abzählen. Die eruptiven Entwicklungen des 19. Jahrhunderts haben dann in für die Zeitgenossen oft kaum nachvollziehbarer Rasanz die alten urbanen Ordnungen beseitigt. Stadtentwicklung bedeutete dabei quantitative Explosion und qualitative Mutation gleichzeitig. So verfünfhundertfachte (!) Chicago seine Bevölkerung in gerade mal sechzig Jahren, Wien wuchs zwischen 1840 und 1900 von 400.000 auf über 1,6 Mio. Einwohner oder Berlin versechsfachte zwischen 1850 und 1900 seine Bevölkerung.5 Diese Beispiele reflektieren eine Dynamik, in der sich Myriaden von Ortschaften wandelten von Kleinstädten zu unüberschaubaren Gebilden. Damit kam es überall in Europa in den entstehenden Industriestädten zu ähnlich verheerenden Zuständen, wie sie von britischen Fabrikinspektoren 2 Vgl.
dazu Leonardo Benevolo: Die Geschichte der Stadt. So erscheint in der Darstellung der idealen Stadt durch einen italienischen Renaissancemeister die Stadt als Bühnenprospekt, der sich aus verschiedenen monumentalen Gebäuden aus unterschiedlichen Epochen bildet. Auf dieser Bühne bewegen sich vereinzelt Menschen, Individuen, keine Gruppen. Die Natur erscheint in diesem Reich der Artefakte einzig als scharf geometrisch geschnittene Rasenfläche, auf der sich ein kleiner Brunnen befindet. Vgl. Ruth Eaton: Die ideale Stadt. Von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 2001, S.15. 4 Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung. Frankfurt am Main 1996. 5 Campbell Gibson: Population of the 100 Largest Cities and Other Urban Places in the United States 1790-1990. US Bureau of the Census, Juni 1998. 3
218 ANGELUS EISINGER
seit den 1840er Jahren immer wieder scharf kritisiert und von Friedrich Engels in seinen berühmten Notaten zu Manchester gespiegelt worden waren. Das ist der dramatische Hintergrund, vor dem die moderne Stadtplanung ihre ersten Schritte unternahm. Sie setzte nicht nur mit Verspätung ein, sondern verfügte auch kaum über mehr als behelfsmäßige Instrumente. So kam es bald zu einer überaus folgenreichen Zweiteilung der Disziplin. Auf der einen Seite standen pragmatische Ansätze, die darum bemüht waren, der Notlagen in den Städten so gut es ging Herr zu werden. Auf der anderen entwickelte sich zusehends eine theoretische Welt der Stadtplanung, die sich mehr und mehr als kontrollierte Gegenwelt fachlicher Kompetenz präsentierte. So lässt sich über die verschiedenen Etappen der Entwicklung des planerischen Werkzeugkastens seit dem 19. Jahrhundert verfolgen, wie sehr Planung als momentbasiertes „Oligopticon“ (Bruno Latour) funktioniert, also: bestimmte Elemente in den Blick nimmt, andere ausblendet oder übersieht, indem sie Stadt als planerisches Objekt handhabbar macht.6 In diesem Moment des Rückzugs auf logisch kohärente, intellegible Gegenwelten finden sich wesentliche kognitive Grundmuster, die das planerische Denken bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts begleiten sollten. Die 1897 publizierte Gartenstadt von Ebenezer Howard war ein exemplarischer Schritt dabei. In Howards Grundkonzept bündelten sich unterschiedliche disziplinäre, intellektuelle und politische Denkbewegungen des spätviktorianischen Zeitalters in einem Stadtmodell, das sich explizit als fundamentaler, an den technischen Errungenschaften der Zeit orientierter Gegenentwurf zur ererbten Stadt präsentierte. Howard selbst machte dies im Slogan deutlich, in der Gartenstadt verbinde sich das Beste von Stadt und Land. So entstand eine als „Stadt“ betitelte Laborwelt, begrenzt in Größe und Wachstum. In ihr reorganisierte der mit fachlicher Kompetenz und Weitsicht ausgestattete Planer den Raum nach Maßgabe der Bedürfnisse der Zeit. Das berufliche Selbstverständnis des modernen Planers hatte damit das Licht der Welt erblickt. Dieses führte aber weg von den Bedürfnissen der offenen Stadt, da sich ihre Kritik der Industrialisierung auch gegen die Stadt wandte. HISTORISCHE BEOBACHTUNGSPUNKTE DER OFFENEN STADT
Die Suche nach der offenen Stadt findet ihre Ansatzpunkte zwar durchaus in den Verarbeitungen der Stadttransformationen des 19. Jahrhunderts, bedarf aber anderer Zugänge. Städte verstärkten im Zuge ihres Wachstums ihre Qualitäten als effiziente Kommunikationsmittel und als Agglomerationen von Information, Kompetenz und Ressourcen. Dabei war gerade die erste Generation der Stadtso6
Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press 2005, S.181.
DIE OFFENE STADT 219
ziologen wie Lewis Mumford, Georg Simmel oder Louis Wirth fasziniert von der Ausbildung eines neuartigen sozialräumlichen Systems mit eigener Dynamik, Kultur und Gesellschaftslogik. Die Chicago School verglich die moderne Großstadt mit einem ökologischen System, in welchem divergierende Gruppen koexistierten, ohne notwendigerweise in eine übergeordnete Einheit zu verschmelzen. Die moderne Großstadt ist aber kein Synonym für die offene Stadt, auch wenn sie Momente davon kennen mag. Die Geschichte der offenen Stadt zeigt sich in den Städten nur über Umwege. Im Befragen und Reflektieren von historischen Stadtzuständen entstehen Einsichten in ihre Eigenheiten und Voraussetzungen. Nun erlaubt ein Essay nicht, den weiten Bogen von faktischen Stadtzuständen aufzuspannen, in denen Spiegelungen der offenen Stadt während der letzten zwei Jahrhunderte aufscheinen. Stattdessen sollen hier vier zentrale Perspektiven auf die offene Stadt geworfen werden. Sie beschäftigten sich 1. am Beispiel von Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Transitorischen der offenen Stadt, 2. am Beispiel von East London um 1950 mit dem Arbeiten und Entwerfen der offenen Stadt einschließlich der Grenzen der Planungsdisziplin, 3. anhand der Massenkonsumgesellschaft mit den Ressourcen der offenen Stadt und 4. schließlich anhand kritischer und subkultureller Bewegungen mit ihrer Potenz zu Selbstreflexionen und immanenten Korrektiven. Wenngleich sich die transitorische Komponente wie ein roter Faden durch alle Momente der offenen Stadt hindurchzuziehen scheint, wird im Folgenden zunächst jeder dieser vier Aspekte für sich analysiert und dann am Ende gemeinsam mit den anderen Perspektiven zu einem Profil der offenen Stadt gebündelt. 1. Perspektive: Das Transitorische der offenen Stadt – Paris nach 1850 Der Umbau von Paris unter Baron Haussmann zwischen den frühen 1850er Jahren und seiner Entmachtung 1870 schlug ganz Europa in seinen Bann: Seine umfassende Reorganisation der Stadt strebte in einem frühen Gestus moderner Omnipotenzansprüche danach, Paris gleichzeitig schöner, gesünder, effizienter und militärisch kontrollierbarer zu machen.7 Als Meisterstücke seiner Stadtplanung galten die Wasserversorgung und die Kanalisation, die mit den desaströsen hygienischen und gesundheitlichen Zuständen im überfüllten, immer noch mittelalterlich geprägten Paris aufräumten. Bald gehörten sie zu den Standardeinträgen der damaligen Reiseführer und wurden aufgrund ihres bahnbrechenden Charakters auch von gekrönten Häuptern besucht. Auch oberirdisch begeisterte die Stadt ihre Besucher. Haussmanns Vorliebe für Spätbarock führte zu einer Neugliederung der bestehenden Stadt durch große Achsen, die an mit Monumenten bestückten Plätzen endeten und erhabene Sichtbeziehungen etablierten. 7
David Jordan: Transforming Paris. The Life and Labors of Baron Haussmann. New York 1995.
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Während dieser baulichen Transformationen wandelte sich Paris immer mehr zu einem intellektuellen und künstlerischen Laboratorium, in dem für die Moderne gleichsam archetypische Deutungsfiguren der Stadt entstanden.8 Auslöser dafür war zunächst die Faszination für den scheinbar unerschöpflichen Reichtum an Sinneseindrücken, den die werdende Metropole Paris bereithielt. In der Folge fügten sich in Paris bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nach und nach literarische, künstlerische, wissenschaftliche Beiträge zu einem facettenreichen und widersprüchlichen Grundlagentext modernen europäischen Stadtverständnisses, in dem bald die Irritationen ob der Veränderungen gegenüber der enthusiastischen Begeisterung dominierten. Am Anfang stand die künstlerische Stadtreflexion des Flaneurs, der sich, so Charles Baudelaire, an den „délices du chaos et l’immensité“ des Strassenlebens delektierte.9 Einen Eindruck von diesen turbulenten Straßenszenen vermag uns Marcel Carnés wunderbarer Film Les enfants du Paradis zu vermitteln: Seine Figuren verlieren sich in der Masse, sie wirbeln von unsichtbaren Kräften getrieben durch einen Straßenraum, der keine Schranken und Grenzen der Geschlechter, Herkunft und Klassen mehr kennt.10 In seinem Aufsatz Le peintre et la vie moderne formulierte Baudelaire gleichsam das Programm des Flaneurs11: Er geht in der Menge auf, sucht ihre Anonymität und setzt sich in starker Reaktion davon ab. Der Künstler wird so zum Chronisten des Vergänglichen, Unbeachteten. In den Menschenmengen auf den Boulevards finden sich für ihn in jedem Moment neue Belege für die Verheißungen der neuen Zeit: Mit dem Eintauchen in die Masse scheint sich das Versprechen auf emanzipierte individuelle Existenz einzulösen, was freilich nicht zu Haussmanns Agenda gehörte. Diente das Straßenleben anfänglich hauptsächlich der künstlerischen Selbstfindung, wandelte es sich für die Pariser Malerei und Literatur, die intellektuellen und politischen Diskurse über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zusehends zum seismographischen Apparat gesellschaftlicher Veränderungen. „Tout comme la societé, la rue s’est transformée“, hieß es dazu bald bei Roger-Marx. Die strikt aufgebauten Straßenschnitte von Haussmanns Boulevards schufen die Bühne für ein, wie Victor Fournel formulierte, „théatre improvisé“, dessen Stücke zunehmend verstörten – ein Umstand, den unsere kulturelle Erinnerung an Paris bemerkenswerterweise meist ausblendet. So verschrieb sich die Bewegung der Impressionisten der Darstellung gleichsam prototypischer urbaner Konstellationen im neuen Paris. Ihre in den 1860er und 1870er Jahren entstandenen Gemälde mögen uns heute mit ihren kosmopoliten Figuren, den 8 Vgl. Guillaume Le Gall: Die Erscheinung des alten Paris. In: Eugène Atget: Retrospektive. Berlin: Deutsche Verlagsbuchhandlung, 2007, S.13-14. 9 Zitiert in: Andrea Frey: Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900. Berlin 1999, S.12. 10 Marcel Carné, Frankreich 1945. 11 Charles Baudelaire: Le peintre et la vie moderne. 1859.
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distinguierten Bürgern und großartigen Straßenszenen als Artikulationen feinster Formen der Urbanität erscheinen. Ein zweiter Blick allerdings legt andere Deutungen frei. Er belegt ein wachsendes Unbehagen gegenüber der anhaltenden Umgestaltung der Stadt. Die impressionistischen Kompositionen erzählen von Einsamkeit, Isolation und dem Verlust städtischer Gemeinschaft. Sie dokumentieren den schleichenden Übergang von der elitären Begeisterung ob der berauschenden Menschenmenge zu ihrer ambivalenten Konnotation als „multitude“. Schon bei Baudelaire hatten Vielfalt und Einsamkeit als „termes égaux et convertibles“ gegolten. Diese ästhetisch motivierte Haltung wich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zusehends einer fundamentalen gesellschaftlichen Verunsicherung, in der die Menschenmengen auf den Straßen zur Chiffre des Bedrohlichen der Stadt an sich wurden. Nervenkrankheiten wurden als Folge einer übermäßigen Belastung durch das Großstadtleben gesehen.12 Dabei verdichten sich die Anfänge der modernen Psychologie in Paris sukzessive zu einer immer deutlicher formulierten Großstadtkritik. In Gustave Le Bons „Psychologie des Foules“ aus dem Jahre 1895 schließlich erschien die Gegenwart als dunkles Zeitalter der Massen: Entfremdung, Spaltung und Polarisierung bildeten die drängenden Eindrücke im städtischen Alltag.13 Die Stadt hatte sich für Le Bon des Individuums bemächtigt und es entmündigt. Seines Willens beraubt, bot es sich der Irrationalität der Masse als leichte Beute an, wodurch für den Wissenschafter die Gesellschaft und ihre Errungenschaften der Gegenwart akut bedroht waren.14 Für unsere Suche nach der offenen Stadt hält Paris in den Jahrzehnten nach 1850 somit eine doppelte Einsicht bereit. Die Stadt lässt einmal städtische Existenz als individuelle Option entstehen, erinnert aber gleichzeitig an den prekären Status solcher Möglichkeiten. Darin spiegelt Paris beispielhaft das hellsichtige Verständnis von Urbanität, das Edgar Salin vor bald 50 Jahren formuliert hat und das sich ohne Weiteres auch auf unsere Notation von Offenheit übertragen lässt: Ebensowenig wie Urbanität ist Offenheit eine Konstante der Stadt. Beide haben sie ihre Räume und ihr Personal, alles aber nur auf Zeit.15 Urbanität und Offenheit bilden nie die ganze Wahrheit einer Stadt. 2. Perspektive: Das Entwerfen und Konzipieren der offenen Stadt: Bethnal Green 1950 Bis in die frühen 1950er Jahre orientierten sich urbanistische Planwelten explizit oder implizit an den abstrakten Bedürfnissen der Industriegesellschaft, die dann 12
Charles Richet: Le surménage mental dans la civilisation moderne. 1890. Le Bon: Psychologie des Foules. Paris 1895. 14 Vgl. dazu: Frey, Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860-1900, a.a.O., S.38. 15 Edgar Salin: Urbanität. In: Der Städtetag. Zeitschrift für kommunale Praxis und Wissenschaft. Neue Folge 13, S.323-332. 13
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am Zeichentisch des planenden Architekten ihre adäquate Form erhielten. Die im 19. Jahrhundert noch vage Gegenwelt der modernen Planung hatte somit ihre festen Konturen gefunden; Planung sah sich nun im Stande, die wissenschaftlich vermessene Alternative zur industrialisierten Stadt bereitzustellen. Allein: Die bestehenden Städte standen ihr im Wege. Deshalb wurden in Fachkreisen die Zerstörungen durch die Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs als unverhoffte Gelegenheiten begrüßt. Sie hatten – wenngleich unter denkbar unglücklichsten Umständen – die Tabula rasa geschaffen, auf welcher die Theorie aufgebaut hatte. Von den britischen New Towns über die Städte des Wiederaufbaus in Deutschland und Frankreich bis nach Brasilia war es nun der bis ins letzte Detail reflektierte Masterplan, der einen Städtebau auf der Höhe der Zeit garantieren sollte. Doch schon gegen Ende der 1950er Jahre war das Scheitern der Versprechungen der Wiederaufbauplanungen mit den Händen zu greifen. Stadt – so offenbarte sich alsbald dem aufmerksamen Beobachter – ist immer komplexer als jeder noch so ambitionierte Satz von Regeln ihrer Konstruktion. Ignoriert Planung diese Einsicht, wendet sie sich gegen die Stadt. Wie kann Städtebau unter solchen Vorzeichen noch Stadt erfolgreich adressieren? Wie kann er zu städtischen Qualitäten beitragen, wenn die akribische Arbeit am perfekten Modell nicht zum Ziel führt? In Bethnal Green im Londoner East End wurden um 1950 Ansatzpunkte erkennbar, die die Ressourcen des städtebaulichen Arbeitens entscheidend erweiterten. Bethnal Green war damals ein vornehmlich von irischen Einwanderern und ihren Familien geprägtes Arbeiterquartier. 1945 waren Judith und Nigel Henderson dorthin gezogen, um in diesem Stadtteil im paar Jahre lang zu leben und arbeiten.16 Parallel zu den anthropologischen Untersuchungen seiner Frau streifte Nigel Henderson mit der Kamera durch die ärmlichen Arbeiterquartiere und fotografierte ihren Straßenalltag. Seine Aufnahmen von spielenden Kindern, die Fotografien von Hausfrauen und Menschenansammlungen erzählten von einem Straßenleben, für welches in den Theoriewelten der Moderne kein Platz mehr war – Straßen galten ihr einzig noch als Verwirklichung effizient gestalteter Mobilität. In dem Architektenpaar Alison und Peter Smithson trafen Hendersons Bilder auf wache Betrachter, die in ihnen tiefere Einsichten für das künftige Arbeiten an der Stadt entdeckten.17 In der, wie Peter Smithson diagnostizier16
Vgl. Claude Lichtenstein und Thomas Schregenberger: As found. Die Entdeckung des Gewöhnlichen. Zürich 2001, S.93-94. 17 Nigel Henderson gehörte wie die Smithsons zur Independent Group – einer Vereinigung von Künstlern, Philosophen und Architekten, die sich gegen die Werte und Konventionen des britischen Establishments wandten und statt dessen die Hinwendung zum gewöhnlichen, rauhen und ungekünstelten Alltag postulierten. Claude Lichtenstein und Thomas Schregenberger, As found, a.a.O., S.156ff.
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te, von Henderson eingefangenen „uninhibited organization of the children’s games“ zeichnete sich ein „survival from an earlier culture“ ab, welches auf die Eigenschaften aufmerksam mache, die künftige Stadträume erfüllen sollten: Orte der Identität und der sozialen Integration zu sein.18 Die Arbeit an der offenen Stadt zeugt hier auf der Mikroebene bereits von einer Konzeption, die Soziologen wie Hartmut Häussermann später mit dem Begriff der „Integrationsmaschine Stadt“ zu fassen suchen. In ihrem Wettbewerbsbeitrag „Golden Lane“ von 1952 übersetzten die Smithson nun diese Hinweise aus East London in ein architektonisches und städtebauliches Konzept.19 Wohngebäude waren für sie nicht mehr länger nur ein Angebot zur Befriedigung von Wohnbedürfnissen, sondern Orte der Begegnung im stadtgesellschaftlichen Gefüge. Die Straße als „arena of social expression“ galt es nun deshalb zu aktualisieren: Die so genannten „street decks“ erschlossen als breite, an der Fassade liegende Erschließungssysteme nicht nur die zweigeschossigen Wohnungen der Anlage, sondern wollten auch Orte des sozialen Austauschs sein, wie die kunstvollen, an den Collagetechniken der Pop-Art orientierten Perspektiven verdeutlichten. Für das Bauen an der offenen Stadt und das Entwerfen ihrer Aggregate hält das nicht realisierte Golden-LaneProjekt einiges bereit. Es erzählt von der überraschenden kreativen Potenz neuer Blickweisen auf das scheinbar längst Bekannte. Stadt wird dabei zum Ideenreservoir ihrer eigenen Zukunft. Golden Lane begleiten aber auch düsterere Töne. Assoziationen bedürfen immer der Übersetzung in Konzepte. Die Smithsons waren überzeugt, dass die bestehende Stadt kein räumliches Referenzmodell für die Zukunft mehr liefere. Der semantische Vorrat traditioneller Elemente wie der Straßen hatte sich für sie erschöpft und bedurfte neuer Deutungen. Diese Diagnose der unwiederbringlichen Erosion des Vorhandenen verband sich mit dem Drang, die Dinge à tout prix neu erfinden zu müssen. Darin zeigt sich eine Überschätzung der eigenen Position ähnlich der von ihnen zuvor scharf kritisierten modernen Planungen. So liegt das traurige Schicksal, das die in englischen Sozialbauten realisierten „street decks“ als Hort von Unsicherheit und Kriminalität bald begleitete, auch darin begründet, dass die Assoziationen, die das Straßenleben in Bethnal Green auslöste, nicht alle Determinanten freilegten, die diese Orte zu Brennpunkten sozialer Identität haben werden lassen. Übersetzung verlangt somit nach mehr als nach starker Vorstellungskraft und sozialer Intuition. Gerade in dieser Kurzsichtigkeit kennen die „street decks“ aber in der Gegenwart Verwandte, die wir zunächst gar nicht als solche erkennen würden: Auch auf den Bühnen der mit 18
Vgl. John Lewis (Hrsg.): Urban Structuring. Studies of Alison and Peter Smithson. London und New York 1967, S.10. 19 Vgl. auch Helena Webster: Modernism without rhetoric. Essays on the work of Alison and Peter Smithson. London 1997, S.32f.
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erheblicher gestalterischer Ambition komponierten öffentlichen Räume der Gegenwart wollen sich die Stücke nicht einstellen, die man sich bei ihrem Entwurf versprochen hatte. Wie die „street decks“ belegen sie die Grenzen der planerischen Erweckung von Stadt. 3. Perspektive: Die Ressourcen der offenen Stadt – Die Massenkonsumgesellschaft Nach 1900 ist die Stadt zur dominierenden Siedlungs-, Wirtschafts- und Lebensform der Industriegesellschaften geworden, deren Eigenschaften sich in der Großstadt geradezu potenzierten. Die Großstadt wirkte auf die zeitgenössischen Beobachter als „Gesamtlaboratorium“ (Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften), dem weder Ordnung noch Plan zugrunde zu liegen schien. Keine Stadt hat dieses Vexierbild in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl deutlicher verkörpert als New York. Wo Rem Koolhaas dann in den 1970ern eine radikale Steigerung der urbanen Kultur während der Zwischenkriegszeit feierte und diese am hedonistisch-verschwenderischen Gebäudeleben im Downtown Athletic Club oder dem neuen Waldorf-Astoria festmachte, hatte John Dos Passos in der Zeit mit Manhattan Transfer das Porträt einer von anonymen gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften getriebenen, ihre Bewohner verschlingenden Metropole entworfen.20 Betriebswirtschaftliche Logiken, technologische Innovationen und kulturelle Mechanismen griffen ineinander. Die Großstadt wirkte wie ein Magnet, der die Menschen mit ihrem Versprechen auf gelingendes Leben und Emanzipation an sich zog und ihnen dann oft genug die Einlösung ihrer Verheißungen verwehrte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das urbane Versprechen auf ökonomische und gesellschaftliche Besserstellung breiter Bevölkerungskreise dann aber auch eingelöst – weniger durch Bauen an der Stadt als durch institutionelle Veränderungen, die die Lebensbedingungen in den Städten stark beeinflussten. In diesem Sinne ist die sich nach 1950 rasch ausbreitende Massenkonsumgesellschaft als wichtige Etappe in der Geschichte der offenen Stadt zu sehen. Dabei waren „die langen 1950er Jahre“ nicht einfach nur eine Phase anhaltender struktureller Stabilität, die ein wirtschaftsfreundliches Klima schuf. Vielmehr verbanden sich nun Massenproduktion und Massenkonsum mit dem politisch verankerten Streben nach sozialer Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang ist z.B. an Atlees 1946 lanciertes Programm eines neuen England zu denken, das die Schaffung eines gerechten Bildungsund Gesundheitssystems, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien oder die New Towns als Verbindung von Städtebau und Gesellschaftsreform auf seine Agenda setzte, ebenso aber auch an die soziale Marktwirtschaft in der Bundes20 Rem Koolhaas: Delirious New York. A Retroactive Manifesto for Manhattan. New York 1978; John Dos Passos: Manhattan Transfer. A Novel, New York 1925.
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republik Deutschland oder die Ausweitung der skandinavischen Wohlfahrtssysteme in der Nachkriegszeit.21 In dieser Entwicklung lässt sich sehr wohl das nun politikwirksam gewordene Ineinandergreifen der beiden Revolutionen sehen, die wir an den Ausgangspunkt der Geschichte der offenen Stadt gestellt haben. Die von entsprechenden Mechanismen der Umverteilung begleitete Massenkonsumgesellschaft löste weite Kreise der urbanen Bevölkerung aus den bisherigen Fesseln der Armut, was sich in eindrücklichen Zahlen spiegelt. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten blieben in praktisch allen westlichen Ländern bis in die 1970er Jahre konstant hoch, was sich in einer kräftigen Zunahme der pro Kopf verfügbaren Einkommen niederschlug. Konsum beschränkte sich nun nicht mehr länger darauf, Mangel zu lindern. Dazu genügte ein Blick in die Wohnungen, wo nach 1950 Waschmaschinen, Bügeleisen, Staubsauger, Kühlschränke und Fernsehgeräte mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit wurden. Dieser Zuwachs an Freiheiten in der Lebensführung durch Konsum hatte durchaus seine räumliche Dimension. So versiebenfachte sich allein zwischen 1951 und 1960 in der Bundesrepublik die Zahl der PKWs. Das eigene Auto wurde zum Symbol dafür, dass man „es geschafft hatte“, und die Urlaubskarawanen ans Mittelmeer bestätigten dies nun Jahr für Jahr wieder von neuem. Fortschritt hörte hier auf, abstrakt zu sein, und schloss die Option ein, tatsächlich auch die eigene Herkunft hinter sich lassen zu können. Die breite Verfügbarkeit der Ressourcen blieb jedoch nicht ohne Folgen. Auf der einen Seite brachten Wirtschaftswachstum und Sozialpartnerschaft eine wesentliche Demokratisierung der ökonomischen Sphäre. Auf der anderen Seite situierte sich der individuelle Zuwachs an modernen Wohn- und Lebensformen nicht mehr in den Raummustern der bürgerlichen Stadt mit ihren Straßenfluchten, Plätzen und ihrer zeichenhaften Repräsentationsarchitektur, sondern realisierte sich in der Peripherie. In den vorfabrizierten Vorstadtsiedlungen konzentrierte sich in tausendfacher Wiederholung das „kleine Glück“, das mit Blick auf die ärmlichen Lebensverhältnisse früherer Generationen von Stadtbewohnern so klein oft nicht war – allerdings aber über die Zeit zu einem erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Preis. Die Kritik am Alltag in diesen Satellitenstädten setzte sehr früh ein. Sie prangerte in der, so Alexander Mitscherlich, „Unwirtlichkeit der Städte“ die Verödung und Verarmung sozialer Kontakte an.22 Weiter begleitete diese Form der Verstädterung eine zunehmende Trennung von mentaler und räumlicher Urbanisierung. Man war Teil städtisch geprägter Arbeits- und Lebenswelten, 21 Vgl. Dennis Hardy: From Garden Cities to New Towns. Campaining for Town and Country Planning,
1899-1946. London 1991, S.22-38. Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte – Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main 1965.
22
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die aber mit traditionellen urbanen Mustern nichts mehr gemein hatten. Diese Tendenz hat sich bis heute weiter akzentuiert. Städtisches Leben äußert sich als zigtausendfach realisierte Inanspruchnahme von Raum, die sich jeglicher Vorstellung von Stadt als territorialem Prinzip entzieht. Das Arbeiten an der offenen Stadt steht dadurch vor enormen Herausforderungen: Die Orte und ihre Bebauungsformen belegen keine Lebensweisen und Mentalitäten mehr, in den Öden Suburbias ebenso wenig wie in scheinbar vertrauten Stadtteilen. Das wird z.B. dann deutlich, wenn wir Jane Jacobs’ in den frühen 1960er Jahren faktisch wohl begründete Bejahung des New Yorker West Village mit den pessimistischen Lektüren der gleichen Nachbarschaft in Richard Sennetts „Fleisch und Stein“ gegen Mitte der 1990er Jahre kontrastieren.23 Die Läden und Cafés, die Wohngebäude und das Straßenleben im West Village zeichneten immer noch die Kulisse vom liberalen Ambiente der Beatniks und der Folkszene. Das Stück freilich war für einen kritischen Beobachter wie Sennett mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit umgeschrieben worden. So legten sich im nunmehrigen Blick die Schürfungen der dramatischen gesellschaftlichen Umwälzungen frei, die Manhattan seit Jacobs epochalem Werk durchlebt hatte. 4. Perspektive: Die Potenz der offenen Stadt zur Selbstreflexion – Wien, Paris, London Wien hatte um 1900 einen enormen Aufbruch hinter sich, der die Stadt baulich, ökonomisch und soziokulturell dramatisch verändert hatte. In der auf dem ehemaligen Glacis realisierten Ringstraße hatte sich der Aufstieg des Grossbürgertums als gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht in eklektischer Architektur in den Stadtraum eingeschrieben. Der in einer gemeinsamen Kritik an der Ringstraßenarchitektur gründende Widerstreit zwischen Camillo Sitte und Otto Wagner um die richtige Stadtgestalt spiegelte die beiden prototypischen Haltungen zu diesen rasanten Transformationen: eine konservative Modernekritik zum einen, die sich gegen die laufenden gesellschaftlichen Transformationen stemmte (Sitte), und eine euphorische Gegenwartsbejahung zum anderen, die Stadt als pointilistische Übersetzung der technologischen, sozioökonomischen, baulichen Errungenschaft der Zeit in Architektur und Städtebau betrachtete (Wagner).24 Beide Positionen gründeten auf der Gewissheit, die Gesellschaft fixieren und die dafür adäquate Stadtform festlegen zu können, die – in beiden Fällen – den Vorstellungen einer offenen Stadt widerspricht, weil sie gesellschaftliche Realität durch schematische Reduktion handhabbar zu machen glaubt. Tatsächlich aber prägte die alltägliche Erfahrung ein immer stärker werdendes Maß an Verlust bisheriger Orientierung. Gustav Klimts „Nuda veritas“ – die als nackte Frau dargestellte Wahrheit, die dem Betrachter den Spiegel vorhält, bildete die 23 Richard Sennett: Flesh and Stone. The Body and the City in Western Civilization. New York (2003) 1994, S.355. 24 Carl E. Schorske: Fin-de-Siécle Vienna. Politics and Culture. New York 1981, S.24-115.
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programmatische Suche nach der Realität ab, die ihre Grundlage in einem unverstellten Blick auf die Gegenwart sieht. Stand am Anfang noch die Überzeugung, in der emanzipatorischen Kraft der Kunst – genauer im Gesamtkunstwerk – liege der Schlüssel zur Verbindung der Fragmente, ortete man bald das Scheitern derartiger Ansätze als „Todestanz der Prinzipien“ (Arnold Schönberg). Wien, diese, so Karl Kraus, „Versuchsstation des Weltuntergangs“, legt die Bedeutung der Kultur als urbaner Motor und Sensor städtischer Veränderungen frei. Dabei sind es Nischen und nicht der Prospekt der Stadt, wo diese Qualitäten entstehen. Carl Schorske hat in seiner grundlegenden Studie zu Wien um 1900 deutlich gemacht, wie sehr das Kaffeehaus als Begegnungsort von Intellektuellen, Künstlern, Politikern, Journalisten und Lebenskünstlern zu einem einmaligen, weil Perspektiven übergreifenden und Disziplingrenzen überschreitenden Resonanzraum wurde. Diese Prozesse belegen eine „wachsende Selbstreflexivität der Großstadtkultur“ (Zimmermann / Reulecke), die gerade dadurch auch zur Gesellschaftskritik wurde. Diese Verbindung von Stadtreflexion und Gesellschaftskritik jenseits gediegener akademischer Welten lässt sich von den Dadaisten und Surrealisten über die Situationisten, die 1968er bis hin zum Punk und Hiphop ziehen.25 Sie treffen sich in ihrer Zurückweisung des Alltags und seiner Strukturen. In dieser Realitätskritik betreiben sie eine Auflösung der Ordnung der Zeichen und ihrer Bedeutung. „Nicht mehr als 40 Stunden pro Woche auf den Barrikaden!!“ oder „Objekte, verschwindet!“ an den Pariser Hausmauern im Mai 1968 verbinden sich mit der verstörenden Synästhetik von Hakenkreuzen und zerrissenen Kleidungsstücken der frühen Punks. Darin liegen Verwirrspiele mit der Realität, die Stadt öffnen. Auch wenn ihre Akteure marginal bleiben, hallen ihre Beiträge in der kulturellen Erinnerung nach. WIRKUNGSGESCHICHTLICHE DIAGNOSEN ZUR OFFENEN STADT
Die aktuelle Renaissance der Städte vertraut auf eine enge Korrespondenz von typologischen und räumlichen Mustern mit dem städtischen Alltag. Dafür gibt es weder heute noch in der Vergangenheit plausible empirische Evidenz. Das Fazit unserer Auseinandersetzung mit den vier Perspektiven hat, wie erwartet, ebenso wenig eine Geschichte der offenen Stadt erkennen lassen wie eine evolutive Bewegung städtischer Alltage auf deren Qualitäten hin. Die offene Stadt ist ebenso sehr Mythos im Barthes’schen Sinne wie reproduzierbarer Habitus einer Stadt. Gerade der Mythos-Begriff Barthes’ legt die doppelten Böden frei, die wir bei ihrer Geschichte im Auge behalten sollten. „Die Dinge“, heißt dazu in den Mythen des Alltags, „verlieren in ihm (dem Mythos, A.E.) die Erinnerung an 25 Marcus Greil: Lipstick traces. Von Dada bis Punk. Eine geheime Kulturgeschichte des 20. Jh. Reinbek 1996.
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ihre Herstellung.“ Der Mythos verdeckt somit seine historischen Grundlagen. So „verliert der Sinn seine Beliebigkeit: er leert sich, verarmt, die Geschichte verflüchtigt sich.“26 Im Mythos der offenen Stadt wird Stadt auf einen bestimmten Satz von Zusammenhängen reduziert, die sich von den konkreten Umständen lossagen, in denen sie sich ereignet. Die Stadtgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte legt uns stattdessen ein Paradox nahe: Die offene Stadt kennt zwar keinen Bausatz, sie verlangt aber nach ihren Entwürfen. Sie ist das Wagnis, das gewagt werden muss. Für dieses voraussetzungsreiche Entwerfen hält die Stadtgeschichte vier Orientierungslinien bereit: Zunächst einmal bedient sich das Entwerfen auf eine offene Stadt hin einer kontextuell vielschichtigen Lektüre des Orts. Kontext ist somit immer räumlich, sozial, ökonomisch, kulturell in einem zu sehen, dadurch wird die offene Stadt einmalig und bestimmt, eine konkrete Raum-Zeit-Realität. Mit anderen Worten: Die offene Stadt schreibt sich ein in die bestehende Stadt als ein programmatisches Hier und Jetzt, das es zu ergründen gilt. Zweitens agiert dieses Entwerfen nicht nur örtlich fokussiert und funktional vernetzt, sondern operiert mit der Zeit. Es fixiert das Offene nicht, es entwickelt es. Das Gestalten und städtebauliche Konzipieren gewinnt drittens seine Stärke und Präzision aus dem Wissen um die eigenen Potentiale und Grenzen. Vor allem aber, und das ist der vierte und letzte Punkt, an den Stadtgeschichte erinnert, bedeutet Arbeiten an der offenen Stadt, explizit Position zu beziehen und genau die Eigenschaften von Stadt zu benennen, die wir wollen. Die offene Stadt ist ein Projekt.
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Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1998 (1964), S.131.
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HEINER WILHARM
URBANITÄT UND EREIGNIS ÜBER DIE INSZENIERUNG VON ARCHITEKTUR UND STADTRAUM
„Schwierige Erforschung einer gefährlichen Gegend“ 1
EXPOSITION
Die Beleuchtung der Stadt mag ihren Bewohnern, ganz wie dem Touristen2 oder dem Flaneur3, natürlich vorkommen, abhängig vom Wechselspiel zwischen Hell und Dunkel, Licht und Schatten, Architektur und Atmosphäre, nach Maßgabe von Tageszeit und Kalender, ohne eigene Bedeutung. Das Licht, das so auf Gebäude, Straßen, Plätze fällt, färbt das situative Erleben, ist selbst aber nur eine vorübergehende Erscheinung, nicht der Rede wert, nicht einmal für die gewöhnlichen Ereignisse rund um die Uhr. Die Dinge selbst, die solchen Namen verdienen, scheinen von dem Licht, das auf sie fällt, wenn nicht unberührt, so doch unabhängig; die einzelnen genau so wie ihre Anhäufungen und Zusammensetzungen. So gibt es viele Dinge an der Place Saint-Sulpice, zum Beispiel: ein Rathaus, ein Finanzamt, ein Polizeikommissariat, drei Cafés, darunter eines, das auch Tabakladen ist, ein Kino, eine Kirche, [...], einen Verlag, ein Bestattungsunternehmen, ein Reisebüro, eine Bushaltestelle, eine Schneiderei, ein Hotel, einen Brunnen, der von den Statuen der vier großen christlichen Kanzelredner [...] geschmückt wird, einen Zeitungskiosk, einen Devotionalienhändler, eine Tiefgarage, ein Schönheitsinstitut und noch viele weitere Dinge. Ein Großteil, wenn nicht die meisten dieser Dinge sind beschrieben, inventarisiert, fotografiert, erzählt oder zahlenmäßig erfasst worden.4
Aber es gibt auch das, „was man im Allgemeinen nicht notiert, das, was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, was passiert, wenn nichts passiert 1 George Lefèbvre: Le langage et la société. Paris (Gallimard) 1966; dt: Sprache und Gesellschaft. Düsseldorf (Schwann) 1973, S.160. 2 Obwohl, selbst wenn dies naiv geäußert würde, schon Zweifel berechtigt wären. Klaus Ronneberger, u.a.: Die Stadt als Beute. Bonn (Dietz) 1999. 3 Vgl. Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. In: ders.: Abhandlungen 2, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1991 (Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. hgg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, I/2), S.509-604. Sie auch Brigitte Marschall: Öffentlicher Raum als theatraler Raum. Praktiken des Gehens und Strategien der Stadtnutzung. In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Ereignis und Inszenierung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Bielefeld (transcript) 2009, S.173-190. Zum „Raum, an dem man etwas macht“, siehe Michel de Certeau: Kunst des Handelns. 3. Teil: Praktiken im Raum. Gehen in der Stadt, Berlin (Merve) 1988, S.179-208. 4 Gorge Perec: Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Konstanz (Libelle) 2010, S.9 (frz. 1975 in: Cause Commune. Hgg. von Jean Duvignaud und Paul Virilio – korrigierte Übersetzung HW).
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außer Zeit, Menschen, Autos, Wolken“.5 George Perec, dem viele Beobachtungen dieser Art zu verdanken sind und der sicher zu den originellsten Chronisten städtischen Lebens gehört6, interessiert sich für die weniger bedeutenden, „infraordinären“ Dinge und was sich mit ihnen ereignet. Er bringt das Uninszenierte zur Sprache: die verschiedenen Abfahrten einer Buslinie, die mehr oder weniger gemessenen Abstände, die die Zeit der Großstadt anhand solcher Ereignisse takten. Die Ampelphasen an einer Kreuzung, die Bewegungen des fließenden, die Verzögerungen des ruhenden Verkehrs und was geschieht, wenn sie aufeinandertreffen. Wer kommt, wer geht. Unauffällige Zeichen und Symbole, flüchtige Slogans, die begegnen. Das Wetter, Licht und Schatten auf einer Fassade…
Abb.1 Infraordinäres. Eugene Galien-Laloue (Eugène Galien), (1854-1941), Porte Saint Denis.
Dass es sich bei der Aggregation, welche dem einzelnen Beobachter auf solche Weise gewisse Ansichten, auch Platz zum Mittun bietet, um eine Stadt, möglicherweise gar um eine besondere Form der Stadt handelt, ist aus solchen Berichten kaum zu schließen. Die Kriterien dafür entstammen vielmehr den erwähnten Festlegungen und Inventarisierungen, jedenfalls wenn sie sich zu Schlussfolgerungen aufschwingen. Oder sie rühren aus gewissen mit der Vermessung verbundenen normativen Vorstellungen und praktischen Inszenierungsabsichten. Vorzüglich des politischen Räsonnements und der von dort inspirierten Willensbildung. Für solider begründete Maßgaben kommen die Künste auf; die Kunst des Regierens fiel lange Zeit auch offiziell darunter. Die Künste haben den Vorteil, sich nicht darauf zu beschränken, Intentionen zu äußern oder auf Papier zu produzieren. Sie sind mächtig genug, die wirkliche Welt zu formen und Tatsachen zu schaffen. Die relevanten Festlegungen allerdings treffen die Wissen5
Ebd.
6 Siehe George Perec: Leben. Gebrauchsanweisung. Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 1982, dessen
Held ein Pariser Mietshaus ist.
URBANITÄT UND EREIGNIS 231
schaften, nicht nur mittels ihrer gegenwärtigen Einlassungen, sondern ebenso mit Blick auf die Geschichte ihrer jeweiligen Darstellungen und die medialen Auftritte. In allen Varianten haben sie keine Scheu, sich für die Begrifflichkeit und die Bedeutung zuständig zu erklären. Zumindest in the long run. Freilich stehen Politik, Künste und Wissenschaften in regem Austausch über Angemessenheit und Geltung der von ihnen verantworteten Bestimmungen und Kriterien; allemal die konkurrierenden Positionen untereinander, die im Rahmen einzelner der sozialen ‚Subsysteme‘ gegeneinander antreten. Die Erforschung der Stadt gilt in der Moderne als Domäne der Sozialwissenschaften. Sie selbst ist aus den politischen, den Staats- und Kameralwissenschaften, vordem Staats- und Regierungskünste, erwachsen. Es verwundert also nicht, dass die Stadtforschung angesichts der Entwicklung der modernen Staaten und Gesellschaften und der damit verbundenen spezifischen Problematiken in der Hauptsache den Bewegungen der Paradigmen in den Wissenschaften vom Politischen und Sozialen folgt. Es scheint evident, dass sich der Focus der historischen Konfiguration (so jedenfalls eine der Geschichten über die Geschichte der Stadt) mit der Industrialisierung und der Ausdehnung des Marktes von der „politischen Stadt“ und der „Handelsstadt“ zur „Industriestadt“ verlagert.7 Die Industriestadt indiziert ein kritisches Potenzial urbaner Agglomeration, gekennzeichnet von der rapiden Ausweitung urbaner Gebiete bei gleichzeitiger Überformung – und Zerstörung – der historischen Stadt. Die alte Stadt zerplatzt; der Gegensatz von Stadt und Land verschwindet zugunsten eines sich beschleunigenden Urbanisierungsprozesses. Seither stellt sich die Frage der „städtischen Form“ im Prozess der Urbanisierung. „Der Begriff Stadt entspricht keinem gesellschaftlichen Objekt mehr. Soziologisch gesehen ist er ein Pseudobegriff“, konstatiert Georges Lefèbvre Anfang der 70er Jahre in Die Revolution der Städte. „In anderen Worten: das ‚wirkliche‘ soziologische Objekt ist in diesem Fall Bild und – vor allem – Ideologie!“8 – Doch Bild zu sein und Ideologie, heißt nicht, dass der Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit ihrer Gegenstände damit auch schon ein minderer Status gegenüber der Härte gebauter Dinglichkeit verordnet werden müsste. Die Verhältnisse im Lichte ihrer relevanten Objekte zu betrachten, stand im Fokus der traditionellen, auch soziologischen Stadtdefinitionen; legitimiert 7
In dieser Geschichte der „Geschichte der Stadt“ folgen wir – wie auch später – Georges Lefèbvre; ihm sind die historischen Kategorien entlehnt. – Lefèbvre allerdings ist sich darüber im Klaren, dass die historische Darstellung der Stadtentwicklung selbst eine Inszenierung beinhaltet. Gemäß regressiv progressiver Methode nach Marx’schem Vorbild. Zwar sieht es so aus, als ob Entstehung, Veränderung und Wandel der Stadt beschrieben und analysiert worden seien, bemerkt Lefèbvre. „In Wirklichkeit haben wir aber nur ein virtuelles Objekt aufgezeigt; es hat uns die Möglichkeit zur Darstellung der Raum-Zeit-Achse gegeben. Die Zukunft hat ein Licht auf die Vergangenheit geworfen“. Georges Lefèbvre: Die Revolution der Städte. München (List) 1972, S.29 (Reprise bei Syndikat, Frankfurt am Main 1976). 8 Ebd., S.65.
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sowohl von der Sache her als auch von einer kongenialen Methodik. Max Weber gehört zu den vielen, die sich auf diese Weise an der Definition eines übergreifenden Begriffs der „Stadt“ versuchten, zumindest für einen längeren Zeitraum. Bei ihm wie anderen gilt als Stadt, wenn es sich um Siedlungen mindestens relativ stark gewerblichen händlerischen Charakters handelte, auf welche folgende Merkmale zutrafen: 1. die Befestigung – 2. der Markt – 3. eigenes Gericht und zumindest teilweise eigenes Recht – 4. Verbandscharakter und damit verbunden 5. mindestens teilweise Autonomie und Autokephalie, also auch Verwaltung durch Behörden, an deren Bestellung die Bürger als solche irgendwie beteiligt waren.9
Abb.2 Historische Stadt. Bonn um 1700, Stadtansicht von Nordwesten (Meran). Quelle:Wikipedia.
Offenbar ist Webers Blick auf die Vergangenheit gerichtet. Denn dass es sich hier um eine Definition der spätmittelalterlichen Stadt handelt, die als Handelsstadt noch im Konflikt mit der politischen Stadt liegt – um mit Lefèbvre’schen Begriffen zu reden –, liegt nahe. Wie auch immer, es ließen sich viele Definitionen aufrufen, die jeweils besondere Spezifikationen ins Feld führen; sei es in mehr idealtypisch universalisierender, sei es in mehr historisch konkretisierender und abgrenzender Absicht. Die Frage ist, ob sich zu solcher Annäherung an den Gegenstand „Stadt“ Alternativen finden. Zunächst ist offensichtlich, dass die Auszeichnung eines solchen Objekts auf ganz unterschiedliche Weise gerechtfertigt erscheint. Der Generalisierung steht die Exemplifizierung gegenüber. Man denke an die zeitgenössische Analyse eines ganz bestimmten Stadttyps, der die Züge frühkapitalistischer 9 Max Weber: Die Stadt. In: ders.: Grundriss der Sozialökonomik. III. Abt.: Wirtschaft und Gesellschaft,
Tübingen (Mohr), 2te erw. Aufl. 1925, S.514-601, Zit. S.523.
URBANITÄT UND EREIGNIS 233
Vergesellschaftung zum Ausdruck bringen sollte. Hier wie andernorts begegnet, dass das Beispiel auf den vermeintlichen Typ durchschlägt und sich nur schwer verallgemeinern lässt.10
Abb.3 Industriestadt. Ancoats, Manchester. McConnel & Company‘s mills, about 1820. From an old water-colour drawing of the period. Quelle: Wikipedia.
Doch selbst in Fällen empirisch sehr konkreter Untersuchungen stellt sich die Frage, was mit solcherart theoretischer Exponierung eines Objekts „Stadt“ an Gegenständen erfassbar ist. Zunächst, was kaum überrascht, gilt, dass Gegenstände und Sachverhalte ausgesprochen heterogen erscheinen: materiale Objekte der verschiedensten Art begegnen, ebenso vielfältige Objektkonstellationen und -systeme, unter Umständen Sozial- und Verkehrsverhältnisse, Kommunikatives und Informationelles aller Art… Dass es sich bei bestimmten Dingkonstellationen um „gesellschaftliche Verhältnisse“ handelt, ist selbstverständlich und trivial. Dass der verallgemeinernd typisierende Zugriff, wenn er sich ‚das Soziale‘, die diversen Dispositive und Praktiken des Urbanen, historisierend anzueignen sucht, ebenso selbstverständlich unzulässig typisiert, nicht weniger.11 In diesem Sinne wären nicht nur die Hypothesen der kontinentalen Kulturphilosophie à la Simmel zu relativieren, sondern ebenso die Theoriederivate ihrer Sympathisanten und Exegeten jenseits des Atlantiks, allen voran der Chicago School of Sociology und ihren Ablegern. Selbst ein sympathischer Slogan, wie der von der „Stadt als Lebensweise“ – propagiert von Louis Wirth schon Ende der 30er Jahre12 – wäre kritisch zu befragen, denn ob hier nach der „Tatsache Stadt“ oder dem „Konzept Stadt“13 gefahndet wird, steht nicht apriori fest. Die vorderhand 10 Wie
in Engels’ Beschreibung der zeitgenössischen Metropole Manchester etwa.
11 Vgl. Georg Simmel: Die Grosstädte und das Geistesleben. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908.
Frankfurt am Main (Suhrkamp), S.116-131 12 Louis Wirth: Urbanism as a Way of Live. In: The American Journal of Sociology, Jg. 1938, 44/1, S.1-25. 13 Vgl. Certeau, Kunst des Handelns, a.a.O., S.183.
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empirischen Kriterien des Städtischen sind meistens kaum geeignet, über einen bestimmten, mit der Theoriebildung eng verbundenen Vorstellungsraum hinaus zu überzeugen. Beispielsweise wäre es angesichts von Kriterien wie „Größe“, „Dichte“, „Heterogenität“ (Wirth) von Interesse zu wissen, mit welchen Assoziationen sie sich heutigen Tages, unter Bedingungen von 35 Millionen erhobenen Einwohnern auf einem Territorium wie dem von Mexico City etwa, alternativ verbinden könnten. Jedenfalls erscheint zweifelhaft, ob angesichts eines vermeintlich identischen Gegenstandes, eines mit Eigennamen versehenen Objekts, Daten von heute mit Schlussfolgerungen aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts zu synthetisieren sind. Und vice versa. Ob aus der vielmehr zu erwartenden Differenz die Konsequenz zu ziehen ist, der „Stadt“ die Dignität einer sich anreichernden, über eine historische Klammer hinaus weisenden Bedeutung generell zu bestreiten, dürfte ebenso fraglich sein. Insofern ist es auch nicht möglich, die Probleme des Raums von der Analyse spezifisch gesellschaftlicher Prozesse zu trennen und in diesem Sinne eine nicht-räumliche Stadtsoziologie zu fordern.14 Der Mythos der „Gesellschaft“ ist nicht weniger hell oder dunkel als der Mythos der „Stadt“. Es kann nicht verwundern, dass die Kritische Sozialwissenschaft auch eine kritische Stadtforschung hervorbrachte und mit ihr eine multi- und transdisziplinäre Beleuchtung des Gegenstandes im Sinne der Kritik. Critical political studies, new urban sociology, radical geography und radical ecomomy markieren diverse Positionen in diesem Feld moderner sozialwissenschaftlicher Stadtforschung, die sich in Reaktion auf die in den 60er und 70er Jahren diagnostizierte „Krise der Stadt“ formierte. Bemerkenswert ist, dass die Geografie sich endlich unter die beteiligten Partner mischt, und damit der Raum als bedeutsame theoretische Größe, sozusagen autorisiert, in den Horizont der Urbanisierungsdebatte rückt. Die theoretische Initiative ist auf zwei stadtspezifisch ökonomische Strukturen konzentriert, die Ökonomie der kollektiven Konsumation im städtischen Ensemble (anknüpfend an die Tradition der strukturalistischen französischen Soziologie und Kulturanthropologie und ihre Effekte im angelsächsischen Sprachraum) und die politische Ökonomie des Urbanen mit den Schwerpunkten Städtebau und Stadtplanung (anknüpfend an die architekturpraktische und architekturtheoretische Avantgarde). Die beiden maßgeblichen Protagonisten dieser Couleur moderner Stadtanalyse, Manuel Castells15 und David Harvey16, 14
Siehe Peter Saunders: Soziologie der Stadt, Frankfurt am Main (Campus) 1987 (engl.: Social Theory and the Urban Question, 1981); vgl. dazu die Beurteilung Christian Schmids (Christian Schmid: Stadt, Raum, Gesellschaft. Henri Lefèbvre und die Theorie des Raumes. München (Franz Steiner Verlag) 2005, S.160: … der „wohl einflussreichsten stadtsoziologischen Abhandlung der letzten zwei Jahrzehnte“. 15 Manuel Castell: La question urbaine. Paris (Maspero) 1972, 2te Aufl. 1975 mit einem theoriegeschichtlich wichtigen Nachwort (dt. 1977 bei VSA). 16 David Harvey: Social Justice and the City. London (Edward Arnold) 1973.
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reagieren dabei auf das theoretische Engagement, welches die Stadt mit den Arbeiten Henry Lefèbvres erfahren hatte.17 Seine Schriften der frühen 70er Jahre dürfen als Focus der Debatte wie des neuen Aufbruchs verstanden werden und indizieren die „Perspektive, die Stadt als räumliche Konfiguration und den Raum aus der Perspektive der Urbanisierung heraus zu begreifen“.18 Darüber hinaus stellt Lefèbvres Erforschung des städtischen Raums und des Urbanisierungsprozesses bis in die Gegenwart ein bedeutendes Referenzsystem jeglicher Stadtanalyse dar. Der spatial turn der 80er Jahre reflektiert, dass die gesellschaftlichen Szenarien der Stadt und des städtischen Raums nicht nur von den Geschichten der Soziologie, der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie geschrieben waren. Ebenso war daran offenbar an den Schreibtischen und in den Büros der Kultur- und Kunstwissenschaften, der Architektur und der Gestaltung gearbeitet worden. Unter den Labeln ‚Postmoderne‘ und ‚Poststrukturalismus‘ wurden (und werden) entsprechende Strömungen kurzgeschlossen, auch solche, die auf ihre Weise den Raum und damit in besonderer Weise den urbanen Raum und die Stadt des ausgehenden 20sten und beginnenden 21sten Jahrhunderts thematisierten. Als frühe programmatische Dokumente solcher Art postmarxistisch antipositivistischen, im wesentlichen medientheoretischen Verständnisses aus Kunst, Medien und Architektur, Epistemologie und Philosophie ließen sich etliche Titel lesen. Unter anderen Marshall McLuhans Understanding Media von 1964 und, drei Jahre später veröffentlicht, Medium is the Message, Robert Venturis Learning from Las Vegas oder Jean-Francois Lyotards La condition postmoderne.19 Michel Foucaults Erörterungen über die „Sprache des Raums“20 wären für die theoretischen Diskussionen, die den Kontext Stadt berühren, ebenfalls erwähnenswert. Einflussreiche architekturtheoretische, geografische und auch soziologische Positionen folgten der Orientierung, in der es nicht mehr den 17 Mit Lefèbvres schon erwähntem: La révolution urbaine. Paris (Gallimard) 1970. Etwas später dann mit: La production de l´espace. Paris (Anthropos) 1974 (engl. bei Blackwell 1991: The production of space. Ein Auszug aus dem 1. Kapitel jetzt auf Deutsch: Die Produktion des Raums in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hgg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2006, S.330-340.) Wir zitieren nach der engl. und deutschen Ausgabe und aus der Übersetzung Christian Schmids in Stadt, Raum, Gesellschaft. 18 Siehe Schmid, Stadt, Raum, Gesellschaft, a.a.O., S.31/32. Als Überblick empfehlenswert die „Kleine Theoriegeschichte“ Schmids, ebd., S.21, 70, aber auch darüber hinaus ein verlässlicher Führer durch die Kontexte seines Titels. 19 Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extension of Man. New York (McGraw Hill )1964 (dt.: Die magischen Kanäle – Understanding Media); ders., Quentin Fiore, Jerome Agel: The Medium is the Message: An Inventory of Effects. New York (Random House) 1967 (dt.: Das Medium ist die Message: ein Inventar medialer Effekte). Robert Venturi/ Denise Scott Brown/Steven Izenour: Learning from Las Vegas. The Forgotten Symbolism of Architectural Form. Cambridge Mass. (MIT Press) 1972 (dt: Lernen von Las Vergas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Basel (Birkhäuser) 2001). Jean-Francois Lyotard: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris (collection Critique) 1979 (dt.: Das Postmoderne Wissen. Wien (Passagen) 1999). 20 Siehe Schmidt, Stadt, Raum, Gesellschaft, a.a.O.
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großen Geschichten und Gesetzmäßigkeiten nachzuforschen hieß, sondern alle Aufmerksamkeit der „Besonderheit und Kontingenz des Einzelfalls“ (Schmid) gelten sollte. In das Gesichtsfeld der Stadtforschung rückten so ganz folgerichtig ab Mitte der 80er Jahre auch Begrifflichkeit und empirische Aspekte der „Region“ und der „Regionalisierung“ (Fragen der regionalen Ökonomien und regionalen Kulturen etc.); allerdings nur vorübergehend. Unter dem Einfluss der einsetzenden Globalisierungsdebatte wurde der „Mythos des Regionalen“ als zu einseitig kritisiert. Zu leisten sei vielmehr, hieß es bald, eine Vermittlung zwischen regionalen Produktionskomplexen und transnationaler globaler Vernetzung. Auch diese Position wurde als zu schematisch zurückgewiesen, als nicht vereinbar mit dem situativ instantanen Ereignischarakter konkreter Kommunikationsund Verkehrsverhältnisse und ihrer administrativen Fixierungen im urbanen Raum, dessen jeweilig unterschiedliche Voraussetzungen auch die regionalökonomische Perspektive nicht übersehen dürfe. Der Soziologe und Soziogeograf Christian Schmid bemerkt in seinem Überblick über die Theoriegeschichte, dass die Kritik durchaus auch methodisch und wissenschaftstheoretisch zu verstehen gewesen sei. Demnach handelte es sich nicht nur darum, sich von einer „bipolaren Sichtweise“ zu verabschieden, sondern auch von einer „Fixierung auf ontologisch gegebene und apriori definierte reifizierte geographische Konfigurationen“. Statt dessen, so Schmid, hätte man sich damals sinnvollerweise auf den Restrukturierungsprozesse der sozial- räumlichen Morphologien des Städtischen unter spezifischen Bedingungen einlassen sollen, etwa nach Maßgabe der scale question, Fragen des räumlichen Maßstabes also. Das neue antiessentialistische Forschungsprogramm wurde in der Folge anhand der Beobachtung symptomatischer Entwicklungen in den Metropolen (oder Global Cities) in Angriff genommen, beispielhaft der Probleme der gentrification und – im Gegenzug – der suburbs, Fragen mithin der Organisation und Reorganisation von Zentralität zwischen Metropolis und Exopolis.21 „Nach der Explosion der Metropole erfolgte nun die Explosion der Zentralität“.22 Theoretische Schlussfolgerungen für eine einheitliche Weltstadt-Theorie23 waren und sind insofern nicht zu erwarten. Mit der Entwicklung polyzentrischer Metropolitanregionen kann kaum noch von einheitlichen Zentralitätsformen die Rede sein. Vielmehr überlagern sich ganz unterschiedliche Formen der territorialen Verteilung von Zentrum, 21
Im Zusammenhang damit auch die entsprechenden Segregationsphänomene und -diskussionen. Exopolis verwendet Edward W. Soja (Inside Expolis: Scenes from Orange County. In: M. Sorkin: Variations on a theme park. New York (The Noonday Press) 1992, S.94-122) zur Charakterisierung eines „amorphen metropolitanen Gebiets“ bei Los Angeles, und jener Anordnung von Zentralität, die die Metropole „gleichzeitig nach innen und nach außen stülpt, in der das Gravitationszentrum leer ist wie bei einem doughnut, in der also jeder Ort außerhalb des Zentrums liegt, hart am Rand, aber immer inmitten der Dinge, wo die Zentralität virtuell gegenwärtig ist und die Vertrautheit des Städtischen verdampft. Siehe Schmid: Anm. 20. 23 Übrigens in dieser Formulierung schon von Lefèbvre eingeführter Begriff. Siehe Lefèbvre, Revolution der Städte, a.a.O., S.23, 28, 179f, 223f ) 22
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Abb.4 Global City. Burj Khalifa Tower Dubai.
