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German Pages 410 Year 2014
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Effekte
Szenografie & Szenologie
Band 7
EDITORIAL Die Reihe Szenografie & Szenologie versammelt aktuelle Aufsätze und Monografien zum neuen Ausbildungs- und Berufsfeld Szenografie. Im Kontext neuer Medientechniken und -gestaltungen, Materialien und narrativer Strukturen präsentiert sie Inszenierungserfahrungen in öffentlichen Vor-, Aus- und Darstellungsräumen. Zugleich analysiert die Reihe an Beispielen und in theoretischer Auseinandersetzung eine Kultur der Ereignissetzung als transdisziplinäre Diskursivität zwischen Design, Kunst, Wissenschaft und Alltag.
WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT Prof. Dr. Martina Dobbe, Universität der Künste, Berlin Prof. Dr. Petra Maria Meyer, Muthesius Kunsthochschule, Kiel Prof. Dr. Hajo Schmidt, Fernuniversität Hagen
DIE HERAUSGEBER Dr. Ralf Bohn ist Professor für Medienwissenschaften und arbeitet im Schnittpunkt von philosophischer, psychoanalytischer und technischer Medienanalyse. Dr. Heiner Wilharm ist Professor für Designtheorie und Gestaltungswissenschaften und arbeitet mit Schwerpunkt Zeichen, Kommunikation und Inszenierung. Die Herausgeber lehren am FB Design der FH Dortmund und begleiten den MasterStudiengang Szenografie und Kommunikation wissenschaftlich und konzeptionell.
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) INSZENIERUNG UND EFFEKTE Die Magie der Szenografie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © transcript 2013 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf Bohn Umschlagfoto: Ralf Bohn, Paris, Jardin du Luxembourg 2012 (La horde des cerfs von Arthur Jacques le Duc, Bronze 1886) Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Redaktion, Lektorat und Satz: Ralf Bohn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2303-1
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfreigebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALTSVERZEICHNIS 9 41
EINFÜHRUNG PAMELA C. SCORZIN
Effekt und Affekt in Scenographic Fashion Shows. 57
PAMELA C. SCORZIN
Robert Wilsons Scenographic HD-Video Portraits. Image und Identität als theatralischer Inszenierungseffekt. 75
ALLA SOSNOVSKAYA
Theatrical Effects. 87
BIRGIT WIENS
Theaterszenografie, ‚Phänomenotechnik‘ und die Multimodalität räumlichen Wahrnehmens. Am Beispiel von Gisèle Viennes Projekt This is how you will disappear.
103
JENS KRAMMENSCHNEIDER-HUNSCHA
Über die Notwendigkeit, Medien auf ihre Herkunft und Effekte hin zu befragen. Versuch über ein medienphilosophisch aufklärendes Theater.
135
STEPHAN TRÜBY
Magie, Technik und Architektur. 149
ERIKA THÜMMEL, KARL STOCKER
Szenografie eines Heiligtums.
181
GERRIET K. SHARMA
{kA} : Keine Ahnung von Schwerkraft. Gebäude-Klangkompositionen im (halb-)öffentlichen Raum.
199
MARTIN ZENCK
The Labyrinth as a space and a form of knowledge. Reflections on this topic in philosophy, in the arts and in the gardens.
221
ERNEST WOLF-GAZO
The Graffiti-Effect in Egypt’s revolt. 247
FOSCO DUBINI
Der Film Ludwig 1881 – Inszenierung einer Inszenierung. 263
CÉLINE KAISER
Noise and Voice. Zum Einsatz von Stimme und Geräuscheffekten in der Geschichte der Psychotherapie seit dem 18. Jahrhundert.
281
RALF BOHN
Am Nullpunkt der Szenografie. Zur Einführung einer szenologischen Differenz.
347
HEINER WILHARM
Magische Effekte oder Vom Verschwinden der Endlichkeit. Zur Ökonomie und Logik von Inszenierung und Szenifikation.
403
DIE AUTOREN
SZENOGRAFIE & SZENOLOGIE
Das Thema Inszenierung und Effekte stellt die Beeinflussung von Affekten und Leidenschaften, Gefühlen und Gemütsbewegungen, Einstellungen und Überzeugungen nicht in Frage, unterstellt vielmehr der szenografischen Intention und Praxis die Moderierbarkeit und Medialisierung von ziel- oder kausalfixierten Kurzschlüssigkeiten. Gefragt wird nach Einzelheiten, Grenzen und Möglichkeiten der Affektmodulation in strategischer Autorschaft. Nach dem Zusammenhang von Inszenierung und Effekten zu forschen, bedeutet, mehr wissen zu wollen über die mediale Instrumentierung bei der Effektwahl ebenso wie über die Produktion eines als ‚Effekt‘ beschreibbaren Phänomens oder Ausdrucks, der sich den Sinnen des Publikums in der Regel entzieht. Das geschieht in diesem Band 7 der Reihe Szenografie & Szenologie hinsichtlich der Frage der Isolierbarkeit von Effekten (Mode, Theater, Architektur, Musik, Klang, Film, Mythos etc.), aber auch bezüglich des Gesamtklangs von Szenifikationen, Mediationen und Atmosphären. Welche Begriffe stehen als ‚szenologische‘ Instrumente den technischen Möglichkeiten szenografischer ‚Technologien‘ gegenüber und verstehen sich so als Affektmoderatoren menschlicher Produktionszwänge? Gehört die Idee, Passionen, Emotionen, Reflexionen zu produzieren, zum metaphorologischen Repertoire der Übersetzbarkeiten von szenografischer Logik im Plural der Wirklichkeitsbestimmungen? Es ist ein Ausweis szenografischer Profession, Wirkungen keineswegs nur durch den Einsatz von special effects zu erreichen, sondern zu verstehen, das auch das gesamte ‚Spiel‘ als soziale Situation sich modulieren lässt. Dazu gehört die Benennung der komplementären Übertragungsdifferenzen (und -opfer) von Affekt und Effekt. Es drängt sich die Erfahrung auf, dass Inszenierungen hinsichtlich der Effekterzeugung und -gestaltung kaum nur auf eine Produktion vorhersagbarer ‚Wirkungen‘ eines isolierten Ausdrucks oder Eindrucks in der Leiborganisation der Adressaten setzen können. Mittels der Effekteorganisation kann das Spiel seine eigenen komplexen Internalisierungen als Protoform einer szenischen Sprache entfalten und trotz der affektiven ‚Schocks‘ kommunikativ offen halten – nicht nur in einer Parade der Machtimperative von Effekten. Die Herausgeber danken Pamela C. Scorzin für zahlreiche Hinweise und Übersetzungshilfen und der Fachhochschule Dortmund für die Förderung aus Forschungsmitteln. Dortmund, Frühjahr 2013
Die Herausgeber
HEINER WILHARM, RALF BOHN
EINFÜHRUNG 1. „WORIN DENN DIE VIELGERÜHMTE MAGIE DER KUNST BESTEHE?“1
Der Titel des hier vorliegenden siebenten Bandes der Reihe Szenografie & Szenologie spielt mit zwei Unbekannten, denen die versammelten Beiträge auf die Spur kommen wollen. Dem Zusammenhang von Inszenierung und Effekten und dem von Szenografie und einer möglicherweise von ihr ausgehenden magischen Wirkung. Eine dritte Unbekannte resultiert aus dem Verhältnis der beiden ersten zueinander: Sollte die Wirkung szenografischer Entwürfe darin bestehen, auf magische Weise Einfluss zu nehmen, wäre die Frage, ob dies den Schluss zuließe, dass Inszenierungseffekte überhaupt in dieser Art Kausalität ausüben oder gar ausüben müssen. So gesehen wäre es dienlich, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was „magisch Einfluss nehmen“ heißen, wie der Ausdruck verwendet werden könnte, um von hier aus nach den besonderen Effekten von Szenografie und Inszenierung zu fragen. „Magie“, weiß ein einschlägiges Wörterbuch2, meint Zauberei, abergläubische Handlung, Geheimritual und ist eine, durch die Resultate ethnologischer und religionswissenschaftlicher Forschung sehr komplex gewordene teils wertende, teils wertungsindifferente Bezeichnung für vorwissenschaftliches und ‚außerrationales‘ zweckhaftes Handeln des Menschen auf der Grundlage bestimmter Kausalvorstellungen für eine damit zusammenhängende Weltanschauung [...], die durch derartiges Verhalten geprägt sind. Die irrationale Komponente und theoretische Grundlage der Magie und das oft dahinter stehende System sowie ein mit ihr nicht selten verbundenes kompliziertes Ritual schlagen [...] eine Brücke zur Religion.3
Demnach zu relativieren wären die eingangs des Zitats gebrauchten Nominaldefinitionen – „Zauberei, abergläubische Handlung, Geheimritual“ –, während festzuhalten ist, dass die Idee magischer Effekte, magischer Wirkung oder magischer Einflussnahme eine bestimmte Vorstellung von Kausalität privilegiert, einer Kausalität, die teils von der Magie selbst, teils von den damit befassten Akteuren ihren Ausgang nimmt und zumindest, was die ‚Magier‘, die dramatis personae betrifft, deren Handlungszwecke bestimmt. Magische Wirkung und Magierwirkung wären mithin, gut aristotelisch, als möglicherweise 1
Denis Diderot: Das Paradox über den Schauspieler. In: Ders.: Ästhetische Schriften. Zweiter Band, hgg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt am Main 1968, S.494. 2 Artikel Magie in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.5, hgg. von Joachim Ritter und Karl Gründer, Darmstadt 1980, Spalte 631-636. 3 Ebd., Sp.631.
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verschiedene Formen kausaler Effekte zu verstehen4: Effekte einer causa finalis, die in die Verantwortung der Akteure fallen, oder einer causa efficiens – die ebenfalls in die Verantwortung der Akteure fällt. Womit auch nach dem Charakter der Handelnden zu fragen ist. Erscheint dies paradox? Kaum. Es heißt, dass nicht vorweg zu entscheiden ist, in welcher Weise Magie und Magier, Inszenierung und Szenifikation, wenn man derart parallel unterscheiden will, wirken, und welcher Art das ‚Handeln‘ beider Instanzen ist oder sein wird. Man kann nicht sagen, dass die Effekte der ‚Magie‘ – der magischen Technik, der magischen Maschine oder der Tricks –, was sie vermögen, verursachen, während die damit verbundenen Inszenierungen, was sie vermögen, bezwecken. Je nachdem, ob „die Magie“ selbst in einem Handlungskontext aufgeht oder die Inszenierung zur technischen Abwicklung gerät, könnten die beiden Effekttypen die Stelle tauschen oder gedoppelt antreten. Wenn auf diese Weise die Inszenierung in den Fokus gerät, das hinter der Magie sich verbergende „System“ und das mit ihr verbundene „Ritual“, das die Brücke schlägt von der ‚Verursachung‘ im Sinne naturwissenschaftlich-gesetzlicher Wirkung zu einer andersartigen Vorstellung von bestimmten Wirkzusammenhängen – solchen, die wenig mit gesetzesartigen Erklärungen zu tun haben, viel aber mit der Evidenz eines Sich-Ereignens –, wenn also die Inszenierung derart in den Blick gerät, dann gilt es auch hier, eine entsprechende Differenz anzunehmen. Nach Auskunft des Wörterbuch-Eintrags ist daran abzulesen, dass „die Magie außerordentlich verschieden beurteilt worden [ist], vor allem hinsichtlich ihres entwicklungsgeschichtlichen Verhältnisses zu Religion, Wissenschaft und Technik“.5 Die Differenz der Inszenierung in Hinsicht der unterschiedlichen Wirkungsweisen ihrer möglichen ‚magischen‘ Effekte folgt den hier genannten Bereichen der Ausdifferenzierung, zum einen, zunächst, im Sinne wissenschaftlicher und technischer Kausalitäten, zum anderen im Sinne religiöser (kultischer) Evidenz des Erscheinens. Zur Inszenierung des magischen Rituals, zur „magische[n] Aktion aller Arten“ gehört „entweder, dass sie durch Laut, Wort, Gesang, Beschwörung, Schrift, Zeichen, Geste, Berührung, magische Handlung (Symbolhandlung, Symbolobjekte) oder durch Vermittlung magischer Medien und ‚kraft‘ geladener Materien vollzogen“ wird. Das ist zweifellos der Grund, warum von „‚außerrationalem‘“, nichtsdestotrotz „zweckhaftem Handeln“ und von der „irrationalen Komponente“, nichtsdestotrotz der „theoretischen Grundlage“ von Magie gesprochen wird. Tendieren der magische Effekt und wer oder was ihn in Gang setzt nun weniger zu einer Wirkung, die glauben macht und sich zu diesem Zweck der Emotionen und Affekte bedient, mehr dagegen zu einer solchen, die sich durch sich selbst, durch das dem Effekt sui generis zukom4 Wobei 5
wir uns fürs Erste auf die beiden „äußeren Ursachen“ verlegen. Artikel Magie, a.a.O., Sp.632.
EINFÜHRUNG
mende (technische, wissenschaftlich erklärbare) Funktionsgefüge und seine Abläufe erklärt, so wird man trotz des inszenatorischen Aufwands – Profis aus der Magier-Gilde reden von „stage design“ 6 –, von „Zauber“ im Sinne von Zaubertricks oder gar von „faulem Zauber“ sprechen, einem „gioco di prestigio“, was wörtlich „bloß ein Spiel mit dem Gewinn“ (dem Prestige der Evidenz) bedeutet. Wer teilhaben will an den Wirkungen wahrer Magie, wird mit solchem faulen Zauber nichts zu tun haben wollen. Beziehen wir nun, unter Voraussetzung der eingezogenen Unterscheidung ‚magischer‘ Inszenierungen, die Kategorie „Szenografie“ und ihre Funktion mit ein, erweist sich, dass der erläuternde Untertitel des Buchs uneigentlich oder metaphorisch gelesen werden muss. Eine „Magie“ der Szenografie, sollte der Ausdruck in dieser Attribution überhaupt Sinn machen, kann nicht an ihr selbst zur Erscheinung kommen. Unter dieser Bedingung könnte man auch sagen, dass es keine „Magie der Szenografie“ gibt. Jedenfalls wenn man unter „Szenografie“ einen reflektierten und geplanten gestalterischen Entwurf versteht, der erst mit der, das heißt seiner tatsächlichen Inszenierung ins Erleben seines Vorhabens tritt. So lange bleibt die Szenografie bloß „Erlebniserreger“ (Heidegger). Der Künstler, der den Hirschen für den Jardin du Luxembourg geschaffen hat (siehe Titelfoto), mag sich über die magischen Wirkungen der Erscheinung im Garten des einstmals königlichen Schlossparks vielleicht seine Gedanken gemacht haben. Dass Millionen von Lesern (oder Kennern der Verfilmungen) der HarryPotter-Romane Joanne K. Rowlings sich möglicherweise dem Zauber eines Patronus ausgesetzt sähen, wenn sie am Abend unter den Bäumen des Gartens Le Ducs Hirschen begegneten, wird kaum zur Szenografie seines Auftritts gehört haben.7 – Heidegger, der den Ausdruck „Erlebniserreger“ im Kontext seiner Kritik des Wagner’schen Gesamtkunstwerks in den Nietzsche-Vorlesungen der 30er Jahre wie der des zeitgenössischen Kunstbetriebs (zum Beispiel in den Vorträgen
6 Vgl.
den Beitrag von Heiner Wilharm in diesem Band: Magische Effekte oder Vom Verschwinden der Endlichkeit, und den Beitrag von Pamela C. Scorzin: Effekt und Affekt in Scenographic Fashion Shows. 7 Stichwort Patronus-Zauber: „Der lateinische Zauberspruch Expecto Patronum heißt auf deutsch übersetzt etwa: Ich erwarte meinen Schutzherrn. [...] Der Patronus-Zauber wird durch die Kraft einer glücklichen Erinnerung erzeugt. [...] Nur ein ‚gestaltlicher Patronus‘ (im Original ‚corporeal patronus‘) ist stark genug, ein oder mehrere bedrohliche Wesen gezielt zu verjagen. Wenn man sich in einer ausweglos erscheinenden Gefahr befindet und dringend einen rettenden Patronus herbei zaubern will, ist es aber besonders schwierig, sich ganz auf eine glückliche Erinnerung zu konzentrieren.“ Umso besser, die inkorporierte Gestalt erscheint unverhofft wie im Jardin du Luxembourg. In Hirschgestalt erscheint Harry Potters mächtiger Patronus. Es handelt sich, was sonst, um die Beschwörung des Vaters. „Der ‚Patronus‘, der persönliche Beschützer, nimmt für eine Person immer die gleiche Tiergestalt an. Er symbolisiert eine starke rettende Macht, der diese Person vertraut. Aufgrund starker, emotionaler Umwälzungen kann sich die beschützende, Sicherheit gebende Gestalt des Patronus einer Person verändern.“ Vgl. Harry-Potter-Wiki auf: http://de.harry-potter.wikia.com/ wiki/Expecto_Patronum; Zugriff 11/2012.
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HEINER WILHARM, RALF BOHN
zum Ursprung des Kunstwerks) zur selben Zeit prägt8, meint freilich die Inszenierung, die „der Betrieb“ mit sich bringt, selbst, sofern sie, dem Erleben und dem Erlebnis (Event) zugekehrt, dies dem medienverwöhnten Publikum ebenfalls ermöglicht. Versteht man unter „Inszenierung“ die szenische Aufführung selbst, das szenische Spiel mit Publikum, regt sie das Erlebnis nicht nur im Sinne einer Wirkung auf Zuschauer oder Besucher an, sondern stellt zugleich die Szene bereit, in der sich das Erleben, in einer bestimmten Geschichte erzählt und dramatisiert, abspielt und gestalten lässt. Soweit dafür, planend und kalkulierend, wiederum eine Szenografie in Anschlag gebracht werden kann (oder muss), wird die, in ihrem Druck auf das intendierte Ereignis, das zum Erlebnis werden soll, als ‚Erlebnis erregend‘ behauptet werden dürfen. Professionelle Szenografien, die darauf aus sind, Gefühle zu provozieren, Erregungen und Leidenschaften, zeigen selbst keine Gefühle, empfinden nichts, und setzten sich auch keinen Affekten aus. Sie arbeiten weder außer- noch irrational. Im Gegenteil.
Abb.1 Expecto patronum (Harry Potter-Effekt auf Harrymedia.com).
Es ist, wie es Diderot in seiner späten Schrift Das Paradox über den Schauspieler auseinandersetzt.9 Der Profi unter den Schauspielern ist nicht gefühlsge8
Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. In: Holzwege, Frankfurt am Main, 5. Aufl. 1972, S.56 und auch das erste Kapitel in ders.: Nietzsche. Erster Band, Pfullingen 3. Aufl. 1961: Der Wille zur Macht als Kunst. 9 Diderot, Das Paradox über den Schauspieler, a.a.O., S.481-538; 1770-1773 verfasst, erst 1830 erstveröffentlicht.
EINFÜHRUNG
stimmt, wenn er Gefühlen Ausdruck verleiht, nicht empfindsam, wenn er Empfindungen vortäuscht, die er sich nicht leisten kann, wenn er seinen Auftritt planvoll zu Ende bringen will, er ist weder ängstlich, wenn er sich ängstlich zeigt, noch hoffnungsfroh, wenn er behauptet, es zu sein. Insofern stellt er gewisserweise selbst einen technischen Effekt dar, eine Schein produzierende Maschine („beinahe wie Automaten“10), die zur ‚lebenden Szenografie‘ gehört. Die Technik der „kalten Verstellung“ fordert einen „kühle[n] und ruhige[n] Beobachter“, durchdringenden „Scharfblick, aber keine Empfindsamkeit“, die „Kunst, alles nachzuahmen oder – was auf dasselbe hinausläuft – eine gleiche Befähigung für alle möglichen Charaktere und Rollen“.11 Um zum „erhabenen Schauspieler“ zu werden – höchstes Ziel –, ist es nicht dienlich, überhaupt Empfindungen zu haben, egal ob solche Ausstattung angeboren oder künstlich erworben ist; „Empfindsamkeit ist in keiner Rolle am Platz.“12 Stattdessen schöpft der Akteur „aus der Überlegung (réflexion) heraus aufgrund des Studiums der menschlichen Natur [...], aus der Einbildungskraft und aus dem Gedächtnis“, so dass alles, was zur Erscheinung gebracht wird, möglichst wie „aus einem Guß (un)“ wirkt und der da spielt, selbst „in allen Vorstellungen ein und derselbe und immer gleich vollkommen“.13 Worin besteht also das wahre Talent [des Schauspielers wie des Szenografen – HW]? Darin, die äußeren Symptome der erborgten Seele gut zu kennen; sich an die Empfindung derer zu wenden, die uns hören und sehen, und sie durch die Nachahmung jener Symptome zu täuschen – eine Nachahmung, die alles in ihren Köpfen vergrößert und zur Richtschnur ihres Urteils wird. Auf andere Weise lässt sich das, was im Innern der Menschen vor sich geht, gewiß nicht ausschöpfen. Und was liegt nun wirklich daran, was sie empfinden oder nicht empfinden – vorausgesetzt, daß wir das letztere nicht merken? Wer also die äußeren Anzeichen kennt, und sie nach dem besten ideellen Modell (modèle ideal le mieux conçu) am vollendetsten wiedergibt, ist der größte Schauspieler.14
Eine professionelle Haltung, worin sich „der Darsteller vom Dichter, vom Maler, vom Redner, vom Musiker [nicht] unterscheidet“.15 Und über die maßgebliche Szenografie ist zu erfahren, dass sie umso bemerkenswerter einzuschätzen sei, je besser es ihr gelingt, der Einbildungskraft der Spieler jeden Entfaltungsraum zu nehmen.16 Zweifellos scheint hier kaum Magisches zu entdecken. Dafür viel Knowhow, technisches Können, energetische Leistung, schlussfolgerndes Kalkulie10
Ebd., S.496. Ebd., S.484. 12 Ebd., S.487, S.510. 13 Ebd., S.485. 14 Ebd., S.521. 15 Ebd., S.486. 16 Ebd., S.521. 11
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ren, „sehr viel Urteilskraft“.17 „Worin denn die vielgerühmte Magie der Kunst bestehe“?18 Dass alles so „wohlgeplant und in sich geschlossen“ vor sich geht, wie in einer „wohlgeordneten Gesellschaft, in der jeder etwas von seinen Rechten zum Wohle der Gemeinschaft (ensemble) und des Ganzen (tout) opfert. Wer kann das Maß dieses Opfers am besten würdigen? [...] [I]n der Gesellschaft ist es der gerechte Mensch“; in ihm nämlich sind all diejenigen Darsteller, die einen „kühlen Kopf“ besitzen, zu identifizieren. Er erhebt sich aufgrund seiner moralisch sittlichen Haltung über die Niederungen des Gesellschaftlichen, dem er angehört. Ganz wie normale „Straßenszenen“, wie sie der Gesprächspartner dem Verteidiger des Paradox’ entgegenhält, um zu demonstrieren, wie doch eine Katastrophe beispielsweise, die eine Gesellschaft heimsuche, dazu führen müsste, dass jeder der Beteiligten seine natürlichen Empfindungen zur Entfaltung brächte und dabei doch auch ein „wundervolles Schauspiel“ zustande käme, „mit tausend wertvollen Modellen für Bildhauerei, Malerei, Kunst und Poesie“. Normale Straßenszenen, antwortet der Verteidiger der Inszenierungskünste, verhalten sich zur Theaterszene „wie eine Horde Wilder zu einer Versammlung zivilisierter Menschen“.19 Im Fall des Auftritts auf der Bühne, gleichgültig zunächst, ob im künstlerischen oder profanen Ambiente, fällt die gegebenenfalls20 für solche Performance erarbeitete Szenografie in großen Teilen, wenn nicht vollständig, mit der Inszenierung als Szenifikation des erwünschten Scheins zusammen. Dies gilt nicht nur für diejenigen lebendigen Akteure, die dem bestbekannten idealen Modell (das heißt der bestbekannten idealen Szene für den vorliegenden Fall einer neuerlichen Szenifikation) im Einzelfall folgen, sondern ebenso für alle sonstigen ‚Agenzien‘. Kein Ding ist nur, was es ist; alles ist auch das, was es sein soll. Dies trifft am Ende die Inszenierung selbst, die darin zum Ausdruck gebrachte, tatsächlich zuvor eigens entwickelte oder auch nur ‚improvisierte‘ Szenografie. Die Inszenierung „ist in diesem Augenblick ein Doppelwesen“21, dessen eine Hälfte bei Strafe des Misslingens des gesamten Unternehmens indes nicht zum Vorschein kommen darf. Die Szenifikation wird die Inszeniertheit verschwinden machen müssen wie der Schauspieler die kalte Verstellung, soll der Schein der Illusion den Effekt des Ganzen beleuchten. Effekte als funktionales Äquivalent von Instrumenten, Werkzeugen, Maschinen, Techniken, Kniffen 17
Ebd., S.484. Ebd., S.494. 19 Ebd., S.494/495. Vgl. den Beitrag von Ralf Bohn Am Nullpunkt der Szenografie (Anm. 6) zur Darstellung des Anfangskapitels von Musils Der Mann ohne Eigenschaften. 20 „Gegebenenfalls“, da, wie gehört, der nicht im Rahmen eines künstlerischen Werks geplante Auftritt, die „Straßenszene“ im weitesten Sinne, zwar einer Art spontaner Szenografie folgen und insofern zu einer kunstähnlichen, quasi künstl(er)ischen Darstellung kommen kann, dafür aber keinen ausgearbeiteten kreativen Entwurf braucht. 21 Diderot, Paradox über den Schauspieler, a.a.O., S.486. 18
EINFÜHRUNG
und Tricks der Effekterzeugung dürfen, wenn überhaupt, nur ins Narrativ verwoben und aus ihm heraus dramatisiert erscheinen, vielleicht als Produktionsbedingungen des Scheins, aber nicht der Inszenierung des Scheins. Entsprechend ist die Bedeutung oder der Sinn der Effekte zu lancieren. Die Unterscheidung von Inszenierung und Szenifikation, allemal von Szenifikation – dem Spiel – und Szenografie – der medialen Instrumentierung schon bei der Effektewahl – ist dabei durchaus wesentlich. Das Szene-Machen („Szenifikation“) schließt eben nicht an an die eventuell vorhandene aktuelle Szenografie (wie gesagt, sie muss gar nicht existieren), sondern an das, wie Diderot sagt, bestbekannte ideale Modell. Nun ist dieses Modell aber kein bloßes theoretisches Konstrukt, sondern erfahrungsgesättigtes Wissen um die kollektiven Bilder vergangener Szenifikationen, „Szenen“ der Vorstellung. Gewisserweise eine Techne, eine Kunst der Erinnerung. Somit macht es Sinn anzunehmen, dass die mit einer gegenwärtigen Szenifikation angebotene Bedeutung kaum im vergleichsweise luftleeren Raum der gerade bespielten ‚Bühne‘ ihr Schicksal findet, selbst wenn sie darauf bestehen wollte. Durchs Wegspiegeln eines möglicherweise allzu weiten, gewiss Widersprüche provozierenden Interpretationsangebots mag es der Szenifikation vielleicht gelingen, mit schlagenden Evidenzen beim Ding- oder Objekterscheinen22 aufzuwarten, um die beabsichtigte Wirkung der Inszenierung zu erzielen. Doch ist kaum denkbar, dass der die Bühne im engeren und weiteren Sinn ‚umgebende‘ Kommunikations-, Handlungs- und Denkraum, der Körper- und Leibraum des ‚Publikums‘ und die von diesen Räumen und den dort anwesenden Personen ausgehenden Deutungsangebote sich ihrerseits ‚effektlos‘ verhielten, quasi blind, taub, schweigend, gefühllos, tatenlos, bewusstlos vorgestellt werden könnten. Wie wenn es sich um frisch gegossene Wachstafeln handelte, die zur erstmaligen Prägung zur Verfügung stünden. Dies scheint nicht denkbar, selbst wenn es gelänge, dass das Publikum seine eigene Anwesenheit vorübergehend vergäßen. Wenn von daher nun aber eine große Menge disparater Gefühle und Energien, Bilder und Vorstellungen, Erinnerungen und Schlussfolgerungen aufdämmern und Assoziationen bereitstellen, die sich per Gewohnheit an die Longue durée von sedimentiert Szenischem anschließen, so ist die Entscheidung über das Gelingen der aktuellen Szenifikation davon abhängig, wie der Streit zwischen ihr und den bestbekannten idealen Szenen aus Vorstellung und aktualisierbarer, nachahmbarer Vorstellung ausgeht, ob es der Szenifikation gelingt, im Sinne ihrer (der Inszenierungs-)Absichten Anschluss zu finden an ein szenisch Bekanntes, bekannt Szenisches, und auf diese Weise den mythos 23 weiterzuspinnen. Dass auch solche ‚idealen Szenen‘ (eigentlich ein Pleonasmus, wenn man die funktionale Gleichwertigkeit von Ideen und Szenen bedenkt) möglicher22 23
Mithin der Zeichenkörper. Zur Unterscheidung von mythos und Mythos siehe unten.
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weise einstmals als erstmalige Szenifikationen aufgetreten sind und ihnen ebenso einmalige Szenografien zugrunde gelegen haben mochten, steht dem nicht im Wege, sondern erhöht die Chancen auf Wiedererkennbarkeit und Anknüpfung, Vereinnahmung und Teilhabe. Es handelt sich um das, was der zitierte Lexikonartikel als hinter den magischen Praktiken sich möglicherweise versteckende Systeme und mit ihnen (mit Praktiken und Systemen!) verbundene Rituale in Anschlag bringt. Nun werden die Bilder und Geschichten der szenischen Sedimente kaum qua individueller Erfahrung geltend zu machen sein, weder als individueller Widerstand noch als individuelles Angebot. Mieux conçu akzentuiert, dass es um Vergemeinschaftetes geht. Die Affektmodulation des Spiels muss sich darauf einstellen, dass sie auf die Affekte auch der nicht ausdrücklich engagierten Mitspieler treffen wird, sich damit zusammenschließen muss, will sie einen gemeinsamen Klang interpolieren. Nur als solcher, Sang oder Sage, als klingender mythos, wird sich das Deutungsangebot des vorhandenen szenischen Repertoires mit Sprache und Melodie der aktuellen Szenifikation verbinden. Überhaupt liegt das in der eigentlichen Intention der Szenifikation: in eine gründende und deshalb ‚wahr‘ sagende Erzählung aufgenommen und auf diese Weise mit dem, mit einem Ursprung verbunden zu werden. Was heißt „wahr zu sein“ im Zusammenhang solcher Darstellung? „Die Dinge zu zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs. Das Wahre in diesem Sinne wäre nur das Gewöhnliche.“ Das Wahre auf der Bühne hingegen „ist die Übereinstimmung der Handlung, der Reden, der Gestalt, der Stimme, der Gebärden, mit einem vom Dichter erdachten ideellen Modell“. Mit einem von der Dichtung erdachten Modell. „Es ist das Wunderbare“, vor dem selbst die Erhabenheit der Natur zurückstehen muss, würde doch selbst sie im Rahmen von Inszenierung und Szene „mit kaltem Blute“ wiedergegeben und umso mehr wirken können.24 Wie steht es nun um die Magie der Szenografie? Sie mag wirken, wenn eintritt, was eben entfaltet wurde. Wenn sie selbst mitsamt der von ihr gedachten und konzipierten Inszenierung in der Szenifikation des Geschehens, das sie meist nur als Erleben, Event, im Sinn hatte, zum Verschwinden gebracht wurde, das Geschehen wiederum sich mit einem gründenden Ereignis verbindet. Dies ist von Bedeutung, denn alle Beteiligten wissen, dass hiermit die eine von zwei Klammern in den Blick gerät, die alles zusammenhalten. Stets vom Ursprung her führt der Weg für jeden Einzelnen zu dem anderen grundlegenden Ereignis – was überhaupt erst die Rede vom „Ereignis“ rechtfertigt. Die Magie oder der magische Effekt würde sich gerade darin einstellen, dass diese Art der Kausalität, der Verknüpfung, wirkt per evidentiam. Sie beruhigt, lässt die gesamte Affektmodulation sich einpendeln, sozusagen, auf dem Niveau des Zweiten Ther24
Diderot, Paradox über den Schauspieler, a.a.O., S. 492/493; Hervorh – HW.
EINFÜHRUNG
modynamischen Hauptsatzes. Verständlicherweise braucht es dazu zumindest eine in diesem Sinne exemplarische Szenifikation. Diderot ist nicht der Einzige, der als Beispiel dafür die attische Tragödie anführt.25 Nur müsste sie die Wucht ihres Erstauftritts besitzen, die Wucht neuerlicher Überzeugung zu schon fest Geglaubten, und gleichzeitig an die thematisierten, zugehörig szenischen Sedimente anschließen können. Es leuchtet ein, dass der Übergang von der Illusion zur Magie den von der alltäglichen oder künstlerischen Inszenierung und ihrer szenifikatorischen Performance zu Kultus und gemeinsamer Feier beinhaltet. Hier gilt das Publikum zwar immer noch als publicum, das heißt zur Gemeinschaft gehörig, aber nicht mehr als bloßer Zuschauer, Besucher, nur Gast. Die Überlegung lässt an das Verständnis der Alten von Magiern und Magie denken. Sicher, einerseits hat Magie zu tun mit Technik und Techniken – und ihren Wurzeln in der Natur, die sie nachzuahmen suchen –, andererseits aber auch mit Kunst und Kreativität. Das griechische Wort für Magie, mageia, ist verwandt mit mechos, einem poetischen Begriff, und dem gleichbedeutenden mechané. Damit werden „Maschinen“ bezeichnet, aber auch sonst „künstliche Vorrichtungen“; deshalb auch „Theatermaschinen“. In übertragenem Gebrauch heißt mechané „Erfindung“, nicht nur technische oder wissenschaftliche Erfindung, schließlich „Kunstgriff“ und „List“. Das zugehörige Verb bedeutet beides: etwas künstlich, aber auch künstlerisch verfertigen. Zum Ausdruck kommt die offenbar tief gründende und lang anhaltende Affäre zwischen Natur, Technik und Kunst oder Künsten.26 Für sie wäre auch der Name, dessen Varianten sich in den Publikationen der Reihe Szenografie & Szenologie besonders zuhause fühlen, Programm, bedeutet doch Szene selbst keineswegs Bühne, Ort der Aufführung, der Vorstellung und der Kunst oder, umgekehrt, lediglich Requisitenkammer. Skene vielmehr meint den Ort, der aufgrund seiner Eigenheit und Ausstattung die Anschlussfähigkeit zwischen altbekannten Stücken und neu auf dem Spielplan stehenden Aufführungen garantieren kann. Skene ist die Heim- und Werkstatt des mythos, in der alles das vorgehalten wird, was dazu notwendig ist. Aristoteles zählt die Magier, die magoi, in seiner Metaphysik zu denjenigen, die „halb als Dichter, halb als Philosophen“ das Seiende aus obersten Prinzipien abzuleiten wissen27, das eine mit dem anderen zusammenbringen, weil sie eine Episteme besitzen, die auf solchem Zusammenknüpfen beruht, indes andere Kausalitäten ventiliert als die in der Anwendung konfektionierter Wissenschaften üblichen. Magoi heißen auch die geheimnisvollen Fürsten aus dem Osten, die sich dem Stern anvertrauen. Ihr Ruf als „Weise“, eine übliche Übersetzung von magoi, beruht nicht darauf, dass sie sich mit beeindruckender Zauberkunst hervorgetan hätten. Vielmehr sehen sie sich im Stande, bestimmte 25
Ebd., S.512/513. Siehe Benselers Griechisch-deutsches Wörterbuch, Leipzig 1904 und öfter, Artikel mechané. 27 Vgl. Aristoteles Metaphysik XIII, 4, 1091b 10; Art. Magie, a.a.O. 26
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Erscheinungen als Mittelglieder, Zeichen, zu nehmen und mit den so gewonnenen Deutungsangeboten anders als gewohnt umzugehen. Aufgrund dessen gelingt es ihnen, die neuen Bedeutungen mit weiteren Zeichen so zu verbinden, dass eine bisher nicht gekannte Botschaft resultiert. Kompetenz ist wichtig, aber der Anschluss ist kein Lektüreeffekt. Die Drehung von einem Signifikat zum anderen, vom Signifikat zum Signifikanten muss mitvollzogen werden. Sie ist in die Zeit gespannt, wie der Anschluss einer jeden Szenifikation an die passenden Szenen. Deshalb gehen die Weisen auf die Reise. Sie haben sich nicht allein in die Lage versetzt, eine einmalige astronomische Konstellation am Himmel ihrer Heimat mit einer alten Prophezeihung zusammenzulesen, sondern sind darüber hinaus bereit, sich von der Evidenz des Ereignisses, auf das hin sie sich nun auf die Reise begeben, überzeugen zu lassen. Auf diese Weise anzuschließen, kostet das Leben. Niemand hat bisher gehört, dass die Magier zurückgekehrt wären in ihr Heimatland. Soviel zur Aufklärung über die zweite Unbekannte unseres Buchtitels. Was sich hinter der ersten verbirgt, ergibt sich daraus. Soweit es Inszenierungen darum zu tun sein muss, ihre Inszeniertheit zum Verschwinden zu bringen, um ihr gewogene Emotionen, Affekte und Überzeugungen ins Erleben zu holen, muss sie bestimmte Wirkungsarten der von ihr eingesetzten Effekte, bestimmte Interpretationsofferten, die damit verbunden sind, ebenfalls verschwinden lassen – oder ‚umprogrammieren‘. Dies betrifft insbesondere die (vermeintliche) Offensichtlichkeit technischer Funktionalität. Dass die in ihrer Erdung im Ding und den darüber erzählten Geschichten – etwa im Rahmen der Wissenschaften – vergleichbare magische Wirkungen zu erzeugen vermögen wie die Zeremonien des religiösen Kults, widerspricht dem nicht. Das Problem besteht einfach darin, wie es ein Journalist beschreibt, der einen (wenn auch fiktionalen) Berufsmagier beobachtet hat, dass man allzu schnell enttäuscht ist, wenn man sich über die wirkende Kausalität ins Bild gesetzt hat oder sieht: „Wenn man einem Meisterillusionisten bei der Arbeit zusieht, ist man neugierig, wie das Wunder wohl vollbracht wird, aber man ahnt auch, dass eine Enthüllung des Geheimnisses nur enttäuschen kann“28, und lässt die Neugierde auf sich beruhen. Dass es sich bei der als wissenschaftlich nobilitierten, technisch funktionalen Kausalität auch nur um eine Form kanonisierter Festlegung auf einen begrenzten Schein handelt, kann erst gewahr werden, wer sich hinter den Vorhang der Szenografien, Inszenierungen, Szenifikationen und Szenen des wissenschaftlichen „Weltbildes“ begibt.29 Gelingt die Camouflage, verbleibt den Effekten akuter Szenifikation die Chance auf magische Wirkung im Sinne der dargestellten Möglichkeiten 28 Christopher Priest: The Prestige. Die Meister der Magie. München 2007, S. 372. Ähnliche Argumentation ebd., S.382. 29 Siehe Martin Heidegger: Zeit des Weltbildes. In: Holzwege, a.a.O.