Zentren und Peripherien, welche die historisch gewohnten Gebilde der historischen Stadt nicht gekannt haben. Die Frage Global City- oder World CityTheorie wird demnach müßig sein. Die Apostrophierung folgt eher zwei unterschiedlichen Forschungsinteressen und entsprechenden strategisch-politischen Standpunkten. Die ‚Weltstadt‘-Perspektive konzentriert sich dabei unter dem Stichwort „Zitadelle und Ghetto“ auf die Vernetzung eines hierarchischen Systems der führenden Kapitalzentren der Welt, die aufgrund dessen eine große Anzahl von Migranten unterschiedlichster Qualifikation anziehen. Die ‚GlobalstadtThorie‘ wiederum nimmt diese ökonomische Definition unter Bedingungen der Globalisierung zur Voraussetzung, um die besonderen Produktionsbedingungen und -komplexe dieser Städte, die entsprechend arbeitsteiligen Spezialisierungen in diesen „umkämpften Terrains“ (Lefèbvre) zu untersuchen.24 Dass es sich bei derartigen Forschungen zum Innenleben des globalen Kapitals nach wie vor um theoretische wie ideologische Kampffelder handelt, war zu erwarten.25 Nimmt der spatial turn der 80er Jahre die unterschiedlichen Akteure unter den Wissenschaften zur Kenntnis, die sich mit dem Raum befassen, kommen zugleich die unterschiedlichen Ansprüche auf den Realitätscharakter der von ihnen verhandelten Sachverhalte, Ereignisse und Charaktere zur Sprache. Mit entsprechenden Konsequenzen für die Analyse eines vermeintlichen Hardwarekontextes wie den der Stadt. Nicht nur musste der Raum in dieser 24 Siehe den Überblick von John Friedmann: Ein Jahrzehnt der World City-Forschung. In: H. Hitz u.a.: Capitales Fatales: Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich. RotpunktVerlag Zürich, S.22-44. Zur Global-City-Theorie siehe Saskia Sassen: Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities. Frankfurt am Main (Campus) 1996; Zitat Lefèbvre, Revolution der Städte, a.a.O., S.165. 25 Zum Kontext siehe Schmid, Stadt, Raum und Gesellschaft, a.a.O., S.52f, 55-57 – Zitate ebd.
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Beleuchtung nun nach anderen Maßstäben als denen der Newtonschen Physik verstanden werden, die Stadt als Projektion auf den Raum als mehr denn ein daraus ausgestochener Behälter für die Ansammlung gewisser Dinge und deren Verwalter. Extremerweise führt die Explosion und Implosion der Städte nicht nur zur Zerstreuung der gewohnten Stadträume, sondern ebenso zur Entdeckung der Mannigfaltigkeit des Räumlichen unter Beachtung der vielgestaltigen Körper, die das Leben der Stadt ermöglichen. Und als „Körper“ gelten hier nicht nur die materiellen Artefakte. „Der menschliche Körper deckt ein ganzes Kaleidoskop von Lebensaltern, Geschlechtern und Rassen ab, und alle diese Körper besitzen einen eigenen, besonderen Raum in den Städten der Vergangenheit und der Gegenwart“.26 Zugleich mit der wiederentdeckten „Metaphorik des Raums“ erhebt sich die Frage, welche Art Wirklichkeit den Bildern oder dem Text27 der Stadt entspricht. Und aus den Bildräumen des Raumes heraus fragt sich nun, wie es um die Dreidimensionalität, die Materialitäten, Monumente, die Architektur steht? Verlieren sie sich in den Bildern und Texten, in den Konstrukten, in denen sie montiert wurden?28 Ist alles nur Inszenierung? Und was bedeutet „Inszenierung“? Die Erzeugung eines bloßen Scheins, ohne Effekt außer dem, in einem besonderen Auftritt zu scheinen? Und von wem geht dieser Schein aus? Vermag die gebaute Wirklichkeit selbst, ihn zu erzeugen und damit realitätssichernd zu beglaubigen? Oder bleibt es eine Sache der Kommunikation, zu inszenieren? Beispielhaft wollen wir diesen Fragen an der Schnittstelle ausgesuchter Wissenschaften nachgehen, die sich mit dem Harten und dem Weichen beschäftigen, sich allerdings nicht unbedingt als Sozialwissenschaften verstehen. Bezug nehmen wir dabei auf die Theorie der in Anspruch genommenen Semiotik und den Charakter ihrer empirisch ontologischen Implikationen. Im einen Fall geht es um die Ursprünge der Stadt, im anderen Fall um ihre Substanz, im Wesentlichen am Beispiel einer Debatte um ihre Architektur oder einer exemplarischen Architektur. Beide Male jedenfalls spielen die Steine ihre Rolle. Aspekte der vorausstehenden Exposition werden wir an Ort und Stelle wiederaufnehmen.
26 Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997, S.32. Eine Auffassung, die in der Theoretisierung der Stadt und des urbanen Raums übrigens auch Henry Lefèbvre teilt. (Siehe Lefèbvre, The production of space, a.a.O., S.405-407, Die Produktion des Raums, a.a.O., S.337f ). 27 Siehe Henry Lefèbvre: Le droit à la ville. Espace et politique. 2. Aufl. Paris (Anthropos) 1974, S.62-72 (zuerst bei Anthropos 1968). Vgl. dazu Schmid, Stadt, Raum, Gesellschaft, a.a.O., S.166-168: „Stadt als Text“ und S.223-224: „Vom Lesen und Schreiben des Raumes“. Zur Stadt als Text siehe auch Certeau, Kunst des Handelns, a.a.O. 28 „Dass auch innerhalb der Wissenschaftsforschung das Thema Materialität keineswegs ausgestanden ist“, diskutiert mit den einschlägigen Verweisen auf die Literatur u.a. Bernward Joerges in: Technik. Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996, S.275, Siehe auch Lorrain Daston, Peter Galison: Objektivität. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2007.
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I.
Die Inszenierung29 der Stadt, des urbanen Raums, allemal der Metropole, ist nicht nur eine Frage des Wie. Unter Umständen ist es auch eine Frage des Überhaupt. Das lehren Geschichte und Wissenschaft, die sich mit den Ursprüngen beschäftigen, lehren Monumente und Dokumente, die Geschichten der Archäologie und Altertumswissenschaften. Eine sagenhafte Stadt, um deren Status als solche und als welche seit Jahrhunderten gestritten wird, ist Ilios30, bekannt unter dem Namen Troja.31 Mit und seit Schliemann erhält die Debatte für die 29 Von Inszenierung ist interessanterweise in der gesamten Debatte um den Kontext von Stadt, Raum und Gesellschaft nur selten und dann meist unausdrücklich die Rede. Wobei doch beispielsweise gerade in der Fokussierung einer so bedeutenden Urbanisierungstheorie wie der Lefèbvres die Frage der Inszenierung geradezu in die Augen springt. – Wir unterscheiden im Folgenden die Begriffe „Inszenierung“ und „Szenografie“. „Inszenierung“ benutzen wir in der Regel, um ein tatsächliches Ereignis oder Geschehen im Handlungszusammenhang auszuzeichnen, das sich szenisch performativ ausdrückt und in Gestalt seiner faktischen Szenifikationen (wörtlich: des „Szene-Machens“) oder Inszenierungen (wörtlich: des In-Szene-Setzens) entfaltet. Dies muss nicht notwendig bewusst geschehen. Da solche faktisch ereignishaften Inszenierungen also keineswegs immer einem gestalterischen Konzept oder Entwurf, einem Plan folgen (müssen), noch nicht einmal einem, den die (sich) aufführenden Akteure selbst im Kopf hätten, ist es sinnvoll, solche gestalterischen Entwürfe von dem Spiel, das sie aufführen lassen möchten, zu unterscheiden. In diesen Fällen – mit Blick auf einen Text, ein Buch, eine Story, eine Dramaturgie, eine Choreografie, ein Modell, einen Plan… – sprechen wir von „Szenografie“ oder „Szenografien“ und folglich auch von dafür verantwortlichen „Szenografen“. Ihre Vorstellungen bleiben gewöhnlich nicht in der Entwurfsdarstellung, sondern finden in einer künftigen Präsentation einen realen Ausdruck; möglichst angelehnt und im Sinne des konzipierten Plots und seiner Gestaltung. Daneben, allerdings, ist es durchaus berechtigt, überschlägig von „Inszenierung“ zu sprechen, wenn es darum geht, ohne Differenzierung des Betrachter- oder Akteurstandpunktes über Beschreibungen von Szenifikationen zu sprechen. Sei es, dass sie beglaubigt durch diverse ‚Aufführungen‘, in entsprechenden Darstellungen (Kritiken, Beschreibungen, Dokumentationen – eines Films zum Beispiel, eines Theaterstücks einer Performance…) vorkommen, sei es, dass sie in Form eines vorläufigen szenografischer Entwurfs vorliegen. Im Zweifelsfall lässt sich schwer entscheiden, zu welcher Gattung solche Darstellungen gehören, weil sie immer wieder in den performativen Kreislauf aufgenommen werden können. – Sprechen wir schließlich über die Logik von Relationen wie den gerade geschilderten, werden wir entsprechende Aussagen und Argumente als „szenologisch“ reklamieren. Vgl. Heiner Wilharm: Ereignis, Inszenierung, Effekt. Bausteine der Szenologik. In: Bohn, Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Bielefeld (transcript) 2009, S.207-267. 30 Dass es sich bei Ilios um das frühere Wilios und das noch frühere hethtitische Wilusa handelt, trat erst 1915 in den Gesichtskreis der Wissenschaft. Siehe: Joachim Latacz: Troja – Wilusa – Wilios. Drei Namen für ein Territorium, Basel 2001 (Einmaliger Sonderdruck für die Troia- und die HethiterAusstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn), S.6. Die entsprechende wissenschaftliche Kontroverse der letzten zehn Jahre um „Troja VI und VII“ ist mit ihren Quellen auch unter http://www.uni-tuebingen.de/troia/deu/kontroverse.html (Zugriff 6/2011) dokumentiert. 31 Mittlerweile werden unter dem Namen „Troja“ zehn Grabungsschichten geführt und wie folgt datiert. Troia I: ca. 2920-2350 v. Chr. (Frühe Bronzezeit II); Troia II: ca. 2550-2250 v. Chr. (Frühe Bronzezeit II); Troia III-IV: 2250-1700 v. Chr. (Frühe Bronzezeit III/Mittlere Bronzezeit); Troia VI: ca.1700-ca. 1300 v. Chr. (Mittlere Bronzezeit/Späte Bronzezeit) Homers Troja; Troia VII: ca.1250ca.1040 v. Chr. (späte Bronzezeit/frühe Eisenzeit); Troia VIII: ca.700-85 v.Chr. (griechische Zeit); Troia IX: 85 v. Chr.-ca. 500 n. Chr. (römische Zeit); Troia X: ca.500 n. Chr.-14 Jh. n. Chr. (byzantinische Zeit). (siehe: http://www.focus.de/wissen/wissenschaft/archaeologie/-troja/tid-11556/archaeologiedas-mythische-troja-ist-in-den-grabungsschichten-erkennbar-_aid_326384.html; (Zugriff 6.2011).
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Deutschen eine besondere nationale, gewisserweise politische Note. Aber die Geschichte ist älter, und sie betrifft nicht allein die materiale Stadt-, Siedlungsund Sozialgeschichte. Sie betrifft ebenso die Alte Geschichte und die Literaturgeschichte, die Historiografie, Epistemologie und die Wissenschaftsgeschichte. Auf diese Weise ist auch die Geschichte Trojas, einer für eine lange Zeit verbürgten Siedlung von Hethitern, Troern, Griechen, Römern, Byzantinern an einem einzigen Ort, in unterschiedlicher Hinsicht und Ausprägung eine Geschichte von Darstellungen und Inszenierungen der „Stadt“. Dabei überlagern sich die scheinbar unmittelbaren Botschaften vergangener Architektur und Städteplanung, sozialer, politischer und kommunikativer Ordnung, über einen Zeitraum von rund fünftausend Jahren, mit dem darüber Berichteten und Geschriebenem, den Geschichten Homers und Hyginus’, Vergils oder Quintus’ von Smyrna, ebenso wie mit der archäologischen, altertumswissenschaftlichen und philologischen Aufarbeitung. Szenologisch interessiert, wer inszeniert und was inszeniert wird, sodann die jeweiligen Kausalitäten, die von den Unterscheidungen abhängig sind. Zwar wird jede wissenschaftliche Lesart vergangener Zeiten darum bemüht sein, ihre Schlussfolgerungen an die Fakten zu binden und sich abzusetzen von jeder Art von fiction, vergangener oder gegenwärtiger. Doch gibt es zu denken, dass die harten Tatsachen, die eine bestimmte Version ihrer Tatsächlichkeit privilegieren, eine konkurrierende Darstellung der Sachlage keineswegs zu beglaubigen vermögen. Die Distinktion wird im Zweifelsfall auch auf Darstellungen am selben Gegenstand forschender Kollegen angewandt. Allemal auf diejenigen benachbarter Disziplinen, die sich Ruinen und Monumenten gewöhnlich über Texte nähern. Die inkriminierten Darstellungen verfallen dem Urteil, mit dem man auch das Werk von Poeten und Literaten bedenkt. Sie werden abgetan als „Fiktion“. Jüngst ließ sich Gesagtes an der so genannten Kolb-KorfmannKontroverse und ihren Nachgefechten studieren.32 Der Tübinger Archäologe Schliemann hielt die Schicht II für die Kulturschicht des homerischen Trojas. Falls es das Troja Homers „wirklich“ gegeben hat, wird ihm die Besiedlungsphase VI-VIIa um 1200 v. Chr. zugewiesen. Die wissenschaftliche Archäologie, jedenfalls eine maßgebliche Fraktion, erkennt in Troja eine Metropole der frühen Bronzezeit vor rund zweieinhalb bis dreitausend Jahren. Aber auch das Troja der Schicht VI/VII gilt mittlerweile als „größere Stadt“, wenn es nach den verantwortlichen Grabungsleitern, dem Tübinger Archäologen Manfred Korfmann und seinem Nachfolger Erst Pernicka geht. Siehe: Autorisiertes Interview der Zeitschrift Literaturen (Oktober 2001) mit Manfred Korfmann am Grabungsort Troia. Auf http://www.uni-tuebingen.de/troia/deu/korfmanninterview.html; (Zugriff 6.2011): „Im 2. Jahrtausend war Troia nach meinem Dafürhalten eine beachtliche Residenz- und Handelsstadt, die von ihrer Lage an den Dardanellen profitierte, begünstigt durch eine ungewöhnliche Kombination von starken Winden und Strömungen, die die Einfahrt aus der Ägäis behinderten.“ Im selben Tenor die Einschätzungen Pernickas, beispielsweise in einem Interview mit der SZ 2008. Überschrift: „Neue Funde untermauern, dass Troja eine größere Stadt war als bisher angenommen“. SZ online auf http://www.sueddeutsche.de/wissen/troja-das-war-keine-kuhweide-das-war-stadt-planung-1.711616; (Zugriff 6.2011). 32 Siehe Christoph Wulf: Der neue Streit um Troja. Eine Bilanz. München (Beck) 2003.
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Abb.5 Metropole Troja. Die versunkene Stadt Troja, Lost City Photos: http://blog.punjabilokvirsa. com/2011/04/lost-citiesphotos/
Manfred Korfmann und sein Nachfolger als Grabungsleiter in Troja, der Tübinger Chemiker und Archäometallurge Ernst Pernicka, treten in dieser Debatte als Vertreter einer ‚Nonfiction-Stadt-Hypothese‘ auf – in Verbindung mit einer angepassten Ilias-Stützung. Medienwirksamer Slogan dieser Partei: „Das war keine Kuhweide, das war Stadtplanung“.33 Der Tübinger Althistoriker Frank Kolb und seine Mitstreiter geben den Part der opponierenden Protagonisten und Verteidiger einer kombinierten ‚Fiction-?-Hypothese‘.34 Danach ist die Homerische Versdichtung als eigenständige „poetische Schöpfung“ ohne Anspruch auf historisch-geographische Detailgenauigkeit anzusehen. Das gleiche gilt für jede Art archäologischer Verifikation der Ilias im Sinne einer abgeleiteten Fixierung von Lage, Aussehen und Charakteristik einer größeren Stadt. Mit Blick auf die literarische Vorlage mehr als Vermutungen anzustellen über einen möglichen „Ort, an den sich der Mythos anlehnte“, verböte sich daher. Trotzdem weiß der Historiker: Diesem Ort entspricht keine Stadt nach Vorstellung und vermeintlichem Beweismaterial der Ausgräber. Vielmehr ähnele die Situation heute noch der, wie sie schon Schliemann vorgefunden habe.35 33
Siehe SZ-Interview Pernicka (in Anm. 31). Das Fragezeichen steht dabei für die fiktional nicht wirklich definierbare Entität, die mit dem Namen Ilios – oder Troja, je nachdem – verbunden wird. Zusammenfassend siehe Frank Kolb: Tatort „Troia“. Geschichte – Mythen – Politik. Paderborn (Ferdinand Schöningh) 2010. 35 Kolb: „Schliemann hat eben nicht das Troja Homers gefunden, sondern höchstens den Ort, an den sich der Mythos anlehnte. Das von Homer geschilderte Stadtbild ist Fiktion. Jede weitergehende Deutung findet keine Grundlage in den Befunden. Was hinsichtlich der Differenzierung zwischen materialem archäologischem und Textbefund nicht unbedingt überzeugender wirkt als die Version der Gegner, deren „Modell [...] eine Fiktion: Traum, nicht Rekonstruktion“ sein soll.“ Projekt Troja, Kontroverse um das spätbronzezeitliche Troia (Troia VI und VII). Äußerungen Prof. Kolbs in ZeitungsInterviews 17. bis einschl. 26.7.2001 (übernommen aus einem Interview mit der Berliner Morgenpost) auf: http://www.uni-tuebingen.de/troia/deu/kolbinterviews.html; (Zugriff 6.2011). 34
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Bemerkbar ist ein gewisser Widerspruch in der Argumentation. Man scheint sich nicht schlüssig, wie weit der „Realitätscharakter“ der Dichtung eingeschränkt gehört, ob man ihn für eine Anzahl eigener Hypothesen nicht doch beanspruchen sollte. Man darf annehmen, dass Kolb bestimmte Vermutungen durchaus gelten lässt, wenn sie denn archäologische Evidenzen mit Deutungen, die eng am Text bestimmter literarischen Quellen verbleiben, stimmig verbinden und nicht der Versuchung erliegen, frei zu fabulieren. Jedenfalls argumentiert auch Kolb in der Kontroverse mit den Grabungsspezialisten mit den Aussagen Homers. Dem gegenüber gibt sich der Archäologe trotz der letztlich weit gefassten Schlussfolgerungen seiner Befunde distanziert gegenüber dem Mythos, macht nur die Fakten (Häuser, Gräben, Mauern…) selbst und deren Inaugenscheinnahme am Ort des Geschehens geltend. „Was das Sachliche in Troja angeht“, wehrt sich Korfmann gegen den Althistoriker, so haben wir als Ausgräber meines Erachtens die besseren Argumente. Bevor hier fachlicher Rufmord betrieben wird, sollte man sich die angeblich nicht vorhandenen Häuser (Kolb: ‚Hausgrundrisse hat Herr Korfmann bisher nicht gefunden‘) vor Ort anschauen. Wie soll denn der Archäologe argumentieren, wenn nicht mit den Funden und Befunden in den von ihm ausgegrabenen Flächen? Wann waren eigentlich die Kritiker zum letzten Mal in Troia?36
Doch, wie zu vermuten, ist die umstandslose Reklamierung der Fakten vordergründig. Trotz Evidenzbehauptung von Tatsachen folgt die Privilegierung der wissenschaftlichen Darstellung am Ende doch darstellungslogischen Schlussfolgerungen. Zwar werde, erläutert Kaufmann an anderer Stelle, „aus der Substanz des Ortes selbst [scil. argumentiert], dies aber logisch und nach den methodischen Grundsätzen von Rekonstruktion generell“. Mit anderen Worten, für die Darstellung und die damit verbundene Inszenierung gelten gewisse Kriterien, Grundsätze und Maßgaben, die nicht aus der Konstellation des Szenarios selbst stammen. Von „Inszenierung“ zu sprechen, ist hier in doppeltem Sinne gerechtfertigt. Es handelt sich nicht nur um archäologische Texte, sondern ebenfalls um gestalterische Rekonstruktionen, gebaute Modelle und nachempfundene Szenen, die ihre Rezipienten in groß angelegten Ausstellungen überzeugen.37 36
Erklärung Prof. Manfred Korfmanns, Leiter der Ausgrabungen in Troja von 2001 bis zu seinem Tod 2005, auf: http://www.uni-tuebingen.de/troia/deu/ergaenzung.html; (Zugriff 6.2011). Mehr zur ganzen Kontroverse in den Dokumenten unter: http://www.uni-tuebingen.de/troia/deu/positionen. html – zusammengestellt anlässlich des Tübinger Symposiums „Die Bedeutung Troias in der späten Bronzezeit“, 2002; Review der Veranstaltung: Markus Sehlmeyer 2002 auf: http://www.h-net.org/ reviews/showrev.php?id=28479. 37 Troja. Traum und Wirklichkeit. Bundesausstellungshalle Bonn 2001. Posthum erschienen: Manfred O. Korfmann (Hrsg.): Troja. Archäologie eines Siedlungshügels und seiner Landschaft. Mainz (Phillipp von Zabern) 2006.
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So erscheint es sinnvoll, nicht nur auf das Resultat unterschiedlicher Szenografien und Inszenierungen zu achten, auf das, von dem es hier oder dort heißt, dass es als historisches Ereignis, Geschehen oder Fakt zu werten und wie es vorzustellen sei (egal zunächst, ob beobachtet oder intendiert), sondern ebenso auf die Unterschiede bei den methodischen Optionen, welche die jeweiligen Szenografien, die solches Unternehmen leiten, wählen. Auch und gerade, wenn wissenschaftliche Szenarien entfaltet werden.38 Inhaltlich stützt sich die Dramaturgie der Freunde des Altertums auf unterschiedliche Charaktere unter den diversen reklamierbaren agencies.39 Meist findet sich eine Kombination von ‚Quellen‘ – szenischen oder szenografischen Versatzstücken – entgegengesetzter Qualität, harter und weicher Art, Monumenten und Darstellungen. Diese Unterscheidung fällt nicht mit der von „fiktional“ und „real“ zusammen; Monumente wie Darstellungen können in unterschiedlichen Wirklichkeiten eine Rolle spielen. Auch vermögen beide Qualitäten kausal wirksam zu werden und entsprechende Effekte zu zeitigen. Allerdings nehmen die behaupteten kausalen Abhängigkeiten von Szenografie beziehungsweise Inszenierung jeweils spezifische Ausprägungen an. Je nachdem, ob der Text von der Architektur oder die Architektur vom Text abhängig sein soll, übernimmt dieses oder jenes Agens das Regime, ist es eher das Szenario selbst, das für das Stück verantwortlich ist, oder das maßgebliche Narrativ. Es leuchtet ein, als „Szenario“ angesprochen, ist die Architektur von der Unterscheidung fiktional – nicht-fiktional keineswegs unbetroffen. Als wäre sie gleichsam apriori ein Garant des Realen, eines weiter nicht Darstellungsfähigen oder Darstellungsnotwendigen, weil zu den harten Evidenzen gehörig. Der Text wiederum, als „Narrativ“ gefasst, ist ebenso wenig per se dem Weichen und dies dem bloß Imaginären oder Fiktiven verbunden, wie wir sehen werden. Auch ist die Engführung von „Darstellung“40 auf „Text“ im Zweifelsfall nicht zulässig, Darstellungen können, abgesehen von den medialen Varianten, bekanntlich auch performativen Charakter haben. Die Kontroverse darüber schließlich, welche Option zu einer akzeptablen historischen Codierung führt, findet wiederum zu ganz eigenen Inszenierungsformen wissenschaftlich-kommunikativer Auseinandersetzung. 38 „Wir argumentieren hier aus der Substanz des Ortes selbst, dies aber logisch und nach den metho-
dischen Grundsätzen von Rekonstruktion generell. Wir haben in Troia bisher leider keine Herrschergräber wie in Mykene, die uns konkret weiterhelfen würden. [...] Natürlich bewegen wir uns als Prähistoriker im Bereich von Hypothesen, natürlich arbeiten wir mit Analogieschlüssen.“ Interview mit Literaturen, a.a.O. (siehe Anm. 2), ebd. 39 Ein Ausdruck, der andeutet, dass wir Akteure nicht immer nur mit menschlichen Akteuren identifizieren sollten. Vgl. Andrew Pickering: Kybernetik und Neue Ontologien. Berlin (Merve) 2007, insbesondere den dort auf Deutsch vorliegenden Aufsatz: Agency and Emergency in the Sociology of Science, 1993 bzw. 1999: Die Mangel der Praxis, ebd., S.17-61. 40 Oder „Repräsentation“, wie oft in Übernahme französischer oder englischer Texte übersetzt wird.
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II.
Zur Verzweigung führen wir ein weiteres Beispiel an, das uns eine ähnliche Konstellation wie im Streit um Troja vor Augen führt. Ähnlich, weil es auch hier um Fragen der Inszenierungskraft von Architektur und damit verbundenen Sozialformen einerseits, literarischen und philosophisch-wissenschaftlichen Texten andererseits geht, und um die Frage, welches Drehbuch am Ende als „realitätsschöpfend“ gelten darf. Ähnlich auch, weil es hier gleichfalls um eine Stadt geht – und um das Bild von einer Stadt. Wir finden das Beispiel in der Debatte um die ursprüngliche und in der Folge verbindliche Gestalt der Gotik, namentlich anhand der gotischen Kathedrale, die selbst als „himmlische Stadt“ verstanden werden wollte und angesichts ihrer vergleichsweise gewaltigen Baumasse auch ganz unmetaphorisch ähnliche Wirkungen zu zeitigen vermochte. Als Prototyp gilt die Königskathedrale von Saint-Denis bei Paris, um die sich die wissenschaftliche Kontroverse in diesem Fall dreht.41 Die Fragestellung könnte – mutatis mutandis – nicht nur angesichts der Diskussion um das Erbe des untergegangenen Troja hilfreich erscheinen. Die vornehmlich kunsthistorische Diskussion, die wir in den Blick nehmen42, hat zudem den Vorteil, dass die meisten Beteiligten bereit sind, die Problematik unter solchen theoretischen Voraussetzungen zu sondieren, die es zulassen, von der Architektur als inszeniertem Kontext zu sprechen. Die Frage heißt also nicht, ob „Inszenierung“ überhaupt auf Architektur angewendet werden darf, sondern, wo die Inszenierung der Architektur im Einzelnen zu finden ist und wie sie sich äußert. Ist, lautet die Frage, unter „Architektur als inszenierter Geschichte“ zu verstehen, dass die gebaute Realität sich die Erzählungen von Theologie, Philosophie und Literatur, die Schlussfolgerungen der „Ikonologen und Mentalitätshistoriker“ zu eigen gemacht, sie als Perzept und Szenografie für das Spektakel einer Inszenierung „lichtvoller 41 Resümiert in Jürgen Wiener: Architektur als inszenierte Geschichte. Saint-Denis im Lichte der Kunstwissenschaft. In: Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.): Inszenierung und Ritual in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf (Droste) 2005, S.61-95. 42 Obwohl die Kathedrale als Paradigma der mittelalterlichen Stadt auch Theorieversatzstück der Stadtforschung ist. Allerdings bezeichnenderweise als Beispiel der Umwälzung vom kosmologischen (der Romanik) zum symbolischen Raum (der Gotik). Im Unterschied zur erdgebundenen Romanik emanzipiert sich die Gotik von der Krypta und dem Unterirdischen und folgt der „visuellen Logik“ (Panofsky) des himmelwärts Strebenden. Henry Lefèbvre, der die Kathedrale in diesem Sinne als Beispiel der Umwälzung des Raums im 12. Jahrhundert diskutiert (Lefèbvre, The production of space, a.a.O., S.296/297) folgt dabei dann auch dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky und seiner Analyse in: Architecture gothique et pensée scolastique, Paris (Minuit) 1967. Allerdings nur ein Stück weit. Denn er kritisiert Panofsky, dass er die visuelle Logik nicht auf die Vielfältigkeit der Raumausdehnung ausgezogen habe. Schließlich seien nicht nur die symbolischen, die kulturellen Formen betroffen, Literatur, Poesie, Musik, Philosophie, Theologie, sondern ebenso die Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse, die politische Aktion und die Körper der Individuen, die mit ihrem Handeln dafür einstanden. Insofern sprich Lefèbvre im Zusammenhang der Entstehung des symbolischen Raums zugleich und ganz konsequent vom Gleichtakt der Geburt des symbolischen – politischen – Raums und des kapitalistischen Akkumulationsprozesses. Siehe Lefèbvre, The production of space, a.a.O., S.300-306.
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Abb.6 Unübertroffenes Raumbild. Thomas Girtin (1775-1802), The West Front of Peterborough Cathedral.
Geistigkeit“ genutzt hat? Oder ist es umgekehrt so, dass zu einer gewissen Zeit „eine architektonische Neubestimmung“ stattfand – mit dem „Nebeneffekt“ einer „Aufwertung des farbigen Glases“? Dass diese Neubestimmung aber insgesamt keineswegs die Schlussfolgerung zulässt, dass die Architekten des 12. Jahrhunderts ein ganz besonderes Faible für die „Lichtmetaphysik“ der Kathedrale hatten. Dass sie vielmehr an einem eigenständig architektonischen Konzept interessiert waren, einem „für lange Zeit nicht übertroffen[n] Raumbild aus eleganten Stützen“, „die mit den mannigfaltigen Rundungen in Gewölbe und Außenwand harmonieren“. Unser Berichterstatter, selbst Kunsthistoriker, neigt der zweiten Auffassung zu, postuliert eine eigenständige Inszenierungskraft der Architektur.43 Von ihr heißt es, dass sie nicht zuletzt mittels vielfältiger Platzierung plastischer Bildwerke erfolgt, von einer Transformation der Architektur zu Formen „bildlichleiblicher Inszenierung“ und „zukunftsweisende[r] Anschaulichkeit“ begleitet gewesen sei.44 Auch wenn Jürgen Wiener diese „Selbstinszenierung“ nicht unbe43 Sie nennt Jürgen Wiener „realitätsschöpfend“. „Mit Saint-Denis wurde die Realität neu inszeniert.“
Wiener, Architektur, ebd., S.79. Zitate zuvor ebd., S.78/79 – „Lichtvolle Geistigkeit“ zur Charakterisierung eines theologisch inspirierten Kathedraleffektes, von Wiener zitierter Ausdruck eines in dieser Richtung ambitionierten Protagonisten der Debatte, Otto von Simsons – in Anlehnung an Jacques Le Goff. 44 Als „Kompensation des Verzichts auf architektonisch inszenierte Anciennität [...]. Was architektonisch ausgelöscht wurde, stand nun im Bild umso prägnanter vor Augen.“ Wiener, Architektur, a.a.O., S.83.
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dingt als einzig wahre Geschichte der Gotik empfiehlt, hält er ihre Argumente für die sachlich überzeugenderen in der vielstimmigen philosophisch-theologischen, kultur- und kunsthistorischen Debatte. „Ketzerisch“ fordert er deshalb, dass „eher [...] der Einfluß des Chors von Saint-Denis auf die hochmittelalterliche Theologie zu untersuchen [scil. sei] als umgekehrt“.45 Nun kann die Problematik um die Inszenierung der 1144 eingeweihten Königskathedrale und ihres stilprägenden Einflusses auf das, was in der Folge unter dem Rubrum „Gotik“ gefasst werden sollte, nicht mit der Scheidung zweier zwar im einzelnen subtil argumentierender, am Ende aber idealtypisch entgegengesetzter Positionen als erledigt gelten. Offenbar geht es weniger um die Fakten als um deren Auswahl und Bewertung, die wiederum sehr von der primären Darstellung ihres Auffindungszusammenhangs46 abhängig sind – und sei er zunächst lediglich einer der Wahrnehmung. Denn soweit bestimmte Teile eines Baukörpers und eine Menge von Dokumenten und Berichten zu Planung und Durchführung des Kathedralbaus erhalten sind, scheint es jedenfalls, dass unter „Invention“ weit weniger ein ergänzendes Betrachten und Erschließen, schon gar kein Erfinden verstanden wird als etwa in der Konfrontation mit zehn verschiedenen archäologischen Grabungsschichten einer versunkenen Stadt. – Nun stellt unser Gewährsmann für die Diskussion nicht in Abrede, dass es bei der Bewertung der Positionen beider Parteien tatsächlich um „Lektüre“ zu tun sei. Sowohl mit Blick auf die Hauptquelle gewisser „Ikonologen und Mentalitätshistoriker“ Panofsky’scher Provenienz, die Darstellung des verantwortlichen Bauherrn, des Königsvertrauten und Abtes von Saint-Denis Suger47, als auch in Konfrontation mit der Architektur selbst und ihrer „Selbstinszenierung“, die geltend zu machen eine Reihe formanalytisch argumentierender Architektur- und Kunsthistoriker bis heute bestrebt ist, ohne im Übrigen auf die Quelle der Ordinatio Sugers zu verzichten. Wenn man weiß, dass der Bau des Himmlischen Jerusalem48 in SaintDenis mit einem opulenten in die Architektur integrierten skulpturalen Bildprogramm aufwartete, wie es die romanischen Kirchen nicht kannten, wird es nicht sehr erstaunen, dass man von einer erzählenden, einer sprechenden respektive zu lesenden und zu verstehenden Architektur hört. Allerdings ist zu klären, ob dies über eine metaphorische Redeweise hinausreicht, die an dieser Stelle mehr von Beobachtung, genauer vergleichender Beobachtung und Widergabe des Beobachteten spricht. Wenn man Sugers Schriften jedenfalls einer „ebenso exakten historisch vergleichenden Lektüre unterzieh[e], wie die Architektur“, so Wiener, 45
Ebd., S.87. In der unklaren Gemengelage von Entdeckung und Erfindung. 47 Andreas Speer, Günther Binding (Hrsg.): Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften: Ordinatio, De consecratio, De administratione. Darmstadt (WBG) 2000. Zur Literatur der in der Kontroverse bezogenen Positionen siehe Wiener, Architektur, a.a.O., S.75, Anm. 21. 48 Siehe auch in diesem Band den Beitrag von Ralf Bohn: Paris. Ruhr. Zur geschichtsliterarischen Inszenierung von Urbanität. 46
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werde man nicht der Versuchung erliegen, die von dem Kirchenmann seinerseits herangezogenen Texte aus Philosophie und Theologie für wichtiger zu nehmen als die mit ihrer Unterstützung thematisierten Artefakte, die, allerdings, auf einem „außersprachlichen System“ beruhten.
Abb.7 Himmlisches Jerusalem. Matthias Gerung (1500-1570), Das himmlische Jerusalem/ Der gefesselte Teufel. Offb 20,1-3 und Offb 21,9-27. Quelle: Wikimedia.
Dass solche Passagen, lässt man sich auf die Frage nach der Inszenierung von Architektur ein, als Einschränkung hinsichtlich der kriterialen Bedingungen einer möglichen Suger-Lektüre zu verstehen sind, lässt sich daran ersehen, dass von der Lektüre inspirierte inhaltliche Fehlinterpretationen des künstlerisch gestalterischen Ensembles durch die Rezeption als zusätzlich problematisch gewertet werden.49 Zusätzlich heißt: ganz abgesehen von einer grundsätzlich möglichen ästhetischen Fehlentscheidung gegenüber dem Artefakt wie seiner besonderen medial-semiotischen Vermittlung.50 Wir erhalten mithin den Hinweis, dass die „Lektüre“, was Suger betrifft, die tatsächliche Lektüre eines Textes beinhalte, vermittels derer das ‚Lesen‘ eines Kunstwerks ermöglicht werde, dessen ästhetische Präsenz auf einem nicht sprachlichen architektonischen System beruht. Vorausgesetzt wird, dass bestimmte weitergehende Lektüren, die sich mit gewissen Büchern oder überlieferten Äußerungen befassen, auf die der Abt angespielt haben könnte oder welche die Darlegungen in Sugers Ordinatio erhellen könnten, zur zentralen „Thematik“ der Architektur nicht allzu sehr in Konkurrenz geraten. Zwei Umstände erhellen, dass ‚Lesen‘ nicht allein auf Texte, sondern auch auf andere Entitäten passend gedacht wird. Erstens wird damit deutlich, dass auch diese Entitäten als Zeichen betrachtet werden müssen. Zweites erschließt sich, da auch solche Zeichen ausdrücklich gelesen werden 49 Wiener:
Architektur, a.a.O., S.75/76. Im Sinne einer fehlerhaften Orientierung der Wahrnehmung sozusagen, die nicht unmittelbar, sondern über vorgeschaltete Medien- oder Zeichenkontexte disponiert würde.
50
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sollen, dass diese als symbolisch codiert gelten müssen. Jedenfalls wären sie nicht, was die besondere Art der physischen Präsenz entsprechender Zeichen ja leicht veranlassen könnte, als Skulptur oder Bild bloß ikonisch, ein Spiel der Ähnlichkeiten eröffnend zu verstehen. Materialiter finden sich demnach zwei Zeichentypen, die miteinander konkurrieren, ein sprachlich-textlicher Corpus und ein außersprachlich plastisch-bildlicher. Beide Male ruht ihre Ordnung auf einem formalen System, einer Syntax oder Grammatik. Ob die zugehörige Semantik ebenfalls zweierlei Bedeutungssysteme produziert, hängt indes davon ab, welche Voraussetzungen und Konsequenzen das ‚Lesen‘ eines Monumenten- und Bildprogramms in übertragenem respektive nicht übertragenem Verständnis mit sich bringt. Die Lösung des Konflikts scheint somit der Semiotik zu obliegen, freilich einer, die noch andere Optionen zu ventilieren hat. Im Übrigen stellt die plastisch-skulpturale Ikonizität der Architektur nicht den einzigen Referenzboden für die Interpretation der Raumzeichen. Außer Texten gibt es Dokumente, die selbst derartige Zeichen beinhalten, Pläne, Bauzeichnungen, Grundrisse. Allerdings ist deren Aussagekraft als ‚szenografisches‘ Dokument, im Sinne eines Effektprotokolls geplanter, in der Folge auch umgesetzter Wirkungen gebauter Umwelt nicht im Sinne nur einer Realisierungsmöglichkeit deutbar. Die Pläne teilen das performative Schicksal ihres Gegenstandes, legen Zeugnis ab von einer bestimmten Verwendungskultur derartiger Quellen.51 Wie soll da unstrittig sein, was sie bedeuten? Vergleichbar ist die Inszenierung der Abtei und Kathedrale als „Selbstinszenierung“ der Architektur selbst nur in Grenzen misszuverstehen. Allerdings ist sie misszuverstehen. Betrachtet man die Beiträge der Diskussion, leuchtet ein, dass, was die Inszenierung des königlichen Klosters betrifft, nicht einfach nur die „rituell inszenierende Strategie“ des Abtes ins Auge gefasst werden kann, also bestimmte kirchenpolitische und religiöse Ambitionen Sugers, in denen sich historischmemoriale mit liturgisch-rituellen Motiven mischen, um sodann als entsprechende Legitimationsstrategien für die ästhetische wie die ökonomische Ausgestaltung des Klosters zu fungieren und die damit gegebenen Voraussetzungen politischer Positionierung. Günstigerweise war der Patroziniumsheilige derselbe wie der Patronatsheilige des französischen Königtums. Wollte man die Dinge ausschließlich so sehen, würde man, ganz abgesehen von irgendwelchen theologisch-metaphysischen Andeutungen, in Sugers Ordinatio auch die passenden szenografischen Überlegungen suchen52, was allerdings nur selektiv geschieht. 51 „Alle sind sie in unterschiedlichen Anteilen aus einer Mischung aus bauarchäologischen Befunden,
die oft klarer präsentiert werden als sie sind, mit ästhetischer Spekulation bestimmt“, ebd., S.65. 52 Genauer in De consecratio und De administratio; vgl. Wiener, Architektur, a.a.O., S.76/77. Freilich
würde sich dies gerade nicht oder nur in Grenzen auf die architektonische Gestaltung beziehen, im Unterschied zur Ausstattung, den ornamenta ecclesiae, wozu im Übrigen auch die Fenstergestaltung gehörte und wofür eigens ein Magister benannt wurde.
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Die Inszenierung solch heterogener sakraler Traditionen Saint-Denis’, einer Melange aus Fiktion und Historie, besteht indes eben nicht allein aus einem szenografischem Entwurf, egal ob aus der Hand eines Architekten oder aus der eines Klerikers beziehungsweise ihrer Testamentsvollstrecker. In diesem Sinne also auch nicht in einem Vermächtnis nachträglicher Aufführungskritik. Insofern ist die in der Diskussion eröffnete Lektüre-Alternative nicht hinreichend tief entfaltet. Denn die Selbstinszenierungsversion kann ganz wie die einer ‚Fremdinszenierung der Architektur‘, die ja eigentlich mit dem Diktum von der „Inszenierung von Schriftsinn“ in der Kritik steht, darstellungspezifisch oder performativ thematisiert werden, praktisch oder theoretisch. Offenbar scheinen die Quellen zur Formulierung einer darstellungsspezifischen Alternative zur Inszenierung aus Schriftsinn, einer Alternative, die von den Protagonisten der Debatte gerne auch als „Verzerrung der Perspektive“ abgetan wird, nichts Vergleichbares herzugeben. Hinweise darauf finden sich in dem unausdrücklichen Bedauern, dass es im 12. Jahrhundert zwar faktisch die Emanzipation des Architekten vom sapiens architectus, dem schaffenden Bauherrn, gegeben habe. Das demonstriere die sonst nicht erreichte „Komplexität, Einheitlichkeit und Systematik“ Saint-Denis’ mit ihrer raumbestimmenden „Dialektik zwischen transparenter Leichtigkeit in der Wirkung und faktischer Statik“. Doch vom Bauherrn, Abt Suger, sei dieser Umstand in keiner Weise gewürdigt worden. Nicht dass der Abt selbst genügend gestalterische Expertise gehabt hätte. Aber trotz seiner diesbezüglichen Ignoranz,53 glaubte er, sich für seine Abhandlung über die Neugestaltung der Abteikirche nicht etwa schlau machen zu müssen, sondern derartig handwerkliche und technische Details als nicht überliefernswert erachten zu dürfen. Folglich findet sich keine ergänzende oder konkurrierende Darstellung aus der Hand eines beteiligten Baumeisters, die als Quelle im Sinne einer zeitgenössischen Darstellung des revolutionären architektonischen Programms dienen könnte. „Selbstinszenierung“ angesichts dieser Konstellation heißt mithin, die fehlende Darstellung aus all den Materialien zu rekonstruieren, die sie ansonsten zu stützen vermögen. Was freilich hier als Desiderat gilt, ist eine alternative Szenografie zur lichtmetaphysisch-spirituellen. Idealerweise zu entfalten wäre sie mit Hilfe einer exakten, historisch vergleichenden Lektüre der Architektur, der Suger’schen und anderer zeitgenössischer Schriften und Dokumente, schließlich mit Hilfe der Jahrhunderte währenden Rezeption dieses „Wunders der Gotik“ bis hin in die Gegenwart.54 Selbstverständlich 53
Wiener, Architektur, S.74. Zur Ignoranz („kein Mann vom Baufach und nicht in der Lage auch nur die technischen Aspekte zur Realisierung seines Neubaus genauer zu verstehen“ (ebd., S.84 und Anm. 43). 54 Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte finden sich bei Wiener, Architektur, ebd., S.75, Anm. 21. (Anm. 22 zur Suger-Exegese). Verständlicherweise lassen sich die Rezeptionsstränge aber nicht idealtypisch auseinanderhalten, wie zum Beispiel in der Erwähnung subtilerer Einlassungen, zum Beispiel einer „kritischen Erneuerung der ikonologischen Perspektive“ erkenntlich. Tatsächlich werden die
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würde sich eine solche Darstellung als wissenschaftlich qualifiziert empfehlen und von jeder Art erdachter Geschichte(n) absetzen. Gegenüber den Rekonstruktionsversuchen zur Architektur-Inszenierung aus szenografischer Perspektive ließe sich eine solche denken, die sich mit dem Spiel der Akteure, den Aufführungen der Inszenierung selbst befasst und die Rede von der Selbstinszenierung der Architektur von hier aus entfaltet. Man darf sich vorstellen, dass das szenisch kommunikative Geschehen und Erleben im Kirchen-, Kloster- und Liturgieraum von Saint-Denis, das Leben der Gemeinschaft, der Kleriker, der Gläubigen in den Fokus geriete, die Choreografie einer situativ instruierten Dramaturgie für die Ereignisse und das Erleben in diesem Zusammenhang, für die Ausstattung, die Atmosphäre, die Besetzung mit Mitspielern. Dass zu den interessierenden Effekten bestimmte Bildprogramme, Atmosphären und mediale Vorkehrungen gehören, versteht sich von selbst.55 Die Präzisierung eines solch handlungsspezifisch performativen Forschungsgegenstandes (durchaus also mit wissenschaftlichen Ambitionen) hat nichts damit zu tun hat, für den interessierenden Ereigniskontext eine Unmittelbarkeit des Eindrucks zu hypostasieren und die Zeichen zu leugnen. Auch das versteht sich. Vielmehr wäre bei der Betrachtung von Monumenten und der Würdigung von Aussagen zur Inszenierung, nur darum kann es sich handeln, immer nur in ausgewählten Beschreibungen zu suchen, die quasi als agencies des Geschehens selbst einen Eindruck vom Konzert der versammelten Effekte zu geben vermöchten, zeitlich und örtlich eingegrenzt, ereignis- und erlebnisinteressiert. Solche Eindrücke zu suchen bedeutet, nicht gewiss zu sein, dass sie gefunden werden könnten. Würde man sie in nicht literarischem Material aufspüren, gehörten sie wahrscheinlich zu Textgattungen dokumentarischer oder protokollarischer, administrativ polizeilicher oder archivierender Art, selten vielleicht wären sie wissenschaftlich analysierender Natur. Abschließend bündige Darstellungen dürften kaum darunter sein. Als Besonderheit solcher Einblicke in das Leben von Saint-Denis müsste auffallen, dass darüber außerordentlich positivistisch berichtet wurde – in der Art eines Perec’schen Protokolls. Es müsste dem Medium entnehmbar sein, dass es keinen szenografischen Ausschluss aus dem aufgezeichneten Spiel gegeben hat, jedenfalls keinen in der Verantwortung des Autors. Sollte der Inhalt überliefern, dass der Part eines bestimmten Akteurs von bestimmten Mitspielern, die sich eine veränderte Aufführung wünschen, als nicht passend empfunden worden Belege in jedem Fall selektiv bemüht, ohne Rücksicht, ob sich in derselben Quelle auch Hinweise auf eine andere als die unterstützte bzw. intendierte Lesart befinden. 55 Zu dieser Dimension von Inszenierung, die man vielleicht zuerst assoziiert, wenn man ‚Architektur als Ereignis‘ zu denken bereit ist, siehe Stephan Albrecht: Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster Glastonbury und Saint-Denis. München/Berlin 2005. Wiener erwähnt die Arbeit Albrechts in Wiener, Architektur, a.a.O., S.62. „Inszenierung der Vergangenheit“ bezieht sich bei Albrecht auf die legitimationsstrategischen Ambitionen, der Abtei die Weihen kirchlicher wie der weltlicher Herrschaft durch Erfindung von entsprechenden Genealogien zu sichern.
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seien, hieße das nicht anderes, als dass solche Auseinandersetzungen praktisch ausgefochten wurden. Dass solche Akteure deswegen nicht aufträten, weil sie in einer bestimmten Szenografie und ihrem Skript, einem anderen Medium mithin, nicht vorgesehen waren, wäre nicht zu befürchten. Allenfalls könnte man mutmaßen, dass die Besetzung in der nächsten Aufführung gewechselt haben könnte. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass wir davon erführen; derartige Glücksfälle dürften wohl sehr selten sein. Obwohl die medialen Quellen dieser, eingeräumt selbst fiktiven, Skizze der Rezeption einer Alltagsinszenierung in historischer Perspektive wissenschaftsfähig wären, wäre ihre Semantik in keinem Fall auf eine präskriptive, objektspezifizierende Unterscheidung symbolisierender versus ikonisierender Begrifflichkeit beschränkbar. Sie wäre in gewissem Sinn gar nicht als Bedeutung von Objekten, jedenfalls nicht von isolierten Einzelobjekten, angelegt. Die harten Varianten der Darstellung erliegen überhaupt allzu zu oft der Versuchung, Bedeutungen und Bedeutung qua identifizierter Gegenstände zu dissoziieren. Die Realität findet sich dann in den Alternativen vereinzelter Objekte, die als solche in ihrer Bedeutung herausgegriffen erscheinen, hier und dort. Hier die steingewordene pseudo-dionysische Lichttheologie, dort die Komplexität, Einheitlichkeit und Systematik der Architektur selbst, hier Ikonologie, dort Formanalyse, hier Liturgie- und Kulturgeschichte, dort Kunstgeschichte, „zwei verschiedene Realitäten“.56 Allerwenigstens. Nun lässt sich schon am hypothetischen Charakter der zuletzt beschriebenen Rekonstruktionsvariante inszenierender Praktiken ersehen, dass die Bedeutungsproduktion hinsichtlich der Objektbestimmung nicht per se final festlegbar ist. Insofern ist der Bedeutungsbegriff zu differenzieren. Lefèbvres Überlegungen zum Raum reflektieren dies in der Art, dass sie darauf bestehen, dass der Zeichencharakter und die Bedeutung der gestalteten Räume auf der praktischen Erzeugung von ‚Räumen‘ aufruhen. In den Blick genommen werden damit sowohl die komplexen Produktionsprozesse, die Organisation der Arbeit und der Umwelt – und somit der Bedingungen der Zeichenexistenz – als auch die unmittelbare Produktion des Raums durch seine Wahrnehmung mittels unserer Körper – und damit der existierenden Zeichenkörper in den vergesellschafteten Verhältnissen.57 Es wird von einem Abstand zu den Codes und ihrer Lektüre, diesen oder jenen, die Rede sein müssen. „Die gewöhnlichen Bewohner der Stadt [gleichwelcher; HW ] leben ‚unten‘ (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört“. Sie kennen sich blind aus. Doch die „Wege, auf die man in dieser Verflechtung trifft – die unbewussten Dichtungen, bei denen jeder Körper ein 56 Wiener,
Architektur, a.a.O., S.82. Lefèbvre, The production of space, a.a.O., S.160-163; Die Produktion des Raums, a.a.O., S.337/338.
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Abb.8 Stadt der Engel. Joseph Mallord William Turner (1775-1851), Die Kathedrale von Lincoln.
von vielen Körpern gezeichnetes Element ist – entziehen sich der Lesbarkeit.“ Verlässt man den Lektüreraum, fehlen die Verpflichtungen auf Autoren und Zuschauer. „Im Verhältnis zu dem, wie es sich darstellt, bleibt diese Geschichte alltäglich, unbestimmt und anders.“58 Als der gelehrte Michael Choniates Mitte des 12. Jahrhunderts aus Konstantinopel nach Athen kam, um dort das Amt des Erzbischofs zu übernehmen, hielt er es nicht zuletzt für seine Pflicht, mit magischen Formeln vergangener Größe den Ruf der einst berühmten, jetzt etwas heruntergekommenen Metropole zu beschwören. In seiner Antrittspredigt schwärmte er von Athen als „‚Königin der Städte‘“, „‚Wiege der Vernunft und Sittlichkeit [...], hochberühmt nicht nur für die Denkmäler, sondern für Sittlichkeit und Weisheit jeglicher Art‘“. Athen sei der Gipfel des Himmels und der neue Berg Horeb. Die intellektuellen Fähigkeiten seiner Gemeinde müssen den Bischof offenbar bald ernüchtert haben. „Meine Antrittsrede war ganz einfach und geradlinig, doch meine Worte waren offenkundig zu hoch“, beklagte er sich bei einem seiner nächsten Auftritte. „Ich hätte ebenso persisch oder skytisch sprechen können.“59 III.
Doch widmen wir den Peirce’schen Überlegungen zur Bedeutung einen kurzen Exkurs. Man wird sehen, dass Bedeutung nicht nur an Lektüre gebunden 58 59
Certeau, Kunst des Handelns, a.a.O., S.182. Zit. in: Mary Beard: Der Parthenon. Stuttgart (reclam) 2002, S.69/70.
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werden kann. Logisch betrachtet ergeben sich für die Bedeutung andere Konsequenzen als in ihrer Konfrontation mit aktual zu bestimmenden Objekten oder in einer emotional intuitiven Begegnung. Unabhängig davon aber sind ihre Festlegungen, um es mit Peirce auszudrücken, generell nur im Rahmen eines Semioseprozesses denkbar, nicht ohne Berücksichtigung der jeweiligen Position des „Interpretanten“ möglich. Ziehen wir die von Peirce besonders präzise beschriebene Strategie, da sie zur Fassung derart flüchtiger und vielgestaltiger Entitäten wie Ereignisse und deren performativen Charakter vielversprechend erscheint, heran, zeigt sich zweierlei. Zum einen geht es darum, die szenisch unterschiedlich mediatisierten Ereignisse begrifflich zu synthetisieren. Zum anderen erweist sich im Vollzug, dass dies nur unter Voraussetzung der Teilnahme passieren kann, die ein individuell leibliches und soziales Handeln wie eine damit verbundene mediale und Zeichenpraxis impliziert. In der Spaltung von Narrativ (Begriff des Inhalts, der den Erzähler als Akteur begrifflich mit beinhaltet oder intendiert) und Erzählvorgang (‚Darstellung‘ 60 eines besonderen Inhalts durch einen Akteur) kommt diese Trennung zum Ausdruck. Da nun die Teilnahme wie die mögliche Szenifikation sowohl theoretisch als auch praktisch stattfinden können, werden bestimmte Stränge der Geschichte zusammenführbar sein, sich überschneiden können – oder sich als ausgelassen erweisen, falls dies denn auf dem Wege verfügbarer Alternativen feststellbar sein sollte. Nichtsdestotrotz ist die Ereignisqualität als solche praktisch nicht überschreitbar. Denn sie gilt nicht nur für die sich ‚abspielende‘ Geschichte, sondern ebenfalls für die Form, die diesen Inhalt in eben diesem Ausdruck als eines unter vielen möglichen Ereignissen zu privilegieren sucht, soweit sie selbst in einer Aktivität besteht. Die Formung selbst besitzt allerdings eine eigene Ereignisqualität, die von der des Plots unterscheidbar ist. Demgegenüber muss bei jeder Handlung theoretisch die Möglichkeit offen bleiben, im Kontext des Sozialen und seiner räumlich-zeitlichen Ausdehnung zu den unterschiedlichsten Bedeutungen zu gelangen.61 Denn bei der Zeichenwirkung handelt es sich im Unterschied zu einer „dynamischen Wirkung oder einer solchen, die auf schierer Kraft beruht, sei sie physikalisch oder psychisch, [und] entweder zwischen zwei Gegenständen statt[findet] oder [...] auf jeden Fall ein Produkt solcher Wirkungen zwischen Paaren“ ist, um eine intelligente „Wirkung“ oder einen intelligenten „Einfluss“, der vom Zusammenwirken dreier Gegenstände abhängig ist 62, 60
In Anführungszeichen, um deutlich zu machen, dass dies alle Darstellungsweisen, mithin auch das Handeln selbst beinhalten kann. 61 Vgl die diesbezüglichen Erörterungen Lefèbvre, in: The production of space, a.a.O., S.132-143. 62 Charles S. Peirce: Der Kern des Pragmatismus – drei Auszüge zu seiner Begründung (H). MS 318, 1907, Pragmatismus. 1. Auszug: 1, I. Fragment, Prag 1-11 und II. Fragment, Prag 12-90, in: Semiotische Schriften Bd. 3, hgg. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1993, S.255; siehe auch: 2. Auszug: III. Fragment, ebd., S.279.
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Zeichenkörper, Objekt und Interpretant (der möglichen Instanz einer Produktion von Bedeutung). Es liegt keine einfache Wirkung eines Zeichens auf ein Objekt oder umgekehrt vor. Stattdessen sehen wir eine dreiwertige Konstellation, in deren Wirkungsgefüge der Prozess der „Semiosis“ verläuft. Darin vermittelt jedes Element vermittels eines anderen; jedes ist für jedes andere verursachend: Die Semiosis des Zeichens zu verstehen, heißt soviel wie „eine Wirkung oder einen Einfluß“ zu verstehen, „der in Zusammenwirkung dreier Gegenstände, wie ein Zeichen, ein Objekt und ein Interpretant, besteht, wobei dieser tri-relative Einfluß in keiner Weise in Wirkungen zwischen Teilen aufgelöst werden kann“.63 Der Interpretant des Zeichens ist, was die „Natur der wesentlichen Wirkung [von Zeichen] auf den Interpreten ist, die durch die Semiosis des Zeichens herbeigeführt wird“ und den Interpretanten theoretisch letztlich als logischen oder finalen Interpretanten „konstituiert“. Die bloße Anreicherung von möglichen Ursachen in Verbindung mit möglichen Wirkungen mag, soweit realisiert, gegenüber der darstellungsspezifisch synthetisierten Realität als weit ‚objektiver‘, als vergleichsweise gegenständlichere Wirklichkeit erscheinen. Doch unterliegt sie nicht deshalb auch schon der Selbstkontrolle durch ein Bewusstsein.64 Denn die Bestimmung des Interpreten durch den finalen Interpretanten, die finale Bedeutungsproduktion, impliziert, dass der Interpret eine „Bewusstseinsveränderung“ durchmacht. Dies unterstreicht die praktische Konstellation, in welche die Bedeutungsproduktion eingebettet ist. Wenn wir Bedeutung nennen, was noch zum Ausdruck gebracht werden will, ein erstes Mal oder auch erneut, und derart intellektuell durchgearbeitet werden muss, um zu einem Verständnis zu kommen, beinhaltet das notwendig den praktischen Prozess einer Veränderung. Das ist der Grund, warum Peirce den logischen Interpretanten konditional in der Aussage- und futurisch in der Zeitform bestimmt, als ein „Würde-Sein“ agieren lässt. Es entspricht ihm „keinerlei Objekt“ als Exemplar der Objektklasse. Denn es liegt in der unterschiedlichen Natur von „Objekt“ und „Interpretant“, dass das Objekt „dem Zeichen vorhergeht“, während der Interpretant „auf es folgt“.65 Objekt und Interpretant entsprechen sich also genau 63 Charles S. Peirce: Der Kern des Pragmatismus. Pragmatismus. 1. Auszug: I./II. Fragment, in: Semio-
tische Schriften Bd. 3, a.a.O., S.255. „Ich sage also, dass alles, unabhängig von seiner Seinsweise ein Zeichen ist, was zwischen einem Objekt und einem Interpretanten vermittelt, da das Zeichen sowohl durch das Objekt relativ zum Interpretanten bestimmt ist als auch den Interpretanten in Bezug zum Objekt derart bestimmt, dass es den Interpretanten aufgrund der Vermittlung dieses ‚Zeichens‘ durch das Objekt bestimmt sein lässt.“ (Ebd., S.253). Lefèbvre: „Eine Dreiheit mit drei Stellen, nicht zwei“. Lefèbvre, Die Produktion des Raums, a.a.O., S.336. 64 “… denn ohne es [das Bewusstsein] oder zumindest ohne das, wofür es symptomatisch ist, könnten die Vorgänge und Entschlüsse der inneren Welt nicht die wirklichen Bestimmungen und Gewohnheiten in der äußeren Welt bewirken. Ich behaupte, dass diese zur äußeren Welt gehören, weil sie nicht bloße Phantasien, sondern reale Kräfte (agencies) sind.“ Peirce, Der Kern des Pragmatismus. Pragmatismus 1. Auszug: I./II. Fragment, in Semiotische Schriften Bd. 3, a.a.O., S.268/269. 65 Peirce, Der Kern des Pragmatismus. Pragmatismus 1. Auszug: I./II. Fragment, ebd., S.253/254.