EINFÜHRUNG
geheimnisvoller Öffnung bisher verschlossener Räume, von Räumen, von denen niemand wusste, dass sie nahe beieinander lagen. Vermeintlich gehen die magischen Effekte von szenografischen Entwürfen aus. Doch verdanken sie sich in Wahrheit deren Dissimulation. Auf diese Weise dürfte sich auch die dritte Unbekannte des Titels, das Verhältnis der beiden Elemente – Inszenierung und Effekte sowie Magie der Szenografie – zueinander, erklären. Fürs Erste erklärt sich aber noch ein weiteres. Dass jede Art der Dissimulation, des Verschwindenmachens, bedeutet, dass Opfer zu beklagen sind. Diderots Darsteller opfern den Effekten ihrer Kunst die Offensichtlichkeit ihrer Professionalität. Sie müssen vergessen machen, wie kalt sie ihr eigenes Spiel selbst lässt, lassen muss, dass ihnen die eine Charaktere so gut wie die andere ist. Der Szenograf einer ethnologischen Ausstellung, der allen Exponaten in ihrer Besonderheit, Vielschichtigkeit, historischen und kultisch magischen Tiefe zum Auftritt verholfen hat, lässt seine Arbeit (mehr oder weniger willentlich) abtauchen hinter der von ihm inszenierten Präsenz der Objekte und den belesenen Geschichten der Kuratoren. Die Drehbuchautoren, Regisseure, Bild-Direktoren eines erfolgreichen Films sind ihren Fans vielleicht bekannter als die Ausstellungsmacher dem Museumspublikum, doch teilen sie dasselbe Schicksal. Auch sie machen sich unsichtbar, erscheinen nicht, wenn sie nicht Chaplin heißen oder Hitchcock – die in fremder Haut indes auch nichts anderes tun konnten, als die Verluste aus anderen Geschäften so verkleidet zu kompensieren. Dasselbe mit den Interpreten musikalischer Werke, seien es die Solisten, die Chor- oder Orchesterkünstler, Dirigenten oder Komponisten – Letztere Akteure, die allemal im Hintergrund stehen, obwohl auch sie, und nicht zuletzt, an Interpretationsangeboten arbeiten, die es kaum gäbe, wenn sich die Kreativen nicht auf existierende Werke und Deutungen beziehen könnten. Und an welchen Gebäuden, Plätzen, Gärten steht schon der Name der Architekten, die die Räume geplant und deren Gestalt entworfen haben? Sie werden gemeinhin dem freien Spiel der Nutzung, wozu Umkodierung und neue Deutung gehören, überlassen. Sie alle verschwinden hinter dem Werk, vielmehr den Effekten des Werks, das, derart souverän geworden, seinen Charakter als Poiesis, als Hervorgebrachtes, geradezu selbst zu verleugnen scheint, je imposanter das Werk, desto nachhaltiger, samt den Hervorbringern und den technischen Medien des Hervorbringens. ‚Ursachen‘ für das zu Bild und Ansicht, Klang und Gehör gebrachte in diesem Sinne gibt es nicht. An Stelle einer Wirkung aufgrund solcher Verursachung erleben wir, wenn die Performance gelingt, eine Art Selbstzeugung der Szenifikation, von Bildern, Klängen, Figurationen: Geschichten, die sich selbst in Szene setzen und sich dafür – zu ihrem Zweck – ihrerseits ausgesuchter Medien bedienen, „Medien“ im Doppelsinn der Bedeutung, die sie brauchen, um ihren Zauber in großer Perfektion ausbreiten zu können. Aus der Perspektive solcher
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Szenifikation und ihres Drangs, Anschluss zu finden an die maßgebliche, die ideale Szenik, verkehrt sich der Charakter von Mittel und Zweck, die Stellung, ein Mittel darzustellen im Unterschied zu einem Zweck. Das ist, was zu Beginn dieser einleitenden Überlegungen festgestellt wurde: dass es für Effekte keine Eineindeutigkeit bei der Zuordnung zu einem effizienten oder finalen Kausalitätstypus gibt. Angesichts der Prozesse, Bedeuten zu lassen, zu verstehen zu geben oder Sinn zu machen, stellt dies keine Überraschung dar. Es heißt lediglich, dass die ins Auge gefasste Beziehung eine zweistellige Relation überschreitet und in ein dreiwertiges Verhältnis eintritt, in dem jedes Glied zugleich Zweck und Mittel, (vorübergehendes) End- und Mittel-, Vermittlungsglied ist, Zeichen eben. Auf verschiedene Arten wirkend und auf verschiedene Arten zu verstehen. Denn einen in der Physis wurzelnden Ding- oder Objektkörper zum Zeichen zu machen, heißt, Deutungshinweise der unterschiedlichsten Art zur Verfügung zu stellen, mehr oder weniger glücklich.30 Doch dies verdeckend scheint es, dass ein Eines stets genau ein Anderes verlangt – und dabei „in allen Vorstellungen ein und derselbe und immer gleich vollkommen“. Der gewünschten Szenifikation und ihres Bedeutens zuliebe, das die Chance birgt, Anschluss zu gewinnen, Prestige, erscheinen alle anderen Möglichkeiten, die vielleicht hätten herausgegriffen werden können, geopfert. Ein schmerzhafter und selbst wohl meist unintentionaler, uninszenierter, wenn auch nicht notwendig unbewusster Prozess. Zumindest für den Augenblick. Die Opfer stellen sich ein, sie müssen nicht ausdrücklich gebracht werden, wenn auch dies möglich ist. Auch darin, nicht in der Aufführung, sondern in der Dezision herauszugreifen, findet sich das Ereignis. „Ereignis“ geradezu im naturwissenschaftlichen Verständnis. Die Opfer gehören zu dem, was verschwindet, was zugedeckt bleibt, meist jedoch Symptome hinterlässt. Doch liegt hier auch die Chance, dass selbst diejenigen, die skeptisch sind gegenüber magischen Effekten und schnell geneigt, an Vortäuschungen zu glauben statt an Wunder, einen Zugang gewinnen können zu den Phantasmen der Bedeutung. Das mag belohnen und stärkt allgemein das Selbstbild der Altruistischen. Freilich müssen die Ersatzzahlungen für gebrachte Opfer tatsächlich zu Zuwendungen angesichts allgemein gefährlicher Zeiten umgedeutet sein. Wir kommen noch einmal auf den Ursprung zu sprechen, um die Sensibilisierungseffekte nicht zu vergessen, die auf Seiten der Betroffenen in die skizzierten Inszenierungsprozesse verwickelt und Thema der Beiträge dieses Bandes sind. Die Aristotelische Poetik, klassischer medientheoretischer Text zu diesem Thema, dem Diderot in seiner Abhandlung der 1770er Jahre nicht an letzter Stelle Tribut zollt, die Poetik problematisiert die Performativität im Zusammentreffen 30
Das ganz im Sinne Diderots.
EINFÜHRUNG
von Effekt und Affekt am Beispiel der klassischen Tragödie. In der szenischen Auseinandersetzung mit dem mythos, dem figurierten und dramatisierten Inhalt der erzählten Geschichte31, verdichten sich die wechselnden Zustände affektiver Beantwortung des sinnlich vermittelten Empfindens, Erlebens und Vorstellens zu ‚Ursachen‘ weiterer – unter Umständen heilsamer – psychischer Wirkungen im Laufe des Geschehens. Mythos in diesem Sinne ist nicht Mythos im modernen Verständnis. Mythos grenzt sich zwar ab von logos, der Ausdruck indes wird nicht verstanden als „Logos“, „Vernunft“ oder „Verstand“, sondern im Sinne von „Wort“ oder „Satz“. Mythos, dem gegenüber, ist kein isolierter Formausdruck im Range eines „Dings“ oder „Objekts“, das durch ein „Wort“ bezeichnet werden könnte; auch nicht nur eine Aneinanderreihung von Worten zu einem „Satz“ oder einer Reihe von Sätzen, sondern ist das, mittels dessen eine „Geschichte“ etabliert und Kontext gestiftet wird. Mythos ist die sich selbst und das weiter Fortdauernde beginnende und gründende Dichtung. Walter Seitter schreibt in seiner Poetik-Exegese nachvollziehbar, man sollte „Fabel“ oder, modern, story und plot einsetzen. Vielleicht sollte man mit Heidegger „Sage“ oder „Dichtung“ lesen. Bei Aristoteles und der attischen Tragödie bindet sich die Inszenierung über den mythos an das Reich, die Geschichte der Handlungen und ihre szenisch poetischen Rahmungen. Es handelt sich um poiesis, Dichtung, die auf praxis verweist, auf pragmata auch – vielerlei Taten und Geschehnisse. Aristoteles: „Die Nachahmung [die notgedrungen anschließende und deshalb mimetische Darstellung – mimesis] von Handlung ist der mythos.“32 Typischerweise angeregt durch das Miterleben einer harmatia, eines Fehlgehens oder Irrtums der Protagonisten einer Erzählung, deren Schicksal die, die zur Feier der Tragödie kommen, begleiten, geraten sie, derart, durch das Spiel auf der Bühne, das selbst diese Handlung ist, fremde Schicksale ‚wiedererlebend‘, in den Sog des erinnerten Geschehens. Denn Dichtung bedeutet nicht, dass ein Text ins Spiel übersetzt würde, sondern „dass Handelnde handeln“, ganz wie auch sonst in der Welt, in der es zu Effekten und Ereignissen kommt.33 Sieht man auf die von Aristoteles privilegierten Affekte, ist zu verfolgen, in welche Richtung die Wirkung der angebotenen Bedeutung drängt. Gescheucht von phobos, den Ängsten und Besorgnissen, den der „inwendige Sinn“ (Kant) der Gekommenen ebenso bei ihnen auslöst wie den eleos, das Gefühl, das zum Jammern bringt und mitleiden lässt (auch mit sich) angesichts der in Szene gesetzten Tragik, zeigen die erregten Emotionen und Leidenschaften nicht nur, dass sie durchaus in der Lage sind, sich selbst in Szene zu setzen und mitzuspielen, sondern darüberhinaus 31
Noch Diderot lässt keine Zweifel, dass hierin der Schwerpunkt der Szenifikation zu suchen ist. Diderot, Paradox des Schauspielers, a.a.O., S.512f. 32 Aristoteles: Poetik, 1450 a 4; vgl. Walter Seitter: Poetik lesen 1, Berlin 2010, S.91. 33 Ebd., 14050 a 15.
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zur „Wirkursache“ (causa efficiens) weiter reichender Effekte geraten zu können. Wirkend „per influxum et dependentiam“, wie der Doctor Angelicus Aristoteles’ Ursachenlehre erläutert.34 Bewegt von einer selbst verordneten ästhetischen Formierung der eigenen Empfänglichkeit unter dem Eindruck der Geschehnisse und Schicksale, vermögen die Zuschauer – the audience –, die mit im Spiel sind, die situative emotionale Einstimmung oder Färbung ihrer passiones zu variieren und, unter Bedingungen einer mehr oder weniger intuitiven Situierung im Setting bekannter Szenen, auf Dauer damit verbindbare Emotionen und Affekte in den Vordergrund treten zu lassen. Sicher handelt es sich in dieser Beschreibung um den positiven Fall, in dem die massenmediale Erregung von sogenannten „Erlebnissen“ nicht alles dabei belässt, sich um sich selbst zu drehen und den Konsumenten dazu drängt, von einem Event zum nächsten zu hetzen. Wenn es aber gut geht, wofür die Bedingungen angedeutet wurden, wenn der Anschluss gelingt, kann die ‚Inszenierung‘ zum Ende hin einen Effekt der Freiheit zeitigen, ein Bewusstsein und ein Empfinden davon, nicht als Bewirktes oder Inszeniertes bestimmt worden zu sein und weiter zu werden – diese Gefühle müssten längst in den Hintergrund getreten sein –, sondern, wenn irgend möglich, aufgrund eigener Wahl. Vielleicht sogar in ähnlich dramatischen Fällen wie den gerade miterlebt tragischen. – Dies dürfte in etwa mit den Wunschvorstellungen mancher Szenografen koinzidieren, die, nicht unbedingt in der Unterhaltungskultur unterwegs, sich von ihren Effekten nicht einfach intellektuelle Beeinflussung und emotionale Wirkung nach Art der Reaktion einer vom Stoß angetriebenen Billardkugel versprechen, sondern hoffen, dass es gelingt, vermittels des angebotenen mythos, des theatralisierten Narrativs, in dem vorgeführt wird, worum es geht, bestimmte Handlungszwecke von einer Instanz des mythos auf eine weitere seiner Instanzen übertragen zu lassen. Durch Freiheit. Bekanntlich werden solche Zwecke in der Ethik des Aristoteles insgesamt als „Gut“ bezeichnet. Weniger auf die persönliche Verantwortung einzelner Charaktere bezogen als auf die Handlungen, das Geschehen und Erleben im sozialen, „szenischen“ Kontext (Szene statt Charaktere!), setzt Aristoteles dieses „Gut“ im Spiel der Tragödie in die Differenz von Misslingen und Gelingen, Scheitern und Obsiegen, insgesamt Unglück und Glück.35 Der Weg durch dieses Schlachtfeld (oft im wahrsten Sinne des Wortes) wird als Weg einer möglichen ‚Läuterung‘ (katharsis) beschrieben und im Erfolgsfall so empfunden. Das heißt, dass von den zur Feier Versammelten erwartet wird, dass ‚psychische Effekte‘, die 34 Die Definition der Wirkung von Ursachen, die aristotelisch-thomistisch in innere und äußere unterteilt
werden, „in der ersteren Art, wie die der zweiten [...] doppelt; daher die Causalität eine vierfache: die materiale und formale, die finale und efficiente“[...] „Omnis causa vel est materia, vel forma, vel agens, vel finis“. (Zit. 5. Metaphysik, Lectio 1 bzw. Summma contra Gentiles, 1.3.c. 10 aus: Hermann Ernst Plaßmann: Die Metaphysik gemäß der Schule des h. Thomas, Soest 1862, S.585 u. S.587). 35 Vgl. Seitter, Poetik lesen 1, a.a.O., S.98ff.
EINFÜHRUNG
sie an sich oder anderen beobachten, nicht einfach als unbedeutende somatische Reaktionen auf äußere Reize gewertet werden (ein sich identifizierendes Begehren etwa, spontane Aufwallung von Zorn oder Wut, eine Gaudi oder eine Fluchtreaktion), dass die Gemeinschaft vielmehr Erfahrungen damit hat, dass solche Affekte sich selbst zu organisieren wissen, um auf Dauer zu konsolidierteren Gemütsregungen und Einstellungen führen zu können, wie es sich bei teilnehmendem Mitleiden, allerdings auch bei anhaltender Besorgnis einstellen mag.36 So versteht sich, dass in solchem Prozess auch bestimmte Überzeugungen Kraft schöpfen oder heranwachsen können und ob der gewonnenen Orientierung Grund zur Freude besteht. Der Effekt überschreitet mithin den Bereich des Ästhetischen so gut wie immer, sowohl in Richtung sittlicher Einstimmung und Einstellung als auch in Richtung belastbarer Überzeugungen, die vordergründige Identifikationen hinter sich und zu weiter ausgreifenden Schlussfolgerungen gelangen lassen. Damit aber mag sich ein anderer Affekt einstellen. Diejenige Freude, die aus dem Gefühl entsteht, nicht einfach nur illusionären, vorgetäuschten Bildern, Handlungs- und Wirkungszusammenhängen, insgesamt zweifelhaften Effekten, anzuhängen und angehängt zu haben (was ja für sich genommen auch schon eine freudige Entlastung darstellen kann), sondern sich eben auch der Wirklichkeit, der Machbarkeit und Beherrschbarkeit solcher Effekte verpflichtet zu sehen, deren Charakter man nun als den eines sehr komplexen Scheinens zu identifizieren gelernt hat, eines Scheinens, zu dessen Leuchten beizutragen ein jeder die Chance hat. Denn das vordergründig faktisch Sichtbare verschwindet hinter dem illusionär Realen der Imagination und Fiktion gelingender Praxis. Die Realität der Effekte führt mithin von der realen Imagination anhand einer besonderen Szenifikation zu einem szenischen Anschluss, der die Tür aufstößt zu einer effektiven Haltung gegenüber allen möglichen Szenen der Realisierung eines miterlebten und mitzuerlebenden Spiels. Denn es ist „nicht Aufgabe des Dichters [...] mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, also das, was gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwenigen möglich ist.“37 Spinoza resümiert im IV. Buch der Ethik die Leidenschaften und findet im gesellschaftlichen Gebrauch meist nur traurige Varianten, die einer sittlichen Verfassung der Gesellschaft nicht unbedingt zuträglich sind, auch wenn sie im sozialen Austausch nützliche Dienste erweisen. Er nennt Furcht, Hoffnung, Erniedrigung, Buße. „Es bleibt“, schreibt er ganz in der Systematik des Hl. Thomas und des Aristoteles, den Thomas systematisiert, 36
Eine Systematik der Affekte in Thomas: Summa Theologicae I/II 22,1 wie auch in De Veritate, zusammenfassend 26,4 ebd. Überblick im Artikel: Affekt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1, a.a.O., 1992. 37 Aristoteles, Poetik, 1451 a 37f.
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dass jede Leidenschaft an sich schlecht ist, insofern sie Traurigkeit einschließt; auch die Hoffnung, auch die Zuversicht. Ein Gemeinwesen ist umso besser, als es sich eher auf freudige Affektionen stützt; die Liebe zur Freiheit muss über die Hoffnung, die Furcht und die Zuversicht siegen. [...] Denn allein die Freude ist eine passive Affektion, die unser Aktionsvermögen vergrößert; und allein die Freude kann eine aktive Affektion sein.38
Wahl aus Freiheit wäre demnach eine alternative Antwort auf die Frage nach der dritten Unbekannten, die der Titel des Buchs versteckt hält. Denn in diesem Fall wird der Mitakteur die Symptome der Verschiebungen und Verdeckungen erkennen, sich der magischen Wirkung der Inszenierung nicht ausliefern, im Gegenteil das Verschwundene wieder hervorholen und sich mit den Techniken des Inszenierens vertraut machen wollen, seien es die der neuesten Szenifikationen und Szenografien oder die der gut gereiften Rituale und Zeremonien. Den Trost des Glaubens freilich muss er dann aus dem Zutrauen zur eigenen Kraft beziehen. Denn die Freiheit der Wahl gründet sich auf die Autonomie des Subjekts, die bekanntlich eine Erfindung der Neuzeit ist. Die Zuwendung zur Technik der Effekte wiedereröffnet allerdings auch einen Zugang zu ihrer Herkunft aus der Physis und dem mimetischen Geschäft der Artefaktproduktion; „daß das Eingedenken durch die Kunst der Natur unmittelbar sich zuwende“.39 Adorno diskutiert im Umkreis dieses Zitats aus seiner Ästhetischen Theorie die Frage nach der magischen Wirkung der Kunst und der Künste. Er unterstreicht, dass der Widerruf vorgenommener Trennung und Verdeckung seinerseits keineswegs blind sein sollte gegenüber der magischen Gründung, der Weite der Möglichkeiten, zu erkennen und zu verstehen. Das rationale Moment, dem das Subjekt sich verschreiben möchte, gilt es nämlich seinerseits zu entsühnen. Zwar ist die „Rede vom Zauber der Kunst [...] Phrase, weil Kunst allergisch ist gegen den Rückfall in die Magie“. Doch liegt es in der eigenen Ideologie der Kunst, die die Technik, die sie bedroht, ihr aber selbst einwohnt, verketzert, dass das „magische Erbe in all ihren Verwandlungen zäh sich erhalten hat“. „Die Sentimentalität und Schwächlichkeit“, schreibt Adorno, fast der gesamten Tradition ästhetischer Besinnung rührt daher, daß sie die der Kunst immanenten Dialektik von Rationalität und Mimesis unterschlagen hat. Das setzt sich fort in dem Staunen über das technische Kunstwerk als sei es vom Himmel gefallen: beide Ansichten sind eigentlich komplementär. Gleichwohl erinnert noch die Phrase vom Zauber der Kunst an ein Wahres.
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Zit. aus: Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Frankfurt am Main 1993; Hervorh. im Zitat. Vgl. auch Heiner Wilharm: Vertrauen inszenieren? In: Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie, hgg. von Ralf Bohn und Heiner Wilharm, Bielefeld 2011, S.9-40. 39 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: Gesammelte Schriften Band 7, hgg. von Ralf Tiedemann, Darmstadt 2007, S.86.
EINFÜHRUNG
Denn es ist die „fortlebende Mimesis“, die mit anderen als mit begrifflichen Mitteln zwischen Artefakt und Physis vermittelt und Kunst gerade auf diese Weise als „Erkenntnis“, als ein Verstehen, bestimmen kann. Säkularisierte Magie lässt dies nicht zu, denn in solchen Inszenierungen von Erleben und Spektakel, selbst an der Grenze zum Kult, wird das „magische Wesen inmitten von Säkularisierung zum mythologischen Restbestand, zum Aberglauben herabsinken“. Folglich gibt es keinen anderen Weg, als dass die Kunst, auf die Gefahr hin, jeder Art erwarteter Eindeutigkeit eine Absage erteilen zu müssen, Erkenntnis „um das von ihr Ausgeschlossene“ komplettiert.40
2. „IN DIE ECKE BESEN! SEID´S GEWESEN. DENN ALS GEISTER RUFT EUCH NUR, ZU SEINEM ZWECKE, ERST HERVOR DER ALTE MEISTER.“
Es wird auch die Frage gestellt werden müssen, was denn der Effekt von Szenografie in unserer heutigen Gesellschaft sei, welche Rolle ihr in der Ökonomisierung des Imaginären zukomme. Die Antwort darauf wird nicht ohne Bezug auf die sozialen Transformationen magischer Verhältnisse in technischen Effekten zu geben sein. Die alte Unterscheidung, dass Magie unbestimmt, (Zauber-) Technik aber beherrschbar und wiederholbar sein müsse, stimmt angesichts einer sich in Design abschottenden Technik und dem Aufbegehren ideologischer oder magisch-religiöser Gesellschaften nicht. Auch angesichts der zunehmenden szenografischen Ereignisbewirtschaftung ist darauf hinzuweisen, dass die Ausdifferenzierung technischer Realisierung mit der magischen Rettung von Gemeinschaft durch eine Ästhetisierung ethischer Werte und Deutungen immer weniger kompatibel wird. Funktion und Gemeinschaft stehen sich gegenüber wie Ereignisbewirtschaftung und Erlebnisbildung. Es wird zunehmend weniger zur Deutung aufgerufen, als zur Bedeutung befohlen, Kommunikation durch Information simuliert. Nach Maßgabe einer Szenografie, die selbst Technik ist, soll der die Effekte hervorbringende Apparat so unsichtbar sein wie die im Dunkel wartenden Feuerwerksraketen. Die Pointe dieser gegenseitigen Verdunklung bringt die gewünschten Effekte als Isolate hervor: die Entzauberung der Magie und die Verzauberung der Technik, ihr Auseinanderdriften, in dessen Lücke sich das Begehren am ständig sich erneuernden Warenfetisch ergötzt und ksonumistisch ergänzt. Waren und Dienstleistungen lancieren sich als gutmütige Vermittlungshelfer. Hier werden nicht mehr sozusagen Szenen ausgeleuchtet, sondern Dunkelfelder als Begehrensorte inszeniert. Die Pole von Design und Technik, die gerade an der Technisierung der Vermittlungen und an der Erzeu40
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gung unvermittelter Ereignisse (Schocks und Effekte) ihren magischen Zwang bändigen können sollten, sind Partner des gleichen Gesellschaftsvertrages. So erweist sich Magie als Ort einer höheren Wahrheit, die das Durchschauen ihrer selbst als Scheinhaft durchschaut. Es ist zu bemerken, dass die strategischen Optionen der Szenografie eher im Bereich der Zaubertechniken liegen, d.h. in den expliziten, reproduzierbaren Artikulationen medientechnischer Kompetenz, so poetisch (und subversiv oder interventionistisch) diese sich auch auswirken mögen. Szenografie sollte nichts anderes sein als ein Entreé von Deutungsoptionen: Das Feld dieser Optionen entwaffnet den Zwang derjenigen Sicherheiten, die Magie ursprünglich als lebendig beschworen hat. Dass in dieser Situation der Spielbegriff stets positiv konnotiert wird, hat seinen Grund in der Risikokalkulierbarkeit. Es wird nicht gesehen, dass das eigentliche Spiel, sofern es tatsächlich magisch ist, mit dem Wahnsinn verwandt ist, der die Zwanghaftigkeit der technischen Wirklichkeit durchschaut und zurückschreckt. Doch die szenografischen Provokateure hüten sich davor, ihren Ursprüngen auf die Spur zu kommen: Erwähnen wir nur den altgriechischen Opferlauf, den Agon oder die religiösen Praktiken, die dem Theater vorausgehen. Schon die zunehmenden Diskurspositionen zu Inszenierungstechniken, die sich vom genuinen Feld des Theaters und den Kulten befreit haben, lassen ahnen, dass in dieser popularisierten Form der Ereigniserzeugung, -vermittlung und -bewirtschaftung das Entreé mit der Versicherung der Passé einen opferlosen Agon (Kreislauf ) verspricht, mindestens im Eintrittsgeld endlos kursieren darf. Der szenografische Effekt liegt nicht in einem spielerischen Äquivalent von Aufklärung, sondern in dem, was Benjamin die ‚profane Erleuchtung‘ ihrer Aporie nannte. Jedem Effekt muss ein Kontraeffekt zugeordnet sein, um die Polaritäten als künstlich erzeugte aufzuweisen und die Herrschaft des Menschen über deren Vermittelbarkeit zu beweisen. Was künstlich erzeugt wird, kann dann auch künstlerisch dekonstruiert werden. Es geht darum, die bösen Geister der Weltenteilung und Ausdifferenzierung (so das Maß der Zivilisierung) wieder wenigstens atmosphärisch zu ‚versöhnen‘: Das ist nichts anderes als der magische Wunsch, im Schoß von Mutter Natur aller Techniken entsagen zu können: Das Spiel des Lebens soll sich opferlos selbst hervorbringen. Die Verantwortung des Szenografen liegt darin, zwischen Führung und Verführung nicht zu vermitteln. In dieser Richtung bemühen sich die Beiträge, in unterschiedlichen Ansätzen die Magie der Szenografie zu problematisieren. An der Grenze der spätaufklärerischen Modernität, als noch die Laterna Magica den effekterzeugenden Markt eines gemeinschaftserzeugenden Erlebnisses gratifizierte, war die Erzeugung opferloser Lebendigkeit schon in professionelle Hände übergegangen. Inszenierungen gibt es, weil es Aufklärung gibt. Noch Goethe, der viele Motive aus den Tiefen der Voraufklärung schöpft, kann
EINFÜHRUNG
sich mit dieser Aporie, Inszenierung als Ergebnis von Aufklärung (einer Umdeutung des Magischen in Zaubertechnik) zu verstehen, nicht anfreunden. Das lässt er z.B. in seiner Ballade Der Zauberlehrling auf meisterhafte Weise anklingen. Goethe offenbart den schlechten Effekt, den die Zaubergeräte der Medienelektronik auf heutige User haben. Dass hier Vergesellschaftung (‚Social Network‘) und Vereinzelung (‚Asocial Product‘) geradezu den innersten, polaren Kern gegenwärtiger Kriegsökonomie offenbaren, lässt sich in der Wiederaufnahme des antiken Plots des Zauberlehrlings deuten: In Abwesenheit des Meisters lässt der Zauberlehrling die Besen tanzen. Er animiert sie, Wasser zum Bade zu holen. Seltsame Aufgabe für einen Besen; aber es geht um Reinigung, also um Opferaustreibung in dieser Ballade. Jedoch: Der fleißige Besen ist ohne Zauberwort nicht zu bremsen und beschert dem Haus eine Überschwemmung. In hoher Not, mit dem Beile die Zerstörung des Besens durchzuführen, misslingt dem Zauberlehrling, die Opferaustreibung in solcher Radikalität rückgängig zu machen. Die gespaltenen Teile des Besens arbeiten nun doppelt an der Flutung des Hauses, bis der um Hilfe angeflehte Meister auf magische Weise erscheint und dem Spuk ein Ende macht. Differenzbildung ist nicht mehr konstruktiv, sondern produktiv verstanden: Zerstörung und Steigerung der Produktion, d.h. der Opferabschaffung, sind identisch. Der „alte Meister“41 – Goethe in seiner Selbstsicht –, der mit dem richtigen Wort zur rechten Zeit die Austreibung der kehrenden Kraftmaschinen durch ihre dem permanenten Fortschritt geschuldete Multiplizierung poetisch-magisch entgegenarbeitet, sieht sich als anderen Szenograf, der mit der Magie der Sprache die Hyperreinigung/Mohrenwäsche der Aufklärung – Befreiung vom Ungeist der Magie – mit Hilfe der Zaubertechniken kritisch anmahnt. Goethes Angst und Unverständnis gegenüber dem anbrechenden Eisenbahnzeitalters darf belächelt werden. Aber bei Goethe wird der Opferzusammenhang des Fortschritts als zunehmender Differenzierung zivilisatorischern Wohltaten noch greifbar, greifbar aber in der medialen Inszenierung einer Ballade: a. Besen = Gerät der Reinigung = Indifferenz = Abschaffung der ästhetischen Differenz (Schmutz, Krankheit, Übertragungsreste) b. Besen (wassertragend) = Differenzposten (Medium) zur Lieferung der Indifferenzmittel (Wasser). Anthropomorphisierung vorausgesetzt: „Auf zwei Beinen stehe, Oben sei ein Kopf.“ c. Haus = Von Außen nach Innen (Meister und Lehrling: nicht arbeitsteilig, sondern nach der Hierarchie der Erfahrung, d.h. des gereinigten Wortes). d. Besen (mit dem Beil gespalten) = Differenzproduktion zur Verdopplung des Wunsches = Produkte als dienstbare Waren (Individualisierung vs. Serialisierung) = Große Sintflut (Marktüberschwemmung) = Totalreinigung/absolute Indifferenz (effektlose Atmosphären/Mutterleibsvision) 41 Zitiert wird nach der Hamburger Ausgabe. Der Zauberlehrling entstand 1797. Das Motiv findet sich dabei in verschiedenen Texten und antiken Vorlagen – was seine über die historische Situation hinausreichende Relevanz deutlich macht.
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e. Meister = Beherrscher der Differenz-Indifferenz-Ökonomie. Rettendes, karges Wort gegen den Fluss der Sprache des Lehrlings; Medienabschaltung
Auf ihren Effekt gebracht ist die Inszenierung auf die Magie ihrer funktionalen Selbstdeutung angewiesen. Alle Medien müssen, bevor sie bespielt werden, einer Totalreinigung unterworfen werden: das weiße Blatt, die leere Bühne, der freie Platz. Magie meint, dies Tote zu animieren (Anthropomorphisierung, Verkörperung der Dinge), zugleich aber auch diese Gottespotenz des Menschen (opferlose Selbsthervorbringung) als Potenzierung der Aufklärungsaporie zu verstehen. Am Mediengadget muss jeder sich als Zaubermeister erweisen können dürfen – so wenig Erfahrung ihm auch zuteil geworden ist. „In die Ecke, | Besen! Besen! | Seid’s gewesen. | Denn als Geister | Ruft euch nur, zu seinem Zwecke | Erst hervor der Alte Meister.“ Gilt diese Lehre Goethes in Andeutung antiker Traditionen heute noch? Ist die szenografische Intervention angesichts der unplanbaren Zustände der Wirklichkeiten eine Art Einspruch gegen das Produktionsdelirium, eine Art ‚als ob‘ der Produktion – oder handelt es sich um eine weitere imperialistische Ausdehnung derselben in das Reich der Imaginationen? Jenseits solcher knalligen Fragestellungen gibt es zunehmend Ausweise der Darstellung einer engagierten Szenografie-Reflexion. Sie stellt sich in diesem Band z.B. in folgenden Deutungsoptionen vor.
3. DIE BEITRÄGE IM DEUTUNGSRAHMEN ZWISCHEN MAGISCHER INSZENIERUNG UND TECHNISCHEN EFFEKTEN.
PAMELA C. SCORZIN ist mit zwei Beiträgen vertreten. In ihrer Thematisierung der Effekte in Scenographic Fashion Shows führt sie in die professionelle Welt der Mode-Präsentation und des Mode-Marketing ein, die sich zu intermedialen, global vernetzten Szenografien zwischen Design und Kunstanspruch bekennen. Nicht mehr Funktionalität, sondern Emotionalität der Mode steht im Mittelpunkt. Die auch subversiven und ironischen Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung lassen sich auf unterschiedliche Effektmechanismen zurückführen, die um einen nicht mehr nur saisonalen Wettbewerb der Aufmerksamkeit kämpfen. Es sind zwar die spektakulären Fashion Weeks, in denen die Modewelt ihre Höhepunkte feiert, aber es sind die langfristig angelegten globalen Strategien der Kultmarken, die vor allem auf mediale Effekte der Dauer in der Fokussierung ihres Markenbildes setzen – wobei sie mit ihren choreographierten Shows unter dem Bewegungs- und Technikaspekt mehr oder weniger schon die Vorreiter einer ‚Szenographie in Motion‘ darstellen, selbst die Aspekte der Wirklichkeit
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hervorbringen, unter denen die Mode als entsprechendes Accessoire erscheint. Die Dependenz von Wirklichkeitsbeeinflussung – die ethnologisch vor allem auch am Gang des Menschen untersucht worden ist – und Dekor des menschlichen Körpers zeigt beispielhaft, global, jedoch zielgruppenspezifisch, dass die Verhältnisbestimmung von Mode und Zeitgeist sich umgekehrt hat. Mode ist nicht länger eine Sprache, die bei der Kunst, als dem Vertreter der Avantgarden, Anleihen nehmen muss. Sie bestimmt selbst den Zeitgeist und die Sprache des Körpers, dem sie eine emotionale Realität verleiht. Nicht die Mode passt sich dem Körper, sondern der Körper passt sich der Mode an. Auf dem Catwalk wird dieser Anpassungsvorgang inszeniert. Der zweite Aufsatz von PAMELA C. SCORZIN beschäftigt sich mit einem Aspekt in der Porträtkunst Robert Wilsons. Ausgehend vom Ideal der Werbeikonen fragt Scorzin nach der desillusionierenden Emanzipation der Porträtdarstellung, und zwar nicht hinsichtlich eines Realismus, einer falschen Natürlichkeit, sondern nach den gerade im Porträt auftauchenden Zeitmerkmalen jeder Porträtierung und den Zeitspuren im Verhältnis von Darstellungsweise und Gesicht. Bei Robert Wilson taucht das Porträt nicht mehr im Spannungsfeld Idealismus-Realismus und damit in den Traditionen von Malerei und Fotografie auf, sondern es wird nach den je spezifischen Effekten gefragt, in denen Porträts theatralisch über ihre mediale Herkunft Auskunft geben. Theatralität ist kein vordergründiger ‚Effekt‘, sondern eine von den Inszenierungskünsten adaptierte Analytik des Umstandes, dass es in der Geschichte und bezüglich der Zeitlichkeit des Menschen (sein Alter) kein ideales Gesicht gibt, noch mehr, dass eine menschliche Darstellung an sich zeitlos sein muss, wenn sie die Person in ihrer Ganzheit darstellen will. Die HD-Videoporträts von Wilson benutzen ein Medium der Dauer (Video), belassen aber die ‚gefilmten Gesichter‘ in einer Position der Stillstellung, so, als ob sie wie in der Belichtung einer Daguerrotypie sich minutenlang nicht bewegen dürfen. „Motion in stillness“ ist der technische Effekt, mit dem die Zeitproblematik theatralisiert werden kann – also das genaue Gegenteil eines ‚spektakulären‘ Effekts. Im Gegensatz zur Daguerreotypie spielt Wilson in der Inszenierung der berühmten Personen (Stars) zusätzlich mit deren ikonisiertem Persönlichkeitsbild, um seine künstlerische Autorität gegen schauspielerische Inszenierung als dekonstruierenden Kontraeffekt zu setzen und seine Manieriertheit (und die der Künste) in Frage zu stellen. ALLA SOSNOVSKAYA beschäftigt sich in ihrem Artikel mit der historischen Einordnung und Unterordnung theatraler Effekte. Eine kursorische Darstellung stellt dabei zwei Typen von Effekten fest. Der erste, der sich vor allem an der französischen Theaterszenerie Ludwig des XIII. festmachen lässt, ist geprägt durch die Verwandlung einer realistischen Szenerie eines Barocksaals ohne die räumliche
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Trennung von Actor und Zuschauer – zumal der König und sein Gefolge im Aufführungsraum selbst Platz nehmen. Die getrennte Einheit von Theaterraum (Bühne) und Zuschauerraum wird erst im 18. Jh. für das bürgerliche Theater übernommen. Sie hatte ihren Grund auch in den sich professionalisierenden Ingenieurs- und Bühnentechniken. Die zunehmende Fokussierung auf den Dialog verlangte dann im 18. und 19. Jh. als Kontrapunkt eine Fokussierung auf visualisierende Effekte, d.h. Bühnenbildperspektiven. Der zweite Typ der Effekte leitet sich aus dem mittelalterlichen Mysterienspiel und liturgischen Inszenierungen ab. Hier wurde ‚Erscheinungen‘ biblischer Szenen die Aufgabe zugestanden, die Kirchensprache Latein wenigstens visuell für das Volk präsent zu halten, zumal Mysterienspiele zunächst in Kirchen abgehalten wurden und später den für perspektivische Effekte unzureichenden, beengten Raum der Städte nutzen mussten. Die Effekte selbst waren mehr oder weniger an die physikalischen Medien gebunden (Feuer, Wasser, aber auch künstliches Blut, die Verwendung künstlicher Puppen für das Martyrium der Heiligen). Die Effekte waren in dieser Hinsicht nicht theatral, sondern real: Es galt, die biblischen oder Heiligengeschichten in Realität zu übersetzen und glaubwürdig zu machen, d.h. die künstliche Welt des Theaters von der realen Welt nicht zu separieren. Die Gegenbewegung einer Re-Realisierung von Schrift (der Bibel, der Legenden und auch der bürgerlischen Schriftkultur des Theaters) ist u.a. bei Craig und Artaud mit Bezug auf das Mysterienspiel durchgeführt worden. D.h., dass hier der Effekt des Theaters darin liegt, den durch und durch magischen Charakter des theatralen Spiels nicht als ein Manöver technisierter Verführung und eines visuellen Perspektivismus, sondern als partizipative, magische Realität anzuerkennen, was andererseits bedeutet, dass Wirklichkeit selbst theatral, also inszeniert ist. Als dritten Typus der Theatereffekte stellt Sosnovskaya eben nicht die Mischung aus theatralischem und magischem Realismus fest, sondern einen Naturalismus, der – ausgehend von den theatralischen Effekten unter Einbeziehung aller räumlichen und sinnlichen Dimensionen – die magische Partizipation quasi technisch überbieten will. Hier wird Bühnentechnik zur Szenografie von Technik selbst. Das geschieht unter anderem in der Vermengung von zweidimensionalem ‚Bühnenbild‘ und wirklichen Objekten auf der Bühne unter Vermeidung von Effekten, die (überzogen) theatralisch wirken könnten. In Bezug auf die magische Wirkung des Films lässt sich feststellen, dass zwischen einer realistischen Position (Neorealismus, aber auch die Nouvelle Vague) und einer theatralischen Position (der Fellini, aber auch Lars von Trier) der digitale Film zu einem Verschwinden der Kinomagie und zu einem Film der Effekte geführt hat, während das Theater befreit die Straßen der Städte zurückerobern will. Im Digitalen feiert die Technik den Triumph über Magie.