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im Beziehungsgefüge der Semiose, einer Praxis, in der „das Zeichen durch diese korrelativen Korrelate definiert ist“.66 Was die Zeichenwirkung auf den Interpreten durch Semiose außerhalb der finalen (d.i. logischen) Möglichkeit einer Bewusstseins- oder Gewohnheitsänderung betrifft, leuchtet ein, dass sie unterhalb dieser Schwelle als emotionale und energetische Wirkung auftreten kann. In beiden Fällen findet der Interpretant ein Objekt, doch, korrespondierend, in gewisserweise unterschiedlich ‚unvollendeter‘ Form. Der emotionale Interpretant, das Körper- und Sinnesverständnis, entspricht einem unmittelbaren Objekt, „da sie beide Vorstellungen oder ‚subjektiv‘ sind“ und „beide allen Zeichen ohne Ausnahme zu[kommen]“. „Das reale Objekt und der energetische Interpretant entsprechen sich ebenfalls, da beide reale Tatsachen oder Dinge sind.“ Hierbei handelt es sich um die Korrespondenz von Ereignissen, Gegenständen und in diesen Realitätskontexten handelndem Verstehen. In diesen Fällen sollte es nicht außergewöhnlich sein, davon zu sprechen, dass eine im Semioseprozess durchaus avancierte Bedeutung dennoch „völlig offen“ ist.67 Folglich leuchtet ein, „daß alle Zeichen wohl Interpretanten, aber nicht alle logische Interpretanten haben, sondern nur intellektuelle Begriffe und ähnliches.“68 Auch leuchtet ein, dass man sich darunter keine platonische Ideenwelt vorstellen darf, obwohl der Umgang mit den intellektuellen Begriffen „die Form eines Experimentierens in der inneren Welt an[nimmt]“. Doch es ist gewisserweise die pragmatische Form eines Umgangs mit den Ideen. Denn die Konklusion besteht darin [...], dass unter vorgegebenen (given) Bedingungen der Interpret die Gewohnheit ausgebildet hat, auf eine vorgegebene Weise zu handeln, wann immer er eine Art von Ergebnis anstrebt. Die reale und lebendige Konklusion ist diese Gewohnheit; die sprachliche Formulierung drückt sie nur aus.
Auf diese Weise passen Bewusstseinsänderung und Gewohnheit zusammen. Die überlegt ausgebildete, sich selbst analysierende Gewohnheit – selbstanalysierend deshalb, weil sie mit Hilfe der Analyse jener Vorgänge ausgebildet wurde, aus denen sie entsprang – ist die lebendige Definition, der wahrhaft finale logische Interpretant.
66
Ebd., S.253.
67 Tastsächlich im Wissenschaftsbetrieb aber durchaus außergewöhnlich ist. So berichtet beispielsweise
der Wissenschaftshistoriker Bernward Joerges aus den Annalen der Energieforschung über die Krise der 70er Jahre: „dass damals, als die Krise ausbrach, ihre Bedeutung völlig offen war“. Siehe Bernward Joerges: Technik. Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996, S.238; ähnlich einsichtig die Bemerkung, dass die wissenschaftliche Prognostik sich hinsichtlich bestimmter Einschätzungen (Bedeutungen) über zukünftige Entwicklungen schlecht über den energetischen Interpretanten hinaus festlegen kann: „Es hilft nichts, Aussagen zu zitieren, man kann es heute nicht erkennen.“ Es handelt sich weder um ein Ereignis noch um ein korrespondierendes Objekt. Joerges: Technik, ebd., S.242. 68 Peirce, Der Kern des Pragmatismus. Pragmatismus 1. Auszug: I./II. Fragment, a.a.O., S.253/254.
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Dem gegenüber hat die „mit den Bedingungen und dem Motiv verbundene Gewohnheit [...] die Handlung zu ihrem energetischen Interpretanten“; zum finalen fehlt ihr die Allgemeinheit des ihm zukommenden Wissens.69 Die Konklusion, die Gewohnheit, ist also real und lebendig, versteht sich aber als solche gar nicht derart theoretisch. Das liegt darin, dass „Gewohnheiten für sich genommen gänzlich unbewusst sind, obgleich Gefühle als Symptome für sie auftreten können, und wenn das Bewusstsein allein – das heißt das Gefühl – das einzige unterscheidende Merkmal des Geistes ist“. (Denn „nichts außer Gefühl ist ausschließlich geistig.“) Vom Zeichen her gesehen ist der „erste eigentliche bedeutsame Effekt eines Zeichens das Gefühl, das er hervorruft.“ Es ist „in manchen Fällen der einzige eigentliche bedeutsame Effekt, den das Zeichen hervorruft.“70 Das heißt nicht, dass Bewusstsein ein „Epiphänomen“ ist, sondern dass eine Wechselwirkung zwischen äußerer und innerer Welt existiert. Der „Welt jener Ursachen, die auf die Bewusstseinsmodi äußeren Zwang ausüben“ und die man nur durch faktisch energetischen Aufwand („muskuläre Anstrengung“ sagt Peirce, um die Anstrengung zu kennzeichnen) beeinflussen kann, und der inneren Welt, „die sich offensichtlich von der äußeren Welt herleitet und die den direkten Wirkungen verschiedener Arten von schwachen Reaktionen zugänglich ist“. Auf die äußere Welt nimmt die innere Welt nur indirekten Einfluss, „durch die Wirkungsweise der Gewohnheiten“. Der Anschluss an die äußere Welt versteht sich also als bewusstseinsgeleitet. Die Funktion des Bewusstsein, wohlverstanden als „Menge von Gefühlen“, liegt im Rahmen der Selbstkontrolle, Symptome für Gewohnheiten auszubilden, die, bearbeitet, „Vorgänge und Entschlüsse der inneren Welt“ zu „Bestimmungen und Gewohnheiten in der äußeren Welt“ zu überführen vermögen. Das sind „keine Phantasien, sondern reale Kräfte“.71 Sie müssen sich aneinander abarbeiten. Binden wir unser Beispiel der Inszenierung von Architektur mit ein in die theoretische Ableitung einiger szenologischer Schlussfolgerungen aus der Peirce’schen Semiotik. Die so genannte Selbstinszenierung des sakralen Raums von Saint-Denis lässt methodisch gegenstands- wie darstellungsbezogen beides zu: die Fokussierung der lithurgisch religiösen und zeremoniell profanen Praxis unter Voraussetzung ihrer situativen Ereignisqualitäten und deren spiritueller Prägung im Rahmen der Abtei und Kathedrale von Saint Denis. Wie auch die Würdigung der ästhetischen Überwältigung durch ein Zusammenspiel elementarer räumlich atmosphärischer und ästhetisch medialer Effekte. Ihre vergleichsweise abstrakte Ereignisqualität als Architektur im Sinne eines Objektensembles mag (wenn sie denn so dargestellt wird) leicht dahingehend missverstanden werden, dass es sich dabei um eine platonische Form der beteiligten Entitäten 69
Ebd., S.266/267. Peirce, Der Kern des Pragmatismus, Pragmatismus 2. Auszug: III. Fragment, a.a.O., S.282/283. 71 Peirce, Der Kern des Pragmatismus, Pragmatismus 1. Auszug: I./II. Fragment, a.a.O., S.268/269. 70
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handeln könnte, bloß einen Typ.72 Doch erhellt, dass auch hier zunächst Ereignisse, und seien es elementare Wahrnehmungsereignisse, im Raum stehen und keine universellen Formen und ihre Wiedererinnerung. Aus der Perspektive der Architektur, Lefèbvre macht darauf aufmerksam, ist eines der wichtigsten Ereignisse, dass das konzipierte Bauprojekt realisierbar ist. Für die Darstellungen heißt das, dass das Bauen „‚Repräsentationen‘ nötig macht, die sich nicht im Symbolischen oder Imaginären verlieren.“73 Was sich auf alle Elemente der Konstruktion der Architektur bezieht, gilt ebenso für alle Elemente ihrer Nutzung. Die vergesellschafteten Praktiken der beteiligten Akteure und Agenzien gehen als historische und situative Bedingungen in die Objekt- und Ereignisstrukturen mit ein.74 Je nach Ereignis würden die passenden Szenen in einer Szenifikation oder als eine Inszenierung zusammenfließen können. Man könnte sagen, es handelt sich um je unterschiedliche Perspektiven. Sebastiano Serlio unterschied in seiner Architekturtheorie von 1545, anknüpfend an Vitruv, drei Methoden architektonischer Darstellung, die Ichnographie als Zeichnung des Grundrisses, die Orthographie als Aufriss der Fassaden und die Szenographie als komplexe Aufsicht und Ansicht, den Rahmen eines szenischen Geschehens. Allerdings wählte Serlio diese Begrifflichkeit ausdrücklich mit Rücksicht auf die Praxis der Architekten, wie Hans Belting erläutert, in der Diktion Vitruvs. Für Serlio war es eine Definition des räumlichen Blicks, der neu konzipierten Perspektive. Die planperspektivische Ansicht vereint Baukunst und Bildkunst, die sie beide einem räumlichen Blick unterwirft. Die Frage nach dem perspektivischen Blick lässt sich in der Architektur nur stellen, wenn man den Bildbegriff erweitert und ihn auf den Raum ausdehnt. Hier ist der Raum als Bild, was in der Malerei der Raum im Bild ist.75
Die Perspektive bekräftigt also, dass es sich um Inszenierung handelt, ohne dass auch schon die Quelle feststünde.76 Dann aber kann es gar nicht darum 72 Und zum Beispiel mit der Systematik Viollet-le-Duc beschrieben werden kann: eine „Dreiheit von
Rippe, Spitzbogen und Strebesystem“. Entsprechend andere solche Beschreibungen, „die sich mit Formenvergleichen die historische Genese des Architektursystems bewusst“ machen. Es ist nachvollziehbar, dass hier kein szenologisches Interesse am Prozedere einer Inszenierung zu existieren scheint – wie in anderen Darstellungen (wie etwa der Hans Sedlmayrs: Die Entstehung der Kathedrale. Zürich (Atlantis)1950 (Neuausgabe Graz 1988)), in denen die beeindruckende Lichtwirkung im Raum herangezogen wird, um etwas von den möglichen szenischen Erfahrungen zu vermitteln. Im Zweifelfall auch von den damit verbundenen religiösen Affekten. – Übrigens ist die Bezeichnung „Typ“ dann auch ganz konsequent die semiotische Kategorie, die der Drittheit der Objektrelation im logischen Interpretanten in den Verkörperungen der Repräsentamen entspricht. Ereignishaft als Objekt gefasst werden sie mittels Exemplaren in „Token“, intuitiv modelliert in den „Tuone“ oder „Tones“. 73 Lefèbvre, Die Produktion des Raums, a.a.O., S.340. 74 Ebd., S.360-363. 75 Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine west-östliche Geschichte des Blicks. München (Beck) 2008, S.191/192. Diese Einschätzung ist ganz im Sinne Lefèbvres. Siehe Lefèbvre, Die Produktion des Raums, a.a.O., S.338/339. 76 Siehe Certeau, Kunst des Handelns, a.a.O., S.181.
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Abb.9 Perspektivische Stadt. Cità ideale (Florenz 1579-1480, Anonymus).
gehen, dass die stilgeschichtliche mit der liturgischen oder zeremoniellen Ästhetik „vertauscht“ werden müsste.77 Was sollte dagegen zu sagen sein, wenn eine Inszenierung, womöglich eine Szenografie sich sowohl auf architekturstilistische als auch auf liturgisch-zeremonielle Effekte stützte? Die Beispiele sind Legion. Doch nach dem Responsorium, dem Ambrosianischen Hymnus und dem Vers, als der Canticus des Evangeliums gerade begann, gewahrte ich hinter den Fenstern des Chores, genau über dem Altar, einen schwachen Schimmer, der die herrlichen Farben der Gläser, die bis dahin im Dunkel gelegen hatten, erstmals aufleuchten ließ. Es war noch längst nicht Morgenröte, die erst während der Prima durchbrechen sollte, genau am Ende der Gesänge Deus qui est sanctorum splendor mirabilis und Iam lucis orto sidere. Es war der erste zaghafte Vorschein der winterlichen Morgendämmerung. Doch er genügte, die Farben aufleuchten zu lassen – und damit zugleich den leichten Schatten aus meinem Gemüt zu vertreiben, der nun im Kirchenschiff anfing, als Zweilicht an die Stelle des nächtlichen Dunkels zu treten.78
Müssen wir auf solch’ lebendige Inszenierungen eines Raums des Glaubens und der Sozialität, eines imaginären und zugleich realen Raumes verzichten, wenn wir ernsthaft etwas über ihn wissen wollen? Oder ist es nicht gerade umgekehrt so, dass wir dafür die unterschiedliche Beleuchtung und das so hervorgerufene je besondere Scheinen brauchen, welche den Raum für ein Ereignis vorbereiten? Und dass dazu gehört, dass wir selbst die entsprechenden Orte aufsuchen, um sie in die Perspektive unserer Teilnahme zu setzen? 77
Siehe Wiener, Architektur, a.a.O., S.82. Umberto Eco: Der Name der Rose. Zweiter Tag. Mette, Hanser (München) 7/1982, S.133. Eco, im Übrigen, ist mit der Schrift des Abtes Suger vertraut, wie er William zur Nona desselben Tages (rund zweihundert Jahre nach der Neuerrichtung Saint-Denis’) Abt Abbo anvertrauen lässt: „und ich entsinne mich schönster Ausführungen über die Ornamente der Kirchen aus der Feder Eures hochbedeutenden und venerablen Abtes Suger.“ (ebd., S.183). Williams Schüler Adson hatte zuvor ganz in der Diktion Sugers weitere detailreiche Beschreibungen der Raum-, Ausstattungs- und Liturgieeffekte der Abteikirche von Melk gegeben (ebd., S.181/182). 78
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Unsere Art der Inszenierung muss nicht der Szenografie einer Darstellung folgen. Von der Notwendigkeit, die Augenblicke des Ereignens zu mediatisieren und zu medialisieren, wird sie sich aber auch in der teilnehmenden Szenifikation nicht distanzieren können. Für die damit verbundenen Entscheidungen wird im Übrigen von der Antwort auf die Frage Fiktion oder Realität kaum etwas abhängen. Man wird nur selten das himmlische Jerusalem besuchen wollen, um sich einen Eindruck von seiner Architektur zu machen. Die zitierte Kathedralszene stammt nicht aus Hans Sedlmayrs Die Entstehung der Kathedrale, sondern aus Umberto Ecos Der Name der Rose.79 Dennoch hat es zu tun mit der Qualität dessen, was eine Tatsache ist, und den unterschiedlichen kausalen Wirkungen, von denen wir annehmen, dass sie in wissenschaftlichen Abhandlungen nicht nur den wesentlichen dort verhandelten Gegenständen zukommen, sondern auch der Darstellung. Argumentationslogik verwandelt in wissenschaftliche Gesetzlichkeit. Auch bei diesem Problem können wir Peirce zur Rate ziehen: Reale Tatsachen unterteilen sich [...] nicht lediglich materiell oder gemäß der Materie, auf die sie sich beziehen, sondern formal oder nach ihrer Natur als Tataschen in harte [d.i. physikalische – HW] Tatsachen, die nicht direkt kontrollierbar sind, und Tatsachen des Wollens, die das sind, was wir ‚frei‘ nennen, womit gemeint ist, dass sie durch die Kraft der Selbstkontrolle direkt kontrollierbar sind. Harte Tatsachen sind wiederum teilbar in externe, reale Dinge sowie Tatsachen der Wahrnehmungen.80
Mit anderen Worten: „un fait est un fait“, zu Deutsch in der Übersetzung Hans Joerg Rheinbergers: „ Ein Tatsache ist eine Tatsache“.81 „Fiktionen“ haben nicht nur die Form von Tatsachen, insofern sie wie sie „unter einer Beschreibung“ stehen82, sondern sind auch nahe bei den Tatsachen der Wahrnehmung und denen des Wollens, beim Imaginären. Peirce kommt zu dem Schluss, dass die Unterscheidung von Tatsache und Fiktion so im Allgemeinen lediglich „der von mehr oder weniger“ entspricht. Mehr oder weniger im Sinne der unterschiedlichen Wirklichkeiten eines Ereignisses. Eco weist in der Nachschrift zu Der Name der Rose darauf hin, dass der Autor im Blick auf die Anlage des Narrativs keineswegs völlig frei sei und erfinden könne, was er wolle. Frei sei seine Literatur lediglich in Hinsicht kontingenter Umstände und Zuschreibungen, ansonsten habe sie sich nicht nur generell den Geboten der Konsistenz zu fügen, sondern auch den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit in Übereinstimmung mit dem, was 79 Vgl.
auch den Beitrag „Paris, Ruhr“ von Ralf Bohn in diesem Band.
80 Siehe Charles S. Peirce: Lowell-Lecture 1903. In: Semiotische Schriften. Bd. 2, C.S.P.’s Lowell-Lecture
von 1903, Teil 2 des 3. Entwurfs der Dritten Vorlesung, II. Parallelversion. Hgg. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1990, S.151-154. 81 Bruno Latour: Eine Tatsache ist eine Tatsache. In: Das Denken der Bilder. Philosophischer Taschenkalender Bd. 2, Lübeck 1992/93, S.210-219. 82 Siehe Wilharm, Ereignis, Inszenierung, Effekt, a.a.O.
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alternativ für spezifisch darstellungsrelevant gehalten wird. Zum Beispiel habe sie sich an die Logik historischer Ereignisse zu halten.83 – Allerdings ist auch das „mehr oder weniger“ an Fiktion eine Frage der Metaphysik, wie Peirce zu bedenken gibt, eine Frage der ontologisch zugelassenen Akteure, würden wir sagen, so oder so eine, die „nicht auf hastige Antwort, sondern auf fleißige und solide Untersuchung“ drängt.84 Fiktionen sind die Realitäten von gestern oder morgen – oder von woanders. Insofern ist die Weise ihrer kausalen Wirkung als Text nicht anders bei einer literarischen, historischen oder naturwissenschaftlichen Darstellung. Die kausale Wirkung ihrer Objekte will indes, zumindest teilweise, anders verstanden werden. Als Wirklichkeit verbürgende Kausalitäten gelten Effekte, welche die Welt tatsächlich verändern, sofern der Einfluss wie der physikalischer Tatsachen, Ereignisse oder Kräfte gedacht wird. Unter szenologischen, das heißt inszenierungstheoretischen Voraussetzungen dagegen muss der Charakter der infrage kommenden Kausalitäten zwar auch spezifisch unterschieden werden, insbesondere was die Differenz szenografischer und bloß inszenierender Praxis betrifft. Sie müssen deshalb aber auch breiter, integrierter gefasst werden, ganz im Sinne der Differenzierungen der Semiose. Im Kontext szenografisch theatraler und dramatisierender Inszenierungspraktiken scheint evident, dass die Qualität der Effekte nicht am bloßen Dass der Beeinflussung und an der Abhängigkeit liegen kann. Erst wenn die Spezifikationen des Was, Wie und Warum die Produktionsbedingungen und die Gestaltung der Produktion zusätzlich bestimmen, verlagern sich die Vorstellungen von dem, was die Effektqualität ausmacht, in Richtung eines ganzheitlichen szenischen Spiels. Die Wirkung wird tendenziell zum universellen Akteur. Als das, was eine Wirkung als medialer Einzeleffekt ausmacht, sofern er ein Vermögen sui generis besitzt – als farbiges Lichtbündel, als Klang in einem hallenden Raum, als Episode eines Architekturfries’ –, ist er nur eingeschränkt von Interesse. Viel weniger jedenfalls als mittels dessen, was er im Sinne eines Ingangsetzens aller möglichen Welten und Ereignisse anzustoßen vermag. Die Vorstellung wechselt dabei von einer dynamisch dyadischen Figur der Verursachung zu einer triadischen, die das Angestoßene immer als Mittelglied weiterer Wirkungen betrachtet und damit in einen Sog von Bewegung gerät. Bezogen auf die unterschiedlichen Kausalvorstellungen bedeutet dies, die pure Effizienz als solche, die causa efficiens zu spezifizieren und der ökonomischen Fixierung des Produktionsprozesses und ihrer einseitigen Medialisierung mittels dessen ein gewisses Maß an Freiheit der Kreativität zurückzuerstatten. Die Rationalität der Verursachung wird ihr Recht – oder ihre Gewalt – behalten. Doch treten auch Handlungsgründe und Mittel zu einem Zweck ins Licht. Schon 83
Umberto Eco: Nachschrift zum „Name der Rose“. München (Hanser) 1984.
84 Charles S. Peirce: Skizze der Cenoskopie (1905), in: Semiotische Schriften Bd. 2, a.a.O., S.313. Siehe
auch: Ders.: Essays über Bedeutung (H). Entwürfe zu einem Logikbuch der Jahre 1909-10. In: Semiotische Schriften Bd. 3, a.a.O., S.371f. Siehe auch Wilharm, Ereignis, Inszenierung, Effekt, a.a.O.
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Aristoteles spricht sich in handlungstheoretischem Verständnis letztlich für eine triadische Figur aus.85 Um szenisch praktische Wirksamkeit zu erreichen, bedarf es spezifisch dramatisierter und dramatisierender Geschichten (die Poetik des Aristoteles spricht von mythos86) und der mit ihnen im Handlungs- und Ereigniszusammenhang verbundenen Zwecke. Sie realisieren und totalisieren sich im einzelnen Aufführungsgeschehen. „Wie im Theater“, schreibt Paul Veyne, „kann man auch in der Geschichte nicht alles zeigen, nicht weil zu viele Buchseiten erforderlich wären, sondern weil es keine elementaren historischen Tatsachen, kein Ereignis-Atom gibt.“87 Denn ein Ereignis ist keine Wesenheit, keine Substanz, sondern eine „Kreuzung möglicher Wegerouten“.88 So gesehen ist auch die Gewaltsamkeit der Szenografie gegenüber den Szenifikationen spontaner Inszenierungen zu relativieren. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. IV.
Im Streit um die Inszenierungsprioritäten mit Blick auf die „Stadt“ am historisch-historiographischen und archäologischen Beispiel ließen sich die Positionen gemäß unserer weiter reichend exemplarischen wie theoretischen Erörterungen vergleichbar verteilen. Dass auch in den Kontroversen um die antike Metropole „Selbstinszenierung“ und „Inszenierung aus Schriftsinn“ gegeneinander gestellt werden können, liegt auf der Hand. Inszenierung auf dem Weg über die Evidenz der Narration gilt kaum als Möglichkeit, die wesentliche Charakteristik und Verbindlichkeit des Geschehens festzuhalten. Trotz des offensichtlichen historisch-historiographischen Zugriffs auch in der Archäologie. Geschehen indes heißt auch für sie Geschehensaussage und Tatsachenbehauptung. Obwohl auf der Hand liegend, wird der Inszenierungscharakter, soweit nicht Ereignis, sondern Darstellung, dennoch in Abrede gestellt. Der Wechsel vom Weichen ins Harte wird als legitim, das Gegenteil als illegitim behauptet, als Mythos, Fiktion, Literatur, Phantasie, Traum, Schein. Der Anspruch auf eine mehr oder weniger objektiv gültige Tatsachenfeststellung hingegen reklamiert, was er beschreibt: Ding- und Körperqualitäten, die Kräfte beinhalten und solche kausalen 85 Die beiden causae materialis und beiden causae formalis, die eigentlichen Ursachen, die wirken „per influxum et dependentiam“, und die Handlungs- oder Zweckursachen, die wir zusammenziehen zu den Handlungsgründen oder Handlungszwecken: causa vel agens vel finis. (So in der Darstellung des Hl. Thomas, Summa contra Gentiles. 586/587). 86 Aristoteles: Poetik 1450a4. 87 Paul Veyne: Geschichtsschreibung. Und was sie nicht ist. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1970, S.38. 88 Bruno Latour bemerkt, dass das sich Ereignisse, wie jede Entität, nur durch ihre Relationen definieren lassen. Vgl. Bruno Latour: Haben auch Objekte eine Geschichte? Ein Zusammentreffen von Pasteur und Whitehead in einem Milchsäurebad. Wiederabgedruckt in: Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main (Fischer) 2001, S.284-288 (zuerst Berlin 1996).
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Wirkungen erzeugen können, wie sie den Kriterien naturwissenschaftlich definierter Verursachung Genüge tun. Auch im Sinne der Erzeugung von Ereignissen. Aber gerade dieses Verständnis von Ereignis ist hinsichtlich der performativen Inanspruchnahme eines Szenarios, damit verbundener Sachverhalte, Geschehnisse, möglicherweise Erlebnisse, äußerst problematisch. Handelt es sich doch um ein Quid pro quo, die einseitige Vereinnahmung nicht handlungsbezogener Kausalitätseffekte. Tatsächlich kann die Reklamierung einer ‚Narration der Steine‘ gar nicht umhin zuzugestehen, dass nicht nur die Wirkungskräfte verschiedener Agenzien verschieden sind, sondern ein und dieselben agencies auch unterschiedliche Wirkungen entfalten können. Jedenfalls werden Zitadellen, Mauern, Gräben, ganz wie elegante Säulen, transparente Räume und bunte Fenster, sofern physikalisch vorgestellt, andere Kräfte beherbergen als wenn sie als ästhetisch soziale Artefakte und Attraktoren sinnlicher Affektion betrachtet werden, als Objekte und Ereignisse, die der Wahrnehmung und Vorstellung mannigfaltige Veranlassung bieten. Zwar wird sich ein Haus nach aller Wahrscheinlichkeit auf Dauer in einen Haufen Steine verwandeln, bemerkt Aristoteles, aus einem Haufen Steine aber wird auch auf Dauer kein Haus entstehen, wenn niemand die Energie aufbringt, die Steine kunstgerecht zusammenzufügen. Natürlich können Ruinen oder Trümmer zusammenfallen und jemanden erschlagen. Oder die Steine können Wirkung zeitigen, indem sie sich in eine neue Gestalt verwandeln – doch was das Ordnungsgefüge angeht, wird es eine Struktur geringerer Wahrscheinlichkeit sein. Auch kann der Effekt darin bestehen, die Reste erneut zu einem Artefakt zusammenzubauen, was auch immer die Differenz zwischen Original und Rekonstruktion ausmachen mag. Den Aufbau zu imaginieren und das Resultat der Imagination in Ermangelung körperlicher Präsenz von Betrachter und Gegenstand am vorgestellten Ort als Quasiresultat mehr oder weniger evidenter Anschauung, nichtsdestotrotz aber lebendige Gestalt vor Augen zu stellen, macht freilich andere als nur physikalische Kräfte frei. Wir sehen, dass eigentlich nicht die Performanz eines Ereignisses oder die Praxis im Rahmen eines bestimmten Ereignisdispositivs als solche in Frage stehen. Vielmehr sind es die unterschiedlichen Arten von Praktiken, verbunden mit unterschiedlichen Räumen, in denen sie stattfinden. Am Grunde des Streits um die Inszenierungshoheit über die Stadt finden wir keinen Kampf um die Priorität von Hand oder Hirn, wie es in Fritz Langs Metropolis der Fall zu sein scheint, um die Mediatisierung der Katastrophe am Ende des Geschehens zu rechtfertigen und diejenigen Medien auszuzeichnen, die sich dafür empfehlen. Aber die Differenz der Praktiken läuft nicht auf die Differenz von Hand und Hirn, Natur und Kunst hinaus, sondern auf eine Differenz der Künste. Auf Steine oder Architektur beziehen wir uns schließlich ebenso wenig unmittelbar,
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wie Steine oder Architektur eine bestimmte Art unseres Umgangs mit ihnen privilegieren. Worauf wir uns richten, sind ihre Effekte und die Kräfte, die sie mobilisieren; Effekte und Kräfte, die auch unsere eigenen sind, Kräfte und Effekte, die sich mit den unseren vermischen. „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“, schreibt Adorno.89 Wir konzentrieren uns auf das Licht, das durch die neuen Fenster der Kathedrale fällt oder erstmals unsere Städte beleuchtet, insofern es beeindruckende Wirkungen auf unsere Sinne, Wirkungen in unserer Wahrnehmung zeitigt. So werden unsere Affekte moduliert, in Stand gesetzt, unsere Vorstellungen zu inspirieren, zu prägen und unsere Kreativität zu formen. Die Effekte unserer Wahrnehmungen sind wie die Begriffe, zu denen wir gelangen, keine Abbilder ewiger Formen, sondern, wenn von Verhaltensänderungen bestimmt, produktive Perzepte eigener und zugleich kollektiver Vergesellschaftung theoretisch-praktischer Projekte. Ähnlich wie im Streit um die himmlische Stadt finden wir in dem um die mythische Stadt unterschiedliche narrative Momente. Wie sah es Schliemann? Die verbrannte Stadt war nicht die dritte, wie man noch vor kurzem geglaubt hatte, sondern die zweite. Die auf den Fundamenten der zweiten Stadt ruhende riesige Schutt- und Trümmermasse gehörte zu dieser und nicht zur dritten Stadt. Noch mehr. Zwei verschiedene Zeitperioden traten im Leben und in der Geschichte dieser zweiten Stadt hervor: eine ältere, in der die Festungsmauern und die Gebäude ersterrichtet worden waren, und eine spätere, in der die Stadt sich weiter ausgedehnt hatte, das Zerstörte teilweise wieder aufgebaut worden war. Es war ersichtlich, dass diese Siedlung während eines langen Zeitraums existiert haben musste, was der Forschung neue Perspektiven, nicht zuletzt den Fund einer „Metropole“90 in Aussicht stellte. Abgesehen davon, dass Schliemann davon wenig ahnte, sich ohnehin an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit wähnte, als wo er sich befand, hätte er sich gegen eine größere Stadt auch unter Voraussetzung neuerer Grabungsergebnisse kaum gewehrt. Schließlich ist Ausdehnung zunächst eine quantitative Größe. Welche qualitativen Schlüsse sich daraus ziehen lassen, hängt davon ab, was gefunden wird. Allerdings muss man annehmen, dass Schliemann an dem Umstand, dass der Mythos die Existenz der Stadt zu beglaubigen habe, unter Voraussetzung weiter gehender Evidenzen seiner Grabungen ebenfalls gerne festgehalten hätte. Die Vorrede seines Grabungsberichtes, verfasst von dem berühmten Orientalisten Archibald Henry 89 Theodor W.
Adorno: Minima Moralia. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1951, S.428.
90 Wie gesagt, spricht die Archäologie in der Nachfolge Schliemanns, soweit damit diejenige Fraktion
gemeint ist, die auch die Affinitäten zwischen Funden aus den Schichten VI/VII und dem Homerischem Epos betont, von der „Metropole Troja“. Freilich, etwas undeutlich, sowohl zuweilen, wenn die Rede ist von den Schichten VI/VII, als auch, wenn sie von der Besiedlungsphase der frühen und mittleren Bronzezeit, also den Schichten I bis III spricht. Die Rede von einer „beachtlichen Residenz- und Handelsstadt“ mit Blick auf das zweite Jahrtausend ist, wie auch immer, nicht weit weg von solcher Beurteilung.
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Sayce, macht aus dem Zusammenhang keinen Hehl und liefert schon einleitend ein passendes Narrativ. Unmöglich ist es nun aber, diese Thatsachen aufzuzählen, ohne zu bemerken, wie wunderbar sie damit übereinstimmen, was uns die Tradition und die Legende von der Stadt des Priamos erzählt haben. Die von Dr. Schliemann ans Licht gebrachte Stadt hatte ein langes Leben; ihre Mauern und Gebäude wurden einst theilweise wiederhergestellt; sie war gross und reich, und hatte eine Akropolis, welche die Ebene überschaute und mit Tempeln und andern grossen Gebäuden geziert war; ihre Mauern waren stark und von Thürmen beschützt; ihr Herrscher war ein mächtiger Fürst, der die benachbarten Goldminen von Astyra zu seiner Verfügung gehabt und sowohl zu Lande als auch zu Wasser mit fernen Völkern in Verkehr gestanden haben muss; und, was am wichtigsten ist, diese Stadt wurde durch Feuer zerstört. Wenn wir jetzt die Umrisse der griechischen Geschichte von Ilion betrachten, so hören wir auch hier von einer Stadt, die bereits zur Zeit des Trojanischen Krieges alt war, einer Stadt, deren Mauern und öffentliche Gebäude bereits zerstört und wieder aufgebaut waren; einer Stadt, die, gleichwie Hissarlik, gross und reich war und eine hohe Citadelle hatte, in welcher der königliche Palast und die Tempel der Götter standen; einer Stadt, umgeben von hohen, mit Thürmen versehenen Mauern; einer Stadt, deren Fürst der reiche und weitherrschende Priamos war und deren Bundesgenossen aus der Nähe und Ferne kamen; einer Stadt, die damit endete, dass sie von griechischen Eindringlingen erobert und bis auf den Boden niedergebrannt wurde. Wenn wir hinzufügen, dass sich Hissarlik jetzt als die einzige Baustelle in der Trojas herausgestellt hat, die für das Homerische Troja passen kann, so ist es in der That schwer, der Schlussfolgerung zu widerstehen, dass Dr. Schliemann wirklich Ilion entdeckt hat.91
Man erkennt, ob „wirklich Ilion entdecken“ auch bedeutet, ein „wirkliches Ilios“ zu finden, abhängig davon ist, was ein „wirkliches Ilios“ zu bezeugen in der Lage ist. Zeugnisse gibt es offenbar genug oder, wie Popper sagt, verifizieren lässt sich alles. Im historischen Kontext werden gewöhnlich die Quellen befragt, im Fall materieller Überreste die von Sayce zitierten „Tatsachen“, in der Hauptsache Monumente beziehungsweise, was davon übrig geblieben ist, der Stoff der ehemaligen Bausubstanz der Stadt selbst, so er denn sondiert werden kann. Exponiert werden Architekturteile, Tore, Türme, Stufen, Fundamente, Mauern, Ruinen; Schutt- und Trümmermassen, Brand- und Baureste, steinerne und bronzene Werkzeuge, Terracottascherben, Topfwaren eigentümlicher Art; Kunst- und Einrichtungsgegenstände wie Münzen nicht ausdrücklich, keine Inschriften.92 Aber selbst wenn derartig Codiertes unter den Funden gewesen wäre oder Erwähnung finden würde: Wer über das wirkliche Troja sprechen will, muss offenbar die Steine zum Sprechen bringen, hören, was sie berichten. Finden und erfinden müssen sich zusammen ereignen. Wie man in Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius nachlesen kann, führt der Wechsel der Metaphysik oder der Ontologie zu überraschenden Konsequenzen. Die Erfinder werden zu Aus-
91 Heinrich
Schliemann: Troja. Ergebnisse meiner neuesten Ausgrabungen. Leipzig 1884, Vorrede von A. H. Sayce, S.XVIIf. 92 Schliemann, Troja, a.a.O., ebd.
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gräbern, die Ausgräber zu Erfindern.93 Doch die Schliemann’schen Tatsachen erscheinen und zerfließen zwischen Spaten und Buch. Der ausgegrabene Boden und was er offenbart, stellen nicht die einzigen Träger von Information. Der Fakten schaffenden Beschreibung wiederum scheint es nicht besonders wichtig, wie oder was der Grund ist, auf den bisher geschrieben wurde und auf den sie schreibt. Die Informationen gelten als selektiert und allemal redundant. Ob Stein, ob Lehm, ob Papier. Zum einen scheint es angesichts des antiken mythos nicht notwendig, Sayce bestätigt es, dass sich alle topografischen Details, die Homers Ilias kennt, in der Umgebung von Hissarlik wiederfinden lassen oder gar mit den Gegebenheiten an der Baustelle übereinstimmen. Zum anderen sei es nicht nötig, erläutert er, „das in den Homerischen Gedichten gemalte Bild der trojanischen Civilisation im Einklang zu finden mit der Civilisation, welche uns Dr. Schliemanns Ausgrabungen thatsächlich vor Augen gestellt haben.“94 Auch was Schliemann erzählt mittels dessen, was er freigelegt – auch dessen, was er nicht freigelegt oder beiseite gelegt hat –, fügt sich zum mythos, der zu lesen ist.
Abb.10 Helena am Skäischen Tor. Gustave Moreau (1826-1898), Hélène à la Porte Scee.
Der Gräber entdeckt trotzdem eine wirkliche Stadt, Ilion. Die entdeckte ‚Mutterstadt‘ ist nicht die der wissenschaftlichen Archäologie des 20. und 21. Jahrhunderts, welche die Metropole in die frühe Bronzezeit datiert, sondern die Mutterstadt einer bestimmten Rede über die Stadt, einer, allerdings, maßgeblichen und keineswegs spontanen Szenografie. Die Zeichen mobilisie93
Siehe Jorge Louis Borges: Tlön, Uybar, Orbis Tertius. In: Universalgeschichte der Niedertracht und andere Prosastücke. München (Hanser) 1970, S.132. 94 Schliemann, Troja, a.a.O., S.XVIII.
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ren den emotionalen, den energetischen Interpretanten, um zu ihrer Bedeutung zu gelangen. Die Anstrengung lohnt sich. Ilios ist Homers „türmende Feste“. Während Schliemann Mauern und Fundamente, die nichts zu sagen wissen, von dem er wüsste, abbrechen lässt, findet er mit sicherer Schaufel die Stadt des Priamos: den Tempel der Athena, das Skäische Tor, das, wie Homer lehrt, zur Großen Ringmauer gehört, das Uralte Haus, leicht zu erkennen als Wohnung des Priamos. Schließlich hebt Schliemann den Goldschatz des Königs. – Vergleichbar näherte er sich später Mykene und Orchomenos. Die harten Wissenschaften betrachteten solches Tun schon damals mit skeptischem Blick. Sie gaben sich reserviert, übten sich in Kritik. Dass Schliemann Homers Dichtung so umstandslos zur Decodiermaschine auserkoren hatte95, wurde gegen den Selfmade-Archäologen gewendet, der die Medien und die Politik auf seiner Seite wusste. Die professionelle Archäologie hingegen glaubte nachweisen zu können, dass Schliemanns vermeintliche Königshäuser nur kleine Hütten über den Trümmern eines „wirklichen Königspalastes“ waren, dass die Burg des homerischen Troja, die Schliemann meinte wiedergefunden zu haben, in Wahrheit einer prähistorischen Schicht zugehörte und nichts mit dem homerischen Troja zu tun haben konnte. Schliemann hatte um eineinhalb Tausend Jahre zu tief gegraben. Oder sollte der passende Mythos eineinhalbtausend Jahre zu spät datiert gewesen sein? Wir berichtet, tut sich die moderne Wissenschaft bisher schwer, die verbindliche Übersetzung, die sie einforderte, auch zu liefern. Was sie wahrscheinlich bestreiten wird, einhellig. Doch die gegenseitigen Abhängigkeiten von Fiktion und Tatsachen verhalten sich zueinander wie die Grabungs(ge)schichten der Archäologen. Stets ist die Frage, worauf dieses „Troja, von dem berichtet wird“ „wirklich“ referiert. Ein anschwellendes Palimpsest, nicht nur aus Texten und Bildern, sondern aus Steinen und Schutt, Relikten, Bildern und Beschreibungen, Erklärungen und Deutungen. Hart und weich sind nicht allein zur Bezeichnung physikalischer Aggregatzustände verwendbar, zur Abgrenzung von Stein und Bronze, Lehm und Holz gegenüber Stoff und Papier, Aufgeschriebenem und mündlich Überliefertem. Hart und weich lassen sich ebenso verwenden, um unterschiedliche Darstellungen voneinander zu unterscheiden, deren Geschichten auf ent95 Bekanntlich mit Hilfe anderer. Frank Calvert hatte mit seinen Brüdern schon verschiedentlich am
Hügel Hisarlik gegraben. Er war überzeugt, dass hier das ehemalige Troja zu finden sei. Er kaufte den Osthügel und begann erneut zu graben. 1868 traf er Schliemann, machte ihn auf seine Arbeit in Hisarlik aufmerksam und bat um finanzielle Unterstützung. Calvert versicherte dem Deutschen, dass auf dem Hügel das frühere Troja liege. Beide kannten im Übrigen das Buch des Schotten Charles MacLaren, der schon in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts die Hisarlik-Hypothese vertreten und Anfang der 60er Jahre eben darüber publiziert hatte. Siehe: Jürgen Haffke: Troja. Kompaktwissen Mythos und Wirklichkeit. Die Suche nach Troja; Kap. 8 der Internetpublikation zur Ausstellung: Troja. Traum und Wirklichkeit. Bundesausstellungshalle 2001, S.65-67 (http://www2.kah-bonn.de/ausstellungen/ troia/kompakt/55troiak.pdf ) – Weiterführende Literatur und Bibliographie ebd., S.109f.
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sprechend differenzierte ‚Informationsträger‘ referieren und zu Agenzien und Akteuren machen. So wie zur Charakterisierung unterschiedlicher Wissens- und Wissenschaftsgattungen üblich, aber durchaus auch in alltagssprachlicher Rede gebräuchlich. Findlinge zählen gewöhnlich zu den Steinen, einer Spezies der festen Körper. Wer glaubt, dass unter den Schichten der Prägung Gestaltkerne, dauerhafte Rohlinge zum Vorschein kommen könnten, um die aus beiden Zutaten gemischten Tatsachen doch noch zu ‚erhärten‘, hofft auf Beständiges, Sicherheit Versprechendes – gegen den Fluss der Zeit und den Strom der Worte. Es scheint die Attraktivität solch’ substantialistischer Vorstellung, dass am Grunde der abgeschälten Gestalt das Harte, Nichtdeformierbare, Invariante zu finden sei. Wer auf den Grund der Formen stößt, findet den Schatz, erhält, was bleibt; Statik vermittels Mechanik. Diese Differenz ist nicht auf eine Dichotomie von Körper und Geist zurückzuführen; sie bleibt bei den ausgedehnten Körpern. Diderot meint, dass es im Gegenteil Ziel der Künste sei, ihre Formen zwar grundsätzlich material zu verankern, aber diese materia 96 zu gebrauchen bedeute, sowohl in Wachs als auch in Stein zu gravieren. Das Ziel jeder Kunst im allgemeinen oder das Ziel jedes Systems von Werkzeugen und Regeln, die ein und dasselbe bezwecken, besteht in der Einprägung gewisser, be stimmter Formen auf einer von der Natur gegebenen Grundlage, und diese Grund lage ist die Materie oder der Geist, irgendeine Funktion der Seele oder irgendein Erzeugnis der Natur.97
Dass Türme, Mauern und Stufen Trojas Findlinge wären, harter Stein, harte Materie, hat Schliemann nicht erfunden. Es ist eine alte Botschaft. Außerdem aber hatte er Schätze, Kunst- und Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, Schmuck und Waffen ausgegraben, die immerhin Vermitteltes und Vermittelndes dar- und vorstellen, mediale Signifikanz signalisieren, auf kreative Ideen, Entwürfe und Konzepte deuten. Und auf gesellschaftlichen Umgang und Austausch, welcher Natur im Einzelnen auch immer. Solche Verhältnisse aus den Steinen zu rekonstruieren, ist nahezu unmöglich, wie die Archäologen wissen. Es muss anderes hinzukommen. Kein Wunder also, dass in den unterschiedlichen Vorstellungen über die Grundlagen des Wirtschaftens, die Zirkulation der Waren, die Qualität und Quantität des Verkehrs, der damit verbundenen Kommunikation und Informiertheit, der Kern jeder Auseinandersetzung um die vergangene (wie die moderne) Stadt zu finden ist. Es erscheint zwingend, dass Korfmann seine Stadt- oder Metropolen-Hypothese auf die Endeckung einer Unterstadt stützt. Man assoziiert das Ringen um die Bedeutung der gegenläufigen Bewegung von gentrification – Besetzung des Zentrums – und Ausdehnung 96
Materia (lat.) ist ursprünglich das Bauholz. Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. Ed. D. Diderot et J. L. d’Alembert, Paris 1751-1788, Art. „Kunst“.
97
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der suburbs – Dezentralisierung als Zentralisierungs- und Urbanisierungseffekt. Die Entdeckung der Unter- oder Vorstadt jedenfalls garantierte der Korfmannfraktion überhaupt erst, dass etwas gefunden wurde, was den Kriterien einer soziologischen Stadtforschung entsprechend Merkmale einer Stadt sind: dichte Bebauung, Abgrenzung zum Land (nach Korfmann, was Troja betrifft, nicht durch Mauern, sondern durch Gräben), Befestigung und Straßen, soziale Gliederung, Fernhandel.98 Dass die Stadtanalyse, auf die der Archäologe rekurriert, sich noch in den 90er Jahren im Stil Max Webers oder der Chicago School of Sociology einer idealtypischen Universalisierung bedient, scheint unproblematisch. Der Grund ist nicht, dass keine moderne Stadt im Fokus steht. Vielmehr hält man die Stadt überhaupt für eine Entität, ein physisches Ding, und weniger für eine Akkumulation, auch Konfrontation verschiedenster Handlungs-, Ereignisformationen, Ansichten und Darstellungen.99 Dauerndes und Vergängliches, Notwendigkeit und Zufall spiegeln sich in den ursprünglichen Aggregaten. Dauernd, unveränderlich und notwendig scheint das Feste und Harte, vergänglich, wandelbar und zufällig das FlüssigWeiche, Wolkengleiche. Wozu gehört die Stadt? Homer sagt: zum Harten, zum Stein. Homer sagt das, weil er die Geschichte eines Krieges aufzeichnet. Und Schliemann folgt ihm in abgewandelter Form. – Womöglich muss man seinen Kriegsschauplatz aufsuchen. – Dagegen mag es zuweilen aussehen, als ob diese Auffassung mit einer bestimmten Selbstinszenierung der Städte gut zusammenpasst. Von den antiken Festungen über die befestigten Städte des Mittelalters bis in die bürgerliche Zeit, in der die umgebenden Mauern noch nicht zu Ringstraßen umgebaut waren. Selbst Übriggebliebenes, zum touristischen Highlight Transformiertes vermag diesen Eindruck zu erwecken. Eine alternative Vorstellung: die befestigten Städte des Mittelalters waren auf ihr Selbstbild in der Antike gestoßen, und das Bild war, obwohl schon selbst Vergangenheit, am Vorabend der Industrialisierung noch nicht verschwunden. Wie auch immer. „Die Stadt ist eine Ansammlung von Häusern, die nach Strassen angeordnet und von einer gemeinsamen Einfriedung umgeben sind, die gewöhnlich aus Mauern und Gräben besteht“, schreibt Louis de Jacourt in seinem Artikel über die Stadt für die Enzyclopädie.100 Das Kompendium beendet das letzte Jahrhundert 98
Siehe Jürgen Friedrich: Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft. Opladen (3. Aufl.) 1994, S.48-97. Siehe auch Review Markus Sehlmeyer 2002, a.a.O.: I. Troia aus dem Blickwinkel des prähistorischen Archäologen. 99 Christian Schmid weist zurecht darauf hin, dass die Marx-/Engels’sche Stadtanalyse zur zweiten Art der Stadtdefinition gehört, insofern sie den Widerspruch von Stadt und Land und dessen Entfaltung in ihrer Zeit thematisierten (Schmid, Stadt, Raum Gesellschaft, a.a.O., Kap. 4,3 und 5,1). Zur Generalisierung unter Bedingungen der „Deutung der Vorstädte“ siehe die Bemerkungen in: Markus Schroer: Räume, Orte, Grenze. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2006, S.249/250, mit Bezug auf David Riesmann: Flucht und Suche in den neuen Vorstädten von 1959. wiederabgedr. in: ders.: Wohlstand wofür? Essays. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1973. 100 Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné, a.a.O., Artikel „Stadt“.
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Abb.11 Vorstadt. Scott Peterman, Boston 2006. Ecataepec (Global Cities, Exhibition Tate Gallery 2007).
unter der Herrschaft von Statik und Mechanik und eröffnet das Jahrhundert Schliemanns, das Jahrhundert der Dampfmaschine, der Industrie und der wissenschaftlichen Entdeckungen, von denen es aber noch wenig weiß. Die Stadt ist Paris, noch vor Haussmann, nicht Manchester. Jacourt beschreibt Paris wie ein Tourismusunternehmer seine Themenparks. Soziale Gliederung und Handel waren den Enzyklopädisten als Merkmale der Stadt nicht weniger geläufig als den Betreibern der Hanse. Mithin, ‚die Vorstadt‘ tendiert nicht von sich aus zum Weichen, zum Austausch und zu den Ereignissen, etwa wegen ihrer Zerstreuung und ihrer Bedeutung für die Kommunikation. So wenig wie die ‚Oberstadt‘ oder die ‚Zitadelle‘ zur Substanz gehören. Auch Unterstadt oder Vorstadt können zu den Gegenständen und Sachverhalten zählen. Der Archäologe, der Stadtsoziologe erhoffen es sich sogar. Dass man es nicht weiß oder nicht hinreichend sicher weiß, gilt als bedauerlich. Paradoxerweise macht gerade der Philologe dem Archäologen, der seine Geschichten so trefflich mit Hilfe des Internets und großer Ausstellungen in Szene zu setzen weiß, zum Vorwurf, dass er wohl etwas gefunden, aber offenbar keine Ahnung habe, was. V.
Michel Serres hat geltend gemacht, dass der Versuch, den schweigenden Steinen das Harte der Körper zu nehmen, schon in Ägypten begonnen habe.101 Weniger um das Harte zu tilgen, als um seine Qualitäten zu kopieren, vor allem um das Invariante zu übernehmen. Troja – oder die Pyramiden? Vorerst eine Alternative. 101 Michel Serres: Gnomon. Die Anfänge der Geometrie in Griechenland. In: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Hgg. von Michel Serres, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994, S.109-175.
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Abb.12 Schatten der Steine und Körper. Salvatore Dali (1904-1989) zugeschrieben. Die Pyramiden und die Sphinx von Gizeh (1954).
Indes keine, die sich lediglich auf identischen oder unterschiedlichen Stoff bezöge, sondern vor allem die Form, die dies ermöglicht. Der Stein soll sich der Bewegung und dem Leben nähern. Doch was geschieht, ist weniger Annäherung als Transformation. Die Form und die Ähnlichkeit hinterlassen ein Bild, ein Zeichen im Sand, das zur Figur wird, die einen Code birgt. Im Schatten der Pyramiden heißt es, habe Thales verstanden, wie vom Stein zur Imagination, von der Praxis zur Theorie überzugehen sei. Der Augenblick ist dokumentiert: als der Philosoph, wie Hieronymos nach Diogenes Laertius berichtet, „die Höhe der Pyramiden gemessen vermittels ihres Schattens, den er genau in dem Zeitpunkt abmaß, wo unser Schatten und unser Leib die gleiche Länge haben“.102 Die Stadt war von Beginn an nicht bloß Materie, Lehm, Holz, Stein, sondern zugleich Schatten, Bild, Projektion: Zahl, Maß, Form. In der Vermittlung von künstlerischer und menschlicher Gestalt, künstlischem und menschlichem Maß. Die leiblich tätige Gestaltung verbirgt sich indes unter einer quasi natürlichen Ordnung. Sie scheint sich an die Dinge zu halten. Doch was die belichtete Ordnung der Steine in Gestalt der königlichen Nekropolen für die Mathematik zu leisten vermochte, war vordem schon Vorstellung und Entwurf in den Köpfen der Auftraggeber und den Szenografien der Baumeister, welche ihre Pläne in den Dienst eines Ereignens stellten. Des Austauschs zwischen Himmel und Erde waren sich die Verantwortlichen, wie wir wissen, bewusst. So findet sich in der Architektur der Pyramide nicht nur eine Ordnung wie von Natur. Sicher, ihre Inszenierung galt sowohl der Ordnung des Universums als auch der Ordnung des Reichs. Doch sie galt genauso der auf diese Weise genordeten Reise vom 102 Diogenes
Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. I, 27.
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Reich der Lebenden in das der Toten. Die Architektur umhüllt eine durch und durch natürliche Ordnung – mit der Perspektive größtmöglicher Zerstreuung. Nach der Zeremonie, dem die Szenografie galt, war das Ereignis ohne Wiederaufführung nur den memorialen Bildern zugängig. Eine theoretische Leistung, in vergleichbarer Weise wie der spekulative Umgang mit den von der Oberfläche abgezogenen Formen. In der Natur wie im Leben will auch das Schöne geordnet sein. So sehr, dass das Schöne oft nur als Geordnetes erscheinen soll. Will die Stadt schön sein, schreibt Jacourt für seinen Artikel über die Stadt in der Enzyclopädie, müssen die Straßen senkrecht zueinander verlaufen und mindestens acht Fuß breit sein. Die Mauerecken der Häuser sollten im rechten Winkel stehen, die Häuser selbst fünf bis sechs Fuß breit und sieben bis acht Fuß tief sein. Gleich groß soll der Hof sein. „Und man verschönert die Plätze, indem man auf Gleichförmigkeit in den Fassaden der Palais oder Häuser sieht, die sie umgeben, und sie mit Standbildern und Springbrunnen ausstattet“. Trotz der freundlichen Anmutung nach Art gut gemachter Prospekte modernen Stadtmarketings103 findet sich auf den Tafeln, die die Enzyclopädie-Artikel illustrieren, nichts von dem Leben, dem die Ordnung gewidmet ist. Weder Inszenierung noch Spiel. Nichts offenbart sich als die beiden Substanzen, die Materie und die Ordnung, der die Materie folgt: Gebautes, Gefügtes als steinerne Masse, Quader, Grabmal, Burg, Palast, Tempel, Turm, Theater, Statue; Gebautes als Zahl und Form: Ordnung der Säulen, Ordnung der Fassaden, Ordnung der Mauern, Ordnung der Wege, Ordnung der Kräfte. Und alles wird beherrscht von der entscheidenden Kraft, der Schwerkraft. Die Maschinen und Werkzeuge, die gezeigt werden, sprechen es aus. Es sind Schwerkraftmaschinen, mechanisches Werkzeug: Rollen, Gewichte, Seile, Hämmer, Hebel, Kräne.104 Das sind historische Tatsachen. Stein und Schatten sind offenbar nicht auf die Weiterungen ihrer Ähnlichkeit eingestellt. Noch ringt das Wissen um das Behauen und Ordnen von Steinen mit dem Wissen um den Schatten der Pyramide, der mehr ist als bloßes Abbild des Gebauten. Schon bei Diderot ist dies, wie gesagt, kein Ringen der Materie mit dem Geist, sondern ein Ringen der Künste um die Formen der materia. Die Kunst ist nicht vollends befreit. Die Künste, die Handwerke, die Techniken bedrängen sie noch. Sie glaubt, sich die Ordnung des Stoffs unterwerfen zu müssen wie einem Gesetz, das von Natur aus herrscht. Das Gesetz schließlich ist erfunden worden, den finalen Interpretanten zu ersetzen, und empfiehlt sich als abschließende Evidenz einer Wahrnehmung, als Konsequenz einer Einsicht in die Ordnung der Bilder. Die Kunst weiß noch nicht, dass sie allein in der Lage wäre, Ordnungen 103 Das freilich das Problem haben könnte, kaum ähnlich durchdachte Umgebungen verkaufen zu können. 104 Kein Wunder also, dass gerade, wenn man nach einer verschollenen Stadt sucht, auch nach diesen Artefakten gesucht wird.
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zu schaffen und so das Gesetz zu bestimmen. Freilich nicht, ohne Opfer zu bringen. „Es ist bezeichnend,“ schreibt Roberto Calasso, dass man ‚law and order‘ sagt – dass es nicht genügt, bloß von law oder order zu sprechen. Tatsächlich wird mit dem Wort ‚order‘ nicht bloß der Sinn von ‚law‘ wiederholt oder bekräftig. Order ist das, was law allein nicht zu leisten vermag. Order ist law plus Opfer, die ewige Ergänzung, der ewige Überschuß, der vernichtet werden muß, damit order existieren kann. Die Welt vermag nicht vom Gesetz allein zu leben, denn sie braucht eine Ordnung, die das Gesetz für sich zu geben nicht imstande ist. Die Welt muß etwas vernichten, um Ordnung herzustellen; und die Vernichtung muß außerhalb des Gesetzes – mit Lust, mit Haß, mit Gleichgültigkeit – vollbracht werden.105
Diogenes Geschichte handelt vom Satz des Thales und wie man ihn gebraucht. Es bedarf der Dezentrierung des Subjekts, um die Gesetze der infiniten Transformationen zwischen den Steinen, den Körpern und den Schatten der Dreiecke zu erkennen.106 – Auf seine Art ein Himmlisches Jerusalem, wenn auch nur aus der Ferne bekannt, sozusagen, aus kosmologischem Abstand. – Insofern erscheinen Theorie und Gesetz objektiv. Doch wollen die Akteure, dass es auch ihre Gesetze sind. Wenn sich nun aber in den Artefakten zeigen soll, dass sie nicht nur eigener Willkür und Kraft geschuldet sind, sondern zugleich der Ordnung der Künste, dann muss auch diese Ordnung als selbst gefertigt erscheinen. Nur dann wird sie als Ordnung der Freiheit gelten können. Hegel, Marx, Freud haben für die bürgerliche Welt beschrieben, was das bedeutet. Es kostet Opfer: Arbeit, Leib und Leben. Ob es am Ende tröstlich ist, dass die Affekte zufriedenstellend bedient werden, zumindest für einige und egal wie, ist fraglich. Die Schatten der Körper, von Stein und Leib, führen nicht notwendig, weil sie die Darstellung transformieren und zu Schlüssen animieren, vom Harten ins Weiche. Die steinernen Seiten der Pyramide, die das Innere verbergen, eignen sich bestens als eigensinnige Projektionsflächen für die unermüdlichen Verrenkungen unserer Körper. Sie haben die Wüste verlassen. Auf den Medienfassaden bietet sich ein Schauspiel, das sich nur schlecht als lediglich theoriestiftend rezipieren lässt. Anders gesagt, geht die Transformation in die Theorie nicht umstandslos mit einem Umzug ins Reich der Phantasie einher, einem Ort, an dem es ohnehin leicht fällt, das Feste zu verflüssigen. Selbst die Bedeutung, die sie heranschaffen kann, kann sie nicht willkürlich manipulieren – indem sie sich beispielsweise in einem bestimmten Akt aus dem Spiel der Semiosis verabschiedet. Mithin kann nicht verborgen blieben, dass die Oberflächen sich zu screens verwandelt haben. Ihre Bilder sind die einzigen, die zu bekommen sind. Von der still stehenden Sze105 Roberto Calasso: Der Untergang von Kasch. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2002, S.179. Zum szenologischen Kontext von Kreditierung, Gabe und Opfer siehe Heiner Wilharm: Verkaufen oder Schenken? Vertrauensökonomie und mediale Inszenierung. In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie. Bielefeld (transcript) 2011, S.41-74. 106 Siehe Serres, Gnomon, a.a.O.
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ne im Inneren der Pyramide gibt es (noch) keine Echtzeitübertragung, die uns die Wirklichkeit der Leichname als die unseren erleben ließe. Wenn sie ins Bild gesetzt würde, erschiene sie in den Formaten der Oberfläche und der Übertragung.107 Dies mag weitere Auswirkungen auf die Theorieproduktion beinhalten, sich auswirken auf die Dynamik der Ontologien, wenn nicht der Metaphysik, so dass verständlich werden könnte, warum die Priester und Baumeister im Inneren der Pyramiden Fluchtstollen vorgesehen hatten. Jedenfalls hält sich die Architektur der ägyptischen Nekropolen repräsentativ an die Außenseite ihres Raums. Auch die christliche Liturgie spielte sich auf den Gräbern ab, nicht darin. Wenn wir die Vervielfältigung der Bilder auf den durchweg medialisierten Oberflächen der aufgebrochenen Stadt betrachten, wird auch deutlich, dass die Transformation in die Virtualität der Theorie für die Realität der Städte, die sie zu verstehen unternimmt, nicht deswegen Entwarnung bedeutet, weil sie ihre Gegenständlichkeit samt der Ordnung ihrer Dinge verflüssigt oder atomisiert sieht. Eine Gebrauchsanweisung zur Verwandlung vom Harten zum Weichen ist die Transformation von einer Wahrscheinlichkeit in die andere, abgesehen von der Bestätigung des Zweiten thermodynamischen Hauptsatzes, also nicht. Die Verwandlung ist immer möglich, eine Frage der Perspektive. Allemal, wenn Dreidimensionalität zunehmend weniger zu einer realistischen Pointe geeignet erscheint: „Länge, Breite, Höhe, Tiefe verlieren ihre geometrische Bedeutung. Sie weichen vor der Flachheit eines Reliefs ohne Relief. Mit dieser Flachheit obsiegte die ECHTZEIT-Perspektive des Signalempfangs endgültig über die Perspektive des REALRAUMS, wie sie das Quattrocento entdeckt hatte.“ Entsprechend wird sich eine „Szenographie“, wie sie Serlio als Simulation der gemeinsamen Möglichkeiten von Baukunst und Bildkunst definiert hatte, umstellen müssen. „An diesem Punkt angekommen,“ fährt Virilio fort, „an diesem ‚Fluchtpunkt’ der physischen Bewegung, wird die UMKEHRBARKEIT allgemein, innen und außen fallen ineins, anderswo wie hier!“108 Das Szenische kann unter diesen Bedingungen nicht mehr als Idylle gelingender Szenifikation nach dem Vorbild gelungener Unterhaltung in Konzert oder Kino, bei Sportveranstaltung oder Ausstellungseröffnung missverstanden werden. Das Szenografische wiederum kann nicht auf seinen Status als Entwurf und Plan für solche Events verpflichtet werden. Schließlich macht dies nur Sinn, solange die Strategie nicht das Treffen ist, zumindest eine kleine Zeitspanne, ein Zwischenraum existiert zwischen Entwurf und Realisierung. In Echtzeitperspektive geht die Differenz der Inszenierung, per intentionem und in actu zu existieren, in jedes ihrer Ereignisse ein, in die szenografischen wie in die performativen. Entsprechend perzeptiv und zugleich performativ sind ihre Gegenstände, wenn Oberfläche und Tiefe 107 Obwohl die Geschichten über die Zukunft der Stadt, wie sie in Science Fiction oder Computerspiel
phantasiert werden, durchaus heute schon ambitioniert sind, auch diese Ansicht zu ‚verlebendigen‘. Paul Virilio: Panische Stadt. Wien (Passagen) 2007, S.120 (Versalien PV).