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In ihrem Beitrag zur Darstellung der Wahrnehmungssituation im Theater untersucht BIRGIT WIENS die szenografischen Mittel und Effekte als ein „Dispositiv“, d.h. einen Organisationsraum, der im klassischen Theater seine Besonderheit durch die direkte Auseinandersetzung mit dem Publikum gewann und bis Ende des 19. Jh. ein Inszenierungsmonopol besaß. Heute wendet sich das Theater dem öffentlichkeitsrelevanteren, erweiterten Szenografiediskurs und den Szenografien als künstlerischen Reflexionen zu, mit denen es sich im Wettbewerb sieht. Unter dem Einfluß einer nicht mehr nur dem Theater vorbehaltenen Publikumsauseinandersetzung wandelt sich der vom „Dekor“ her bestimmte szenografische Anspruch zu einem „analytischen Ausdrucksmittel“ mit vielfältigen „Synästhesie-Effekten“. Durch den Einzug einer neuen Technikgeneration, die „Intermedialitätseffekte“ zulässt, werden die alten Theatermechaniken abgelöst und die Problematiken der Wahrnehmung und der ästhetischen Form als „Phänomenotechniken“ – ein Ausdruck Waldenfels’ – in den Fokus gerückt. Am Beispiel einer Szenografie von Gisèle Vienne untersucht Wiens detailliert deren Gang in die Sinnenerfahrung. Unter dem Titel This is how you will disappear schafft es Vienne unter Zurücknahme der theatralen Rhetorik bzw. durch deren Disparation, die ursprüngliche Ebene der „Spuren“ zu aktualisieren. Die Dinge sind nicht mehr nur beiläufig da und ‚dekorieren‘ symbolisch die Bühne, es sind die Medien selbst, die quasi aus dem Realitätsraum in den Auseinandersetzungssog mit den Schauspielern geraten. Dinge und Medien sind in ihren faktischen Effekten ontologisch unterschiedliche Opponenten des Schauspielers. Dass dabei der dramatische und oft opferreiche Umgang mit Medialität selbst zum Thema der Aufführung wird, liegt an den neuen, gleitenden Techniken, die die Bühnenverwandlungen als permanente ‚postmoderne‘ Übergangseffekte neu orientieren und die gewohnten rhetorischen Fugen überwinden. Den Warnungen Nietzsches (auf den sich Vienne bezieht) zum Trotz kann man so etwas wie ein Wagnersches ‚Gleiten‘, eine Tendenz zur Offenbarung der „Schwellen“ wahrnehmen, ohne dass ein Abgleiten eintreten soll. Die Behaglichkeit dieser Aufhebung der Schwere und der tröstende Sog des Schwebeverfahrens jenseits dinglicher Effektivität war Nietzsche zuwider. Deshalb sollte diese Gefahr nicht ausgeschlossen, sondern thematisiert werden, als Rückverortung des Bühnengeschehens in die Körper- und Sinnenwelt hinein, der Entzauberung der Bühne entgegen. Das gelingt mit einer intensiven Bespielung der Struktur der Schwelle nach dem Muster der Kippfigur/Inversionsfigur. Das Theater schließt an eine psychologische Phänomenologie der vorletzten Jahrhundertwende an, die noch von Wittgenstein als eine Erscheinung betrachtet wird, in der die Wahrnehmung von Deutung das Subjekt zu sich selbst deplatziert, und zwar nicht im Sinne einer Reflexion, sondern im Sinne einer Inversion. Es geht in der Selbstauflösung um eine passagere Selbstbegegnung. Wiens stellt dabei den Körper als „Nullpunkt“ der Schwellenorganisation vor, der nicht cartesi-
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anisch, sondern einer gleitenden Dialektik, einer ‚Gravitation‘ zuzuordnen ist. Die Synthesisfähigkeit von Bewusstsein besteht in der permenenten Inversion seiner selbst – im Gegensatz eben zum spätromantischen Abgleiten in reflexiven Tiefsinn. Inversion, also Medialisierung des Bühnengeschehens, wird zur Gegenfigur der Reflexion: Cartesianischer Zauber und magische Offenbarung kontrollieren sich am realen Körper. Wie Scorzin und Sosnovskaya beschäftigt sich auch JENS KRAMMENSCHNEIDERHUNSCHA mit theatralischen Effekten – jedoch unter der Fragestellung, wie die modernen Mediendiskurse in das Theatergeschehen, insbesondere in Inszenierung und Bühnenbild rückübersetzbar seien. Unter Rückübersetzung ist eine Verortung in Medienphilosophie gemeint, insofern „die Philosophie das Medium der intellektuellen Rückvermittlung der humanen Selbstveräußerung“ ist. Philosophie kann ihrem Anspruch gerecht werden, wenn sie sich auf Medien hin befragt, und zwar in Bezug auf die generelle Unmöglichkeit der identischen Rückvermittlung. Die Opferfrage wird im Theater als die der Selbstvermittlung über einen anderen, dem Schauspieler, nicht nur thematisiert, sondern transzendiert. Im Wesentlichen geschieht das über den memorialen Vergleich und die Identifikation mit der abstrahierenden Maske. Als memoria ist auch das Verhältnis des Menschen zur Dinglichkeit ausschlaggebend. Die philosophische Kompetenz eines aufklärenden Theaters besteht in der Frage der Authentizität. Wie kann, was von vornherein als Inszenierung geplant ist, Auskunft über den Willen zur Authentizität geben? Die Überlegungen zur Philosophie des Theaters werden von Krammenschneider-Hunscha an Schopenhauers Musik- und Traumtheorie mit Rücksicht auf Wagner und Brecht entwickelt. Die Rolle der Effekte kann ganz gegensätzliche Richtungen aufweisen. Sind bei Wagner die Effekte Teil der Transzendierung und des ‚Gärprozesses‘ und zeigen sie die verzweifelte Unmöglichkeit der Opferausklammerung selbst in einem allvermittelten Gesamtkunstwerk, halten sie sich bei Brecht explizit als Momente des Opferexorzismus eines „wütenden Kindes“. Bei Brecht sind es Effekte „des Scheiterns“ der theatralischen Illusion, in der das Publikum die Opferrolle akzeptiert. Bei Wagner wird eher untergründig die Verwesung des Opfers in der Gesamtinszenierung von Kunstproduktion betrieben, was einer Heiligung gleichkommt. Wagner mit Brecht in dieser Hinsicht zu vermitteln und ein ‚medienphilosophisch relevantes Theater‘ zu skizzieren und zu realisieren, ist die Aufgabe des von Krammenschneider-Hunscha angehängten Skripts theatralischer Szenen. Die Position der Übersetzung der Effekte in einem anderen Register ist magisch zu nennen, die andere, die den Effekt zu einer Affirmation nutzt, also eine Identität von Zweck und Mittel im Effekt anstrebt, kann man als Zauberei
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bezeichnen. STEFAN TRÜBY spürt dem Verhältnis von Magie, Technik (worunter alle kausal/physikalisch ableitbaren Zaubertricks zu rechnen sind) und Architektur nach. Man kann seinen Begriff von Technik („irdischer Stellvertreter einer magisch begründeten Macht“) mit dem Begriff Zauberei „übersetzen“, unter der Voraussetzung, dass der Realitätseffekt der Technik einen Spezialfall der Magie darstellt, nämlich die Illusion, die Transformation der Arbeit in Dinge respektive Realität sei opferlos, lediglich eine Frage der Informationsübertragung. Diese Illusion betrifft das gegenwärtige Verhältnis von Magie und Technik. Im Detail erläutert Trüby die archäologischen und historischen Verhältnisorganisationen, die Magie und Technik in der Architektur vermitteln respektive gegenseitiger Effektivität verpflichten. Erst so lässt sich eine Kulturtheorie der Balance von Magie und Zauberei ableiten. Gerade in den kultischen Großbauten – die Kathedralen werden als Beispiel genannt – zeigt sich der seltsame Zwiespalt zwischen einer funktionellen und einer magischen Architektur bis hin zur „Verharmlosung“ der Magie als „unterhaltsame Zauberei“. Während aber in Magie noch der (göttliche) Souveranitätsanspruch sich über die Strategie der Zwecke hinaus geltend macht, hat der Begriff der Zauberei sich nur noch im Effekt als einem streng begrenzten Trick zuordnen lassen. An verschiedenen Beispielen erläutert Trüby die moderne Verdrängung der magischen Dispensierung als Form einer neuen Illusion, die Vorgaukelung einer transphysikalischen Welt en minature, nämlich im Trick, also in der vorkantischen Vorstellung, das alles, was man nicht weiß, lediglich durch etwas verdeckt ist, dass das Geheimnis also durch Wissen abgeschafft werden kann. Die staatspolitische Begründung eines Souveränitätsanspruchs (die Schuldzuschreibung der Ursprungsverdeckung) läuft in der Nachmoderne darauf hinaus, dass der Staat eine Zweckdienlichkeit gegenüber den Bürgern behauptet, die ihn davon befreit, im (nationalen) Sinne identitätsstiftend zu sein, also eine magische Vergemeinschaftung seiner Bürger zu evozieren. Dieser Effekt des Verantwortungsrückzuges wird u.a. auch in der Biotechnologie deutlich, die als eine Art Gottesanmaßung aufgefasst werden kann. In dieser Hinsicht weist Trüby auf einen exemplarischen Status des Zaubers hin, den Siegfried und Roy als die „Wiederauferstehung oder Erschaffung [...] des schneeweißen Tigers“ realisieren, indem sie die ‚normalfarbenen‘ sibirischen Tiger einer inszenierten, künstlichen weißen Umwelt in ihrem Las Vegas-Resort aussetzen. Architektur erweist sich hier als absurde, magische Technik – seltener Fall also der Umkehrung der ‚Verzauberung der Magie‘ in Technik. In dieser weißen Umgebung passen sich Tiger an, indem sie weiße Junge gebären. Das Erschütternde daran ist nicht, dass der Zusammenhang von Genese, Genetik und Architektur auch in der menschlichen Genese funktioniert, sondern dass es dieses elaborierten Experiments in Las Vegas bedarf, um zu zeigen, welche (genetischen) Tiefeneffekte inszenierte Welten zu realisieren im Stande sind.
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Der Beitrag von ERIKA THÜMMEL und KARL STOCKER zeigt am Beispiel des Wallfahrtsortes Mariazell, dass szenografische und inszenierende Effekte auch heute nicht nur rein ‚technischer‘ Natur sein müssen, sondern dass Techniken im Dienst magischer Praktiken ihr Vergemeinschaftungsziel auch erreichen können, wenn sie sich in den künstlerischen Dienst stellen. In diesem Sinne ist die Einsicht in die Verhältnissetzung von übertriebenem Wunderglauben und tatsächlicher Wirkung eines Vergemeinschaftserlebnisses vom leitenden Benediktinerorden in Mariazell stets erkannt und gefördert worden. Die „Szenografie eines Heiligtums“ weist darauf hin, dass der Begriff von techne eine praktische Vermittlung von Idealität und Realität, von göttlicher und menschlicher Produktion meint. Dass der heutige Kunstbetrieb nicht ohne Effekte auskommt und seine Selbstinszenierung im l’art pour l’art sprichwörtlich ist, wird niemand leugnen. Doch noch immer steckt ein Gran Geniekultur in jeder künstlerischen Arbeit. Die Inszenierung des Wallfahrtsortes zeigt sich modern, gerade weil sie die Indienstnahme von multisensorieller barocker Kunst mit einer politischen Absicht – der Vergemeinschaftung – verfolgt und einen hysterischen Wunderglauben relativiert. In Mariazell ist Inszenierungskultur darauf eingestellt, dass göttliche (imaginative) und menschliche (reale) Vermittlung ein reziprokes und reproduzierbares Ereignis darstellt – und insofern einen eigenständigen Wert unabhängig von der künstlerischen und damit ‚einmaligen‘ Ausführung behauptet. Im Wechsel zwischen einmaliger Erscheinung, den Gnadenbeweisen und ihrer Teilhabe daran – den Wallfahrtsritualen – wird der Horizont von strategischer Inszenierung und authentischer Erscheinung strukturiert und damit, neben dem Akt der Vergemeinschaftung, auch Geschichtsbewusstsein und Dauer begründet. Aufgrund ihrer Tätigkeit als Restauratorin, u.a. in Mariazell, ist Erika Thümmel in der Lage, den gerade nicht hoch in Konjunktur stehenden Riten der katholischen Inszenierungspraxis ihre Professionalität zu entlocken. Karl Stocker ergänzt diese Detailanalyse mit Zitaten profaner Erkenntnis und Anerkennung der christlichen Leistungen, in deren Aufklärungsgehalt immer auch der Neid einer praktischen, jahrhundertealten Erfahrung mitschwingt. Der Beitrag von GERRIET K. SHARMA verrät einmal mehr die Schwierigkeit, szenografische Ereignisse, ihre räumliche und zeitliche Wirkung durch Wort und Bild im Medium des Buches wiederzugeben. Oft genug ist man nur in der Lage, insbesondere bei Inszenierungen, die sich der Klangwelt widmen, die Effekte des Publikums zu schildern bzw. sich in technischen Feinheiten zu verlieren. Die „Gebäude-Klangkompositionen“, die Sharma u.a. in Graz realisiert hat, werden uns deshalb als Bericht über Klangforschung nahegebracht, d.h., wir verstehen die Inszenierungen von ihren Produktionsbedingungen her. Diese sind in der Architektur in der Regel gut zu beschreiben. Sharma nutzt zu seinen For-
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schungsinterventionen nicht Umnutzungs- oder theatralische Räume, sondern Alltagsräume. Das Problem des Leerstandes – etwa von Büroetagen – transponiert ein soziales Problem, das als Hintergrund der Klangerfahrung zum psychologischen Motiv und besonderen Effekt wird. Der ‚ungenutzte‘ Raum ist nicht einem Zweck zugeordnet, sondern einem Mittel: die Leere des Raumes durch klangliche Fülle bewusst zu machen und damit in gewisser Weise zu bewohnen, d.h. mit oder gegen die Klanginstallation den Raum „kompositorisch zu lesen“ und ihn zu entkommerzialisieren. Das technische Sensorium der Klanginstallationen sowie die Frage der wirkungsästhetischen Theoretisierung von ‚nichtmusikalischen‘, veränderbaren und durch den Hörer beeinflussbaren Klangpassagen wird von Sharma selbst individuell hergestellt. Der eigentlich forschende Ansatz besteht in einem zweiten Schritt, in der Methode einer Versprachlichung von räumlich-akustischen Situationen durch szenografische Initiativen, in seinem Fall einer ‚Szenolinguistik‘, die, wie jeder neue Forschungsansatz, zuerst mit einer Bestandsaufnahme und einer Befragung des Gegenstandes beginnt, und zwar analog der Befragung des akustischen Raums, die der Besucher der Klanginstallationen mit seinen Füßen vornimmt und mit seinen Gangwechseln manipuliert. Dass dazu eine ausgefeilte akustische Sensorik gehört, versteht sich von selbst, nicht aber die Annahme Sharmas, dass die Fragen nicht mündlich beantwortet werden, sondern durch Gesten, Bahnungen und Wiederholungen der ‚Probanden‘: Warum werden bestimmte Klangeigenschaften gemieden, andere gesucht, machen den Gang durch das Gebäude tänzerischer oder rhythmischer? Diese Effekte einer ‚Körpersprache des Hörens‘ in einem„Hörparcours“ sind Sharma weitaus wichtiger als die „kompositorische Bespielung“. Das Labyrinth als Metapher eines Wissensraumes untersucht MARTIN ZENCK in philosophischer Rücksicht. Dabei bezieht er sich u.a. auf die moderne Idee der Wissensräume, wie sie von Foucault angestoßen worden ist. Im Speziellen geht er auf den im Ariadne-Mythos latent vorhandenen Prozess der Bewusstwerdung ein. Dass Unbewusstes sich in Bewusstsein verwandelt und Rationalität hervorbringt, hindert nicht, den Faden Ariadnes als einen vielfach verknoteten, gerissenen und verschlungenen zu sehen. Unbewusstes kann niemals ganz und dessen Genealogie schon gar nicht narrativ kontingent erfasst werden. So besteht das innere Rätsel des Labyrinths nicht in den gezähmten Urkräften des Minotaurus, sondern in der Aussicht, dass – szenografischen Intentionen entgegen – das Leben aus Brüchen besteht. Der Effekt dieser Einsicht und damit alle Metaphorologie ist in der Verwandlung von Handlungen respektive Wegentscheidungen in Ästhetik zu erkennen, aber, und dies ist das besondere Anliegen Zencks, in Ästhetisierung geht der menschliche Gesamtaspekt der ‚Lebenswahl‘ oder des ‚Lebensweges‘ nicht auf. Ästhetisierung kann immer nur das Bei-Spiel einer Ethik sein. Das trifft alle Versuche narrativer Kontingentierungen, wie sie
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z.B. an Roland Barthes Problematisierung der Novelle kritisiert wird. Im Mythos des kretischen Labyrinths wird die Korrespondenz zwischen Hören/Vernehmen und Sehen und Unsichtbarkeit deutlich: Das akustische Labyrinth ist von dem visuellen verschieden. Hier hilft kein Faden Ariadnes, sondern, nach Nietzsches Einsicht, die dionysische Freiheit der Deutungsoptionen. Anders als der minoische Zauber von Verführung und Rückführung liegt die Bedeutung des Gartenlabyrinths und der Musik im Barock. Der enzyklopädische Gedanke einer universellen Ordnung in der Natur führt zwangsläufig zum Gedanken der Legitimation dieser Ordnung, also der Art, in der das Chaos der Welt organisiert ist: nicht als Chaos, sondern als ‚Natur‘. Das Labyrinth wird hier zur Metapher einer Durchdringung und Befruchtung künstlerischer und natürlicher Ordnung, aber auch zum modernen Hinweis auf die Frage, in welches Dilemma eine Wissensgesellschaft sich verirrt, die nicht mehr gelernt hat, vom Bedeutungsort zum Deutungsraum zu schreiten. Und: in welche Effekte eine Welt zerfällt, die an Stelle von Ableitungs- und Deutungsangeboten gleichsam nur noch auf ökonomisierte pictographisch inszenierte Reflexe setzt und die Problemaktualisierungen einer mythischen Narration unterschlägt. Der seit etlichen Jahren in Kairo lebende Philosophieprofessor ERNEST WOLFGAZO berichtet in seinem Beitrag hautnah von den kulturellen Verschiebungen des ‚arabischen Frühlings‘ in Ägyptens Hauptstadt. Er zeigt auf, dass der eigenständige Weg und die nicht immer ‚arabische‘ Position der Ägypter und ihrer pharaonischen Tradition zu einem moderaten Nationalbewusstsein führt, dessen momentan prägnantester Ausdruck in den Graffiti und ihrem Sprachspiel sich zeigt. Als Graffiti-Effekt bezeichnet Wolf-Gazo zum einen die an Hieroglyphen anknüpfende Ästhetik der oft gemalten und nicht wie in westlichen Länder gesprayten Graffitis, zum anderen zielt das Graffiti auf einen ‚Kontraeffekt‘, auf die szenografische Affektivität der staatlichen Institutionen, denen reflexhaft daran gelegen ist, jede verdächtige Straßenaktion – sei sie auf einem neutralen urbanen Territorium oder dem Tahrir-Platz –, so schnell wie möglich zum Verschwinden zu bringen. Das bedeutet für die Graffiti deren konsequente Übermalung (Whitewashing). Übermalung heißt aber angesichts der Möglichkeit, ein digitales Foto der Aktion ins Internet zu stellen, nicht mehr Vernichtung und Löschung aus dem Gedächtnis, sondern forciert die Möglichkeit, auf dem gleichen Terrain eine erneute Aussage zu machen, die sich vielleicht auf die vorherige, weiß übermalte bezieht. So sind diese Graffiti in der modernen Medienwirklichkeit dasjenige Medium, das von seiner stetigen Erneuerung lebt und auf die hektischen Affekte seiner Gegner angewiesen ist. Darin sind sie traditioneller Kunst überlegen. Die medialen Verschiebungen von Medienzugriffen machen es möglich, in zeitlicher Reihenfolge des Erscheinens und Verschwindens relativ schnell, Bildergeschichten (dauerhaft etwa auf Youtube) in Folgen zu
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produzieren und damit eine Kontinuität und Narrativität zu erzeugen, die die Gegner subversiv als Helfer pervertieren. Dass Graffitis in einem Land, das noch immer von Analphabetismus geprägt ist, zudem eine bedeutsamere Position als im Westen einnehmen, ist dabei mitbedacht. Die Mythen und Topoi der pharaonischen Zeit – durch den Tourismus gefördert – sind noch oder schon wieder verinnerlicht. Ein ‚hieroglyphisches‘, ikonografisches Reservoir wird weiterentwickelt. Eine nationale Eigenständigkeit und, dank der hohen ‚Professionalität‘ der Graffiti-Künstler, auch eine hohe ästhetische Identifikation beginnen den Wucherungen Kairos und den politischen Umbrüchen eine Sprache zu geben. Effekte, die sich aus der Inszenierung einer Inszenierung ableiten, untersucht FOSCO DUBINI am Beispiel der verwickelten Beziehung von Schillers Wilhelm Tell und der Selbstinszenierung König Ludwig II. Er wagt damit die Frage zu stellen, ob die Selbstinszenierungen des bayrischen Märchenkönigs, den gelegentlich die Vorwürfe des Wahnsinns erreichen, nicht Offenbarungsmerkmale einer Wirklichkeit sind, die zwischen Wirklichkeit und Inszenierung nicht mehr unterscheiden kann, also von einem telegenen oder ‚mediagenen‘ Wirklichkeitsbegriff ausgeht. Diese Frage stellt sich bei der filmischen Realisierung Ludwig 1881 von Dubini. Der Film bezieht sich mindestens auf folgende ‚Formate‘: den König, (Schillers) Wilhelm Tell, den Tell, den die Schweizer daraus adaptieren, Viscontis Ludwig II. und zentral die von Dubini ebenfalls mit Helmut Berger gedrehte Episode der nachträglichen, ‚echten‘ Tell-Inszenierung Ludwigs am ‚Originalschauplatz‘ in der Schweiz im Jahre 1881. Dubini zeichnet die Situation und die Projektionen im Detail nach und versucht mit der mise en scène, der ‚Form der Inszenierung‘ seines Films, detailliert die historische und szenische Verwicklung dieses spätromantischen Inszenierungsdeliers zu differenzieren. Dabei geht es ihm vor allem um die Frage der Authentizitätseffekte, also der entflechtenden Wirkung der Darstellung: die der „Ursprünglichkeit“ und die der „Authentizität“, speziell auch den Status, den die ‚reale‘ Alpennatur als Dekor einnimmt. Denn die ‚ewige‘ Schweizer Alpenwelt stellt die je aktuelle Inszenierung ihrer selbst vor: jenes kitschig-selige Bild, das sie seit der Eroberung reisender Engländer erhalten hat, die zuviel Schiller gelesen haben. Der Problematik der Unterscheidung von ‚Noise‘ und ‚Voise‘ – wenn man will von Sound und Artikulation – geht CELINÉ KAISER in den unterschiedlichen Szenifikationen dort nach, wo die Präsenz der Stimme nicht einfach die Substitution eines Signifikats unter einen Signifikanten bedeutet: im psychoanalytischen Setting. Die „raum-zeitliche Koexistenz von Analytiker und Analysand“ ist für die Psychoanalyse unabdingbar aufgrund der Tatsache, dass das „Wahrnehmungsspektrum“ nicht auf die „gesprochene Sprache“ reduziert werden soll. Wie kann es in einer solchen ‚freischwebenden Aufmerksamkeit‘, wie Freud das
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nennt, eine Unterscheidung zwischen Affekt und Effekt, zwischen Zufall und absichtsvoller Inszenierung geben? Was heißt Inszenierung angesichts unbewusster Äußerungen? Kaiser stellt konkrete Beispiele vor: Was kann ein einfaches Niesen als special effect und als sound effect in der therapeutischen Situation bedeuten? Auf welche unterschiedliche Weise wird es vom Analytiker respektive vom Analysand wahrgenommen und interpretiert? In welcher Weise sind diese Interpretationen Effekte des Settings? Welche Merkmale des klassischen, freudianischen Settings sind der Wahrnehmung von ‚Noise‘ förderlich – und welche dienen der strikten Trennung der Signifikationsebenen? Kaiser fördert aus der Geschichte der Psychotherapien zu Tage, dass die anfängliche Abwehr der Therapeuten, auf Äußerungen des Patienten einzugehen, etwas von der Gefahr der Vermengung von Effekt und Affekt, von Schauspiel und Symptom preisgibt – so wie Freud es im therapeutischen Theater Charcots kennenlernen konnte. Sie zeigt, wie sich erst allmählich, unter dem Einsatz dezidierter Inszenierungstechniken als Isolate von Noise und Voice, die Stimme des Arztes als Gottesstimme über der des Patienten erheben konnte und quasi im Namen des Vaters die signifikante Ordnung festschreibt. In moderneren Therapieformen dagegen wandelt sich die autoritäre Position zu einer des demokratischen Hörens und Sprechens. Das Spiel zwischen Noise und Voice bleibt zunächst in freier Schwebe, wahrt aber die Gleichberechtigung von funktionaler und symbolischer Bestimmung. Dabei müssen, so Kaiser, alle effektiven Ebenen der Äußerung aufgenommen werden, nicht nur die polaren von Signifikant und Signifikat. Der Beitrag von RALF BOHN fragt dezidiert nach dem Effekt szenografischer Produktionen innerhalb einer Gesellschaft, die sich über die Magie der Vergemeinschaft als ritueller, inszenierter Formierung hinaus doch auch spontan organisieren könnte. Im Zuge dieser Fragestellung lanciert Bohn den Begriff der ‚Szenologischen Differenz‘, mit dem eine analytische, dynamische Kategorie von Inszenierung als Übergang von ‚nichteffekthaften‘ Situation zu projektiven, strategischen, motivierten Szenifikation unterschieden werden soll. Die Beobachtung eines solchen Übergangs stellt selbst schon einen szenifikatorischen (metaphorologischen) Akt dar, nämlich die Bewusstwerdung von Handlungen und Produktionen unter einer bestimmten (Selbst-)Deutungsabsicht, eine Inszenierung. Präzisiert man diese Überlegungen weniger in phänomenologischer als in existentieller Rücksicht, wird die Frage gestellt werden müssen, wie denn Situationen von Szenifikationen szenologisch anders unterschieden werden können als durch die Referenz auf ein ‚Selbstbewusstsein‘: die Wahrnehmung der Beobachtung einer Situation als für mich motivierte. Deshalb organisiert jede Inszenierung (szenografische Objekte und Ereignisse) eine Verweisungspflicht und lanciert damit einen Beobachter (Publikum, Akteur etc.), der in der Regel
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zwischen Agent und Szene nicht vermittelt, sondern den Agon als Unvermittelbarkeit der Selbstheit akzeptieren darf. In personalem Bezug zur Gesellschaft dagegen ist ihm sonst nur die Vermittlung, also die personale Identität verpflichtend. Nur von dieser Verweisungspflicht, von der Selbstbewusstseinsunterstellung (der subjektiven Selbstinszenierung oder Selbstbeobachtung) aus, können Inszenierungen in Differenz zum ‚neutralen‘, anthropologischen Begriff des Spiels bestimmt werden. Eine Analyse der Funktion der Magie durch Lévi-Strauss bezüglich des Begriffs der Magie bei Marcel Mauss präzisiert dies. Umgekehrt kann im Verhältnis von Selbstbewusstsein und Selbstbewusstseinstheorien nach dem Effekt der entäußerten Form, nämlich der Selbstinszenierung des Subjekts in der Vergemeinschaftung gefragt werden. In Bezug auf den transzendenten Ort des Bewusstseins muss die Gemeinschaft in einem magischen Akt, nachträglich, durch die Vergemeinschaftung das ‚Bewusstsein‘ des Einzelnen in Bezug zur Umwelt und Gesellschaft koordinieren. Es handelt sich bei Inszenierungen nicht um lediglich hinzugefügte anökonomische Formen. Ihre Notwendigkeit als Selbstreflexionsstabilisierungen und -suggestionen (Fiktionen) ergibt sich aus dem Scheitern inzestuös-motorischer wie hysterischer ‚Selbst-Inszenierungen‘. Dass theatrale Akte stets das Problem der Selbstbestimmung durch andere aufzeigen, ist in der Kulturtradition der Inszenierungsrituale evident. Dass sie aber – etwa im situationistischen Theater, im Theater der Situation (Sartre) oder in den modernen Performances – die spontane, situative (Selbst-)Organisation zelebrieren, kann durchaus mit dem Schwinden oder der Entledigung von ‚Selbstbewusstsein‘ in einer quasikommunistischen, ökonomisch globalisierten Gesellschaft (im Gegensatz zur magisch formierten Gemeinschaft) zusammenhängen. Der Effekt der Inszenierungseffekte ist demnach die dialektische Synthese (der protomediale Tauschort) von Spontaneität (Schock) und Szenifikation: die Inszenierung als Wahrnehmung einer Möglichkeitswelt. Präzise Fragen nach dem Verhältnis von Inszenierung und Magie stellt sich HEINER WILHARM in seiner begrifflich fundierten Analyse. Er stellt fest, dass ein magischer Effekt, um seine Wirkung zu entfalten, seine Inszeniertheit zum Verschwinden bringen muss. Im Verhältnis von Erscheinen und Verschwinden, also im semiologischen Verhältnis, wird demnach die Frage zu stellen sein, wie sich eine magische Erscheinungsordnung von der hierarchischen, durch die barré getrennten Signifikationsdifferenz abheben kann? Ist Magie das Verschwindenlassen genau dieser vom Menschen illusionierten, erklärenden und begründenden Zeichenwelt: eine ‚Undarstellbarkeit‘? Wilharm geht den Fragen einerseits mit einer Spurensuche der Peirce’schen Semiologie, andererseits am Inszenierungsbeispiel des Romans von Christopher Priest The Prestige und seiner filmischen Umsetzung durch Christopher Nolan nach, bei dem es sich um
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eine genealogische Ableitung von technisch beherrschbarer Zauberei und unergründlicher Magie handelt. Auf der Ebene von Analysen zum ‚Deutungs- und Bedeutungsraum‘ des Szenischen wird ersichtlich, dass fiktionale Gebilde aller Art sich einem Selektionsvermögen (und somit Opfervorgang) verdanken, eben einem hermeneutischen Vorgang. Den Effekten kommt die Aufgabe zu, missliebige Dinge und Dingreste, die die Fiktionalität oder Illusion stören könnten, zu verbannen (zu ‚verdrängen‘). Demgegenüber steht die Pflicht, die tatsächliche Reinheit technischer Maschineneffekte, ihren unvermittelten Zauber magisch, d.h. psychologisch und ästhetisch zu verkleiden, d.h. zu inszenieren, um das Schockhafte ihrer Wirkungen erträglich zu gestalten. Damit aber werden Effekte als Einführung in eine triadische Figur verstanden, in der das Verhältnis von Objekt und Zeichen (Medium) durch eine Instanz (Interpretant) zusammengebracht und offeriert wird, die sich als Gewinn von ‚Bedeutung‘ (Verbindung des Unverbundenen, Analogie) reklamiert. ‚Bedeutung‘ wird zur Beglaubigung eines Doppelgängers (z.B. des Begriffs gegenüber einer Sache). Die Schlussfolgerung aus dieser Figur ist – und das ist die Pointe der Überlegungen von Wilharm –, dass im Peirce’schen Modell der natürliche und somit zwanghaft zum Tode gerichtete Zeitverlauf als rekursivierbar und somit aufgehoben empfunden wird. Dem Effekt (Ereignis) des Interpretanten entspricht eine affektive Zueignung des Verstehens (Erlebnis). Verstehen kreiert in diesem Verhältnis den Schein der ‚Subjektivität‘ (des Wiedergängertums), wo in Wahrheit die Vergemeinschaftung (der unendliche Gebrauch von Bedeutungsverhältnissen und Deutungssituationen im Sinne der Interpretanten) am Werke ist. Verstehen wird somit als Aneignungsform von Darstellung verstanden. Die ‚Stornierung der Zeit‘ in der Darstellung der Semiose ist der gründende Grund (Heidegger) von Magie („Dichtung“ – so Heidegger) und Dasein. „Szenen besitzen zwei Gesichter. In eines schauen wir dem Erleben zugewandt. Das andere zeigt sich, wenn wir teilhaben an ihrem Ereignen“, so Heiner Wilharm.
PAMELA C. SCORZIN
EFFEKT UND AFFEKT IN SCENOGRAPHIC FASHION SHOWS.*
Eine Scenographic Fashion Show ist im Allgemeinen eine temporäre Bühne, auf der nach klassischen Regeln an einem bestimmten Ort alle sechs Monate in nur wenigen Minuten etwas ritualistisch für ein versammeltes Publikum vor- und aufgeführt wird und dabei gleichzeitig eine Sache, ein gestaltetes Produkt, mit Effekten vorgeführt und theatralisch zur Schau gestellt wird. Modische Kleidung als eine erste, ephemere Inszenierungsebene mit ihren visuellen Codes und ihrer visionären Semantik wird von Vorführenden und Darstellern, den ausgewählten Models, für ein anwesendes und heute technisch zugeschaltetes Publikum performativ und narrativ öffentlich werbewirksam in Szene gesetzt. Im Besonderen soll dabei ihre besondere Anmutung, ein Gefühl und ihr spezifisches Erlebnis szenografisch vermittelt werden. Wichtigste dramaturgische Hilfsmittel sind hierbei gemeinhin: Kulissen, Stage Props, Kostüme und Maske, Choreographie, Licht und Sound. In den letzten Jahren lässt sich dabei ein Trend hin zu immer aufwändigeren, sprich theatralischen, artifizierten und cinematisierten Szenografien auf den traditionellen Laufstegen der internationalen Modewelt beobachten, die zunächst als überwältigende multi-mediale Gesamtinszenierungen vor allem an die Affekte und danach erst an die Kognition der versammelten Zuschauer appellieren wollen. Es geht heute auf vielen dieser Scenographic Fashion Shows der halbjährlich terminierten internationalen Modewochen somit hauptsächlich um die Ansprache der Gefühle und Emotionen des Publikums, oder wie es Alexander McQueen einmal ausdrückte: „In fashion [...] the show [...] should make you think, there is no point in doing it, if it’s not going to create some sort of emotion.“ BLUTRAUSCH AUF DEM CATWALK
So bildete im Sommer 2009 auf der Mailänder Modewoche eine höchst verstörende Splatter Movie Szene den Höhepunkt der choreographierten Fashion Show Seduzioni Diamonds von Valeria Marini für die Frühjahrskollektion 2010. Das ausgewählte internationale Publikum war zunächst recht irritiert und * For my fashion world companion Ryan ‚Andy‘ B.
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höchst frappiert über das, was da in der Schau auf dem glitzernden Laufsteg im Mailänder Modezentrum vor seinen Augen geschah: War das nun alles wirklich echt oder etwa nur gespielt? Ein völlig blutüberströmtes Model in hautfarbener Unterwäsche und schwarzen Killer High Heels taumelte plötzlich während des Defilees der verschiedenen Looks der in Italien bekannten TV-Moderatorin und Designerin Valeria Marini über den Catwalk und brach dann nach einigen wenigen schwankenden Schritten und theatralischen Gesten im vollen Scheinwerferlicht direkt vor der exklusiven Front Row und den bestürzten Zuschauern scheinbar bewusstlos zusammen. Der Zwischenfall führte nicht allein nur zu unmittelbarer Betroffenheit und geschockter Erregung im Publikum, er eröffnete, ob der noch vorherrschenden Unklarheit bei den Augenzeugen darüber, ob es sich hier um Fakt oder Fiktion handelte, was sich da auf der glamourösen Präsentationsbühne abspielte, zugleich auch viele Fragen. Für alle beobachtbar, veranlasste der dramatische Kollaps der Schönen offensichtlich aber auch einige Zuschauer ohne weiteres Nachdenken zum sofortigen Handeln, indem sie von der Front Row aufsprangen und dem am Boden liegenden brünetten Model unversehens zu Hilfe eilten. Die Helfer übernahmen hier zugleich einen entscheidenden Part in einem theatralischen emotionalen Schauspiel. Sie füllten dabei allerdings auch eine strategisch kalkulierte Leerstelle in dieser Fashion Show Performance aus, die eine drastische und vielleicht auch geschmacklosere Variante der Aktivierung und Involvierung des Publikums in szenografierten Events dieser Art bedeutete.
Abb.1 Still aus der Fashion Show Seduzioni Diamonds von Valeria Marini, Mailand 2009 – Quelle: http:// pseudoccultmedia.blogspot. de/2009/09/dead-milanmarilyn-dolls.html
Oder sollte die theatralisch dargebotene Einzelszene in dieser Modenschau, die die Routine der professionellen Laufsteg-Präsentationen so vehement
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und spektakulär unterbrochen hatte, gar ein drastischer versteckter Kommentar auf die aktuellen Debatten um Tierschutz und den Kampf gegen das Tragen von echten Pelzen oder auf die damals aktuelle Diskussion um sogenannte ‚Blutdiamanten‘ in der internationalen Modewelt bedeuten? War er etwa der tragische Höhepunkt eines Model-Zicken-Kriegs backstage? Oder etwa doch eine der medial längst bekannten, realen dramatischen Attacken in der Szene gegen das Tragen von echten Tierpelzen in der Premium-Mode? Die Macher der Mailänder Fashion Show hatten mit dieser genau geplanten offenen Dramaturgie aber nach eigenem Bekunden lediglich nur einen eigenwilligen filmischen Mash-up aus dem Filmklassiker „Diamonds are a girl’s best friend“ und einer Szene aus dem Kurzfilm Dolls (2010)1 des sizilianischen Regisseurs Salvatore Arimatea im Sinn, der hier zitierend auf die Laufsteg-Bühne gebracht, zudem an schockierende zeitgenössische Kunstperformances erinnerte, wie sie etwa von der Performancekünstlerin Marina Abramovic hinlänglich der breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Die regiehaft inszenierte Blutszene auf dem Mailänder Catwalk war tatsächlich Bestandteil der filmischen Handlung von Arimateas Dolls, einem typischen Medienprodukt der Berlusconi-Ära, und zugleich eine Promotion für eben jenen Film, auf den hier angespielt wurde. UNBESTIMMTHEITSEFFEKTE
Der anfängliche Unbestimmtheitseffekt ist am Ende jedoch ganz wesentlich für die Aktivierung, Involvierung und Emanzipierung (sensu Jacques Rancière) des adressierten Publikums innerhalb eines rituellen respektive szenografierten Gemeinschaftserlebnisses: „It calls for spectators who are active interpreters, who render their own translation, who appropriate the story for themselves, and who ultimately make their own story out of it. An emancipated community of storytellers and translators.“2 Verfremdung und Verstörung, Irritation, Schock, Provokation und subversive Ironie wurden hier jedoch eher effektheischerisch als ‚attention and conversation getter‘ und für eine extreme emotive Sensibilisierung des Publikums genutzt, mit der gleichzeitigen Hoffnung und Spekulation auf eine massenmediale Wirksamkeit dieses spektakulären Splatter Skandals auf dem Laufsteg, die sich tatsächlich auch erfüllte.3 Denn gerade gegen herkömmliche Konventionen 1
Siehe den Filmtrailer zu Dolls im Internet unter der URL: http://www.youtube.com/ watch?v=iNnpeUxk8PE. 2 Jacques Rancière: The Emancipated Spectator. In: Artforum, March 2007, S.280. 3 Siehe beispielsweise die Meldung in SpiegelOnline vom 24. September 2009 mit der Headline „Mailänder Modewoche. Blutrausch auf dem Catwalk“, im Internet abrufbar unter der URL: http:// www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,651011,00.html.
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und normale routinehafte Erwartungen verlaufende zeitliche und räumliche Veränderungen auf den Modebühnen generieren dabei eine dichte visuelle PseudoErzählung, die für das Publikum zum memorablen Ereignis und intensiven wie einmaligen Erlebnis werden kann. Als eine dabei mimetische Erzählung, sensu Werner Wolf4, zeichnet sie sich dadurch aus, dass die Story über den Einsatz von Effekten in einer dominant nicht-verbalen Art szenisch verdichtet und symbolisch dargestellt, aufgeführt und optisch-visuell vermittelt wird. Eine derart performative und narrative Szenografie selbst steht heute immer stärker im Mittelpunkt des künstlerisch-gestalterisch dirigierten Bühnengeschehens – gerade auch wenn es sich dabei primär um ein eindeutig kommerzielles Werbegeschäft und ritualisiertes Format wie beispielsweise eine internationale Modenschau handelt. Dabei scheint sich die zeitgenössische Kleidermode zu Beginn des 21. Jh. selbstreflexiv an einen ihrer modernen Ursprungsorte in der höfischen Theater- und Inszenierungskultur des 17. und 18. Jh. zurückzubesinnen und liebäugelt nun gleichzeitig intensiv mit dem Cineastischen in der heutigen digitalen Kultur. Die traditionelle Modenschau mit ihren wohlgeordneten Défilées gerät dabei immer häufiger zu einem komplexen multimedialen Gesamtkunstwerk von maximal 20 Minuten Länge, d.h.: Die Modenschauen sind seit zwei Jahrzehnten Gesamtkunstwerke mit allen positiven und negativen Erscheinungen von guten und schlechten Gesamtkunstwerken. Zwischen Kunst und Kitsch, Camp und Trash gibt es gerade im Bereich der Haute-Couture alle Stillagen, Elaborationsgrade, künstlerische Ansätze und Haltungen: Coolness, Understatement, Sachlichkeit und Überfluss, Schnörkel und Manieriertheit. Alles in allem ist, was auf den Modenschauen begegnet, nicht unbedingt weniger intelligent als in den Performances und Installationen der Bildenden-Kunst-Künstler. Es ist aber weniger gedankenschwer, dafür sinnlicher, bunter und glänzender. Dennoch sind die Schnittmengen zwischen Mode und Kunst weitaus größer als das Trennende. Dass ein Künstler wie Wim Delvoye ein Schwein mit dem Louis-Vuitton-Logo tätowiert, ist nicht mehr nur von der Bildenden Kunst, sondern auch von der Mode her denkbar. Die Mode als System hat keine Berührungsängste. Sie sucht Dialoge, eignet sich visuelle Strategien und Erscheinungsweisen an und hat – wie die Kunst, Werbung oder das Kommunikationsdesign – selbst künstlerische Kompetenz erlangt, die bereits auf die Kunst zurückwirkt,
hielt bereits Martin Seidel in seiner Besprechung der Düsseldorfer ‚Catwalks‘Ausstellung im Kunstforum International 2009 fest.5 Als syn-ästhetisches Gesamtkunstwerk mit einem eigenen Thema gewinnt die zeitgenössische Scenographic Fashion Show mit dem charakteristischen stark 4
Werner Wolf: Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. Hg. Ansgar und Vera Nünning: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. WVT – Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5. Trier WVT, 2002. S.23-104. 5 Martin Seidel: Catwalks – die spektakulärsten Modenschauen. In: Kunstforum International, Bd.199 (2009), S.306.
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performativen und visuell narrativen Potential ihrer elaborierten multimedialen Inszenierungen heute jedoch eine größere mediale Aufmerksamkeit als die darin jeweils vorgeführten saisonalen Modekollektionen. Werden darin über Thema und Konzept noch originell aktuelle gesellschaftliche Diskurse angeschnitten, ist eine wirksame wie nachhaltige Rezeption in der globalen Kommunikation der Medien zudem fast schon garantiert. Oftmals bedienen sich die Verantwortlichen solcher Schauen aber auch nur assoziativ der Aktualisierung und weniger der Ironisierung bekannter, etwa über Hollywood-Filmklassiker verbreitere Klischees und Stereotypen, wie etwa die Assoziationskette von Leidenschaft, Liebe, Diamanten, Mord und Blut in Valeria Marinis Seduzioni Diamonds-Runway. Szenografen, Show Producer, Stylisten und Art Directoren kümmern sich in der Regel sorgfältig um die jeweilige Inszenierung der Mode, indem sie eigens ein Thema für die gesamte Fashion Show lancieren und multidisziplinär u.a. für die Auswahl einer geeigneten Location, des thematischen Set Designs, der Models, des Stylings (Haare und Make-up, Schuhe), des Ticketings, für Licht und Sound zuständig sind. Im wirkungsvollen Zusammenspiel dieser Inszenierungselemente wird der Catwalk nicht einfach nur mit
Abb.2 Ermenegildo Zegna, Menswear Fashion Show, S/S 2013, Juni 2012. Quelle: http://mensmodelstalk.blog8. fc2.com/blog-entry-5411.html.
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Dekorationen ausgeschmückt, sondern als ästhetisch elaborierte und durchdramatisierte Raumkonstruktion für sprachfähige dynamische Performances konzipiert und mit visuellen Effekten ausgestattet: Ein Still aus der Ermenegildo Zegna Menswear Fashion Show, Spring/Summer 2013, in Mailand6 illustriert beispielhaft das gestaffelte Defilee von Kultmodels. Kollektion und Setdesign spiegeln sich hierbei in subtiler Weise rhythmisch gegenseitig und bilden somit in nuce einen einzigen atmosphärischen Markenraum mit einem im Weiteren assoziativen Soundscape aus dem Django-Django-Titel Waveforms. KONVERGENZEFFEKTE
In derartigen performativen und visuell narrativen Szenografien für die Modeindustrie bilden Präsentation und Narration offensichtlich auch keine strengen Opponenten mehr, sondern ergänzen sich nunmehr wirkungsvoll synergetisch. Das Narrativ-Dynamische vereint sich in einer Scenographic Fashion Show schließlich kongenial mit dem Deskriptiv-Statischen. Gemäß der Logik einer Convergence Culture gehen auch hier in der szenografischen Praxis derzeit die ausstellenden Künste effektvoll mit den aufführenden und darstellenden (sensu Hans Belting) in eins. Es entsteht dabei ein neues multimediales Gesamtkunstwerk, indem dem teilnehmenden Publikum auch eine zentrale Rolle, ein entscheidender Part für die Sinnproduktion und Erlebniskonstruktion, zukommt. Der Scenographic Turn in unserer visuellen Kultur ließ damit auch in den vergangenen Jahren die internationale Modewelt nicht völlig unberührt. Mit der größeren Popularisierung der Mode geriet auch der klassische Catwalk seit den sechziger Jahren nun zum ganz großen Event und Spektakel.7 Die großen Défilées und konventionellen Runways in Paris, Mailand, London und New York haben sich dabei insbesondere seit den neunziger Jahren zunehmend zu theatralen Scenographic Fashion Shows gewandelt – vom konventionellen Laufsteg hin zu aufwendig produzierten multimedialen Inszenierungen der jeweiligen Saison-Kollektionen bekannter Modehäuser und Premiummarken. Im Mittelpunkt dieser speziellen Form des zeitgenössischen Event Designs stehen dabei vor allem diese medienwirksamen und nachhaltigen narrativen, dramaturgischen und performativen Szenografien, in denen vormals kategorisch getrennte kreative Metiers wie Design (Mode), Kunst, Musik und Populärkultur/Enter6 Die ganze inszenierte Modenschau von Ermenegildo Zegna ist abrufbar im Internet unter der http://
www.youtube.com/watch?v=V1I42AkV09M&feature=related. 7 Siehe hierzu Lydia Kamitsis: An impressionistic history of fashion shows since the 1960s. In: Jan Brand/
José Teunissen: Fashion and Imagination. About Clothes and Art (Arnhem 2009), S.92-103. Zur Geschichte der Modenschauen siehe auch José Teunissen: From dandy to fashion show: Fashion as performance art. In: Jan Brand José Teunissen (Hg.): The Power of Fashion: About Design and Meaning (Arnhem 2006), S.194-212.
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tainment/Event, bisweilen auch Choreographie und moderner Tanz, effektvoll konvergieren und sich zu einem neuen transdisziplinären und cross-modalen, d.h. viele Sinne gleichzeitig adressierenden intermedialen, sinnlichen Gesamtkunstwerk zusammenfügen. Dabei lässt sich auch ein erstaunlicher Gesamteffekt beobachten: Denn die historisch bekannten Wechselwirkungen zwischen Design/Mode und Kunst8 erleben zu Beginn des 21. Jahrhunderts darin eine neue, gesteigerte Form der gegenseitigen Beeinflussungen, Vermischungen und Durchdringungen, die nicht nur als wechselseitige Promotion zu verstehen sind, sondern auch beispielhaft die Auflösung bislang gültiger Gattungs- und Disziplingrenzen spektakulär vor Augen führen. Medial betrachtet, kommt es dabei im Allgemeinen zu erstaunlichen Synthesen und gegenseitigen Inkorporationen, die gegenwärtig zu bemerkenswerten neuen Displays für Waren und Produkten der Gestaltung führen, im Besonderen auch zu speziellen Umkehrungen, wie Alix Browne als Charakteristikum der Fashion Shows bereits hervorgehoben hat: Modenschauen repräsentieren ein Ausstellungsdesign, „wo Schauobjekte sich bewegen und das Publikum nicht“, während dagegen in anderen Ausstellungsformen „die Schauobjekte auf der Stelle bleiben und das Publikum sich bewegt“. Ebenso haben sich die bislang gültigen tradierten Beziehungen zwischen Produkt, Präsentation und Publikum inzwischen grundlegend hin zur Formung ganzer Erlebniswelten und Markenlandschaften gewandelt, in die man als Konsument (gerne) ent-/verführt wird. Und entgegen einem alten Vorurteil ist Mode als Gestaltungsdisziplin damit, kulturgeschichtlich gesehen, mehr als nur ein bloßes oberflächliches Spiel mit dem schönen Schein. Die aktuelle Inszenierungskultur der Mode zeigt, dass sie über ihre Primärfunktion der Be- und Einkleidung des Menschen hinaus eines der wichtigsten visuellen Phänomene und eine der umfassendsten zeichenhaften Hervorbringungen der Moderne darstellt. Modedesign befasst sich strategisch mit der Gestaltung von temporären Erscheinungen und visuellen Codes im Alltag und liefert darin jeweils in ihrer Zeit eindringliche Momentaufnahmen von virulenten Körperidealen in einer Kultur. Die Mode ist zugleich eine allgegenwärtige performative Praxis und ein durchdringendes alltagskulturelles Phänomen, das fast jeden im Leben unbewusst tangiert oder mit dem er/sie in einer sozialen Gemeinschaft unweigerlich direkt konfrontiert wird. Mode kann dabei zugleich auch zu einer universelleren Kommunikation genutzt werden, indem sie Diskurse forciert. Ihre visuellen Rhetoriken können gemeinschaftliche 8 Siehe dazu Adam Ceczy/Vicki Karaminas (Hg.): Fashion and Art (London/New York 2012), Susanne
Neuburger (Hg.): Reflecting Fashion. Kunst und Mode seit der Moderne (Köln 2012), José Teunissen: Fashion and art. In: Jan Brand/ José Teunissen (Hg.): Fashion and Imagination. About Clothes and Art (Arnheim 2009), S.10-25, Germano Celant (Hg.): Art/Fashion (Kat. New York 1997).
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Haltungen und Meinungen, aktuelle Themen und Konzepte vermitteln: „Mode ist eine Sprache. Alles, was die Menschen bewegt, zeigt sich zuerst in der Mode der Zeit“, betont die einflussreiche Mode-Kritikerin Suzy Menkes. Während sich jedoch viele Kritiker mit ihren Blogs und Online-Magazinen inzwischen insbesondere auf die effektvollen Alltagsinszenierungen der Mode durch ihre ‚Fashionistas‘ auf den Straßen der großen Metropolen konzentrieren, fokussiert die Profession des Scenographic Designers den kommerzielleren Bereich der Präsentation und Promotion: Vom konventionellen Retail Design Store und klassischen Catwalk bis hin zum szenografierten Runway und zur thematischen Scenographic Fashion Show respektive zum Fashion Campaign Film für das Internet spannt sich derzeit der Inszenierungsrahmen auf, in dem vormals strikt voneinander geschiedene klassische Gestaltungsbereiche nunmehr wirkungsvoll zusammengehen und künstlerisch-gestalterisch miteinander verschmelzen: Architektur und Ausstellungsdesign werden heute anhand dieser aktuellen Formate und Dispositive des ganzheitlichen und nachhaltigen Präsentierens sowohl von Elementen des Theaters und der Bühne, des Film Set Designs als auch der Performance Art und des Happenings, der Installationskunst und des Sound Designs vollends konzeptuell durchdrungen. Scene Designer, Szenografen und Show Produzenten agieren dabei gegenwärtig primär wie Film-Regisseure. Nicht umsonst erhielt der derzeit bekannteste und erfolgreichste Scenographic Fashion Show Designer Alexandre de Betak (Bureau Betak, Paris9) von der Presse auch den Beinamen ‚the Fellini of Fashion‘. Designer wie Alexandre de
Abb.3 Screenshot des Livestreams der GUCCI Fashion Show in Mailand vom 19. September 2012.
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Siehe zu den Projekten des erfolgreichen Bureau Betak im Internet unter der URL: http://blog. bureaubetak.com/.
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Betak definieren ihr Selbstbild heute nicht mehr allein nur aus der klassischen Rolle von Schöpfern und Kreateuren, sie gestalten und verkaufen nicht mehr allein nur Artefakte und Produkte, sondern vielmehr gerade über den Einsatz von inszenierten Narrativen und visuellen Effekten vor allem Emotionen und Atmosphären, die ihre Adressaten zu einer weiteren Handlung motivieren, d.h. besondere Erlebnisse generieren, um letztlich die Adressierten auch zum aktiven Konsum zu animieren. MARKETINGEFFEKTE
Wir erleben hier auf diesem professionellen Feld des Marketing gleichzeitig auch die Ausweitung einer wirkungsvollen Inszenierungssphäre vom realen in den virtuellen Raum hinein, in der unter einer globalisierten und technologisch veränderten medialen Situation die unterschiedlichsten Kommunikationsformen und Werbeformate im ereignisvollen Event taktisch miteinander verflochten werden und nunmehr ästhetisch gekoppelt sind: Eine spektakulär szenografierte Fashion Show als exklusive Schau vor Ort für nur wenige geladene wichtige Live-Gäste aus Business und Entertainment wird heute gleichzeitig auch für ein breites Fan-Publikum live im Internet gestreamt10, danach noch lange als Voll-Doku auf eigenen Label-Websites weltweit gratis zur Verfügung gestellt, zugleich mit Zusatz-Features wie beispielsweise Backstage-Reports, Interviews und Kommentaren auf beliebten Social Media Plattformen gepostet, in Modeblogs und Online Fashion Magazinen als Nachricht lanciert, von analogen Print-Kampagnen begleitet oder als spezielle App digital offeriert – fast immer freilich mit nachgeschalteter direkter Weiterleitung zu einem Online Store oder zum Virtual Flagship Store der jeweils global agierenden Modemarke im Internet. Darüber archivieren viele dieser Brands ihre Scenographic Fashion Shows in digitaler Form auf ihren Websites. Diese virtuelle Dauerpräsenz durchstreicht in gewisser Weise dann auch das Prinzip der inhärenten Saisonalität und flüchtigen Vergänglichkeit der Mode. Sie forciert sogar ihre Transformation von einem Gebrauchsgegenstand mit begrenzter modischer Aktualität und Exklusivität hin zu dauerhaften Artefakten, die Kunstwerken mit symbolischer Bedeutung und großer Distinktion gleichkommen. Der Aufwand, der für immer mehr szenografische Effekte in den internationalen Modeschauen betrieben wird, dient nicht zuletzt auch der Kommunikation dieses Anspruches, einerseits mit dem Entwurf der modischen Kleidung und ihrer Präsentation ein einmaliges Ereignis in Zeit und Raum zu schaffen, 10 Vgl. Alicia Kühl: Please Take Your Seat and Enjoy The Show! Über das Live-Streaming von Modeschauen. Im Internet unter der http://www.modabot.de/please-take-your-seat-and-enjoy-the-showueber-das-live-streaming-von-modenschauen.
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dessen Effekt aber andererseits die Nachhaltigkeit ist, die eine universalere Bedeutung wie in der zeitlosen Kunst verspricht. Die Details der Entwürfe und saisonalen Looks einer thematischen ModeKollektion lassen sich überdies heute augenblicklich, nachdem die (exklusive) spektakuläre Modenschau vor Ort gelaufen ist, von allen weltweit im Internet wie in Motion Lookbooks ausführlicher betrachten – noch dazu in einen unterhaltsamen erzählerischen wie kulturell komplexen Zusammenhang eingebettet. Die global vernetzte und digitalisierte Medienwelt erschließt sich damit neue maßgebliche Felder der (Re-)Präsentationsformen und wirkungsvollen Inszenierungsstrategien im virtuellen Raum und forciert dabei medientechnologische Innovationen wie etwa die Entwicklung von technischen Add-ons wie Apps für iPhone oder iPad und interaktive Virtual Catwalks im World Wide Web ganz entscheidend mit (siehe hierzu das Projekt von Nicola Formichetti für Thierry Mugler11), die die ohnehin bereits vorhandene essentielle Notwendigkeit der werbetechnischen Präsenz von eigenen Websites und interaktiven Homepages (sogenannten digital flagship stores) für die Selbstdarstellung und Selbst(re)präsentation der Creative Industries in neue Dimensionen und stark hybridisierte Entwicklungsformen technologisch weiterführen. Dabei entsteht aus diesen medialen Supplements für ein traditionelles modernes Gestaltungsprodukt wie die Mode ein enges relationales und rekursives Beziehungsgeflecht. Inmitten darin finden sich die Adressaten wieder – unversehens staunend, in stark partizipative wie konsumtive Rollen involviert. Scenographic Fashion befördert die wesentliche Transformation des Konsumenten vom passiven Betrachter zum aktiven Augenzeugen und partizipativen Zuschauer. Der User oder Kunde vermag sich dabei sogar noch des Weiteren zum Opinion Former und Product Peer zu emanzipieren. Denn Scenographic Fashion in der Convergence Culture ist in diesem Sinne heute wesentlich als eine dialogische Ko-Produktion zwischen Designern und jenen, die darüber kommunizieren und sie weiterempfehlen, im idealen Fall auch selbst glaubhaft konsumieren bzw. im Alltag performen, zu verstehen. Zudem mit einem inhärent demokratisierenden Anspruch, denn in Zukunft werden auch nicht mehr allein nur professionelle Kritiker und angestellte (Bild-)Redakteure von Fachmagazinen über die Distribution und Sichtbarkeit der jeweiligen Entwürfe und Kollektionen im Nachhinein entscheiden. Gleichzeitig ist dann fast immer auch eine weltweite mediale Berichterstattung garantiert, wie auch ein gerade durch die Konsumenten selbst vorangetriebenes virales Marketing über die unbegrenzte Kommunikation der Fashion Aficionados auf ihren Blogs und auf den heute weiter zur Verfügung stehenden einschlägigen Social Media Plattformen. Selbst für viele Luxusmarken 11
Siehe http://www.dazeddigital.com/fashion/article/11729/1/nicola-formichetti-exclusive-virtualcatwalk-documentary.
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und renommierte Brands bietet dies ein lukratives und durchaus günstigeres Geschäft im Vergleich zu der konventionellen kostenintensiven Platzierung ihrer teuren Werbekampagnen in den dafür speziell zur Verfügung stehenden klassischen Print-Medien an, die als analoge Kommunikationsmedien zunehmend an Verbreitung und damit auch an Bedeutung verlieren. Insbesondere an den Schnittstellen dieser effektreichen Form einer Convergence Culture finden sich dann aber auch neuartige ökonomische Formate und sinnlich aufregende neue Dispositive, die in unserer allgegenwärtigen Inszenierungskultur die Präsentation (Zeigen/Ausstellen) innovativ mit der Narration (Erzählen/Aufführen) verknüpfen. Oder man kann es auch einfach mit den Worten von Marc Jacobs, dem aktuellen Chefdesigner bei Louis Vuitton, formulieren, dass die Leute heute generell eine Show erwarten, die ihren Namen immer auch verdient. Die Scenographic Show vergegenwärtigt und steigert dabei die gestalterische Vision des Designers ins Anschauliche und Verführerische – oftmals gerade auch mit Special Effects, wie viele Modenschauen etwa von Alexander McQueen, Hussein Chalayan, Chanel, Dior, Louis Vuitton, Jean Paul Gaultier, Thom Browne oder Viktor + Rolf in den vergangenen Jahren gezeigt haben. Szenografie wirkt hier als sinnlicher Verstärker und ästhetischer Vermittler, der jeweils die gestalterische Vision und das thematische Konzept eines Modekünstlers durch originelle Inszenierungsstrategien optimal maximiert und dem Publikum sinnlich erlebbar zum Ausdruck bringt. Selbstreflexiv und selbstbewusst demonstriert die Mode und ihre Inszenierungskultur heute darin, dass sie nicht nur Styles kreiert, sondern auch jeweils ein bestimmtes Lebensgefühl mit entwirft. Scenographic Fashion erfüllt hier somit mehr als nur die wirkungsvolle Funktion des reinen Zeigens, Ausstellens und Präsentierens; sie schafft vielmehr
Abb.4 Still aus der Alexander McQueen Fashion Show Plato’s Atlantis, Paris 2009 (Foto: François Gulliot/ AFP/Getty Images).
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durch szenische Moods auch emotionale Atmosphären und suggestive Narrative und wird darin zum Ausdruck eines mit der Mode jeweils eng verbundenen Körpergefühls bis hin zur Demonstration eines propagierten Körperidealbilds oder eines ganzen Lebensstils. Ziel dahinter ist es, das affektive System der Kunden zu erreichen. Die über die rein funktionelle Notwendigkeit hinausgehende dynamisch szenografierte Inszenierung der Mode auf dem Laufsteg bietet damit eine Potenzierung ihrer Semiotik in verdichteten ästhetischen Raumkonstruktionen und signifikanten emotionalen Momenten und spektakulären Szenen. Diese sind räumlich-szenisch wie auch dramaturgisch dabei immer ganz auf die Blicke der partizipierenden Betrachter ausgerichtet. Im Zusammenspiel von präsentierten Schlüsselreizen und der Einbildungskraft des Publikums entfaltet sich darin eine effektvolle Maschinerie des Verführens und Begehrens. Aufgabe einer Scenographic Fashion Show ist es schließlich, beim Zuschauer Affekt und Kognition so zu stimulieren, dass am Ende ein Erwerb des Präsentierten in Erwägung gezogen wird. STAR-EFFEKTE
Erstaunlicherweise wird in der allgemeinen Wahrnehmung bis heute der enorme Einfluss der Szenografen auf dem Sektor der Modeindustrie noch weithin unterschätzt und die Arbeit hinter den Marken als Stars und dem Kult um sogenannte ‚Modekünstler‘ wie beispielsweise Karl Lagerfeld, Marc Jacobs oder Jean Paul Gaultier noch weithin als eine anonymisierte Profession, ja gar als ein Anonymous Design, gehandelt. Das Scenographic Design wird hier noch immer mehr mit den Namen der Auftraggeber, der bekannten Modehäuser und renommierten Labels, kommuniziert respektive gebrandet. Dafür konnten sich nur sehr wenige herausragende Gestalter und Showproduzenten wie beispielsweise Studio Job, Alexandre de Betak, Etienne Russo, Moritz Waldemeyer oder Nicola Formichetti dagegen bislang auch mit ihrer disziplinären Autorenschaft und originellen gestalterischen Handschrift als dafür spezialisierte Szenografen eine größere Sichtbarkeit hinter der mächtigen Corporate-Identity-Philosophie der großen Brands in der Modewelt verschaffen. Dabei sehen einige erfolgreiche Szenografen wie Alexandre de Betak ihr gestalterisches Potential und somit ihren kreativen Anteil an den Modenschauen insgesamt durchaus recht selbstbewusst: Der Designer füttert uns mit seinen Inspirationen, Worten und Ideen, bevor er uns wirklich Kleidungsstücke zeigen kann. Ich denke, wenn ein Designer an einer Modenschau arbeitet, zwingt ihn das letztendlich, eine Geschichte zu erzählen; gäbe es dagegen keine Schau, auf die man hinarbeitet, könnte es leicht eine Kollektion aus zusammenhanglosen Einzelstücken werden. Viele Designer hatten aus verschiedenen Gründen Gelegenheit, in einer Saison einmal keine Modenschau zu machen, und wenn man diese Kollektionen objektiv betrachtet, stellt man fest, dass sie weniger gelungen sind. Oder beispielsweise die
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Shows von Hussein Chalayan – stell dir vor, du gehst zu einer Präsentation, um ein mechanisches Kleid zu sehen [...] hätte es die Show nicht gegeben, hätte er dieses mechanische Kleid vielleicht gar nicht geschaffen.12
Und gerade die großen Luxuslabels der Modeindustrie suchen dabei neben ihrem klassischen Kunst- und Kultursponsoring seit Jahren die enge Kooperation und schöpferische Kollaboration mit exponierten wie prominenten Vertretern aus Film, Architektur und Bildender Kunst. Kult-Modedesigner wie Hussein Chalayan oder Gareth Pugh, Viktor + Rolf und Karl Lagerfeld u.a. etwa vertrauen dabei aber schon lange nicht mehr allein nur der spektakulären Verführungsmacht ephemerer szenografierter Modenschauen, sondern bedienen sich zunehmend einer weitergehenden und dauerhafteren performativen und narrativen Inszenierungsform mittels Film und Digital Media, die über das Internet leicht, global und gratis verbreitet wird. In gewisser Weise verleihen sie gerade damit der flüchtigen Mode auch Dauer, Distinktion und symbolisches Kapital. Insbesondere die dynamisch bewegten Bilder des populären Scenographic Fashion Films, der sich als mehr als nur ein ‚Fashion in Film‘ oder filmisches Product Placement versteht, sind somit als modisches Hybridphänomen und neuartiges Medienformat heute nicht mehr nur allein mediale Derivate oder technische Erweiterungen und szenografische Ergänzungen von traditionellen lokalen Modenschauen und den dazugehörigen obligatorischen statischen Bildstrecken und geprinteten Fotokampagnen, sie werden diese sogar in naher Zukunft zusehends ablösen, wenn man den derzeitigen Prognosen und erfolgreichen Praktiken von Modefotograf Nick Knight oder Modedesigner Gareth Pugh einmal Glauben schenken mag: Ich glaube, der Modefilm, der ja noch in seinen Kinderschuhen steckt, dient der Mode sogar viel besser als die Fotografie. Durch die Verbreitung im Internet erreicht ein Modefilm nicht nur ein viel größeres Publikum als das Foto, das nur die Käufer von Modemagazinen sehen. Und ein gut gemachter Modefilm entzaubert die Mode keineswegs: Er lässt das gezeigte Kleidungsstück seine Geschichte selbst erzählen und transportiert dadurch eine emotionale Verbindung, die mindestens so stark ist wie diejenige, die ein Foto herstellen kann. Außerdem, und das ist vermutlich der wichtigste Aspekt: Ein Modefilm kann ein Kleidungsstück in Bewegung zeigen und demonstriert damit unmittelbar, wofür es entworfen wurde. Nicht als statisches Objekt, sondern als eine Sache, die ihren Wert und ihre Bedeutung erst dann entfalten kann, wenn sie sich bewegt. Eben weil der Modefilm der Vision eines Designers ungleich gerechter wird als ein Modefoto, bin ich auch überzeugt davon, dass dieses neue Medium bald die Modefotografie ablösen wird!13
12 Alexandre de Betak zitiert nach ‚Fellini der Catwalkshows‘ – Alexandre de Betak im Gespräch mit Alix Browne (19. Juli 2009), im Internet abrufbar unter http://www.nrw-forum.de/blog/2009/07/19/ der-fellini-der-catwalkshows-–-alexandre-de-beatk-im-gesprach-mit-alix-browne/ 13 Starfotograf Nick Knight: ‚Die Modefotografie hat ausgedient‘. In: WeltOnline (27. Januar 2010), im Internet unter http://www.welt.de/lifestyle/article5959159/Die-Modefotografie-hat-ausgedient.html.
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Gleichzeitig sind die innerbildlichen Inszenierungen in der Modefotografie ebenfalls eine gestalterische Linie zu den heutigen dynamischen Scenographic Fashion Shows und Films. Diese bedienen daher mit ihrer vordergründig ‚spektakulären‘ Visualisierungssprache nicht zuletzt eine aktuelle Medienlogik, die stark auf Unterhaltungs- wie Neuigkeitswerte, Interessantheit, Eventisierung und Performance-Qualitäten auch in der zeitgenössischen Alltagskultur setzt. Ebenso ist dabei eine starke Emotionalisierung, Theatralisierung und Artifizierung der Modenschauen seit den neunziger Jahren zu beobachten. Die Praxis der Szenografie auf dem weiten Feld einer stark globalisierten Modeindustrie bildet heute nicht zuletzt einen wichtigen Bestandteil des zeitgenössischen Marketings. Sie schafft als komplexe Markeninszenierungsstrategie enorme weltweite mediale Aufmerksamkeit und ist darin ein relevanter Wettbewerbsvorteil und wichtiger Faktor heutiger Markenbildung, gerade auch im Sinne der Etablierung einer alleinstelligen Corporate Fashion, die den Geist einer Kollektion für die Kunden zudem noch authentisch erlebbar werden lässt, wenn es ihr dabei nicht allein um kurzweilige Effekthascherei gehen sollte. Denn wenn die Gestaltungsprodukte der Industrie sich heute global qualitativ und stilistisch kaum mehr unterscheiden, dann dient gerade der Einsatz von Narrativen und emotionalen Elementen der wettbewerblichen Differenzierung und markenstrategischen Exklusivität sowie der Markenbindung und Orientierung für die Kunden, die offenkundig mehr am emotionalen Erlebnisprofil als am reinen Sachprofil der Mode interessiert sind. Jede gute Werbekampagne beginnt heute daher mit einer Geschichtenerzählung. Künstlerisch hervorstechende, kulturell wirksame Szenografien wie etwa für Alexander McQueen, Viktor + Rolf, Maison Martin Margiela, Chanel, Thom Browne oder Hussein Chalayan erreichen es dabei zugleich, alle sechs Monate immer wieder nicht nur in wenigen Minuten visuell eine neue Geschichte auf den Laufsteg zu bringen und damit szenisch ein einmaliges Erlebnis zu schaffen, sondern längerfristig damit auch emotionale und glaubwürdige, d.h. unverwechselbare und authentische Modemarken aufzubauen und ihnen damit eine sprichwörtliche Präsenz in der globalisierten Kultur zu verschaffen. Scenographic Fashion Shows aktualisieren und performen das Erlebnis von Mode bewusst über szenografische Effekte. Dabei ist das jeweilige Label insgesamt das Ereignis. Es ist der Star jeder Show. Das immaterielle Image einer Modemarke und nicht allein das von ihr materiell gestaltete Gebrauchsprodukt steht als spektakuläres Showpiece im Mittelpunkt einer jeden Scenographic Fashion Show, die in erster Linie für eine globale Kommunikation mit der Presse, den Medien und den Markenfans konzipiert ist. Eine reflektierte zeitgenössische Szenografie vermag es, hierbei aber auch Wertigkeit und notwendige Unterscheidungskriterien für die jeweilige Modemarke zu generieren, und erlaubt nebenbei noch ihre Mehrfachverwertungen. Denn Scenographic Fashion Shows vermögen heute auch entscheidend zur Ausbil-
EFFEKT AND AFFEKT
dung einer erfolgreichen Corporate Fashion auf dem hart umkämpften internationalen Markt beizutragen. In dieser Hinsicht sind sie denn bereits wichtiger für das langfristige Branding als nur für eine flüchtige temporäre, sprich saisonale, Inszenierung der sich modisch schnell wandelnden Looks und Kollektionen. In der engen kommerziellen Verflechtung von Szenografie und globalen Luxusmarken steht gleichwohl das Modedesign dann gerade auch als ein Medium symbolischer und nachhaltiger Kommunikation in der visuellen Kultur im Mittelpunkt – auch wenn Szenografie generell gerne auf eine Kunst des reinen Kommerzes heruntergebrochen wird. Dem Publikum szenografisch vermittelte saisonale Modekollektionen mit ihren ritualistischen Schauen aus Effekten, die die Affekte adressieren, vermögen sich jedoch nicht nur in einer globalen Ökonomie der Aufmerksamkeit geschickt medial zu behaupten, sondern gewinnen heutigentags oftmals auch regelrechte Fan Communities und bei diesen einen regelrechten Kultstatus. Der Körper im Raum, respektive der modisch bekleidete Körper in Bewegung, wird dann letztlich in der Mode und in ihren medialen Inszenierungen rituell als emotional höchst bewegtes Körperbild der Gegenwart gefeiert. Das zeitgenössische Modedesign und seine Szenografien sind daher immer auch luzide Momentaufnahmen eines sich schnell wandelnden, weil jeweils aktuell promoteten Körperidealbildnisses in unserer technologisch vernetzten und globalisierten visuellen Kultur.
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ROBERT WILSONS SCENOGRAPHIC HD-VIDEO PORTRAITS.
IMAGE UND IDENTITÄT ALS THEATRALISCHER INSZENIERUNGSEFFEKT. „Bei mir geht es um den Effekt.“ 1 Robert Wilson
PROLOG
Im Sommer 2011 sorgte eine Werbung von Lancôme Paris für Aufregung in der internationalen Presse. Eine internationale Print-Werbekampagne des französischen Kosmetikunternehmens musste aufgrund erregter öffentlicher Proteste schnell wieder zurückgezogen werden. In Großbritannien machten sich Aktivisten und eine Werbeaufsicht sogar dafür stark, die teuren Anzeigen auf den Werbeflächen mit dem prominenten Gesicht von Hollywood-Star Julia Roberts in der Öffentlichkeit schlichtweg zu verbieten. Das lächelnde Gesicht der ‚Pretty Woman‘ war zu schön – zu schön, um wahr zu sein! (Abb.1) Offensichtlich empfanden viele das mit einschlägigen Photoshop-Techniken auf ewige Jugendlichkeit und perfekte Schönheit getrimmte Gesicht der 43-Jährigen dabei aber nicht so sehr als visuelle Manipulation und Fälschung
Abb.1 1
Robert Wilson im Interview mit Peter Laudenbach: „Robert Wilson: ‚Ich habe mit Heiner Müller getanzt‘“ in: Sueddeutsche.de, 4.10.2011.
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oder gar Betrug – denn schließlich sind digitale Bildbearbeitungsprozesse und optische Effekte ja längst kein Geheimnis mehr –, sondern vielmehr als eine nahezu physisch gewaltsame Attacke der schönen Medienbilder auf die Gesellschaft. Der kritische Werbeverband sprach von ‚Ohrfeigen für die Verbraucher‘.2 Im Protest um die offenkundig extreme Idealisierung und effekthascherische Inszenierung mit Bildbearbeitungstechnologien im werbenden schönen Bildnis der Julia Roberts machte sich nurmehr Frust und Unmut über die augenscheinlich nicht mehr einholbare Erreichbarkeit dieser Idealisierung und Perfektionierung im realen Leben breit. Der optische Überschuss und die visuelle Dominanz der technischen Perfektion der digitalen Bildbearbeitung generierte letztlich Misstrauen vor der Effektivität des beworbenen Schönheits-Elixiers. Statt Staunen und Begehren zu generieren, provozierte diese Übersteigerung an Idealisierung und Inszenierung ungewollt und affizierte die Betrachter nun im ursprünglich umgekehrten, negativen Sinne. Sie schreckte ab. Die geschönte Schönheit verfehlte hier folglich kläglich ihren Effekt, rhetorische Wirkung zu erzielen und das Publikum zum Kauf von High-Tech-Schönheitsmittelchen zu verführen. Vielmehr offenbarte sie zudem unweigerlich die subtilen Techniken und visuellen Tricks der zeitgenössischen Strategien zu einer modernen Kaufverführung. Das prominente Bildnis der attraktiven Hollywood-Schauspielerin entlarvte sich in einem Nu als mediale Konstruktion und ästhetisches Artefakt, deren Bildrhetoriken immer nur zeitaktuell bestimmten Intentionen und versteckten Strategien folgen. Star-Dasein, Idol- und Ikone-Sein mit exklusivem Celebrity-Status sind Resultate kultureller Fabrikationen und kollektiver Konstruktionen, weniger Wesens- und Charaktereigenschaften eines modernen Individuums selbst. Dekonstruktionen von bloßen Scheinwirkungen können somit aber auf ihre eigene Art wiederum für das Publikum höchst effektvoll wie aufschlussreich sein. Ihr Erfolg liegt dann in bestimmten kognitiven Prozessen, die den Bildbetrachter emanzipieren, statt ihn zu (des-)illusionieren. Sie produzieren Erkenntnis und stiften Sinn und Bedeutung, indem sie die oberflächlichen künstlichen Wirklichkeiten durchbrechen und reflexiv in die Tiefe gehen. Auch affizieren sie wiederum derart, dass neue Werturteile und Meinungen entstehen können. Was der Werbeagentur hier als bloßes Missgeschick und werbetechnisches Desaster ins Haus stand, machen sich Künstler der Gegenwart jedoch zu einer besondern künstlerischen Strategie. Entstellung und Verfremdung3, 2 Johannes Korge: „Du bist zu pretty, woman“, SpiegelOnline, 28.7.2011, im Internet unter http:// www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,777154,00.html. 3 Vgl. zu Ähnlichkeit und Entstellung: Entgrenzungstendenzen des Porträts. Hrsg. von Werner Busch, Oliver Jehle, Bernhard Maaz und Sabine Slanina. Berlin [u.a.]: Deutscher Kunstverlag 2010. Zur Aktualität und Geschichte der Gattung des Porträts siehe: Übermalt, verwischt, ausgelöscht. Das Porträt im 20. Jahrhundert. Hrsg. von der Hamburger Kunsthalle. Hamburg 2011. Martina Weinhart: Selbstbild ohne Selbst. Dekonstruktionen eines Genres in der zeitgenössischen Kunst. Berlin 2004 (Reimer). Andreas
ROBERT WILSON’S SCENOGRAPHIC HD-VIDEO-PORTRAITS
Inszenierung mittels Maske, Kostüm, Accessoires, Mimik und Pose, sind beispielsweise nicht erst seit der Erfindung von historisierenden und inszenierenden Rollenporträts in der Kulturgeschichte effektvolle Mittel, um Wahrhaftigkeit, nicht Wahrheit, im öffentlichen Bild hervorzubringen. Dann werden diese auch zu anschaulichen Vermittlern gesellschaftlicher Konventionen und kultureller Identitäten. Wir wollen uns im Folgenden daher anhand der Diskussion der Wilsonschen HD-Videoporträts fragen, ob ein Porträt überhaupt auf Ähnlichkeit und Wirklichkeitsnähe abonniert sein muss, um als authentisch und wahr zu gelten. Und müsste demnach alles Künstliche im Umkehrschluss dann nicht auch per se lediglich als nunmehr inauthentisch und unwahr gelten? Gemeinhin gelten für ein naives Porträtverständnis ja gerade Wirklichkeitseffekte wie hohe Ähnlichkeit, Lebendigkeit, Wirklichkeitsnähe, Realismus und Minutiosität für ein individuelles Bildnis, insbesondere für das sich historisch entwickelnde Porträt, als essentiell und wesentlich, und als solches auch für diese Gattung insgesamt als typisch und charakteristisch. Ein authentisches Bildnis muss aber eben nicht zwangsläufig und ausschließlich gleich wirklichkeitsnah, naturgetreu, lebendig und lebensecht anmuten. Der Einwand dagegen ist längst bekannt: Denn wie sollte bloße Ähnlichkeit nur etwas vom Wesen/ von der Seele der dargestellten Person einfangen? Oder helfen uns – frei nach Walter Benjamin – inszenierende oder szenografierte Ähnlichkeit hier etwas weiter, weil sie vorneweg Medialität und Symbolik als effekt- wie wirkungsvolle Instrumente der Repräsentation und theatralischen Interpretation nicht verbergen, sondern offenlegen und sogar im Porträtwerk mit-reflektieren und -thematisieren? Offenbaren oder generieren gar diese effektvollen Inszenierungsmittel das Phänomen ‚Persönlichkeit‘ im Bild, das immer auch ein wirkungsvolles Maß der symbolischen Theatralität und Performance im Raum des Öffentlichen benötigt, um tatsächlich geschaut oder wirksam zu werden? Im Folgenden soll daher am Fallbeispiel der jüngsten szenografierten High Definition Videoporträts von Robert Wilson der Gedanke ‚Image und Identität als Inszenierungseffekt‘ etwas weiter ausdiskutiert werden und sollen gleichzeitig einige wirkungsvolle Effekte der Transgression, Konvergenz und Hybridisierung in einer klassischen Gattung der Kunst aufgezeigt werden. Das Bildnis wird dabei als ein theatralischer Aufführungsort und -anlass für Selbst- und Fremdinszenierungen verstanden. Es stellt eine höchst inszenierte wie theatralische Bühne für öffentliche Sichtbarkeit und soziale Wirksamkeit dar, auch wenn die Performanz darauf dem Publikum formal zunächst einmal als höchst realistisch oder perfide naturalistisch anmutet. Beyer: Das Porträt in der Malerei. München 2002. Norbert Schneider: Porträtmalerei. Hauptwerke europäischer Bildniskunst 1420–1670. Köln 1994. Rudolf Preimesberger (Hg.): Porträt. Berlin 1999, [Geschichte der klassischen Bildgattungen; Bd. 2]. Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance. München 1985.
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DAS PORTRÄT ALS THEATRALISCHER EFFEKT BEI ROBERT WILSON
„Stillleben mit viel Leben“4, mit dieser sinnreichen Contradictio in adiectio eröffnet Robert M. Wilson (geb. 1941, Waco, US-Bundesstaat Texas) im Frühsommer 2011 in einem Katalogbuch die Diskussion einer Reihe von High Definition Videoporträts auf vertikal gesetzten, großformatigen Plasmabildschirmen, die nach Stationen u.a. in Graz, Hamburg und Karlsruhe zuletzt in einer Einzelausstellung im Museum der Moderne in Salzburg (Österreich)5 zu sehen war. Der offene Porträtzyklus von technisch avancierten HDV-Loops, für den u.a. Brad Pitt, Gao Xingjian, Winona Ryder, Jeanne Moreau, Mikhail Baryshnikov, Renée Fleming sowie mehrere Tiere (sic!) Modell saßen, ist bereits 2007 erstmals von der Paula Cooper Gallery und Phillips de Pury & Company in New York präsentiert worden und war von da an bislang ebenso im Rahmen des Tribeca Film Festivals (2006) wie auch in unterschiedlichsten Galerien und Museen weltweit in verschiedenen Formationen und mehreren Stationen zu sehen. Für seinen vorläufig letzten, aktuellen Ausstellungsort liegt nun endlich auch ein von studioRADIA /Anton Ginzburg klassisch schön gestalteter, wissenschaftlicher Katalogband mit ganzseitigen Farbabbildungen vor.6 Er zeigt Film Stills aus Wilsons hochauflösenden und vertonten Videoporträts, deren eigenartig träumerisch langsamer Bewegungsfluss nun tatsächlich im Print des analogen Mediums Buch gänzlich stillgelegt wird. Über eine Website der beteiligten Ausstellungsproduktion im Internet, der in New York City ansässigen Produktionsfirma Dissident Industries Inc.7, die den Künstler über Jahre hinweg in der Verwirklichung dieser neuartigen High Definition Videoporträts maßgeblich technisch ausgerüstet und unterstützt hat, lassen sich aber alle Videowerke auch nach oder vor einer Begegnung mit dem Original im Museum oder in einer eigens szenografierten Ausstellungssituation jederzeit von jedem Ort der Welt aus von jedermann im Internet rund um die Uhr ohne Eintrittpreis anschauen. Gleichwohl ersetzt 4
„A Still Life is a Real Life“ im englischen Originaltext. Robert Wilson. Video Portraits. Hrsg. von Peter Weibel, Harald Falckenberg, Matthew Shattuck. Mit Beiträgen von Robert Wilson, Peter Weibel, Nicola Suthor, Ali Hossaini, Noah Khoshbin und Matthew Shattuck. Köln 2011 (Verlag der Buchhandlung Walther König, S.8-9. 5 Neue Galerie Graz – Universalmuseum Joanneum, Graz (19. Juni – 6. September 2009), Sammlung Falckenberg, Hamburg (16. Oktober 2009 – 10. Januar 2010), ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe (12. Mai – 22. August 2010) und Museum der Moderne, Salzburg (16. Juli – 16. Oktober 2011). Zu der internationalen Ausstellungstournee siehe auch die weiteren Stationen unter www.dissidentusa.com/robert-wilson/exhibition-tour/. 6 Robert Wilson. Video Portraits. Hrsg. von Peter Weibel, Harald Falckenberg, Matthew Shattuck. Mit Beiträgen von Robert Wilson, Peter Weibel, Nicola Suthor, Ali Hossaini, Noah Khoshbin und Matthew Shattuck, Köln 2011, 224 Seiten, mit ganzseitigen Farbabb. und 5 Falttafeln. Siehe hierzu auch Pamela C. Scorzin: Rezension von „Robert Wilson. Video Portraits“. In: Journal für Kunstgeschichte/ Journal of Art History: Die internationale Rezensionszeitschrift, 15. Jg. Heft 3, 2011, S.203-212. 7 Siehe im Internet unter http://www.dissidentusa.com/robert-wilson/subjects/ – siehe auch die Homepage von Robert Wilson unter www.robertwilson.com.