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zusammenfallen. Die Darstellung wiederum hat die Anrüchigkeit verloren, stets erst am Abend fertig zu sein – oder zu früh, am nächsten Morgen –, das Ereignis den Makel, epistemisch auf dem blinden Fleck zu sitzen. Eine Aussage wie „es sieht aus wie, ist aber…“ bzw. „…ist aber nicht…“ verliert ihren Sinn. Auf den Oberflächen medialer Präsenz und Präsentation sind die Inszenierungen szenisch sozialer Praktiken, die Inszenierungen der Szenografen des Marktes und die Inszenierungen der Autoren, gleichviel ob sie mehr oder weniger „fiktiv“ operieren, nicht unterscheidbar. Echtheitszertifikate gehören noch zu jedem Setting. Es bleibt nichts, als die Unterschiede als Unterscheidungen auszutragen als Praktiken der Differenz. Es lüftet sich auf diese Weise das Geheimnis der zwei Register der Lefèbre’schen „Dreidimensionalität“109, insbesondere ihrer vermeintlichen „Konfusionen und Widersprüche“.110 Dass den beiden Begriffstriaden (triplicité), die Lefèbvre aufeinander zugeschnitten hat, nicht „derselbe theoretische Status“ zukommen kann, ist nicht erstaunlich. Es indiziert vielmehr die Bedingung, zu einer neuen Bedeutung zu gelangen, die (theoretischen) Gewohnheiten so zu verändern, dass sich die Register der Subjektivität mit denen des Gesellschaftlichen, mithin auch dem allgemeinen Fortschritt der Semiose, verzahnen. Dafür ist die gesonderte und gemeinsame Perspektive auf Erstheit, Zweitheit und Drittheit, um in der Terminologie Peircens zu reden111, unverzichtbar. Das Triple von Wahrgenommenem (le perçu), Konzipiertem (le conçu) und Gelebten (le vécu) – einer interpretantendifferenziellen Variation der Zeichen(körper) hinsichtlich der Objektkategorien – mit dem von räumlicher Praxis (practique spatiale), Repräsentation des Raums (repésentation de l’espace) und Räumen der Repräsentation (espaces de preprésentation) – einer Differenzierung der Interpretanten.112 Die Begrifflichkeit von Formant (formant) – als Formanten der Produktion des Raums – und Moment (moment) – für die Momente alltagspraktisch atmosphärischer Ereignisdimension (im Unterschied zur szenografisch geplanten und in diesem Sinne realisierten Situation)113 – gibt in diesem Zusammenhang einen weiteren Hinweis für die Nähe der Lefèbvre’schen Überlegungen zur einer szenologischen Konzeptualisierung. Die räumlichen Praktiken der Gesellschaft geben uns das Material an die Hand, unsere Befindlichkeiten in dieser Konfrontation als espace perçu zu differenzieren von dem, was solcherart Anlässe sowohl den Wahrnehmungsraum als auch den espace conçu denken und verstehen lässt. 109
Nicht zu verwechseln mit der physikalischen Dreidimensionalität. Schmid, Stadt, Raum und Gesellschaft, a.a.O., S.230; zur Sache vgl. Schmid, ebd., Kap. 6.7, S.2311ff. 111 Vgl. Wilharm, Ereignis, Inszenierung, Effekt, a.a.O. 112 Lefèbvre, The production of space, a.a.O., S.230; Die Produktion des Raums, a.a.O., S.332-335. 113 Siehe Henri Lefèbvre: Kritik des Alltagslebens. Bd. 3 München (Hanser) 1975. 110
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Von hier aus geht die Theorie den Weg zurück in eine mit neuen Bedeutungen aufgeladene Praxis. Die Raumrepräsentationen [oder Repräsentationen des Raums; HW], das heißt der konzipierte Raum [espace conçu], der Raum der Wissenschaftler, der Raumplaner, der Urbanisten, der Technokraten, die ihn ‚zerschneiden‘ und neu ‚zusammensetzen‘, der Raum bestimmter Künstler, die dem wissenschaftlichen Vorgehen nahestehen und die das Erlebte und das Wahrgenommene mit dem Konstruierten identifizieren [...|. Dies ist der in einer Gesellschaft (einer Produktionsweise) dominierende Raum. Die Raumkonzeptionen tendieren offensichtlich (mit einigen Einschränkungen [...]) zu einem System verbaler, also verstandesmäßig geformter Zeichen.114
Die Räume der Repräsentation (l’espaces vécu), solche Räume mithin, die von solchen Darstellungen zum Teil szenografischer Art faktisch geprägt werden und insofern als „der gelebte Raum“ tituliert werden dürfen, liefern den Stoff, die Narrative und die Theatralisierung für entsprechende Szenografien. Die Repräsentationsräume [oder Räume der Repräsentation – HW], das heißt der gelebte Raum [espace veçu], vermittelt durch die Bilder und Symbole, die ihn begleiten, also ein Raum der ‚Bewohner‘, der ‚Benutzer‘, aber auch bestimmter Künstler, vielleicht am ehesten derjenigen, die beschreiben und nur zu beschreiben glauben: Schriftsteller und Philosophen. Es ist der beherrschte, also erlittene Raum, den die Einbildungskraft zu verändern und sich anzueignen sucht. Er legt sich über den physischen Raum und benutzt seine Objekte symbolisch – in der Form, dass diese Repräsentationsräume offensichtlich (mit den gleichen Einschränkungen wie eben) zu mehr oder weniger kohärenten nonverbalen Symbol- und Zeichensystemen tendieren115,
auf Inszenierungen und Szenen im Geiste solcher Szenografien. „Die Räume der Repräsentation sind also im eigentlichen Sinne erlebte oder gelebte Räume und damit ‚Darstellungsräume‘, die ‚etwas‘ repräsentieren.“ Und auch die Inhalte werden benannt; sie sind „ein Anderes“, wie Christian Schmid sieht: „gesellschaftliche ‚Werte‘, Traditionen, Träume – und nicht zuletzt auch kollektive Erfahrungen und Erlebnisse.“116 Unterstellt man im Sinne einer expansionistischen Semiosis und dies reflektierender medientheoretischer Überlegungen, dass sich die Repräsentationen des Raums (représentation de l’espace) so wenig auf ein System verbaler und in diesem Sinne intellektueller Zeichen beschränken müssen wie umgekehrt die nichtverbalen Konstrukte auf unmittelbare Formen der Wahrnehmung, dass sich beide vielmehr praktisch, in der Verwendung situativ kommunikativ spezifischer Codes, gegenseitig durchdringen, leuchtet unmittelbar ein, dass die Räume der Repräsentation, der Darstellung, sich theoretisch nicht von den Darstellungen, der Repräsentation der Räume, unterscheiden 114
Lefèbvre, Die Produktion des Raums, a.a.O., S.336. Ebd. 116 Schmidt, Stadt, Raum und Gesellschaft, a.a.O., S.223. 115
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lassen. Was bleibt, ist das Erleben eingedenk und angesichts von Traditionen, Werten und Erfahrungen, Vorhaben, Zielen und Träumen.117 So oder so, sich verändernde und so bewusst werdende Gewohnheiten bilden sich nur mittels der Informiertheit und des Verkehrs der Körper – der unseren, der Dinge, der Zeichen. In Form zu bringen, fördert auf diese Weise das In-Form-Gebrachte, das Bedeutende, das allein mittels seines Körpers ein Zeichen ist, das einen möglichen Interpreten bestimmt, ein Objekt herauszugreifen, das … Dacapo. Wir verbleiben in den nicht endenden Spiralen der Semiose. Der Interpretant liefert die Formen der Intelligenz. In einer bestimmten Situation, an einer bestimmten Stelle des Verstehens wird offenbar, dass der Stein selbst nicht einfach das Harte verkörpert, dass ein Rekurs auf eine bestimmte der fixierten Bedeutungen nur in bestimmter Hinsicht als intelligentes Verständnis zu werten ist. Die Erkenntnis ist möglich, weil der Stein tatsächlich derart informiert ist. Was heißt, dass er in anderen Aggregatzuständen in Bewegung gewesen ist. Befragen wir unsere Ausdrücke, wissen sie es ganz oft. In „Stein“ steckt die indogermanische Wurzel stei- oder sti-.118 Das damit gemeinte Harte und Erstarrte ist kein geschichtslos Letztfestes. Vielmehr inkarniert es seine Geschichte. Sie zeigt, dass das Feste einst selbst das Flüssige war. „Stein“ heißt das Geronnene, der erstarrte Fluss, die erkaltete Lava, die gewonnene Erde.119 Erkaltet sind das Felsengebirge, das Riff, die Klippe120; allesamt waren sie zuvor im Feuer. Die gewaltigen Massen des Chaos, aus denen die Kyklopen sich bedienten, um daraus die Burgmauern von Tiryns und Mykene zu fügen, waren zuvor in Wolken und Nebeln.121 Und im Fluss war der glatt gewordene Basalt, der zum Mahlen taugt.122 Hephaistos, ein Meister der Form, der sich mit der Erde verband, wurde in Lemnos verehrt, an einem Feuer, das aus der Erde brach. Das Feste selbst erweist sich als Signatur: Körperzeichen-Zeichenkörper. Die verwachsenen Narben vielfältiger Bedeutung universalisieren die Materie selbst zum Grund der Zeichen. Immer schon ist der Baustoff der Welt ein hylemorphes Gemisch, „eine unermessliche und in Wirklichkeit unendliche Menge von Atomen oder 117 George Lefèbvre führt in der Produktion des Raums als Beispiel das Venedig des 16. Jahrhundert als vorstellbaren Raum szenifikatorisch gelingender Integration praktisch und theoretischer Entfaltung an. Die Einschränkungen dürften ihm bewusst gewesen sein. Es ist nicht überraschend, dass er zu einem Vokabular greift, wie es hier thematisiert wird. Man sieht wie die Beschreibung zwischen szenografischer und nicht szenografisch intendierter Inszenierung oszilliert. „Une théatralisation aussi raffinée que peu cherchée, uns scénographie involontaire rejoignent et métamorphosent le quotidien avec sons fonctions. En y ajoutant un peu de folie!“ (Zitiert bei Schmid, Raum und Gesellschaft, a.a.O., S.227; d.i.: The production of space, a.a.O., S.74). 118 Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 20. Auflage, Berlin 1967. 119 Stib(ar)os, dicht zusammengepresst, hart geworden, sind die befahrenen Wege, wie stia die Kiesel, Feld- und Bruchsteine, die man braucht, um solche Wege anzulegen. Stiria sind die erstarrten Tropfen, die Eiszapfen. 120 Griech. petros, Pl. petra. 121 Lat. moles; vgl. Ovid: Metamorphosen, 1,7. 122 Griech. mylach.
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Korpuskeln, die hart, gekrümmt, viereckig, länglich und vielgestaltig (ist), alle unteilbar, immer in Bewegung und bestrebt, von der Stelle zu kommen“.123 Die Stadt bestimmt selbst, wie sie gelesen werden will. Weich statt fest, fließend statt starr macht die Dinge nicht gemütlicher, wie der Einbruch der chaotischen Akkumulation, Kennzeichen des ungehemmten, keineswegs geordneten ‚Wachstums‘ der Megacities zeigt, egal ob world city oder global city. Die Bedeutung der Stadt ist nur angelegentlich ganz weniger unter den unermesslich vielen Aktivitäten, die sie integriert, als Kadrierung eines ihrer Bilder vorübergehend intentional. Ansonsten ist ihre Bedeutung ihr selbst überlassen. Für sich ist sie der maßgebliche Körper. Das gilt im Übrigen auch für die historische Stadt, auch wenn die Archäologen und Kunsthistoriker, Architekten und Städteplaner lieber von ihrer Imposanz und Schönheit berichten – und davon, dass Stadtluft frei macht. Aber dann sollte man auch davon erzählen, dass die Technologie nie aufgehört hat, in den sozialen Körper der Stadt einzudringen. „Die Wunder der Technik haben die des Wüstenraums ersetzt, und die atmosphärischen Köder sind den optischen Halluzinationen der elektromagnetischen Spezialeffekte gewichen. Von jetzt an bis du dort, wohin dein Blick dich trägt – wie Paul Celan schrieb – und sonst nirgends.“124 Es gibt drei verschiedene Körper, heißt es in Virilios Panische Stadt: Die Wüste ist das Gesicht des ersten, jenes TERRITORIALKÖRPERS, der die Menschheit in seinem kosmischen Verlauf mitreißt. Der zweite Körper ist der GESELLSCHAFTSKÖRPER, in dem die Menschheit sich reproduziert. Und zuletzt gibt es den Körper, der spricht und der sich mutwillig regt: der ANIMALISCHE KÖRPER eines vorübergehenden Menschen.
Alle drei Körperarten sind als wirkliche Körper vereint und verbunden über ein und dieselbe Energie. Wenn wir das vergessen – wie wir es gerade machen, indem wir das Soziale in die Netzwerke der virtuellen Gemeinschaft auslagern – werden wir einem SCHWERKRAFTKOLLAPS, einer beispiellosen Bedrückung ausgesetzt, die alle drei Körperarten betrifft: Der Territorialkörper wird zu einem Nichts herabgedrückt, das heißt auf die Zeit der Ausbreitungsgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen reduziert; der Gesellschaftskörper zerfällt schrittweise in den Konzentrationssystemen der Stadt; der animalische Körper schließlich verliert durch den Fortschritt der transgenetischen Technologien seine Zeugungs- und Erzeugungsfähigkeiten.125
123
Yvon Formy über den antiken Atomismus, namentlich bei Leukipp, Demokrit, Epikur und Lukrez. Vgl. dies.: Art. „Atomismus“, in Encyclopédie, a.a.O. Vgl. Aristoteles: Physik, IV,9, 217a. Siehe auch Hartmut Böhme: Welt aus Atomen und Körper im Fluss. Gefühl und Leiblichkeit bei Lukrez. In: Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz 65. Geburtstag. Hg. v. Michael Großheim u. Hans-Joachim Waschkies, Bonn (Bouvier) 1993, S.413-439. 124 Virilio, Panische Stadt, a.a.O., S.123/124 (Versalien PV). 125 Ebd.
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Sicher, das Spiel von Licht und Schatten besorgt die Gestaltung zum Zeichen. Nicht irgendwie und irgendwann, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt. Thales soll den kairos präzise ermittelt haben, als das Maß zugleich auch eines unseres Körpers war, „unser Schatten und unser Leib die gleiche Länge“ hatten. Doch das ist eine Geschichte, die fast so alt ist wie die Geschichten von Ilios und Troja. Bisher war zu verstehen an unseren Leib gebunden. Das wird sich ändern. Mit den Möglichkeiten wird experimentiert. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Referenzsysteme, die erlauben, dass sich ihr Schatten mit dem unseren trifft und in Relation bringen lässt, in Dimensionen entschwinden, die vielleicht noch der Fortschreibung mathematischen Wissens genügen werden und entsprechend avancierten Übersetzungen, die Maschinen lesen können, uns aber nicht mehr zugängig sind. Hier jedenfalls liegt die Grenze eines Bedeutens und Verstehens, das für den finalen Interpretanten ein natürliches Exemplar unserer Spezies als Interpret vorstellte. Zwar bilden wir sprachlich den Hybrid, „jemandem etwas zu bedeuten“, und drücken mit dieser Wendung nicht nur eine Wertschätzung desjenigen aus, der uns etwas bedeutet. Aber zugleich benutzen wir dieselbe Formulierung, um damit auszudrücken, dass wir gewillt sind, jemanden zu einem Verständnis zu veranlassen, eine Macht auszuüben. Dem finalen Interpretanten der Peirce’schen Logik gegenüber ist diese Anstrengung umsonst. Die Logik macht ihren letzten Zweck mit sich selber ab. Insofern bleiben wir so oder so mit unseren Anstrengungen auf der Strecke. Allerdings herrscht nicht an jeder Stelle des Wegs dieselbe leichtlebige oder schwermütige Atmosphäre. VI.
Schon Aristoteles hatte an der Grammatik des Übergangs gearbeitet und wesentlich zu ihrer Formulierung beigetragen. Das Schwere und das Harte, sagt er in der Physik, gelten als dicht. – Wie stibos, das Dicht-Zusammengedrängte, der aus Mengen von Steinen und Steinchen zusammengepresste Boden des oft befahrenen Weges oder der Mauer, die nicht aus lauter Quadern gefügt ist, sondern zwischen zwei stabilen Steinwänden eine aus Schutt angehäufte und komprimierte Schicht enthält. – Das Leichte und das Weiche hingegen gelten als dünn, von nur geringem Zusammenhalt. – Wie hydor, das Schwer-Festzuhaltende, das Flüssige, das der Hand entgleitet, die es fassen will. – Was folgt daraus? Zweierlei: Dichtes und Hartes sind nicht leicht vom Ort zu trennen. Oft machen sie den Ort, was etliche Mythen vergangener Städte beglaubigen. Dünnes und Flüssiges hingegen finden wir nicht an einem Ort, sondern bestenfalls an vielen. Aber in Wahrheit verlaufen sie sich. So fungieren, sagt Aristoteles, „zusammenhängenddicht“ und „flüssig-dünn“ hier „als Grund der Bewegung“. Zusammen sorgen
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sie für Bewegung, eine Veränderung vom stillstehenden zum bewegten Zustand und umgekehrt. Nur beide können für Bewegung sorgen. Doch das ist nicht alles. Sonnengetrocknete Erde, schon gar Marmor- oder Granitblöcke lassen sich ohne Werkzeug kaum bearbeiten. Anders der wassergetränkte Boden, das weiche Wachs und sogar das flüssige Erz. Sie setzen der Bearbeitung geringeren Widerstand entgegen. Darum fungieren dicht und fest, dünn und flüchtig als „Grund für die Zugänglichkeit gegenüber Außenkräften“ und „als Grund nicht so sehrder Ortsbewegung als vielmehr des Übergangs in eine von der bisherigen verschiedene inhaltliche Bestimmtheit“.126 Die gleichzeitige Differenzierung und Vermittlung vordergründig unterschiedlicher Ursachen verschweißt die quantitative mit der qualitativen Perspektive, den Inhalt der Form mit dem Inhalt der Materie: Hyle-Morphe. Dabei erweist sich „die unterschiedliche inhaltliche Bestimmtheit“ als vorübergehendes, mannigfaltiges Resultat unterschiedlicher Behandlung mit unterschiedlichen Instrumenten. Orte und Räume werden zu Funktionen der Zeit. Mehr oder weniger, lehrt der Philosoph, gehört dies zu den Konsequenzen des Fließens zwischen Polen. So kann „leicht“ zur Modifikation von „schwer“ werden – das am wenigsten Leichte ist das Allerschwerste –, „weich“ zur Form von „hart“ – das am wenigsten Weiche ist das Allerhärteste. Und umgekehrt. Ganz wenig dicht ist dünnflüssig und flüchtig. Ganz wenig dünn ist dicht und bleibend. Ganz wenig dicht ist dünn und flüchtig – und nicht mehr dicht, sondern das andere. Ganz wenig locker ist dicht und bleibend – und nicht mehr dicht, sondern das anderes. Dicht ist dünn, und lose zusammenhängend, dünn und lose zusammenhängend ist dicht und fest. – Hinter den Skalen, die sich kreuzen, hinter den schwankenden Gestalten warten allerdings weder die Identität des Subjekts noch eine Entität des Substantiellen. Doch die Vorstellung der Konsistenz, wie man im 19. Jahrhundert sagen wird127, obwohl eine Idee der Zahl und des Zählens, will Quantität und Qualität auf solche Art versöhnen. Aristoteles eröffnete die Perspektiven der Übertragung. Orte, gefasst in Ausdrücken der Zeit, feste Körper, gefasst in Ausdrücken sich wandelnder Gestalt. Doch der Stoff der Liturgie bedarf der Fügung durch Harmonie.128 Abt Suger schien sich dessen gewiss. Obwohl am aristotelischen Programm stets gearbeitet wurde, stifteten Ortsveränderung und Gestaltwandel auf lange eigene Begründungsschulen. Erst spät, nachdem sich die eine mit Newtons universellem Programm der schweren Massen und der Mechanik verselbständigt, die andere auf den Wegen der Chemie und den Wissenschaften des Lebens dem inneren Zusammenhalt und 126
Aristoteles: Physik, VI, 9, 217b. So im Cours de philosophie positive Comtes. 128 Lithurgikos ist der Steinmetz; harmonia ist die Fuge zwischen den Ziegeln und die Klammer, die die Steine verbindet, schließlich die Fügung der Steine insgesamt. 127
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Wandel der Substanzen nachgespürt hatte, fanden sie wieder zusammen.129 Erst die Vereinheitlichung von Dynamik und Thermodynamik schafft die Bedingungen, das aristotelische Transferprogramm anders als in wechselseitiger Rückübersetzung oder identitätsphilosophischer Spekulation zu realisieren. Solange kondensieren die Wolken des Chaos in getrennten Bildräumen. Für die Dinge, die Zeichen, die Bedeutungen; fest, flüssig, gasförmig. Vergleichbar die Teilung der Kausalitäten. Bis sich das Haltbare von den festen Substanzen löst und die festen Substanzen von der Haltbarkeit. Die beispielhaften Objekte Descartes’, Uhr und Wachs, stehen für Kohärenz durch Wandel. Hier funktional, dort substantiell. Die Uhr: Gang und Funktion, Geometrie und Kinematik – diskrete Bewegung allerdings, Sekunde für Sekunde. Wachs: nur wenig deformierbar, so dass es noch unter die Definition vom festen Körper fallen könnte? Im Gegenteil, amorph, auflösbar in Licht und Wärme. Die Bewegung stetig. Die Themen der Physik nach Newton sind alle vorhanden, Ausbreitung, Licht, Schall, Wärme, Magnetismus, Elektrizität – Medialität, Virtualität, allgemeine Zeichenhaftigkeit. Der Weg ist betreten, kommentiert Bachelard, auf dem die Bewegung selbst zum Ding wird.130 Alles kann zum Ding werden. Und berechtigt ist der Einwurf: „und zwar zu sehr verschiedenen Dingen“. Aber der Stoff ist gerade erst zum Medium, zum Durchgang – und zum Zeichen – erklärt. Solange der Stoff Medium ist, Medium der Ausbreitung, vorzüglich, weil am besten geeignet, in der Form flüssiger und gasförmiger Substanzen, solange ersetzt der Schatten den Körper, das Subjekt das Objekt. Sind Durchfluss und Durchzug vorüber, bleiben die sublimen Materien ungezeichnet zurück. Fast. Die Wärme des Lebens verändert die Lage. Die Flamme bringt das Wachs zum Fließen. Das flüssige Wachs leuchtet und wärmt. Was vor kurzem noch in Bewegung gehalten wurde, wird nun in Fluss gebracht. Die Kräfte und dann die Dinge zeigen es. Erst Muskeln, Wind und Wasser, – Hämmer, Pferdefuhrwerke, Segelschiffe und Wassermühlen131; dann Hitze, Feuer, Dampf – Hochöfen, Gießereien, Dampfschiffe, Lokomotiven, Motoren. Die Industriestadt, die die Stadt zur Explosion bringt und das Zeitalter der globalen Urbanisierung einläutet. Und so weiter. Nicht allein die Gravitation beherrscht das Universum. Wärme bringt mehr als Transport und Übertragung, Wärme bringt Transsubstanziation. 129 Vgl. Michel Serres: Paris 1800. In: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, a.a.O., S.395-443, desgleichen Michel Serres: Hermes II, Interferenz. Berlin (Merve) 1992. Siehe auch Michel Fichant, Michel Pêcheux: Überlegungen zur Wissenschaftsgeschichte. Aus d. Franz. übers. von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977. 130 Vgl. Gaston Bachelard: Der neue naturwissenschaftliche Geist. Kap. III, Epistemologie der Physik. In: ders., Epistemologie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974. 131 Auch dies im Einzelnen zu betrachten in den Tafelbänden der „Enzyklopädie“ von Diderot und d’Alembert. Für die thermodynamische Revolution, die zur selben Zeit einsetzt, haben die Bewunderer der mechanischen Künste noch wenig Verständnis.
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Abb.13 Energie der Stadt. Umberto Boccioni (1882-1912), A strada entra nella casa.
Wärme und Elektrizität veränderten das Gesicht der Stadt, die dabei ist, zur Industriestadt zu mutieren und ihr altes Gesicht abzulegen, aber auch ihre Szenografie – oder das, was vergleichbare Gestaltungsentwürfe zeitigt. Es gibt Licht, zuerst als Straßenbeleuchtung und zur allgemeinen Sicherheit. Dann zur Auszeichnung der unterschiedlichsten special interests. Das Licht beleuchtet dieses oder jenes, mal mehr, mal weniger. Die durchaus positivistisch gestimmte Soziologie der Zeit hat keine Probleme, sich in einem Atemzug mit ihrer Analyse der verheerenden Auswirkungen der kapitalistischen Metropole zugleich über die Wunder des Lichts in der beleuchteten Großstadt zu äußern. Ähnlich überschwänglich wie die lichtmetaphysisch ambitionierte Gotikforschung über die medialen Effekte der in Szene gesetzten Kathedrale. Bekannt ist Max Webers Diktum, wieder eins unter vielen, das besagt, dass selbst die Kunst in Gestalt der modernen Malerei ohne die elektrisch inspirierten Medien nicht vorstellbar sei; die bewegten Massen, die nächtlichen Lichter und Reflexe der modernen Großstadt mit ihren Verkehrsmitteln, mit elektrischen und anderen Laternen, Schaufenstern, Cafés, Konzert- und Restaurationssälen, mit Schloten, Steinmassen und all dem wilden Tanz der Ton- und Farbimpressionen [...|, es ist gar nicht möglich, dass gewisse formale Werte der modernen Malerei ohne den noch nie in aller Geschichte menschlichen
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Augen dargebotenen Eindruck, den die moderne Großstadt schon am Tag, aber vollends in überwältigender Weise in der Nacht macht, hätte errungen werden können.132
Doch die Schlote, die Industrie brauchen die Energie rund um die Uhr. Ihre Emanationen freilich ergießen sich nicht in die Zentren, sondern betreiben deren Implosion. Man könnte glauben, dass die freigesetzten Energien in der Lage sind, Steine und Status zu ersetzen. Solange die elektrische Traktion die Entfernung von Tilsit nach Konstanz nicht in einer halben Tagesreise durchmisst –: solange ist nur ein kleiner Teil der Pflichten erfüllt, die in den nächsten Jahrzehnten der Elektrotechnik obliegen. Denn sie ist berufen, unserer Epoche das Siegel aufzudrücken als dem Zeitalter der Energie.133
Der Stadt, die das Feste und die Schwerkraft hinter sich gelassen und sich der Sublimation zugewandt hat, ist die Geschwindigkeit der Information implementiert. Zurecht ist darauf hingewiesen worden, dass „das Neue [...] nicht die Informationstechnologien [sind], sondern die Energietechnologie“.134 In der Stadt von morgen (oder heute?) demonstriert die Architektur ihre Existenz in Ausstellungen, die nicht Gebautes oder auch nur zu Bauendes zeigen, sondern elektronisch gespeicherte Pläne, Zeichnungen, Modelle, Simulationen, während die Körper der Architektur das bezahlbare informationelle Bedürfnis synthetisieren und ihre Form entsprechend anpassen. Dass Entwürfe der internationalen Avantgarde auch tatsächlich zum Bau in Auftrag geben werden, geschieht nicht, um rund um den Globus Reisen und die Konfrontation mit der Architektur am Ort anzustoßen. Ihre Bedeutung entfaltet sie nur in der medialen Verstärkung. Abgesehen von den szenografischen Relikten für eine theatrale Repräsentation, wie sie schon Fritz Lang oder Walt Disney vorschwebte, wird man sich schon bald in einen realplatonischen Zustand versetzt glauben. Unter dem Pflaster liegt der Strand, vielleicht. Aber über dem Beton entfalten sich die Netze der Virtualität. Dass die Christos den Reichstag tatsächlich verhängen wollten, nachdem 132 Max Weber: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.-22. Okt. 1910 in Frankfurt
am Main. Tübingen (Mohr Siebeck) 1911, S.265-270; auch in: Reden, Vorträge und Debatten. Frankfurt am Main 1969, Zit. S.99. In ähnlicher Weise Max Nordhaus, Willy Hellpach, Oswald Spengler und Georg Simmel (zu diesem Zusammenhang in energietechnologisch-wissenschaftstheoretischer Betrachtung siehe auch Joerges, Technik. Körper der Gesellschaft, a.a.O., S.247. 133 Walther Rathenau: Elektrische Alchymie (Elektrochemie und verwandte Gebiete). In: ders.: Nachgelassene Schriften Bd. 2; Berlin (Fischer) 1928, S.285-403; Zit. S.403. Zum Kontext siehe: Bernward Joerges: Ein Zeitalter der Energie. In: Wissenschaftszentrum Berlin, WZB Jahrbuch I, 1994, Institutionenvergleich und Institutionenanalyse. Hgg. von W. Dierkes und W. Zapf, Berlin (edition sigma) 1994, S.106-133; ebenfalls im Zentrum unseres Themas verschiedene andere Beiträge aus der Feder des Autors in: ders.: Technik. Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie, a.a.O. 134 Bernward Joerges: Ein Zeitalter der Energie. Elektrizität, Elektronik und die Inszenierung von Wissenschaft. In: ders.: Technik. Körper der Gesellschaft, a.a.O., S.249. Bernward Joerges (Wissenschaftssoziologe an der TU Berlin) war Mitte der 90er Jahre Leiter der Forschungsgruppe „Metropolenforschung“ am WZB.
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sie ihre Szenografie für den Auftritt schon überall in Umlauf gebracht hatten, mutet an wie realistischer Atavismus. Wer weiß, ob diese Strategie nicht auch schon damals bei vielen anderen Vorhaben ausgereicht hätte. Trotzdem ist fraglich, ob auf diese Weise Konflikte wie die um den Stuttgarter Hauptbahnhof oder die Stillstellung von Atomkraftwerken zur Ruhe kommen können. Denn die Differenz von (politisierten) Szenografien und (alltagspraktischen) Inszenierungen lässt sich nicht mehr ohne weiteres an den Ereignissen ablesen, wie sich überhaupt schwer etwas an Ereignissen „ablesen“ lassen kann. „Es gibt wenig zu sehen und viel zu denken“ bemerkt Lyotard. So ist dieses wie jenes möglich. Die Frage ist, welche „Tatsachenbeschreibung“ die Medienhoheit für die kritische Zeitspanne der öffentlichen Anteilnahme erobert. Das ändert nichts an der Berechtigung der Losung: „Zitate statt Zitadellen“. Stadt-Bildpflege ersetzt im Allgemeinen auch schon in mittleren Großstädten (allemal in touristisch interessanten Kommunen) die Denkmalpflege. Die Kulturhauptstadt-Ruhr-Inszenierung des Jahres 2010 folgte ganz dieser Strategie. Die mediale Aufbereitung, die existierende wie die noch kommende, belegt es oder wird es noch belegen. Die Stadt, die Metropole erscheinen als reines Ausbreitungsphänomen, hinter dem sich das Medium vollständig verflüchtigt hat. Licht, das auf den Scheiben und Monitoren, durch die es dringt, nicht zurückbleibt. –
Abb.14 Ausbreitungsphänomen Stadt. City Lights.
In Wahrheit ist das auch die Botschaft der Korfmann-Kolb-Kontroverse. Trojas entscheidende Grabungsschicht findet sich im Internet (nichtmals in den Ausstellungen, denn die sind im Netz jederzeit abrufbar und nicht nur in den wenigen Wochen der Öffnung zu besuchen). Perspektiven können nicht als solche der Betrachtung gelten, weder der Wahrnehmung noch der Vorstellung; Perspektiven schwinden, und damit die Möglichkeiten der freien Inszenierung jenseits der massenmedial formatierten Szenografien. Hier wird die Möglich-
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Abb.15 Architektur als Symbol. Zaha Hadid, Dancing Towers Dubai.
keit neuartiger, virtueller Projekte, die Möglichkeit, den Schatten zu betreten, angepriesen. Das Reale wird operational behandelt. Computer stellen die technische Implementierung der möglichen Welten Leibnizens dar. Wir wandern durch den Rechenraum. Steine und Wege liegen im Schatten. Wenn alle Tiefe Variante derselben Oberfläche werden soll, verschwindet der gewöhnliche Sinn dieses Ausdrucks. Wenn die Trajektorie, das Distanzfeld zwischen Subjekt und Objekt, gegen Null geht, verändern sich die Eigenheiten von Oberflächen und Räumen radikal. Traditionell, bis zur Entwicklung der Stadt, sagt Virilio, entwickelte sich das Objekt mit dem Gebrauch, und das Subjekt mit der Kultur seiner Subjektivität – Theater, Literatur usw. Die Mediatisierung durch die neuen Technologien führt zum Stillstand der Trajektorie.135 Die zukünftige Stadt, die heute schon gegenwärtig ist, lebt und arbeitet nicht in gewohnten Räumen und auf bekannten Flächen. Medien integrieren Orte und Wege. Heute schon herrscht tatsächlich das Gesetz elektromagnetischer Nähe. Die prompte Trajek135 Vgl.
Paul Virilio: Revolution der Geschwindigkeit. Berlin (Merve) 1993.
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torie ist die Stelle ohne Ort, Stelle eines Schnitts, Schnittstelle, Fuge, Membran. Zision und Maschinenkairos zugleich. Kaum zu zweifeln, dass diese Zukunft nach der Gegenwart gegriffen hat. Statisches und Dynamisches repräsentieren sich längst nicht mehr in ihrer klassischen Form. Schliemann hatte recht: Homer beschreibt Troja, wir beschreiben Troja, ich beschreibe Troja. Zeichen repräsentieren Zeichen. „Das Symbol beherrscht den Raum“, schrieb schon Venturi. „Die Architektur reicht nicht mehr aus. Da die räumlichen Beziehungen eher durch Symbole als durch Formen hergestellt werden, wird die Architektur in der Landschaft eher zum Symbol im Raum als zur Form im Raum.“136 Für die Auflösung der Szenografie in einem freien Spiel von Szenifikation lässt das nichts Gutes, zumindest nichts Erwartbares erwarten. VII.
Eher Symbol als Form? Von einer Drift zwischen Symbol und Form zu reden, macht nur Sinn angesichts schwindender Körper. Die Stadt als Körper ist die historische Stadt. Aber so wenig wie die moderne Stadt nur Information und nicht Körper ist, ist die historische Stadt nur Masse oder Geometrie. An der Schwelle zur thermodynamischen Revolution beschreibt Mercier, „der Archäologe der modernen Kapitale“137, die Stadt als informiertes Objekt. Als Festkörper und Ausdruckskörper – als Organismus. Die Stadt, seither, ist in eminentem Maße ein modernes Objekt, ein „seltsames Objekt“ (Monod).138 Paris ist Babylon und Arkadien zugleich.139 Paris ist Rom. Troja, Athen, Jerusalem, Rom, Paris, die Komplexionen unseres kulturellen Erbes sprechen keine andere Sprache als die Wissenschaft. Rom spricht die Konsequenzen aus, Rom ist wie Troja eine Herkunft, die für die Dominanz der Körper steht, doch keine Herkunft des Mythos, trotz aller Bemühungen. Mithin gehört sie zu den informierten, den erhellten, bewehrten Körpern. „Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“. Inkarnation als Petrifikation. Rom ist nicht vom Wort wie Athen, es ist nicht vom Buch, vom Hauch oder vom Schrieb wie Jerusalem. Umgekehrt ist es nicht vom Wasser wie Athen und nicht von der Wüste wie Jerusalem. Rom ist hart und dumm wie der Stein. [...] Jerusalem ist leicht und geschmeidig wie hunderttausend Zeichen, Athen fliegt um den Logos, Rom ist schwer. [...] Es ist vom Ritus, nicht vom Mythos. Der Körper hält den Stab, er steckt den Tempel ab und zeichnet 136
Robert Venturi u.a., Lernen von Las Vegas, a.a.O. Louis Sébastian Mercier: Mein Bild von Paris. Mit einem Nachwort von Jean Villain. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1979. 138 Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München (Piper) 1971. 139 So auch exemplarisch bei Georg Forster: Parisische Umrisse. In: Werke in vier Bänden, hg. von Gerhard Steiner, Leipzig (Insel) 1971, S.727ff. 137
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die Plinthen, er weiß nicht warum. [...] Die schwarze Höhle, in die die Klarheit, der Sinn und die Spuren eingesperrt sind, ist das Innere dieses Steins. Das heißt es: ein Objekt sein, ein Ding der Welt; und das ist das Inkarnationsfleisch: ein in Mauern genommenes, gefasstes Licht.
Das Licht, das Thales nur brauchte, um mit dem Schatten der Geometrie zu arbeiten, dringt nun in die Schluchten der Mauern und Häuser. Rom ist zu verstehen – während Athen und Jerusalem seit Jahr tausenden wie Leuchttürme verstehen lassen. Rom hat sich zum Objekt gemacht – Athen und Jerusalem sind Subjekte.140
Was ein Bewahren trägt wie die Stadt, ist mehr als nur Durchgang, Medium; es behauptet und zeigt sich vielmehr als ‚beschrieben‘, als informiertes Objekt. Erde, Stein, Holz, Wachs – für Verdichtungen, Fügungen, Eingrabungen. Rinde, Leder, Leinwand, Papier – für Aufschreibungen, Aufzeichnungen, Bilder. Celluloid, Schellack- und Vinylplatte, Kunststoffscheibe, Magnetband, Siliziumchip – für Aufblendungen, Ritzungen, Prägungen, Aufzeichnungen, Aufgenommenes, Programmiertes, Gespeichertes. Nukleotide, DNA, Gen, Chromosom, Zelle, – für alte und neue In-Schriften, haftende und bald getilgte Notierung, Angestammt-Angeborenes und Erworbenes. Molekül, Element, Elektron, Hadron – für Inkorporiertes, Einbezogenes, Projiziertes. Empfänger, Speicher, Sender… Das Dass der Zeichnung bleibt an den Objekten wie das Dass der Farbe am Ausgedehnten. Elementar – und beispielhaft dafür – ist der Code des Lebens selbst: die Nukleotid-Sequenzen der DNA, geschrieben in Proteinsprache, kodiert in der Umschrift der Boten- und Transfer-RNS, aus Triplets von Buchstaben (U, C, A und G), kombiniert.141 Bewahrung von Spuren, Konservierung von Information bedeutet Gedächtnis, Möglichkeit zur Erinnerung in die Zukunft. Das ist nicht mögliche Erfahrung, sondern wirkliche Erfahrung. Unsere Objekte (zu denen wir selbst gehören), unsere Architektur, unsere Städte, halten sich weder an die Grenzen der alten Aggregate noch an die der Sichtbarkeit noch an die zwischen natürlichen Dingen und Artefakten. Die industrielle und postindustrielle Produktion hat realisiert, dass die Dinge mit ihren Botschaften zusammengehören, umnebelt von Wolken des Rauschens. Das Label, die Information, die Auf- und Inschrift, realisiert, transformiert, simuliert die Zugehörigkeit zur wirklichen Welt. Sie öffnet das Gedächtnis des Dings und erzeugt Austausch, Kommunikation, Ereignisse. 140 Michel Serres: Rom. In: Planet, Tumult 7, Zeitschrift für Verkehrswissenschaft. Wetzlar (Büchse der
Pandora) 1983, S.83/85 (frz.: Rome. Le livre des fondations, bei Grasset 1983). Siehe auch Certeau, Kunst des Handelns, a.a.O. 141 Vgl. Monod, Zufall und Notwendigkeit, a.a.O.
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Abb.16 Informierte Stadt. Los Angeles 2019 (Still aus Bladerunner, Ridley Scott 1982).
Die Informiertheit der Dinge, Invarianz aller Information, akkumuliert. Entgegen den Vermutungen, die die Information allein an der Oberfläche wähnen und das Invariante der empirischen Variation, die Inschriften, nicht bei der geschichteten Informiertheit der Objekte suchen, sondern in den Dispositionen des Subjekts. Was informiert ist, kann informieren. Es mag uns kränken oder nicht, die Objekte können uns informieren, aber sie können uns auch auslassen, als Subjekte ignorieren. „In den Strom der Informationen getaucht, sind die Objekte eingeschaltet, und ich bin ausgeschaltet, zumindest als Subjekt“, schreibt Michel Serres. Doch „wenn ich handle, spreche experimentiere, schalte ich mich in den Informationskreislauf ein, als Träger meiner außergewöhnlichen Negentropie und meiner eigentümlichen Sprache.“142 Als ebenso unwahrscheinliches, „seltsames Objekt“. Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Objekte zu übertragen und unsere Übertragungen zu verobjektivieren, „aber die STADT ist nur ein Name“. Trotz unserer „unheimlichen Vertrautheit mit der Stadt“.143
142 Vgl. 143
Serres, Hermes II, a.a.O., S.130. Certeau, Kunst des Handelns, a.a.O., S.198; 187 – Hervorh. MdC.
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PARIS, RUHR ZUR GESCHICHTSLITERARISCHEN INSZENIERUNG VON URBANITÄT
Sind Metropolen per se Orte der Inszenierung, Inszenierungen gar Urbanitätsausweise? Wenn ja, dann ist damit auf den paradoxen Konflikt der Selbstbegründung von Gesellschaft verwiesen, die sich nicht mehr über Genealogien und Territorien, sondern über Funktionseinheiten definiert. Unter Inszenierung ist der affektive Konflikt der Nachspielung eines uneinholbaren Ursprungs/Ortes gemeint, der sich individuell (Genesis) und kollektiv (Territorium) entzieht, und zwar in die Illusion von Selbstidentität (Selbstbewusstsein) hinein.1 Der Entzugsform von gründender Genealogie antwortet dialektisch eine Kausalsimulation, die zum Schein sich ihres Ursprungs versichert, indem sie die Situation des Jetzt in die utopische Funktion des endlosen Wachstums hin narrativ verlängert. Kausalität und Narration bilden als Schanier die Szene aus, in der Inszenierungen eine Allianz zwischen Introjektion und Projektion simulieren. In dieser szenologischen Hypothese richtet sich das Leben ‚urban‘ ein: In besonderer Weise sind Metropolen dazu verpflichtet, in beständigem Auf- und Abbau ihr Geschäftsmodell szenisch zu unterhalten, beständig auf dem Weg, den aktuellen Verlust als aktualisierbare Erinnerung präsent zu halten. Es ist eine Auszeichnung der ‚echten‘ Metropolen, eine dehnbare Präsenzzeit, aus den Events und Moden ihre Lebendigkeit und Attraktivität abzuleiten. Wie stolze Damen auf den Boulevards der Gegenwärtigkeit schreitet die Metropole Paris auf den Erinnerungen des 19. Jh. dahin. Es genügt, einen der großen Romane Zolas zu lesen, um den Unterschied zwischen diesem Modell des epischen Selbstbewusstseins und der dramatischen Narrative, gegenüber der namenlosen ‚Metropole Ruhr‘ offenbar werden zu lassen. Nicht aber auf den ungerechtfertigten Vergleich in Sachen Attraktivität und Geschichte, sondern auf zwei unterschiedliche gesellschaftliche und damit geschichtsmaterialistische Vorstellungen von Fortschritt und der Stadt als einer Ware, die zum Markte drängt, geht es in diesem Aufsatz. Notorisch ist in diesem Versuch nicht die 1 Die Analyse von Inzenierungen setzt die Behandlung des Problems der Zeit voraus. Seine Darlegung
als Dialektik urbanen Fortschritts und zirkularer Mobilität der Stadt sollten im Zusammenhang mit den Arbeiten von Adolf Winkelmann am Dortmunder U zur Analyse anstehen. Allerdings hat diese Hinwendung zum ‚Uhrturm‘ sich zu einer eigenständigen Arbeit entwickelt, sodass das Problem der szenischen (Selbst-)Darstellung von Zeitlichkeit und Zeit auf der Ebene der geschichtsliterarischen Analyse in Anwendung gezeigt wird. Es wird zu behandeln sein: die Stadt und die Sukzession, das Paradox und die Synchronität, der Fortschritt und die Linearität, die Inszenierung und die Simultaneität, die Uhr und die Zirkularität. Die Linearisierung der Zeit in romaneske Narrative kann als Suche nach dem ‚Namen der Stadt‘ nur ein medienwissenschaftliches Nebenproblem sein, dessen Darstellung durch den Vorteil der Anschaulichkeit aufgewogen wird.
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Einzelinszenierung Gegenstand, sondern das Inszenierungsmodell ‚Stadt‘ selbst auf dem Prüfstand, und zwar in genau jenem historischen Moment, in dem die globale Urbanisierung in der Unbegrenztheit der Medieninszenierungen die Stadt als Ort der Erfahrung an die Repräsentanz einer Bilderwelt zu verlieren droht. Im Falle des griechischen Begriffs ‚Metropole‘ handelt es sich um die Verifikation einer Ursprungsfigur, deren Wirkursache auf die matriarchalische Produktivität der gezähmten Natur antwortet. Wer übernimmt wann und mit welchem Namen die Vaterschaft über den Setzungsakt einer sich nicht selbst setzen könnenden Metropole? Metropolen müssen ständig über sich selbst hinausweisen, missionieren, und dennoch beständig den Mythos ihres Ursprungs als Legitimation bedenken. Kann man die Städte des Ruhrgebiets als Metropole deklarieren und welchen Namen soll diese Metropole tragen? Und wichtiger noch: Welche Trieb- respektive Produktionsdimension soll der integrativen Funktion einer Metropolisierung eignen, wenn im Moment ihrer Festschreibung das Metropolen-Argument des permanenten Wandels entfallen würde? Dieser produktive Widerspruch zwischen Selbstbestimmung und Selbstveränderung verlangt zur Lösung ein extrinsisches Moment. Als solches dient zum einen die Konkurrenz der Städte, die sich stets untereinander wechselseitig Qualitäten zuschreiben (dialektische Selbstbegründung), zum anderen das Moment der Selbstinszenierung als Vorspielung einer intrinsischen Andersheit – jeweils bezogen auf die mütterliche Ursprungs- respektive stiftende Vaterposition. Drittens geht es in der Inszenierung immer um eine unvollendbare Ursprungsnachspielung, um die durch das Patriarchat der Technik vindizierte Stellung der urbanen Maschine zwischen Repräsentation und Dynamik. Technik und Geschichte sind einer Zwangskopplung nichtfinalisierbarer Finalisierung (Verdinglichung und Erinnerung) unterlegen. Urbanität ist die „Strukturdifferenz [...] zwischen einer homogen-organischen Stetigkeit und einem heterogen-kontingenten Diskretum.“2 Diese mediale Konfliktordnung bezieht Lukács nicht auf die Idee der Urbanität mit ihren Wechselwirkungen von mobilen und immobilen Sachverhalten, sondern auf den Roman und dessen Pseudoreduktion, die Biografie. Während das Epos ein totalitäres, das Drama ein logisches, der Roman ein biografisches Schema realisiert, muss für Urbanität die Dialektik von Fragment und Totalität, zwischen kontingent und organisch veranschlagt werden. Hundert Jahre nach den Feststellungen von Lukács heißt das, die Medienwirklichkeit von Urbanität dialektisch aus der Form einer Inszenierung zu denken, die spätmodern von der surrealistischen Technik der Montage durchdrungen ist. Alle Museen, alle Ausstellungen, alle Warenhäuser sind der allegorischen Montage verpflichtet, auch wenn sie sich 2 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der
großen Epik. München 1994 (*1915), S.65.
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von der stringenten Narration durchdrungen sehen wollen. Das hat Folgen auch für eine projektierte Gründungsakte ‚Ruhrstadt‘. Je mehr sie sich dieser Erfindung einer Geschichte andient, umso mehr verliert sie ihren Stadtcharakter und wird urban offen – je offener sie ausfließt, umso vehementer werden die Rufe nach einem einzigen Gründungsakt. Das extrinsische Moment der Stadt ist im 19. Jh. der Roman. Wenn Roman und Stadt sich im Werden setzen bzw. diese Setzung ironisch und szenisch aussetzen – der Roman in der ankunftslosen biografischen Reise des Helden, die Stadt in ihren urban nicht finalisierbaren Transformationen –, dann müssten die szenologischen Perspektiven doch mehr hergeben als die Annonce: Szenografie sei eine narrative Strategie, die dem allegorisch-monadischen Fragment der Ware und der Kausalstruktur der Technik eine Utopie der Lesbarkeit der Welt entgegensetzen. Geht es um Lesbarkeit oder geht es um die patriarchalische Beherrschung des Blicks: Geht es um Raumstimmung oder um Fluchtpunkte? Wenn nicht Stiftungen auf freiem Feld oder kriegsbedingter Wiederaufbau den setzenden Anfang ermöglichen, muss ein symbolischer Formmechanismus die Gründung aneignend nachspielen. Jedenfalls ist der Satz zu bedenken, dass die ‚wahren‘ Metropolen sich durch eine zunehmende Logik der Inszenierung und der szenografischen Planbarkeit ihrer eigenen, ursprünglichen, urbanen Utopien anzunähern versuchen, die sie mit ihrer metropolitanen Flächenausdehnung zu verlieren drohen. Es ist nicht mehr die Stadt, die planbar ist, sondern nur noch die Funktionsdispositive. Denn das Spiel der Stadt besteht nicht in der Formalisierung von Regeln, sondern in der Eroberung eines freien Platzes, auf dem sich Regeln entwickeln können. Das teuerste Gut der Metropole ist der freie Platz. Anders gesagt, der Auf- und Abbau der Städte verdeckt die autopoietische Utopie, die sich in der Heterotopie ihrer Inszenierungspraktiken reflektiert. Das Wesentliche der Narration der Inszenierung ist, dass sie zeitlich begrenzt ist, damit einer eskalierenden (vertikalen) Dynamik gehorcht und in Schichtungen simultaner Präsenzen zu denken versteht. Genau das ist der Zug der Verwaltung und der Archivierung: Schichten der Zeit zu organisieren. Vom Roman oder Film unterscheidet sich diese Dienstleistung dadurch, dass sie die sukzessive Kinematologie nicht in eine immanente Form (Werk) totalisiert, sondern den Charakter einer nie finalisierbaren Gegenwart beibehält. Doch diesen zirkularen, totalisierenden, werkhaften Charakter wollen Metropolen wiedergewinnen, indem sie sich als ‚Kunstwerke‘ zu feiern beginnen. Sie sind gleichsam und in Bezug auf die Lesart: Szenen, und als solche zeitigen sie qualitative Transformationen ohne Anfang und Ende. Die Szene erscheint wie eine Kristallisation, in ihrer Totalität, sie ist der Ort des freien Platzes. Im Fall urbaner Selbstinszenierung haben wir es mit einem Kollektivsubjekt zu tun, das sich nur symbolisch gründen kann und dies jeweils auch in szenischen Gründungsmythen formuliert. Dem Kollektiv ist der Begriff vom
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Anfang und Ende erst einmal wesensfremd. Nähe und Dichte, Stabilität und Latenz sind seine Beschreibungsformen. Sein analytisch höchster Begriff ist der der Gerechtigkeit. Seine transformative Kraft kulminiert im Fetisch, seine Repräsentanz in der Politik. Der Fetisch repräsentiert die Besetzung einer Fehlstelle als freier, unbebaute Platz oder das solitäre Bauwerk als Regulativ einer immanenten Freiheit. Die Szene als Fehlstelle ist der Ursprung der Stadt. Im Falle des Place Concorde entspricht der Obelisk diesem kastrativen Objekt: die signifikante Anwesenheit eines Mangels im Zentrum der permanenten Bewegung. Die kollektiv autorisierten symbolischen Strukturen bewahren ein mehr oder weniger allegorisches Konzept der Organbildung. Wenn die Stadt einen Organismus vorstellt, der die Selbstbegründung und Identifikation ihrer Bewohner artikuliert, liegt ihre Aufgabe darin, das urbane Leben für die Frage der Begründung diskursiv offen zu halten. Selbstverständlich gerät sie damit in Widerspruch zur Begründungsfunktion im Sinne der Autorisierung der Setzung einer exekutiven Ordnung, was sie wiederum verpflichtet, zum szenischen Ort von externalen Lesarten individueller Prägung zu werden: Z.B. eröffnet das Folkwang Museum Essen zum Kulturhauptstadtjahr ungeniert eine Ausstellung französischer Impressionisten und nicht etwa heimischer Expressionisten. Während in der mittelalterlichen Stadt noch die territoriale Komponente überwiegt, stellt sich mit Hinblick auf die Diskursivität der 53 Städte, die am Kulturhauptstadtjahr 2010 beteiligt sind, die Frage nach der symbolischen Selbst- und Fremddarstellung. Zwar bewahren viele Ruhrstädte noch einen Rest der mittelalterlichen Stadtgründungsinitiativen, der Stadt als Stiftung im freien Land, doch geht es immer wieder auch um die Initiation von Herrschaft und Legitimität symbolischer Formen des Ruhrgebiets, der ‚Ruhrstadt‘ insgesamt, und damit eines Kollektivs von Städten. Im Ruhrgebiet geht es auch stets um den abwesenden Namen des Vaters, also um die Binnenidentifikation unter einem Begriff: Ruhrstadt, Ruhrgebiet, Metropole Ruhr. Es ist offensichtlich, dass das Ruhrgebiet den Namen des Vaters verwirft, um seine eigentümlich dynamische Beweglichkeit und (Selbst-)Störungskraft zu erhalten. Diese Eigentümlichkeit der Identität der Nichtidentität sieht sich beständig bedroht, unter Fremdbestimmungen zugrunde zu gehen. Die Gründe dafür sind bekannt: Das Ruhrgebiet war im Laufe seiner 200-jährigen Industrialisierungsgeschichte von Preußen, von Berlin, von den Industriebaronen, von den roten und den braunen, den französischen Truppen, und von Düsseldorf fremdbestimmt. Die Bedrohung schafft einen Affekt der Abwehr, der permanent die Anrufung des Namens des Vaters verwerfen muss: So paradox das klingt, der Ruf nach einem Gott wird zur Geste der abwehrenden Beschwörung. Jetzt aber, da das Ruhrgebiet auf sich selbst zurückgeworfen ist, bekommt die Anrufung des Namens des Vaters plötzlich eine reale Dimension. Auf den Unterschied von Ruf (Stimmung) und Blick (Perspektivismus des Paris des 19. Jh.)
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zielt unser Vergleich. Urbanität ist dabei keine Wahrnehmungsqualität, sondern eine Relationalität, deren Parameter in einem Modell der synchronen, simultanen Präsenz, „dromoskopisch“ wie Virilio3 formuliert, anzeigbar ist. Szenografisch ist zu fragen, durch welche Medien die Selbst- und Fremdbestimmungen, die asynchronen Momente einer Stadt, das Ungewohnte im Gewohnten, geleitet werden. Können sich szenografisch Subjekte rhythmisieren und unterschiedlichen Geschwindigkeiten ein Recht geben? Dabei muss klar sein, dass von der Geste des Graffitti bis zu der des Justizpalastes die Binnengewalt der territorialen und die expansive Gewalt der symbolischen Besetzung korrelieren. Eines der eindrucksvollsten Beispiel der Abwehrkorrelation des Genusses der Bewegung der Stadt (Tat oder Geste) ist sicher die Verhüllung des Reichstagsgebäudes in Berlin durch Christo und Jean Claude. Schon dieses szenografische Konzept zeigt, dass es in der Bestimmung einer Stadt um ein Epochenmodell der urbanen Mobilität/Immobilität geht: Zu einer ganz bestimmten Phase seiner Funktion und seiner baulichen Substanz bietet der Reichstag die Möglichkeit einer Fremdbesetzung als Transzendierung seiner Funktion, nämlich eines Gründungsaktes einer ‚vierten Republik‘, der erst einmal tabula rasa (symbolisch im Entzug der Sichtbarkeit als positiver Inszenierung von Verhüllung) mit den Blick- und Lesarten macht. Insofern ist die Bilanzierung vom Ab- und Aufbau einer Stadt stets in zeitlicher, temporärer und historischer Hinsicht zu spezifizieren: Woody Allen hat in seinem Film Manhattan (1979) dem Rhythmus einer Stadt Ausdruck verleihen können. Städte kann man nicht wegtragen und sortieren wie Bücher. Dennoch ist es gerade die Auszeichnung von Beweglichkeit und Verkehr, von Wandel und Verwandlung, von Heim und Heimat, die eine Stadt über ihre Funktion hinaus als Metropole charakterisiert und die die Schwierigkeit einer stabilen Setzung des Namens des Vaters zum Abenteuer werden lässt. Wir wollen dieser Dialektik von Bewegung und Statik und ihrer ökologisierten Auflösung mit folgenden Fragen (und Kapiteln) nachgehen: 1. Was ist unter einer symbolischen Besetzung zu verstehen? 2. Welche medialen Träger leiten einen symbolischen Diskurs, insofern Medien virtuell Territorien organisieren und erschließen? Gibt es eine verifizierbare Epochengeschichte der Symboltechniken, eine Szenologie der Lesarten von Urbanität? (Literatur, Film, Szenografie…?) 3. Was ist die Funktion von Gründungsmythen? (Rom, Athen) 4. Welche Selbstbildfunktionen leisten Szenografien im urbanen Raum? (Fetische und Leerstellen in der Dialektik der Ursprungsaneignung/-abwehr) 5. Welche literarischen Techniken begründen die Deterriorialisierungen des neueren Metropolenbegriffs? 3
Virilio bezieht sich insbesondere auf den paradoxen Stillstand eektronischer Medien: „Durch die neuen Technologien hat man die Stadt bei sich, wir nehmen sie in der Tasche mit.“ Paul Virilio: Die Verwaltung der Angst. Ein Gespräch mit Bertrand Richard. Wien 2010, S.64.