ROBERT WILSON’S SCENOGRAPHIC HD-VIDEO-PORTRAITS
diese alternative globale Zugangsweise freilich nicht die Originalerfahrung, die in diesem Fall gerade auch im Wesentlichen von der Größe und den virtuosen Effekten der hier eingesetzten, technologisch höchst innovativen, minutiösen und farbintensiven Wiedergabetechnik und der subtilen Gesamtwirkung des variablen installativen Exhibition Designs des jeweiligen lokalen Präsentationskontextes insgesamt immer wesentlich mitbestimmt wird. (Abb.2)
Abb.2 Robert Wilson: Johnny Depp (2006), Music by Hans Peter Kuhn, Voice by Robert Wilson, Text by T.S. Eliot and Heiner Müller Bildquelle: http://www.dissidentusa. com/robert-wilson/subjects/ johnny-depp/ und http://www.dissidentusa.com/ robert-wilson/installationimages/
Da die Serie schlicht und anonymisierend nur mit „Video Portraits“ betitelt ist, erwartet der Ausstellungsbesucher oder der Leser des von Peter Weibel, Harald Falckenberg und Matthew Shattuck prominent herausgegebenen Katalogbuchs jedoch zunächst wohl eher Bildnisse anstelle von Stillleben. Was hat es nun mit diesem, dem Katalogbuch ostentativ vorangestellten, einem etwas längeren Wilson-Statement entnommenen rätselhaften Zitat auf sich? Wurden etwa die Kunstgattungen verwechselt, oder will uns der Bildende Künstler Robert Wilson nur weismachen und beweisen, dass beide, Porträt und Stillleben, sich in der Moderne näher ständen, als man zunächst denken respektive sehen möchte? Vielleicht hilft es fürs Erste zu erinnern, dass der seit Jahren international gefeierte experimentelle US-amerikanische Theater- und Opernregisseur seit langem bekannt und berüchtigt für seine künstlerischen Grenzüberschreitungen und innovativen Durchkreuzungen und effektvollen Kombinierungen ist. Aber leider auch für seine beharrliche Weigerung, die dabei entstehenden eigenen Werke zu interpretieren. Robert Wilson ist notorisch bekannt dafür, die Interpretation seiner Werke vorwiegend in die Verantwortung des Publikums zu delegieren, und postuliert dabei ein „non-interpretative theatre“. Wer jedoch
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jemals in den Genuss gekommen ist, einer anekdotenreichen und theatralischunterhaltsamen Führung von Wilson durch eine eigene Werkausstellung folgen zu dürfen, wird auch diese Behauptung lediglich als ein hartnäckiges Gerücht entlarven und wieder relativieren respektive revidieren dürfen. Auch hier stoßen wir wieder auf die eingangs zitierte Contradictio in adiectio, nun nurmehr aber weitaus abstrakter und pointierter formuliert: Robert Wilson begibt sich in der Reihe seiner jüngsten technisch brillanten HD-Videoporträts tatsächlich auf die Suche nach der wirkungsvollen „motion in stillness“ und der „artificiality in realism“ – am Beispiel der altherkömmlichen kunstgeschichtlichen Porträtgattung.8 Die von ihm für die Video-Serie Porträtierten – Personen wie Tiere – posieren in der Mehrzahl fast regungslos das Publikum anblickend, in einer minimalistischen Szenerie, während die Bilder des technischen Mediums für ihre Präsenz höchst bewegt sind. Im schnellen Fluss der Bewegtbilder sind bei Wilson Handlungen und Bewegungen im Bild entschleunigt bis fast zum Stillstand gebracht. Auf der Erkundung einer „motion in stillness“ und „artificiality in realism“ kommen Wilsons Videos hier den Screen Tests von Andy Warhol aus den sechziger Jahren nahe. In beiden Fällen finden sich dabei Interferenzen aus Film und Fotografie und wir können im Weiteren von einer spannungsvollen Hybridbildung sprechen, die sich als ‚photofilmic images‘ definieren lässt. Die von Robert Wilson für die geloopte Video-Serie Porträtierten posieren wie bei Warhol in der Mehrzahl ebenfalls fast regungslos, das Publikum direkt adressierend, in einer für Wilsons Bühnensprache typischen cool-minimalistischen und ästhetisch stilisierten Gesamtszenerie, während die Bilder des technischen Aufzeichnungsmediums höchst, wenn auch für die Augen fast unmerklich, bewegt sind. Sie sind darin als nahezu bewegungslos lebendige Bildnisse mit sub-narrativen Minimalhandlungen zu verstehen, die zwischen Bewegtheit und Unbewegtheit für den Betrachter spannungsvoll in der temporären Schwebe gehalten werden. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Wilson hier selbst sogar von „Stillifes“, Stillleben, spricht und die prominenten Herausgeber des Katalogbuches ihn ohne jedes weitere Vorwort zunächst einmal selbst mit einem einseitigen Werkkommentar zu Wort kommen lassen. Dieser Kurztext bringt als eingehende Erläuterung auch die Stringenz seines künstlerischen Denkens und Wirkens von der Bühne bis zum Bild anschaulich in einer visionären Einzelszene zur Wirkung und Geltung: The Video Portraits can be seen in the three traditional ways that artists construct space. If I hold my hand in front of my face, I can say it is a portrait. If I see my hand at a distance, 8 Robert Wilson im Gespräch mit der Autorin am 12. Mai 2010 im ZKM | Museum für Neue Kunst.
Mein besonderer Dank gilt dabei auch Peter Weibel und Andreas F. Beitin (Karlsruhe).
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I can say it is part of a still life, and if I see it from across the street, I can say that it is part of a landscape. In constructing these spaces, we see an image which can be thought of as a portrait. If we look carefully, this still life is a real life. And in a way, if we think about it and look at them long enough, the mental spaces become mental landscapes.9
Transgressionen, Synthesen und Hybridisierungsprozesse waren und sind folglich für Robert Wilsons künstlerisches Schaffen insgesamt charakteristisch. Zudem konvergieren in seinen Arbeiten als Bühnenbildner, Choreograph, Regisseur, Autor und Bildender Künstler die Einzeldisziplinen gleichwertig zu multimedialen Gesamtkunstwerken aus Set Design, Sprache/Text, Kostümdesign, Licht, Musik/Sound Design, Choreographie usw. Hinzu treten insbesondere in seinen explizit szenografischen Entwürfen für Theater, Bühne und Kunst auch immer spannungsvolle Synthesen und neuartige Hybridisierungen, deren Bedeutung vom jeweiligen Kontext der Betrachtung mitbestimmt wird: I imagine the Video Portraits being seen in public spaces, as well as at home. At home, they are a kind of window in the room or a fire in the fireplace. They are personal, poetic statements of different personalities. A man from the street, an animal, a child, superstars, gods of our time.10
Und in der Tat versammelt sich in der offenen Wilsonschen VideoGalerie mittlerweile ein wundersam bizarr erscheinendes Truppenpersonal, „a cross-sectional society and a family album“11, das dem Betrachter, auf direkte Schaubühnen gebracht, nahezu in Lebensgröße inszeniert, kunstvoll in einem Soundscape animiert und somit auf dem Flatscreen nahezu lebendig entgegentritt. Gemäß konventioneller Erwartungen und Anforderungen an das Porträt frappieren die Bildnisse von Robert Wilson durch ihre Lebensähnlichkeit und Wirklichkeitstreue. Die HD-Videotechnik erlaubt heute schließlich leicht eine auf endlos geloopte animierte Vergegenwärtigung und mimetische Wirklichkeitstreue, die der Begründer der Kunstkritik, Giorgio Vasari, 1550 mit großem ekphrastischen Talent und allen rhetorischen Mitteln der wirkungsvollen Beschreibung in seinem berühmten Hymnus auf die bestaunenswerte Meisterschaft Leonardo da Vincis bei der Anfertigung des Porträtgemäldes der Mona Lisa in diesen höchsten Tönen preist: Wer sehen wollte, wie weit es der Kunst möglich sei, die Natur nachzuahmen, der konnte es leicht an diesem schönen Kopf [Lisas] verstehen, denn dort waren alle Kleinigkeiten mit der größtmöglichen Feinheit abgebildet. Die Augen hatten tatsächlich jenen Glanz 9 Wilson, Video
Portraits, a.a.O., S.9. Ebd. 11 Robert Wilson im Gespräch mit der Autorin am 12. Mai 2010 im ZKM | Museum für Neue Kunst. 10
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und jene Feuchtigkeit, die man jederzeit in der Wirklichkeit sieht, und um sie herum waren jene rotbläulichen Schimmer und die Härchen, die man ohne allergrößte Feinheit gar nicht malen kann. Die Augenbrauen konnten nicht natürlicher sein, denn er hatte die Härchen aus der Haut herauswachsen lassen, hier dichter und dort weniger dicht stehend und immer den Poren der Haut folgend. Die Nase mit allen ihren schönen zarten und rosigen Öffnungen erschien einem wie lebendig. Der Mund, mit seiner leichten Öffnung, mit seinem Rot der Lippen den Mundwinkeln verbunden und mit dem Inkarnat des Gesichts, erschien wie wirkliches Fleisch. In der Halsgrube sah man bei genauem Hinsehen den Puls schlagen. [...] Und hier gewahrte man ein so anmutsvolles Lächeln, das es eher göttlich als menschlich anzusehen war, und es wurde für ein Wunderwerk gehalten, denn die Wirklichkeit selbst vermochte nicht mehr.12
Die affizierende Wirkung der elaborierten Sprachrhetorik produziert bei Vasari als Effekt die scheinbare Lebendigkeit des Porträts und damit die magisch gegenwärtige Präsenz der dargestellten Person. Und als einer der ältesten und dauerhaftesten ekphrastischen Topoi und kunsttheoretischen Topoi besitzt Lebendigkeit [...] spezifisch wertende und allgemein ästhetische Implikationen. Seine Verwendung erfolgt einerseits – als Lobtopos – komparativisch und bezeichnet darin den Wirkungsaspekt eines scheinbar belebten, in Wirklichkeit toten Artefaktes. Andererseits verweis Lebendigkeit auf eine grundlegende Analogiebeziehung zwischen Kunst und der Sphäre des Organischen, die die Ästhetikgeschichte seit ihren Anfängen prägt.13
JOHNNY DEPP IM RE-INSZENIERTEN ROLLENSPIEL
Zu Beginn des 21. Jh. dominiert freilich nunmehr die visuelle Rhetorik und hyperrealistische Ästhetik der digitalen Bildtechniken, etwa die einer HD-Videotechnologie als eines technisch avancierten Aufzeichnungsmediums. Diese triumphiert augenscheinlich über die mimetische Perfektion virtuoser handwerklicher Meisterschaft – sehr schön gerade auch zu beobachten im fokussiert minimaldramatischen lebendigen Spiel der Augen von Johnny Depp im Porträt! Das hierfür exemplarische Videoporträt des beliebten US-Schauspielers Johnny Depp aus der Serie re-inszeniert diesen vor einem pinkfarbenem Hintergrund ‚in drag‘ als Rrose Selavy. (Abb.4) Robert Wilson paraphrasiert damit eine bekannte Schwarzweißfotografie von Man Ray, die den Künstlerkollegen Marcel Duchamp 1921 im fiktiven, androgynisierten Rollenporträt seines weiblichen Alter Ego in Szene setzt. (Abb.3) Robert Wilson zitiert und aktualisiert jedoch nicht nur, sondern fügt hier szenografisch weitere wesentliche Sinnesansprachen für die Wahrnehmung und Erfahrung des Betrachters hinzu – insbesondere durch die Animation als Bewegtbild in HD-Qualität und über ein Sound 12
Hier zitiert in der dt. Übersetzung von Frank Zöllner, nach der Ausgabe: Giorgio Vasari. Vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori (1550 und 1568), IV, Florenz 1906, S.39-40; ebendort, S.465. 13 Frank Fehrenbach: „Lebendigkeit“, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Hrsg. von Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2011 (2. erweiterte und aktualisierte Ausgabe), S.273.
ROBERT WILSON’S SCENOGRAPHIC HD-VIDEO-PORTRAITS
Abb.3 und 4: Robert Wilson: Johnny Depp (2006), Music by Hans Peter Kuhn, Voice by Robert Wilson, Text by T.S. Eliot and Heiner Müller. Bildquelle: http://www.dissidentusa.com/robert-wilson/ subjects/johnny-depp/ und http://www.dissidentusa.com/robert-wilson/installation-images/
Design in Form eines Voice-over sowie einer akustischen Untermalung – d.h. Echtaufnahmen sowie Musik von Hans Peter Kuhn und einigen von Robert Wilson selbst rezitierten Textpassagen aus ‚Memory Loss‘ von T. S. Eliot und Heiner Müllers. Wilsons re-inszenierende Szenografie decouvriert hier die Inszeniertheit des ‚vorbildlichen‘ Rollenporträts. Ebenso verweist sie auf dessen inhärente spezifische Theatralität und notwendige Medialität durch die demonstrative Vorführung immer wieder potentiell neuer Aufführungsmöglichkeiten. Sie thematisiert darin wirkungsvoll auch das Wandern und Fortleben eines Bildes, einer Szene über Raum und Zeit hinweg wie auch durch sterbliche biologische Körper hindurch im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft, indem diese immer wieder neue mediale Verkörperungen finden – etwa im Spiel von Aneignungen, Adaptionen und Aktualisierungen. Neben dieser direkten Referenz auf ein bestimmbares Vorbild finden sich aber auch weitere formalästhetische Verweise auf die Kunst- und Kulturgeschichte. Einerseits somit in einer langen, motivisch verketteten Tradition der großen Porträtkunst stehend, die Lebensnähe, Lebendigkeit, Ähnlichkeit, Wirklichkeitstreue, individuelle Charakterisierung, Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität zum höchsten künstlerischen Ziel hat, andererseits aber auch gerade konträr dazu, eine nicht minder wichtige und dominierende Kultur des Porträtierens mittels interpretativen Inszenierens fortführend, geht es Robert Wilson nun allein um den Effekt der technisch mit hohem Realismus versehenen Aufzeichnung einer elaboriert komponierten Inszenierung und raffinierten Theatralität, die symbolische Wahrheiten
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generiert. Wir müssen daher die Videoporträts in diesem besonderen Spannungsfeld von Realismus und Künstlichkeit, Authentizität und Inszenierung, zwischen Fakt und Fiktion noch etwas weiter näher betrachten. Dieser subtilen Unterscheidung widmet sich auch der erste wissenschaftliche Beitrag des Wilsonschen Katalogbandes von Peter Weibel.14 Der bekannte Medientheoretiker, Kurator und Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe diskutiert die Videobildnisse der von Wilson Porträtierten in ihrem besonderen Spannungsfeld von Realismus und Künstlichkeit, zwischen Wirklichkeit und Imagination respektive Fiktionalität. Denn Wilsons von der Theaterbühne her bekannter einzigartiger Personalstil, die visuelle Strenge, die Konzentration der Handlung primär auf Raum, Licht und entschleunigte Bewegung, die coole Ästhetik und minimalistische Komposition seiner Bühnen und Installationen, kehren als Kennzeichen und Merkmale seiner gefeierten Autorschaft auch in den HD-Videoporträts, die als offene Serie seit 2004 entstehen, wieder. Dieser Ableitung aus der für Wilson charakteristischen Bühnenarbeit folgt auch Peter Weibel im aktuellen Ausstellungskatalog zu den Video Portraits, indem er diese mit der Zuordnung in die Tradition der theatralischen Rollenporträts im Allgemeinen und der Tableaux Vivants des 18. Jh.15 im Besonderen als ein oszillierendes Hybrid-Phänomen zwischen Theater/Performance, Fotografie/Film und Malerei ansiedelt, das mit diesen intermedialen Bezügen ein durchaus visuell kundiges und an bestimmten Bildtraditionen wie -medien geschultes Publikum adressiert. Dies mag einleuchten, indem die innovativen HD-Videoporträts von Wilson einerseits die Grenzen der klassischen Medien, Gattungen und Genres überschreiten und effektvoll durchkreuzen und andererseits mit Attitüden, Posen, minimalen Mimiken und dramatischen Mikrogesten der theatralisch in Szene Gesetzten, und im doppelten Wortsinne Beleuchteten, anspielungsreich und referenzvoll angefüllt sind. Sie sind darin als nahezu bewegungslos lebendige Bildnisse mit sub-narrativen Minimalhandlungen zu verstehen, die zwischen Bewegtheit und Unbewegtheit für den Betrachter spannungsvoll in der temporären Schwebe gehalten werden. Handelnder Akteur ist oftmals nur die gesetzte Lichtregie, die sich im Verlauf der Zeit im Bühnenraum subtil verändert. Vertont werden diese paraphrasierenden Tableaux Vivants zudem mit von Robert Wilson selbst oder von anderen Personen gesprochenen Texten, Echtaufnahmen und Musik bedeutender klassischer wie zeitgenössischer Komponisten (u.a. Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Raymond Scott, Tom Waits oder Michael Galasso). 14 Wilson, Video 15
Ebd., S.122.
Portraits, a.a.O., S.118-159.
ROBERT WILSON’S SCENOGRAPHIC HD-VIDEO-PORTRAITS
Neben der besonderen „Anverwandlung und Weiterentwicklung der Tableaux Vivants“ sieht Peter Weibel darüber hinaus in Wilsons konzeptionellen Aktualisierungen und virtuosen Umschreibungen der Porträtfunktionen die Reflexionen und Theorien von modernen Denkern wie Diderot16 als direkte Verbindungslinie zu ihrem interpretativen Verständnis: Diderots Charakterisierung eines guten malerischen Porträts beruht daher nicht auf dem Verdienst der Ähnlichkeit, sondern dem der Komposition und der Handlung (...) dass gute Porträtmaler auch gute Historien- und Landschaftsmaler sind (...) Da Wilson in seine Porträts minimale Handlungen einbaut, inszeniert er in der Logik von Diderot seine Porträts wie Historienbilder, Landschaftsmalerei und Stilleben (sic!).17
Der bewusst effektvolle Einsatz der neuen HD-Videotechnologie begründet sich bei Robert Wilson daher auch nicht im Dienste eines effektiven Mittels der reinen Animation, Wirklichkeitssimulation und Illusionsproduktion und damit eines relativ naiven Porträtverständnisses. Er versteht sich des Weiteren auch nicht als bloßer modischer Special Effect, sondern vielmehr gerade als ein wirkungsvolles Instrument der konzeptionellen Künstlichkeit und des wirkungsvollen kompositorischen Inszenierens. Und damit als ein technisches Analogon der ebenfalls stets Bilder konstruierenden, produzierenden und projektierenden Imagination des Betrachters, der auch für die Interpretation des Geschauten letztlich die ganze Verantwortung trägt. Der Szenograf Robert Wilson nutzt somit die frappierende HD-Videotechnologie mit ihrer hyperrealistischen Abbildungsfähigkeit, d.h. ihre perfide technische, hoch simulatorische Grundeigenschaft in mimetisch-abbildender Hinsicht, um schließlich einem höchst artifiziellen und strategisch inszenierten, oftmals gar nahezu surrealen Arrangement zu einem visuell einnehmenden Schein von Lebendigkeit und Wirklichkeit zu verhelfen, ohne dabei nicht einmal ein Spiel formalästhetischer Referenzen oder intermedialer Bezüge in den Werken auslassen zu müssen. Aber nur wenn der Fetisch der Ähnlichkeit und Lebendigkeit, im Grunde der mimetischen Übereinstimmung mit der Realität und der wahrhaftigen Lebensnähe, im Bildnis wie bereits in der klassischen modernen Kunst perfide dekonstruiert wird, können nach Peter Weibel, Hegel zitierend18 und Wilson interpretierend, dann auch Werke entstehen, von denen man behaupten mag, das darin porträtierte Individuum ist dem Individuum ähnlicher als das wirkliche Individuum selbst (...) Wilsons Porträts folgen also durch ihre Inszenierung Hegels Phänomenologie des Geistes, indem sie nicht die Gesichtszüge, sondern die Seinszüge, die Besonderheiten und Charakteristiken 16
Denis Diderot: Das Paradox des Porträtmalers (1767). Portraits, a.a.O., S.126. 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das Dasein des Menschen ist sein Schädelknochen“ (1835). 17 Wilson, Video
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der Individuen zum Ausdruck bringen. Wilsons Porträts überwinden die ‚Zeichnung der Natur‘ und suchen nach dem ‚Ausdruck des Inneren‘, nach der ‚wirklichen Seele‘, nach den ‚geistreichen‘ Gesichtszügen.19
Gattungs- und Genregrenzen überschreitend und klassische Hierarchien durchkreuzend wie perfide umkehrend20, bilden die szenografischen Videoporträts demnach auch erstaunliche neue Mischformen aus Traditionen und Elementen der Malerei, der Bühne, der Fotografie und des Films bzw. der zeitgenössischen Performance- und Videokunst. Zuvorderst simuliert Robert Wilson demnach nicht nur in seinen szenografierten Videoporträts Wirklichkeitsnähe, er inszeniert und fiktionalisiert in höchstem Maße für einen Moment der symbolischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit, der interpretativen Hervorbringung und Vermittlung von individueller Persönlichkeit in einem einzigen angehaltenen szenischen Akt. Szenografie ist hier interpretatorische Charakterisierung. Sie liefert Bildnisse, die – frei nach Benjamin – eine codierte Ähnlichkeit aufweisen. Die tiefe Wahrheit liegt dabei im performativen Akt eines symbolischen Staging verborgen. Gleichwohl scheinen die Porträtierten uns aber auch sehr lebendig gegenwärtig, indem sie gleichzeitig vor uns schauspielern und performen, und wir als Schauende diesem theatralischen Spiel gerne auch glauben wollen. Darin ergibt sich hiermit gleichzeitig eine entscheidende Parallele zur (re-)inszenierenden Fotografie, in der am Ende eben alles konstruiert und fabriziert ist zu einem letztlichen Fotografiert-, Betrachtet- und Interpretiert-Werden. DARGESTELLTE UND DARSTELLER
Als wahrer Autorenszenograf wählt Robert Wilson seit Jahren daher auch auffallend viele Schauspieler (Brad Pitt, Johnny Depp, Isabella Rossellini, Jeanne Moreau, Salma Hayek, Sean Penn, Robert Downey jr., Winona Ryder u.a.m.) als Protagonisten für die Produktion seiner HD-Videoporträts aus. Denn fast im tautologischen Sinne sind diese einerseits schließlich wohl am besten dazu prädestiniert, Stage Personas zu repräsentieren. Andererseits demonstriert die Wiederholung und Wiederaufführung bekannter tradierter Bildformeln effektvoll erst ihren inhärenten theatralischen Inszenierungs- und hohen Aufführungsgrad. Die Schauspieler führen im Theater der Kunst- und Kulturgeschichte für ihr Publikum ein bereits bekanntes Stück wieder auf, in dem sie nun aktuell darin der Star sind. Aber abgesehen davon, dass auch heute immer noch Schauspieler die gefeierten Prominenten 19 Wilson, Video 20
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und angebeteten Medienstars der Zeit darstellen und global die Celebrity Culture demokratischer Gesellschaften der Gegenwart aufstellen, verweisen sie indes als zeitgenössischer Typus noch wirkungsvoll darauf, dass heutigentags alle Subjekte scheinbar nur noch als Schauspieler des eigenen Lebens verfasst sind. Im Zeitalter der Globalisierung mit ihren durch Hybridisierungen und Transgressionen hervorgerufenen Identitäts- und Repräsentationskrisen gilt nämlich keine Identität und kein Image mehr als sicher, ursprünglich oder einzigartig. Identität als Selbstinszenierung wird vielmehr als ein Kompositstück unterschiedlichster vorgefertigter (sozialer) Rollen definiert, in die es flexibel zu schlüpfen und diese dann nach bestem Wirken und Können zu performen gilt. Das Selbst entstammt demnach einem illusionären wie theatralen Spiel. Es ist somit auch nur mehr als konsequent, dass Wilsons Porträts die Dargestellten gerade als Darsteller in den Blick fassen. Indem sie im Bild ganz der theatralischen Inszenierung mit symbolischer Charakterisierung unterworfen werden, gewinnen sie anschaulich auch Stellvertretercharakter, werden zu wahren Role Models in einer Gesellschaft, die heute von Inszenierungen und Performanz global durchdrungen ist. Sarkastisch gesehen, repräsentieren sie darin moderne Tugendporträts – denn wer heute am besten spielt und performt, gewinnt! Das (re-)inszenierende Porträt lässt sich sodann als eine kurze SpotlightSzene in einem Akt des gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart verstehen: „Wir alle spielen Theater“, diagnostizierte schließlich schon Erving Goffman für die Conditio humana der westlichen modernen Gesellschaft vor einigen Jahrzehnten. „Jedes Selbst ist Nachahmung, Inszenierung, Simulation, Fiktion, Künstlichkeit. Auch beim Betrachter geht es darum, sich selbst darzustellen; es geht darum, im Leben die Täuschung so zu maximieren, dass sie wie echt wirkt“, ergänzt und behauptet auch Peter Weibel.21 Das aktuelle allgemeine selbstinszenierende Self-fashioning in der Gesellschaft, das Weibel an dieser Stelle in die Diskussion der Video Portraits mit einbringt, liefert bei Robert Wilson in affirmativer Weise unaufhaltsam weitere ‚imagined identities‘. Denn die forcierte Sorge um die öffentliche Selbstdarstellung in einem aktuellen Zeitalter des optischen Self Design, InScene-Your-Life und Ego Branding verführt die Menschen heute immer mehr dazu, sich bis in travestiehafte wie maskerade Weise nach eigenem privatistischen Geschmack und modischer Willkür nach vorgefundenen und sodann gesampelten Vorbildern optisch neu zu entwerfen und möglichst auffallend zu inszenieren – auch das mag schließlich der Betrachter bei Wilson aus dem von Duchamps ‚Rrose Sélavy‘ (1912) für das Johnny-Depp-Video-Portrait zitierten und re-inszenierten Gender-Swapping und Cross-Dressing im Endeffekt herauslesen und mitnehmen. 21
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Mit der demonstrativen Re-Inszenierung, der Inszenierung der Inszenierung, einem Staging the Stage, ist bei schließlich Wilson eine erhellende Meta-Ebene des weitläufigen Inszenierens in unserer Kultur am Beispiel der Porträtgattung erreicht. Dies bringt in den Wilsonschen Videoporträts nun eine ganz neue Bedeutung, Sinn und Wahrheit in Bezug auf die darin Porträtieren hervor, die jenseits realistischer individueller Wiedergabe eher allgemeingültiger gesellschaftlicher Natur und kulturwissenschaftlicher Erkenntnis sind. Identität als Selbstinszenierung wird in den Video Portraits letztlich als eine Kondition zwischen Rolle und Akteur definiert. Die Videoporträts der dargestellten Persönlichkeiten sind schließlich auch effektvolle hybride Synthesen aus jeweils biografisch-individuellen Details und überindividuellen kulturellen Bezügen: Die Wandelbarkeit Johnny Depps als Schauspieler stellt er [Robert Wilson, d.A.] auch in seinem Videoporträt unter Beweis, in dem er eine der berühmtesten Travestien der Kunstgeschichte paraphrasiert [...] In vielen Rollen hatte er selbst bereits weibliche bzw. Transgender-Rollen übernommen und überträgt die Verwandlung eines Mannes in eine Frau in diesem Videoporträt in ihrer Rückverwandlung auf eine Metaebene. Obschon, oder gerade weil Johnny Depp eindeutig als Mann erkennbar ist, unterstreicht der pinkfarbene Hintergrund die weibliche Komponente des Werks. Für Robert Wilson ist dieses Porträt symbolisch bedeutsam für den Seelenzustand des Schauspielers.22
IM RECHTEN LICHT PORTRÄTIERT
Von diesem erweiterten kulturgeschichtlichen und medientheoretischen Standpunkt aus betrachtet, erschließen sich Robert Wilsons technologisch wie inszenatorisch beeindruckende HD-Videoporträts tiefer als allein mit konventionellen kunsthistorischen oder bildwissenschaftlichen Methodiken. So kommt auch Nicola Suthor in ihrem Beitrag ‚Role Models‘ 23, der in den Wilsonschen „Rollenporträts“ vorrangig auf die Suche nach kunstgeschichtlichen Vorbildern, Zitaten und Paraphrasen geht, nur zu Allgemeinplätzen wie „Wilsons Porträts gehen auf vielschichtige Weise mit der Kunstgeschichte um und schöpfen aus ihr als Bildlager. In manchen Fällen arbeitet Wilson mit geringer Differenz zum Vorbild; so entstehen Tableaux Vivants, die ein altes Stück mit moderner Technik wiederaufführen.“24 Obgleich darin auch der besondere, effektvoll zitierende Aufführungscharakter, das Wilsonsche Staging, treffend herausgestrichen wird, bleibt die Analyse in den meisten Besprechungen zu den Video Portraits, wie auch hier bei Suthor geschehen, oftmals leider stark auf deren Visualität respek22
Zitiert aus der offiziellen Presse-Mitteilung des Museums der Moderne Salzburg anlässlich der Ausstellungseröffnung „Robert Wilson. Video Portraits“ (16. Juli – 16. Oktober 2011), im Internet unter http://www.museumdermoderne.at/de/presse/pressepakete/. 23 Wilson, Video Portraits, a.a.O., S.160-173. 24 Ebd., S.164.
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tive Ikonizität oder Bild-Raum-Relation fokussiert. Andere, nicht-visuelle integrale Komponenten dieser Mixed-Media-Arbeiten wie etwa das Sound Design, die dramaturgisch relevante Lichtregie oder der Umgang mit Zeit und Bewegung im Bildraum werden dagegen relativ häufig vernachlässigt. Szenologische Methoden der Analyse und Kritik wären daher in diesem Zusammenhang wohl auch hier dienlicher und eindeutig im Vorteil gewesen, da sie die Gesamtheit der szenografischen Mittel einer performativen Inszenierung bereits viel besser wissenschaftlich zu erfassen und zu diskutieren wissen. Denn szenografisch gesehen, orchestriert Robert Wilson auch in seinen avancierten HD-Videoporträts, die man durchaus auch als ein originelles, aktuelles Character Design ansprechen darf, verschiedene Disziplinen gleichberechtigt und gleichwertig zu einem hybriden Gesamtkunstwerk, das als systemische Einheit alle Sinne der Betrachter effektvoll adressiert, emotional affiziert und reflexiv involviert. Wenn auch auf der Bühne wie in den Bildwerken von Robert Wilson gerade das – auch für die Porträtkunst wesentliche – Licht im Raum in gewisser Weise immer als handelndes non-personales Moment prominent in den Vordergrund tritt und dabei den im Videobild porträtierten Protagonisten, pointiert formuliert, formal zum Statisten degradiert, wie der Regisseur selbst immer wieder hervorhebt: Light is the most important element in theatre. It helps you to hear and see better, which are the primary ways of how we communicate with one another: Through the eyes and ears. In my work, light is like an actor. It is an active participant. I can light a glass of milk and turn out all the lights on stage and speak, and the audience will visually focus on the glass of milk. In that way, it is like an actor. Light in my work is architectural, structural. I paint with light. I start with the space and light first. It is not something that is done two weeks before a premiere. Without light, there is no space.25
In der Gesamtheit der synthetischen Homogenität und enthierarchisierten Gleichgültigkeit ihrer heterogenen Gestaltungsdisziplinen stören jedoch, und das wäre die eigentliche effektvolle Pointe, die in den szenografierten HDVideoporträts von Robert Wilson mitunter kontrapunktisch eingesetzten und miteinander kombinierten kreativen Disziplinen sich immer wieder gegenseitig bei der Illusionsbildung auf äußerst produktive Weise. In diesem Sinne muss man wohl Robert Wilson am Ende doch widersprechen; es geht bei ihm eben doch nicht nur allein um den (Einzel-)Effekt – vielmehr: The effect is only partly the message! Umfassend szenografisch zu denken, zu entwerfen und zu arbeiten, heißt dann folgerichtig allerdings auch, dass Robert Wilson seine HD-Videoporträts in vielfältiger Kooperation und Kollaboration mit verschiedenen Teams 25 Statement von Robert Wilson auf dem 2nd International Scenographers’ Festival IN3 in Basel 2008,
im Internet unter http://www.in3.ch/de/2008/referenten-performance/.
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aus unterschiedlichen Experten und Spezialisten der gegenwärtigen ‚Creative Industries‘ gemeinschaftlich entwickelt. Um den Entstehungsprozess dieser Videos korrekt zu beurteilen, muss man sich zunächst vom romantischen Ideal des Künstlers lösen, der seine Werke in einsamer Inspiration erschafft. Wilsons Produktionsweise gleicht vielmehr der Arbeit eines Renaissancemeisters, in dessen Werkstatt sich Dutzende emsige Gehilfen und einflussreiche Mäzene tummeln. Dieser Hintergrund gehört genauso zur Substanz der Werke wie die glamourösen Modelle, er verbindet den kühlen Look der Porträts mit den kulturellen Strömungen, die sie reflektieren,
betont daher auch Ali Hossaini26, der wie Noah Khoshbin und Matthew Shattuck27 – u.a. als Inspiratoren, Ideengeber, Unterstützer, Mitwirkende, Vermittler, Kuratoren, Manager oder Produzenten des ambitionierten Wilsonschen HDVideoprojektes – im Katalogbuch mit interessanten, nicht nur technischen oder organisatorischen Hintergrundinformationen einmal hier etwas ausführlicher zu Wort kommen darf. Diese vorwiegend technischen Erläuterungen bereichern die umfassende Diskussion der HD-Videoporträts um eine weitere wichtige Facette und runden auch als kollektive Begleitkommentare zum teilweise kommerziellen Werkprojekt und dessen komplexer Entstehungsgeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven heraus gesehen die Betrachtung für die Leser und Betrachter ab. Schließlich ist die Rolle der an diesem Projekt Beteiligten (...) vergleichbar mit der Mitarbeit an einer Film- oder Theaterproduktion, wo es auf eine Vielfalt spezieller Fähigkeiten ankommt: Dramaturgie, Kamera, Musik, Szenenbild, Schnitt, Make-up – all diese Faktoren spielen eine Rolle.28
Die vielzitierte künstlerisch-gestalterische Autorschaft und der gefeierte, wiedererkennbare Personalstil von ‚Robert Wilson‘ muss damit, einmal überspitzt formuliert, eigentlich als eine stilistische Corporate Identity, als eine Marke oder gar als geschicktes Branding verstanden werden. Zudem konvergieren in Wilsons Bildnissen produktiv und innovativ die darstellenden und ausstellenden mit den aufführenden und performativen Künsten, d.h. die temporären mit den dauerhaften, das Tafelbild mit dem Film, die Präsentation mit der Narration: Wilsons Inszenierungen und Theaterarbeiten sind daher für Noah Khoshbin, den genannten künstlerischen Co-Director der Wilsonschen HD-Videoporträts, wie Videos, und seine Videos sind wie Theaterarbeiten. Im Hinblick auf Beleuchtung, Farbe, Kostüme, Rhythmus, Arrangement, Schauspiel, Textkonstruktion, Ton und Musik 26 Wilson, Video
Portraits, a.a.O., S.174-185. Ebd., S.186-201. 28 Ebd., S.188. 27
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werden beide auf höchstem Niveau realisiert. Im Gegensatz zum traditionellen Theater, wo ein Element oft nur als Stütze für ein anderes dient (so, wie etwa das Bühnenbild den Text unterstützt), erhalten bei Wilson alle Schichten dieselbe Beachtung und Bedeutung. Es gibt keine Hierarchie. Die Beziehung zwischen den Schichten, ihr Zusammenspiel, ist alles andere als zufällig. Sie ist durchkonstruiert und wird zur Architektur, die das Werk trägt. Das gilt auch für die Video Portraits.29
Seine ersten Videoporträts von bedeutenden Persönlichkeiten wie Louis Aragon, Pontus Hultén, Helene Rochas, von Passanten und Tieren schuf Robert Wilson bereits in den siebziger Jahren. Als weiteres Schlüsselwerk für die Konzeption und das Verständnis der hier diskutierten offenen Reihe von Wilsons HD-Videoporträts muss m.E. aber auch noch eine im Katalog nicht erwähnte Kunst-Installation des erfolgreichen Szenografen angeführt werden, für die er 1993 in Venedig den Goldenen Löwen der Kunst-Biennale erhielt. Denn wie bereits in der Rauminstallation „Memory/Loss“ entwickeln sich Wilsons zeitbasierte HD-Videoporträts oftmals jeweils aus einem einzigen szenischen Bild heraus, das auch ein (vor)gefundenes, geträumtes, imaginiertes oder erzähltes sein kann. (Abb.5)
Abb.5
Für das Scenic Design in Venedig war beispielsweise ein persönlicher Brief Heiner Müllers an Robert Wilson initial für einen letztlich beeindruckend visionären Bildentwurf: […] ein Text von Tschinghis Aitmatov, der eine mongolische Tortur beschreibt, mit der Gefangene zu Sklaven gemacht wurden, Werkzeugen ohne Gedächtnis. Die Technologie war einfach: Dem Gefangenen, der zum Überleben verurteilt und nicht für den Sklaven29
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export, sondern für den Eigenbedarf der Eroberer bestimmt war, wurde der Kopf kahlgeschoren und ein Helm aus der Halshaut eines frisch geschlachteten Kamels aufgesetzt. An Armen und Beinen gefesselt, den Hals im Block, damit er den Kopf nicht bewegen konnte, und in der Steppe der Sonne ausgesetzt, die den Helm austrocknete und um seinen Kopf zusammenzog, so dass die nachwachsenden Haare in die Kopfhaut einwuchsen, verlor er in fünf Tagen, wenn er sie überlebte, unter Qualen sein Gedächtnis und war nach dieser Operation eine störfreie Arbeitskraft, ein Mankurt. Keine Revolution ohne Gedächtnis.30
So gibt es auch bei Robert Wilson, insgesamt gesehen, keine avantgardistisch-technologische Revolution der Bildniskunst ohne eine direkte Auseinandersetzung mit den klassischen Formaten und Medien, Bildformeln, Ikonographien und Codes der kulturellen Tradition. Es entstehen dabei vielmehr technisch frappierend animierte Bildnisse mit einem fantasievoll beeindruckenden Character Design, „zwischen chaplinesk und kafkaesk, aber immer ‚absolutely Wilson‘“ (so auch Peter Weibel). Konnte also Andy Warhol noch im vergangenen Jahrhundert mit seiner Porträtkunst der Pop-Art-Ära kokettieren, „If you want to know all about Andy Warhol, just look at the surface of my paintings and films and me, and there I am. There‘s nothing behind it“, beweisen die szenografischen Video Portraits von Robert Wilson, dass man sich von ihrem ebenfalls hoch ästhetisierten Styling und den technischen Effekten dagegen nicht ganz beirren lassen sollte, denn da steckt in der Tat dann doch noch etwas Überraschendes hinter ihrer glatten, glamourösen und hyperrealen Oberfläche subtil und effektvoll für den Betrachter verborgen: Robert Wilson zeigt uns, nicht mehr und nicht weniger, es gibt doch ein richtiges Leben im künstlichen! Und um Persönlichkeit und Individualität medial erfahrbar und wirksam zu machen, bedarf es am Ende immer der geschickten szenografischen Inszenierungseffekte und darin wirkungsvoll kontrollierten Affektmodulationen.
30 Franco Quadri, Fanco Bertoni, Robert Stearns: Robert Wilson. Stuttgart 1997, S.227-228. Original: Brief von Heiner Müller an Robert Wilson, 23. Februar 1987, Beilage zum Programm von Death Destruction & Detroit II, Schaubühne am Leniner Platz, Premiere 27. Februar 1987, unpaginiert.
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THEATRICAL EFFECTS.
Theatrical effects often fail to command serious attitude. They are often regarded as a sort of seasoning to the main course, a concession to the spectator’s taste, and, as often as not, they are referred to as ‚additional‘ or ‚cheap‘. However, it is precisely the external visual effects that determine the style of the performance and the changing theater fashions and, most importantly, they determine the way of interaction between the spectators and the stage as well as the nature of mutual understanding between them. What is a theatrical effect? This notion, not particularly precise, usually implies a certain sum of devices or methods not always connected with the text of the play. The development of the European theater has been linked to verbal culture ever since the Renaissance. However, the theater has also been a visual art for centuries. The correlation of verbal and visual elements determines the theater’s artistic style in general and each concrete performance, in particular. The degree of closeness to reality and the means used to depict it marked the change of epochs in the existence of the theater. Beginning in the 20th century, the tendency of literal depiction of surrounding world and of means used to analyze it became a dominant one. In other words, the theater was becoming increasingly rational while the emotional side was disappearing from the practice of Drama Theater. Emotionality that includes the suddenness of theatrical effects remains an inalienable part of theatrical show and, at times, exerts influence on its popularity. The theater does become a keenly interesting show, precisely when it uses visual effects and not only discusses topical everyday problems. What is difference in principle between the artificial horse made in theater shops on which Don Quixote makes his entry to the ballet stage in the ballet by Ludwig (Leon) Minkus and the real horse Manrico rides on the stage in Il Trovatore by Giuseppe Verdi, stage in Arena di Verona by Franco Zeffirelli (2004)? Neither the former nor the latter exert any influence on the plot, or on the actors. Perhaps, the use of a real, live horse is not only the matter of the director’s taste, but also a function of the place, where the performance is staged, of the hall and the number of spectators? Perhaps an open space filled with 15.000 spectators requires tangible effects while the closed space of a regular theater building requires dummies? What role does the gigantic Christmas tree
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play in The Nutcracker ballet by Piotr Tchaikovsky staged by the Bolshoi Theater in Moscow or the enormously big chandelier flying up toward the ceiling in the London performance of The Phantom of the Opera by Anrew Lloyd Webber (1986)?. Numerous examples could be cited, but all these effects pursue one simple and concrete goal: The creation of the atmosphere of show, of a theatrical magic, and of suddenness that transfers the spectator’s perception from the atmosphere of his daily life into that of a new theatrical reality that exists in accordance with its own, special laws. It is a known fact, that Konstantin Stanislavsky was proud of his discovery of the possibility of black velvet that made it possible to change the visual depth of the stage in the performance of the play L’Oiseau Bleu (The Blue Bird) by Maurice Maeterlink (1908), no less than he was by his psychological analysis of Anton Checkov’s plays. A separate chapter entitle ‚Black Velvet‘ in his book My life in Art can testify to the aforesaid, although he observed in this chapter that repeated use of this means may turn a ‚serious‘ theater into ‚revue‘.1 But revue is also theater, only one that does not require any illusion of reality, but, on the contrary, stresses its own theatrical origin. Max Reinhardt in Midsummer night dream by Shakespeare (1905) turned a technical device – revolving stage – into an artistic means, that created the picture of real forest, and he stunned the spectators as they entered the hall not only by a very realistic visual picture. He also strengthened the impression by the fragrance of the woods filling the hall. In other words, he tried to transfer the spectators to a different theatrical reality by influencing their eyesight, hearing, and even the sense of smell. The theater, however, is a visual performance, and everything that is connected with visual culture has always been its important component. Each theater epoch used to invent its own types of effects, trying to stagger the spectators by an illusion of authenticity, or by depicting fantastic flights in the skies, the scenes of sinking to the inferno, the sights of volcano eruptions and waterfalls, by way of using elements of color and light. Given all the diversity of the inventiveness of scene designers and engineers, all visual effects can be divided into two main types. The first includes the effects calculated to create an illusory space; the second is based on the use of genuine materials, such as water, fire, sand, etc., that can create an authentic habitat for the personages. The first type is calculated to engage the spectators’ fantasy; the second leans on their personal everyday experience. The first is based on a two-dimensional image and fixed seats in the hall for the spectators; the second envisages a three-dimensional image and is based on tactile perception and the free movement of the spectators around the stage. 1
Konstantin Stanislavsky: My life in Art. 1972, Moscow, p.360.
THEATRICAL EFFECTS
THE FIRST TYPE
The specific features and peculiarities of theatrical effects were not only an internal undertaking by the theater itself; they reflected both the scene-spectator relationship and the social hierarchy. The transfer to the 16th century Theater of the linear perspective was an artistic reflection of the internal centralization of society when all kinds of art were subordinated to the taste of a single person – the monarch. The picturesque illusory scenery that emerged at the courts of Italian aristocrats reached its apex at the court of Louis XIV. Still earlier, at the time of Louis XIII., members of the royal family had their seats at a certain distance from the stage during dramatic performances in Louvre or in Cardinal Richelieu’s palace. The rest of the public stood behind the royal family or at both sides of it and thus could only see an incomplete, if not a distorted picture of what was going on the stage. This type of theater that performed at royal courts brought about a total change in the correlation of elements of the theatrical performance in general. The changes began with the staging of rewritten plays by playwrights of antiquity and with using the plots described by Plutarch and Tacitus for theater productions. This brought about a reconstruction of the relationship between the spaces of the stage and the spectators’ hall. There was no fixed borderline between the stage and the spectators in the 16th and early 17th centuries. A large hall in the palace was usually divided into two parts, and the space intended for the spectators was small. However, even during these first performances at royal courts, each spectator already had a fixed seat and, therefore, could view the stage at a certain angle of vision. The necessity of an artistic interpretation of the playing space called forth the ideas of Sebastiano Serlio who published three versions of stage scenery – for tragedy, comedy, and pastoral – in his book entitled The Second Book of Architecture (1545).2 All three versions were based on the same principle of linear perspective that was most widely used in Italian painting of the 15th and 16th centuries. This was the inception of the theater scenery or, in other words, the artistic image of the imaginary scene where the dramatic action took place. The search for new ways of creating the scenic illusion became, since the mid-16th and up to mid-19th century, the main care of the stage designer. The stage box now contained whole cities and palaces, a stormy sea with a running ship, the floods and the earthquakes. Stage characters were free from the forces of gravity; they could fly in the skies, dive into the deep sea, or fall down into the inferno. The elucidated spectator had to be staggered just in the same way as his not very literate ancestor. But this had to be done by the use of artis2 Sebastiano Serlio (1475-1554), Italian painter and architect. Serlio described and illustrated three basic permanent sets: the tragic, the comic, and the satiric (pastoral).
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tic technology and refined engineering inventions instead of by the use of real materials. The stage picture was directed to the spectator’s fantasy and not to his everyday experience. In addition to stage designers, theater engineers and experts in pyrotechnics were employed to do the work. The stage grew in volume, and the need for auxiliary spaces appeared, such as a basement beneath the stage and usable space both above the stage and at its sides. The stage in the form of a box containing the ideal place of action – a palace, a house, a city street – was the embodiment of an ideal, artificially created milieu, and this refined beauty based on equilibrium, on the harmony of architectural forms, exerted serious influence on the style of the actors’ performance manner and brought forth a high-flown, recitation-type style of acting. The actors’ costumes served to express the aesthetic ideals of the period during which the play was staged, but not of the historic period reflected in the play. The actor recited poetry on behalf of his character and became the playwright’s tool for expressing his ideas. The actors took their places on the proscenium on both sides of the protagonist while the entire remaining space of the stage, all its depth and height, remained at the stage designer’s disposal. This type of dramatic performance that had been born in palaces became a paragon for imitation by the public theaters that were built in all large European cities throughout the 18th and the first half of the 19th centuries. Stage designers from all over Europe worked at staging the plays to be performed, but the first place unquestionably belonged to stage designers of the Italian school. The popularity of the types of stage scenery created on the basis of the architectural fantasies of stage designers who built fantastic palaces and parks on the stage and enlarged the illusory space of the stage to unimaginable lengths, finally brought about the establishment in Italy of the first stage designers’ school that was founded by the Bibiena family.3 The student artists drew and painted sketches and outlines for staging imaginary plays and created a virtual world that was amazing in its beauty and refined harmony. It was not a mere chance that the school’s graduates traveled to numerous European capitals bringing with them the achievements of the perspective scenery construction developed during their study period. Composers and playwrights wrote their musical works and plays where the action could take place in the heavens or in the open sea, in a dark dungeon or in a fantastic palace. Visual effects were becoming an important and inseparable part of the performance, especially in the performance of musical productions when ballets and operas were staged. It is known that famous French stage designer Pierre Luc Charles Ciceri4 tested new visual effects on the stages of small Paris theaters in order to develop 3 Bibiena, a family of scenic artist and architects, whose works, in pure baroque style, is found all over
Europe, and their influence was very strong during the 17th and 18th centuries. Pierre Luc Charles Ciceri (1782-1868), French artist and stage designer.
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them further a later date and transfer them onto the stage of Grand Opera. The scenes of a monastery at night in the opera Robert le diable by Giacomo Meyerbeer (1831), which included the picture the moon rising in front of spectator’s eyes earned a storm of applause not inferior to the one that fell to the lot of singers and dancers. Technologically produced effects have become an important part of visual image in musical performances while the drama has been increasingly focusing on dialogue. The educational and didactic role of the drama theater has been growing in parallel with the strengthening of the emotional, showy side of the musical theater. Thus, dividing their social functions, the theatrical genres have also divided their artistic methods. The stage scenery in a musical theater depicts the place of action, and theatrical engineering develops the illusion and expands the limits of the image. Theatrical effects based on illusion can be divided into two subtypes: Imitation of reality and reaching beyond the limits of reality. The rising moon is imitation of real phenomenon by fairy primitive means. The actor’s flights, or the appearance of Mephistopheles from a stage floor opening in clouds of smoke is tangible embodiment of phenomena that are beyond the realm of reality. However, both versions are calculated to impact the spectator’s imagination and his preparedness for and even his expectation of such effects. Preliminary knowledge of the ‚type of show‘ plays a most important role in the perception of performance. The staging of operas and ballets in 18th and 19th centuries included such ‚preliminary knowledge‘ in the form of expectation of new visual effects and theatrical tricks that amazed the spectator’s imagination. This requirement to diversify the space of performance, in its turn, had an impact on the size of the theater buildings and demanded enlargement of space above and under the stage and the size of the side wings, and results in the formation of most widely accepted type of a theater building. THE SECOND TYPE
In the medieval theater intended for all strata of the society, the general picture was more democratic from the outset. It was possible to receive a maximum of impression from all points, and the effects used were linked to the authenticity of the materials and not to a picturesque illusion. Massive use of visual scenic effects began in the middle Ages when dramatic performances were meant to add a persuasive force to the verbal description of an event. During the festive liturgy at Christmas or Easter, a curtain opened in the altar and a vivid picture appeared: St. Mary carrying Jesus and surrounded by the Magi appeared during the Christmas liturgy. However, during the Easter
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liturgy, a different picture appeared: it showed three women named Mary who saw Jesus after his resurrection. In fact, this was the use of theatrical effects in church. Of particular importance was the fact that, in the 12th and 13th centuries, when these theatrical elements became part of the liturgy, the service was conducted in Latin, a language that the majority of the praying congregation did not understand, so the visual impression was intended both as illustration to the text that was not comprehensible to all and as a tangible confirmation of the events themselves. As liturgical drama developed and emerged to areas beyond to walls of the church, the quantity of theatrical effects used in such performances grew. The development of such effects reached its peak in the performance of medieval mysteries. The theme of a mystery is the history of humanity as it is described in the Bible. However, the organizers used to introduce into their mysteries the depiction of events that took place much later, so the story could chronologically run up to the events of the 14th and 15th centuries. The performances were staged under the guidance of the church. Various episodes described in the Scriptures were divided between professional guilds and a staging plan was developed, including the construction of the stage in a city square, and then the routes for the movement of pageant carriages, that were to pass along all main streets, were outlined. Since the city’s entire population was divided into professional guilds, these performances were becoming all-city celebrations, and competition shaped up between various guilds. The plot was known, so the attention of both the performers and the spectators was focused of how each particular episode was shown or, in other words, on visual effects. The Biblical characters, historic events, the heavens and the inferno – everything was concentrated in the limited space of a city square and, therefore, the problem of scenic impression acquired greatest importance. Specific details and effects were chosen for each scene, and they had to be not only characteristic, but also impressive and memorable. Thus, to represent the scene of the Flood, a ship was needed, albeit a small one, and water was required, so a water pool was built. In the case the scene was to be performed on a moving carriage, water was sprinkled on the spectators, so that they should physically feel the Flood, not only hear the story being read. Fire effects accompanied, by all means, the scenes showing tortures suffered by the sinners in hell. A real bonfire was to confirm the sinners’ sufferings, and craftsmen smeared with soot, who played the role of devils, could even take the liberty of speaking to the spectators and using obscenities and indecent gestures. And in general, negative personages from the other world were allowed much more freedom than positive ones. This tradition was linked to the art of court fools, part of the rulers’ traditional entourage. Although only monks and young priests could play the roles of saints, all other characters could be played by rank-and-file members of the guilds.
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A special role was reserved to the saints who suffered for the sake of their faith. Representation of sufferings was an important part of any mystery and required special care on the part of the organizers. Beginning with Jesus’ walk carrying his cross along Via Dolorosa and until his death on the cross, the image of martyrdom was an important component in the depiction of saints. These sufferings were not only to be understood by the spectators, but also physically experienced by them. Therefore, bags containing animal blood were sewn up to the inside of the clothing of monks who played the roles of saints, so that blood could be sprinkled from the bags at the right moment to stain the spectators standing near the stage. The spectators stained with blood could even taste it to get convinced of the authenticity of the performance. In the case when the scenario envisaged the tortures of a saint, including cutting off parts of his body, the actor was replaced by a doll of the size of a human, and then all manipulations were performed on the doll. The necessity not only to see, but even to taste water or blood, to feel the heart of real fire brought these theatrical methods closer to the church Eucharist. The coded meaning of the word was becoming insufficient, and it became necessary to eat a piece of bread and drink a gulp of wine, and join, in this way, the sanctity of what was going on become cleaned of the sins through the feeling of taste. The methods and techniques that bring the theatrical performance close to a church service can be found in each stage of development of the theater, but these ties can be seen particularly well in the performance of mysteries that were to provide a visual embodiment of Biblical scenes. The task of theatrical effects consisted in such visible embodiment of the miracles described in the Scripture. Perhaps this is where we can find the source of all of theatrical miracles that development in the professional theater at later stage. Using natural materials was part of the ritual as well as repertition of and the same ritual from one year to another. We don’t know the names of the people, who created this spirit of rituality, but it was in this way that the following idea was born: Frequenting theater performances was in itself a ritual denoting the spectators belonging to a certain stratum of the public, to a privileged group. The spiritual unity, the spirit of belonging searched for by many theater reformers of the 20th century, beginning with Gordon Craig5 and up to Antonin Artaud6, were first created in the medieval theater by those means that were later referred to as theatrical effects. The expectation of theatrical miracle did not only become part of performance, but also had an impact on the motivation of theater-going by the spectator. 5 6
Gordon Craig (1872-1966), English director, stage designer and theorist. Antonin Artaud (1896-1948), French director, theorist and reformer of the theater.
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In essence, theatrical effects cultivated in the theater of 18th and 19th centuries revived this feeling of anticipation of miracle that was expressed not only in acting by the actors, in music, and in other elements of the theatrical performance, but first of all in the expectation of a new visual effect. The level and nature of perception by the spectators demanded absolute authenticity. The animals mentioned in the New Testament were real, and fire, earth, sand, and blood – everything was real and could be touched, smelled, or tasted. This is how primitive stage technology appeared and the corresponding mechanisms were developed. A gigantic fish with a mouth big enough for a human to get inside was to open and shut its jaws; the devils were to belch flames; and saints were to sing songs in the paradise garden. All this combination of ‚the horrible and the beautiful‘ was demonstrated simultaneously, leaving no room for imagination and creating only a tangible, directly perceived picture. The real nature of the materials evidenced the reality of the characters. A character could not function without a certain complex of external effects and additional materials. The remnants of this tradition can still be observed in the customs of carnival celebrations in various countries of Europe. The burning of a doll that represents an old woman of natural size symbolizes the parting with winter and the coming of spring in Italy. Making and eating round pancakes – the symbols of the sun – and baking and eating larks made of dough in Russia are also traditions that symbolize the coming of spring. All carnivals are accompanied with the ritual of eating certain dishes that symbolize the change of seasons or the historic events. All these activities – both the Christian mysteries and the pagan carnival rituals – are based on one and the same principle, that of the tangible depiction of action that creates the impression of participation in the event. There is another important detail: Both in the staging of mysteries and during carnivals the spectators have no fixed places and may they choose the point from which to view the performance. This is why no visual effects can be concentrated in one point only, they can be watched from different points precisely because of their material nature. THE THIRD MIXED TYPE
The appearance of naturalism as the literary and artistic current of the last third on the 19th century change the role of scenery in the stage design. The stage designer now created the illusion of reality by combining the artistic, painted scenery with real things and objects. Naturalism brought the illusion of authenticity to an absolute, photographic precision. The space of the
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stage was now equaled to the space of reality. The stage designer no longer needed his fantasy; he had to enlarge his knowledge about reality. Real objects, such as cupboards, tables, armchairs, or lamps, obtained an important role in the plays by Anton Chekhov and Henrik Ibsen and became vital features of the stage as elements of acting. Thus, instead of the effects that created the illusion of reality, reality itself appeared on the stage with all the details of everyday life. At the same time, ever since the inception of the naturalistic theater, the stage scenery imitated reality by combining two dimensional painting and three dimensional real objects. The impression of the authenticity of the picture visible on stage used to be supported by the croaking of frogs, the slamming of doors, the sound of rain, or noise coming from the street. According to Konstantin Stanislavky, the reproduction of reality necessary for staging Checkov’s plays became the stage designer’s task. However, this reality was created by the depiction of fragment instead of the whole. A corner of the room, or a fragment of the street, a bench or a summerhouse in the garden visible on the stage implied that the sight of this fragment would be further developed in the spectator’s imagination. When an artist painted on canvas the pictures of fantastic castles or palaces in the theater of the 17th and 18th centuries, these pictures depicted an entire world closed within it. They did not assume any literal correlation of the image with reality that existed beyond the walls of theater. The scenic picture of naturalistic theater must remind the spectator of what is already known and familiar to him and correlate the play’s characters with reality; the first step in this correlation is copying the realities of life on the stage. The assumption of the spectator’s preparedness, of his ability to complete and develop the visible scenic fragment became a condition of the stage designer’s work. The sign of spectator beyond the limits of reality was outside the frameworks of the interests of a serious drama theater, and then theatrical effects disappeared from its lexicon. This advancement of reality to the stage and the substitution of the fictitious, imaginary everyday life on the stage by life among real pieces of furniture and other real objects continued throughout the first two thirds of the 20th century. The development of technical devices only helped to stress the reality of the stage scene, enlarging its expressive capabilities, but, in essence, not changing its function in the performance. The experiments carried out by Erwin Piscator7, who introduced the elements of cinema into the theater performance, or even 7
Erwin Piscator (1893-1966), German director, who worked in Berlin during the 1920’s, where he devised a form of epic theater.
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the famous Laterna Magica by Josef Svoboda8 were calculated to be viewed by the spectator from a fixed point and were meant to create a scenic illusion. The technological innovations of Laterna Magica served to develop still further the process of brining the stage image closer to reality that began in the late 19th century. The first experiments shown in 1958 reproduced reality itself instead of imitating it. Even this technological innovation was perceived at first to be an affective trick, a new kind of theater, but, in essence, it took the artistic elements back to their traditional function – visual confirmation of the authenticity of the events. Theatrical illusions were now replaced by the filmed reality of movie, which became the documentary background for the actors. Changes began in the 1960’s when a new movement in the theater came to the forefront, a movement that was ideologically linked to the young people’s rebellions, such as the movement of the ‚angry young men‘ in Great Britain or the civil unrest in Paris in 1968 when the rebellion of the young French against the establishment found its expression in the devastation of theater buildings. The traditional theater as the quintessence of bourgeois culture became one of the rebels’ main targets. And then changes in the very organism of the theater began, touching upon the aspect under discussion in this paper, and they found their expression in the return to the expressive means used in the medieval mystery. The theater returned to the streets, performances began to be staged in abandoned industrial premises or in the city squares, the established borderline between the spectator and the actor disappeared, and this brought about, as a result, the return to the movement of the crowd of spectators around the stage when everyone could find the best observation angle he judged to be most suitable. The performances by semiprofessional or ‚fringe‘ theaters and drama groups forced renowned directors to turn to the search of new, non-habitual forms of existence for their productions. Thus, Peter Brook9 created his International Center of Theater Research in 1979. Then, at about the same time, Theatre du Soleil under the direction of Ariane Mnouchkine10 acquired worldwide renown when she demonstrated new opportunities of the old medieval stage. Mnouchkine’s theater never tried to conceal the artificiality of its very nature, on the contrary, it stressed its artificial character and, in essence, it revived the medieval forms of mystery. 8 Josef Svoboda (1920-2002), Czech scene designer. He is also well-known for his Laterna Magica, a review-type entertainment combining live action with projected images, which arose out of the work he did for the Brussels World Fair in 1958. 9 Peter Brook (born in 1925), one of the greatest English directors of the 20th century. Brook and Jean-Louis Barrault created the International Center of Theater Research in 1970. 10 Theatre du Soleil, French workers’ cooperative drama group formed in Paris in 1964. The group’s very famous production, L’Age d’or, was staged in abandoned Cartoucherie de Vincennes in 1975.
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Ariane Mnouchkine did not only use the method of the medieval atreet theater in her performances, she revived the principles of its functioning: Collective creative activity by all participants of the performance, the absence of any division of the entire available space into areas intended for the actors and those for the spectators, and the use of gigantic dolls present on the stage together with the actors. Simultaneous depiction of the events, the use of natural materials, the movement of the crowd of spectators that became a most important part of the very image created by the performance – all this determined the idea of the search for a new quality of existence of the theater, but it was, in essence, the return to the forms of medieval mystery. This types of theatrical effects used in the theater in the course of many centuries may serve as peculiar indicators of the processes taking place not only in art, but also in society as a whole. Changes in the type of relations between the stage and the audience, as well as changes in the artistic means used for creating visual illusions, are becoming the benchmarks of the deepest changes taking place in society and in social consciousness. Thus, visual effects have definite functions in connection with both social and aesthetic functions of the theater in society. They determine the nature of relations between the stage and the audience using previously formed stereotypes of perception of the performance. Visual effects create on the stage a theatrical reality that exist in accordance with its own, special laws even in the case, when the stage designer sets himself the task of the best possible depiction of this reality on the stage. Thus, the effects serve to confirm the authenticity of the events taking place on the stage and to overcome the technical imperfections of the stage during a certain historic period. The effects never disappear from the stage completely, and their use concentrates on performances of a certain genre in order to be later used in other theatrical genres.11
11 Der Text wurde zuerst auf hebräisch publiziert in: Drama. Quarterly ‚Bamah‘, Nr.158, Jerusalem 2000, S.5-16.
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THEATERSZENOGRAFIE, ‚PHÄNOMENOTECHNIK‘ UND DIE MULTIMODALITÄT RÄUMLICHEN WAHRNEHMENS. AM BEISPIEL VON GISÈLE VIENNES PROJEKT THIS IS HOW YOU WILL DISAPPEAR.
Das Theater, so schreibt der Phänomenologe Bernhard Waldenfels in seiner Studie Sinne und Künste im Wechselspiel, „zeichnet sich dadurch aus, dass es alle Sinne gleichzeitig anspricht“.1 Indem Theatervorgänge verschiedene Elemente (wie Sprache, schauspielerische Aktion, Raum, Bilder, Klänge) miteinander verbinden, treten sie als ästhetische Gebilde in Erscheinung, deren Mittel sich aufeinander beziehen oder sich aber, in der strategischen Störung, Verschiebung bzw. Brechung ihres Zusammenspiels, kontrastierend zueinander verhalten können. In dieser Weise spricht das Theater nicht nur das reflektierende Denken seiner Zuschauer an, sondern auch deren Leiblichkeit mit all ihren Sinnen: „Das Zusammenspiel, auch das Widerspiel der Sinne bildet in unserer gewöhnlichen Erfahrung keine Ausnahme, sondern die Regel. Dem Theater bleibt es jedoch vorbehalten, dieses Zusammenspiel eigens zu inszenieren, indem es Sichtbares hörbar, Hörbares sichtbar und beides fühlbar macht“.2 Insbesondere in Spielarten eines experimentellen zeitgenössischen Theaters, die die Wahrnehmungssituationen von Aufführungen ausloten, treten als ästhetische Artefakte in höchst unterschiedlicher Weise in Erscheinung, und auf Seiten des Publikums evoziert diese Arbeit an den Parametern des Theaters – spielerisch und in kalkulierter Weise zugleich – verschiedene ‚Arten von Wahrnehmung‘.3 ZUSAMMENSPIEL VS. WIDERSPIEL – SYNÄSTHESIEN, ÄSTHETISCHE BRÜCHE, INTERMEDIALITÄTSEFFEKTE: VORÜBERLEGUNGEN
Das Ausloten und immer wieder auch: das Reflektieren und Neukonfigurieren der ästhetischen Wahrnehmungssituation ist im Theater insbesondere eine Aufgabe der Szenografie. In diesem Sinne hat Patrice Pavis die Szenografie (in 1 Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt am
Main 2010, S.247. Ebd. 3 Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main 2003, „Arten der Wahrnehmung“, S.50-52. 2
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Abgrenzung vom Bühnenbild) als „Wissenschaft und Organisation der Bühne und des Bühnenraums“ definiert; in diesem Sinne spricht er auch vom szenografischen ‚Dispositiv‘.4 Zwar ist die Theaterszenografie, von ihren geschichtlichen Anfängen her betrachtet, zuallererst ein Bilderdiskurs,5 und am Beginn der Neuzeit wurde ‚scaenographia‘ sogar gleichbedeutend mit der perspektivischen Bilddarstellung und der Darbietung illusionärer Räume vermittels gemalter Kulissen.6 Konträr zu dieser Bedeutung wird Szenografie heute in einem anderen, sehr viel weiteren Sinne als gattungsübergreifender und inter- bzw. transdisziplinärer Diskurs verstanden,7 nämlich: als Raumkunst und ‚Dispositiv‘ bzw. als – auch das Publikum beteiligende, als Ko-Akteur einbeziehende – künstlerische Reflexion über das Gestalten, Erleben und Wahrnehmen von Räumen. Wegbereitend für ein solch neues, verändertes Verständnis von Szenografie setzte ihre Neubestimmung und (Selbst-)Reflexion in der Theatermoderne ein, und zwar als veritabler Ikonoklasmus. Insbesondere wegweisend wurden die Ansätze des Schweizer Theaterreformers Adolphe Appia, der am Beginn des vergangenen Jahrhunderts die traditionelle Kulissenbühne verwarf zugunsten seines szenographischen Konzepts der ‚rhythmischen Räume‘: Dieses Konzept zielte darauf ab, die Visualität der Bühne nicht als fixes, gerahmtes Bild, sondern als dynamisches, raumgreifendes Gebilde zu begreifen. Den Schlüssel dazu erkannte Appia in der Verkopplung von Musik, flexiblen Bühnenmodulen, schauspielerischer Aktion sowie einem innovativen Einsatz von elektrischem Licht, der, wie die Quellen belegen, in der ästhetischen Wirkung beim Publikum zu damals offenkundig neuartigen, synästhetischen Wahrnehmungserlebnissen führte.8 Inhärent war der Innovation der ‚rhythmischen Räume‘ (die im Szenografie-Diskurs als Paradig4 Patrice Pavis: Szenographie, in: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon 1: Begriffe
und Epochen, Bühnen und Ensembles. (5. überarb. Aufl.) Reinbek bei Hamburg 2007, S.969-271: S.969; s.a. ders.: Scénographie, in: ders.: Dictionnaire du Théâtre. Paris 1996, S.314-317. 5 Gemäß der ältesten Bedeutung bezeichnete man als ‚Szenographie‘ bekanntlich die Bemalung der Bühnenhausfront (‚Skene‘), die, neben Kostümen und Masken und integriert in die Gesamtanlage des ‚Theatron‘, das wichtigste visuelle Gestaltungselement des Theatervorgangs bildete; vgl. Christopher Balme: „Szenographie“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart, Weimar 2005, S.322-325. 6 Ebd. 7 Vgl. Thea Brejzek, Gesa Mueller von der Haegen, Lawrence Wallen: Szenografie, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt am Main 2009, S.370-385; Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Bielefeld 2009, Einleitung, S.9-43. 8 „Es war eine Vereinigung der Musik, des plastischen Sinns und des Lichts, wie ich sie nie zuvor erlebt habe, [...] die gemalten Leinwände, die Requisiten, die ganze lächerliche Beschwernis des alten Theaters sind hinweggefegt“, berichtete ein Besucher, Paul Claudel, 1913 anlässlich der Präsentation von Appias gemeinsam mit Émile Jaques-Dalcroze erarbeiteten „Orpheus“-Szenen im Festspielhaus Dresden-Hellerau, zit. nach Richard Beacham: Adolphe Appia. Künstler und Visionär des modernen Theaters. Berlin 2006, S.152f.; s.a. Gabriele Brandstetter, Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias. Berlin 2010.
SZENOGRAFISCHE VERFAHREN
menwechsel vom Bild- zum Raumdiskurs, eine Zäsur anzeigte) die Erkenntnis, dass am ästhetischen In-Erscheinung-Treten von Räumen stets mehrere künstlerische Mittel und Medien beteiligt sind, deren Gebrauch darüber entscheidet, wie Räume im Vorgang der Aufführung in Erscheinung treten und welche Modi räumlichen Wahrnehmens sie dem Publikum dabei jeweils eröffnen. Die Bühne sollte also nicht mehr behandelt werden als dekorierter Raum bzw. Raum für Dekoration, stattdessen analysierte man nun die Möglichkeiten der kompositorischen Konfigurationen ihrer unterschiedlichen ‚Ausdrucksmittel‘; Appias Reformen (in gewisser Weise dem Gesamtkunstwerk-Gedanken verpflichtet) lassen sich daher auch als eine theaterbezogene Erforschung von Synästhesie-Effekten beschreiben. Für eine dissoziative, anti-illusionistische Behandlung der theatralen Mittel, oder in seinen Worten: eine ‚radikale Trennung der Elemente‘ und den Bruch mit dem Gesamtkunstwerk-Gedanken plädierte wenig später bekanntlich Bertolt Brecht: Der ‚Bauplan‘ sollte kenntlich gemacht werden. In der zweiten Jahrhunderthälfte führten die Multimedia-Inszenierungen der Neo-Avantgarde sowie die intermedialen Bezugnahmen z.B. auf Video, Film oder elektronische Klangkunst, die, beeinflusst durch Performance Art und die ‚Intermedia‘-Experimente der Fluxus-Bewegung, auf den Bühnen seit den 1960er und 1970er Jahren erprobt werden, zu neuerlichen Revisionen der Szenografie sowie zu einer exponentiellen Ausdifferenzierung ihrer ästhetischen Verfahren. Die Setzung multipler Rahmen im sogenannten postdramatischen Theater stellten schließlich den Versuch dar, die Szenografie als ‚szenische Graphie‘9 zu verstehen und ihre Signaturen zu dekonstruieren: Die ‚offenen Theatertexte‘ postdramatischer Theaterformen sind als Versuch zu verstehen, die traditionelle Hierarchie der theatralen Zeichen (namentlich das Primat des dramatischen Texts) außer Kraft zu setzen, sie aus ihren Koordinaten zu lösen und gleichsam ‚zum Tanzen‘ zu bringen, sodass sie sich synästhetisch berühren oder aber kontrastierend begegnen.10 In solchen Gefügen fordern Videos, Projektionsflächen, Mikrophone und Dolby-Surround-Technologie den gesamten Wahrnehmungsapparat der Zuschauer heraus und unterlaufen die Möglichkeit zur Distanznahme.11 Gegenüber der Semiose und der Performativität der Vorgänge rückte damit ihre Medialität vermehrt in den Vordergrund. Allerdings kann ein Bühnenereignis 9
Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, (1999). Frankfurt am Main 2005, S.159. Ein solches ‚freies Szenografieren‘ (das einen sehr weit gefassten Theatralitätsbegriff impliziert) setzt freilich ein Publikum voraus, das sich nicht nur intellektuell auf das Lektüre- bzw. Interpretationspotential, sondern sich auch auf die besondere Sinnlichkeit von solch komplexen Hör- und Sehräumen einlässt. Vgl. Petra Maria Meyer: Der Raum, der dir einwohnt. Zu existentiellen Klang- und Bildräumen. In: Bohn, Wilharm, Inszenierung und Ereignis, a.a.O., S.105-134. 11 „Zu solchen Szenografien kann sich der Zuschauer nicht mehr mit dem gleichen distanzierten Blick verhalten, den er zum Tafelbild wie zur Guckkastenbühne gerne einnahm. Wie im Leben auch befindet er sich zunehmend ‚in-mitten‘ des Geschehens“, Meyer, Der Raum, der dir einwohnt, a.a.O., S.113. 10
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hightech sein, ohne dass dies seinem Publikum sonderlich auffällt; Irritation (im Sinne eines ‚Wahrnehmens der eigenen Wahrnehmung‘) stellt sich hingegen ein, wenn der Zuschauer der unterschiedlichen Medien gewahr wird, die in einer Aufführung bei der Arbeit sind,12 z.B. wenn, im Kamera-Zoom, Kleines vergrößert oder Großes verkleinert wird, wenn technisch eingespielte Stimmen aus dem Off plötzlich Abwesendes anwesend erscheinen lassen13 oder wenn, per Telefon oder Internet, die Theaterbühne mit virtuellen Räumen der Telekommunikation in Verbindung tritt. In solchen Momenten, die dem Zuschauer die mediale Vermitteltheit des Ereignisses bewusst machen, wird er gewahr, dass er „mit eigenen und zugleich mit fremden Augen sieht und hört“.14 Die mediale Heterogenität des ästhetischen Vorgangs, die, meist mit gewisser Plötzlichkeit, auffällig wird und somit nicht nur den reflektierenden Verstand anspricht, sondern mit den allen Sinnen erfahren wird, tritt dann in sogenannten Intermedialitätseffekten hervor. Ein Theater, das ‚Sichtbares hörbar und Hörbares sichtbar‘ werden lässt und sein Publikum darüber nachdenken lässt, mit wessen Augen und Ohren es eigentlich hört bzw. sieht, arbeitet im intermediären Zwischenbereich seiner unterschiedlichen Medien bzw. ‚Ausdrucksmittel‘. Wie die soeben skizzierten Überlegungen verdeutlichen sollten, gehört das Experimentieren mit synästhetischen bzw. kontrastierenden, intermedialen Effekten in der Szenografie von Moderne und Gegenwart grundständig zum Repertoire ihrer Problemstellungen. Wie im Folgenden weiter gezeigt werden kann, läuft dieses künstlerische Experimentieren keineswegs auf ‚Effekthascherei‘ hinaus, sondern erweist sich vielmehr als grundständige Arbeit an den Parametern des Theaters, an seinen ästhetischen Formen, seiner ‚Phänomenotechnik‘ (Waldenfels) sowie an den verschiedenen, damit verbundenen ‚Arten der Wahrnehmung‘.
12 Zur Definition von ‚Intermedialität‘ als „Versuch, in einem Medium die ästhetischen Konventio-
nen und/oder Seh- und Hörgewohnheiten eines anderen Mediums zu realisieren“ vgl. Christopher Balme: Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung, in: ders., Markus Moninger (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotographie – Neue Medien. München 2004, S.13-31: S.19. 13 Vgl. z.B. Andrzej Wirths Schilderung seines Erlebnisses einer Aufführung von Brechts Ozeanflug, inszeniert von Robert Wilson, in der der hochbetagte Bernhard Minetti den ‚Nebel‘ spielte; nach seinem Tod ließ Wilson Minettis Stimme vom Band einspielen, sein Stuhl blieb leer: die Stimme, so ‚zum Auftritt‘ gebracht, wurde im Theater als Moment einer besonderen ‚Telekommunikation‘ erfahrbar; ders.: Theater und Medien. In: Martina Leeker (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag 2001, S.305-309: S.306. 14 Ergänzend zur Phänomenologie des Theaters postuliert Waldenfels daher eine Auseinandersetzung mit der ‚Phänomenotechnik‘ des Theaters. Vgl. ders., Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S.249.
SZENOGRAFISCHE VERFAHREN
1. SZENOGRAFIE ALS ‚PHÄNOMENOTECHNIK‘. GISÈLE VIENNE: THIS IS HOW YOU WILL DISAPPEAR. EIN FALLBEISPIEL
Als das Publikum im Zuschauerraum Platz nimmt, ist der Theatervorhang bereits offen. Die Bühne (auf den ersten Blick ganz konventionell sitzt das Publikum einem Guckkasten gegenüber) ist noch fast vollständig dunkel. Schemenhaft ist eine Reihe von – offenbar echten – Bäumen zu erkennen: ein dichtes Gehölz, das sie in ihrer gesamten Breite ausfüllt. Ein leichter Duft von Holz liegt in der Luft. Laut und teils von fast aggressiver Härte ertönen elektronische Klänge wie aus dem Nirgendwo und kontrastieren mit der – zunächst nur zu erahnenden, kaum zu erkennenden – visuellen (und auch olfaktorischen) Vergegenwärtigung eines Waldes auf der Bühne: Bevor eine Geschichte beginnt, das erste Wort gesprochen ist, setzt sich die von der französischen Künstlerin Gisèle Vienne szenografierte und inszenierte Aufführung in Gang als ein Spiel mit den Sinnen.15 Ein kaum merklicher Lichtwechsel modifiziert diese (mit den beschriebenen Mitteln offenbar sehr kalkuliert hervorgerufene) Atmosphäre und lässt auf der Bühne, die vom Zuschauer aus gesehen zunächst flächig erscheint und, in ihrer Visualität, vor allem in den Anfangsszenen wie ein Tableau wirkt, eine (noch immer dämmrige) Waldlichtung entstehen. Es treten auf: eine junge, blonde Frau im weißen Sport-Dress, die, begleitet von ihrem ebenfalls ganz weiß gekleideten Trainer, mitten im Wald – aus welchem Grund auch immer – eine Art Training abhält und vorn an der Rampe mit großer, fast absurder Disziplin ihre Dehn- und Turnübungen absolviert; manchmal hält sie dabei in einer ihrer Posen inne und gefriert zum Tableau, zu einem – rätselhaft anmuteden – lebenden Bild (Abb.1). Später betritt ein Mann in schwarzer Lederjacke diese Szene: seinem Habitus nach ein Rockmusikfan oder Musiker, der verwirrt durch den Wald irrt. Die Doom-Metal-Sounds von Stephen O’Malley und Peter Rehberg, sogenannte ‚Drones‘ (d.h. elektronisch bearbeitete, langgezogene, dunkel dröhnende, minimalistische Klänge), die im Verlauf der Aufführung immer wieder eingespielt werden, bereiten auf der akustischen Ebene ein – semantisch absichtsvoll offen gehaltenes – Feld für Interpretationen bzw. Assoziationen. Auch auf der sprachlichen Ebene bleibt dem Publikum die Darbietung einer kohärenten Geschichte entzogen; es gibt keine erkennbare Figurenrede, nur Worte und poetisch anmutende Textfragmente,16 die, langsam, stockend und 15
Das Theaterprojekt This is how you will disappear von Gisèle Vienne wurde 2010 auf dem Theaterfestival in Avignon erstmals gezeigt; die hier vorgelegten Ausführungen basieren auf dem Besuch einer Aufführung in Utrecht im Mai 2011 sowie auf einer Videoaufzeichnung, die der Verf. freundlicherweise bereitgestellt wurden vom Münchner Festival Spielart. 16 Die Texte und Song Lyrics, wie aus dem Programmheft hervorgeht, stammen von dem amerikanischen Dichter und Performancekünstler Dennis Cooper.