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6. Wie formuliert sich die Unterscheidung zwischen Vaterstadt und Mutterstadt – zwischen Produktions- und Konsumationsgestus in der Illusion urbaner Geschlechtslosigkeit? 1. DIE SYMBOLISCHE BESETZUNG
Wer hat wann und wie über den Namen der Stadt zu entscheiden? Vaterschaft beweist sich in der Potenz der Zuschreibung und diese Zuschreibung im Namen des Vaters ist ein semantisches Problem. Jeder, der sich mit Zuschreibungen beschäftigt, weiß, dass man diese zwar autoritär behaupten kann, dass aber ihre Geltung von der Außenakzeptanz abhängt, denn semantische Prozesse sind nicht autoritär bestimmbar. Der Gedanke, der der mittelalterlichen Stadt, also auch den Städten des Hellwegs zu Grunde liegt, ist der einer Stiftung. Für das Gebiet an der Ruhr gilt die Stiftung Essen Werden als vorbildhaft. Mittelalterliche Städte werden dekretiert, d.h. erhalten ein Stadtrecht, z.B. aufgrund ihrer strategischen oder ökonomischen Bedeutung von außen. Sie sind fremdbestimmt. Erst die oberitalienischen und niederburgundischen Siedlungen dekretieren sich selbst als Städte, indem sie die Selbstbestimmungen von Staaten für sich antizipieren und damit eine Unterscheidung zwischen dem Ort der repräsentativen Gewalt (dem Staat) und der exekutiven Gewalt antizipieren. Als Stadt-Staaten üben sie selbst offiziell setzende Gewalt aus (Gerichtsbarkeit, Polizeifunktion, Steuerrecht etc.), und zwar unabhängig von ihrer territorialen Größe. Dabei geht es nicht um die Formulierung einer Außenpolitik, sondern um eine Binnenpolitik. Sie haben das Recht, selbst Semantisierungen vorzunehmen, d.h. eine genealogische, auf Dauer setzende Bedeutung nicht real, sondern symbolisch zu erwirken. Anders als in den kolonialen Gründungsakten sind es diese ‚Hauptstädte‘, die nun ihrerseits Gründungsorte für nationalstaatliche Gewalt werden. Martina Löw hat in ihrer jüngst erschienenen Studie zur Soziologie der Städte darauf verwiesen, dass Städte sich immer im Vergleich mit anderen Städten definieren. Deshalb ist es wichtig, Städterankings aufzustellen, aber wichtiger ist, zu verstehen, dass Semantizität über Außenwahrnehmung so stabilisiert wird, dass jeweils auf die mythischen Gründungsoperationen der anderen Stadt als Bedeutungsträger verwiesen wird und so auf der Ebene der Archive eine Durchdringung aktiviert wird – vergleichbar den ‚mythischen Derbys‘ zwischen Schalke 04 und BVB Dortmund. Es geht nicht zuerst um die Vorherrschaft im Ranking der Bundesliga, sondern um die Semantisierung von Gesellschaft. Solche Semantisierungen durchlaufen zuerst den Modus der Wiederholungen, der periodischen Meisterschaften, der Biennalen und Triennalen, der Messen und anderer olympischer Kulte. Der Meistertitel ist die Anerkennung des Namens des Vaters, die Spielinszenierungen sind jeweils die Anrufung desselben. Das
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Ritual des Fußballspiels, das in besonderer Weise die Vereinsnamen als Stadtnamen (oder Konzernnamen) herausstellt, ist der strategische Ort einer Mythisierung, die in der Semiotisierung als sprachlicher Prozess haust. Konkurrierende Rituale haben als Spiel gegenüber der Impertinenz der Architektur den Vorteil, dislocierbar zu sein, weil sie durch die Präsenz von Personen, nicht durch eine durch sie arrangierte (gebaute) Inszenierung bestimmt sind. Als Gegenbewegung zur Dislocierbarkeit wird die Gedächtnis-/Archivfunktion, die ihre Legitimation durch die Kraft der Verdichtung der Szene im Bild und Symbol gewinnt, dominant. Diese Verdichtungen (Bundesliga-Meisterschaften) sind Symbolisierungen, deren Wert nicht in erster Linie ökonomisch, sondern archivarisch verteidigt wird: Die Meisterschaft wird mit der Jahreszahl verbunden. Das Archiv ist auch die Organisation der geraubten Blicke und entspricht einer symbolischen Kastration, der entlastenden, genießenden Auflösung des Einzelnen in der Vision der Dauer der Stadt. Deswegen wird im Zusammenhang mit der Stadt der Funktion des inszenierten Blicks und der Übersicht, des Panoramas und der Karte, aber auch der nächtlichen Leuchtreklame eine zentrale Bedeutung eingeräumt: Als Archiv ist die Stadt unsichtbar geworden. Es ist der Stadtstaat Venedig, der erste Luftbildgemälde von sich in Auftrag gibt und damit auf den Zusammenhang zwischen der Sichtbarkeit und der Höhengliederung/Sedimentierung der Archive und Verwaltungen aufmerksam macht. Roland Barthes hat 1972 in einem Aufsatz zu Semiologie und Stadtplanung auf das Wechselverhältnis zwischen nicht territorial gebundener Semantizität und territorial gebundener Stadtfunktion hingewiesen. Diese Verhältnisbestimmung ist so alt wie Städte selbst und gilt für alle Orte, die zwischen Selbstabschließung und Öffnung wählen müssen. Barthes geht davon aus, dass der urbane Raum ursprünglich kein utilitaristischer, sondern ein semantisch repräsentativer (ein spielerischer Inszenierungsraum) war, der erst mit der Vernetzung einer funktionellen Infrastruktur sich urban verfestigte. Damit ist zunächst, wie Eliade formuliert hat, auf eine Heterogenität des Raumes verwiesen, in der die transzendenten Aspekte der Verortung dominant sind, nämlich solche der Gründung als Reflex auf Unbegründbarkeit. Das Problem der Ursprungslosigkeit der urbanen Selbstproduktion verweist zugleich immer auf das der Unsichtbarkeit: ‚Gegend‘ (und Ruhr-‚Gebiet‘) an sich ist unsichtbar, und die Stadt als Kollektivgefüge, die ihre Öffnung wählen kann, wird dann im Zuge der Überwindung der gotischen, mittelalterlichen Stadt unübersehbar. Der heterogene Raum ist nicht wirklicher Raum, und stiftet als solcher eine Differenz zwischen den Dingen, wie sie sind, und ihren Bedeutungen, die ihnen verliehen werden und die somit zu – im Foucaultschen Sinne – Archiven werden. „Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen. Er weist Brüche und Risse auf; er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. [...] Es gibt also einen heiligen, d.h. ‚kraftgeladenen‘, bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Raumbezirke, die
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nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort ‚amorph‘, sind.“4 Anders gesagt, verlangt der Raum, sobald ein Baum, ein Stein seinen Ort heiligt, eine rituell nachstellende Funktion von Kultivierung, die darin besteht, Bedeutung zu inkorporieren. Genau hier setzt Roland Barthes mit dem Wunsch einer Lesart der Stadt an, die überhaupt erst zu einem Selbstverständnis von Urbanität führen kann. Es geht um die effektive Realisierung einer phantasmatischen Vision und den Wahn einer Selbstansicht der ‚Selbstbewusstseinsdynamik‘, respektive Phantasie, als Gegenwart-bei-sich-selbst-als-einem-Anderen. Urban wird dieser Ort dann, wenn die rituelle Funktion zu Gunsten einer archivarischen Organisation5 zurücktritt, d.h. wenn der Ort über sich selbst erzählen kann und die Stadt als Repräsentation des organdifferenzierten Körpers auftritt. Das betrifft in erster Linie natürlich die Differenzierung der Sinne im Körper der Waren. In dieser Funktion, kann man sagen, ergänzen sich Kirche und Richtstädte, transzendentale und profane Bestimmung der Selbstbegründung durch einen Leib des Anderen, der in seiner transzendenten Kollektivierung zum Leib der Stadt wird: die Statue der Athene, der Koloss von Rhodos, aber auch der Kölner Dom sind solche leibhaften Gestalten, die nicht Herrschaft, sondern die Verkörperung des Anderen analogisieren. Im Vordergrund der Ausführungen von Barthes steht nicht die Genealogie von Urbanität, also die Trennung von Präsenz und Archiv bezüglich der Selbstbegründungsdefizienz, sondern die Territorialisierung väterlicher Signifikanten auf dem Boden mütterlicher Stadt, also die Autorisierung von Lesarten. Barthes zieht ein historisch schon sehr spätes Zeugnis heran, nämlich Victor Hugos Die Kirche Notre-Dame zu Paris von 1831, deren Inhalt Begebenheiten aus der Stadt Paris von 1482 beschreibt. Bezeichnend für das Verständnis des Romans ist, dass sowohl im Titel der filmischen Umsetzung als auch im deutschen Romantitel die Person des Glöckners von Notre-Dame in den Vordergrund tritt und nicht die Kathedrale als Leib der Stadt (die Maria geweiht ist). Dabei zielt Hugo eindeutig nicht auf die Verkörperung der Stadt (Quasimodo ist ein Bastard und Krüppel), sondern auf die Analogie der Verleiblichung des kollektiven Anderen als Kathedrale. Es handelt sich bei der Verfälschung des Titels um den occupativen Zwang der Beherrschung des medialen Raumes durch einen männlichen Signifikanten, den Form, Funktion und Inhalt des Romans verweigern. Es geht nicht um die Reise des (männlichen) Helden, sondern um die Gendrifizierung der Lesarten einer Stadt. Darauf ist auch im Zusammenhang mit der Fabel zu verweisen: Der Roman Hugos unterscheidet sich von den damaligen Historiengenres u.a. dadurch, dass die weiblichen Protagonisten (Mutter und Tochter) sterben, die männlichen nur dann überleben, wenn sie sich von der familialen Genealogie 4
Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Köln 2008 (*1957), S.15. den Gilgamesch-Epos I.8: „Auf einen Denkstein hat er die ganze Mühsal gemeißelt.“
5 Vgl.
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lossagen. Man könnte von frei floatierenden oder revolutionären Signifikanten sprechen, die Hugo – entgegen seiner romantisierenden Kontextualisierung – vor den Ereignissen von 1835 vielleicht schon vorausahnte. Hugo spricht ausführlich den Zyklus der Stadt mit Aufbau und Abriss an, und beklagt den Untergang der „homogene(n) gotische(n) Stadt [...], wie es deren noch einige gibt, z.B. Nürnberg.“6 Und weil es dieses homogene, mittelalterliche Paris nicht mehr gibt, weil sich in die Stadt amorphe Funktionen drängen, setzt auch er auf eine quasi-göttliche Ordnungsperspektive. Er wählt zur Beschreibung der Stadt den höchsten Standpunkt, nämlich den Blick von einem der Türme Notre-Dames. Anders als in Zolas Die Beute ist aber hier noch nicht der sezierend-perspektivische Blick des Baron Haussmann gefordert, sondern eine synthetische Qualität der panoramatischen Übersicht, des Sichtbaren und Unsichtbaren (Nächtlichen), des Geplanten und des Zufälligen, des Gerechten und des Schicksalhaften, des Gegenwärtigen und des Vergangenen. Lesart der Stadt und Totalisierung des Sehens (statt Strategie des Blicks) sind ein und dasselbe Moment einer Fundierungsnachspielung. „Welchen Blick bot dieses Ganze nun, aus der Höhe der Türme von Notre-Dame gesehen, im Jahre 1482?“7 Was auffällt, ist nicht die – ja schon seit Dantes Göttlicher Komödie orientierte Inanspruchnahme des göttlichen Blicks, also die Aufpfropfung einer Ordnung der Signifikanten auf einen mütterlichen Horizont, sondern die historische Rückbesinnung auf das, was die Kathedrale außer der turmhohen Horizontverwerfung noch leistet. Als gebauter Schiffskörper entspricht sie nämlich der Schiffsgestalt des ursprünglichen Paris. „Diese Schiffsgestalt ist auch den Heraldikern aufgefallen; denn daher, und nicht von den Belagerungen der Stadt durch die Normannen, stammt, zufolge Favyn und Pasquier, das Schiff, welches das alte Wappen von Paris kennzeichnet. Für den, der es zu entziffern weiß, ist die Wappenkunde eine Algebra, eine Sprache.“8 D.h., dass die Kathedrale der auf Kiel gelegte territoriale Bestimmungsort von Paris ist und das Gedächtnis der Anlandung auf der Seineinsel. Die normannische Fremdbestimmung wird zu Gunsten der Selbstbestimmung abgewehrt, muss aber, um der Paradoxie der Selbstbegründung zu entgehen, und ohne sich auf Transzendentes beziehen zu können, die Magie der Analogie von Stadt und Schiff, also der Verleiblichung sich andienen. Gerade dadurch aber werden die patriarchalischen Kämpfe bannend entwertet. Barthes greift diesen zentralen Gedanken Hugos auf, der nicht nur beiläufig eine szenische Beschreibung festhält, sondern auf den Charakter der Stadt, der Menschen und der gebauten Substanz verweist. Hugos Blickzurichtung der Stadt unter szenografischen Gesichtspunkten präzisiert das Phänomen 6
Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (Notre-Dame des Paris). München 2009 (*1831), S.133. 7 Ebd., S.138. 8 Ebd., S.139.
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Stadt als ein Gebilde aus gebauten Anschauungen (Kirchen, Türmen) als auch Blickpunkten, die die Aufgabe haben, eine Sprache zu finden. „Die Stadt ist ein Diskurs, und dieser Diskurs ist wirklich eine Sprache: Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen.“9 Natürlich sind es die Klänge der Glocken, ihre Kraft der Raumbelebung, die diese Sprache der Stadt bei Hugo symbolisieren.10 Auf der Ebene der Sprache der Stadt formuliert sich der utopische Ort der Sprache als „Haus des Seins“ nicht nur in metaphorischer Rücksicht, also im strukturalen Übergang territorialer – bei Hugo würde man schon sagen – medialer Besetzung. Die Stadt hat eine Stimme. Das sieht auch Barthes so: „Das Problem besteht allerdings darin, einen Ausdruck wie ‚Sprache der Stadt‘ aus dem rein metaphorischen Stadium herauszuführen.“11 Das meint, die Autorisierung eines eigentlichen Sprechens in den Diskurs der Stadt einzuführen, also die Frage der Legitimität und der Namen der Stadt zu beantworten. Es ist jedoch bei Hugo schon annonciert, dass es vom Standpunkt der Manifestation der Stadt als Versammlungsort von Lesarten nur um eine weitere Verschiebung gehen kann, nämlich den Nachvollzug, die Disposition des medialen Mutterkörpers beständig über die Kollateralschäden männlicher Besetzung hinaus zu retten, sprich: die Freiheit der Stadt nicht zu beschädigen, sie nicht ein für allemal festzuschreiben – sie nicht einer utopischen Dialektik zu berauben, wie das zeitweise in der Vision des Festungsbaumeisters Vauban bei Viollet-leDuc und bei Haussmann geschieht. Im Näheren vergleicht Hugo die Medien der Architektur (Geografie) mit den Medien der Schrift, insbesondere des aufkommenden Buchdrucks zu der Zeit, als der Roman spielt. Er spricht in einem eigenen Kapitel die Verhältnisbestimmung von Denkmal und Buch mit der berühmten Bemerkung an: Das eine wird das andere umbringen. Vom Buchstabieren des Gelehrten zur Kollektivierung des Blicks, vom „Schauen“ zum „Sehen“, d.h. zur vorstellungsgeleiteten Wiedereroberung der Sichtbarkeit und der Übersicht, protegiert allerdings Hugo den historisch nicht selten wirksamen Gedanken, dass die metaphorische Verschiebung als gewalthafte Verdrängung sich zu vollziehen hat (der Stumpfsinn jeder Nachkriegsarchitektur): Nur da, wo man abreißt, kann auch neu gebaut werden. Frollos „trauriger Blick vom Buch zur Kirche“ – unter dem Ausspruch 9 Roland Barthes: Semiologie und Stadtplanung. (*1967) In: Ders.: Das Semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, S.202. 10 Von den Glocken von St. Mary-le-Bow in Cheapside (Londoner Eastend) wird im Spätmittelalter berichtet, dass sie in ganz London zu hören waren. Nur wer in Hörweite der Glocken geboren wird, ist ein echter Cockney. Der Name ‚Cockney‘ soll von dem Wetterhahn der Turmspitze dieser Kirche abgeleitet sein. Hier haben wir die perfekte Genese des Namen-des-Vaters aus der Stimme (der Glocken) und der visualisierenden Orientierung als Stadt. Vgl. Peter Ackroyd: London. Eine Biographie. München 2002, S.57 u. S.88. 11 Barthes, Semiologie, a.a.O., S.202f.
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„Wehe! Dieses wird jenes töten.“12 – mag ja doch auch noch die Variante zulassen, dass sich die „Religion des Buches“ auch über dieses – siehe Luther – wieder restituiert. Nur, die Katholizität, also der patriarchal-allsehende Glaube der Gegenreformation selbst wird – urbi et orbi – unter den Lesarten selbst zur metaphernlosen Realität sich hysterisieren. Nur wo Lesarten konkurrieren, können monolithische Körper zu lebendigen Leibern mutieren. Das ist die eigentliche Pointe des Bedrohungsszenarios der Auslöschung. „Das Buch wird das Gebäude töten“ – diese Verheißung meint, dass die Grenzen der Stadt diskursiv gesprengt werden, so wie eben der Bau der Kathedralen die ursprüngliche, homogene gotische Stadt und Gesellschaft überhaupt erst hat zusammen wachsen lassen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Königskathedralen zwei Türme (virtuell sind es stets zwölf ) haben, da Gesellschaft und Glaube in eben der repräsentativen Verdopplung sich formieren: Das eine sei des anderen Gedächtnis. Nur vergisst Frollo – und diejenigen, die Hugos Buch immer noch für eine romantische Liebesgeschichte halten –, dass Notre-Dame kein Gebäude ist, sondern eine Stadt, und zwar sowohl eine leibhafte, eine reale, eine imaginäre – und am Rande, in ihrer Ableitung aus dem römischen Forum, auch eine inszenierte. Die Medienprophetie Hugos einerseits und die Entmetaphorisierung von Barthes andererseits bestätigen, dass die Dialektik von Legitimierungs- und Entlegitimierungsprozess nur autoritativ haltbar ist, und wenn sie die Autorität nicht aus den Archiven, sondern qua Gewalt sich anmaßt, richtet das den Gedanken der urbanen Stadt zu Grunde. Hugo interpretiert die Differenzanmahnung der Medien zunächst als eine Schrecken hervorrufende Orientierungslosigkeit: „Es war der Schrecken eines Geistlichen vor einer neuen Kulturmacht: der Buchdruckerkunst“, die Glauben durch Argumentation realisiert.13 Die Metaphorik des Satzes „Der Turm wird einstürzen“ – gemeint ist die Kirche als Institution, aber auch ein Turm der Kathedrale – spielt mit dem Gewinn der Monopolisierung des anderen, der ‚Gesellschaft‘, die das „Buch aus Stein“ durch das aus „Papier“ ersetzt.14 Demokratie wird als Anarchie verstanden. Hier zeigt sich auch, was allen Stadt-Staaten der Renaissance fehlt, die Trennung von Legislative und Exekutive in einer unabhängigen Jurisdiktion. Während nämlich der Blick vom Turm schon ein demokratischer ist, ist das Justizwesen im Paris des 15. Jh., wie Hugo es uns satirisch schildert, schicksalhaftes Roulette. Dass es eine sich selbst autorisierende Gerechtigkeit geben könne, dafür sorgt erst die höhere Analogie, nämlich die der Kompiliation der Urteile durch Rechtsarchivierung. Damit ist auch deutlich, was den mittelalterlichen, monolithischen Stadtkörpern fehlt: die sie selbst bezähmende Ausdifferenzierung der Organfunktionen. Damit erst sind 12
Hugo, Der Glöckner von Notre Dame, a.a.O., S.203. Ebd., S.204. 14 Vgl. Martina Löw: Soziologie der Städte. Frankfurt am Main 2010, S.51. Löw nimmt einen Gedanken Henri Lefèbvres auf. 13
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innerhalb der metaphorischen Bewegungen die Konstanzprinzipien der Metapher bewahrt und die Alternativlosigkeit von Aufbau und Zerstörung genichtet. Es geht aber eben auch nicht nur um die Verkörperung der Stadt, sondern um die Transzendierung der Stadt als Geist des Selbstbewusstseins. Nicht Tötung, sondern Filialation ist das Prinzip der Mediengenealogie – im Übrigen auch in der Filialästhetik der gotischen Kathedrale, die in ihrer quasiindustriellen Produziertheit die Bewegung vorwegnimmt, die die gotische Gesellschaft bis 1350 noch nicht auszeichnete. Die Kathedrale war immer auch eine Kathedrale der Bürger, ein Leib der Gemeinschaft. Damit ist gemeint, dass insbesondere die ikonografische Funktion der Kathedrale (Notre-Dame) als Mutterstätte (alle Königskathedralen sind bis auf eine Maria geweiht) die Realität einer Stadt, nämlich des Himmlichen Jerusalem offenbart. Und es ist nicht nur diese utopische Stadt, sondern zugleich die Richtstätte, die des himmlischen Gerichts in der Kathedrale, die die Funktion des Gewaltaufschubs thematisiert: nämlich die signifikante Eroberung der diskursiven Medialität und damit die Rückaneignung des Grundes durch das Leben. Aber weil sich die Semantisierung der Lesarten im Zyklus der Kathedrale (und aller Kathedralen im Kernland der Hochgotik) selbst auch realisieren, weil die Kathedrale nicht nur ein Archiv, ein Versprechen und ein Bild ist, kann sie die metaphorische Funktion der transzendierten Stadt des ‚Buches‘ – Jerusalem, glaubwürdig vertreten. Und zwar so glaubwürdig, dass Sedlmayr davon spricht, dass die mittelalterlichen Augenzeugen, die der goldenen Pforte der Kathedrale ansichtig werden und sie durchschreiten, das Himmliche Jerusalem real erleben. Das heißt aber nichts anderes, als dass die universale Realität des Glaubens und die Illusion des Jenseits in der Kathedrale synchron und simultan präsent sind: nicht als Raum und Ort, sondern als Ereignis. Die schiere Dimension der Kathedrale zwingt jeden Bewohner und Besucher der Stadt, die Kathedrale als eine reale Stadt aufzufassen. Es handelt sich nur vordergründig um eine Inszenierung, sondern, wie im Sinne der Realität der Sprache, um die Sache selbst, nämlich die Entmetaphorisierung der biblischen Belegstellen über das Heilige Jerusalem, wie Sedlmayr detailliert aufgewiesen hat. „Darin gründen wesentlich die historischen Wandlungsmöglichkeiten des christlichen Kirchengebäudes, sofern es als Abbild des Himmlischen Jerusalem aufgefasst wurde.“15 „Hier ist das Haus Gottes und das Tor des Himmels.“ (Gen. 28,17) Beide Diskursivoperationen, Metapher und Metonymie sind ontologisch nicht symbolisch zu verstehen. In der Vertretung des Stadtcharakters gibt es aber auch bezüglich der Kathedrale ein reales Vorbild – nicht nur als Realisierung des heiligen Textes. In der Tat ist nämlich der Kathedralbau der Nachbau einer antiken, römischen Stadt, nämlich seiner Laden- und Handwerkspassagen, und die Fragen des rea15
Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale. Freiburg im Breisgau 1993, S.111.
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len oder symbolischen Vor- oder Nachbildes nicht so einfach zu trennen, wie Hugo das für seinen Medienfortschritt annonciert. Im 12. und 13. Jh. ist es eindeutig die Rückbesinnung auf die Antike und die Bedeutung der heiligen Schriften, die eine transzendente Selbstbestimmung erlauben: Die genetisch gesehen aus ganz anderen Wurzeln erwachsene Grundform der Basilika wird also in einer „interpretatio christiana“ umgedeutet zur Abbreviatur der typischen Züge einer antiken Stadt. In diesem abbreviierten Bild erscheinen jene beiden Teilbilder mit einander verbunden, die schon bei Johannes das Bild des Himmels bestimmen: himmlische Stadt und himmlischer Thronsaal. Ähnliches hatte sich innerhalb der heidnischen Antike vorbereitet, wenn zum Beispiel im Diokletianspalast von Spalato die Hauptstraße der Kaiserstadt auf den Thronsaal zuläuft.16
Sedlmayrs Beschreibung lässt sich mühelos auf die Konversion der Kirchengebäude im Ruhrgebiet umdeuten, deren Thematisierung im Kulturhauptstadtjahr die Kirchen untersagt haben. Aber wenn aus Basiliken Supermärkte werden, dann ist sowohl etwas über die Bedeutung vorbereitende Wertsetzung der Zeichengebung als auch etwas über die Funktion der Stadt gesagt: Gerechtigkeit wird nicht mehr durch das Jüngste Gericht, sondern durch die Beteiligung an merkantilen Tauschprozessen, also einer Ökumene der Ökonomie erreicht. Exakt diese Tauschlogik von real, imaginär und symbolisch operationalisieren die Kathedralen als höhere Gerichtsstätten. Gerechtigkeit ist im mittelalterlichen Sinne kein Tatbestand des Rechts – das kritisiert auch Hugo ganz zentral in seinem Roman –, sondern eine Frage der vergleichenden Wertsetzung, die es zunächst nur als Diesseits und Jenseits gibt, nicht aber im Diesseits selber – zumal, wenn man das vergleichende Lesen, wie Frollo, verfemt. Alle anderen symbolischen Bedeutungsdispositionen im Detail, auch der Kathedrale, sind sekundär und verschlossen wie ein gesiegeltes Buch. Es sind nicht die Inhalte, sondern, so Frollo in Hugos Werk, die medialen, an sich schon wertsetzenden Medienträger und deren Immobilität, die Schrecken hervorrufen und den Status quo der Stadt bedrohen, insbesondere dann, wenn sie sich virtueller oder transzendenter Territorien bedienen, die ihr utopisch gleiches Recht beanspruchen, wie die Turmbauten der Städte. „Alle allegorischen Auslegungen des Kirchengebäudes (sind) von sekundärer Bedeutung; sinnlos wäre es, in ihnen das Wesen der Basilika erkennen zu wollen.“ „Primär ist die Vorstellung der Himmelsstadt; sie ist der ‚buchstäbliche Sinn‘, nicht eine unter den vielen symbolisch-allegorischen Auslegungen“.17 Die Frage, die sich zu stellen lohnt: Ist das Mittelalter wenigstens in den großen Städten der Ile de France nicht gänzlich schon davon überzeugt, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, säen diese 16 17
Ebd., S.112. Ebd., S.113.
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monströsen Kathedralstädte nicht schon den Geist metropolitaner Urbanität? Stimmt Hugos Anklage gegenüber einer Willkürjustiz, oder bezieht er sich da auf ein ganz anderes Feld, nämlich das der revolutionären und napoleonischen Wirren? Wie lassen sich die dynamischen, urbanen Ambivalenzen und das auf Gerechtigkeit fundierende Ordnungsprinzip als Verhältnis von exekutiver und judikativer Gewalt bannen? Entsprechend hätten wir nach dem Sinn von Urbanität heute zu fragen – und da geben Sedlmayr, Hugo und die RUHR.2010 ein gleiches Problem vor: Die Selbstdefinition einer Stadt oder Stadtregion hat mit dem Problem der utopischen Dialektik von Selbst- und Fremdbestimmung zu kämpfen, und zwar mit dem der notwendig sich dem Begehren entziehenden signifikanten Bestimmung durch eine subkutane, urbane Fließbestimmung von agglomerierter (gehemmter und somit vertikal aufbrechender) Communitas, deren Halt gebietende Macht einzig in der relativen Bewegung der Selbstauslegung und Nachspielung des eigenen Ursprungs (der Autonomie- und Autarkiebestrebungen) besteht. Für das Ruhrgebiet bietet sich der Aufstieg aus der Höhle der Unterwelt (Kohle und Stahl) auf die Hochfläche der Halden an, dessen Allegorie Adolf Winkelmann exemplarisch im Film Jede Menge Kohle (1981 mit Detlev Quandt) verwirklicht hat. Der territoriale Wandel ist zugleich einer der Wertsetzung im schillernden Begriff ‚Kohle‘ (Geld – den tausend Namen Gottes). Wichtiger noch aber als dieser Wertewandel ist überhaupt die Erkenntnis der Wandlung. Nichts in einer urbanen Stadt kann in der Moderne von Dauer sein. Wenn es ein Kriterium von Metropolenleben gibt, dann ist es diese Wandlungsfähigkeit, die in Detroit mit seiner Automonokultur z.B. nicht gelungen ist, in Manchester aber gerade nach einer langen Phase der Stagnation wieder greift. Aber ist Detroit dann überhaupt eine Stadt gewesen: oder nicht einfach ein Bordell der Produktion? Vielleicht ist das derzeit von hoher Arbeitslosigkeit geschüttelte Las Vegas zwar eine Metropole, aber eben keine Stadt, deren Beharrungsresistenz der Globalisierungsdynamik etwas entgegenzusetzen hat. Was aber hat es mit dieser quasineurotischen Nomadenerkenntnis von stetigem Wandel auf sich, der doch ein kritischeres Bild von der Stetigkeit des Fortschritts abgibt? Bemerkenswerterweise hilft auch hier die Kathedrale als Mikrokosmos von Welt und Stadt weiter. Sedlmayr zitiert mit Plotin ein atmosphärisches Bild der Stadt, das unseren Sachverhalt genau trifft, insofern er ‚Bild‘ als szenische Bewegung versteht: „Das Abbild der ewigen Himmelsstadt muss vor allem die zeitfreie Ewigkeit des Himmlischen atmen. Seine Bilder müssen gereinigt sein von den Elementen der Körperlichkeit, irdischer Räumlichkeit und Zeitlichkeit – wie das schon Plotin von den ‚pneumatischen‘ Bildern gefordert hatte.“18 Das, wie Sedlmayr sagt, „vom Zeitlichen gereinigte Sein“ lässt sich, wie unschwer zu 18
Ebd., S.115, nach Plotin.
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vermuten, in einer pneumatischen Stadt nur an gesonderten Orten verwirklichen, nämlich z.B. in den die Jahrhunderte überdauernden Kathedralen, mit ihren wechselnden Nutzungen, die ihre touristische Attraktivität protegiert. Warum diese diffizilen Bauklötze nicht umfallen wollen, ist bekannt: Die Transzendenz ihres Mediums negiert den Wert des Baumaterials: Steine, die man den heidnischen Tempeln entnahm und als Fundamente für Kirchen nutzte – d.h. die Mehrfachverwendung von Stein, die z.B. der gigantischen Kathedrale von Cluny ein so tragisches Schicksal bescherte, sodass halb Burgund sich rühmen kann, aus diesen Steinen gebaut worden zu sein. Vom Wert der Steine (und des Bauholzes)19 zum (Un-)Wert der Arbeit, und im Ruhrgebiet dann abermals, vom Unwert der Arbeit zum Wert – von ja, was eigentlich –? Zum Wert der Idee, also der umwertenden Stabilisierung des Wertewandels, sprich, der Kreativität und der Aufforderung, man möge doch schaffend sich selbst erschaffen (das Urphänomen der Kreativität)? Das heißt aber nichts anderes, als dass jeder Mensch sein sich selbst zeugender Widerstand sei, sich, wie heißt es so schön plastisch‚ aus sich selbst ‚herausarbeitet‘. In Winkelmanns Jede Menge Kohle steigt der Protagonist aus dem verschütteten Flötz an die Erdoberfläche und wird geblendet vom – Licht. Und damit sind wir bei der Zentraltechnik der Ruhrgebietinszenierungen: dem Lichtdesign – und den Kathedralen. Sedlmayr lapidar, nachdem er den allegorischen Tendenzen der Kathedrale eine sekundäre Rolle und seine Leibnachspielung (wie im ‚Körper der lebendigen Stadt‘) festgestellt hat: „Neu aber ist die Rolle des Lichtelements.“20 Wie Sedlmayr von der Lichtkrone bis zu den Fenstern und Vergoldungen diese Elemente untersucht, muss uns hier nicht interessieren. Wesentlich ist der Weg zum Licht als eine medialisierende Gegenbewegung zur territorialen Ausbreitung, von Wertsetzung, Recht und Gerechtigkeit überhaupt, das Bewusstsein: Was in der sogenannten ‚Nacht‘ des Mittelalters (bis zum Einbruch der Pest) an den Tag kommt – Hugo spielt meisterhaft mit diesen Inszenierungsatmosphären und -orten – ist die Durchleuchtung der Dinge in ihrer Signifikanz und ihre Befragung der medialen Brechung, die Frage nach der Veränderung, Auflösung und Konstanz und Synthese der Materie (Alchimie) und die der leitbildenden Medientechniken: Schreiben aus Stein, Schreiben in Büchern, Schreiben mit Licht –, den Übergang zwischen der Epoche der singularen Genesis zur reproduktiven Filialation.21 Es geht um die filialen Kräfte der Stadt/der Kathedrale, die sich gleichzeitig in ihr abspielen. 19
Siehe dazu die Originalschriften von Bau und Einsegnung der ersten Königskathedrale in St. Denis, am 11. Juni 1144 in: Abt Suger von Saint-Denis: De consecratione. Hg. von Günther Binding, Köln 1995. 20 Ebd., S.115. 21 Reproduktion ist schon eines der Kennzeichen der gotischen Bautechniken: „Das Prinzip der Kathedralformen ist die Statuenreihe, der Figuren- und Formenchor, die Baldachinallee.“ Ebd., S.141.
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Vom Licht aus ist der Ursprung der Wertsetzung in Arbeit und Bau zunächst medial fundiert. Es bildet sich eine signifkative Differenz heraus, in der die Bedeutungen gleichwahrscheinlich, Schein und Sein, Wert und Unwert in „der Schwebe“ bleiben, wie die Kathedralen selbst und übrigens auch viele künstlerische Lichtinstallationen. Licht ist der Kreativwerkstoff per se, der jede pneumatische Umdeutung im Zeichen erlaubt. Entsprechend sind die kathedralkonzertierten Einkaufstempel – siehe das Centro in Oberhausen, um nur dieses mittelmäßige Beispiel in Erinnerung zu rufen – um die Brechungen und zugleich Inszenierungen der Waren gebaut. Das Centro erfüllt, mehr als viele andere Konsumkathedralen, die Bedingungen einer inszenierten Stadt, weil es sich nicht als Stadt, sondern als Landschaft positioniert. Ihre (romantisierende) Verführungskraft ist die gleiche wie die des Himmlischen Jerusalem: die folgenlose Legitimation des Genießens, als Experimentierstation des (eigenen) Jenseits. Es kommt in der Verführung darauf an, sich selbst als anderen zuzulassen. Es kommt aber auch darauf an, diese Andersheit benennen zu können. Und das ist genau der Different, den die Verführung in der Regel bereitstellt: Die Ware ersetzt die Signifikation. Konsequent nur, dass der Different nun einem Fehlen des Signifikanten entspricht, nämlich dem des Namens des Vaters. Die Verführung hat, wie die Inszenierung, stets zwei Seiten. Dabei kann die Ware durch jeden beliebigen Gegenstand ersetzt werden, sofern er Anteil an der Realität hat, z.B. auch durch eine Erkenntnis. Immerhin ist auf der ‚Disneylandseite‘ des Centro, gerichtet zum künstlichen Fluss, die Emscher, eine (quasi mittelalterliche) Restaurantstadt zu bestaunen, deren Fassadengestaltung die Wegwerfmentalität von Architektur in nuce zeigt. In dieser Architektur ist nicht die Umnutzung mitgedacht, sondern der baldige Abriss schon beim Bau berücksichtigt. Solche Konsumtempel haben eine Nutzungszeit von maximal dreißig Jahren. Man kann sich orientieren am Bau von Les Halles in Paris, die derzeit wieder abgerissen werden, nachdem sie 1974 als Höhepunkt der Konsumkultur gefeiert wurden. Das heißt aber, dass solche gebaute Umwelt an sich nur Inszenierung auf Zeit ist. Die Bedeutung der Stadt liegt also in der Fähigkeit mit Elementarmedien Inhalte zu generieren, die allesamt Dauer wenigstens simulieren und deshalb beständig den menschlichen Verfall thematisieren. Indem auf diese Weise der Tod und die Stadt eine Allianz eingehen, dynamisiert sich die Urbanität im gerechten Verhältnis. Über die todesabwehrende Neurosenattraktion der Großstadt, mit ihren endlosen Zwangsritualen der ‚Bindung bis dass der Tod uns scheidet‘ hat Woody Allen in Annie Hall (dt. Der Stadtneurotiker, 1977) und Manhattan (1979) die schlagenden Bildargumente geliefert. Kann es sein, dass mit der resistenten Wiederentdeckung von Heimat und der Fortschrittsgelassenheit im Ruhrgebiet ein autotherapeutisches Element von Selbstgründung als Selbstentfremdung regiert? Muss die Stadt wenigstens so lange halten wie ein
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Menschenleben? Dass die Kathedralen Mausoleen oder Begräbnisstellen darstellen, ist jedenfalls nicht richtig. Wenn sie Gräber enthalten, dann in eben dem Sinne, dass sie Wohnstätten sind, nichts aber mit den außerhalb der Städte liegenden Friedhöfen gemein haben. Der wohltuende Wandel zur Verbesserung der Verhältnisse hat sich spätestens seit der Elektrifizierung der Städte vom reinen Licht in das Flimmerlicht der Bildschirme verlagert, was auch die Medienfassaden bei aller neuwertigen Herzlichkeit nicht vernebeln können. Die Aufwertung der Stadt durch Licht, die Nivellierung von Nacht und Tag, Welt und Stadt ist frühestens mit der Kathedrale, spätestens mit der Gasbeleuchtung der Innenstädte diskursives Thema. Mir ist es zu einfach, hier von Fortschritt zu reden, nur weil die Leuchtreklame, wie sie Walter Ruttmann in seinem Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927) sich noch in Schaufenstern und aus Schaufenstern spiegeln sah, die Tages- und Nachtzeiten ununterscheidbar macht und damit ein Moment der Dauer installiert, mit der Zeit schlechthin diskreditiert wird. Es geht doch hier wie sonst um die Durch-, Aus-, und Überblicke, die dem „Schautrieb“22 nicht den Blick verbauen oder enteignen. Die Verführungskraft der Bildschirme ist die kontraphobische Therapie vor dem Hall der freien Plätze. Betreffend der Sicherung des Blicks spricht Lacan, wie Freud, aber auch vor ihm schon E.T.A. Hoffmann und Hugo in der Figur des Archidiakon Frollo von Enteignung des Blicks, härter noch, vom Raub der Augen, von einem trennenden Exorzismus des Körpers und der Dinge. Mit der Trennung von Subjekt und Objekt wandelt das Unheimliche, das Gespenst und die Paranoia als bindungsloses Element durch die Nacht der Stadt. Diese Blickmedien schaffen Gespenster. Das hat Schiller in seinem Romanfragment Die Geisterseher (1789) schon beschrieben. Als therapeutisch drogierte Formen dagegen erscheinen künstlerisch befreite Szenenbilder im Licht der Medienfassaden und Leuchtobjekte. Im Prinzip geht es um eine Umwertung der Nachtseite der Stadt: ihre Geburt. Die Geburt der Ruhrstadt ist Teil der Kompensationsstrategie einer Paranoia, die zwischen der Konstruktion der Wirklichkeit (Illusion) und der Wirklichkeit als Universalisierung diskursiver Differenzen nicht mehr unterscheiden kann, die den Begriff der insignifikaten ‚Landschaft‘ als ‚atmosphärisches Raunen‘ feiert. Kommen wir zum konkreten Semiotisierungswunsch von Roland Barthes zurück. Wer kann heute noch eine gotische Kathedrale lesen, sie also von ihrer touristischen Funktion als Denkmal entbinden? Selbige Frage könnte man für die Funktion der Haldenobjekte stellen: Diese sind Denkmale, die die panoramatische Lesart der Ruhr- und Emscherlandschaft herausfordern. Vom Schreiben auf Papier auf das Schreiben in Stein und Licht zurückzuwechseln heißt offenbar, den Semantisierungsgehalt der Stadt zu schwächen. Das Problem, 22
Jacques Lacan: Namen-des-Vaters. Wien 2006, S.79.
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das nach Barthes Hugo stellt, ist das der Lesbarkeit der Stadt und das der Trennung von Zeichen und Signalen, Kommunikation und Information, wie wir sie in jeder Stadt beobachten können. Benjamin hat in seinen Darstellungen des Flaneurs noch für das Paris des Seconde Empire Lesbarkeit zu retten versucht, indem er die Geschwindigkeiten der Lesung am Gang der Akteure bemaß.23 Barthes Kritik setzt mit der Frage an die Stadtplaner an, wie sie es denn mit der Umsetzung der Semantizität der Stadt halten, oder ob sie nur den Funktionen Orte verschaffen, wie der Kultur eine Kulturzentrum. Offensichtlich ist das wesentliche Vermittlungsinstrument der Stadtplaner, das Modell, respektive die Simulation, nicht geeignet, um Semantizität zu erproben, also Lesbarkeiten zu modellieren. Wir wissen, was institutionell passiert: Die Stadtplaner planen die funktionsgerechte Stadt, während das Stadtmarketing sich um die Semantizität nach außen und nach innen und im Vergleich mit anderen Städten bemüht. Genau das ist die Psychose der Stadt. Sie hat, wenn sie Metropole ist, den Bezug zur Totalisierung verloren – weil es das Außen im urbanen Blick gar nicht mehr gibt. Das Außen wird mit einem medientechnisch hochgerüsteten Innen kontingentiert, sodass allein der Wahn als delirante Form die Ausweglosigkeit diese Szene sichtbar macht. Dieser Wahn ist die urbane Verkehrsform, der städtische Verkehr. „Das Material, das uns in Bezug auf die Stadt von der Psychologie, der Soziologie, der Geographie und der Demographie geliefert wird, lässt sich eben nur deshalb schwer in ein Modell einbringen, weil uns eine letzte Technik fehlt, die der Symbole.“24 Wenn Barthes in seinem Aufsatz nicht nur den Einsatz einer Technik der Symbole, einer Semiografie oder Semiotik, sondern eine Semiologie für erforderlich hält, so halten wir eine Szenologie für erforderlich, um auf eine Differenz der Realität der gebauten Umwelt zu den Medienfassaden der Inszenierungen hinzuweisen, auf das, was zeitlich ist und das, was die Zeit überdauert. Im szenologischen Zusammenhang gilt es eine vergleichende Szenolo23 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, GS Bd. V, Frankfurt am Main 1982, S.524ff. Der Flaneur „tritt die Stadt in ihre dialektischen Pole auseinander. Sie eröffnet sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube.“ (S.525) – Benjamin dürfte nicht zuletzt Proust im Blick haben, der ja sein Hauptwerk verschiedentlich unter das Bild der Konzeption einer Kathedrale gestellt hat. Die Bücher von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sind selbst als Erleuchtungen aus einem dunklen Inneren (Proust Krankheitszustand) zu verstehen. Jetzt ist nicht mehr der Gegensatz von Kathedrale und Buch als ein Gegensatz von Präsenz, sondern als eine Inversion zu verstehen, bei der der Übergang selbst zu leuchten, d.h. Sinn zu stiften beginnt, weil er sich niemals rein erhalten kann. Die auf diese Weise krisishafte Dauer der Aktualität (Situation) macht das Szenische der Szene aus und unterscheidet sie im Modus der ausgehaltenen Zeit vom Bild. Die verlorene Zeit nach Proust ist nicht die Vergangenheit als Erinnerung, sondern das Aushalten können von Präsenz, deren rhetorische Figur die Analogie ist. Der Leser mag entscheiden, ob in dieser Hinsicht der Vergleich von Paris mit den Stätten (!) des Ruhrgebiets so gelungen ist wie der zwischen dem Buch und der Kathedrale. Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 10, Frankfurt am Main 1983, S.4164 und aktuell das Buch von Anita Albus: Im Licht der Finsternis. Über Proust. Frankfurt am Main 2011, das der Konstruktion der Kathedrale im Werk Prousts nachgeht. 24 Barthes, Semiologie und Stadtplanung, a.a.O., S.203.
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gie einzuführen; nachdem die vergleichende Topologie sich den Orten, müssen wir uns den Bewegungen, sprich der Dynamik von, sagen wir es altmodisch, Lebensperspektiven widmen, und zwar inmitten ihrer gebauten Todesabwehr, da sich der Fortschritt selbst in der Abwehr des Genießens kompensiert. Und damit kommen wir auf das Moment der Überschussproduktion, der Fülle, der Inszenierung als Spiel, aber auch der Dekadenz der Metropole zu sprechen: auf das Problem der Implosion der Stadt, der Leere, der Einsamkeit. 2. VOM SYMBOLISCHEN DISKURS ZUR SZENOLOGISCHEN PRAXIS.
Roland Barthes begreift Urbanität nicht als funktionalistischen Mythos, wie er etwa von den 30er bis 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorherrschte – die Orgien der Stadtplanung von Corbusier bis Albert Speer, von den Futuristen bis Stalin sind in ihrer überschießenden Geste bekannt –, sondern als szenischen Diskurs, dessen Beweglichkeit, auch wenn er im Maßstab 1:1 sich modelliert (wie die Kathedrale, die Schachtzeichen, der Goliath oder die Lichtevents), in seiner Mikrostruktur liegt. Er bezieht sich auf die generative Zeit-/Ereignis- und nicht die Raumdimension: „Die Stadt ist eine Sprache.“ Folglich wird über die Metropolisierung diskursiv in jenen Medien entschieden, die nicht funktionslogisch – siehe Stuttgart 21– sondern kollektivierend, Gestalt bildend arbeiten. Vehement fordert Barthes, eine Unterscheidung zwischen Semiotisierung und Semantisierung zu präzisieren. Parallel zum Vortrag von 1967 baute sich, durch Mitscherlich25 gefördert, auch ein Diskurs über die psychologischen, wenn nicht sogar psychoanalytischen ‚Triebstrukturen‘ städtischer Bevölkerung auf, ohne allerdings zu sehen, dass die gebaute Umwelt, die Dinge, die Waren, aber auch die ‚Organe‘ Kompensationsagenten einer illusionären Freiheit der ‚Triebe‘ sind. Zu Recht hat Sartre schon in den 50er Jahren eine Psychoanalyse der Sachen eingefordert. Der Rückbefall der Dinge und der gebauten Umwelt auf die Körper sei eklatant. Die Konstitution der kollektiven Strukturen (orientiert am Paris des 19. Jh.) dekliniert Sartre durch.26 Erst mit dieser Kehre auf die vorgängig situative Gewalt der Stadt kann überhaupt von Mutterstadt und Vaterland, dem Leib der Stadt, ihren Organen, ihren kastrativ-neurotischen Türmen und ihren psychotisierten Plätzen gesprochen werden, ohne dass die Analyse auf dem bloßen Zyklus der Verdrängung (Aufbau und Zerstörung), d.h. auf das metaphorische Vokabular der Kapitalorganisation reduziert wird. Mitscherlich und Barthes fordern – nach Sartres soziologischer Unersuchung – dass die Informations- und 25
Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit der Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Ein Pamphlet. *1965. 26 Jean Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Reinbek 1980.
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Funktionseinheiten der Stadt kommunikativ offengelegt werden. Was hätte das für Wirkungen, wenn man, wie im linguistic turn, erkennen würde, dass es die retardierende Wirkung des Mangels an Sein, des fehlenden Signifikanten ist, die den Betrieb der Stadt ausmachen, und nicht die idealen Subjekte, die ihre Planungshoheit behaupteten? Semiologie zeigt sich dann unter diesem Blickwinkel als Agent der urbanen Ideologie par excellence. Anders liegt ein Vorteil szenologischer Untersuchungen darin, die Übertragung von Stadtkörper und Menschenkörper als Pragmatik des Begehrens und des Genießens zu konkretisieren: Profan gesagt, es ist nicht der (freudianische) Familialismus, sondern der Urbanismus, der den Austausch zwischen den Dingen und den Menschen regelt, und zwar als Kontingentierung des Pragmatischen: den Medien, zu denen auch die Infrastruktur der Stadt gehört. Die Eigenschaften des Unscharfen, Atmosphärischen, Nichtdiskreten können dann einem ganz konkreten Wunsch nach einem phänomenologischen Raum Ausdruck geben, der dem Blickraum konträr ist, aber noch nicht semantischer Raum ist.27 „Das Problem besteht allerdings darin, einen Ausdruck wie ‚Sprache der Stadt‘ aus dem rein metaphorischen Stadium herauszuführen.“28 Die Überführung eines Schauraums in einen semantischen Raum besteht darin, die Metaphern und Bilder innerhalb der Zeiten und Perioden der Stadt ins Gleiten zu bringen, sie experimentell zu medialisieren. Erst wenn, entgegen Barthes, die Metapher selbst als ‚Ornament des Urbanismus‘ goutiert wird, wird auch die Semiologie zum „Abenteuer“. Ihr Gegenstand ist nicht mehr das Zeichen, sondern die Sprache. Für die Szenologie setzen wir genau diese Wendung von einer zeichenhaften Diskretion und Arbitrarität in eine situative, szenische Medieninkontingenz voraus. Szenografen sollen in erster Linie Situationen schaffen, in denen sich Krisen ausdrücken und nicht in denen sie verdrängt werden. Zur Analyse von Situationen bieten sich sowohl phänomenologische, existentielle, als auch existential-psychoanalytische (eher Begriffe Melanie Kleins oder Winnicotts als freudianische) Begriffe und Theorien an. Die Semiologie und die ‚Entmetaphorisierung‘, die ein Versuch war, der Stadt einen Plan zu unterlegen, kann nicht zugleich einen Blick auf diese sich ihm entziehenden Spontaneitäten werfen. Funktionspläne können nicht szenisch sein. Baudrillard hat gegen Barthes in seiner ideologiekritischen Darstellung der Semiologie in diese Richtung gezielt: Die Durchdringung und Indifferenzierung der Sphären von Produktion und Konsumation, von Arbeit und Genießen, wie sie etwa in Bereichen des Sports oder der Schönheitsindustrie auf den Körper einwirken, zeigen, wie sich die urbane Dialektik von Auf- und Abbau in Selbstwidersprüche verstrickt. Die Festlegung auf den Signifikanten 27 28
Die abstrakte Topologie liefert schon C.F. Friedrich in seinem Bild Die gescheiterte Hoffnung. Barthes, Semiologie und Stadtplanung, a.a.O., S.202f.
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oder die Lacansche Funktion des Namen-des-Vaters, der in der Beherrschung der Mutterstadt die entscheidende Ordnungsfunktion sein sollte, liefen in die Falle eines „Fetischismus des Signifikanten“, der es nicht erlaubt, den „wirklichen ideologischen Arbeitsprozeß zu analysieren.“29 In Bezug auf die Stadt sind die nicht mehr gebauten Membranen der Transformation zwischen Abriss und Aufbau in ihrer inneren Begründung zu reflektieren: ihre Musealität, die heute von ebenso großem Wert sein kann, wie die Setzungen von Avantgardearchitektur. Die Musealisierung einer Industriekultur im nach Norden wandernden Bergbau des Ruhrgebiets, bringt eine neue Synthesis der Stadt hervor, an deren Ende nicht ihre vollständige Vermarktung steht, aber die Richtung auch nicht mehr vom ‚Fortschritt‘ diktiert wird. Es gibt im Körper der Stadt eine andere Paradigmatik als im Körper ihrer Technisierung. Man muss näher auf den Symbolbegriff von Barthes im Gegensatz zum Simulationsbegriff von Baudrillard eingehen. Denn auch Baudrillard unterscheidet zwischen einer „semiologischen Organisation“ und einer „symbolischen Funktion“, deren geheime Faszination darin besteht, den „eigentlichen ideologischen Prozeß“ der semiologischen Reduktion mit ihrem unverholenen „Universalitätsanspruch“30 zu erkennen, demgemäß der Signifikant das Signifikat beherrscht. Dagegen steht ein Phänomen, das für den auf nicht semiologische Differentialität begründeten Anspruch szenografischer Ereignisse mit ihrem Atmosphärencharakter bezeichnend ist – ganz abgesehen davon gibt es ein Recht, die Szenografie als eine Ware zu betrachten, die man bestellen kann, aber deren Effekte vor allem im öffentlichen Raum entweder nicht zu kontrollieren sind, oder gar auf die Nichtregularität des Spiels abzielen – um sie freilich dann wieder im Gerede über Kreativität abzubinden und der Ökonomie einzuverleiben. Der Effekt szenografischer Ereignisse (gerade, wenn sie als unplanbar geplant sind) besteht darin, die Genesis und Ökonomie selbst als eine Form zu begreifen, die auch anders ablaufen und abbinden kann.31 Über die Diskursform des Geredes und des Gerüchts wird noch zu handeln sein. Es geht demnach in der Stadtplanung genau um diese Episode des Kontroll- und Planungsverlustes, deren Handhabung in inszenatorischen Spielräumen simuliert wird. Nicht mehr die Analyse der Differentiation, sondern das Oszillieren zwischen dem kontingenten und dem inkontingenten Spiel der Mediationen und ihrer technischen Verdeckungen bildet das Faszinosum. Faszinosum auf Grund der Tatsache, dass die technische Realität in ihrer vor allem elektronischen Mikroorganisation sich 29 Jean Baudrillard: Fetischismus und Ideologie: Die semiologische Reduktion. In: Objekte des Fetischismus.
Hg. Jean-Bertrand Pontalis, Frankfurt am Main 1972, S.317, S.316. Ebd., S.327, S.329. 31Robert Musil hat das in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften durchzuführen versucht, und zwar im Versuch der Planbarkeit eines konkurrierenden Thronjubiläums, der sogenannten „Parallelaktion“. Vgl. Ralf Bohn: Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens in der Philosophie Robert Musils. Würzburg 1988. 30
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jeder differentiellen Analyse verschließt. „Was uns fasziniert, ist stets das, was uns durch seine Logik oder seine innere Perfektion radikal ausschließt: eine mathematische Formel, ein paranoisches System, eine Steinwüste, ein nutzloser Gegenstand [...]“.32 Und wo anders wäre das „uns“ fassbar als im Verhalten der Masse einer Stadt. Baron Haussmann hat das ebenso gewusst wie Poe, Baudelaire, Musil, Döblin, die ihre Dramaturgie in die Unkontrolliertheit der Stadt und der Menge einschrieben. Topologisch ausgedrückt: Während die Stadt in ihren Verdichtungszentren in die vertikale wuchs (das Ruhrgebiet in die Tiefe des Untergrundes), wandern die verdichteten Massen in die Welten der symbolischen, kommunikativen, informativen Beziehungen. Sie sind sich so nah gekommen, dass sie sich nicht mehr sehen können, und beginnen sich in Illusionen zu flüchten, was sie aber in einer Art Wahn für kommunikative Errungenschaften einer neuen, uns ‚annähernden‘ Medientechnik halten. Zwischen dieser illusionären Raumverdrängung und den verflachenden ‚Bildschirmattraktionen‘, mit ihrem ‚Geheimnis hinter dem Spiegel‘, spielen die szenografischen Techniken ihr Spiel. Was also ist symbolisch gewonnen zwischen dem Boulevard, seinem Panorama und seiner Fassadenbespielung, außer dass die Kontinuität des technischen Fortschritts als die Dominante matriarchalischer Einschreibung die Männer verschlingt, wie der deutsche Wiederaufbau die Bismarck-Denkmale? Schon für Victor Hugo gilt festzustellen, dass zu seiner Zeit nicht die Literatur, sondern das Theater und die Presse den Boulevard beherrschen, und die sind nicht an Archivarien, Dauer und Verlässlichket interessiert.33 Ihr symbolischer Gerinnungskoeffizient ist marginal. Die lesbare Stadt verschwindet. An diesen Membranen der Indifferenz von Produktion und Konsumation kristallisieren sich jedoch erneut leitmediale Räume aus, die sich gegenseitig wieder zunächst metaphorisch befruchten. Mit den Panoramen der Boulevards des Paris vor dem Seconde Empire treten auch anderswo Passagen und Galerien auf. Diese verlieren dann nach wenigen Jahrzehnten an Attraktivität, durch die Spekulationen der Immobilienfonds, denen es eben nicht um die Immobilie, sondern den immobilen Umsatz geht, wie Aragon beschreibt. Nach den Panoramen, den Passagen und Galerien findet die metaphorische Befruchtung fast noch noch im Bilde der Ware statt. Der barocke point de vue, eine Erfindung eines der Väter moderner Szenografie, André le Notre, bedient sich ihrer in Versailles, um die Macht des Königs über den Blick, den Raub der Augen zu rechtfertigen. Die Metapher ist kein Bild, sondern eine Schau. 32
Ebd., S.326.
33 Vgl. das ‚Boulevardtheater‘ als Bühne der Aktualitäten im Gegensatz zum klassischen Stadttheater.
Mit Jules Verne teilen alle bürgerlichen Romanciers im 19. Jh. den Wunsch, im Theater zu reüssieren und damit die Situationen des Boulevards mit der aktuellen politischen Kritik zu beherrschen. Bei Zola verschiebt sich das Interesse schon deutlich zu Gunsten des Journalismus.