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Abb.1 Szene aus Gisèle Vienne: This is how you will disappear (2010): die Sportlerin (Margret Sara Gudjonsdottir) und ihr Trainer (Jonathan Capdeville). Foto: Silveri © DACM.
von einer männlichen Stimme gesprochen, aus dem Off tropfen. „I killed my girlfriend“, erfährt man gelegentlich, bevor der Mann mit der Lederjacke, in Szenen sinnlos-brutaler Gewalt, selbst schließlich zu Tode kommt. Die Aufführung: ein kalkuliertes Spiel mit Brüchen, Verrätselung und Suspense. Mithilfe unterschiedlicher Medien und auf den verschiedenen Zeichenebenen werden (visuelle und akustische) Spuren gelegt, die, thematisch vage, mit Erotik und Gewalt zu tun haben; im Aufführungsverlauf lassen sich die diversen Spuren zwar aufeinander beziehen, ergeben aber kein ‚lesbares‘ Ganzes. Gearbeitet wird sowohl mit Synästhesie- als auch mit Intermedialitätseffekten. So ist es am Anfang, wenn die Szene noch im Dunkel liegt und fast nichts zu sehen ist, der Duft des Holzes, der dem Publikum hilft, den Spielort zu lokalisieren und als Wald zu erkennen: Die Lokalisierung vollzieht sich also über einen performativ erzeugten Synästhesie-Effekt.17 Zu einem späteren Zeitpunkt wird das – ohnehin unübersichtliche – Bild der Bühne noch von einem künstlich erzeugten Nebel durchdrungen, der – über die Bühnengrenze hinweg – bis in den Zuschauerraum dringt (Nebelskulptur: Fujiko Nakaya). Lässt sich die Aufführung schon nicht über die Semantik der gesetzten Zeichen erschließen, so gilt Gleiches auch für ihre performative Ästhetik: Auch mithilfe der Sinne stellt sich keine Orientierung her, sondern weitere Verrätselung und Sinnesverwir17
Per Definition meint ‚Synästhesie‘ bekanntlich die wahrnehmungsmäßige Kopplung zweier oder mehrerer physisch eigentlich getrennter Bereiche wie z.B. Farbe und Temperatur (‚warmes Licht‘, ‚kaltes Blau‘ etc.); dass Synästhesie in den Künsten (im Unterschied zum Empfinden des genuinen, mit erhöhter bzw. veränderter Wahrnehmungsempfindlichkeit ausgestatteten Synästhetikers) performativ erzeugt bzw. als „Bestimmung von einzelnen Sinnesempfindungen in Bezug auf andere“ ‚getriggert‘ werden muss, betont Gertrud Koch; vgl. dies., Robin Curtis, Marc Glöde (Hg.): Synästhesie-Effekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung. München 2010, Vorwort, S.7-9: S.9; vgl. auch Seel, Ästhetik des Erscheinens, „Synästhesie“, ebd., S.57-60.
SZENOGRAFISCHE VERFAHREN
rung. Gearbeitet wird, wie gesagt, mit vielfältigen Intermedialitätseffekten.18 So sind dem Geschehen auf der Bühne Merkmale der Musik-Videoclips, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, eingeschrieben. Zudem referiert die Aufführung – in der Art und Weise, wie sie die Handlung ‚in der Schwebe‘ hält und Spuren streut (zeitweilig liegen Kleidungsstücke, Plastiktüten und Ähnliches auf der Szene herum) – auf das Film-Genre des Krimis und lässt die Bühne als ‚Crime Scene‘ erscheinen, als potentieller Ort vergangener oder zukünftiger Verbrechen. Insgesamt wird das Publikum eingeladen, eine eher assoziative Rezeptionshaltung einzunehmen. „Was wir dem Zuschauer liefern“, hat Gisèle Vienne über ihre Vorgehensweise gesagt, „ist vergleichbar mit den Elementen einer kriminalistischen Untersuchung. [...] Er muss die Zeichen lesen und mit eigenen Überlegungen und Analysen vervollständigen“.19 Geradezu strategisch wird der Zuschauer in eine Art Alarmbereitschaft versetzt, in einen Zustand gesteigerter Aufmerksamkeit: Obgleich das, was die Aufführung dem Publikum in dieser Weise zu sehen und zu hören gibt, eine große Suggestionskraft hat, vermittelt sie stets aber auch das Gefühl, dass vieles, vielleicht das Entscheidende, unsichtbar, also dem Sehen (und dem Hören) entzogen bleibt. In seiner Medialität ist Gisèle Viennes Projekt This is how you will disappear (das sich gattungsmäßig zwischen Theater, performativer Installation und Intermedia-Experiment bewegt) gewollt hybride und vielschichtig. Das Publikum soll sich Fragen stellen, z.B.: „Bezieht sich dieses Bild auf ein anderes Bild oder ein anderes Ereignis? Ein Ereignis, das den Prozessen, denen wir eben noch beigewohnt haben, ähnlich ist? Oder bezieht es sich auf ein Ereignis in der Vergangenheit, wie etwas in einem Film oder auf einem Foto?“20 Zielsetzung ihrer so angelegten, medial spannungsreichen ‚Phänomenotechnik‘ sei, so Vienne, „die Destabilisierung der Wahrnehmung und das permanente In-Frage-Stellen des Gezeigten“ (ebd.). 2. DIE BÜHNE ALS ‚SCHWELLE‘
Abweichend von der üblichen Bestimmung des Theaters als Medium des Darstellens bzw. Zeigens fungierte die Bühne von This is how you will disappear somit nicht als Präsenzfeld, das der Zuschauer überblicken konnte, sondern glich eher 18 Zu den Wahrnehmungsdimensionen von Intermedialität, definitorisch gefasst als ‚aisthetischer Effekt‘, vgl. Peter M. Boenisch: Aesthetic Art to Aisthetic Art: Theatre, Media, Intermedial Performance, in: Freda Chapple, Chiel Kattenbelt (Eds.): Intermediality in Theatre and Performance. Amsterdam, New York 2006, S.103-116: S.113f. 19 „Wir machen extreme Kunst“. Gisèle Vienne im Gespräch mit Tobias Staab, in: Jürgen Schläder, Jörg von Brincken, Tobias Staab (Hg.): SpielArten. Perspektiven auf Gegenwartstheater. München 2011, S.98-105. 20 Vienne, Wir machen extreme Kunst, a.a.O., S.99f.
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einer Schwelle, auf der unterschiedliche Medien zueinander in ein Spannungsverhältnis traten, indem sie optisch und/oder akustisch (oder gar, wie die Baumstämme des Waldes, olfaktorisch) wahrnehmbar wurden, um dann wieder zu verschwinden, zu verlöschen. Damit stellt sich die Frage, wie sich ein solches Zusammenspiel zwischen den Medien (dessen ästhetische Effekte, auf Zuschauerseite, wiederum eine Auffächerung des Aufführungserlebnisses in unterschiedliche Wahrnehmungsmodi bedingen) beschreiben lässt. Da theatersemiotische Modelle, auch wenn man sie um die Analyse der Performativität von Aufführungsereignissen ergänzt, dies nur bedingt leisten, sei an dieser Stelle ein medientheoretischer Ansatz vorgeschlagen. Um die Heterogenität der ‚Ausdrucksmittel‘ bzw. Medien zu erfassen (die nicht nur neueren, medientechnologisch angereicherten Theaterformen eignet, sondern genau besehen für jeden Theatervorgang kennzeichnend ist), lässt sich ein anthropologisch gewendeter, nicht allein auf technische Apparate bezogener Medienbegriff heranziehen, wie ihn die Philosophin Sybille Krämer erarbeitet hat.21 In ihren Modell (das zugleich kommunikationstheoretische Überlegungen zur Anwesenheits-, Abwesenheits- und Telekommunikation beinhaltet) vergleicht Krämer Medien mit ‚Boten‘, da Medien, wie diese, als ‚Mittler‘, ‚Vermittler‘ auftreten und ihre Inhalte bzw. Botschaften in unterschiedlicher Weise (sprachlich, visuell, akustisch etc.) kommunizieren.22 Wie Krämer betont, sind Medien in dieser Eigenschaft keineswegs identisch mit dem, was sie übermitteln, sondern agieren gleichsam in einem ‚Dazwischen‘: Im Akt der Übermittlung treten sie entweder zurück bzw. verlöschen, oder aber sie treten – indem sie ihre Botschaft z.B. stören oder modifizieren – erkennbar hervor. In diesem Sinne ist die Botenperspektive, nach Krämer, geeignet, die Mittler-Funktion (‚Drittheit‘) der Medien zu akzentuieren; zugleich markiert der Bote, der auf einer Schwelle zwischen Sichtbarem und Nicht-Sichtbaren, zwischen Hörbarem und Nicht-Hörbarem, also: zwischen An- und Abwesenheit, agiert, einen ‚Riss‘ im ästhetischen Raum. Eine weitere Implikation von Krämers Botenmodell ist, das ‚unmittelbare‘ und (technisch) mediatisierte sowie dialogische und disseminative Formen von Kommunikation demnach als gleichrangig anzusehen sind.23 Auf das Theater übertragen heißt dies: Eine Stimme von Band oder ein eingespieltes Videobild sind der (im Bühnenraum unmittelbar leiblich verankerten) En-faceKommunikation nicht nachgeordnet, sondern mischen sich mit dieser und 21 Vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main 2008; dies.: Medien, Boten, Spuren, in: Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt am Main 2008, S.65-90. 22 Für das, was Medien – gleich in welcher Form – grundsätzlich leisten, bildet der Botengang, nach Krämer, eine Art ‚Urszene‘: „Der Bote steht zwischen verschiedenartigen Welten und bringt Kraft seiner Position in deren Mitte und als Mittler einen Austausch in Gang“, dies., Medium, Bote, Übertragung, ebd., S.109. 23 Vgl. Krämer, ebd., S.18f.
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agieren, auf ästhetischer Ebene, gleichberechtigt. Kommen auf einer plurimedialen Bühne, verstanden als ‚Schwelle‘, unterschiedliche Medien zum Auftritt, so vermittelt sich dem sehenden, hörenden Zuschauer ihre Performanz als ‚eine Art Tanz‘, aber eben nicht in Form einer geschlossenen Repräsentation, sondern als liminales, schillernd-vieldeutiges Gebilde, oder um mit Krämer zu sprechen: als „Tanz mit nur vorübergehender Berührung“.24
Abb.2 Gisèle Vienne: This is how you will disappear, Szene mit Jonathan Capdeville, Margret Sara Gudjonsdottier und Jonathan Schatz, Nebelskulptur von Fujiko Nakaya. Foto: Silveri © DACM.
Wie aus dem bereits angeführten Making-Of-Interview mit Gisèle Vienne hervorgeht, legt die Künstlerin (die, laut Programmheft, neben der Szenografie und Inszenierung übrigens auch die Choreographie übernahm) Wert darauf, zu betonen, dass sie „mit allen Elementen zugleich“ arbeite, d.h. „mit Sound, dem Licht, mit dem Raum, der Bewegung und dem Text“: „In This is how you will disappear sind diese einzelnen Ebenen gleichwertig“.25 Dies geht überein mit ihrer Überzeugung, dass Theater – selbst innerhalb einer Vorstellung – unterschiedliche bzw. in ihrer ästhetischen Logik sogar gegensätzliche – Formen annehmen kann: sei es als ‚Tableau Vivant‘, im Spiel mit „Bewegung und Stillstand“ in der Fläche,26 oder als raumgreifendes Nebel- oder Klanggebilde: „Nur weil der Zuschauer vor der Bühne sitzt“, so Vienne, „bedeutet das ja nicht, dass man sie nicht einhüllen kann“ (ebd.). In der Tat verändert das visuelle und akustische Gewebe, das das Publikum während der 75 Minuten Aufführungsdauer zu sehen bzw. zu hören bekommt, immer wieder seine Form: Mal erscheint die Bühne mit dem inszenierten Wald eher flach und man sieht 24
Ebd., S.108. „Wir machen extreme Kunst“, a.a.O., S.105. 26 Ebd. 25 Vienne,
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die Akteure erst, wenn sie sich, zunächst schemenhaft, in Richtung der Rampe bewegen. In anderen Momenten, wenn das Licht wechselt, gewinnt der Wald eine fast undurchdringliche Tiefe; die Geräusche knackender Äste und das Zwitschern von Vögeln, die aus dem Off eingespielt werden, tun dazu ein Übriges. Die Anmutung, das man sich in diesem Wald verlieren könnte, stellt sich spätestens ein, wenn die (mit einer Nebelmaschine in großen Mengen in den Publikumsraum geblasenen) Nebelschwaden auch die Zuschauer auf den hintersten Plätzen umgeben. Wie beschrieben, werden dem Zuschauer im Verlauf der Aufführung geradezu strategisch, unterschiedliche Arten von Perzeptionsleistungen abverlangt. Zum einen ermöglicht ihm die szenografische Konfiguration, sich gegenüber dem hyperrealistischen Bildtableau des Waldes distanziert zu verhalten. Zum anderen aber erfährt sich der Zuschauer – wenn die Bassrhythmen seinen Körper durchdringen oder ihn schließlich der Nebel umgibt – als mit Leib und Sinnen involviert, also nicht ‚vor‘, sondern ‚in-mitten‘ des Geschehens. Wie die Leiblichkeit des Menschen ihrerseits in Wahrnehmungsprozessen als Medium bzw. Umschlagplatz (‚Inter-Medium‘) fungiert, erforschen bekanntlich die Phänomenologen. Wie Waldenfels in Anschluss an Merleau-Ponty formuliert hat, fungiert der Körper dabei gleichsam als ‚Nullpunkt‘ im Koordinatennetz der sinnlichen Wahrnehmungen.27 Übertragen auf das Theater heißt dies: Es ist sein Leibkörper, mit dem sich der Zuschauer im Theater verortet (gewöhnlich auf einem Platz im Publikumsraum) und der zugleich das Medium seiner Wahrnehmung und ästhetischen Erfahrung bildet: Der Leibkörper, als ‚Inter-Medium‘, erlaubt ihm, am Bühnengeschehen wahrnehmend teilzuhaben, seinen physisch eingenommenen Platz mithilfe der Phantasie zu verlassen und in den ‚Tanz auf der Schwelle‘ gleichsam selbst einzutreten. Das ästhetische Spiel auf der Bühne korreliert somit stets mit einer ‚inneren Bühne‘ bzw. dem, was Merleau-Ponty die „Bühne der Einbildung“ nannte.28 „Der Wald ist unser tiefster Spiegel. Darum ist er auch einer der Hauptakteure in This is how you will disappear“, so Gisèle Vienne.29 Im Spiel zwischen Erscheinen und Verschwinden, zwischen Fläche und Tiefe, Hell und Dunkel rufen die Ereignisse im Schwellenraum dieser Bühne Befremdung und Irritation hervor. Vienne (die, bevor sie am Theater zu arbeiten begann, ein Philosophiestudium absolvierte) beruft sich mit ihrem Konzept u.a. auch auf die von Nietzsche beschriebene Opposition zwischen dem ‚Dionysischen‘ und dem 27 Waldenfels spricht auch von einer „durchgehenden Medialität“ menschlicher Wahrnehmung; diese
sei gegründet in der „‚Doppelgestalt‘ des Leibkörpers“, mit dem der Mensch wahrnimmt (und selbst wahrgenommen wird) und mit welchem er sich in der Welt positioniert und verankert; vgl. ders.: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main 1999, S.17ff. 28 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S.6; s.a. Meyer, Der Raum, der dir einwohnt, a.a.O., S.113. 29 Gisèle Vienne: Pressetext zu „This is how you will disappear“ (Spielart Festival, München 2011).
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‚Apollinischen‘, die sie, mit heutigen künstlerischen Mitteln, in ihrer Inszenierung auszuloten versucht.30 Wie beschrieben, streut sie zum einen vieldeutige, in ihrer Syntax brüchige Zeichen-Spuren aus, die das Publikum verfolgen und entziffern soll; vor allem zielt ihre Arbeit aber auf eine Wahrnehmung jenseits des Logos und auf die Komplexität menschlicher Gefühlswelten: „[...] wir [versuchen], das Publikum auch widersprüchliche Gefühle durchleben zu lassen, wie etwa das Lustvolle von Schmerz oder die Schönheit des Dunkels“.31 Insgesamt ginge es ihr darum, „eine Konfusion zwischen Körper und Welt zu stiften, bei der die Sinne derart verwirrt werden, dass am Ende die Wahrnehmung nicht mehr zu greifen in der Lage ist“.32 Es gibt einen Moment in der Aufführung, in dem diese Strategie besonders deutlich wird. Es ist jene Szene, in der (nach dem Mord an dem Musiker, der im Halbdunkel geschieht) auf der Bühne plötzlich
Abb.3, 4a und b: Gisèle Vienne: This is how you will disappear, Auftritt der Puppen. Fotos: Gisèle Vienne (unten) und Mathilde Darel. 30 Vienne,
„Wir machen extreme Kunst“, a.a.O., S.101f. Ebd., S.105. 32 Ebd., S.101f. 31
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– schlaglichtartig beleuchtet, aber nur für wenige Sekunden – mehrere starre, lebensgroße, in Trainingsjacken gekleidete Figuren stehen. Für das Publikum ist kaum entscheidbar: Sind es Puppen oder lebende Personen? Angesprochen ist damit jene Dimension menschlichen Wahrnehmens, die Sigmund Freud seinerzeit als das „Unheimliche“ bezeichnete.33 Nach Freud scheint sie auf, wenn die Perzeption zu kippen beginnt: an der Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Wachsein und Traum. 3. SZENOGRAFISCHE PROVOKATIONEN ‚PERZEPTIVER MULTISTABILITÄT‘: KIPP-FIGUREN
Das Auftreten semantisch polyvalenter Erscheinungen, die – wie die ‚unheimlichen‘, puppenartigen Figuren auf der Bühne von Gisèle Vienne – die Wahrnehmung zum Oszillieren bringen, lassen sich auch als Krisen-Momente der Wahrnehmung beschreiben. Vergleichbar sind sie mit Phänomenen, die die Wahrnehmungspsychologie (und in jüngerer Zeit auch die Neurowissenschaften) als ‚Kipp-Figuren‘ bzw. ‚Umschlag-Figuren‘ erforscht; bekannte Beispiele sind etwa der Hasen-Enten-Kopf oder das Bildmotiv der Vase nach Edgar J. Rubin, bei dessen Betrachtung man entweder eine kelchartige Vase oder aber zwei einander anschauende Gesichter erkennt, die, abhängig von der Disposition des Betrachters, in der Wahrnehmung immer wieder umspringen. Solche Phänomene werfen die Frage auf, wie der menschliche Wahrnehmungsapparat unterschiedliche Sinnesreize eigentlich verarbeitet und interpretiert. Gestalttheoretiker, in ihrer Kritik am strukturalistischen Denken, zogen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Kipp-Bilder als Beleg für ihre These heran, dass die Welt nicht als Summe von elementaren Teilen und Bausteinen aufzufassen sei, die sich entziffern ließen. Wenn schon ein kleines Bild wie die Rubin’sche Vase so ambig sein kann, wenn etwas, das man quasi schwarz auf weiß vor sich hat, zwischen verschiedenen Bedeutungen ‚kippt‘ und zwei Menschen, die dasselbe betrachten, darin etwas Unterschiedliches erkennen: Wie sollte dann Wahrnehmung objektiv bzw. verobjektivierbar sein?34 Auch als Gegenstand der Philosophie und Ästhetik erfuhren die Kipp-Figuren alsbald Aufmerksamkeit. Es war kein Geringerer als Ludwig Wittgenstein, der ihre Problematik aufgriff, um sie in seinem Spätwerk sprachphilosophisch zu behandeln. Ausgehend von dem Befund, dass ein Betrachter Kipp-Figuren, wie etwa den Hasen-EntenKopf, mal als das eine, dann als das andere Ding sehen kann, betonte er die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Wahrnehmungs- und Deutungsvorgän33 Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche (1919), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12. Hg. von Anna Freud. Frankfurt am Main 1999, S.227-268. 34 Vgl. Herbert Fitzek, Wilhelm Salber: Gestaltpsychologie. Geschichte und Praxis. Darmstadt 1996.
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gen: „Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten“.35 Als Hase (oder Ente) lässt sich das Gebilde der Zeichnung aber nur erkennen, wenn man weiß, was ein Hase (bzw. eine Ente) ist. Wahrnehmen und Deuten sind demnach keine getrennten Vorgänge, sondern unmittelbar miteinander verbunden. Um dies zu veranschaulichen, unterschied Wittgenstein zweierlei Modalitäten des Sehens: „[...] ich muss zwischen dem ‚stetigen Sehen‘ eines Aspekts und dem ‚Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden“:36 erst das mit gewisser Plötzlichkeit erfahrene Aufleuchten eines neuen, fremden Aspekts im zuvor Gesehenen lässt somit einen Kipp-Effekt entstehen. Kausal findet sich für solche Phänomene allerdings kaum eine verallgemeinerbare Erklärung (obwohl es Faktoren gibt, die sie mit hervorrufen oder begünstigen): Ist es die Bewegung des Blicks über ein Bild, die einen neuen Aspekt zu entdecken erlaubt, oder ist es eine äußere Bewegung oder ein Lichtwechsel, auf den der Wahrnehmungsapparat des Betrachters reagiert? In ihrer ästhetischen Wirkung, so lässt sich jedenfalls sagen, stellen sich Kipp-Effekte als Störungen kultureller Symbolsysteme dar, oder wenn man so will: als (Sprach-)Spiele, die als Wahrnehmungsirritationen aber durchaus auch produktiv werden können. Auch in den Künsten und insbesondere dem Theater lassen sich – wie Erika Fischer-Lichte gezeigt hat – Phänomene von Kipp-Bildern bzw. KippEffekten beobachten.37 Insbesondere weist Fischer-Lichte diese Phänomene anhand von neueren, seit den 1960er Jahren von Happening und Performancekunst beeinflussten Theaterformen nach, deren ‚performative Ästhetik‘ sie untersucht.38 Die Tendenz, den Zuschauer in den Aufführungsvorgang einzubeziehen und ihn anzustiften zu einer (selbst-)reflexiven Wahrnehmungshaltung, ist eines ihrer wichtigsten Merkmale. Arbeitet das Theater mit dem Provozieren von Kipp-Effekten, so richtet sich dies zuallererst gegen die geschlossene Repräsentation, das semantisch eindeutige Bild; demnach sind sie in besonderer Weise geeignet, um deren Geschlossenheit aufzubrechen. Ein ‚Umspringen‘ zwischen verschiedenen Modi ästhetischen Wahrnehmens ereignet sich, nach FischerLichte, insbesondere in solchen Momenten, in denen die Materialität der theatralen Kommunikation hervortritt. Anstatt den Schauspieler allein als Rollenfigur zu betrachten, fällt der Blick des Zuschauers dann auf dessen phänomenale Leiblichkeit, auf die Präsenz seiner potentiell verletzbaren, kreatürlichen Physis. Gleiches gelte entsprechend auch für das Bühnenbild bzw. Szenografie in jenen Augenblicken, wenn deren Objekte nicht in ihrer Zeichenhaftigkeit akzentu35 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt am Main 2003, S.529. 36 Ebd., S.520. 37 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Perzeptive Multistabilität und ästhetische Wahrnehmung, in: dies., Barbara Gronau, Sabine Schouten, Christel Weiler (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater. Berlin 2006, S.129-139. 38 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004.
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iert werden, sondern die Aufmerksamkeit des Zuschauers „vom phänomenalen Sein eines Dings mit fast magischer Kraft angezogen wird“.39 In diesem Sinne definiert Fischer-Lichte die Emergenz multistabiler Wahrnehmungsmuster im Theater als ein Schwanken zwischen der ‚Ordnung der Repräsentation‘ und der ‚Ordnung der Präsenz‘; tritt ein solcher Moment ein, erfährt der Zuschauer sich demnach als zwischen zwei Ordnungen versetzt, in einem „Zustand der Instabilität“,40 der dazu führt, dass er seine Aufmerksamkeit auf den eigenen Wahrnehmungsvorgang richtet. Mit diesen Ausführungen sei an dieser Stelle zurückgekehrt zu Gisèle Vienne und der Bühne von This is how you will disappear, die im vorigen Abschnitt als intermediale Konfiguration und in diesem Sinne als ‚Schwelle‘ beschrieben wurde. In Bezug auf die Medialität dieser Spielanordnung – in der Art und Weise, wie sie dem Publikum den brüchigen ‚Text‘ ihrer Zeichen-Fragmente vermittelt – sind zeichentheoretische Überlegungen freilich relevant. Auch die von Fischer-Lichte diskutierten Präsenz-Effekte stellen sich mehrfach ein: etwa wenn das Holz auf der Bühne duftet, der Nebel in den Publikumsraum quillt und wenn am Ende der Aufführung sogar echte Vögel (ein Bussard und eine leibhaftige Eule) für einige Momente auf der Szene erscheinen und beim Publikum ein Aufmerken und gewisses Erschauern auslösen.41 Einschlägige Register der Präsenz sind somit gezogen – und doch will sich mit dem – offenkundig intermedial angelegten – Stück von Gisèle Vienne beim Publikum so recht keine Präsenzerfahrung einstellen. Wie schon sein Titel – This is how you will disappear – hingegen unterstreicht, geht es hier weniger um Vergegenwärtigung, sondern um ein Auftauchen und wieder Abdriften, um Verschwinden, Absenz. Die Bühne: ein Schwellenraum, und mit ihrer ‚Phänomenotechnik‘, die – technisch durchaus aufwändig (vgl. Abb.5) – die diversen beteiligten Medien mal synästhetisch einsetzt und im nächsten Moment wieder kontrastiert, lässt die Aufführung kein Präsenzfeld entstehen, sondern spielt geradezu mit seiner komplexen Medialität, mit unterschiedlichen Modi des Erscheinen-Lassens und auch des Auslöschens, des Verschwindens. Die ästhetischen Impulse, vermittels derer das Stück das Wahrnehmungsvermögen seines Publikums anspricht, es beunruhigt und mithin geradezu attackiert, zielen somit offenbar auf etwas anderes: Wie beschrieben, zelebriert das Stück nicht die theatrale Präsenz, sondern konfiguriert ein erkennbar plurimediales Gebilde, in welchem die beteiligten Mittel und Medien wie auf einer Schwelle tanzen: auf einem schmalen Grat zwischen 39
Fischer-Lichte, Perzeptive Multistabilität und ästhetische Wahrnehmung, a.a.O., S.133. Ebd., S.137. 41 Gerade das Auftreten von Tieren im Theater gilt als durchaus effizientes Mittel, um seinen Repräsentationscharakter zu durchkreuzen, da Tiere stets in ihrem ‚So-Sein‘ auftreten und nicht vermögen, eine Rolle zu spielen. 40
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Anwesenheit und Absenz, zwischen Körperlichkeit und physisch-psychischer Auflösung, zwischen Bedrohung und Chaos und letztendlich auch: zwischen Leben und Tod. Das Stück von Gisèle Vienne – wie im vorigen Abschnitt bereits ausgeführt wurde – gibt somit Anlass, die Medialität des Theaters anders zu denken.
Abb.5 Gisèle Vienne: This is how you will disappear, Bühne und Technikpult. Foto (Probenfoto): D.Cooper.
ZWISCHEN ÄSTHETISCHEM IMPULS UND RESPONS. DIE ‚MAGIE DER SZENOGRAFIE‘ – ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN
Neben den diversen beschriebenen Mitteln und Strategien sind es in Gisèle Viennes Produktionen vor allem die lebensgroßen, im Halbdunkel der Bühne auftretenden, von der Klangkulisse dröhnender Drone-Metal-Sounds umspielten Puppen, die das Publikum irritieren und seine Wahrnehmung, für kurze Augenblicke, potentiell geradezu in ein Delirium stürzen. Die unterschiedlichen Phänomene im Schwellenraum dieser Bühne affizieren den Zuschauer in einer Weise, die einem Ritual ähnlich kommt.42 Die Szenografie mit ihrer künstlerischen Konzeption und ihrer im Aufführungsvorgang realisierten ‚Phänomenotechnik‘ schafft dafür die Bedingungen; sie trägt dazu bei, die Bühne, wie 42 Zu dieser Deutung Vienne, die in ihrem Making-Of-Interview zu This is how you will disappear von einem „Bedürfnis nach Ritualen“ spricht und von der Macht der Kunst, quasi-mystische Erfahrungen hervorzurufen; dies., Wir machen extreme Kunst, a.a.O., S.102. Verbunden werden kann der Gedanke mit einer These Merleau-Pontys, wonach das Sehen, als Teil der sinnlichen Wahrnehmung, einem Ritual bzw. einer ‚Initiation‘ gleiche, welches „mit einem ersten Kontakt“ beginnt; gleichsam als Rückseite des Sichtbaren scheint darin eine andere Dimension auf, die fortan „nicht mehr verschlossen werden kann“, denn – ebenso wie das Sichtbare (bzw. Hörbare) – sei auch das Unsichtbare bzw. Nichtvernehmbare Teil „dieser Welt“. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. (1964) München 2004, S.198.
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beschrieben, ästhetisch zu transformieren. Wie Bernhard Waldenfels hervorgehoben hat, fungieren Schwellen in ästhetischen Artefakten nicht notwendig als Grenze (zwischen Innen und Außen, Hier und Anderswo, An- und Abwesenheit etc.) sondern bilden einen „Ort der Schwebe“,43 einen intermediären Raum. Aufgabe der Künste (und namentlich der ‚Raumkunst‘ Theater) wäre es demnach, Ereignisse des Sichtbaren und Hörbaren entstehen zu lassen, um sie – im Spannungsfeld zwischen Zeigen und Entzug – als Phänomene zu erkunden. Wie am Beispiel des Projekts von Gisèle Vienne gezeigt wurde, geht es in der Theaterszenografie somit weniger darum, mit spektakulären Bühneneffekten bzw. ‚Special Effects‘ zu arbeiten. Ein möglicher ‚Zauber‘ der Szenografie wäre, nach dem Gesagten, vielmehr in der Art und Weise zu sehen, wie es einer Szenografie (im Gesamtkonzept der Inszenierung) gelingt, verschiedene Wahrnehmungsmodi zu aktivieren. Das Provozieren von Synästhesien oder auch von Brüchen und Dissonanzen, das Arbeiten mit Intermedialitätseffekten und überhaupt das Spiel mit Multimodalität bzw. Multistabilität menschlicher Wahrnehmung sind, wie dargelegt wurde, mögliche Strategien. Beim Publikum rufen sie Staunen, Nicht-Verstehen oder gar physische Reaktionen hervor: In Auseinandersetzung mit derartigen ästhetischen Artefakten gerät es potentiell ‚außer sich‘. Solche Zustände, in die der Zuschauer geraten kann, hat Waldenfels als „Ordnung sprengende Grundbefindlichkeiten“ bezeichnet, die zum Auslöser werden können für ein Erkenntnisbegehren, für „fragendes Denken“.44 Die ‚Magie der Szenografie‘, wenn man dies so nennen möchte, wäre demnach darin zu sehen, dass sie vermag, unterschiedliche Modi ästhetischer Wahrnehmung zu evozieren und – in einer für das Publikum erregenden, irritierenden und auch aufschlussreichen Weise – im Theater spielerisch damit umzugehen.
43 Waldenfels,
Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S.9. Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt am Main 1994, S.327; s.a. ders., Sinne und Künste im Wechselspiel, a.a.O., S.18ff.
44 Vgl.
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ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT, MEDIEN AUF IHRE HERKUNFT UND EFFEKTE HIN ZU BEFRAGEN. VERSUCH ÜBER EIN MEDIENPHILOSOPHISCH AUFKLÄRENDES THEATER.
VORBEMERKUNG
Die Arbeit will Beitrag zum aktuellen Mediendiskurs sein. Und zwar vonseiten einer kritischen (Medien-)Gestaltung im engsten Sinne einer intellektuellen, künstlerisch-philosophischen Auseinandersetzung mit den eigenen Bedingungen und (Un-)Möglichkeiten. Die institutionalisierten Disziplinen des Hochschulwesens streben nach wie vor einer gewissen Trennschärfe zu, wenngleich das heute aberwitzigerweise unter dem Deckmantel der Interdisziplinarität geschieht. Dort, wo die Verknüpfungsmöglichkeiten – ob nun halbwegs zufällig oder weitsichtig jedem Trend trotzend – gegeben sind, eine vielschichtigere Position während des Studiums zu entwickeln, sollte vor diesem Hintergrund allemal lautstark darauf hingewiesen sein. Diese Arbeit ist ein Versuch über ein medienphilosophisch aufklärendes Theater, das sich seiner Versuchshaftigkeit und seiner und der Aufklärung Grenzen eingedenk ist. Sie wird die aktuelle Diskussion und ihre Krisenhaftigkeit darstellen, sich ihrerseits an einem Medienbegriff versuchen, der ebendiese Krisenhaftigkeit mit einzuholen vermag, und eine Haltung entwickeln, wie Darstellbarkeitsgrenzen angemessen zu betrachten seien. Untersucht werden sollen unterschiedliche Ansätze aus der Philosophie und der Bühnenarbeit selbst. Mit besonderer Berücksichtigung einiger ihrer Effekte. Dem Theaterkonzept, das hier als Skript eingebunden ist, folgen weitergehende Erläuterungen.1 1. EINFÜHRUNG
Ein rascher Überblick über den Stand der Diskussion mag dieser Arbeit Verständnis erleichtern. Der (aktuelle) Diskurs, ob, wie und in welchem Verhältnis Philosophie und Medien zu denken seien, wird vor allem vonseiten der Disziplinen geführt, die sich aus ihnen bedingen. Die aus unterschiedlichsten Perspek1
Die Arbeit entstand als Bachelorthesis in der Studienrichtung Objekt und Raum am Fachbereich Design der FH Dortmund und wurde von Prof. Dr. Christoph Weismüller betreut. In einigen Passagen ist sie für diesen Band umgearbeitet und ergänzt worden.
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tiven heraus skizzierten Medienbegriffe werfen eine Sicht auf eine Philosophie, die ihrerseits ihrer Bestimmung durch die technischen Medien nicht entraten kann. Den Stand der Diskussion angemessen darzustellen, wäre es allemal lohnend, nicht die einzelnen Positionen, die oft Selbstbegründungsversuche ihrer jeweiligen Disziplinen sind, herauszuarbeiten, sondern die Diskussion selbst hinsichtlich ihrer Offenlegung von Medienwesentlichem zu begreifen. Die Philosophie ist dabei selbst ein auf Selbsterkenntnis des Menschen ausgerichtetes Medium. Genauer noch ist bei Weismüller „die Philosophie das Medium der intellektuellen Rückvermittlung der humanen Selbstveräußerung“.2 Philosophische Medienverständnisse beschreiben in sich auch immer ein Verständnis von Philosophie selbst mit. Philosophie lässt sich vor diesem Hintergrund entdecken als die „Mittler- und Grenzdisziplin zwischen Körper und Ding“.3 Ein angemessener Beitrag zu diesem Diskurs mag ein solcher sein, der nicht einer ihn endenden Lösung sich zuneigte, sondern sich seiner Unüberwindbarkeit selbst irgend ästhetisch lustvoll, künstlerisch intellektuell näherte. Vielleicht erweist sich gar die szenische Darstellung als geeigneter, bis an die basalen Bedingungen von Mensch und Medien heran zu reichen, als es sich die institutionellen geisteswissenschaftlichen Organe getrauen, weil die Kunst seit jeher weder ihre Erfüllung im Enden fürchtet noch dauerhaft Gefahr läuft, unkritisch affirmativ zum willigen Opfer wissenschaftlicher oder medialer Vorgaben zu werden. Dabei ist Kunst kein Ort außerhalb jener Vorgaben. Nur obliegt ihr doch ein gewisses tradiertes Anrecht auf Widersinn, sozusagen das Privileg zur Produktion von Undingen, das sie allerdings häufig genug nicht in Anspruch nimmt oder als Effekte verschenkt. Welche Effektivität aber leisten dann demnach die Medien und was ist der mediale Effekt des Theaters? Der dieser Arbeit zu Grunde gelegte Medienbegriff soll an dieser Stelle kurz dargestellt werden. Es ist dieser Medienbegriff ein entscheidender Schlüsselbegriff für das Verständnis der Problematik der Hinterfragbarkeit der Herkünftigkeit der Medien. Es ist dies weiter ein philosophischer Medienbegriff, muss es m.E. sein, weil alle Philosophie schon immer Medienphilosophie ist, soweit sie Ansprüchen einer kritischen, intellektuellen Philosophie genügen und nicht nur ihr Selbstbegründungsversuch mit den eigenen (bereits technizistisch verkürzten) Mitteln sein will. Ich mache mich hier ausdrücklich für einen Medienbegriff stark, wie ihn Christoph Weismüller in seiner Philosophie der Medien skizziert, weil er nach einer gemeinsamen Herkunft von Mensch und Medien fragt und bis an die basalen Konstitutionskriterien beider heranreicht. Von zentraler Bedeutung ist dabei zunächst, dass es nicht um eine begriffliche Fixierung des Seins, des Menschen noch der Medien geht, sondern um deren unhintergeh2 3
Christoph Weismüller: Philosophie der Medien. Düsseldorf 2009, S.12. Ebd., S.13.