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Barthes bleibt dabei: Es fehlt uns eine Technik der Symbole, wie sie etwa die Sprache des Films geschaffen hat, in der die Professionalisierung wie in der Kathedrale eine Entmetaphorisierung einleitet. Tatsächlich aber ist es gerade der Verlust des technischen Paradigmas, der die Stadt erblühen lässt. Laura Frahm hat in ihrer Studie Zur filmischen Topologie des Urbanen34 gezeigt, dass der literarischen Topologie des 19. Jh. im 20. Jh. die kinematografische entspricht. Steht dann im 21. Jh. die szenografische Qualifizierung von Urbanität (wieder) in Aussicht? Wie wandelt sich die Lesart: vom geschichtlichen Ort der Geschichten zum Ort der Bewegung, des Verkehrs und des Austauschs, hin zu einem Ort der Simulation und Dissimulation funktionaler Techniken der Szenografie? Wann entkoppeln sich, so Adornos Gebet, endlich Technik und Geschichte? Nicht dass etwas gegen die zeitlich begrenzte Besetzung eines Territoriums spräche, insbesondere dann, wenn das Event sein Territorium selbst miterschafft – und darin liegt der besondere Reiz etwa von Streetart und Straßentheater –, es ist auf den Unterschied zwischen A(d)vent und Event, zwischen ‚sichereignen‘ (Situation) und ‚etwas-sich-ereignen-lassen‘ (Szenografie) zu verweisen. Dieser Unterschied ist für die Verführungskraft der Symbolbildung fundamental. Hier wird nämlich entschieden, ob die Ursprungsanmaßung wahnhaft – wie im Germanenkult der Reichsgründungen 1871/1933 – oder zwanghaft, – wie in der technischen Obsession Kaiser Wilhelms – und damit der ‚Gründung der Industrieregion Ruhr‘, vollzogen wird. Ereignis oder Geschichte – wie werden die Vaterschaftsansprüche inszeniert, die nicht narzisstisch an sich selbst vollzogen werden können, nicht einmal im Narzissmuss künstlerischer Kreativität? Es handelt sich in der Tat jeweils um Verführungsphänomene. Unter advent, adventure, aventure, Abenteuer versteht man das unerwartete Auftauchen einer kritischen Situation, die der Abenteurer herausfordert, unter Event – evenire –, das angekündigte ‚Heraustreten‘ eines Ereignisses aus einer beliebigen Situation. Herausforderung und Verführung bedingen einander.35 Wenn es stimmt, dass, nach Baudrillard, das Zeichen seinen Wert auf dem Feld der Bedeutungslosigkeit gewinnt, dadurch dass es sich nicht z.B. historisch oder genealogisch mit dem Mutterkörper verbindet und filialisiert, lässt das den Schluss zu, dass es im Abenteuer der Stadt darum geht, die Eroberung eines Territoriums nicht gelingen zu lassen, da das Abenteuer auf den Aufschub setzt. Der Abenteurer gewinnt auf diese Weise Zeit und hortet Opfersubstanz. In dem Maße aber, wie der Held in der Moderne verschwindet, wird das Territorium der Stadt zu einem Objekt der Spekulation. 34
Laura Frahm: Jenseits des Raumes. Zur filmischen Topologie des Urbanen. Bielefeld 2010. Jean Baudrillard: Von der Verführung. München 1992, S.17: Die emanzipatorischen Frauen, die sich ihres Körpers schämen, „begreifen nicht, dass die Verführung die Beherrschung des symbolischen Universums repräsentiert, während die Macht lediglich die Beherrschung des realen Universums repräsentiert. Die Souveränität der Verführung kann mit dem Innehaben politischer oder sexueller Macht nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden.“
35
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Die Stadt wird nicht mehr von Kathedralbaumeistern und vorbeiziehenden Königssöhnen frequentiert, sondern von den literarischen Inszenierungen des Abenteuerromans des 19. Jh. dominiert. Wählen wir z.B. Jules Verne und seinen Robinson Crusoe, die alte Metapher des Abenteurers: Es geht um die Disziplinierung des Wilden auf einem verlassenen Eiland – dem Gegenort der Stadt. Der Vergleich zwischen Zivilisation und Barbarei, der den Imperialismus so affektiert, ist ein Effekt der abenteuerlichen Erkundungsreisen auf den Weltmeeren, der Betrachtung eines durchaus auch im Sklavenhandel in London oder New York zu beobachtenden anthropologischen Interesses. Nur, erst unter dem fremden Blick, dem der Antizipation des Anderen, dem des gestrandeten Crusoe, kann der Vergleich sinnvoll und bedeutsam sein. Diese humanistische Befruchtung ist dem Abenteuerroman wesentlich. Bei Verne geht es dabei nicht um die Stellung von Herr und Barbar, sondern vor allem um Ingenieur-Genie und Gebrauchspragmatik etwa in Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer (1874), um ein experimentelles Abenteuer, das, so schließen wir auf Barthes zurück, der „Simulation“ und dem „Modell“ der Architektur in symbolischer Hinsicht überlegen ist, also um eine theatralische, szenische Gebärde, deren romanesker Ausweis darin besteht, dass die Helden von ihren Abenteuern vor allem mit einem reichhaltigen Schatz von Erzählungen quasi aus der Zukunft einer nicht zu bewältigenden Illusion zurückkehren können und kleine Jungen anstiften, es ihnen gleichzutun. Die Kraft des Abenteuerromans besteht nicht in der symbolischen Festschreibung, sondern in der Verführung zur die Normalzeit überschreitenden und umkehrenden Tat, denn alle diese Helden der Romane haben ihr Opfer nicht vollzogen: Sie sind in die Heimat (aus der Zukunft – wie noch Hugo aus der simulierten Vergangenheit) zurückgekehrt – nicht ein Siegfried ist unter diesen Helden zu finden. Mit dem Abenteuerroman ist – im Gegensatz zum narrativ unterbelichteten Event – Imitatio mit Simulatio verbunden. Erst unter den Aspekten Herausforderung und Verführung als Effekte der genealogischen Verdrängung der Verdichtung der Stadt wandern nun die Ursprungsideologien aus der Reihe der Zeit und werden zu im Roman unverdächtigen Psychosen – bzw. ist der Abenteuerroman die professionell inszenierte Szene der Nichtentscheidbarkeit von Vaterschaftsansprüchen in einer Gesellschaft der Aktualität, Gleichzeitigkeit und Events, in der ein Baron Haussmann anders als die vertriebenen Bewohner des alten Paris, opferlos Herrschaft ausüben kann. Konsequent verlangt das Spiel mit der Zeit eine Rettung im Raum, genauer, die globale Simulation eines durch alle Bildschirme hindurch als Wirklichkeit mit der Realität verbundenen globalen Raumes, d.h. dessen Implosion, einen Crusoe der Stadt, der nicht mehr auf eine Insel verschlagen wird, sondern sich in der Suche nach dem Anderen seiner Vernunft, seine Zeit in der Insel der
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Stadt vergeudet. Denn der Raum implodiert, wenn es keinen inneren Opferraum mehr gibt, keine Membran, an dem er sich halten kann.36 Nun liegt die Pointe der Überlegungen von Barthes darin, dass es genau dieses Fehlen einer „Technik des Symbolischen“, der simulativen Selbstrepräsentation von Realisierungszwängen ist, die einer Stadt ihre urban-suchende Unruhe verleiht. Und zwar dadurch, dass die urbane Bewegung jedes Außenbild abwehrt, indem sie es ‚fürsorglich‘ absorbiert und als Randerscheinung – siehe die Banlieue der Metropole Paris – dann binnensystemisch selbst verdrängt, um es den Blicken nicht zugänglich zu machen. Die sozialfürsorgliche Stadt kompensiert den Gegenraum des Opfers. Barthes geht, anders als 1970 Lefèbvre, davon aus, dass die Stadt noch ein lokalisierbarer Ort ist, der von Urbanität als nicht technischer Kategorie unterschieden werden muss, was sie natürlich immer wieder in den Vergleich mit den osmotischen Organen des menschlichen Körpers zwingt. Jetzt gibt es natürlich noch Dörfer und Weiler, die keine Stadt sind, dennoch sind diese urbanisiert. Die Idee der Stadt liegt darin, Labor und Experiment zu sein, in denen sich die Szenografien gerade deswegen Freiheiten erlauben können, weil sie, nach der Logik des Theaters, keine ‚wirklichen‘ Opfer erzeugen, und wenn das dann doch passiert, wie im Falle der Loveparade in Duisburg, will von Inszenierung nicht mehr gesprochen werden. Das ist Ausdruck der Tatsache, dass kaum noch Schuldoptionen zwischen Produktion und Konsumation ausweisbar sind, wie eben in der Katastrophe der Loveparade, die in ihrer umfassenden, multikulturellen Umarmung den Anderen als Anderen nicht gelten lässt. Insbesondere die Produktionsopfer (d.h. natürlich die Phasen, in denen wir alle Opfer geben) werden systematisch hinwegdesignt oder künstlerisch, politisch, ökologisch recycelt. Die Opfer werden aber nicht mehr auf dem Boden der Stadt, sondern auf dem Boden der Nation beerdigt. Alles, was nur im entfernten an Arbeit gemahnt, wird jenseits der Banlieue gedrängt. Die Stadt kann ihre eigene simulative Versuchstation nicht topografisch rückgängig machen, so wie der Abenteurer ohne größere Schäden in seine Heimat zurückkehrt, selbst wenn, wie Fileas Fogg, der in 80 Tagen um die Welt gereist ist, das Abenteuer sich in einen opferverdrängenden Zeitgewinn verwandelt. Das macht natürlich jedes literarische Abenteuer unkalkulierbar. Die bürgerlichen Romane des 19. Jh. werden nicht mehr ingeniös, sondern technisch geschrieben, ja, wie bei Balzac als Scènes, fabrikmäßig, bei Zola wissenschaftlich erstellt. Der Roman – die menschliche Komödie – fungiert als objektivierte Psychosenabwehr der Selbstabschließungstendenzen der gesellschaftlichen Gruppen. Ist das 36 Klinisch ist die Katatonie die Klimax der Psychose, insofern ein Ausweis der Psychose darin besteht,
dass der Psychotiker eine Ding-Körper-Fusion anstrebt, die es ihm erlaubt, sein eigener Ursprung zu sein, mit einem entsprechenden Ausfall der abständigen Symbolfunktion. Vgl. Rudolf Heinz: Körperding/Dingkörper. Einige psychosentheoretische Anregungen. In: Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose im Spiegel der Zeit. Hrsg. Rudolf Heinz, Dietmar Kamper, Ulrich Sonnemann, Berlin 1993, S.75.
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Bild der Stadt im Film, der nach Meinung von Laura Frahm den Roman beerbt, anders? Verfängt hier die therapeutische Weltreise, die in Voltaires Candide am Ende aller Abenteuer sich genügsam am eigenen Garten erfreut? Offenbar ist der Film, der zu einem Begleiter des Lebens geworden ist und sich nur noch selten in Kinoräumen abschirmt, eher der Medienprotagonist einer paranoischen Eifersucht: dass man nicht in der wirklichen Realität und in der inszenierten zugleich sein kann. Der Film ist durch und durch ein industrielles Produkt, das sich mit der Realität technisch zu verschmelzen sucht. Playtime (dt. Tatis herrliche Zeiten, 1967) von Jacques Tati ist in gewisser Weise der architektonische Endpunkt einer Erfassung von Gegenwirklichkeit. Seit dem Ende der 70er Jahre (Tron; Steven Lisberger, 1982) geht es nicht mehr um Wirklichkeiten, sondern um Effekte und Affekte, also technisch erzeugte Emotionalität, die den Verschluss von Genuss und Arbeit, von Witz und Dauer, von Event und Leben protegieren. In einem Vorwort zu Laura Frahms Jenseits des Raums schreibt Lorenz Engell: „Dieser privilegierte Gegenstand, an dem der Film seine topologischen Operationen ausführt wie an sich selbst, ist die moderne Metropole. Die Thematik des Städtischen ist es, die dem Film zum ausgelagerten Objekt wird, in dem der Film seine eigenen Verfahren in einem filmisch beschreibbaren Raum hinein verlagert.“37 Im Geltungsbereich dieser Argumentation wird das Medienereignis zur Fremdansicht der Selbstansicht mit einem bestimmten, wenigstens den Mainstream des Films betreffenden Tenor: Der Film erlaubt die Verwandlung der heterogenen Prozesse und Schicksale des Lebens in eine narrative Leitbildlichkeit, die, wie der Roman des 19.Jh., auf die sich später die Drehbücher der Filme beziehen, in sich geschlossen ist, nämlich dem Held oder der Heldin in der Regel die Rückkehr zur Ausgangssituation gestattet, wie das Kino selbst. Im Film ist die Montage kristallin erstarrt, wie das Panorama der Stadt. Soll man also die Stadt dem Film oder den Film der Stadt anpassen? Dazu gibt es die entsprechenden Schablonen, von Metropolis (Fritz Lang, 1926) bis Asphalt (Joe May, 1929), von Nosferatu (Friedrich Wilhelm Murnau, 1922) bis Sunrise (Friedrich Wilhem Murnau, 1927) und Manhattan (Woody Allen, 1979). Der Film ist in der Regel eine Kunst, die narrative Distanz – wie heißt es bei Hugo emblematisch „anakä“ – zur Unberechenbarkeit des Schicksals aufrecht zu halten, dessen Leitbild der „Verkehrsunfall“ ist.38 Damit die Differenz von Raum als Beziehung von Dingen sich in die urbane Dialektik von Ordnung und Dynamik verwandelt, muss die Durchdringung von realem und virtuellem Leben selbst experimentell dissoziiert werden und müssen die urbanen Techniken selbst zum 37 38
Frahm, Jenseits des Raums, a.a.O., S.10. Siehe auch hier das Einleitungskapitel zur Musils Der Mann ohne Eigenschaften.
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verführerischen Geheimnis werden, indem sie ein Mindestmaß an Vertrauensspielräumen schaffen, d.h. Inszenierungswillen vorgeben. Kollisionen der Züchtung von Fremdheit im Versuchslabor Stadt werden allegorisch paraphrasiert. Der Film hat für die inzüchtige Signifikantenverweisung von Städten das Bild des verführerischen Vamps und das der Prostituierten entworfen, in der jede männliche Genealogie dem Untergang geweiht ist. Z.B. sieht man das an dem Stereotyp des Frauenbildes in Murnaus Sunrise. Hier geht es um eine Differenz von amerikanischem Land- und Stadtleben. Der treuen Hausfrau und Mutter des Landlebens entspricht der verführerische Vamp der Stadt. Dazwischen spielt sich der Verkehr entsprechend der Gliederung Stadt – Land – Fluss ab. Murnaus Propädeutik der Stadt als Ort der Verführung und des Landes als dem der Herausforderung meint nicht nur die Entfremdung der Geschlechtsrollen, sondern, nach einer Definition von Baudrillard: den anderen sich selbst fremd machen. Verführung heißt Selbstentfremdung, also Inversion des Blicks-auf-den-Ursprung. „Jede Struktur verträgt die Inversion oder die Subversion ihrer Begriffe, nicht jedoch deren Reversion. Die Verführung stellt diese reversible Form dar.“39 Kein Wunder, dass die Verführung weiblich ist, wie die Stadt, dass aber dieses Weibliche als transversale Kategorie der Entmachtung der Ursprünglichkeit und der Zeit jeder Geschlechtlichkeit und jedes sexuellen Aspekts beraubt ist, sobald die Stadt die Liberalität einer urbanen Kategorie annimmt. Die Mediengadgets, die uns verführen, schanzen uns die Rolle der männlichen Abenteurer, in der wir selbst uns als Waren fühlen dürfen, zu. Bei einem Filmkünstler wie Murnau, mit seiner gebrochenen Biografie, liegt das Befremdende darin, dass er noch für die Landpartie wirbt und damit die europäische Vorstellung von Glück gegen die amerikanische der Großstadt ins Verhältnis setzt. Gerade der Herausforderung der wilden Natur entkommen, wird der amerikanische Held vom Vamp verführt. Im Film Asphalt von Joe May, der in Berlin spielt, ist nicht die Rückkehr zur Landfrau, sondern die Transformation des Vamps in eine Hausfrau der entscheidende Akt der Zähmung und der Restauration des Patriarchats. Der Plot der doppelten Differenzanalyse von Murnau in Sunrise gipfelt in der Nachstellung der ersten Hochzeit der Protagonisten, in einer inszenierten zweiten, auf der Bühne der Stadt. Dies ist eine eindeutig neurotische Szene, die Murnau entsprechend im Delirium des großstädtischen Verkehrs andeutet. Mann kann also wählen: die Frau oder die Stadt. Die Frau beherrscht den Mann: Verführung statt Herausforderung. Für den Zeitraffer der amerikanischen Stadtgründungen im Abenteuer des ‚Go west!‘ ist das Thema des entmachteten Helden noch bis zum späten Fritz Lang zentral. Wenn das Verhältnis von Städten in erster Linie das von Konkurrenten ist, hat es die Metropole in ihrem Herrschaftsanspruch über das Umland 39
Baudrillard, Von der Verführung, a.a.O., S.35.
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geschafft, diese Differenzen in sich selbst zu erzeugen und lebendig zu halten. Es sind nicht mehr die transzendenten, sondern die immanenten Inszenierungen, die verführerische Selbstbegründung durch Entfremdung leisten. Das geschieht einerseits durch die Masse, andererseits durch die Theatralität der Stadt. In Metropolis spielen beide Phänomene eine tragende Rolle, ja, sie teilen geradezu die Stadt auf allen Ebenen des Diskurses von „Herz und Hand“. Die Position des Mittlers wird nicht durch die Obsession des technikbesessenen (‚amerikanisierten‘) Vaters, sondern durch die Vermittlung des Sohnes eingenommen. Steht nämlich die Technik für den Realitätszwang als Protoform einer phantasmagorierten, idealen Vermittlung und wahrt damit die dominante Lesart der Stadt als einer Funktionseinheit, so bringt der Sohn ganz ödipal ein Zugeständnis ein, dass in dem Drehbuch von Thea von Harbou einen ziemlich romantizistischen Nachklang hat und nicht wirklich filmisch inszeniert ist, nämlich die handreichende Geste der ‚Versöhnung‘ als Form genealogischer Restauration. Die Gewaltpositionen gehen in dieser performativen Handreichung nicht einfach auf. Die Versöhnung geschieht, wenn auch vor einer Kathedrale (!), doch nur in der Technik, die Mann und Frau enthierarchisiert, sich selbst zum opferheischenden Vater/Gott emporschwingt. Wir leben nicht in der Stadt, wir leben in der Technik, d.h. im Zwang der Realisierungen und im Ausbruch der Illusionen davon. Diese Perversion der Versöhnung, die ein ‚Zeichen setzen‘ will, gibt einen Hinweis auf einen aktuellen Konflikt, den Barthes im Zeichen selbst, Baudrillard in dessen untergegangener performativer Komponente rehabilitieren will. Städte werden nur noch nach fotografischen Blickereignissen als enthierarchisierte Orte der Versöhnung zugerichtet. Wie in der Schlussszene zu Metropolis steht die Stadt für den Moment der Versöhnung (vor der Kamera und den Blicken) still und starr: „Die Stadt als gebautes Bild“40, sieht ihre eigene utopische Unmöglichkeit: ihre katatone Stillstellung, Selbstansicht des psychotischen Finales. Sie hört in diesem sich für Andere bestimmenden Moment auf, Stadt zu sein. Der fotografische Blick steht als Medium im Stadtmarketing an erster Stelle: Wenn die Stadt beginnt sich nur noch um sich selbst zu bewegen, gerät sie in einen inzüchtigen Zirkel, aus dem die Durcharbeitung des verlorenen/abgewehrten Ursprungs nicht mehr in eine entmetaphorisierte Sprache führt. Der diskursive Druck einer fehlenden Signifikation wird zunehmend als fehlendes Bild, Logo oder Etikett einer Stadt empfunden: Das ist ein touristisches Argument, nämlich das des Wunsches nach einem neuen Abenteurer-Nomaden. Mit dem Einnahmedruck des „Städtetourismus“ steigt „auch der Inszenierungsdruck für Städte“.41 Die Stadt ist im Stadtmarketing selbst der verführte Ort. 40 41
Löw, Soziologie der Städte, a.a.O., S.148f. Ebd., S.120.
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Kommen wir zum Schluss dieses Abschnittes auf die relative Stillstellung des Signifikats der Stadt in Bildmedien und auf die Vorschläge von Roland Barthes betreffend der Technik(en) der Symbolisierung zurück. 1967, als Barthes seinen Aufsatz schreibt, gibt es noch nicht so etwas wie eine Funktionsgeschichte der Medien. Wie bei allen wissenschaftlichen Realisierungen, die vorschnell als technische Geräte die Labore verlassen, geht man (wie Hugos Frollo) davon aus, dass sich Medien historisch verdrängen, ohne dass man den Prozess der Renormierung des Selbst- und Fremdbildes in einem jeweils anderen (neueren) Medium begreift – wenigstens nicht anders als in einer darwinistischen Ökonomie oder in einem klappernden Ödipus. Kurz, man hat, so Lukács noch 1962 in einem Vorwort zu seinem Text von 1915, keine geschichtsmaterialistische Vorstellung von der narzisstischen Mikrostruktur des urbanen Menschen entwickelt.42 Es existiert mit Marx zwar eine Analyse der Ökonomie, aber keine des Begehrens in der Situativität der Ursprungsvorgängigkeit des Dings, respektive der gebauten Umwelt, es existiert(e) keine Analyse des illusionären Genießens, in dem ich und die Stadt als Ort der Heimat identisch sind, indem ich die Stadt bewohne. Das Wohnen als In-der-Welt-sein ist aber eine Symbiose eigener Art, nämlich das Selbstbewusstsein als Transzendierung. Gerade aber die dialektischen Opponenten von Arbeit und Genuss verleihen dem urbanen Ort seine ungewohnte Dynamik: Das Nachtleben, die Ausschweifungen, das Pulsieren des lebendigen Körpers der Stadt, in dem sich die Masse wiegt, das haben die Urbanistiker ebensowenig im Blick wie die transzendierung des Selbstbewusstseins. Statt dessen fetischisieren die Planer die „30 Funktionen“, die nach Barthes die Urbanistiker der 60er Jahre mit ihrem Bild von der idealen Stadt ausweisen, das dann perverserweise das Bild einer utopischen Stadt des Genusses sein soll. Barthes macht in seinem Aufsatz drei Vorschläge, um diese Technik der Symbolisierung für eine Planung der Stadt zu entzaubern. Erstens empfiehlt er, den Begriff der strukturalen Leerstelle für eine Stadt wörtlich zu nehmen. Es gilt den agoraphilen Ort der omphalozentrischen Szene eigens zu schaffen. Damit soll erreicht werden, dass die Leere zum öffentlichen Ort der Projektion von Semantizität wird und nicht z.B. Ort für Hochhäuser mit ihren wechselseitigen Selbstbespiegelungsfassaden. Von diesen Dekomprimierungstendenzen profitiert der Ballungsraum des Ruhrgebiets erheblich. Weniger als in anderen Städten macht sich im Ruhrgebiet das Opfer von Raum geltend. Zweitens empfiehlt er, im Sinne von Benjamin und Hugo, den Benutzer einer Stadt als Leser, nicht als utilitaristischen Sachbearbeiter zu modulieren, d.h. der Stadtbewohner soll in die Lage versetzt werden, seine eigenen Narrative zu produzieren (sich selbst als Narrator zu erleben) – was die Einseitigkeit 42
Lukács, Die Theorie des Romans, a.a.O.
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einer ‚Kreativstadt‘ im kommerziellen Sinn offenbart. Selbstinszenierung, nicht Fremdinszenierung sei zu wagen. Man weist den Bürger an, sich aufzuklären oder sich irritieren zu lassen – als wäre die Pädagogisierung des Kindes die Kernkompetenz der Mutter Stadt. Und drittens hebt Barthes hervor, dass man davon Abstand nehmen solle, die Suche nach einem Signifikat ‚Stadt‘ zu erzwingen, da die Verhältnisbestimmung von Signifikat und Signifikant die Lebendigkeit des Austauschs von Öffentlichkeit und Privatheit zunehmend kanalisiert und institutionalisiert. Das heißt aber auch, die deiktischen Signalorgien etwa des Verkehrs sollen sich als Lesbarkeitsspielräume entfalten. Etwa so, wie Jacques Lacan die Meinung vertrat, die Ampeln auf den Pariser Straßen seien als Empfehlungen zu verstehen.43 Wer sich den Verkehr am Place de Etoilé ansieht, weiß, dass das funktionieren kann. In Rom gilt Augenkontakt als oberstes Gebot im Straßenverkehr, in einigen kleineren Orten werden versuchsweise sämtliche Verkehrsschilder und Ampeln demontiert, damit der Verkehr besser fließt.44 Die semantische Hoheit einer Stadt dem Einzelnen zu überlassen, hat einen wichtigen Effekt, nämlich den der Erotisierung einer Stadt. Das erotische Spiel einer Stadt wird im Anziehungs- und Abstoßungscharakter z.B. von Zentrum und Peripherie deutlich, wie sie etwa in Paris, aber auch in der polyzentrischen Organisation von Tokio möglich ist. Im Ruhrgebiet ist umgekehrt eher von einer erotischen Anziehung der Ränder, der Parks, der Brachflächen und der untergegangenen Industriekultur zu reden, was durch das Konsumdisneyland Centro (Nomen est Omen) aber aufgewogen wird. Erotisierung heißt auch eine für Polizeiorgane stets verdächtige territoriale Auflösung von Öffentlichkeit und Privatheit. Es stellt sich wiederum die Frage nach dem Gründungsmythos der Stadt, der Disziplinierung der Naturgewalten, der, wir werden es gleich an Athen und Rom zeigen, ein Mythos der brüderlichen Gewalten ist – und keinesfalls der Ort des Vatermordes. Barthes sieht den wesentlichen, einem expansiven Mikroimperialismus geschuldeten Fehler der Stadtplanung darin, Urbanität mit Masse, Massenkontrolle oder der Qualität der großen Zahl zu verwechseln, statt dass der Verwandlung von dialektischer Bewegung in semantisch-transzendiere Bewegung bei der Repräsentation von Urbanität die zentrale Rolle zugewiesen wird. Repräsentation von Urbanität, wie sie im kritischen Naturalismus der Romane von Zola zum Ausdruck kommt, ist etwas anderes als Imagebildung oder Stadtplanung. Wie das geht, machen die drei von Barthes genannten Inszenierungsregeln einsichtig. 43 Siehe Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Köln 1996. 44 Dazu gibt es zahlreiche Experimente. Stolberg im Harz etwa hat die Stadt zur Tempo-dreißig-Zone erklärt. Es gilt die Regel Rechts vor Links, und es werden zunehmend Kreisverkehre eingerichtet. Auch beim Parken gilt: Erlaubt ist es dort, wo das Auto nicht behindert.
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„Deshalb sage ich,“ so Barthes, „die Hauptsache ist nicht so sehr die Anhäufung von funktionellen Untersuchungen und Studien über die Stadt, als vielmehr die Anhäufungen von Lektüren der Stadt, für die uns bisher leider nur die Schriftsteller einige Beispiel geliefert haben.“45 Ist der Szenograf der Schriftsteller der Stadt des 21. Jh.? Ist es die Aufgabe des Szenografen, Gedichte zu schaffen, in denen man spazieren gehen kann, und keine Denkmäler? Dieser Gedanke setzt voraus, dass es Szenen gibt, die in Narrativen sich transzendieren. Solche Schlüsselszenen der ‚Transzendierung der Dialektiken‘ sind als Gründungsmythen von Metropolen zunächst syndromisch, indem sie revers die Zukunft der Stadt durch die nachträgliche Stiftung der widerstreitenden Stätten akzeptieren und legitimieren. Erst auf einer dritten Stufe nach der dialektischen Differenz und der transzendierenden Mediation kann eine ökologische Interdependenz der Stadt als sozialer Ort der Integration von (opferloser) Zukunft ins Bewusstsein treten. 3. GRÜNDUNGSMYTHEN
Welche verheerenden Folgen das Fehlen einer semantischen Lücke haben kann, zeigen dicht vernetzte Bankgeschäfte. Sie können aus der Innenstadt Frankfurts, Londons, New Yorks nicht flüchten, weil die Orders in Lichtgeschwindigkeit platziert werden. Es genügt schon eine Entfernung von einigen hundert Metern zum Börsenrechner, um den Auftrag mit Millisekunden Verspätung zu platzieren. So sind hochliquide Finanzgeschäfte in einer chronometrischen Falle, gerade weil sie aterritorial agieren. Der performative Spekulationsraum der Zeit, bestimmt die Diskurstechnik des Krieges gegen die absolute Geschwindigkeit.46 Es ist die technik szenografischer ‚Verdopplung der Ereigniszeit‘. In einer vernetzten Stadt sind die Netze selbst immobil, während die reellen, gebauten Werte immer mehr sich zur Kulissenschieberei und Wegwerfarchitektur wandeln. Das gilt in verstärktem Maße von den rasch technisch überholten Medienfassaden oder den saisonalen Kulissen der Weihnachtsmärkte und Ferienevents. Städte planen ihre chronometrische Selbstvernichtung nicht zum Spaß: Dahinter liegt der Gedanke nach der Suche des absoluten Ortes (der absoluten Zeit) als der befriedeten, still gestellten Gewalt. Die Gewalt bezieht sich seit je 45
Barthes, Semiologie und Stadtplanung, a.a.O., S.208.
46 Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Berlin 1980. Virilio denkt die Stadt demgemäß nur noch
als Ort der Behinderung des Verkehrs, der Rückkehr des Nomaden: „Die Straße ist wie ein neues Ufer und die Wohnung ist ein Hafen des Verkehrs.“ (S.14) Diese Umwertung zieht weitere Metaphern nach sich: „Der Körper ist ein leeres Haus, in dem, wenn man nicht achtgibt, beunruhigende Mieter aufeinander folgen, ein Haus, das man unkomfortabel halten muss.“ (S.109) Die Folge, die Statik der rettenden Behausung wird zum Gefängnis, in der die giftigen Dämpfe durch die Medien Einlass finden.
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immer auf die Phantasieproduktion, auf die Wunschmaschinen, auf die von Winnicott dargestellte Vereinigung eines ‚Subjektobjekts‘ als Übergangsobjekt, das weder ein Teil des Körpers noch ein Teil der Realität ist, sondern sich als lebendige Grenze von mir selbst, als Subjektobjekt (Leib) ausweist.47 Es kommt nicht mehr auf die Verkörperung an, sondern auf die Möglichkeit der Verfügungen und des Besitzes, d.h. auf die Austauschbarkeit der Dinge. Dieser Tauschraum wird von Winnicott als Ur-„Szene“ menschlicher Dingbeziehungen beschrieben. Im medialen Verschwinden und Erscheinen der Dinge als Besitzverfügung über sie spielt sich die Selbstgründung ab. Dabei geht es um eine Bannung der Phantasieproduktion in restringierte Erinnerung als reine Form des Besitzes, auf unser Thema angewandt also um die Stadt als Roman, in der alle leben, die aber keinem gehört. Bestimmend auch hier: Die dem Blick entzogenen Dinge gehören nicht mehr zum Besitz, d.h. zur Leiblichkeit, sie werden Geschichte im doppelten Wortsinne. Das Ur-Ereignis dieser funktional-szenischen Selbsterfüllung der Lesarten der Erinnerung, die nun, wie Hugo es vorhergesehen hat, in die Bibliotheken einwandert ist, ist der Kampf der feindlichen Brüder. In den Stadtgründungsmythen geht es nicht mehr um einen Häuserkampf (respektive um die Territorien der Subsistenz), sondern um die Semantisierungshoheit, um den Fetisch des Namens des Vaters der Stadt. Der Brüderkampf bestimmt die Form des Gründungsmythos vieler Städte, und zwar weil es in der Stadt, mehr noch als um die Funktion, um die Verfügbarkeit des Besitzes, die Herrschaft des Blicks geht, z.B. in den Gründungsphantasien der mythischen Stätten Rom und Athen. Der Mythos selbst ist die erste Stätte des Ausgleichs zwischen der territorialen und der metaphorischen Verschiebung, d.h. er wirkt als metonymische Funktion, er ist episch. Es fällt auf, dass die retroaktive Fundierung der Metropole im Mythos nicht das Primat des Erstgeborenen anerkennt. Nun sind, seit Kain und Abel, Moses und Aaron, Bruderfehde und -morde Ausweis väterlichen Herrschaftsvergessens. Es ist stets das Fremde im Eigenen, das zu den Schleifen einer retroaktiven Performativität führt, denn in der Phantasie ist die Erinnerung immer schon als verlorener Besitz eingegangen, spielt sich aber als instantane Ursprünglichkeit auf: Besitz meiner Erfahrung, die ich bin.48 Wir sind einer Inszenierung 47 Vgl.
D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 2010.
48 Den Begriff der retroaktiven Performativität, der einer Konzeption Schellings entstammt und von
Hegel übernommen wird, hat Slavoj Zizek dargestellt und in Bezüge zu dem ‚verlorenen Objekt‘ bei Hitchcock gesetzt. Wieder geht es um eine (Selbst-)Verführung, um die der Realität selber, dessen Agent das Ich ist, und die, anstatt als ursprünglich zu erscheinen, durchsetzt ist von den symbolischen Invektiven, die sie zu dem macht, was sie nicht ist. „Was wiederkehrt, ist der Konstitutionsprozeß als Vorgeschichte des Subjekts, das heißt das, was sich vollzogen haben muß, bevor das Subjekt eine Beziehung zur ‚äußeren Realität‘ entwickeln kann, ein Prozeß also, der bei Fichte die Form des ‚Ich‘ annimmt, das im absoluten Akt der (Selbst-)Setzung (sich selbst als) das Objekt setzt, oder der bei Schelling als der Antagonismus der Vorgeschichte Gottes erscheint, der sich auflöst, wenn Gott sein Wort spricht usw.“ Slavoj Zizek: Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus. Wien 1992, S.180f.
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von Ursprünglichkeit, einer Inszenierung der Urszene auf der Spur, in der die Funktion der Szenifikation autosymbolisch an die generativen Funktionen performativer Sprachhandlungen gebunden sind, deren Wiederholungszwang sich auf Erinnerbarkeit selbst, auf die Beschwörung des Gedächtnisses beziehen, bevor Archive diese Funktion verstetigen und die Gewalt deeskalieren. Beispielhaft ist das am Gründungsmythos von Rom wahrzunehmen, dessen Ausschmückungen sowohl an den paradisischen als auch den mosaischen Gründungsakt (Bruderkampf und Exilierung) erinnern. In der Zeugenschaft Mose, die eine Fundierung durch das geschriebene Gesetz ist, ist der Bruderzwist zwischen Gedächtnis und Dingverfügbarkeit im Tanz um das goldene Kalb eingeprägt. Wie nebenbei wird auf den medialen Unterschied zwischen Rede, Schrift und demokratisiertem Event, dem Tanz verwiesen.49 In der römischen Gründungsurkunde geht es um handfeste Selbstschutzmechanismen vor der Xenophobie mit sich selbst (Verbrüderung). In Gestalt des säugenden Wolfes verwandelt sich nämlich die Produktion von Natur in mütterliche Vergemeinschaftung (Agrarkultur). Die Vergemeinschaftung verlagert das ihr fremde Element und schafft an dessen Stelle den befriedeten Raum der Stadt, der zugleich in einer Art Opfertheater, dem Agon, die szenische Stätte für den eingeschlossenen Ausschluss des Ursprungs fetischisierend integriert.50 Da Städte sich stets im binnensubjektiven Wettbewerb um das Selbstbewusstsein gründen, wird das Signum brüderlicher Gewalt zur Vorgeschichte der Freiung und Mutterschaft. Der Brüderkampf zeigt sich also zunächst in einer dialektischen Korrespondenz von Stadt und Land. Es ist eine Eigenheit der Gründung des Ruhrgebiets (nicht der mittelalterlichen Hellweg-Städte, die Stiftungen sind), dass es diese Idee der dialektischen Korrespondenz nicht kennt. Das Ruhrgebiet als Industrieregion hat keinerlei imperiale Gebärde, kein Hinterland. Seine Gründung steht noch aus – und die Bestimmung des Namens dieser Metropolregion wird nicht irgendwie deklamatorisch oder mythologisch entschieden, sondern immer wieder durch die homosexuelle Solidarisierung hinausgescho49
Moses stottert, während Aaron gewieft in den Überredungskünsten ist. Die Sage von Romulus und Remus ist der Gründungsmythos Roms. Amulius, der Bruder des Numitor, Nachkommen von Aeneas, entriss jenem den Thron und zwang Rea Silvia, die Tochter Numitors, Vestalin zu werden, um die Geburt eines Thronfolgers zu verhindern. Rea Silvia gebar dem Mars die Zwillinge Romulus und Remus. Amulius ließ daraufhin seine Nichte einsperren und setzte die beiden Knaben im Tiber aus. Das Geschrei lockte eine Wölfin herbei, die die beiden rettete und säugte. Faustulus, der Schweinehirte des Königs, übernahm die Kinder, die später wegen eines Streites vor Numitor gebracht wurden. Der erkannte sie als seine Enkel. Romulus und Remus erfuhren vom Verbrechen des Amulius an ihrer Mutter, stürmten den Palast von Alba Longa, erschlugen Amulius und setzten Numitor wieder auf den Thron. Zum Dank erhielten sie die Erlaubnis, an der Stelle, an der sie ausgesetzt worden waren, eine Stadt zu gründen. Wegen des Namens entzweiten sich die Brüder, Romulus siegte, weil er die größere Zahl der Mitstreiter hatte. Er zog Mauer und Graben um den Ort. Remus sprang über die Mauer, verletzte damit das Gesetz und wurde von Romulus erschlagen. Es folgt – wegen Frauenmangels (!) – die Episode um den Raub der Sabinerinnen. Genesis, Bruderkampf, Frauenwahl und Forcierung der Population, das ist die Pyramide der Kämpfe der Stätte Roms.
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ben. Das (rote) Ruhrgebiet als Subventionsjunkie kennt keine Bruderkämpfe. Dass es eine Setzung ohne Gewalt geben könnte, dekonstruiert die Logik des Ursprungs. Es ist bekannt, dass viele mittelalterliche Städte, so etwa Paderborn, sich an oder auf Quellen (Brunnen) gründen, insbesondere als Realisierung der Symbolik christlicher Taufe: Taufbecken und Basilika betonen den Ursprungsgedanken als Logik immerwährender Ursprünglichkeit und ihrer Befreiung vom Kredit der Stiftung. Der Preis für diese Gabe ist die territoriale Immobilität. Benjamins ‚Werden und Vergehen des Entspringenden‘ ist auf die Idee gemünzt, dass man die Befriedung einer Stadt durch eine Verwesung des Ursprungs erreichen kann. Die Quellen des Ruhrgebiets aber sind versiegt und der Kampf gegen den kapitalistischen Stahlbaron nur noch Folklore. Das Ruhrgebiet kann sich damit weder dialektisch gegen etwas noch transzendierend mit etwas gründen. Im athenischen Gründungsmythos ist Akt der Benennung von dem der Besiedlung gelöst eine Rechtsfrage, die in der Fremdreferenz des Namens, im Wettstreit (Agora und Agon) entschieden werden soll. Im Gegensatz zu den Gründungen an Quellen, die für den Mittelmeerraum eine besonders wichtige Funktion haben (z.B. Gründung der Stadt Nimes), wählen die noch namenlosen Athener nicht diese, von Poseidon dem Meeresgott (!) ins Rennen geschickte, territoriale (!) Gründungsgabe, sondern den Olivenbaum der Athene und somit ein Teil der Dynamik der Handelsstadt. Oliven kann man kultivieren, sofern man ihren Zyklus beachtet, sogar relativ ewig – Quellen lassen sich nur ‚ableiten‘. Man ist ihrer Gabe ausgesetzt. Wer sich mit dieser Kultivierung der Olive nicht abfindet, erklärt das Wasser für versalzen, für unfruchtbar.51 Der eigentliche Gründungsakt von Athen, der Kekrops I. zugeschrieben wird, geht nicht auf die Gründung einer Stadt, sondern auf die zivilisatorische Trennung von Nomadentum und Ackerbau, der Domestizierung der Natur zurück. Kekrops ist Schiedsrichter, also transzendierter Vater im Wettkampf zwischen Poseidon und Athene, und bestimmt, so Pausanias, die Nützlichkeit der Gabe für ausschlaggebend. Hier hebt sich der athenische Gründungsmythos vom Recht auf Gewalt (Rom) durch das Handelsrecht der Kreditierung ab. Athen ist tatsächlich Mutterort, mehr Stätte (Burg) als Stadt, Rom nur Vaterstadt. In Rom steht die Dialektik von Stadt und Land, in Athen die historisch frühere Kultivierung des Landes selbst im Mittelpunkt. Was aus der Logik der Gründungs- und Semantisierungsoperationen folgt, ist, dass die Techniken der Symbolisierung, die Medientechniken und die der Domestizierung der (Natur-) 51
Kekrops I war nach der Sage ein Autochthone, also von der Erde geboren (!) ohne leibliche Eltern. Seine Gestalt war halb Mann, halb Drache. Er führte eine Volkszählung durch, bei der jeder Einwohner einen Stein mitbrachte, und baute damit eine Burg auf der Akropolis. Er führte die Ehe, die ersten staatlichen Einrichtungen und das Recht auf Eigentum ein. Als Schiedsrichter zwischen Poseidon und Athene bestimmte er die Nützlichkeit eines Geschenks. Poseidon schuf das Pferd oder nach anderen antiken Autoren eine salzige Quelle auf der Akropolis; Athene pflanzte den Ölbaum und erhielt darauf das Land, dem sie den Namen Attika gab.
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Gewalt, sich wechselseitig bedingen, und das in einer weit komplizierteren Autonomisierungslogik als der von Aufbau- und Untergang einer Stadt. Das Problem der Lesarten der Namen-des-Vaters (dialektisch, transzendierend, ökologisch) bleibt in der Ambivalenz der Funktionalität befangen: Soll man den Mythos als legitimierendes Ereignis, oder soll man ihn als legislativen Ritus verstehen, ist er Mythos oder ist er Logos? Die Stadt ist eine Maschine, aber sie ist in ihren Bürgern auch immer ein Organismus, dessen Selbstreferenzlogik die homosexuellen Strukturen der Technik durchwebt. Das Ruhrgebiet, um auf dieses namenlose ‚Gebiet‘ zu kommen, vereinigt die beiden widerstreiten Gründungsoperationen: die mittelalterliche Stiftung, ausgehend von Essen Werden und vom Hellweg als Verkehrs- und Handelsweg, also die Verbindung von Stadt, Land und Fluss, die im 15. Jh. abgeschlossen ist, und die Industrialisierung, insbesondere ab 1871, entfesselt durch Blut und Eisen, die einer imperialen Logik territorialer Herrschaft unter der Funktionslogik der Fabrikstätten (und keineswegs der Stadt!) gehorcht. Dieses industrielle Ruhrgebiet war niemals als Stadt geplant, sondern ausschließlich (vorathenischer) Ort der Produktion und des Fehls der Dinge. Das Ruhrgebiet ist also tatsächlich Urort eines ökologischen Restes, der davon zeugt, dass in der Stadt Aufbau und Abbau einen Mehrwert erzeugen: den der Erinnerung, der Ruine. 4. SZENOGRAFIEN ALS SELBSTBILDFUNKTIONEN IM URBANEN RAUM
Wie im Ruhrgebiet wird in Hugos Roman die fehlende Selbstbestimmung zum dramatischen Antrieb. Beinahe alle Protagonisten in Notre-Dame de Paris sind als Bastarde unterwegs, wenn nicht als tatsächliche, dann doch in ihrer faustisch gespaltenen Profession: der Archidiakon, der Philosoph, der Student, Esmeralda, ihre Mutter und der bornierte Phoebus. Einzig der Pöbel hat sein kontingentes Recht. Gebrochene Genealogien in der Stadt haben den Status von Gästen, Reisenden, deren Aneignungsversuche über Blicke gerichtet werden: von oben, von unten, Seitenblicke, vornehmlich auch Publikumsblicke und vor allem geheime, obszöne, voyeuristische Blicke.52 Hugo versucht, die Stadt über ein Netz von Blicken zu hierarchisieren und ihr eine Ordnung zu geben, die durch die Szenen, also isolierten Blicken, die dem Leser eine fassettenreiche, episodische Ganzheit 52
Vgl. Ralf Bohn: Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee. Bd. 2 Szenografie & Szenologie, Bielefeld 2009, S.80ff. Eine solche Sphinx ist die Kathedrale als Stadt eben auch, zwar ist sie der unbefleckten Geburt geweiht, aber in ihrer aufragenden Erhabenheit steckt auch eine patriarchalische Funktion, die insbesondere im Bild der Stadt und als Stadtbild und Selbstbild Gestalt gewinnt. „Kann man sich vorstellen, er (der Kölner Dom) wäre nicht da? Ja, aber nur mit Schrecken. Es wäre eine innere Beraubung, ein Bildverlust, der einer kollektiven Erblindung nahekäme.“ Dieter Wellershoff: Der Dom als Vatergestalt. In: Der Kölner Dom im Jahrhundert seiner Vollendung. Bd. 2 Essays. Köln 1980, S.392.
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liefern, dramatisiert werden. Die Stadt wird zu einem Archiv der Blickwinkel. Insbesondere durch Sartres und Lacans ausgearbeitete Positionen ist bekannt, dass der Blick Grundtopos der Selbst- und Fremdbestimmung ist, und zwar in der Weise, als er Objekt und Subjekt als Getrennte aneinander bindet. Die narzisstische Mikroorganisation findet sich im Körper der Stadt im Spiegel der Fassaden wieder. Szenografien sind einerseits Widerstandsorte kompensierende, Biografie schreibende Blickorganisationen, andererseits bestehen Szenografen auf der Gestaltung der Stimmung des Raums. Eine solche doppelte Politisierung durch den Gesamtplan der Blicke (Point de Vue) und der Szenen (Galerien, Bosquets) kennen wir, seit Ludwig XIV. das Programm des Concettismo in Versailles zu übersetzen verstand. Es geht in Versailles nicht nur um die Bemächtigung des Blicks, sondern um die Verführung des Blicks und die Herausforderung der Macht über den anderen Anderen – den Haldenobjekten des Ruhrgebiets hingegen geht es doch zunächst mehr um die Erfahrung des Überblicks. Die verführerische Transposition der Erhebung über das Ruhrgebiet und damit die Entwertung der Aktualität wird nicht thematisiert. Für Ludwig XIV. war aber Versailles nicht nur Blickraum, sondern vor allen Dingen inszenierte Zeit, d.h. Regulativ der Handlungen des Adels, bzw. deren Orchestrierung. Der Adel musste in Versailles präsent sein, hatte aber das Verbot der Arbeit einzuhalten. Nebenbei schlägt sich diese Konstellation von handlungsbeschränkter Präsenz in der Erfindung eines illusorischen Raums nieder, der Erfindung des Romans, als Möglichkeit, dem Raum eine Stimme zu verleihen.53 Die Verwirrung im Leben der Stadt kommt darin zum Ausdruck, dass die Stadt (das Ruhrgebiet insbesondere) eine Vielfalt der Blicke, eine Vielfalt der „Namen-des-Vaters“54 erfordert. Das könnte man im Sinne der 53 Ruhrgebietsstädte interpretieren: Vielfalt als Stärke, Solidarität als Kompensation von Konkurrenz. Allerdings kehrt sich diese Vielfalt um, wenn man von dem Grundsatz ausgeht, dass die Stadt das extensionierte Symptom des Zwischenraums zwischen dem Ich (Phantasie) und dem Anderen (Phantasma) darstellt. Dass der Raum als Blickraum immer (auch) vom Anderen aus gesehen konstituiert wird, und dass der Andere sich als Anblick symbolisch in meine Sprache einschreiben kann, macht den Aspekt der Verführung in der Sphäre des Illusionären aus. Das graphein der Szenografie (wie die ‚Stimmes‘ des Raums) deutet auf diese Ver53 Vgl. Wolf
Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969, S.52ff. Nach Lacan ist es nicht nur die Verwirrung als Vorform des Wahns, sondern die Angst, die den Webfaden der Beziehungen anzeigt, einfach durch Inversion der Ich-Position nicht mit dem Vater selbst, sondern mit dessen durch mich konstituierte Position als Ich, sodass sich hier die Wahrheit des Ichs als Fehl eines ‚Signifikanten‘ anzeigt. „Der Beweis dafür ist das, was im Phänomen des Unheimlichen geschieht. Jedesmal, wenn plötzlich durch irgendeinen vom Anderen ausgeheckten Einfall dem Subjekt sein Bild im Anderen als seines Blickes beraubt erscheint, löst sich der gesamte Webfaden der Kette auf, von der das Subjekt im Schautrieb gefangen ist, und es kommt zur Wiederkehr der grundsätzlichsten Angst.“ Lacan, Namen-des-Vaters, a.a.O., S.79.
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führung des Blicks zur Sprache ebenso hin wie die Tatsache, dass der Szenograf einen Blick erfindet, auf einem Territorium, das vorher nicht vorhanden war, in einer Stadt, in der eine durchgängige Besetzung herrscht, und in der es zur Not gehört, Besetzungen auf Zeit, synchron an einem Ort zu legitimieren: Notre Dame ist Kathedrale und Gerichtsort, Messe und Kirchweih, sie vereinigt und transzendiert räumliche und zeitliche Synchronien und Simultaneitäten, die die Stadt gegenüber dem agrarischen Umland entfremden.55 Worauf Lacan in der Polysemie der Namen des Vaters hinweist, ist die Orientierung in den Blicken, die er in der Regel auf die Position der Signifikanten in der Sprache verkürzt. Es sind aber nicht die Signifikanten, sondern die Dinge und Sachverhalte, die uns wie die Wasserspeier der Kathedrale als Dämonen ansehen. Als erinnerbare sind, wie die Gründungsmythen zeigen, die Kräfte der Natur gebannt. In den Synchronien und Simultaneitäten, den Inszenierungen und Simulationen brechen sie wieder auf. Raumstimmenphänomene wie in der Kathedrale sind in der öffentlichen Stadt aufgrund des infernalischen Verkehrslärms nicht hörbar, der Blick des anderen nicht vermittelbar. Lacan schreibt: Die Angst ist ein Affekt des Subjekts [...] Zu welcher Zeit – sofern ich ‚Zeit‘ sagen kann, gestatten Sie zu, dass dieser Höllenterminus sich fürs Erste nur auf die synchronische Ebene bezieht –, zu welcher Zeit wird dieses Subjekt von der Angst affiziert? In der Angst, sagte ich Ihnen, wird das Subjekt vom Begehren des Anderen [...] affiziert. Es wird davon auf eine unmittelbare, nicht dialektisierbare Weise affiziert. Darin ist die Angst im Affekt des Subjekts das, was nicht täuscht.56
In der Angst zeigt sich, dass die Realität und das, was ich in der Erinnerung an sie bewahre, eine Konstruktion ist, die vom Einverständnis des Anderen abhängt, mir also in keiner Weise zur Verfügung steht, wenn ich sie nicht in evozieren kann. Die Angst ist nicht ohne Objekt, aber das Objekt, auf das sie sich bezieht, ist das Begehren des Anderen als Blick, sodass der Blick „die Ursache des Begehrens“57 umkreist. Die Umkreisung ist wesentlich: Die Angst simuliert den fehlenden Raum der Stimme im Felde der Sichtbarkeit. Der Blick ist darum immer an Objekte, die Stimme/Stimmung an eine situative Szene gebunden, in der das Subjekt am Objekt Halt findet. Wenn nämlich die Szene der psychotische Gegenort des Ursprungs sein will, muss sie den Ort der inneren Stimme in einem äußeren Raum externalisieren – deswegen die in der Szenografie geführte Rede vom gestimmten Raum für die Formen urbaner Inszenierungen. Leider scheint 55
Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext. In: Randgänge der Philosophie. Wien 1999, S.349. „Damit die Verbindung zur Quelle sich herstellt, muß die absolute Einmaligkeit eines Unterzeichnungsereignisses und einer Unterschriftsform festgehalten werden: die reine Reproduzierbarkeit eines reinen Ereignisses.“ 56 Lacan, Namen-des-Vaters, a.a.O., S.67f. 57 Ebd., S.69.
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die Stimmung des Raums beinahe gänzlich zur Metapher für die Distanzen der Sichtbarkeit und des Blicks verkommen. Heute signalisiert einzig die Stille die Stimme des Raums, etwa in der Lobby eines exklusiven Hotels. Der Ursprung hat seine Sprache verloren. Diese Sprache hofft Barthes in den Lesbarkeiten der erotisierten Stadt wiederzufinden, allein als das stumme Sprechen der Literatur.58 Die Glocken sind verstummt, die Psychoanalyse Besetz das Feld der Blicke. Den Vätern ist geopfert, die bürokratisierten Söhne sind unter sich. Was nicht heißt, dass die Vaterschaftsklage umso heftiger im Verborgenen gärt. Wir haben anfangs des Aufsatzes darauf hingewiesen, dass die Stadt in ihrer Selbstfundierung stets um das kastrative Objekt der Selbstbegründung herum gebaut worden ist: um sich selbst einen von der Natur unabhängigen Produktivgrund zu geben, dessen Ort der Pfahl, der Obelisk des Begehrens ist, dessen Plural die 12 Türme und Tore des Heiligen Jerusalem sind, reduziert auf die 2 Türme des World Trade Center oder der Deutschen Bank. Lacan geht umgekehrt, vom geisternden Vater, also von den stets präsenten Täuschungen, den göttlichen Raumstimmen aus, um das Problem der Genesis zu formulieren. Er wählt die Szene von der Opferung Isaaks durch Abraham, die in der Darstellung der Angst bei Kierkegaard den Raum des Sprechens und der Anrufung belebt59, verknüpft mit einem Einwurf des für die Geschichte der Fundierung der gotischen Baukunst60 bedeutsamen Raschi Rabbi Salomon ben Isaak von Troyes aus dem 11. Jh., der angesichts des abrahamitischen Sohnesopfers die Beschneidung legitimieren will, die einen Ort der Kastration des realen Ursprungs darstellt, indem symbolisch der Name an dessen Stelle gesetzt wird. „Was denn nun?“, so hört man die Überlegungen Abrahams nach der Absage des Opfers durch Gott bei Raschi denken. „Wenn das so ist, 58
Man kann auf einige Filme Antonionis verweisen, Liebe 62 und Blow up etwa, in denen das Verhältnis des stummen Bildes und der stummen und gleichzeitig von Lärm erfüllten Stadt vorgeführt wird und, das gilt etwa für die Vorstädte Roms, die Menschen und die Städte ihre Sprache verloren haben. Es ist übrigens dieser Vorzug der Darstellung des stummen Bildes, der die Stadt und den Film in so enge Beziehung bringt. Das zeigt z.B. der Film, den Sofia Coppola 2003 unter dem Titel Lost in Translation in Tokio dreht. Ein Hauptteil der Handlung spielt in der Suite eines Hotelhochhauses, die vollkommene Anonymität bewahrt. 59 Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. Hamburg 1991. Kierkegaards Begriffsbestimmung geht schon von einer Leibdisposition des Körpers im symbolischen als realem Raum aus, so, dass alle Angstaffektionen als Diskontinuitäten dieses Übergangsraumes ‚Leib‘ aufgefasst werden können, in welchem sich der gebaute Raum halten muss. Die Sicherungsobjekte: Turm, Mauer, Brücke, Platz, Zelle, sind zugleich die phobischen Topoi. „Dies deutet darauf hin, dass das Dämonische einen weit größeren Umfang hat, als gewöhnlich angenommen wird, was sich daraus erklären lässt, dass der Mensch eine Synthese von Seele und Körper ist, die vom Geist getragen wird, weshalb eine Desorganisation der einen Sphäre sich in den übrigen zeigt. [...] Das Dämonische ist das Verschlossene und das unfreiwillig Offenbare. Diese zwei Bestimmungen bezeichnen, was sie auch sollen, dasselbe; denn das Verschlossene ist gerade das Stumme, und wenn dies sich äußern soll, muß es gegen seinen Willen geschehen.“ (S.112f ) 60 Vgl. Ralf Bohn: Zahl, Zeichen, Zeit … Die Geburt des Designs aus dem Geist der Mathematik. In: Christoph Weismüller (Hg.): Fragen nach der Mathematik. Düsseldorf 2007.
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[du meinen Sohn nicht als Opfer annehmen willst; R.B.] bin ich dann umsonst gekommen? Ich werde ihm trotzdem wenigstens eine kleine Verletzung zufügen, um etwas Blut austreten zu lassen. Das wird Dir doch gefallen, Elohim?“61 Die Legitimation dieser symbolischen, retroaktiven ‚Operation‘ ist die auch andernorts geübte Praxis, den Namen des Vaters als sichtbaren Fetisch einer Verletzung, einer Unzulänglichkeit, einer Tätowierung vor und in sich zu tragen, wie die Heilige Lucia62 ihre Augen vor sich hinträgt. Die Verführung hat hier ganz und gar den Effekt einer heiligen Verführung durch die göttliche Stimme – die dem verführerischen Blick konträr gesetzt ist. „Sieh nur, ich höre auf dich!“ Es sind nun die Söhne und Töchter, die sich wechselseitig die Verstümmelungen ihrer Genealogie vorwerfen, deren demokratisierter Rettungseffekt in der Masse der Stadt und der Organisation der Menge thematisiert wird, wie sie von Poe bis Le Bon beschrieben wird. Die Verstümmelung der Masse im Raum, das ist der Blick – einerseits. Andererseits aber gilt es, wachsam zu sein und der Stimme des Volkes, die ich selbst bin, zu folgen. An dieser Stelle, an der die szenische Kastration die Vernichtung meiner Totalisierung durch den Blick aufschiebt und archiviert, aufhebt im dialektischen Sinne – „Die Übertragung ist das, was am Ort/Stelle des anderen keinen Namen (Nom) hat“63 –, wäre auf die Struktur der Aufhebung von Realität in Inszenierung einzugehen. Die Verschiebung, die Desynchronisation des ‚Höllengrundes‘ der Zeit, und die phallisch-signifikante Durchstreichung des Blicks der Realität, ist die Ambivalenz der Inszenierung der Stadt. Erinnern wir uns an die Blicke der Detektive im Gewühl der urbanen Masse, die einem Indiz nachjagen – und dazu im Gegensatz die Recherche von Proust, der mit geschlossenen Augen den Duft der Madeleine einsaugt. Die Szenografie, das wäre allererst zu denken, ist keine Technik der Beherrschung des Blicks, sondern eine Sprache, die der Zeit Raum gibt. Die Funktion der raumgebenden Zeit, einer Zeit der Feste erfüllt der Glöckner im Roman Hugos. Diese doppelte Funktion von Raumgeben und Raumentfernen, die in Stimme und Blick geteilt ist, erfüllt in besonderer Weise die Inszenierung des Dortmunder Us, zu deren satirischer, an Hugo angelehnter Intention sich Adolf Winkelmann gemacht hat, indem er sich als „Glöckner vom U“ bezeichnet.64
61
Lacan, Namen-des-Vaters, a.a.O., S.97.
62 Bekannt ist die Darstellung der Hl. Lucia, die ihre Augen auf einem Tablett oder Buch präsentiert,
die ihr wegen ihrer Keuschheit vom Herrscher ausgerissen worden sind. Sie will die Selbstansicht der Medien des Glaubens real vor Augen führen, um die Idealität des Paradieses und des Glaubens zu beweisen. Die Angst, die uns bei diesen Bildern körperloser Organe befällt, ist die symbolische Enteignung des Selbstphantasmas. 63 Lacan, Namen-des-Vaters, a.a.O., S.101. 64 Vgl. den Beitrag von Adolf Winkelmann.
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5. TECHNIK DER SYMBOLE
In den Geschichten der Stimme der Stadt spielt Paris die Rolle der Protagonistin – jedenfalls was die der Literarisierung angeht. Im ‚Buch von Paris‘ überlebt der Mythos der ‚lesbaren Stadt‘. Dessen Zerrbild, das Duisburg des Kommissar Schimanski, als Klischee der sozialen Bastarde zwischen Aufbruch und Ordnung angelegt, taugt wegen seiner Geschichtslosigkeit nicht zu Lesarten. Schimanski ist der Quasimodo der Industrialisierung. Das Duisburg der 70er Jahre wird nicht gelesen, sondern episodisch (de)montiert. Es nimmt damit jene Rolle ein, die die bürgerlichen Romane von Flaubert, Baudelaire, Zola im Vorabdruck den Zeitungen reservierten. Trotzdem wird in der Stilisierung des Vulgären bei Schimanski, in der Sozialbrache der Siedlungsmoirees eine Technik der Symbole offenkundig, die von einer Urbanisierung besonderer Art erfasst ist: die des Gerüchts und, als dessen gegenläufig stummer Variante, der Gemütlichkeit. Das Gerücht ist der Hall der engen Mauern, ein stummer, flüchtiger Gast. Es kriecht wie Grubengas in die Zechensiedlungen. Ihm entspricht eine besondere Art der Architektur, der Kiosk, die Pommes-Bude. Am wärmenden und Nahrung gebenden Leib, wo Gerücht, Genuss und Gemütlichkeit sich auf solidarisiertem Niveau vereinen, wird in vergleichender Studie zu Paris die urbane Differenz zwischen einer zentral organisierten Verwaltungseinheit und einer schon als Gerücht angelegten horizontalen Unplanbarkeit (die urbane Zuschreibung der ‚Tatort‘-Tatorte) deutlich, dass es für die Väter keinen Platz gibt. Im Gerücht wie im ‚Kriminal‘ sind Signifikat und Signifikant miteinander amalgamiert. Dem Kiosk des Ruhrgebiets entspricht oder entsprach der Bauch von Paris, die Les Halles genannten und 1974 geopferten gusseisernen Markthallen, von denen 10 von 1852-1870 errichtet wurden. Als Zeuge des Vergleichs zum Kiosk ist der 1873 erschienene Roman von Émile Zola Der Bauch von Paris aufgerufen. Einmal hinsichtlich der von Hugo 42 Jahre vorher noch faksimilierten Medienverschiebung von Architektur auf Literatur, das zweite Mal in Bezug auf die Rückverortung einer Architektur, die im Zeitalter Napoleons III. sich mit Schwung in die neuen Eisenkonstruktionen verliebt. Und mit dem Eisen und der Eisenbahn, die auch das Ruhrgebiet groß machen, werden die Funktionen der Stadt gegen ihre Territorien ausgespielt, wie Haussmann erkannt hatte. Wenn aber die zehn riesigen Hallen als Ort der Geschichte und der Lesarten vor allem olfaktorischer Sinnenfreuden eines kleinbürgerlich fetten Wohlstands angesehen werden, dann nicht, um der Architektur zu rühmen, der etwas Monströses anhaftet, sondern dem Gerücht, das als synästhetischer Präsenzraum das Echo zwischen Stadt und Bewohner wiedergibt und sein Medium in der Boulevardpresse hat. Den französischen Gaumenfreuden verleiht der Roman von Zola einen Elan, dem die Statik und Transparenz der Markthallen und vor allem die Konzentration des Blicks nicht nachkommt. Das Gerücht unterliegt nicht der
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Kontrolle der Polizei. Mit der Immobilität des Gerüchts kommt etwas von der göttlichen Stimme der Bewohner der Stadt ans Licht, das der Realität der Metropole das Opfer einer Illusion abverlangt. Es handelt sich beim Gerücht um eine immanente Erkenntnis der paradoxen Welt der Simulation. Denn als Gerücht wird geglaubt, dass hinter jeder Form der öffentlichen Repräsentation eine Präsentation des kompromitierenden Begehrens geopfert wird; die Erkenntnis, dass jede Form der Inszenierung – und Öffentlichkeit ist schon Inszenierung – ihrer Realität nur entgehen kann, wenn sie sich nicht in der Simulation wiederholt. Denn was sich wiederholen kann, ist als technische Realität determiniert. Das Gerücht ist also nicht demokratisch, sondern es ist die paradoxe Therapie des Wiederholungszwangs der Realität, es ‚sieht‘ sozusagen transzendierend durch die Mauern. Diese nicht sichtbare Subversion des Gebauten wird unter dem Mantel des deskriptiven und wissenschaftlichen Naturalismus Zolas zu einer Experimentierbühne urbanen Lebens, in der nicht dem Sinn die dominante Rolle zufällt, wie noch dem bibliophilen Hugo, sondern den Sinnen, all dem, was strotzend und platzend in den Bauch von Paris eingeführt wird und in gärende Arbeit amalgamiert. Das Gerücht ist die Stimme der Stadt, um dessen strukturelle Offenlegung Zola bemüht ist, indem er die öffentlichen Handlungen seiner Protagonisten systematisch auf das Unmögliche einer Negation von Privation bezieht und somit zeigt, dass die soziale Realität nichts mit der technischen Realität zu tun hat. Während diese sich von der Wiederholung und Reversibilität nährt, nährt jene sich von der Verführung des Blicks. Drastisch gesagt: in Zolas Roman werden die Marktschreier zu Helden, und die Männer – von ihnen gleichsam verschlungen – nehmen die Rolle stummer Parasiten und irgendwie der Fischgedärme an, die abends von den Gehwegen gespült werden. Eine Technik, die den Männern völlig abgeht, ist die der Nachrede, der Prophezeiung, des ‚schiefen‘ Blicks, der Dialoge der Eitelkeit, des Neids und der Verführung, des Klebrigen, dem die väterlich naiven Mannskreaturen allenfalls den Hort des Alkohols entgegenzusetzen haben. Der Alkohol indifferenziert die Sinne, das Gerücht schärft sie. Die Funktionalisierung der Stadt unter dem Motto ‚Technik der Symbole‘ lehrt, dass die Sprache der Stadt eine Überwindung all der ‚Diskretionen‘ und ‚Diskretheiten‘ behandelt, die um diese Zeit (und erst recht im späteren Art Nouveau, der diese schwüle Gärung zum Stil erhebt) der Idee des Eisenbaus anhaften: der kontinuierlichen Überwindung von Abgründen, dem kreuzungsfreien Verkehr, der Medialisierung, der Transparenz.65 65
Im Roman Paradies der Damen (1882) zögert das einfache Mädchen vom Lande, den Avancen des Kaufhausmoguls nachzugeben, d.h. sie zeigt sich als unverführbare Verführerin – umso mehr wird sie vom Personal als ein Wesen betrachtet, dass die Verführung in aller Öffentlichkeit betreibt, indem sie sich als unverführbar gibt. Auf diese Weise zeigt Zola, dass die Frau immer verführerisch ist, solange die Männer das Phantasma ihrer Herrschaft repräsentieren müssen. Auf die gleiche Weise ist allerdings auch die Nicht-Inszenierung nicht möglich. Am Ende des Romans zeigt sich, dass die
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In den frühen Romanen Zolas wohnen wir einer Technisierung der Sinnlichkeit und der Befangenheit des patriarchalen Stolzes bei, den der weibisch, operettenhafte Kaiser Louis Napoléon III. 1871 spätestens als Verlierer auf der ganzen Linie offenbart. Dieser Kaiser war nichts weiter als das Gerücht im Mantel der Polizei, Verkörperung des Traums vom schnellen Geld, der Pflügung von Paris, als handele es sich um einen goldenen Acker. Einmal ist das Glück auf Seiten des Ruhrgebiets, das tatsächlich aus seinem Boden Kapital schlägt und es in die Kanonen gießt, die Paris einnehmen werden. Technik kennt keine Genealogien. Urbanität meint bei Zola die Befriedigung der Körper durch warenvermittelte Sinnenfreuden, die Inszenierungen des Überquellenden, des Marktes, der Theatralität des Verkaufs und der Inszenierung der finanziellen Stellung, die an der Qualität der Verdauung ausgewiesen wird. In direkter Anspielung auf die strenge Romantik Hugos antwortet Zola mit der durchdringenden Satire eines urbanen Bedürfnisses nach passivem Genießen. Für Zola ist vollkommen klar, dass der revolutionäre Held 1789 und spätestens 1848 sein Opfer ein für alle Mal gegeben hat, während die Bourgeoisie nur noch daran interessiert ist, an den Phantasmen des Arbeiters sich reich zu machen. Champagner und Trüffel gibt es im Ruhrgebiet nicht: Bratwurst mit Pommes markieren aber die gleiche Nische der internalisierten, privatierten Sinnenfreuden. Hugo dagegen ließ seinen Glöckner noch im Karneval auf offener Straße umherziehen: Genuss und Opfer waren noch nicht getrennt. Alles, was privatiert ist im Paris des 15. Jh., gerät zum verdächtigen Geheimnis. Was Haussmann für die urbanistische Funktionalisierung von Paris organisierte, revidiert heute der künstlerische, professionalisierte Straßenmaler. An eine Wiederbelebung der Straße als Stätte des Gerüchts, wo noch vor dreißig Jahren Schimanski und ‚Theo gegen den Rest der Welt‘66 anzukämpfen versuchten, ist vorerst nicht zu denken. Zolas Roman dringt tief ins Weichbild der Städte, indem er deren Zusammenhalt im Geschwätz offenbart, das sich zwar noch nicht SMS, Mail und Handy plappernd der Psychose affiziert, aber dem persönlichen Gerüchtemachen vertraut und auf diese Weise die Wertstabilität der Gesellschaft verkörpert, die die Radikalkur Haussmanns unterbinden wollte. Das Geschwätz der höheren Stände ist die Börse, der sich Zola in weiteren Romanen mit ‚wissenschaftlicher‘ Genauigkeit zu nähern versucht. Aus diesem Grund sind die Hallen (in unmittelbarer Nähe der Börse gelegen) nicht mit der Kathedrale zu vergleichen und nicht mit der Operette als Selbstdarstellung des Second Empire. Sie sind die planmäßige Organisation technisierter Sinnlichkeit, in der narzisstischen Diesseitigkeit der Fülle ihrer Agenten: der Bauch von Paris, das körperlose Organ, das einzig sich männliche inszenierte Verführung nicht an die der Frau heranreicht. Die kleine Verkäuferin heirat schließlich den Kaufhausmogul. 66 Theo gegen den Rest der Welt, Peter F. Bringmann, 1980 mit Marius Müller-Westernhagen.
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an seiner imperialen Arbeit erhält. Vermöge dieser Selbsterhaltung der Stadt kann die symbolische Technik auch nicht mehr im Sinn von Zeichen, im Verstehen und utopischem Ausmalen einer Rückständigkeit oder eines Fortschrittswillen gelingen, sondern allein in der unerbittlichen Zirkulation. Die Verschiebung von Sinn zu den Sinnen67, die das Zeitalter der Medien prägt, nimmt vorweg, was in der einzelmedialen Favorisierung von Architektur, Buch, Film, Szenografie, jede Inszenierungstechnik der Stadt affirmiert: die beliebige und folgenlose Stafette der Medienkonnektionen, die Folgen- und Opferlosigkeit suggeriert, weil sie quasi im virtuellen Raum des Begehrens sich an der täglichen Befriedigung dem von der Hand in den Mund und von den Ohren zu den Augen zugetragenen Tratsch, der heute Nachrichtensendungen heißt, weidet, ohne irgendwie auf den Grund der Rohstoffreserven und der Opfer dieser Inszenierungswut also das Moment der Ökologie zu stoßen. In dieser Gedächtnislosigkeit werden alle Genealogien gesprengt. Selbst die liebenswerten Filmhelden von Peter F. Bringmann und natürlich Schimanski zeigen nicht, dass sie scheitern. Die Rückverwandlung von Sinnlichkeit in Sinn ist letztlich ein Akt der zufälligen Montage, der Gewalt, der Aussetzung von Vaterschaft, in der es darauf ankommt, das Opfer, das man verleugnet, mit einer reichen Gegenwart zu belohnen, um den Verlust von Zukunft zu verrechnen. Das aber verlangt, dem Opfer des Lebens nicht mehr direkt in die Augen zu sehen, sondern in hedonistischem Wahn das Leben als Spiel, als Wette eines grundsätzlich anderen Lebens, zu begreifen. Aber wo anders sollte dieses Leben stattfinden als in der Illusion des Film oder Romans? Etwa doch der Stadt der Zukunft? Wie in der Schlussszene von Hitchcocks Marnie (1964) ist der „Verlust von Zukunft“ in der Verleugnung des gegenwärtigen Opfer durch eine Sackgasse gekennzeichnet, an deren Ende ein riesiges, mütterliches Schiff eine Freiheit demjenigen verspricht, der sich von den neurotischen Obsessionen lossagt. Bei Marnie ist es die Kleptomanie als Zeichen einer pervertierten Gewalt, denn Geld verändert die Welt scheinbar opferlos für den, der es besitzt. Es ist das Symbol des Besitzes, der reinen Anwesenheit und Gegenwart, aber auch das des realen Verlustes. Eines Tages, so verheißt Haussmanns Werk, ebenso wie das von Offenbach und Zola, wird man bezahlen müssen. Und die Stadt Paris musste bis weit nach dem Ersten Weltkrieg die Schulden Haussmanns tilgen. Wieder haben wir hier die beiden Möglichkeiten der Urbanisierung vor uns: die Stadt als neurotischer Fluchtort und Fluchtordnung des Blicks (Paris) und die Stadt als psychotischer Ort der Entgrenzung, der Verstellung, des Gerüchts, das alle planerische Organisation unterläuft. 67 Vgl. Jochen Hörisch: Der Sinn und Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt am Main 2001,
S.14. „Die leitende These [...]: Die im Bann von Stimme und Schrift stehende frühe Mediengeschichte ist sinnzentriert, die neuere Medientechnik fokussiert hingegen unsere Aufmerksamkeit immer stärker auf die Sinne.“
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Dass die Strukturen so sind, wie sie sind, beweist, dass man sich im ableitungslosen Genuss der technischen Gadgets aufgegeben hat. Vom dramatischen Kampf zwischen Sinn und Sinnlichkeit zehrt die bürgerliche Romankultur des 19. Jh., die nicht mehr das Land (die Provinz), sondern die Massenmedien, Zeitungen, Theater als Gegenorte verifiziert. Und immer wieder wird auch über den Roman selbst reflektiert, dessen Wirklichkeit Lukács 1915 so beschreibt: Die Problematik der Romanform ist hier das Spiegelbild einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Darum ist hier die ‚Prosa‘ des Lebens nur ein Symptom unter vielen anderen dafür, dass die Wirklichkeit nunmehr einen ungünstigen Boden für die Kunst abgibt; darum ist die künstlerische Abrechnung mit den geschlossen-totalen Formen, die aus einer in sich abgerundeten Seinstotalität entsteigen, mit jeder in sich immanent vollendeten Formenwelt, das Zentralproblem der Romanform. Und dies nicht aus artistischen, sondern aus geschichtsphilosophischen Gründen: ‚es gibt keine spontane Seinstotalität mehr‘.68
Was ist daraus für die Wirklichkeit der narrativen Konzepte der heutigen Szenografien zu folgern: Gaukeln sie eine ‚Seinstotalität‘ vor – oder handelt es sich um technische Versuche, die psychotische Krise symptomatisch zu verlängern? Mit psychotischer Krise wäre eben die Erstarrung der Welt in ihrer seintotalen Medieneinheit gemeint, in der, wie der Mai 68 formuliert ‚die Phantasie an die Macht‘ drängt, aber schon an den körpernahen Sinnengadgets abgefangen wird. Im Werk Zolas entdeckt man Sinnlichkeiten, wie schon gesagt, in der heute untergegangenen Beschreibung der olfaktorischen, chemischen Umarbeitungen, wie sie der erfolgreiche Roman von Patrick Süskind Das Parfüm aufleben lassen konnte. Auch dieser Roman spielt in Paris. Allerdings taugt dieser Sinn nicht für die Reduktion auf die Raumdialektik von Blick und Überblick. Zola schreibt in direkter Reminiszenz über Hugos These der Herrschaft des Buches, indem er auf den gotisch manierierten Bau von Saint-Eustache verweist, der mit seiner großen Turmuhr den ewigen Rhythmus des Marktlebens überwacht: „Es ist das eigenartige Zusammentreffen [...] dieses Stück Kirche, eingerahmt von dieser Straße aus Eisen … Das eine wird das andere vernichten, das Eisen wird den Stein töten, und die Zeiten sind nah …“.69 Eingebettet ist dieser Vergleich in die funktionale Schilderung der Unterschiede der romantischen und der naturalistischen Lesart des Romans, aber quasi als Stimme aus dem Off, das heißt als Auferstehung der Stimme des Herrn. Erst wenn man sich der Utopie als einer willentlichen Beeinflussung der ‚Zeitläufte‘ verpflichtet, erst wenn die Utopie als ideologische Farce entkleidet ist, wird das wahre Gesicht der Stadt in der Stadt metathematisch deutlich, ihre monadische Organisiertheit: „Diese Kirche hat übrigens eine Bastardarchitektur. Das Mittelalter liegt hier im Sterben, und 68 69
Lukács, Die Theorie des Romans, a.a.O., S.11f. Émile Zola: Der Bauch von Paris. München 1974, S.321.
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die Renaissance lallt erst.“ Wer heute an den modernen Hallen der 70er Jahre, die übrigens gerade wieder wegen ihrer „unvorteilhaften Alterung“(!) abgerissen werden, vorbeigeht und sich die renovierte Fassade von Saint Eustache ansieht, vor dieser sehr schlechten Verkehrs- und Ladenarchitektur der Neuen Hallen, wird ein postmodernes Lachen nicht verkneifen können. Bastardarchitektur ist wirklich der treffende Ausdruck – nicht nur für die Kirche, sondern für das, was an urbaner Scheußlichkeit sich ihr zu Füßen abspielt. Die Trauer um den Abriss des alten Markthallenlebens, das in Rangis als logistisches Problem endgelagert ist, verfliegt rasch, wenn man sieht, wie Zola die Ironie des „einzigen originalen Baudenkmals“, die „Zentralmarkthallen“70 für seinen Roman zubereitet und die Stimmen der Gegner seines „wissenschaftlichen Naturalismus“, mit seiner dem Existentialismus verwandten Hinwendung zu den alltäglichen Sensationen, fluchen lässt: „Ihr Schlagwort ist: Mit Wissenschaft macht man keine Kunst, die Industrie tötet die Poesie; und alle diese Schwachköpfe fangen an, über die Blumen zu flennen, als ob irgend jemand daran dächte, sich hinsichtlich Blumen schlecht aufzuführen [...] Ich habe Lust, auf dieses Geflenne mit herausfordernden Werken zu antworten.“71 Zola stopft diese Worte dem unglücklichen Maler Claude in den Mund und lässt sie auf die Gestaltung von Schaufensterauslagen eines Fleischerladens beziehen. Der Maler als Schaufenstergestalter – dass ist dann genau die Karriere der Designer, Schmücker und Weltverschönerer, die auf ästhetische Weise, nämlich im Namen der visuellen Kultur und der Szenografie, die aus der potenzierten Technisierung sich ableitet, nicht einmal die kleinste Hostie der politisierten Kritik aus ihren Techniken empfangen werden, weil sie bis in die Wunderkammern der Wissenschaft und die Labore der Elektrifizierung nicht vordringen, sondern die Welt ihrer Gestaltungstechniken als Gnade des professionalisierten Bewusstseins empfangen. Väter sind allemal die Ingenieure und Stadtfabrikanten, und es täte den Schmückern gut, sich in das Wissen einzuarbeiten, wie die Technik die Realität schafft, so Zola. Man sieht mit Zola deutlicher, dass die Inszenierungen der Urbanität selbst das Opfer sind, von dem zu befreien sie sich andienen – soviel geschichtsmaterialistische Auslegung kann uns die dekonstruktive Medienhistorie der Urbanität des 19. und 20 Jh. doch vermitteln? Zolas Zorn ist verständlich. Er klagt an: Wann endlich wird eingesehen, dass die Natur der avanciert urbanen Künstlichkeit in ihrer künstlerisch verbrämten Dissimulation ihre Seinstotalität einzig der Flucht aus der Technik verdankt? Der Effekt der szenischen Belichtung, der Lichtung der Szene besteht darin, uns glauben zu machen, dass es noch eine andere Lücke in der Psychose der Selbstabschaffung geben kann als die Emphase der Klage – womit bei 70 71
Ebd., S.322. Ebd., S.324.
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Aristoteles die Dramentheorie begann. Nun, Zola schlägt vor, die Heldenbilder zu transformieren und im Blick der Geschwätzigkeit der Frau die Reanimierung der Dingvaterschaftsleichen zu lesen. Hier ist der Vergleich mit dem Existenzialismus, vor allem den Dinggedichten Ponges72, wie Sartre sie interpretiert, angebracht. Wenn alle Dinge lebendig (technisch animiert) sind, sind sie auch sterblich, aber in ihrer Allverfügbarkeit zugleich auch eigensinnig und selbstherrlich. Und wenn die Stadt der Ort ist, an dem das Werden und Vergehen in einem anderen Medium als der Natur erfassbar wird, bekommt das Schicksal der Menschen Gleichnischarakter für die Ausweglosigkeit und den detopologisierenden Charakter utopischer Projektionen im Sinne der Medienstaffetten, die die Eigensinnigkeit, nämlich den Besitz außer Kraft setzen. Denn nicht mehr die Aneignung und der Besitz eines Handys oder Laptops verlangen das Opfer, sondern ihr zeitraubender Betrieb. Jedes dieser elektronischen Gadgets ordnet dem Subjekt nicht einen Platz in der Stadt zu, sondern gründet eine neue Stadt im Raum der Illusionen, verwandelt Zeit in Raum, und das wiederum, so zeigt Der Bauch von Paris, schafft ein rein logistisches Problem: den Verkehr. Das Schlimmste, was einem in der Stadt passieren kann, ist, dass man nicht zum Gesprächsstoff wird. Womit wir wieder beim Nichtort Ruhrgebiet und bei der sozialen Nachbarschaft des Kiosks wären. Nicht nur gibt es im Ruhrgebiet kaum kontinuierliche Lesarten, die nicht der dürren Bergmannsfolklore entstammen, es gibt schlicht keine Sprache, wenn man einmal von der Sozialromantik von Max von der Grün oder Wolfgang Menges Untergangsszenarios (Smog, Wolfgang Petersen, 1973), und dem Solidaritätsgeschnurre absieht, in der sich ein romantisches Bild nicht einmal auf der Höhe der Romane Hugos entwerfen ließe: Verbrüderung – fraternité – ist biligges Rauschmittel für unausgefochtene Bruderkämpfe. Das führt uns zu der Problematisierung des Leitmediums Literatur für das 19. und der Fotografie, genauer fotografischer Montage für das 20. Jh. Es gilt nach Zola, dass sich im Ruhrgebiet niemals eine fette, kleinbürgerliche Gesellschaft hat bilden können, keine, die vom Handel her den kommunikativen Tausch begreift als eine Form der Solidarisierung der Sinne – gegen eine Solidarisierung der Körper, der Arbeitskraft, also der Opfersubstanz der Subventionsjunkies. Wenn bei Zola und im bourgeoisen Paris gleichsam die Zeit in der schwülen Erregtheit des Warentauschs und der Wareninszenierung stillsteht – der Roman Das Paradies der Damen (1882) macht die Verwandtschaft von Stadt 72 Sartre erfasst bei Francis Ponge sofort das seltsame Changieren zwischen Ding und Wort. Die Arbeit Ponges wirft die in der Stadt verworfene Frage nach den ‚Namen-der-Dinge‘ auf, die ihnen von der Reklame aufgeprägt werden. „So wirkt das Lesen von Im Namen der Dinge oft wie ein unruhiges oszillieren zwischen Gegenstand und Wort, als wüsste man nicht mehr recht, ob nun das Wort der Gegenstand oder der Gegenstand das Wort ist.“ Jean Paul Sartre: Der Mensch und die Dinge. Aufsätze zur Literatur 1938-1946. Reinbek 1978, S.107.
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und Warenhaus augenfällig – und im Gerücht den faulen Geruch der Zirkulation annimmt, dann kann nur ein Ruck aus dieser rauschhaft gärenden Ekstase, aus dieser drogierten Stadt befreien. Dieser Ruck wird nicht mehr durch revolutionäre Aktionen sich entfalten, so Zola, wenn nach der Haussmannisierung die Stadt zur metropolen Landschaft wird. Zola deutet in diesem Roman aber schon an, dass die ganze Stadt ein inszeniertes Warenhaus werden wird, über das die verführte Frau als Rächer des Kapitalisten herrschen wird. Was an mythischem Ruck über die Ruhrrevolution kursiert, gleicht ebenfalls einer bunt schillernden Seifenblase, die niemals platzt.73 Der Ruck kommt nicht vom Land oder den exkludierten Produktionsstädten, sondern von der Tranzendierung der Stadt, dem Staat. Es waren die Ereignisse von 1870/71, die die literarischen Inszenierungen des Naturalismus in Paris allmählich aus der Mode kommen ließen. Einerseits führten sie zu einer Entfesselung der Kräfte des Fortschritts auf Seiten des Deutschen Reiches – und markieren die Konsolidierungs- und zweite Gründungsphase des Ruhrgebiets74, anderseits gab es im Frankreich der Dritten Republik einen Stillstand, der vehement durch die Ekstasen der Weltausstellungen kompensiert wurde, die ein eminentes Inszenierungsgeschäft, nämlich das der technischen Produktion feierten. Die Weltausstellungen sind also Akte der Aufgabe des einen, historischen Sinns und unterwerfende Verzweiflung vor dem Schwinden an die Erinnerungen des ‚alten Paris‘ – so Zolas ironische Metapher. Denn mit diesem ‚alten Paris‘ ist nicht ein vergangenes Paris, sondern ein aktual erinnertes aufgerufen. Das ‚alt‘ bezieht sich auf die Gedächtnisform, die enteignet worden ist, nicht auf die Stadt, die Haussmann vernichtet hat. Auf diese Weise sind die Museen tatsächlich zu Horten der Verzweiflung geworden, indem sie, Zukunft einklagend, diese sofort in Vergangenheit kompensieren. Es fällt auf, dass alle Museen, die sich mit Zukunft beschäftigen, nicht utopische, sondern technische sind. Am stärksten wird diese Ambivalenz im Bochumer Bergbaumuseum, das eigentlich ein Technikmuseum sein will, aber zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftslosigkeit laviert. Im Sinne einer, nach dem Sprachgebrauch Kierkegaards75 ‚verzweifelten Region‘ kann dem Ruhrgebiet eine protosprachliche Authentizität zugesprochen werden – während Paris, ohne Zweifel als Hauptstadt des Dekors, der 73
Vgl. Ernest Hemingway: Reportagen 1920-1924. Reinbek 1990; Tumulte in Deutschland (1920), Die französisch-deutsche Lage (1923), Hass im Ruhrgebiet (1923) u.a. Artikel. 74 Wenigstens in dieser historischen Etappe gibt es eine direkte Korrelation zwischen dem ‚Untergang von Paris‘ und der Konjunktur des Ruhrgebiets; eine zweite, symbolische ist sicher der Moment, als Hitler 1940 auf dem Trocadero beschließt, von der Ordnung der Stadt begeistert, Paris unangetastet zu lassen – während dann 1944/45 die Engländer beschließen, das Ruhrgebiet ‚kaputt zu sanieren‘, also perverserweise (und unter größten Opfern) die fabelhaften Wirtschaftswunderzeiten protegierten. 75 Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Hamburg 1991. Kierkegaard bezieht sich auf das Geistige und auf den Anteil der Phantasie im Selbstverhältnis, weniger auf den Effekt der Hoffnungslosigkeit. Verzweiflung heißt: „Verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen.“ S.13.
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Ausstellung und Mode selbst zum Museum geworden ist, vor allem im August, wenn die Pariser aus der Stadt flüchten. Was ist denn dann Zukunft? Zukunft ist kein gelobtes Land, keine ‚Metropole Ruhr‘, die sich einen Obelisken wünscht, nein, Zukunft ist Verzweiflung. Es gilt diese Verzweiflung zu artikulieren. Realismus und Naturalismus sind zwei literarische Stile, die unter sich eine Form der Verzweiflung austragen, die für die Literarisierung der Urbanität wesentlich ist: Handlungshemmung und Verführung. Nichts ist verführerischer oder war es für die Gesellschaft zu Beginn des 19. Jh., als der Roman selbst, der nun seinerseits die Verführung der realisierten Romane, etwa der Warenhausund Repräsentationskultur des 19. Jh. anprangert. Ihr Chefankläger ist zweifellos Émile Zola. Zola erlebt den Diskurswechsel vom Roman zum inszenierten Bild (Malerei, Fotografie, Wareninszenierung) in Paris unmittelbar. Es handelt sich um die Streitepisoden zwischen dem Salon, der Akademie und den Impressionisten. Die Weltausstellungen kompensieren ab 1876 diese Differenzen. Sie feiern einen optimistischen, technischen Realismus, der nicht authentisch ist, weil er die Fortschrittsgeschichte als fugenlose Lesart der Comedie humaine des 19. Jh. und der Revolutionsgeschichte der Bourgeoisie ritualisiert. Der Naturalismus Zolas, der die objektive Wareninszenierung spiegelt, versteckt nämlich hinter dem Versuch der Wissenschaftlichkeit der Darstellung eine fugenlose Welt, in der alles auf der gleichen entwerteten Ebene Bedeutung hat, in der die Waren enthierarchisiert wie die Menschen dargestellt werden – unbestechlich, aber einsam. Der Realismus räumt mit dieser inszenierten Objektivität auf und versucht die neuen Hierarchisierungen in den Blick zu nehmen. Damit wechselt er den Standpunkt zur Stadt. Nicht mehr das Panorama des Lebens, der Ausstellungen, der Messen, sondern die Streuung der Ereignisse, der Verdichtungen, der Kumulationen, der Wandlungen und Geschwindigkeiten interessieren ihn. Der Realismus ist der szenische, nicht szenografische Blick, der der Montage und der gereizten Simultanitäten, der sich zum Surrealismus, der die objektive Sphäre der Produktion erhellt, skandalisiert. Man wechselt von der Seite des Konsums auf die der Produktion. Die symbolischen Techniken sind dem Surrealismus Schock und Montage, aber auch die der Sprache vorgelagerten Sphären von Traum und Rausch. 6. LA FEMME EST L‘AVENIR DE L‘HOMME (DIE FRAU IST DIE ZUKUNFT DES MANNES/MENSCHEN; LOUIS ARAGON)
Barthes hat die Trennung zwischen Land und Stadt nicht mehr im Blick; er, wie Sartre, sind durch die Metropole geformt. Sie können sich nicht, wie Francis Ponge, mit aller Liebe einem Stein oder einer Kiefer widmen. Barthes spricht von Erotisierung. Auch noch der fernste Winkel Europas trägt urbane Spuren,
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weil er an den Zyklus der industriellen Produktion gebunden ist, – wer wird sich da noch der Natur eines einzelnen Steins widmen? Der Surrealismus sieht auf diese Trümmer und ahmt die authentische Bewegung der Unbewusstheit, der Nichtregierbarkeit, der chaotischen Stadt nach. Das Unbewusste ist da: sichtbar vor Augen, phänomenologisch gelichtet, als von Erfahrung und Vergangenheit gereinigte Existenz. In dieser Phase der urbanen Entwicklung, 1925, schreibt Aragon seinen ‚surrealistischen Roman‘ über das Landleben von Paris. Es werden, nicht zum ersten Mal, aber doch am intensivsten, die Brüche zwischen den naturalistischen Beschreibungen Zolas, der in die Tiefe der Dinge dringt, ihnen eine Geschichte andienen, die einer geheimen Mythologie der Vernunft entspricht, und den hierarchisierenden Montagen des Realismus deutlich. Wenn jeder Tiefenblick inszeniert, nämlich Tiefe suggestibel macht, dann muss der oberflächlichste, automatische Blick die Dinge in ihrer dekonstruktiven Realität zeigen. Die surrealistischen Dinge sind nicht mehr auf einen Ursprung zurückzuführen, sondern erwachen und verglühen im Augenblick, sie sind so episodisch wie das Leben. Zola zählt die Vielfalt des städtischen Lebens unter einem Blickwinkel auf: dem der Herrschaft des Schriftstellers. Aragon dagegen berichtet von der Mystik der Stadt als Heros der Gegenwart, die, weil sie alternativlos ist, eine automatische Gegenwart ist. Ihr narrativer Zwang entspringt nicht mehr der Vernunft, sondern der Existenz, wird aus den zersplitterten Blickwinkeln der Diskurs- und Medienperspektiven, die dem Betrachter ihren Blick aufnötigen, destilliert: Reklameschilder, Plakate, Insertionen, Speisekarten, Inschriften, Fotos: Überall schreibt die Stadt ihre Geschichte, selbst für ihre intimsten Bewohner ist sie touristisches Abenteuer. Nichts hat eine persönliche Bedeutung. Deswegen gibt es in Aragons Roman Le Paysan de Paris (1926) keine Fabel, nur noch poetische Szenen. Der verlorene Flaneur, der zum Abbruch verurteilten Passage de l’Opéra mit ihren hellen und verborgenen Winkeln, schäbigen Theatern und winzigen Bordellen, die der Immobilienspekulation zum Opfer fallen werden, und der nächtliche Park Buttes-Chaumont bilden die zufällige Landschaft für die zufälligen Gänge und Begegnungen des Ich-Erzählers, der zuweilen in Reflexionen über sich selbst der Stadt sich entwindet. Aragon wagt nicht den Versuch einer biographischen Ordnung, nach der Intention der Lesart, die Barthes für die Stadt vorschlägt, er inszeniert zufällige Begegnungen. Es handelt sich jedoch tatsächlich nicht um eine écriture automatique, sondern um eine szenografische Dekomposition, eine hochgerüstete literarische Technik, keinesfalls um surrealistische Nebelkerzen. Aragon wagt diese Collage, um die Verführung der Blicke, der Übersichten über das ‚Pariser Landleben‘, zu brechen. Er seziert die Stadt als Leiche, baut die Allegorie eines urbanen Körpers als Hirngespinst nach und wird so zum Schöpfer einer neuen Stadt. Wie jede Allegorie ist auch die der Stadt der
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Versuch einer maschinellen Wiederbelebung, um dem Tod nicht in die Augen sehen zu müssen. Während bei Zola die Immobilienspekulationen in der Stadt (zentrales Motiv im Roman Nana) einem wohldurchdachten Plan der Gier genügen, sind es bei Aragon unpersönliche Mächte, Zufälle und Planlosigkeiten, die den Leib der Stadt in Besitz zu nehmen wagen. Wie inszeniert diese Zufälligkeit ist, bemerkt man schnell, wenn man weiß, dass die in Le Paysan de Paris durchstreifte, der Spekulation und dem Abbruch preisgegebene Passage de l’Opéra eben derjenige Ort ist, an dem Zola den Rausch des Modewarenhauses Bonheur des Dames (Paradies der Damen) mit unbestechlichem Blick analysiert. Während aber Zola ein chronistisches Verhältnis zur Wirklichkeit hat, hat Aragon eine inszenatorisches. Sollen die ‚unbewussten‘ Strömungen des Lebens, der Natur des Menschen in der Stadt sich gegen die Ordnungsgewalten, deren Statue Aragon als „den Polizisten“ verkörpert, sich im Wahn retten? Nicht die Gier, sondern die Ökonomie der Vernunft, klagt Aragon gegen Zola an. Er setzt dagegen die Effektivität der Affektionen der Stadt, die ihre Bürger zu Objekten macht. Erst von dieser Entmenschlichung aus sind realistische Stellungnahmen zu erwarten: doch es ist der Realismus des Spiels ohne entfremdende Regel. Aragon ist schlicht ein Bewohner der Stadt Paris, kein Agent des Außen wie Zola. Schon in Zolas Der Bauch von Paris weiß die geheime Polizei immer schon mehr als das Gerücht, das sich ihr zuträgt. Überhaupt ist diese fette, kleinbürgerliche Gesellschaft eine, die sich von Spitzeln durchsetzt, von falschen Ordnungen befohlen zeigt, die keiner anderen Aufgabe sich verpflichtet, als die Verführung und die Erotik und die Widersprüche der Stadt in eine fügsame Ordnung von leerer Sinnlichkeit zu verwandeln, genauso wie Zola den Detailreichtum unendlicher Waren- und Nahrungsströme in einem Roman versammelt und damit seiner Kritik zuwiderhandelt und doch unentwegt den Verlust der Gerechtigkeit im Gesetz der Vernunft anklagt. Deswegen sind seine Schriften durchsetzt von melancholischer Ironie. Nichts davon bei Aragon: „Ich versuche in dieser hektischen Schrift zu lesen und das einzige Wort, das ich in dieser sich unablässig verändernden Keilschrift zu entziffern glaube, ist nicht Gerechtigkeit, es ist Tod.“76 Und in der Tat animiert die surrealistische Montage die Leiche der Stadt vom diesseitigen Blick aus. Bei Aragon werden die Regeln der Dissimulation auf freiem Felde im Spiel selbst erzeugt. Die zentrale Aussage Aragons passt weniger zu Paris als zum Ruhrgebiet, das sich niemals zur spielerischen Leichtigkeit von Paris aufschwingt: „Die Realität ist der sichtbare Mangel an Widerspruch.“77 Während der 76 77
Louis Aragon: Pariser Landleben/Le Paysan de Paris. München 1975, S.40f. Ebd., S.251.
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Polizist sein Auge unter die Ordnung des Gesetzes als widerspruchs- und konfliktfreie Realität stellt, die Legislative der Stadt ‚liest‘, ist die Frau in ihrer zufälligen und schicksalhaften Erscheinung als Entzugsform, als eine Art ‚Nichts‘, die jede Ordnung unterminierende, unberechenbare Verführerin. Durch sie wird die Phantasie des Mannes beständig in eine Dissimulation der projektiven Ordnung verstrickt – wie fast zeitgleich in Murnaus Sunrise und in Mays Asphalt. Was die Nachtseite der Stadt verkörpert und an abwegigen Chancen dem Drängen des Menschen – genauer des paranoiden Mannes als seine Selbstverfolgung – von der Stadt gespiegelt wird, dafür ist die Polizist keineswegs blind: Sie lässt gewähren und garantiert noch auf dieser Nachtseite des Lasters ihre patriarchale Macht. Im Sinne der urbanen Ökonomie gewährt sie dem Doppelleben der Metropole ihren Platz.78 Noch der ärmlichste Bandit verkörpert den verfolgten Verfolger, dessen Aufstieg zum Kleinbürger er dem Umstand verdankt, sich ein Doppelleben leisten zu können. Indem Aragon diese gendrifizierte Seite der Stadt entfaltet, schlägt er eine neues Kapitel in der Beschreibung der Stadt auf, nämlich die Unterscheidung Vaterstadt – Mutterstadt. Aragon begreift die Funktionsordnung der Stadt als Teil eines Rätsels, den sichtbaren Vollzug eines Widerspruchs, der sich in ihrer Weiblichkeit verkörpert. Der surrealistische Kampf für die Phantasie und die Befreiung ihrer medialen Protoformen, dem aktualen Unbewussten und der Szene als intrinsischem Regulativ, dürfen nicht zum Produkt einer widerspruchsfreien Wirklichkeitserzählung gerinnen, sind folglich dazu verdammt, in Anfängen stecken zu bleiben. Doch „die Einbildungskraft bleibt nie unbelohnt, sie ist bereits der gefürchtete Anfang einer Verwirklichung.“79 Auch hier deutet sich ein ganz anderes Ursprungsparadigma an. Die Neurose, die sich daraus ergibt, besteht darin, die Einbildungskraft in einem vollendeten Kunstwerk mit graziler Technik gewebt zu veröffentlichen, sie vollständig zur Erfahrung der Stadt Paris werden zu lassen, Paris, wie Hemingway zeitgleich formuliert hat als ‚Fest fürs Leben‘. Die fragmentarische Montage, das stetige Beginnen der Surrealisten, die wie Aragon aus den unendlichen Romananfängen keine Fabel formen wollen, um die Stadt nicht in eine psychotische Verdopplung zu treiben, eine Stadt, in der allein die erotische Schwüle der Nacht, der Bordelle, der Bistros und Schmierentheater, der nicht inszenierten Orte das weglose ‚Land‘ des Menschen widerspiegelt, während alle offiziellen Orte Inszenierungen der Verdeckung, Entfremdung, Sublimierung und paranoetischen Selbstverfolgung, des Verkehrs, der Information, des Funktionellen darstellen; – dieser Montagetechnik ist der Vorwurf gemacht worden, sie gebäre eine tote Natur, eine Welt allegorischer Quasimodos, die im Proszenium, im Fundus der Geschichte sich melan78
Das Wahlrecht für Frauen wird in Frankreich erst 1945 dauerhaft eingeführt. Pariser Landleben, a.a.O., S.162.
79 Aragon,
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cholisch versenke. Dieser Vorwurf ist von Benjamin bis Lukács dem Realismus insgesamt gemacht worden: Er gäbe zwar im Gegensatz zum Naturalismus eine hierarchisierte Qualität der Wirklichkeit wieder, aber diese sei – und hier müssen wir uns die Fragmentierung des Ruhrgebiets vor Augen führen – subjektiv, nicht selektiv, das meint, nicht in durchgängiger Weise motiviert. Wenn Aragon behauptet, die Außenwelt soll mit dem ‚Unbewussten‘ gleichzusetzen sein80, dann fordert er nicht, so wie man es für das Ruhrgebiet gerne sähe, eine Einheitlichkeit der Motive und Bilder, eine naturalistische, von einer Dramaturgie durchzogene Handlungswelt, sondern die Rekonkretisierung der ursprünglichen Widersprüche der Stadt als einen heterogenen Topos zufälliger Beziehungen, in der die Bequemlichkeit einer Logik der Rationalität alles in eine Beziehung der Dienstbarkeit gesetzt hat, die dem Funktionalismus und der Technik gehorcht. Gegen diesen bleischweren Ökonomisierungszwang der industriellen Stadt steht Paris als Weib. Die Metapher vom Landleben in der Stadt Paris entlarvt eben auch das Bild des unbekannten Landes, das in Frankreich stets mit der rückständigen Provinz verbunden wird, als falschen Schein: Es geht nicht um motivische Ordnung und Unordnung, sondern um die Inversion des Ursprungs als Präsenz: die Aktualität des Ereignisses. Dieser invertierte Blick ist bei Aragon das Negat des Todes, denn die Aktualität ist in sich der verlorene Ursprung. Jeder, der aus der Stadt eine Geschichte saugt, verfehlt das Urbane grundsätzlich, weil er ihm ein Ziel gibt. Es sind Lukács und Benjamin, die sich einer falschen Literarisierung schuldig machen. Aragon ersetzt ihre Motivationsversuche durch die tanzende Feder der poetischen Dekonstruktion. Das Opfer sind die romanesken Lebenszusammenhänge. Kritik, nicht Ironie ist seine Waffe – aber er kämpft mit einem rhetorisch fein geschliffenen Stahl um die Vorherschaft der Sprache der Stadt. Das Leben als Roman, das Frollo für das Gutenberg-Zeitalter voraussagt, ist ein politisierter, von Ideologie gereinigter Sinn. Wenn Zola den biografischnarzisstischen Sinn im Kontrast einer synästhetischen Beschreibung von Natur und Mensch noch retten kann, indem er alle Blicke enthierarchisiert und ihnen gegenüber gleiches Interesse aufbringt, wird das Dasein schicksalhaft, und zwar dadurch, dass man mit allen anderen Schicksalsgenossen an der gleichen Blickwelt der Stadt Anteil hat. Diese Schicksalsgemeinschaft urbanen Lebens zerbricht bei Aragon, weil er nicht auf den Blick (und schon gar nicht auf die Bilder), sondern auf die Dinge sich verlegt, in denen die Blicke verzaubert sind – den Phantasmagorien des benjaminschen Passagenwerks nicht unähnlich. Während aber benjamin durch die Bibliotheken streift, streift Arragon durch die Halbwelt der Stadt. Man sollte sich vorstellen, Aragon hätte seinen Roman nicht über das zentralisierte Paris geschrieben, sondern über die industrielle Plutokratie des Ruhrgebietes. Das Ruhrgebiet ist an sich schon surrealistisch. Dem Ruhrgebiet 80
Ebd., S.150.
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fehlt von Anbeginn seiner Industrialisierungsgeschichte, um 1850 – als Hugo noch romantisiert – der Sinn für Sinnlichkeitszusammenhänge. Es ist die Künstlichkeit einer solchen Produktion von Gesellschaft, vom ‚Neuen Menschen‘, die sowohl Aragon wie das rote Ruhrgebiet einer Idee von Kommunismus zutreiben, die dann falsch wird, wenn sie sich aus der Geschichte begründet und nicht erkennt, dass der Kommunismus in der urbanen Globalisierung vollendet sein wird. So oft Aragon vom Tod spricht, so oft versprechen die Agenten der RUHR.2010 vom maieutischen Akt, der in Zukunft gehen zu lernen vermag – obwohl es doch nur noch Anfänge geben kann. Während aber die Surrealisten in Paris noch anstößig waren, sind es die Szenografen der RUHR.2010 nicht. Alle Aktionen, das zeigt insbesondere die Loveparade in Duisburg, sind der Allmacht der Polizei und der Selbstkontrolle der Vernunft unterworfen.81 Es gärt nicht im Ruhrgebiet – um auf diese aggressive Form der surrealistischen Zersetzung zu verweisen. Dem kommunistischen Entwurf folgt die totalitäre Gefahr. Das ist der Status der Stadt, wie sie Lefèbvre Ende der 60er Jahre beschreibt, als es in Paris gärt: Die urbane Realität, die an Umfang gewonnen hat und jeden Rahmen sprengt, verliert in dieser Bewegung die ihr in der vorangegangenen Epoche zugeschriebenen Eigenschaften: organisches Ganzes, Zugehörigkeit, begeisterndes Bild, ein von glanzvollen Bauwerken abgemessener und beherrschter Raum zu sein. Inmitten der Auflösung städtischen Wesens treten Zeichen des Urbanismus auf. Die städtische Wirklichkeit wird Befehl, unterdrückende Ordnung, Markierung durch Signale, wird summarische Verkehrsordnung und Verkehrszeichen.82
Roland Barthes hat sich immer für die kritische Bezugnahme auf dieses System von Zeichen als Ordnung des Designs ausgesprochen, allerdings auch nicht abgelassen, diese Ordnung zu favorisieren, die er durch die Kontamination mit Kritik hoffähig zu machen glaubte. Das „Abenteuer der Semiologie“ spukt heute nur noch in Gelehrtenköpfen, Zeichen sind allegorische Avatare und Interfaces geworden, die einen posturbanen Raum bevölkern, dessen Wesen nicht mehr geografisch und nicht mehr im patriarchalen Signifikanten zu verorten ist. Man spricht von Inszenierung, von Simulation, Szenografie und Szenologie? Ist das eine Masche, die wie eine Sternschnuppe verglüht – wie die schwindsüchtigen Schönheiten, an denen Aragon vorbeiflaniert, wie der Unisex der Moderne? Lefèbvre versucht eine Ableitung, indem er das Bild der zentralistisch geordneten Stadt Paris einem Vergleich unterwirft, der zeigt, worum es der Sache nach geht. Die Industriestadt, häufig eine formlose Stadt, eine Agglomeration von kaum städtischem Charakter, ein Konglomerat, ein Ineinanderübergehen von Städten und Ortschaften – wie 81 Vgl. 82
den Beitrag von Weismüller in diesem Band. Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte. München 1972, S.20.
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etwa im Ruhrgebiet – geht dieser kritischen Zone voraus und kündigt sie an. An diesem Punkt zeigen sich sämtliche Auswirkungen der Implosion – Explosion. [...] Die Wirklichkeit der Stadt ändert die Produktionsverhältnisse, ohne jedoch einen echten Wandel herbeiführen zu können. Sie wird, gleich der Wissenschaft, zur Produktivkraft.83
Was sollte diesen Wandel bewirken, wenn die Stadt selbst zu einem Designgegenstand, zu einer mobilen Ware geworden ist? Müsste dieser Wandel nicht darin bestehen, die Stadt in ihrem Bilde erstarren zu lassen, so das Ziel eines betriebswirtschaftlich orientierten Marketing des Produktes ‚Stadt‘? Und ist der Mythos der Stadt als einer Einheit, die „die Überwindung der Zerstückelung der Arbeit“84 erreichen könnte, nicht die konstitutive Größe einer Gesellschaft, die sich als utopische legitimieren muss, um ihre gegenwärtigen Verbrechen zu decken? Es geht jenen Rechenschiebern um die Ideologie eines künstlichen, städtischen Paradieses, nach dem Untergang der Fiktionen des Natürlichen und des Naturalismus, d.h. um die Erweckung eines touristischen Blicks, der der Arbeit enthoben, die künstliche Stadt virtuell oder real – das wird durch GPS und nachfolgende Dienste bald schon dasselbe sein – zum Verschwinden bringt. ‚City-Hopper‘: Die Stadt in der Einkaufstasche, zum Mitnehmen. Das Ruhrgebiet scheint hier relativ resistent zu sein. Die Zersplitterung ist eine Form des Widerstandes gegen das Signum der alten Stadt: „die Zentralität“. Das Ruhrgebiet stellt sich nicht „zur Schau“, der „Blick“ bleibt unversammelt. Man könnte meinen, gerade das reizte den fotografischen Apparateur, der je nur das dekontextualisierte Fragment zur Aufnahme bestimmt. Doch wo der Gesamtzusammenhang immer schon fehlt, bricht sich ein übersteigerter Realismus Bahn, der in den naturalistischen Horizont sowohl einen vertikalen Schnitt, als auch in der Demokratisierung der Fotografie ein egalitäres Moment, einen Horizont einfügt. Bemerkenswert am neuen Bild des Ruhrgebiets ist, dass nicht das Gebiet selbst, sondern die Inszenierungsformen, also jene Ordnungszentren einer detopologisierten Landschaft zu Bildmotiven erwählt werden, so wie der Tourist nur noch das Foto macht, was ihm die Welt als für das Foto zugerichtet präsentiert. Damit verweigert sich die von Zola dem Leser in Aussicht gestellte Möglichkeit, über die Hierarchisierung zu entscheiden. Gerade hier beginnt das Abenteuer Ruhrgebiet: in den Wüsten des Wohnens und den unzugerichteten Brachen, die man lustvoll durchstreifen kann. Innerhalb des Boulevard Peripherique gibt es solche Gebiete wie den Park Buttes Chaumant, den ehemaligen Steinbruch und Park der Weltausstellung von 1867, den Aragon als Poet betritt, fast nicht mehr. Paris ist ein über Generationen festgetretener Mythos, das Ruhrgebiet eine Archipel im Meer, in dem jeder Schritt von Untergang, von Rettung 83 84
Ebd., S.20f. Ebd., S.113.
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und von Hoffnung kündet. In der Momentaufnahme dieser Ambivalenz von Aufbruch und Untergang zeigt das widerständige Medium Fotografie, die für sich selbst transparent, aber nicht transzendent sein kann, wie die Bedeutungen selbst in Verwesung übergehen, die Fotos durch die Fotos abgelöst werden, wie die Strategien der Metropolisierung, ohne dass sich wie in Paris ein ‚archäologischer‘ Bedeutungsraum erschließt, ausfließen. Vielleicht ist es deswegen angebracht, das Ruhrgebiet mit jenem Ort in Texas zu vergleichen, in dem die Protagonisten ohne Gedächtnis erwachen – so die Metapher von Wim Wenders in Bezug auf Orte, die ohne Bedeutung nur Bilder sind. Es sind keine ins Ungewisse führenden Abenteuer mehr, die sich als Orte von Heimat einrichten. Doch die würden sich einstellen, wenn man an beliebiger Stelle von der A40 in die Örtlichkeiten fahren würde. Spätestens nach einem Kilometer abseits der Autobahn ist der Fremde blind in jeder Richtung. Hier, wo die Nacht der Erkenntnis transzendentaler Heimatlosigkeit graut, ist die Stimme der Stadt nah und fern zugleich. Diese Ferne ist der utopische Different, der das Ruhrgebiet im Vergleich zu Paris in die bevorzugte Lage bringt, mit unverwirklichten Utopien ein politisches Mandat zu haben. Wie graduell die Unterschiede auch sind, zwischen einer Region, die von außen den Zwang erhält, touristisch erschlossen werden zu sollen, und einer Stadt, die sich im Sommer, wenn die Pariser ans Meer fahren, touristisch aufgibt und dabei Disneyland an Simulationswert überholt85, zeigt eine prophetische Passage, die Lefèbvre dem Konfliktpotential des Differenten zukommen lässt. Dabei geht es nicht mehr um den Ruhrkampf, den Paris damals verloren hat, sondern um den zwischen produzierender und konsumierender Gewalt. Das (soziale) Beziehungsgefüge verschlechtert sich entsprechend der Entfernung in der Zeit und im Raum, die Institutionen und Gruppen trennt. Hier werden sie in der (virtuellen) Negation dieser Entfernung aufgezeigt. Hier ist die Ursache für die latente Brutalität zu suchen, die der Stadt inhärent ist. Aber auch für den – gleichermaßen beunruhigenden – Charakter der Feste. Ungeheure Menschenmassen sammeln sich in Trance und gespielter Glückseligkeit auf der verschwimmenden Grenze zwischen hemmungslosem Jubel und hemmungsloser Grausamkeit. Es gibt kaum ein Fest ohne ‚Happening‘, ohne Massenbewegung, ohne Niedergetrampelte, Ohnmächtige, Tote. Die Zentralität, die in den Bereich der Mathematik gehört, gehört auch in den des Dramas.86
Das ist kein Bericht von den Loveparade-Ereignissen in Duisburg, sondern eine Reminiszenz der 68er Revolte, die, so wird kolportiert, in ein Fest der Phantasie umschlägt, als die Eroberung der Börse in greifbare Nähe rückt: Man war schockiert von der eigenen Verführung zur Macht. Es geht darum, 85
Ordnungspolitisches Zeichen: Im August kann man in Paris im öffentlichen Raum kostenlos parken, weil auch ein Großteil der Polizeiorgane aufs Land fährt. 86 Lefèbvre, Die Revolution der Städte, a.a.O., S.128.
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sich im Affekt einem Differenten zu nähern, der man selbst ist, indem man die Verführung der Inszenierungen auf sich wirken lässt. Die Verführung der Urbanität wird durch eine Technik der Suggestion getragen, die dem Verführten die Einsicht belässt, verführbar zu sein. Auf diese Weise ist die ökologische Stadt, die der größten Verführung, in der Opferstoff und Rohstoff identisch werden. Die zivilen Kontrolltechniken der Stadt mögen die Choreografie von Mathematik und Drama, von szenografischer Hochtechnologie und mythisierten Inszenierungsinhalten als Versprechen opferloser Feste und Paradiese begleiten. Für die bewohnbare Stadt gilt ein anderes: den Konflikten, Brüchen und Krisen des Lebens eine Sprache zu geben. Szenografien der Stadt sind, in wenigen künstlerischen Ausnahmefällen an einer solche Ausdrucksform nicht interessiert, weil sie nicht, wie Aragon, den Umweg über die Situativitäten sich erlauben. „Das Urbane ließe sich somit als Ort definieren, an dem Konflikte Ausdruck finden.“87
87
Ebd., S.186.
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CHRISTOPH WEISMÜLLER
INSZENIERUNGEN DES UNBEWUSSTEN DER METROPOLE
ZUSAMMENFASSUNG
Die Metropole ist die Erstarrung der Bewegung (der auf ihrem Weg mordenden Flucht vorm Tod, der in und von ‚Mutter Natur‘ droht). Diese Bewegung kehrt innerhalb der ihr auferlegten Erstarrung wieder. Sie kehrt technisch, medial, monetär vermittelt wieder: als Event, Krise, Katastrophe oder als subjektiver Wahn. Inszenierungen der Metropole setzen das in ihr Verstillte und Verunbewusstete wieder in Bewegung. Inszenierung ist eine Wiederkehr des Verdrängten. Inszenierung ist auch: die Durchsetzung von Machtverhältnissen, Bestimmung eines Territoriums, Besetzung der Vermittlungsoptionen. Kurz: Inszenierungen der Metropole sind gewalthafte, ästhetisierende Übergriffe zur Etablierung von – zumeist technisch-medialen – Machtverhältnissen. Die etablierten Machtverhältnisse aber können vermittels der Inszenierungen szenologisch und philoszenisch intellektuell erschlossen werden. Inszenierungen des Unbewussten haben bekanntlich Symptomcharakter. Das ist spätestens durch Sigmund Freuds Psychoanalyse und die dortige Aufarbeitung der Hysterie und weiterer Psychopathologien allgemein bekannt geworden. Symptome sind eine Art von Notbremsung, Formen der letzten Einhaltsgebietung vor der Erfüllung des Begehrens, welches in seinem Extrem dazu strebt, nichts anderes mehr neben sich zu dulden, also alles zu sein, das heißt: autonom, autark, absolut, die Totale ohne den kränkenden Anderen und schließlich: das eigene Nichts mit sein, die Inklusion der ultimativen Grenze seiner selbst. Eine Inszenierung ist immer auch die Moderation solchen unbewussten Begehrens, das heißt: a. sie kappt die Spitze solcher Krankheit zum Tode, b. sie formt aus solcher Abwendung Symptomatiken und c. sie entfaltet diese in der Breite auf subjektiver wie auf objektiver Ebene, so dass sie damit auch d. die Basis für den bewussten und reflektierten Umgang mit dem in der Zeit des Humanen unaufhebbaren Begehren einrichtet, das da ist: seiner selbst – und damit auch der Grenzen des Selbst: der Zeugung und dem Tod – ganz inne werden zu wollen.
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Die Inszenierung – selbst wenn sie methodisch auf den Bereich bewusster Handlungen beschränkt wird – bremst gleich dem Symptom die volle Stärke des Wiederaufbrechens des Unbewussten ab, die Gewalt der Erfüllung des Begehrens, des Durchbruchs des Triebs, moderiert das Selbst-seine-Zeugungund-noch-sein-Tod-sein-Wollen auf die Fortsetzung des Wollens und das Absehen von der korporalen Realisierung des Todes hin. So erhalten sich Zeit und Raum an der Inszenierung und ziehen sich nicht auf nichts/Nichts zusammen: So kann eine Distributionsordnung für den Zugang zum Nichts eingerichtet werden, eine technische Organisation des Todestriebs auf objektiver Ebene Platz nehmen. Diese Distributionsordnung für den Zugang zum Nichts, solch eine technische Organisation des Todestriebs auf objektiver Ebene, ist das Unbewusste der Metropole, ein Unbewusstes, das dringend als solches gewahrt werden muss, damit die Metropole praktikabel bleiben kann und die Einwohner sich nicht, von Angst und Schrecken durchdrungen, aus ihr herausstehlen durch Stadtflucht, Suizid oder anderes. Dieses Unbewusste der Metropole aber bedarf andererseits für die Subjekte seiner Aufklärung und Bewusstwerdung, damit eine Differenzierung und Absetzung möglich wird vom subjektiven unbewussten Agieren nach den Vorgaben des Unbewussten der Metropole. Die Metropole: Das ist die dingliche, technische, urbane, fetischistische, warenästhetische Moderation der Zugänge zum Tod und Teilhabe der Subjekte daran. In ihr Zugänge und Abgänge zu sperren, das ist immer ein Panik provozierendes Anmahnen des Unbewussten der Metropole, das heißt ein Hervorrufen der Bedrängnis des Todestriebs, also die Aufforderung, vorm drohenden Tod die Flucht zu ergreifen, Gedächtnis von ihm zu bilden, so ihn identifizierend mitzunehmen und an anderem Ort und gegen andere – wie zur Selbstfreisetzung – ihm wieder freien Lauf zu lassen. Solches allerdings kann höchst problematisch, buchstäblich aporetisch und tödlich bedrängend werden, wenn die Zu- und Abgänge, wenn die Moderationswege der Metropole, und damit ihr innerstes und äußerstes Wesen, versperrt sein sollten. Wie aber wird die für die Metropole kriteriale dingliche, technische, urbane, fetischistische, warenästhetische Moderation der Zugänge zum Tod vorgenommen? Diese nimmt Platz als Inszenierung – genauer gesagt: als die Inszenierung lustvoller Möglichkeiten zur scheinbaren Überwindung der Grenzen des sterblichen Körpers. Vom Anfang der Polis an, und wahrscheinlich auch schon zuvor, verknüpft sich der Mythos der Freiheit mit der Stadt und der Metropole; mit Ausnahme vielleicht der antiken Stadt Sparta ist sie errichtet aus dem Versprechen, der unmittelbaren Not der Erhaltung des Körpers entsagen und ihm die Seiten der Lust abgewinnen zu können; sie ist der Ort, dem – nach Aristoteles – die ‚Freundschaft‘ zum Prinzip wird, das heißt die Optimierung des inneren Wohlergehens der Polis durch standes- und vermögensgemäße Selbst-
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integration und die Abwehr äußerer Bedrohungen; sie ist die Inszenierung des dem Tode entwundenen Körpers der Freiheit. Die Metropole ist eine Inszenierung der Todesabwehr. Das heißt: 1. Sie ist um dieser Abwehr willen errichtet; sie ist ein Abwehrphänomen; 2. es gehört zu ihrem Wesen, solche Inszenierungen der Todesabwehr in sich freizusetzen; diese entfalten sich aus der Ordnung der Herstellung der Metropole sowie aus der ihr mit ihrer Produktion eingetragenen Logik heraus. Das meint: Die Metropole kann nicht anders, als immer wieder ihre Produktionsund Konstitutionsbedingungen auf den eben genannten Ebenen durchzuarbeiten: dinglich, technisch, urban-architektonisch, fetischistisch, warenästhetisch – aber auch gesellschaftlich, intersubjektiv und rückbezüglich auf die Körper und Vorstellungen des Einzelnen. Inszenatorisch durchgearbeitet wird also die Herkunftsfrage: Welchen Opfern und welchen Gnaden verdankt sich die Metropole? Mit der Inszenierung verbunden ist aber auch deren Aufhebung in quantifizierte und dinglich, technisch objektivierte Formen und damit ist zugleich das Prozedere des Selbstbegründungsprozesses der Metropole eingeleitet, welcher nun quasi die Vorzeit der Metropole zu ihrem Selbstbestand zu erklären versucht: Eine in sich selbst begründete Metropole fände nämlich die Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft in sich selbst. Das bedeutete, dass sie selbst als die Erhabenheit und Größe des Körpers erschiene, der zu ihrer Konstitution zu opfern war. Im Sinne solcher Erhabenheit imponierte die Metropole als praktisch nach- und mitzuvollziehender Plan zur Überwindung der Grenzen des sterblichen Körpers und zugleich als die konkrete Realität des Opferns. Was nun wäre besonders geeignet zur Inszenierung der scheinbaren Überwindung der Grenzen des sterblichen Körpers, hinein in eine Gestalt der – real-phantasmatischen – Verfügung der Sterblichkeit? Ist dazu nicht besonders das Zitieren des Herkunftsortes geeignet, also die Deklaration der Macht über die ansonsten unverfügbare Herkunft? Ich möchte dies betreffend auf den Begriff Metropole zu sprechen kommen: Bekanntermaßen wurde der Begriff der Metropole übernommen vom griechischen Wort Metropolis, und das heißt übersetzt: Mutterstadt. Kaum wohl bewusst ist es den meisten Menschen, die im Metropolen-Kontext leben und arbeiten, dass ihr urbanes Umfeld in einem früh schon bedachten Zusammenhang mit dem mütterlichen Körper steht. Allemal unbewusst und doch in mannigfaltigen Formen inszeniert ist das beständig ausgetragene Verhältnis, die Näherung wie die Abstandswahrung zu der zu Stein, Architektur, Technik, Verkehr, Geschwindigkeit, regionaler und überregionaler Kultur, Warenästhetik transformierten Mutter. Jeder Einzelne, der auf Dauer in der Metropole lebt, und auch diejenigen, die nur durch sie hindurcheilen,
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müssen sich in einen Bezug zu den urbanen Transfiguraten des Mutterkörpers bringen. Diese nämlich scheinen, wie einst die Mutter selbst, dafür einzustehen, jeden Einwohner, durch den Bezug auf sie, vorm Tode zu schützen, deren Leben zu sichern und, mehr noch, aus sich heraus und in sich hinein diese immer wieder wie neu zu gebären. Das gilt zumindest solange, wie die Einwohner das Verhältnis von Nähe und Abstand, das heißt die Vermittlung zu den urbanen Inszenierungen und damit die Metropole als vermittelte – und wesentlich unbewusst bleibende – Inszenierung und als inszenierte Vermittlung – des Abstands zu Tod und Geburt – wahren. Verlässt der Einwohner, der Teilnehmende und Teilhabende am Metropolenwesen allerdings die Marge der Vermittlung, gerät er den Inszenierungen der Metropole – das heißt dem zur Urbanität transfigurierten Mutterkörper – zu nah oder aus denselben heraus, so droht der Tod, und zwar entweder auf den bloßen Körper hin als das Begrabenwerden unter den Transfiguraten, also unter der Materie des Metropolenbaus, oder das Zerrissenwerden auf den Verkehrswegen, oder es droht andererseits die Loslösung der Transfigurate, des Gedächtnisses, vom Körper. Die Metropole verlangt von jedem, der an ihr teilhat, dass er den richtigen und von ihr auch angezeigten Abstand zu halten vermag und nicht zu viel oder zu wenig Körper oder Ding haben oder sein will. Die sterblichen Teilhabenden arbeiten an solcher Margensicherung und kommen dabei nicht darum herum, anmaßend zu sein gegenüber der dinglichen Inszenierungsvorgabe der Metropole. Die Sterblichen inszenieren anmaßend, indem sie übergriffig sind auf die Vorgaben und letztlich gar so sein wollen wie diese; sie konsumieren, distribuieren diese und richten neue Produktionen an diesen aus, indem sie amateurhaft oder professionell das Wesen der Metropole weitergestalten. Das heißt: Sie inszenieren um solcher Abstands-, Margenbildung willen ohne Unterlass die Inbesitznahme vermittels der Verdinglichung und Stadtwerdung des Mutterkörpers in den unterschiedlichsten Arten und Weisen. Alles, was in der Metropole gemacht wird, gehorcht solcher Vorgabe. Dergestalt wird unentwegt die eine grundlegende Inszenierung der – real-phantasmatischen – Überwindung des Todes durch anschauliche, gegenständliche Disposition von Totem wiederholt. Die Metropolenvorgabe und die in ihr nach ihren Vorgaben Handelnden sorgen besonders dafür, dass nichts von solchem Daueropferwesen, von solchem steten ([Mutter-]Opferleichen-)Transfigurationsgeschäft ruchbar wird oder fühlbar, schmeckbar, hörbar, ersichtlich, eben öffentlich. Und somit gehört es auch zum metropolen Geschäft, das Hören und das Sehen, insbesondere das Sehen als die stärkste, quasi körperlich-natürliche Fluchtbewegung vom Körper fort – und damit Abdeckung auch der akustischen Bedrohlichkeitsreklamation –, allmedial in Beschlag zu nehmen und so abzulenken von der Sterblichkeit der Körper und der Gewalt und Schuld und Opfer erzeugenden Flucht vor derselben in die Erhabenheit einer metropolen Welt,
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und zwar durch das besagte Transfigurationsgeschäft. Das alles ist allerdings Talmi, wenn auch sehr real. Die Abdeckung solcher allumgebenden todesbedrohlichen Verhältnisse ist aber keineswegs lückenlos gewährleistet. Es werden immer wieder Erkenntnislöcher aufgerissen und einige von diesen eine geraume Zeit lang offen gehalten; das nötigt innerhalb der Metropole dazu, Sonderräume zu schaffen, die ein großes Spektrum zwischen Produktivität und Anti-Produktivität abdecken: Hochschulen, Akademien, Gefängnisse, Krankenhäuser, Psychiatrien und weitere Enklaven möglicher Erkenntnis. So imponieren neben dem Progress des Metropolenbaus auch stets wieder vermittelte wie auch unvermittelte Entfaltungen dieses Unbewussten auf der Seite der Subjekte und Körper. Fast gänzlich unvermittelt ist solche Entfaltung des Unbewussten in den Formen der Pathologien, insbesondere bei den Psychopathologien, bei denen das quasi-natürliche Vermittlungsorgan, das Vorstellungsvermögen, besonders betroffen ist. Im Rahmen von Psychopathologien wird der Bezug der sterblichen Körper zur kulturellen Umwelt auf der Ebene des Vorstellens – und damit der Bezug des subjektiven Vorstellens zu dieser durch Transfiguration dinglich ausgefüllten Vorstellungswelt – besonders deutlich. Bezieht sich ein Symptom auf einen Gegenstand der Metropole, so sind Körper und Vorstellung des Kranken in einen Bezug gebracht zum Unbewussten der Metropole und die Abdeckung der allumgebenden todesbedrohlichen Verhältnisse ist wie in einer Nachholung der Herstellung der Metropole, als eine Körper- und Vorstellungs-Schau der Metropolenkonstitution, als Körperopferinszenierung zur Erhabenheitsrealisierung, aufgerissen. In einem weiteren Sinne handelt es sich diesbetreffend also um ‚Beziehungsprobleme‘, um solche, die aufkommen im Bezug des filialen Körpers zu den Mutterkörpertransfiguraten der Metropole; es handelt sich um Probleme, die sich einstellen, wenn der Wunsch nach einer zu großen, zu umfassenden, zu unvermittelten, unmittelbaren, womöglich gar absoluten Nähe aufkommt und daran die Not zur Flucht ausbricht, die Not, wieder einen Unterschied, eine Distanz, einen Abstand, eine Vermittlung herstellen zu müssen. Durch solche Not ist etwa die Pathologie der Phobie ausgezeichnet. Die hat besonders damit zu tun, Abstand wiedereinzuführen nach einem Durchbruch des Begehrens unmittelbarer Nähe – das, wenn es sich erfüllt, immer tödlich enden muss: als Körper, der an den Dingen sein Ende findet: unterm Auto, unter der Bahn, in der Sucht, im Suizid und so weiter: immer wie ineinsgebildet mit dem Objekt. Die Pathologien in der Stadt sind die Entdeckung des Unbewussten der Metropole am Subjekt. Am Problem des – aufgegebenen probaten – Abstands zwischen dem Subjekt und dem Unbewussten der Metropole laboriert das Symptom. Im Rahmen der Phobie ist es besonders damit beschäftigt, magische und sichere
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Abstände zu den Mutterkörpertransfiguraten einzurichten, welche die ehemals für sicher gehaltenen Räume der Vermittlung ausfüllen und als Gefahrsteigerungsorte neutralisieren sollen. Das Symptom lässt sich mithin erkennen als eine Art Doppelagent, ein Kämpfer an zwei Fronten. Einerseits hält es den Zugang zum Unbewussten – der Metropole – und den Wunsch des unmittelbaren Bezugs zu demselben aufrecht, während es andererseits die Strafe für solche Unmittelbarkeitsanmaßung mit sich führt und der Übergriffigkeit ein Ende bereiten will, doch keine Vermittlung wieder einführen kann. In der Psychopathologie inszeniert sich die Krisis der Vermittlung. Das heißt zumal, dass die Psychopathologie als Gegenstand der Forschung insbesondere für die Medienwissenschaften, die Szenologie, die Philoszenie gar nicht hoch genug angesetzt werden kann und deswegen auch hier im aktuellen Kontext der Metropolen-Diskussion angemessen Platz nimmt. Die Krisis der Vermittlung aber ist das Eingedenken der Produktion der Metropole, ihrer Herkunft; sie ist Erinnerung an die Schuld- und Opferverhältnisse, denen sich die Wege verdanken, an denen die Polis, die Städte, die Metropolen und mit diesen auch die umfassenderen Medien bis hin zu denen der elektronischen Vernetzung zustande kamen. Solches Eingedenken des Opfervorausgangs versuchen die Medien wie die Metropolen in sich als ihre Inhalte und Funktionen verschlossen oder zumindest unter bewusster medien- oder sonstwie technischer Kontrolle zu halten. Auf der technisch-objektiven Ebene ist von daher der Symptomcharakter der Medien wie der Metropolen weniger deutlich zu erfahren und zu erkennen, doch ist er von grundsätzlich gleicher Struktur wie das subjektive Symptom: zusammengesetzt aus dem Wunsch nach Unmittelbarkeit und freiem Zugriff – auf das Objekt des Begehrens – einerseits und der Beschränkung dieses Wunsches andererseits; beide sind von solchem ödipalen Charakter, dem In-Eins von Wunsch und Sanktion, von Inzest und Kastration. An Deutlichkeit, damit aber auch an Fremdheit nicht zu übertreffen bleibt das subjektive Symptom, das an dem Körper wie zu dessen letzter Anmahnung und Verteidigung Platz nimmt und damit stets den Körper völlig überfordert, indem diesem zugemutet wird, auf sich das zurückzunehmen, was menschheitsgeschichtlich, rationalitätsgeschicklich längst an dingliche, technische Objektivitäten abgetreten wurde und im Ausgang von diesen an den Körpern – mit der Folge, dass sie sich daran überheben – vorstellend allererst wiedererinnert werden muss. Geht solcher Bezug des Wiedererinnerns hinaus über den vorgeschriebenen und geplanten Gebrauch der Dinge, über deren technischen Zusammenhang, so führt dies zu einer Anhaftung an den Dingen und wenn diese Anhaftung sich bis hin auf die korporale Fühlbarmachung des Produktionsprozesses der Dinge zu erstrecken beginnt, dann wird deren Unbewusstes am Subjekt öffentlich. Mit solcher Wendung setzt die pathologische, symptoma-
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tisch ausgetragene Krisis-Vermittlung ein. Diese führt zu einem Hin-und Herschwanken zwischen einerseits der mentalen Verinnerung des Objekts, das versteinernd oder auflösend auf den Körper überzugreifen droht, und andererseits der nothaften Veräußerung desselben oder eben einer Abstandseinrichtung zu dem dinglichen Mutterkörperopferobjekt, dessen Nähe in panische – das heißt das Begehren der Identität abwehrende – Zustände versetzt. Das Besondere an den Phobien ist folglich, dass sie die Objekte ihres Bedenkens und ihrer Kritik, das heißt: die aus dem sicheren Bezug, Abstand, aus der zuverlässigen Vermittlung herausgebrachten Mutterkörperopfertransfigurate direkt benennen, kennzeichnen: Als phobische Objekte dienen vor allem Dinge, Tiere und Götter; zu Letzteren zähle ich auch die sonstigen Anmaßungsnöte wie die Höhenangst, die auch sehr deutlich das Vermittlungsproblem zwischen Erde und Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen – Heideggers Geviert – exponiert. Typische phobische Objekte der Metropole sind neben den himmelstürmenden Hochhäusern und Wolkenkratzern etwa die Verkehrsmittel: Auto, Flugzeug, U-Bahn, Bus, Aufzug, Rolltreppe et cetera. Welche Metropole ist denkbar ohne solche Verkehrsmittel? Keine einzige ist denkbar ohne zumindest einige von diesen, solange es noch erschöpfliche, sterbliche Körper gibt, die dem Anspruch der Bewegung in der Metropole unterstellt sind. In den Verkehrsmitteln lebt mithin auf urbanem technischen Niveau die früheste Lebenszeit wieder auf: das intrauterine Getragen- und Mitgenommenwerden, diesmal aber in der Art und Weise, nicht hilflos vom Mutterkörper abhängig zu sein, sondern in verfügender Weise, also etwa mit dem Anspruch der Herrschaft den Gegenständen gegenüber, hinsichtlich des Funktionierens des Autos, der Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit von Flugzeug, Bus und Bahn und so weiter; damit zugleich aber tritt auch die andere Seite des Herrschafts- und Verfügungsanspruchs auf: die Verschuldung gegenüber dem Mutterkörper, diesen so zugerichtet, zu seinem Opfer, zu einem planen Gebrauchs- und Verfügungsgegenstand gemacht zu haben, und zwar nicht nur in meinem Tun aktuell, sondern von jeher bereits… angefangen spätestens beim unabweislichen fetalen Parasitismus. Des Weiteren phobisch besetzt werden im Metropolen-Kontext: – die Verkehrswege: Straßen, Autobahnen, Flüsse et cetera; – die Bauwerke und deren Auslassungen: – freie Plätze (Agoraphobie: die Angst vor freien Plätzen respektive deren Überquerung, die die Raumdimension rechts-links betrifft [Breite] und mit der Gefahr der Überdehnung droht), – Brücken (Gephyrophobie: die Angst vor dem Überqueren der Brücke, welche die Raumdimension vorne-hinten betrifft [Länge] und mit der Gefahr der Unterbrechung droht), – hohe Häuser (Akrophobie: die Höhenangst, die die Raumdimension
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oben-unten betrifft [Höhe] und mit der Gefahr des Sturzes droht), – enge, abgeschlossene Räume (Klaustrophobie: die Angst vor der Raumenge [Raumangst], die die Raumdimension des Rundherum betrifft [insgesamt] und mit der Gefahr des Einschlusses droht) und weitere mehr.1 Die Entdeckung des Unbewussten der Metropolen wird aber auch in den anderen Psychopathologien geleistet, in Sucht, Zwang, Perversion, Psychose, Paranoia, ebenso in psychosomatischen Erkrankungen, etwa der Allergie et cetera. Die Pathologien in und aus der Urbanität entschlüsseln allesamt das Unbewusste der Metropole in gänzlich verstrickter, das meint der Vermittlung barer Art und Weise, dergestalt, dass sie deren mannigfaltige Anmaßungen, die Inszenierungen der Todesüberwindung, auf den Körper des Subjekts beziehen und diesen in solchem Bezug sogleich mit einer drastischen Strafe für diese Anmaßung belegen: Die metropol inszenierten Anmaßungen, insbesondere – aber nicht nur – die Architektur betreffend, finden sich rekorporalisiert wieder in den genannten basalen Phobien bezüglich Plätzen, Brücken, Höhen und Raum – die geometrischen Fundamente Breite, Länge, Höhe und das Rundherum betreffend –; auf der Seite der Pathologien handelt es sich dabei um das Ansinnen, die metropolen Dinge – in der Hinsicht auf die Lösung des Problems der Selbstbegründung – korporal zu überbieten, das heißt um die Behauptungen, körperlich etwas realisieren zu können, was kein Körper einzulösen vermag: Sie sind Anmaßung der Beherrschung der grenzenlosen Weite, der unterschiedslosen Differenzenüberbrückung, der Körper und Tod transzendierenden Höhe und letztlich gar der Allheit; sie sind die Behauptung, das In-Eins von Leben und Tod herstellen und sogar selbst sein zu können. Die an diesen anmaßenden Behauptungen der Metropole durch unvermittelten Selbstbezug Erkrankten konfrontieren und bestreiken einerseits diese anmaßenden Behauptungen und damit die Normalität des Gebrauchs der je speziell betroffenen Ausschnitte der Objektivität und sie geben, das fällt auf bei genauem Betrachten und Bedenken der subjektiven Inszenierungen, die genauesten Aufschlüsse über die Verfassung der Rationalität der Metropole; andererseits aber können sie sich diese Aufschlüsse selbst nicht vermitteln und verfallen dadurch dem Unbewussten der Metropole und den Dingen, die sie kritisieren und bestreiken. Im Weitern will ich mich den Symptomen in objektiver Gestalt sowie dem Verhältnis von subjektiver, intersubjektiver und objektiver Symptomatik widmen. 1 Vgl. Rudolf Heinz: Phobien. Der architektonische Raum in Krankheitsbildern. In: Pathognostische
Studien. Band IX. Differierte Suspension von Psychoanalyse und Philosophie. Essen: Die Blaue Eule 2004, S.143-163, insbesondere Schema S.161.
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Metropole heißt Mutterstadt. Meine These hinsichtlich der objektiven Inszenierung des Unbewussten der Metropole formuliere ich unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Kategorien wie folgt: Bei der Inszenierung der Metropole handelt es sich basal um die vom Sohn begehrte inzestuöse Verfügung der Mutter im Sinne des objektiven Ödipuskomplexes. Die Metropole ist die technisch abgedeckte Dauerinszenierung des Ödipuskomplexes. Es handelt sich um ein unangemessenes und letztlich falsches Theorem, das besagt, der Ödipuskomplex sei ein bloß subjektives Phänomen; denn woher soll den Subjekten sowohl ihre Subjektivität wie der Ödipuskomplex zukommen, wenn nicht durch eine äußere, ihnen vorgängige Instanz, nämlich durch die Produkte und Produktionen der humanen, insbesondere metropolen Kultur, in welchen die Leidenschaften, Lüste und Nöte der Menschen ihre Herberge gefunden haben, aus welcher sie den Körpern als subjektives Erleben ihrer Sterblichkeit rückvermittelt werden? In diesem Sinne ist die Metropole eine Inszenierung der – ödipal strukturierten – Menschheits- und Kulturgeschichte, sie ist ein Gedächtnis derselben, das erinnert werden kann und so aufgebaut ist, dass der Erinnerungsprozess der Menschheitsgeschichte, der ödipalen, narzisstischen und todestrieblichen, stets nach einem sicheren Muster verläuft, welches auch in der speziellen Konstitution der Metropole mit grundgelegt wurde: Sie erinnert sich in ihren Modifikationen, Differenzierungen und Expansionen ebenso wie in ihren Krankheiten, Unfällen, Katastrophen und auch auf der Lustseite in ihren Events an ihre produktive Referenz: den Mutterkörper und das Begehren, diesen in der eigenen Verfügung zu wissen. Selbstverständlich ist die Metropole, auch wenn sie die Mutterstadt heißt, nicht die Mutter, nicht ein Körper aus Fleisch und Blut, nicht eine körperliche Produzentin, nicht ein Uterus. Im subjektiv anhaftenden Wahn oder im objektiven Medium des Films – zum Beispiel Matrix (USA 1999, Regie: Wachowski Brüder) – kann sie sich aber als die Transfiguration des Mutterkörpers und die Auszehrung desselben als ihr Unbewusstes entdecken. Faktisch aber verhüllt die Metropole dieses ihr Unbewusstes, ohne es immer zurückhalten zu können. In Bezug auf die subjektiven Pathologien habe ich das Durchbrechen des Unbewussten bereits thematisch gemacht. Jetzt möchte ich auf die objektiven Symptombildungen und deren Bezug zu den subjektiven und intersubjektiven Symptomen und manifesten Krankheitsausbrüchen zu sprechen kommen. Die Metropole kann ihr Unbewusstes nicht beständig zurückhalten und muss deswegen zu den besonderen Inszenierungsmaßnahmen des im weiteren Sinne kulturellen Bereichs greifen, in dessen Rahmen Unbewusstes dergestalt zum Ausdruck gebracht werden kann, dass es zugleich verborgen wird. Die Metropole muss solche Paradoxien schaffen wie Verkehrsstaus und Suizide; sie muss Entbergungen, Öffnungen auf die Opfereinsicht hin organisatorisch, institutionell, technisch, dinglich immer wieder stellen und warenästhetisch verschließen.
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Ich setze die Bestimmung dieses Unbewussten der Metropole fort mit der Formulierung meiner weiter präzisierten These: Die Mutterstadt ist eine Produktion, die sich der männlichen Okkupation und Objektivation des maternalen Körpers verdankt. Sie ist ein ödipales Wunschprodukt, ein verwirklichter Wunsch der Söhne, ein mannsgeschaffener dinglicher Mutterkörper. Nicht zuletzt ist diesbezüglich der Umfang der Metropole hervorzuheben: Bei diesem handelt es sich um die Konstruktion eines schwangeren Körpers, aus dem die Kultur-Kinder nach männlichen Ordnungen und Regeln geboren werden sollen. Wie es während der RUHR.2010 zu erleben war, handelt es sich dabei um einige Sturz-, einige Zangen-, aber auch viele gelungene Geburten auf der Ebene dinglicher, technischer, ästhetischer Inszenierung. Zwei Inszenierungsexempel Mehrere dieser ‚Geburten‘ waren Kuckuckseier, Bastarde. Das allerdings tut dem Metropolen-Charakter sowie der Öffnung des Unbewussten desselben keinerlei Abbruch. Besonders hervorzuheben ist diesbetreffend das Special-Event Loveparade. I. DIE LOVEPARADE
Hinsichtlich der Diskussion der Ereignisse der Loveparade gilt es besondere Vorsicht walten zu lassen; selbst sich in wissenschaftlicher, intellektueller, philosophischer, szenologischer Rücksicht mit diesem Thema zu befassen, ist heikel. Die Diskussion der Loveparade ist unter strenges Tabu gestellt. Ohne den Ausdruck der Betroffenheit über die 21 Toten sowie ohne einen Vorschlag für einen identifizierbaren Schuldigen bezüglich der Tode und unzähligen schweren und leichteren Verletzungen, gibt es keinen legitimierten Zugang zum LoveparadeDiskurs. Die Loveparade gehört aber ganz wesentlich zur Metropoleninszenierung; allerdings kommt an dieser Stelle bereits ein erstes Stottern und Stolpern auf, denn die Loveparade gehört zweifelsohne zur Inszenierung einer ganz anderen Metropole und Kulturhauptstadt: Sie gehört zur Inszenierung Berlins. Mit anderen Worten: Hier war eine Verkehrung am Werk: Nicht sollte eine Metropole ihr Unbewusstes in einem ihr entsprechenden Event freisetzen, sondern dieses Event sollte aus einer eher provinziellen Region mit Kultur-MetropolenAnspruch eine Metropole weitläufigen urbanen Charakters machen. Allemal: Die Loveparade ist ein exklusiv im Metropolen-Kontext zu verortendes Phänomen: Ohne Metropole keine Loveparade. Ohne rasendes Todeswüten gelingen kann aber die Loveparade nur, wenn die Metropole, in der sie stattfindet, die Freisetzung ihres Unbewussten angemessen vermittelt zu reintegrieren vermag, wenn sie Ordnungen der Wege und Orte ausgebildet hat, die das an Gewalt horizontal
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auf- und verschieben können, was eine Veranstaltung wie die Loveparade bereits in sich mitführt als die Provokation der Körper zur ekstatischen Verausgabung, aufgerufen von der Obrigkeit der Maschinenproduktion – und gerade auf diese hin erst vollends entbunden. Die Loveparade ist ein in sich selbst todestrieblich strukturiertes und organisiertes Event der Metropole, das um der Überlebbarkeit solcher Feier willen des großen metropolen Umgriffs, des sicher gefügten Verhältnisses entlastender Weite und schützender Begrenzung bedarf. Die Stadt hingegen, in der sie zur RUHR.2010 stattfinden sollte und die daran zur Metropole wachsen wollte, ohne bisher weder von der Metropole noch vom Unbewussten derselben eine genügende Anschauung oder einen angemessenen Begriff gewonnen zu haben, konnte das nicht leisten. Eine hinsichtlich der Möglichkeiten der Integration des unbewussten Triebgeschehens kleinere Stadt als Berlin macht den kaum dann mehr zügelbaren Triebdurchbruch des Events hochgradig wahrscheinlich. Duisburg ist seit langer Zeit eine Stadt der Industriekultur und nicht respektive erst seit jüngerer Zeit eine der Theater-, Oper-, Ausstellungs-, Kunst-, Event-Kultur; ihr Unbewusstes, ihr Triebleben wurde weitgehend organisiert durch Arbeits- und Technik-Prozesse, in denen Trieb und Maschine Kapital-vermittelt verkoppelt wurden, und inmitten dieser richtete sich eine Sozialkultur „mit Herz und Hand“ ein, welcher Techno-Rhythmen und -Klänge eher zu bestehendes Arbeitsplatzgeräusch sind (Wie viele der Toten kamen aus Duisburg? Nach meinen Informationen eine Frau!), als isoliert zu erfahrendes ästhetisches Phänomen und Motiv zur lustvollen Bewegung, denn es hört der im Kontext der Industriekultur Gewachsene dieser Musik ihre Opferforderung bei weitem präziser ab als der Kulturindustrie-Städter. Was allerdings in der kleinen Stadt geschah – auch wenn sie die größte ihrer Region ist –, das war kein Scheitern des Events, sondern ein Scheitern der metropolen Beherrschung seiner inneren Macht und metropolen Triebkraft: Diesem Event wurde eine zu starke Enge und damit zu viel Wahrheit über dessen Genealogie, dessen Opfer-, Gewalt- und Schuld-Struktur zugemutet. Kurz: Das Gelingen einer (Metropolen-)Inszenierung ist immer auch kontextabhängig. Das meint: Der Metropolen-Kontext muss in der kultur-technischen Verfassung sein, die Triebentfaltung integrieren, vermitteln und somit moderieren zu können. Will man die Diskussion auf die Möglichkeiten räumlicher Expansion hin engführen, so ist zu sagen, es hätte zumindest des ganzen Metropolenraums von Duisburg bis Dortmund und darüber hinaus bedurft, um dem Metropolen-Charakter der Loveparade gerecht zu werden. Hingegen sollte sie quasi in der „Herz-und-Hand-“, der Industriekultur-Provinz, gänzlich profanisiert, den Göttern geraubt, zelebriert werden, in einem den Gesamtmetropolen-Charakter sich anmaßenden Kolonialstädtchen, das eher für Arbeit und Maschinenlärm bekannt ist als für die lustvoll dionysische Freisetzung der Arbeiter- und Maschinen-Energien im Techno-Klang und -Rhythmus.
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Die 21 Toten von Duisburg sind gestorben am Begehren der Metropole. Sie sind an dem verstorben, was dem RUHR.2010-Gebiet als Forderung auferlegt wurde: Metropole zu sein. Der Versuch, solche Forderung einzulösen, provoziert notwendig Opfer; und zwar zumindest so lange, wie das Unbewusste der Metropole, wie deren Gewalt-, Schuld- und Opfer-Verhältnisse unaufgeklärt die Handlungen und Entscheidungen bestimmen hinsichtlich sozialer, technischer, politischer und ökonomischer Inszenierungen. Es bedarf der kontinuierlich begleitenden – rationalitätsgenealogischen – medienphilosophischen und szenologischen, der philoszenischen Aufklärung objektiver Inszenierungen und Gestaltungen, des in solcher Weise kritischen Bedenkens der Kultursymptome. Von dieser jetzt ausgebildeten und vorgetragenen kritischen Ebene her möchte ich nun auch ehrlich bekunden, dass ich den Tod der 21 jungen Menschen im Loveparade-Zusammenhang zutiefst bedaure; zudem möchte ich aber auch betonen, dass kein einzelner Mensch und auch keine Gruppe von Menschen sinnvoll als Schuldige dingfest gemacht werden können für diese TodeskampfInszenierung. Diese bewusst sicherlich nicht angestrebte Inszenierung ist durch und durch dem Metropolen-Charakter, dessen innerer Struktur, dem unaufgeklärt belassenen Unbewussten der Metropole geschuldet, das sich immer wieder durchsetzen wird gegen die bewussten Deklarationen der Verhinderung solcher extremen Triebdurchbrüche. Es ist sicherlich wissenschaftlich wie philosophisch wie szenologisch wie philoszenisch kaum zulässig, vage Allgemeinplätze zu zitieren, aber es scheint sich eine mögliche ernsthafte Denkrichtung aufs Erste hin anzuzeigen in dem Wort: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“ Keineswegs möchte ich damit sagen: „Bleibt zu Hause und haltet euch ruhig und in allem bedeckt.“ Nein, nicht möchte ich zum Schweigen, zur Ruhe, zur Immobilität, zum Beenden des Inszenierens auffordern, sondern vielmehr und im Gegenteil: zum Übernehmen von Verantwortung. So rufe ich zu einer Verantwortung auf, die auch nicht mehr zwischen öffentlicher und scheinbar privater Sphäre Unterscheidung treffen muss und die die Schreckensereignisse aufzunehmen versteht als die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Metropole und sterblichem Menschenkörper in dieser. Deswegen will ich es auch nicht bei dem obigen Wort belassen und formuliere ein anderes als Ersetzung und Fortführung des obigen, um Missverständnisse zu vermeiden; dieses fortgeschriebene Wort soll lauten: „Wer sich in Sicherheit wähnt, kommt darin um.“ Der Schrecken dieser Ereignisse liegt offenbar darin, dass innerhalb der Metropole sich deren in ihrem Ding-kulturellen Gedächtnis noch bewahrte Vorzeit wieder inszeniert; in ihr reinszeniert sich das, was durch den Bau der Metropole und die festliche Versammlung in derselben verhindert werden sollte: Mitten in der Inszenierung der Magie der Verdrängung des Todes erscheint
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das zu Verdrängende lebhaft wieder und droht – in dieser paradoxen Gestalt des lebenden Todes – alle Sicherheiten zu zerstören, die mit der Inszenierung von und in Metropolen gesellschafts- und wirtschaftsstiftend aufgebaut werden sollen. Zwischen den errichteten Mauern der Sicherheit, die für die Trennung zwischen Leben und Tod, für die Trennung von Sicherheit und Gefahr sorgen sollen, genau in diesem Grenzraum, stauen und pressen plötzlich die lebendigen Leiber der Kinder sich zu Tode. Damit zeigt sich einerseits, dass die Inszenierungen zur Verhinderung von Katastrophen wesentlich Katastrophen-einleitend sind. Lässt sich diese Paradoxie oder Dialektik verhindern, dass die Verhinderung von Katastrophen dieselben verstärkt wiedereinführt und damit die letzten Dinge schlimmer werden als die ersten? Diese Paradoxie oder Dialektik lässt sich im Rahmen der auf Verdinglichung ausgerichteten Rationalität und Inszenierung nicht verhindern, denn um eine Katastrophe durch dingliche und technisch-rationale Inszenierungen zu verhindern, muss die erbaute Verhinderung – notwendiger- und trivialerweise – das Wissen um die Katastrophe mit einschließen und jederzeit zur aktiven Veräußerung – um der Katastrophenabwehr willen – bereit halten. Andererseits bleibt die Möglichkeit der Aufklärung des Unbewussten, der Widersprüche, der Dialektik der Metropole. Diese Aufklärung ist zwar auch der gleichen Rationalität und Ordnung der Verdinglichung verpflichtet, kann sich genauso wenig aus dem Reich der Katastrophenfortsetzung lösen, aber sie vermag Einsicht zu nehmen und zu geben in die eigenen Verfangenheiten und damit das Unbewusste ein Stück weit zumindest zu Bewusstsein bringen und somit die Bearbeitung der Katastrophendrohungen auf erweiterter Ebene ohne allzu stark in sich verkapselten Opfer-, Gewalt- und Schuld-Verschluss vornehmen, ohne hermetisch in sich abgeschlossene Verschließungs-, Verunbewusstungs-Inszenierungen, aus denen dann eine nächst gefährlichere Sorte von Dingen, die sind wie Waffen, wie notwendig hervorgehen muss. Um solcher Aufklärung willen ist es unumgänglich, 1. sich darüber verständig zu halten, dass die Inszenierungen der Metropole dem Unbewussten derselben entsprechen und 2. nach dem Begehren zu fragen, das der vom Unbewussten der Metropole getragenen Inszenierung zugrunde liegt. Was geschah, einmal wie unabhängig vom weiteren Kontext betrachtet, in Duisburg zur Loveparade? Junge Menschen in einer Menge zwischen Mauern und an ihrem Plan gehindert, Zugang zum Objekt ihres Begehrens zu finden, können den Abstand der Körper zueinander nicht vergrößern, sich nicht voneinander trennen und auch den Abstand nicht mehr aufrechterhalten, so dass sie beginnen, wie zu einem Körper zusammenzudrängen. Hätte jeder die eigene wie die Distanz zum Nächsten gewahrt, so wäre nichts passiert; es lag auf den ersten Blick keine äußere Not vor, die solches – für den eigenen wie den anderen Körper tödliches – Verhalten gefordert hätte. Und doch kam es zu der spontanen Inszenierung, die als
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„Panik“ bezeichnet und traditionellerweise mit psychologischen und vielleicht noch soziologischen Mitteln zu beschreiben oder gar zu erklären versucht wird: Die Menschen drängen wie zu einem Körper (der Mutter) zusammen, um aus diesem, aus der Inszenierung einer Über-Enge, einer Über-Nähe zum Körper wie neu geboren zu werden, und zwar in der Weise, dass sie begehrten, auf ein erhöhtes Plateau, über eine Treppe und Wandinstallationen, zu gelangen: Ist das nicht die menschkörperliche Wiederholung einer Metropolengeburts-Inszenierung, entsprechend der oben formulierten These? Ich wiederhole diese These: „Die Mutterstadt ist eine Produktion, die sich der männlichen Okkupation und Objektivation des maternalen Körpers verdankt“ – das heißt der Einschließung von Körpern zwischen Mauern und gesetzesvermittelten Verboten –: „Sie ist ein ödipales Wunschprodukt, ein verwirklichter Wunsch der Söhne, ein mannsgeschaffener dinglicher Mutterkörper. Nicht zuletzt ist diesbezüglich der Umfang der Metropole hervorzuheben: Bei diesem handelt es sich um die Konstruktion eines schwangeren Körpers, aus dem die Kultur-Kinder nach männlichen Regeln geboren werden sollen.“ Was ich also sagen möchte, ist das: „Geht hinaus, gestaltet und inszeniert; aber vergesst nicht die Gewaltverhältnisse auch derjenigen Inszenierungen, die reine Lust und großes Genießen in der Sicherheit der Metropole versprechen.“ Das wiederum heißt nicht, Warnungen vor Krankheit und Tod auf weißem Hintergrund auf die Dinge und Inszenierungen der Metropole zu heften, wie wir es von den Zigarettenpackungen gewöhnt sind – auch wenn solche Warnungen keineswegs unangemessene Hinweise darstellen. Wie vielmehr, und da beginnt eine gewichtige Verantwortungs-Aufgabe von Szenografie, von Szenologie und Philoszenie, könnte es möglich werden, eine Eintragung des Todeseingedenkens in die Inszenierungen der Metropole vorzunehmen, ohne dass sie sogleich zum paranoischen Verfolger avancierte oder sich in die Ausgestaltung von Zeichen hinein verausgabte und verbrauchte oder zum Warenfetisch, in dieser lustvollen Todesbesetzung, erstarrte? Wird das nicht möglich, solche Memento-mori-Eintragung vorzunehmen, von der her Abstand und Vermittlung zwischen Menschen und Menschen und Dingen zu bilden möglich werden könnten, dann droht mehr noch die Steigerung von unbewussten Inszenierungen des Verdrängten, des Todes auf der Ebene und inmitten der Sicherheitsinszenierungen der Metropole. Im Rahmen der RUHR.2010-Loveparade-Inszenierung imponierte die Wiederkehr des verdrängten Todes respektive der verdrängten Produktions-Opfer und -Gewalt im Rahmen der Inszenierung der Abdeckung derselben Gewalt, das heißt im Kontext der Feier der Lust, den Körper am Maschinenklang in die Ritual-Bewegung des (Tempel-)Tanzes zum Anschluss an das Reich der Götter
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des Rausches zu versetzen. Die Loveparade, das ist die Parade des Inzest-Begehrens, das heißt: Dieses Begehren wird vorgeführt, inszeniert und darin zugleich abgewehrt. Als „Parade“ ist das Inzest-Begehren moderiert und es kann die Binnenabwehr innerhalb des Inzest-Begehrens als eben jene „Feier der Lust“ im Sinne einer Inzest-Transfigurations-Magie gelingen, indem das auf den maternalen Körper konzentrierte Inzest-Begehren vermittelt und verschoben werden kann auf die Ebene eines horizontal sich ausweitenden geschwisterinzestuösen Begehrens: Wir sind alle Kinder des Techno-Rhythmus und vereinen uns darin wie einst die Begleiterinnen und Begleiter von Dionysos und Bacchus. Insbesondere als die Parade der Musik handelt es sich bei der Loveparade um eine Inszenierung umfassender Erweckung, um eine Weckungs-Parade im Sinne eines Feldzuges wider den generationsübergreifenden Inzest. Die Loveparade ist also ihrem Wesen nach ausgerichtet auf die horizontal sich ausweitende und Grenzgestaltungen aus den Technik-Vorgaben sich erarbeitende Moderation und Inszenierung des Inzest-Begehrens. Das Problem, Duisburg betreffend, war, dass kein derartiger Aufschluss des Unbewussten der Loveparade und dessen Entsprechung zum Unbewussten der Metropole vorlag und deswegen auch keine Rücksicht darauf genommen werden konnte, dass bei Blockierung der von der Loveparade selbst geforderten Inzest-Verschiebungs-Bewegung (vom Inzest mit der Mutter zum Geschwisterinzest) die vertikale Bewegung (Inzest mit der Mutter als selbstbegründende Selbstgeburtsbewegung aus dem zu Einem gewordenen Selbst-Mutter-Körper) ihre Dominanz finden musste. In diesem Zusammenhang will ich schließlich noch einmal auf einige der Punkte zu sprechen kommen, deren Diskussion bislang fast nur mit dem einfältigen Anspruch geführt wurde, einen Schuldigen auszumachen, also einen Hort der Sammlung der Schuld zu finden, der niemals die Gewalt bei sich behalten kann, die zu bannen ihm aufgetragen wird; dass es sich beim Bestimmen eines Schuldigen um die schlechteste, hilfloseste und ineffektivste Methode handelt, Gewalt aus der Welt zu bringen, sollte sich über die letzten Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg langsam herumgesprochen haben, deren unzählige Gewaltinszenierungen sich allesamt dieser Todes- und Gewalt-Bannungs-Magie – vornehmlich ausgeprägt in der Form der Dinge und deren Ordnungen – verdanken. Fragen möchte ich demnach nicht danach, wer Schuld trägt, sondern: Welchen Sinn machen die Black-outs der Veranstalter, Politiker, Ordnungskräfte, zum Beispiel die viel diskutierte Unterlassung der Schaltung der Funkpriorität? Lässt man sich von den ornamentalen respektive semantischen Ausgestaltungen der Inszenierungen nicht vornehmlich beeindrucken, so erschließt sich bald ein dem Unbewussten der Metropole sich verdankender Fraternisierungs-Komplex: ein durch Fehlleistungen, das heißt durch technisch moderierte
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Triebdurchbrüche provoziertes Gemeinsam-mit-den-Bedrängten-Sein. Es zeigt sich deutlich eine Dominanz des technischen Unbewussten, eine Entfaltung von Katastrophenszenarien aus den Dingen. Diese Dinge – wie der Funk und seine Ordnung – waren einst rational geplant zur Verhinderung von Katastrophen, das heißt zur Trennung und zur geordneten Vermittlung von Körpern untereinander und von Körpern und Dingen. Ganz pointiert gesagt handelt es sich um eine gemeinsame Arbeit an der Parade des Inzest-Problems; anders ausgedrückt: um die Fortsetzung des Metropole-Inszenierungs-Events Loveparade mit anderen Mitteln. Bezüglich der sogenannten ‚Black-outs‘ handelt es sich dementsprechend um unterschiedliche kollektive Verwerfungen der Kastration; die Verwerfung der Kastration aber führt zwangsläufig zur Aufhebung der Vermittlung und solche Vermittlungsaufhebung kann nur letal enden, insofern es nicht zu einer inneren Wende, Dehnung oder zu einer vehement Differenz einführenden Intervention gerät. Die Black-outs der Loveparade-Teilnehmer in ihrer Lust und der von Tod und Verletzung Betroffenen wurden bereits diskutiert: Sie haben ihren Tod und ihre unzähligen Verletzungen fast alle der Tatsache zu verdanken, dass sie nicht von dem Wunsch ablassen konnten, an den Ort des Begehrens zu gelangen, der mittlerweile rechtlicher-, also väterlicherseits untersagt worden war und somit unter Tabu stand; sie waren Opfer des Begehrens, ein körperlicher Teil der vibrierenden Mutterkörper-Inszenierung zu sein; Opfer der Nicht-Anerkennung der Kastration und der Aufrechterhaltung des Begehrens als körperliche Bewegung, Motilität, die es nun unternahm, den Wunschkörper aus sich selbst, aus dem zu einem Selbst sich vereinenden Menschen-und-Ding-Körper, zu bilden. Diesen letzten Aspekt des direkten Zugangs auf die Dinge möchte ich besonders hervorheben, dieses einerseits sich gegen die Dinge, die dinglich markierten und verfügten Grenzen Stemmen und andererseits die sich daraus ergebende Vereinigung der Körper mit den Dingen im Tod. An den Dingen als an ihren Prothesen erhalten sich zwar die Körper, wenn sie aber mit diesen ihren Produkten wieder eins zu werden begehren oder sie unbedacht überwinden, wie für nichtig damit auch erklären wollen, so scheitern die Körper verlässlich an der Überwindung der Dinge und sie werden selbst in deren letalen Zustand überführt. Geleitet sind sie dabei von dem Unbewussten der Metropole, von ihrem Begehren, sich endlich aus sich selbst und in sich selbst begründen zu können und dergestalt alle sterblichen Körper in sich selbstgenerativ aufzuheben: sie als reale Körper zu nichten, metropol zu bewahren und zu erheben, das heißt: sie zu erhabener urbaner, metropoler Inszenierung zu gestalten.
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II. DER TODESTRIEB IM STILL-LEBEN
Was sich im Rahmen der Loveparade manifest als Katastrophe durchsetzte, das war und ist weiterhin latent in allen Events vorhanden; so auch in dem kaum überbietbaren Mega-Event der RUHR.2010, dem Still-Leben. Das ist – bis auf wenige vereinzelte, aber wesentliche Ausnahmen – erstaunlich friedlich und verletzungsfrei vonstatten gegangen, war in Relation gesehen mindest so überlaufen, überfüllt, begehrt wie die Loveparade. Aber: Das synthetisierende Element, das, was ein Ganzes daraus machte, das Element des Gesamtkunstwerks, das war bei der Sperrung der A40 die ihrem ordentlichen Gebrauch entzogene Straße, die Autobahn, die stillgestellt wurde, kurz: die Stille des Dings. Bei der Loveparade hingegen war das synthetisierende, das Gesamtwerk herstellende Element die Musik, rhythmisch stampfend dem maschinellen Produktionsprozess entliehen, der seinerseits männlich-filial den Mutterkörper zu ersetzen versucht nach den eingeschränkten phallischen Möglichkeiten. Bei der Loveparade haben wir es also eher mit einer Geburts-, womöglich Presswehen-Inszenierung zu tun, beim Still-Leben eher mit einer besonderen, fast auf mythische Formen zurückgreifenden Totenfeier, die den Teilnehmer fast schon zum Gott werden lässt, wenn sie bei lebendigem Leib an Odins Tafel lädt: Besonders wichtig ist im Kontext des Still-Lebens die Inszenierung der Möglichkeit des Betretens eines verbotenen Raumes, die Freigabe des radikal Untersagten, die Brechung des womöglich ultimativen Tabus: Die Inszenierung Still-Leben eröffnet den Todesraum, lässt ihn durch Beschreiten abmessen, gibt jedem Einzelnen die Möglichkeit, dem Tod eine Größe, eine Abmessung, eine Gestalt zu geben: Da muss niemand sich wundern, dass so viele, so viel mehr als erwartet, dieses Mega-Event besuchten. Es handelte sich bei dieser Mega-Inszenierung um einen Kultur-fundamentalen magischen Ritus – auch wenn kaum einer der Teilnehmer zu solcher Erkenntnis gelangt sein mag, so zog doch dieses Angebot alle auf die stillgestellte Straße: Endlich war der Raum zugänglich, den unter normalen Umständen zu begehen unmittelbar tödlich gewesen wäre und der selbst in vielfältiger Hinsicht ein Raum des Todes ist, der Unfälle und Todesopfer, aber vor allem, also im Rahmen seiner Produktion, auch ein breiter Strich des Todes durch die Natur, durch ‚Mutter Natur‘, deren Körper unter Schotter und Asphalt auf Dauer genichtet und unter die männlich-rationale Verfügung gestellt wurde, und zwar zu dem Zweck, dass der Mutterkörper, das Objekt des Begehrens, leichter zugänglich werde, dass es nicht mehr geprägt sei von Verbot, Tabu und somit von Abwehr und Widerstand gegen die männlich-filialen Zugriffe; vielmehr möge vermittels des Straßenbaus der Zugang und Zugriff auf den Mutter- und Natur-Körper jederzeit möglich, also eine schnelle und umweglose Verbindung gewährleistet sein, ohne dass die paternale Sanktionsmacht, die Kastration, wie das tödliche Donnerwetter einschlage und den zu
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verfügen begehrten Körper wieder zum Entferntesten und Widerständigsten machte. Das Begehren, dessen kurzfristiger phantasmatischer Erfüllung die Inszenierung Still-Leben sich widmete, war es, Zugang zu erschließen zum Verbotenen und mehr noch: zum Unzugänglichen, zum radikal Entzogenen. Die Straßen und Autobahnen versprechen die schnelle und relativ sichere Durchquerung der Todeszone, die Überbrückung der Differenz zwischen dem Mutterkörper und den filialen Körpern sowie die Aufrechterhaltung der paternalen Macht im Sinne der Vermittlung zwischen diesen. Die Event-Inszenierung Still-Leben aber versprach noch mehr: Sie versprach, in der Todeszone innehalten zu können. Ihre Verheißung war es, den Todesraum selbst begehen, ihn eigenen Schrittes ausmessen, berechnen und damit wie in Verfügung nehmen zu können; ebenso wie im griechischen Mythos Orpheus lebendigen Leibes in das Totenreich hinabund aus diesem wieder hinaufsteigen und zwischenzeitlich dem Hades sogar ein Lied singen und ihm den entzogenen weiblichen Körper fast abringen konnte. Still-Leben versprach – vermittels solcher Inszenierung – die Möglichkeit, dem Phantasma sich hingeben zu können, dem Tod ein Schnippchen schlagen, ihm vollmundige Todeslieder singen und freche Todesgaukeleien vorspielen, dem Tod also Zeit und Raum geben, ihn ins Leben hineinholen und mithin – wenn nicht für ewig, so doch für einen Moment, der für die Ewigkeit zählt – entmachten zu können. Solches Begehren der Entmachtung des Unverfügbaren, das letztlich uneinlösbar, deswegen aber stetes Produktionsmotiv in der Zeit und im Raum des Phantasmas ist, prägt das Unbewusste der Metropole und ihre(r) Inszenierungen.
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DIE AUTOREN PROF. DR. RALF BOHN, DIPL.-DES.
Studium Philosophie, Literatur, Design. Diplomarbeit über Allegorien und urbane Signifikationen. Promovierte bei Rudolf Heinz (Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens bei Robert Musil, Würzburg 1988); Habilitation bei Bazon Brock (Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004). Seit 1981 Creative Director, Konzeptioner, Texter und Autor. Seit 2007 Professor für Medienwissenschaften am FB Design der FH Dortmund. Zahlreiche Monografien, u.a.: Verführungskunst. Politische Fiktion und ästhetische Legitimation, Wien 1994. Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium, Würzburg 2005; Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee, Bielefeld 2009, Szenografie & Szenologie Bd. 2. Zusammen mit Heiner Wilharm Herausgeber der Reihe „Szenografie & Szenologie“ im transcript Verlag, Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Logik und Theorie der Szenografie als ein Instrument der Darstellung von Vergemeinschaftung. – Philosophie und Psychoanalyse der Medien, Medienekstasen und ihre therapeutische Einholung. PROF. DR. ANGELUS EISINGER
Angelus Eisinger ist Städtebau- und Planungshistoriker mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichem Hintergrund und beschäftigt sich in Unterricht, Forschung und Praxis schwerpunktmäßig mit der aktuellen Stadt- und Raumentwicklung. Seit 1.3.2008 ist er als Professor für Geschichte und Kultur der Metropole an der HCU (HafenCity Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung ) in Hamburg tätig. Zwischen 2005 und 2008 war er Professor für Städtebau und Raumentwicklung an der Hochschule Liechtenstein, 2003 hat er sich an er ETH Zürich habilitiert. Im Zentrum seiner Forschungs- und Unterrichtstätigkeit stehen wirkungsgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Untersuchungen der Architektur-, Stadt- und Raumentwicklung. Daneben ist er in der Beratung und Evaluation von Planungsprozessen tätig und beteiligt sich in Konzeptarbeiten bei städtebaulichen Wettbewerben und Planungsstudien. 2008 hat er den Schweizer Pavillon an der Biennale in Venedig als wissenschaftlicher Berater mitbetreut. DR. BERNADETTE FÜLSCHER
Bernadette Fülscher studierte Kunstgeschichte in Montpellier und Architektur an der ETH Zürich. Nach ihrer Promotion über Szenografie und Inszenierung
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an der Schweizerischen Landesausstellung Expo.02 unterrichtete sie von 2007 bis 2011 am HGK-Institut Innenarchitektur und Szenografie der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel. Nach einem Forschungsprojekt über die Beziehung von Stadtentwicklung, Architektur und Kunst im öffentlichen Raum am Beispiel von Zürich hat sie von 2006 bis 2011 die Kunstwerke im öffentlichen Raum der Stadt Zürich inventarisiert. Heute schreibt und forscht sie in Zürich in selbständiger Tätigkeit. Ihre wichtigsten Publikationen sind: Gebaute Bilder – künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02, Baden 2009; Die Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Zürich. 1300 Werke – eine Bestandesaufnahme, Zürich 2012. PROF. DR. LUDWIG FROMM
geboren 1950 im Eichsfeld, 1968-1973 Studium an der HAB Weimar. 19741980 Mitarbeit in Architekturbüros in Berlin, Paris und Wien, 1980-1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin. 1981 Bürogründung mit Günther Fischer. Planung, Gutachten, Wettbewerbe, Preise und Auszeichnungen, journalistische Tätigkeit, Preisrichtertätigkeit, Ausstellungen; 1984 Aufnahme in den BDA-Berlin; Promotion an der TU-Berlin. Seit 1993 Professur an der Muthesius-Hochschule in Kiel, 1999-2005 Rektor der Muthesius-Hochschule in Kiel; 2005-2006 Gründungsrektor der Muthesius Kunsthochschule. Seit 2005 Prof. im Bereich Raumstrategien, Lehrgebiet Raum, Ensemble und Wirkung; seit 2004 Mitglied im Beirat für Stadtgestaltung Kiel; seit 2006 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des SchleswigHolsteinigen Freilichtmuseums Molfsee e.V.; seit 2006 Mitglied im Programmrat der Heinrich-Böll-Stiftung SH – anders lernen e.V.; seit 2008 Mitglied im Fachausschuss Sportboothäfen und wassertouristische Anlagen der Hafentechnischen Gesellschaft (HTG). Praktische Tätigkeiten/Arbeiten: In der Bürogemeinschaft Fischer/Fromm und Partner: Wohnungsbauten, Städtebauliche Projekte und Realisierungen, Gewerbebauten, Kulturbauten, Museumsbau, Denkmalschutz und diverse Wettbewerbe. In der Arbeitsgemeinschaft Living_on_Water: Maritime Projekte und Hausboote. – In Zusammenarbeit mit dem Art Department Studio Babelsberg: Ausstellungsprojekte, Inszenierungen, Design und Content. DIPL.-ING. ARCHITEKT, M.SC. DENNIS KÖHLER
Dennis Köhler studierte Architektur an der Fachhochschule Dortmund. Nach Architektentätigkeit in Deutschland und USA absolvierte er den Masterstudiengang der Stadt- und Raumplanung an der Technischen Universität Dortmund. Neben Architektur und Stadtplanung arbeitet und forscht er seit 2005 intensiv in den Bereichen Lichtgestaltung, Lichtplanung und integrierte Lichtleitplanung im öffentlichen Raum: Projektleiter der Integrierten Lichtleitplanung für
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Lüdenscheid und Castrop-Rauxel und weiterer Forschungsprojekte; Lehrauftrag im master städtebau NRW seit 2009; Herausgeberschaft LichtRegion – Positionen und Perspektiven im Ruhrgebiet mit Manfred Walz; artist in residence des Kunstverein Bochumer Kulturrat e.V. im Kulturhauptstadtjahr. Seine Forschungsinteressen beziehen sich auf Theorie und Praxis der Lichtplanung und -gestaltung im öffentlichen Raum sowie Umweltwahrnehmung und Umweltverhalten in der Stadt. Dennis Köhler leitet aktuell die Forschungslinie Licht_Raum am Fachbereich Architektur der Fachhochschule Dortmund. DR. ACHIM PROSSEK
seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, zuvor an der TU Dortmund sowie an der Universität Duisburg-Essen. Forschungen zu Bild und Identität des Ruhrgebiets, zu Kultur als Instrument der Regionalentwicklung, speziell zur Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. Aktuelle Veröffentlichungen: Brücken bauen für die neue Metropole. Die Interkulturalität der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 in Planungsprogrammatik und Projektpraxis. In: Thomas Ernst, Dieter Heimböckel (Hg.): Verortungen der Interkulturalität. Die Europäischen Kulturhauptstädte Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010), Bielefeld 2012; Re-designing the metropolis: purpose and perception of the Ruhr district as European Capital of Culture 2010. In: Heiko Schmid, Wolf-Dietrich Sahr/John Urry (Hrsg.): Cities and Fascination. Beyond the Surplus of Meaning, London 2011; Bild-Raum Ruhrgebiet. Zur symbolischen Produktion der Region. Metropolis und Region, Band 4, Detmold 2009; Atlas der Metropole Ruhr. Vielfalt und Wandel des Ruhrgebiets im Kartenbild, Köln 2009. MAG. EBERHARD SCHREMPF
Eberhard Schrempf (AUT) entwickelt als Geschäftsführer der Creative Industries Styria GmbH das Netzwerk der Kreativwirtschaft in der Steiermark und zeichnet verantwortlich für das Bewerbungsmanagement der Stadt Graz als UNESCO – City of Design. Er war Geschäftsführer und Vice-Intendant für Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas – und hat im Auftrag der Republik Österreich das Projekt 25PEACES, anlässlich des Bedenkjahres 2005 bzw. des EU-Ratsvorsitzes Österreichs 2006, entwickelt und realisiert. Eberhard Schrempf ist Lehrbeauftragter im Studiengang Informationsdesign der FH Joanneum Graz. PROF. DR. PAMELA C. SCORZIN
Kunst- und Medientheoretikerin, geb. 1965 in Vicenza (Italien), 1992 Magister Artium und 1994 Promotion zum Dr. phil. an der Ruprecht-Karls-Universität
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in Heidelberg, 2001 Habilitation am Fachbereich Architektur der TU Darmstadt, danach verschiedene Dozenturen und Lehrstuhlvertretungen in Siegen, Stuttgart und Frankfurt am Main, seit Ende 2008 Professur am FB Design der FH Dortmund für Kunstwissenschaften und Visuelle Kultur. Mitglied der AICA seit 2005. PROF. ALEXANDER STUBLI´ c
Studium Universität Saarbrücken, HfG-Karlsruhe: Kunstwissenschaft und Medientheorie, Philosophie und Medienkunst. Seit 2010 Gastprofessur, Lucius Burkhardt Gedenkprofessur, Kunst im öffentlichen Raum – HBK Saar Hochschule für Bildende Künste. Seit 2000 Zusammenarbeit mit Holger Mader und Heike Wiermann. Lebt und arbeitet in Berlin. Zusammen mit dem Medienkünstler Holger Mader und der Architektin Heike Wiermann nutzt Alexander Stubli´c das Spannungsfeld von Realität/ Simulation und untersucht in diesem Zusammenhang Mechanismen der Wahrnehmung. Indem die raumbildenden Mittel der Architektur um zeitgebundene Medien, wie Licht, Video und Ton, ergänzt werden, entstehen neue Zusammenhänge und weitere Möglichkeiten, Räume zu erleben. Mehr unter www. webblick.de. PROF. DR. ING. MANFRED WALZ
Ab 1940 Berliner. Architekt, Stadtplaner, Assistent an der TU Berlin, dann aus der ummauerten Stadt nach Westen. Große wissenschaftliche Arbeit zur Industrie- und Wohnsiedlungspolitik Deutschland 1933-39. Lehraufträge und Aufbau des Studiengangs Experimentelle Umweltgestaltung an der SHBK Braunschweig. Ab 1973 im Ruhrgebiet unterwegs, Arbeitersiedlungen zu bewahren vor dem Abriss für höhere Häuser und noch höhere Renditen. Seit 1978 Lehre für Stadtplanung an der FH Dortmund und ab 2004 Stadtbau im master städtebau NRW – ohne je eine ganze Stadt geplant oder gar gebaut zu haben. Mit der IBA Emscherpark ab 1994 bis heute Lichtplanungen und -gestaltungen, z.B. des NachtTagPanoramas (mit Georg Kiefer) und anderer Ensembles mit Künstlern und in Arbeitsgemeinschaften nach stadtgestalterischen, ökologischen und energetischen Grundsätzen mit dem geheimnisvollen Gestaltungsmittel Licht. Aktuelle Forschungsfelder: Bewegung im öffentlichen Raum und Stadtgeschichte. PROF. DR. CHRISTOPH WEISMÜLLER
Dr. phil.; Professor im Fach Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Lehrbeauftragter an der FH Dortmund, FB Design, Medienwissenschaft; Leiter des Instituts für Philosophische Beratung und Pathognostik in Düsseldorf; zweiter Vorsitzender von Psychoanalyse und Philosophie e. V. (Mit-
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glied der Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf e.V.), Redaktionsleitung von Psychoanalyse und Philosophie. Pathognostica; Leitung des Peras Verlags; Dozent in den Fachbereichen Psychologie, Musik und Literatur. Auswahl Buchpublikationen: Philosophie der Medien, Düsseldorf, Peras 2009; Psychoanalyse – und wie anders? Texte-Gaben zum 70. Geburtstag von Rudolf Heinz (Hg. zus. mit Heide Heinz), Düsseldorf, Peras 2009; Fragen nach der Mathematik (Hg.), Düsseldorf, Peras 2007; Das Humane der Globalisierung, Düsseldorf, Peras 2004; Zwischen analytischer und dialektischer Vernunft. Eine Metakritik zu Jean-Paul Sartres ,Kritik der dialektischen Vernunft‘, Würzburg 2004; Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks, Würzburg 2001; Jean-Paul Sartres Philosophie der Dinge. Zur Wende von Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft sowie zu einer Psychoanalyse der Dinge, Düsseldorf, Peras 2000. PROF. ADOLF WINKELMANN
Filmemacher und Professor für Film an der Fachhochschule Dortmund, Mitglied der European Filmacademy, der Deutschen Filmakademie und der Akademie der Darstellenden Künste. Lebt in Dortmund. Kunststudium in Kassel. 1978 erster Kinospielfilm: Die Abfahrer. Kurz danach der Kultfilm Jede Menge Kohle, gedreht in Cinemascope im Ruhrgebiet und Untertage. Für den Deutschen Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover portraitiert Winkelmann auf 35 Leinwänden in seiner Film-Installation DEUTSCHLAND.PICT die16 Deutschen Länder. Große Popularität und Anerkennung erhielt sein Film Contergan – Eine einzige Tablette, der u.a. 2008 als Bester Film mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Bambi ausgezeichnet wurde. Gründungsmitglied des Filmbüros Nordrhein-Westfalen, Mitglied der European Film Academy, Mitglied der Deutschen Filmakademie. Lehrtätigkeit an der deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und der Filmakademie Ludwigsburg, Baden-Württemberg. PROF. DR. HEINER WILHARM
Philosoph, Sozial- und Kulturwissenschaftler. Seit 1990 Professor für Designtheorie, seit 2003 Professor für Gestaltungswissenschaften, Medien und Kommunikation am FB Design der FH Dortmund. Zusammen mit Ralf Bohn Herausgeber der Reihe „Szenografie & Szenologie“ im transcript Verlag, Bielefeld. Leiter des Master-Studiengangs Szenografie & Kommunikation. Mehr unter www.designradio.net. PROF. DR. ERNEST WOLF-GAZO
Seit 1991 Professor der Philosophie an der American University in Kairo, Ägypten. B.A. 1969 George Washington University; Dr.phil. 1974 Universi-
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tät Bonn; Habilitation 1984 Universität Münster. Veröffentlichungen: Sacred and Secular Space in the Art of Caspar David Friedrich and Edward Hooper. In: Congress Book 2: Selected Papers (XVII. Congress of Aesthetics), (Hg.) v. Jale Erzen, Ankara 2009, S.313-322; Max Weber and Clifford Geertz on the Objectivity in the Social Sciences. In: Sosyal Bilim, hg. v. Ahmet Konuk/A.K. Bayram, Ankara 2009, S.287-313; Eine philosophische Collage nichtdiskursiver Erkenntnis. In: Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, hg. v. J. Bromand/G. Kreis, Berlin 2010, S.120-137.
Szenografie & Szenologie Ralf Bohn Inszenierung als Widerstand Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee 2009, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1262-2
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Vertrauen Grenzgänge der Szenografie 2011, 392 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1702-3
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Ereignis Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie 2009, 406 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1152-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Szenografie & Szenologie Paul Divjak Integrative Inszenierungen Zur Szenografie von partizipativen Räumen März 2012, 142 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1942-3
Sandra Schramke Kybernetische Szenografie Charles und Ray Eames – Ausstellungsarchitektur 1959 bis 1965 2010, 186 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1508-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de