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bares gegenseitiges (Ursprungs-)Verhältnis zueinander. Weismüller beschreibt die Medien als „humane Autoreferenzialisierung“4, sie sind die „dinglich sowie technisch ausgestaltete und versachlichte Phantasmagorie der Vermittlung des Jenseits ans Diesseits und des Diesseits ans Jenseits zurück zur Konstitution des Diesseits vom Jenseits allererst her“.5 Der Mensch ist also nicht ohne Medien, nicht ohne Referenz denkbar. Er wüsste schlichtweg nicht von sich. Die Medien moderieren phantasmatisch also das Trauma der Unüberschreitbarkeit, der Unüberbrückbarkeit der Differenz zwischen Diesseits und Jenseits. Gleichzeitig und andererseits werden die Medien – wie die Dinge – so zu Trägern dieses Gedächtnisses, Zeugen der menschlichen Abkünftigkeit und ihrer (Un-)Möglichkeiten. So macht es zunächst allemal Sinn, „unter Medien alle Kulturphänomene zu fassen, die eine Vermittlung des Menschen zu sich selbst und somit auch die Überdeckung des durch ihn hindurch gehenden Risses leisten“.6 Die Weite dieses Medienbegriffs erfordert – in Bezug auf die angehängte theatralische Inszenierung – einige Erklärungen. Sämtliche Kulturphänomene, die eine Vermittlung des Menschen zu sich selbst leisten, sind dann z.B. der Generalstreik und die Straße bei Jean Baudrillard, oder Glaube, Liebe und Kunst bei Niklas Luhmann. Ferner auch die Mutter als Urmedium oder der Faustkeil als Frühding. Sowohl von ihren Produktionsmotiven wie auch von ihrer Gedächtnisbildung her gedacht, unterscheiden sich nicht grundlegend Faustkeil und Internet, nicht Ding und Medium. Die Dinge – so könnte man zäsieren – sind das Selbstbewusstsein der Medien. Und hier erscheint mir der Faustkeil ein nicht so schlechtes Beispiel zu sein, nimmt er die Gewaltverhältnisse (gebrochene Finger, entzündliche Hautabschürfungen etc.) gedächtnisbildend in sich auf. Auch lässt sich hier der gewaltige Unterschied zwischen Gedächtnis und Erinnerung anschaulich mitskizzieren. Der Alltag wird durch die in den Faustkeil als Gedächtnis abgegebenen Gewaltverhältnisse angenehmer, todesferner, und bleibt das auch bis zum Vergessen dieser Zusammenhänge. Die sichere Beherrschung dieses Gedächtnisses ohne die Erinnerung endet etwa mit einem beherzten Schlag auf die eigene Hand. Es ließe sich schon um diese Szene ein ganzes Theater bauen, das den Bemühungen komplexerer Erzählungen in nichts nachstünde. Eine weitere Unterscheidung zu den modernen technischen Medien ist angebracht: Der Progress der technischen Medien entwickelt zuweilen eine Geschwindigkeit, die in Verdacht geraten muss, die Erinnerbarkeit ihres Gedächtnisses zu verunmöglichen. Freilich zeigt bereits der Faustkeil eine Tendenz der Gedächtnisbildung immer auch als Versuch des Vergessenmachens der Sterblichkeitsverweise. Nur gebärden sich die technischen Medien heute hin4
Ebd., S.81. Ebd. 6 Ebd., S.13. 5
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sichtlich ihrer Aufdringlichkeit und ihrer Progressgeschwindigkeit in einer Qualität, die dem Körper endgültig uneinholbar zu werden droht. Jochen Hörisch beschreibt das treffend als ein „seltsames Phänomen: Medien sind seit langem von einer Aufdringlichkeit, die einem Hören und Sehen vergehen lassen kann“.7 Da wird der Mensch sinnenlos und sinnlos. Diese Arbeit wird sich dem Fortschritt gewiss nicht verweigern, progress- und medienkritisch ist sie aber allemal im engsten Sinne des Wortes, des Progresses und des Wesens der Medien selbst eingedenk zu sein, und zwar unter Einnahme einer Perspektive, von der aus die kritische Betrachtung überhaupt erst möglich ist. Und die gilt es zunächst und vor allem zu finden. Durch die kritische Hinterfragung der Medien auf ihre Herkunft hin etwa. Nur sind die Medien wahrlich schwer auf diese ihre Herkunft hin zu befragen, weil sie es sind, die die Herkunft ihrer Herkunft (ihre Körperreferenz) als Gedächtnis in sich schließen. Sie sind der Versuch des Menschen, seine Endlichkeit in Verfügung zu nehmen. Sie sind aus Mangel gedacht, d.h. sie sind bereits in ihrer Konzeption – verglichen mit dem Körper – weniger mangelhaft. Und eben dieser den Medien eigene, produktionsmotivisch anhaftende Drang zur Minimierung des Mangels, der an sich immer nur ein Körperphänomen sein kann, nimmt in Zeiten des rasenden Medienprogresses dringend zu bedenkende Züge an. Statt des Mangels schaffen sie am Ende noch den Körper ab. Die Einlassstellen des Körpers sind ohnehin bereits weithin verschwunden, eröffnen sich bei der einen oder anderen Schwäche der Vermittlungsposition von Medien vielleicht noch katastrophisch. Zu allermeist aber dreht die medial vermittelte Androhung von Mangel die großen Räder in der Weltenuhr. Fukushima als Realkatastrophe hat die Welt zwar – wie es sich gehört – beunruhigt, blieb aber in der Relevanz hinsichtlich politisch zu ziehender Rückschlüsse weit hinter einer möglicherweise existierenden Bombe in der Hand von Schurkenstaaten zurück. Und das, was als katastrophisch aufgenommen wurde, wurde in Relation zur Bombe gebracht, potenzsteigernd sozusagen. Das muss nicht zwingend pessimistisch klingen, nur sei es Grund genug, Medien hinsichtlich ihres Wesens erfassen zu wollen. Grundsätzlich trägt alles Gemachte die Bedingungen seiner Konstitution in Form von Gedächtnis in und mit sich. Die Frage nach deren Aufklärbarkeit, nach deren Erinnerbarkeit bleibt immer auch die Frage nach ihrer Lesart. Glaube keiner, dass es dann Einerlei sei, was am Ende hinten aus den Maschinen herauskommt. Die Maschinen selbst sind bereits Lesarten ihrer Bedingungen. Unter Verwendung des beschriebenen Medienbegriffs und vor dem Hintergrund des Versuchs eines medienphilosophisch aufklärenden Theaters, das einen Beitrag zu einer angemessenen Philosophie der Medien und der damit 7 Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet. Frankfurt am Main 2004, S.70.
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eng verknüpften Frage nach der Darstellbarkeit des Wesens der Medien und der Dinge zu leisten versucht, formuliere ich wie folgt meine Thesen: 1. Medien sind die Vermittlung des Menschen zu sich selbst. In ihrer Dinglichkeit sind sie das Gedächtnis ihrer eigenen und des Menschen Herkunft und das der Grenze seiner (Un-)Möglichkeiten. 2. Als dieses Gedächtnis sind die Medien Todesfluchten, Todesleugnungen, Versuche des Vergessen-Machens ihrer und des Menschen Herkunft. Sie auf ihre Herkunft hin zu befragen, sie also genealogisch zu bedenken, widerstrebt ihrem Absolutheitsanspruch, den aber aufrechtzuerhalten sie konstituiert sind. Sie sind damit der technisch ausgetragene Selbstbegründungsversuch des Menschen zur Überwindung seines Mangels. 3. Am nicht gelingenden Übergang der Medien motiviert sich ihr Progress. Es sind diese nicht gelingenden Übergänge geeignete Einlassstellen zur genealogischen Hinterfragung der Medien und zum Gewahrwerden ihres Wesens als gedachte Erinnerungen. Eine souveräne Position gegenüber den Medien gibt es nicht. 2. ANSÄTZE ZUR AUFKLÄRUNG DES WESENS DER MEDIEN
Im Folgenden soll ausgearbeitet werden, welche Ansätze zur Aufklärung des Wesens der Medien im Allgemeinen und des Wesens der modernen technischen Medien im Besonderen es weiterzudenken lohnt und ob sich daraus nicht bereits ein haltbares Konzept für eine öffentliche Aufklärungsarbeit auf der Bühne ableiten ließe. Anzusetzen lohnt es sich m.E. allemal dort, wo die Medien – zunächst gleich unter welchem Medienbegriff – auch auf ihre Konstitutionskriterien hin betrachtet werden. Einer der deutlichsten Ansätze hierzu findet sich im Musik- und Bühnenwerk Richard Wagners, besonders hinsichtlich dessen Umfangs und abgründiger Tiefe. Über einzelne wichtige Aspekte, vor allem aber auch die medienphilosophische Lesart – es drängt sich keine sonst so auf – der Wagner’schen Gesamtkunstwerkskonzeption wie auch seiner Musiktheorie werde ich noch ausführlich zu handeln kommen. Noch vorher möchte ich Schopenhauers Musik- und Traumtheorie, aus der heraus Wagner seine Musiktheorie und das musikdramatische Gesamtkunstwerk entwickelte, auf ihre Hinweiskraft hinsichtlich der Konstitutionskriterien der Medien und des Menschen hin untersuchen. Schopenhauer bietet sich vor allem deshalb in diesem Zusammenhang an, weil er früh auf einen Ort der Unmittelbarkeit verweist: die allnächtlichen Traumphänomene. Einen dritten, nicht eben ähnlichen Ansatz
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aus der vollen wachen Wirklichkeit heraus konstruiert dagegen Brecht. Folglich ein Ansatz unter Verwendung anderer Begriffe. Bei Brecht – im Detail wird das an gegebener Stelle behandelt – geht es nicht um die Musik als Übergangs- und Vermittlungsphänomen, sondern eine Brechung ebendieses von außen sich aufbäumenden Schicksals. An der Stelle wird auch zu überlegen sein, inwiefern sich die Positionen Brechts und Schopenhauers überhaupt als die Opposition zeigen, als die man sie gemeinhin vermutet. Zumindest wage ich – Brechts Position stärkend – den Verdacht, dass das epische Theater selbst bei einem Schopenhauerianer Brecht, den es freilich nie gab, kein im Wesen anderes gewesen wäre. Gleichzeitig und andersherum – das würde Brecht sicher weniger gefallen – ließe sich Brechts Position als eine innerhalb des Traums beschreiben, als eine dem vollen Erwachen zugeneigte, eine des Aufwachen-wollen-und-nicht-könnens. Brecht denkt von Marx her. Ob einer dieser Ansätze Aufschlüsse über das Wesen der Medien zu geben geeignet ist, wird auch über die Frage ihrer Lesart zu klären sein. Wie oben bereits angeschnitten, trägt alles Gemachte die Bedingungen seiner Konstitution in Form von Gedächtnis immer auch in sich, respektive ist es dinglich dieses Gedächtnis selbst, die Medien also nicht minder. Und ihrer Lesart geht dessen Erlernen, das wiederum einem Medienkontext entspringt, voraus. So kann auch diese Arbeit nur in fragender, die Frage offen haltender Weise sich diesem Referenzpunkt nähern. 2.1 Schopenhauers Musik- und Traumtheorie Sowohl Schopenhauers Musik- als auch seine Traumtheorie, die kennzeichnenderweise sehr eng miteinander verwoben sind, geben weitreichende Einblicke, in welchem Verhältnis Mensch und Medien medienphilosophisch zueinander zu betrachten seien. Diese Schopenhauer’schen Zusammenhänge hier kurz zu skizzieren, ist vor gleich zwei Hintergründen hochgradig sinnvoll. Zum einen entwirft er mit seiner Traumtheorie eine nicht nur seinerzeit geradezu ungängige Perspektive auf den Traum als „die Darstellung der Kriterien seiner Bildung“8, zum anderen sind ebendiese Zugänge, die er skizziert, fruchtbare Einlassstellen Wagners zur Konzeption seines musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Bei Schopenhauer entsteht alles aus dem Willen. Ideen sind dann dieses Willens Verdinglichung, ihre zur Erkenntnis führende Vermittlung erste Aufgabe aller Künste. Was Schopenhauer hier den Künsten zudenkt, ließe sich ohne weiteres auf sämtliche Kulturphänomene ausweiten, wenn nicht gar sein Kunstbegriff ohnehin schon selbige mit meint. Eine Sonderstellung aber denkt Schopenhauer der Musik zu: „Die Musik ist […] keineswegs, gleich den anderen 8 Christoph Weismüller: Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Ein medienphilosophischer Beitrag zu Richard Wagners öffentlicher Traumarbeit. Würzburg 2001, S.89.
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Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität [sic!] auch die Ideen sind: Deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste: Denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen“.9 Somit sei gleich zu Beginn klargestellt: Musik ist bei Schopenhauer keine Kunst unter vielen, sondern die erste aller. Sie ist unmittelbare Objektivation des Willens. Weismüller weist in Musik, Traum und Medien auf diesen Paradoxiecharakter hin. Wie denn wohl sollte etwas Objektivation und unmittelbar zugleich sein? „Schopenhauers Ausführungen aber legen es nahe, daß die Musik als eine solche Paradoxie gedacht werden muß, weil sie auch als eine solche existiert, nämlich als das Medium des Zugleichs; sie ist der medial verselbständigte ausgeschlossene Dritte: Sie ist die Paradoxie“.10 An diesem Musikbegriff wird bereits deutlich, wie sehr sich Traum und Musik konstitutionstechnisch entsprechen. Als Paradoxie, als zum Mittel sich vermittelnde Unmittelbarkeit sind sie (Musik, Traum, Medien) der Fugenkitt, der die Welt zusammenhält, wo sie auseinanderreißt, und auf Abstand hält, wo sie in sich zusammenfallend eins zu werden droht. Das ist allemal ein weiterer Hinweis darauf, dass letztlich alle Kulturphänomene Nachbildungen von Traum sein könnten. Bei Schopenhauer ist die Musik ohne Körper und die Welt dessen Verkörperung. Damit ist die Welt wohlbemerkt nicht Körper, sondern Verkörperung des Körperlosen. Der Nichtkörper aber – das wird auch in Wagners Bezug zur Tragödie (Opferchorgesang) deutlich – lässt sich nur vom Körper her denken als dessen Rückbezug auf sein Gedächtnis. Oder mit Weismüller gesagt: „Die Körperlosigkeit wird von daher verständlich als das Gedächtnis des Körpers, das es erinnernd wieder zu erwecken gilt“.11 Die Krux liegt im Detail: Der Traum, über den wir sprechen, ist nicht mehr Traum, sondern Traumerinnerung aus der Mittelbarkeit des Wachens heraus. Den Intellekt denkt Schopenhauer als Erwachen mit ein. Schopenhauer eröffnet uns durch seine anfänglich ergebnisoffenen Versuche, den somnialen Ereignissen Erkenntnisbergendes abzugewinnen und dabei den Schlaf- und Schlafstörungsphänomenen12 besondere Beachtung zu schenken, eine neue Perspektive auf den Traum: Er ist Ort und Zeit, an dem und in der wir auf ein „unmittelbares Wirken unseres Willens selbst“13 treffen. Die Entstehung des Traums verdankt sich der Tat im Sinne einer „Erregung […] aus dem Inneren 9
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. I.1. Zürich 1977, S.324. Musik, Traum und Medien, a.a.O., S.81. 11 Ebd., S.85. 12 Somnambulismus, Visionen, Halluzinationen etc. stehen seinerzeit nahezu ausschließlich im Pathologie-Zusammenhang. 13 Arthur Schopenhauer: Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt. In: Werke in fünf Bänden/Nach den Ausgaben letzter Hand, Band IV: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften (1851). Bd.1, hrsg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1977, S.265. 10 Weismüller,
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des Organismus“.14 Unter den gleichen Bedingungen, denen sich das Drama verdankt: aus dem Sichtbarwerden der Taten der Musik. Diese Perspektive auf den Traum ist weit mehr, als sie anfänglich scheint, und kann auch heute noch einen relevanten Beitrag zu einer gelingenden Philosophie der Medien leisten, insofern sie auf den Traum als Repräsentationsbildung seitens des Körpers mit den Mitteln des Körpers hinweist. Was heißt das? Hier gibt es eine besondere Selbstreferentialität: Der Traum träumt sich selbst, die Bedingungen seiner Herstellung, sich als Vorstellungsbildung. Er ist damit effektiv in ganz besonderem Sinne, ja, Vorbild aller pointierenden Effekte und zugleich deren Negation. Dass diese Schopenhauer’schen Überlegungen in den aktuellen Mediendiskurs keinen Eingang finden, sagt weit weniger über deren Relevanz als über das Wesen des Diskurses und der Medien, unter deren Bedingungen er geführt wird. Die Unmittelbarkeit ist nicht der Medien Tat, zu der ihre Schöpfer sie riefen. Eher wohl zum Überwinden ihrer Referenz. Und die ist doch wohl des Menschenkörpers (Un-)Vermögen. 2.2. Wagners musikdramatisches Gesamtkunstwerk Das Wagner’sche Musik- und Bühnenwerk gibt bei angemessener Lektüre unzählige Hinweise auf eine gemeinsam gedachte Herkunft von Mensch und Medien, die der mit dieser Arbeit nachgegangenen Frage nach der Darstellbarkeit des Wesens der Medien einen großen Dienst zu leisten imstande ist. Bei Weismüller rückvermittelt das Wagner’sche Musik- und Bühnenwerk gar das Programm der (europäischen) Moderne.15 Nicht erst das Gesamtkunstwerk legt diese basalen Konstitutionskriterien frei, sondern bereits Wagners Weg dorthin. Der Lohengrin etwa, der noch zu den romantischen Opern zu zählen ist, beinhaltet präkonzeptionell bereits Schlüsselelemente dieses Programms: die Vermittlung des Jenseits ans Diesseits, des Körpers zum Traum und des Körpers zu den Dingen im Wachen. Das macht den Lohengrin zu nichts weniger als dem Medieninbegriff. Man könnte auch sagen, er vermittle die Musik zum Drama und überführe so die romantische Oper ins musikdramatische Gesamtkunstwerk. Beginnend möchte ich hier auf die Weisung Lohengrins an Elsa zu sprechen kommen, ihn niemals auf seine Herkunft hin zu befragen. Eine Weisung des sich als absolut darstellenden Mediums und Hinweis auf die letzte verbleibende Bedrohung seiner Absolutheit: genealogisch bedacht, auf den Körper hin als seinen Referenzbereich rückführbar zu werden. Dieses Frageverbot (oder besser: Nichtfragegebot) beinhaltet allerdings schon seine Kehrseite. Das Ver14
Ebd., S.234.
15 Weismüller pointiert das Programm der europäischen Moderne als die „diesseitige Verjenseitigung“.
Vgl. Weismüller, Philosophie der Medien, a.a.O., S.92.
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bot, wie jede Grenze, muss zu allererst nur dann behauptet werden, wenn es nicht absolut ist. Das Nichtfragegebot – Elsa widersteht letztlich der Versuchung nicht – erweist sich als der Inbegriff des Medienprogresses, sozusagen die Provokation der zum medialen Einbezug des Einspruchs und so zu dessen Schweigenmachen führenden Hinterfragung. Denn „wenn Kritik, Einspruch und Untergang zu immanenten Provokationen des medialen Fortschritts geworden sind“, heißt es etwa bei Weismüller, „dann ist die Allmacht der Götter aus dem Jenseits ins Diesseits getreten und hat sich manifestiert als die Progressform dinglicher, technischer und medialer Innovation im Sinne einer Absolutierung der Simulation von Produktion“.16 Damit wäre ein zentraler Punkt im Schaffen Wagners benannt: Er liefert (nahezu) fertige Baupläne zur Konstruktion moderner und modernster17 Medien. Denn aus der Vorstellung heraus, in die volle Verfügung des Übergangs, der auch immer der Übergang zur Erscheinung, zur Darstellbarkeit ist, zu gelangen, sind die Medien seit jeher ins Feld geführt. Am Ort und zum Zeitpunkt der Überschreitung der von ihnen gesetzten Grenzen motiviert sich ihr Progress. Im Diesseits aber werden aus den blitzeschleudernden Göttern Effektmaschinen werden müssen. Bei Wagner sind sie immer schon von höchstem technischem Rang. Um diesen Progress als wechselwirkendes Mensch-Medien-Verhältnis recht zu begreifen, soll hier auf weitere Konstitutionskriterien hingewiesen sein, die eben außerhalb der rein technischen Zirkularität der Medien liegen. So entstehen letztlich alle Medien aus der Vermittlung der Entstehung der Musik. Und die Entstehung der Musik ist eng verwoben mit der Entstehung von Traum. Musik ist der in den Traum weckende Übergang vom erinnerungslosen Tiefschlaf respektive die Repräsentation eben dieses Tiefschlafübergangs im Wachen. Wagner hat um dieses enge Verhältnis von Musik und Traum gewusst und nicht erst in seiner Musiktheorie damit gehandelt. So ist der Lohengrin auch in Wagners Biografie ein Wendepunkt. Er ist der Übergang der romantischen Oper zum musikdramatischen Gesamtkunstwerk. 1848 stellt Wagner die Partitur fertig (der Text ist bereits 1845 fertiggestellt). Es ist dies eine Zeit der Umbrüche: Im Januar stirbt Wagners Mutter, wenig später besucht er erstmals Franz Liszt in Weimar, der 1850 die Uraufführung des Lohengrin leitet und ihm ab dieser Zeit in enger Freundschaft verbunden bleibt. Wagner beginnt in diesem Jahr noch die Konzeption zum Siegfried, an dem er mit einigen Unterbrechungen über 25 Jahre arbeiten wird. Im Lohengrin ist das später auch musiktheoretisch ausgearbeitete inszenierungstechnische Grundprinzip Wagners aber bereits sehr deutlich zu erkennen: Sichtentzug zu Beginn, aus dem Dunkel erklingt die Musik, die sich leise, flirrend (Streicher) einen Platz in der Vorstellung des Rezipienten 16
Ebd., S.93.
17 Bei Weismüller findet der Begriff in Abgrenzung zur Moderne und den epochal darin entstandenen
Medien Verwendung.
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sucht. Zaghaft wagen sich erste Weckrufe der Blechbläser hervor, verschwinden wieder im Flirren der Streicher, bis sie wieder hervorkommen und nach und nach erst in den Traum wecken, dessen Bild sich dann auf der Bühne präsentisch darlegt und als der Traum des Rezipienten oder wenigstens seines Nächsten behauptet. Dieser Traum ist noch nicht stabil in der Visualität. Elsa, die Brabanter, alle stecken noch im Übergang fest. Szenentechnisch sei auch auf den Bildaufbau hingewiesen. Wagners Regieanweisungen sind überhaupt beachtenswert, und nur selten trägt es zum Gelingen einer Neuinszenierung bei, sie allzu rasch auf die Ebene eines bloßen Vorschlags zu ziehen. Der erste Akt beginnt im Schatten einer Gerichtseiche, beschützt von den ins volle Erwachen weckenden Sonnenstrahlen des frühen Morgens. Musik und Drama werden hier nicht eins, sondern begründen sich gegenseitig, jeder als des anderen in Erinnerung zu setzendes Gedächtnis. Musik und Drama bleiben dabei im Übergang dargestellt, können sich nur in diesem Übergang ihres Werdens begegnen. Innerhalb des Traums gerät dieses Steckenbleiben derweil zu einem Dilemma. Der Herzog von Brabant (der Kopf, der Traum und Wirklichkeit unterscheiden könnte) ist gerade tot, sein Sohn und unmündiger Nachfolger Gottfried verschwunden (auf der Bühne: der Sicht entzogen), Elsa des Verschwindens ihres Bruders Gottfried in Form des Brudermords angeklagt. Sie bedürfen einer Macht, sie aus diesem Stillstand herauszuführen (König Heinrich). Der aber steckt selber im Übergang: Nach Brabant ist er gekommen, um die Unterstützung des Heeres für seinen Krieg gegen die Ungarn zu gewinnen. Das Heer der Brabanter kann wiederum aus dem Machtvakuum heraus diesem Werben nicht antworten. Telramund, Vormund Gottfrieds und Elsas und Nachfolger des Herzogs im Falle einer Verurteilung Elsas und des Nichtwiederauftauchens Gottfrieds, will nun König Heinrich Recht über Elsa sprechen lassen, weil mit Elsas Schuld oder Unschuld wohl auch die Frage der Machtverhältnisse in Brabant zu klären sei. Dieses Unterfangen aber ist das Wecken aus dem Traum von außen her. Der Traum aber weckt sich aus sich selbst heraus.18 Die Steckengebliebenen sind auf einen inneren Wecker angewiesen, der die absente Führungsgestalt (Vaterposition und Gedächtnis) wieder verfügbar zu machen vermag. Dieser Wecker muss erträumt werden, zumal von Elsa, ist sie die auf der Bühne repräsentierte Musik, der die Darstellung des Übergangs zum Tiefschlaf obliegt. Sie erträumt sich Lohengrin, weckt ihn in den Traum. Sie versprechen sich die Ehe, um aus dem Übergangsdilemma in die Bewegung des Traums zu geraten. Die Ehe wiederum ist an das Nichtfragegebot Lohengrins geknüpft. Der Lohengrin ist randvoll mit weit über bloße Hinweise hinausgehenden Aspekten, in welchem Verhältnis Musik und Traum, Körper und Ding, letztlich Medium und Mensch sich konstitutiv bedingen. Mehr noch: Er wirft die Frage 18
Das bedachte Wagner bereits ein gutes Jahrhundert vor Freuds Traumtheorie und in Teilen präziser.
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auf, inwiefern nicht Gesamtkunstwerk und die modernen technischen Medien ein und desselben Geistes respektive Willens Effekte (Kinder) sind und in ihrem Bestreben nach Unmittelbarkeit Rekonstruktionen von Traum als Traumerinnerungen. Will sie ernsthaft medienphilosophischer Beitrag sein, wird eine Bühnenkonzeption ohne das Mitdenken von Traum zu kurz geraten. Zu Wagners Traumarbeit sei hier auch das Traumtagebuch erwähnt, das Wagners zweite Frau Cosima ab spätestens 1869 vermutlich lückenlos führte. Darin sind knapp 500 Träume dokumentiert, an die Wagner sich nach dem Aufwachen erinnern konnte. Vom Lohengrin ist darin nur ein einziger aufgeführt, den Wagner am 04.01.1882, im Jahr der Vollendung des Parsifal und knapp ein Jahr vor seinem Tod träumte. Die Fertigstellung der Lohengrinpartitur jährt sich da bereits zum 34. Mal. Der Traum ist kurz und lässt sich schnell erzählen. In Cosimas Aufzeichnungen heißt es: „R. träumt von einer Aufführung des Lohengrin, worin die Sänger, vornehmlich Scaria19, ihre Rollen vergessen hätten.“20 Wagner träumt die Opfer des sichtbaren Erscheinens auf der Bühne: das Vergessen. Er träumt damit die Grenze der Darstellung, das Motiv zum Traum: Er träumt die Musik. Wagners Traum über das Vergessen der Rollen ist eine Aufklärung des Rollenwesens hinsichtlich des Traums und seiner Herkunft. Nun hat der Traum zwei Enden: das Wegschlafen in den Tiefschlaf und das Erwachen in die wache Wirklichkeit. Den ersten dieser Traumübergänge hält also bei Wagner die Musik besetzt. Später in Bayreuth realisiert Wagner auch architektonisch den Sichtentzug der Musik durch die Platzierung des Orchesters unterhalb der Bühne. Durch eine bogenförmige Öffnung zur Bühne hin durchflutet sie zunächst die visuelle Darstellung auf der Bühne und kehrt erst von da aus – ähnlich der lateinischen Messe – reflektiert in den Zuschauerraum. Das Drama selbst sind bei Wagner die „ersichtlich gewordene[n] Taten der Musik“.21 Wie erhält sich dann aber der Traum? Wagner nimmt technisch das Erwachen vorweg und stellt es in der Szene dar, bannt es damit im Traum, wie die technischen Medien sich noch ihren kritischsten Einspruch durch seine Darstellung in sich selbst aufnehmend als bereits erfolgt vom Leibe halten (oder besser: zum Leibe nehmen). Wie war das noch? Der Traum ist tot, es lebe der Traum? 2.3. Das epische Theater Bertolt Brechts Nach diesen Traum-Medien-Zusammenhängen will ich nun die Diskussion um einen weiteren Ansatz erweitern: Brechts Konzeption des epischen respek19 Gemeint ist Emil Scaria (1840-1884), Bass. Galt als idealer Wagner-Interpret. In Wagners Traum
muss es sich um die Rolle Heinrich des Voglers gehandelt haben. 20 Cosima Wagner: Die Tagebücher (1869-1883), editiert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin
und Dietrich Mack, Band 2. München 1976/77, S.865. 21 Richard Wagner (1872): Über die Benennung „Musikdrama“. In: Ders.: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main 1983, S.276.
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tive dialektischen Theaters. Diese Diskussion ehrlich zu bereichern, ist es nicht damit getan, das epische Theater als Gegenspieler der Wagner’schen Gesamtkunstwerkskonzeption ins Feld zu führen oder es zumindest nicht darauf zu reduzieren. Für die diesem Aufsatz zu Grunde gelegte Frage nach der Darstellbarkeit des Wesens der Medien liefert Brecht lohnende Ansätze, die sich schon allein hinsichtlich ihrer Perspektivierungen als fruchtbar zeigen. Brecht buchstabiert das Theater von der Wirkung auf den Zuschauer aus, und zwar als einen ursachenbedingten, steuerbaren Effekt. Eine Perspektive, die im Gesamt als Einzelne so nicht vorkommen kann. Unlängst ließ ich mich in einer Unterhaltung, die im Wesentlichen über die ästhetische Lust an der Inszenierung handelte, zu der wohl etwas kurz geratenen Bemerkung hinreißen, Brecht sei mir in dieser und jener Hinsicht manchmal einfach zu evangelisch. Was in der Wortwahl sicherlich auch der Zwanglosigkeit der Situation geschuldet war, ist im Kern gar nicht so schlecht getroffen. Ich meinte damit eine dem Protestantismus eigene Art, die Welt als veränderbar und ihre Umstände als zerlegbar und einzeln moderierbar oder im Gegenzug kein Schicksal als endgültig darzustellen. Bedenkt man vor diesem Hintergrund, dass der Protestantismus seine ihm ein knappes Jahrhundert vorauseilende medientechnische Entsprechung in der Gutenberg’schen Zerlegung der Schrift in Lettern hat, sei meine Bemerkung hiermit im Nachhinein konfirmiert und ihre Voreiligkeit gesühnt. Brecht schreibt etwa in den Schriften zum Theater: „Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird. Für heutige Menschen sind Fragen wertvoll der Antworten wegen.“22 Der Mensch ist bei Brecht immer in Abhängigkeit seiner Verhältnisse und Umstände zu denken, die er verändern kann und muss. Diesen Zusammenhang aufgeklärt aufrechtzuerhalten, ist letztlich auch Aufgabe und Funktion des Kulturwesens, des Theaters im Besonderen. Inwiefern die Herkunft dieser Verhältnisse und Umstände dann zu beantworten sei oder gar ob, soll an späterer Stelle behandelt werden, hier scheint mir zunächst wichtiger, die Motivation für die Konzeption des epischen Theaters einzuordnen. Wenn ich eingangs dafür geworben habe, Brecht nicht auf den Gegenspieler Wagners zu reduzieren, muss dennoch klar sein, dass das epische Theater nicht ohne die Idee vom Gesamtkunstwerk den Weg auf die Bühne gefunden hätte. Solange ,Gesamtkunstwerk‘ bedeutet, daß das Gesamte ein Aufwaschen ist, solange also Künste ,verschmelzt‘ werden sollen, müssen die einzelnen Elemente alle gleichermaßen degradiert werden, indem jedes nur Stichwortbringer für das andere sein kann. 22 Bertolt Brecht (1955): Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? In: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Zusammengestellt von Siegfried Unseld. Frankfurt am Main 1993, S.8.
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Der Schmelzprozeß erfaßt den Zuschauer, der ebenfalls eingeschmolzen wird und einen passiven (leidenden) Teil des Gesamtkunstwerks darstellt. Solche Magie ist natürlich zu bekämpfen. Alles was Hypnotisierversuche darstellen soll, unwürdige Räusche erzeugen muß, benebelt, muß aufgegeben werden.23
Das epische Theater löst also das Gesamt zu Gunsten seiner Teile wieder auf. Zunächst trennt es die Künste voneinander: Musik vom Schauspiel, das Schauspiel vom Bühnenbild etc., bis schließlich alles wieder für sich selbst steht. Geradezu ein analytisches Vorgehen gegenüber dern heutigen szenografischen Praxis. Ein Schritt der bis hierhin in gewisser Weise nachvollziehbar erscheint, aber große Neuerungen und Schwierigkeiten mit sich gebracht haben musste. Denn Musik oder Schauspiel sind nicht etwa die Elementarteilchen, die sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Schauspiel hat immer auch Anteile von Gestik, Sprache, Gesang, Gebärde, Tanz. Für die anderen Theaterdisziplinen ließe sich ähnliches aufschlüsseln, sicherlich auch manch Widersprüchliches und Überschneidendes. Damit aber ein jedes für sich stehen kann, muss es sich als für sich stehend behaupten. Das führt zuweilen zu allerhand Ver- und Entfremdungen, zumindest aber zur Störung des gewohnten Ablaufs, die ich als erzwungene Trennschärfe beschreiben würde. Es war diese Entfremdung, welche nötig ist, damit verstanden werden kann. Bei allem ,Selbstverständlichen‘ wird auf das Verstehen einfach verzichtet. Das ,Natürliche‘ mußte das Moment des Auffälligen bekommen. Nur so konnten die Gesetze von Ursache und Wirkung zu Tage treten. Das Handeln der Menschen mußte zugleich so sein und mußte zugleich anders sein können. Das waren große Änderungen.24
Und die Größe dieser Änderungen macht sich keineswegs nur in ihrem Einfluss auf die Hartware der Inszenierung bemerkbar. Es verändert auch die Rolle der Moral. Forderte Schiller noch dem Theater ab, eine „moralische Anstalt“ zu sein, sind die Akteure bei Brecht nunmehr „Sittenschilderer“. Das epische Theater ist nicht sentimental oder moralisch, sondern zeigt Sentimentalität und Moral. Sei hier ruhig miterzählt, dass freilich auch Schillers Moralbegriff ein Begriff seiner Zeit war. Brecht bringt das wunderbar auf den Punkt, wenn er Schillers Zeit und vor allem das Publikum als empfänglich für Moralisierungen 23
Bertolt Brecht (1930/1931): Das moderne Theater ist das epische Theater/Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Schriften zum Theater, a.a.O., S.21. Damit könnte sich Brecht natürlich auch gegen die szenografischen Versuche wenden, nichtanstößige ‚Produktwelten‘ oder ‚Atmosphären‘ zu schaffen, die als Zauberwelten der ‚Integration‘, der ‚Intermedialität‘ die Technik ihrer Produziertheit vergessen lassen, die als industrielle diese Welt zergliedern muss, um dann mit der Not ihrer effektgesteuerten Zusammensetzung als ‚Ereignis‘ beschäftigt zu sein. In dieser Hinsicht zahlt Brecht, der den materialistischen Gesichtpunkt natürlich durchschaut, mit gleicher Münze, nämlich mit der Subversion dieser Techniken auf der Handlungsebene, heim. Das macht seine historische Sonderstellung aus. 24 Bertolt Brecht (1936, nicht veröffentlicht): Vergnügungstheater oder Lehrtheater? In: Schriften zum Theater, a.a.O., S.63.
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jeder Art beschreibt. Das Bürgertum war damals gerade begriffen, seine Idee von der Nation zu konstituieren. Da sei es „amüsant“ gewesen, sein Haus einzurichten, „seinen eigenen Hut zu loben“ und „Rechnungen zu präsentieren“.25 Dass Nietzsche ebendiesen Schiller knapp ein Jahrhundert später als den „Moraltrompeter von Säckingen“ schimpft, hängt wohl ebenso sehr mit dem dann vorherrschenden Moralbegriff zusammen, der für Nietzsche sicherlich eine sehr viel trübseligere Angelegenheit gewesen sein musste. Diese Zeit beschreibt Brecht mit dem weniger amüsanten Verfall des eigenen Hauses und damit seinen Hut verkaufen zu müssen, um die offenen Rechnungen zu bezahlen. Nietzsche sei „schlecht zu sprechen auf die Moral“ gewesen. Und wer will denn wohl mehr Kind seiner Zeit gewesen sein als Brecht selber: „Es gab da zweifellos einige schmerzliche Unstimmigkeiten in unserer Umwelt, schwer ertragbare Zustände, und zwar Zustände, die nicht nur aus moralischen Bedenken heraus schwer zu ertragen waren. Hunger, Kälte und Bedrückung erträgt man nicht nur aus moralischen Bedenken heraus schwer.“26 Dass wir Moral also im Kontext des Theaters – des medienphilosophischen ohnehin – als immer irgendwie mitschwingende Weichware mitdenken müssen, die hochgradig in Abhängigkeit ihrer Zeit und damit auch immer Moden unterworfen ist, sei somit ausreichend bewarnt. Denn das Theater ist dialogisch immer auch vom anderen her bedacht. Wie aber schlagen sich nun die großen Veränderungen des epischen Theaters konkret in der Inszenierung nieder? Nun, zunächst fällt auf, dass alles darum bemüht ist, nach Arbeit und nicht nach Zauberei27 auszusehen. Die Herkunft der Mittel steht dabei wohlgemerkt nicht so sehr im Vordergrund wie die Herkunft der Effekte der Mittel. Konkret bühnentechnisch heißt das allemal: Alles, was in die Sichtbarkeit des Zuschauers fällt, darf nur als Theater in die Sichtbarkeit treten. Der Verzicht auf schummrige Beleuchtung, das Nichtverstecken der Lichtquellen und die gute Ausleuchtung des Zuschauerraums, sollen dem epischen Theater das Wachbleiben seines Publikums garantieren, aufkommende Illusionen gleich beenden. Und wenn die Darstellung und die Geschichte die Dunkelheit der Nacht benötigt, tut es eben ein Mond oder eine handvoll Sterne. Die effektegenerierende Technik ist bei Brecht Teil der Theaterarbeit, gehört somit in die Sichtbarkeit. Und mehr noch: „Getroffen werden soll durch das Zeigen der Lichtquellen die Absicht des alten Theaters, sie zu verbergen“.28 Brecht macht damit den Betrug am Zuschauer nicht an der Technik fest, 25 Vgl.
ebd., S.70f. Ebd., S.71. 27 Zum Unterschied von Magie und Zauberei vgl. den Beitrag von Ralf Bohn in diesem Band. 28 Bertolt Brecht (1940): Die Sichtbarkeit der Lichtquellen. In: Schriften zum Theater, a.a.O., S.262. 26
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sondern an deren nicht sichtbar gemachter Verwendung. Brecht verändert gar den Vorhang: Nie ist er ganz geschlossen, zeigt wohl noch an, dass es einen Szenenwechsel gibt, aber eben auch, dass dafür Umbauten und das Hin- und Hertragen von Requisiten etwa, eben wieder Arbeit nötig ist. Es gibt folglich keinen Sichtentzug mehr. Bei Brecht verschwinden die Bilder nicht mehr, sind sie einmal da. Und Brechts Bilder sind skaliert: Detailtreue und Echtheit bei und in unmittelbarer Nähe der Personen, ihrer Kleidung, Taschen oder Waffen, denn die sind echt; Andeutungen – oft verzehrte, grobe oder gar widersprüchliche – hingegen bei der Architektur, denn sie ist die Verhältnisse, aus denen heraus der Mensch handelt. Die Verhältnisse wiederum müssen im epischen Theater lückenhaft und unaufgeklärt bleiben. „Vollständigkeit“ lähmt hier die Fantasie der Zuschauer, wo sie gebraucht wird, die Verhältnisse als die eigenen zu bemerken und ändern zu wollen. Und die Musik? „Das Interesse des epischen Theaters ist“ eben „ein eminent praktisches“.29 Brechts Aufklärungsabsicht hinsichtlich der Medien richtet sich vor allem auf ihre Verwendung, weit weniger auf ihre Herkunft. Es gehört ja fast der Allgemeinbildung an, wie wenig Brechts Verhältnis zur zeitgenössischen Konzertmusik ein Liebesverhältnis war. Wohl vor allem deshalb, weil sie nur wenig geeignet war, sich philosophischen – geschweige denn politischen – Zwecken dienstbar zu erzeigen. Wir sehen ganze Reihen in einen eigentümlichen Rauschzustand versetzter, völlig passiver, in sich versunkener, allem Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere, glotzende Blick zeigt, daß diese Leute ihren unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind. Schweißausbrüche beweisen ihre Erschöpfung durch solche Exzesse. Der schlechteste Gangsterfilm behandelt seine Zuhörer mehr als denkende Wesen. Die Musik tritt auf als ,das Schicksal schlechthin‘.30
Was für eine Offenbarung! Die Musik als Schicksal (von altniederländisch schicksel, „Fakt“, lateinisch fatum oder griechisch moira) schlechthin. Brecht aber geht es um das Verhalten der Menschen zueinander unter den jeweiligen sozialen Gesetzen – da hat sich das Schicksal wohl ein wenig zurückzunehmen. Für die Musik im epischen Theater bedeutet das ihr Ende als rein akustisches Phänomen, sie wird übermalt oder überbildert. Das Orchester, das seinerseits bereits auf einen wohl nicht weiter reduzierbaren Teil beschnitten (kastriert) ist, sitzt offen auf der Bühne. Gesungen werden jetzt Songs, deren Ertönen starken Einfluss auf das Sichtbare hat: Die Beleuchtung wechselt, beleuchtet wird jetzt das Orchester, auf hintergründigen Leinwänden werden Titel der einzelnen 29 Bertolt Brecht (1935): Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater. In: Schriften zum Theater, a.a.O., S.242. 30 Ebd., S.249.
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Nummern projiziert, die Schauspieler vollziehen Stellungswechsel. Und immer bleibt die Musik, zuweilen das Musikverursachende31, getrennt von den anderen Darbietungen. Anfangs schreibt Brecht die Musikstücke noch selbst, ab Mann ist Mann (UA 1926 in Düsseldorf ) schreibt Kurt Weill die Musik. Mit Weill bekommt die Musik sowohl hinsichtlich ihrer Balladenhaftigkeit wie ihrer verordneten Verkürztheit eine neue Qualität, als deren vorerst höchster Gipfel wohl die Dreigroschenoper (UA 1928 in Berlin) gelten darf. Die Musik arbeitete so, gerade indem sie sich rein gefühlsmäßig gebärdete und auf keinen der üblichen narkotischen Reize verzichtete, an der Enthüllung der bürgerlichen Ideologie mit. Sie wurde sozusagen zur Schmutzaufwirblerin, Provokatorin [sic!] und Denunziantin. Diese Songs gewannen eine große Verbreitung, ihre Losungen tauchten in Leitartikeln und Reden auf. Viele Leute sangen sie zu Klavierbegleitung oder nach Orchesterplatten, so wie sie Operettenschlager zu singen pflegten.32
Ja, ganz sicher taten sie das, meinten dabei aber womöglich, die Bilder, nicht die Musik zu singen. Und der Ohrwurm / der hat Zähne / und die trägt er / im Gesicht. Was in der Dreigroschenoper noch sehr gut als intellektueller Lustmoment funktioniert, verliert später – Brecht arbeitet ab Die Maßnahme (UA 1930 in Berlin) mit Hanns Eisler zusammen, der die von Brecht dem epischen Theater als angemessen zugedachte Musik geradezu perfektioniert – allmählich an Kraft und Intensität. Was Brecht betreibt, ist eine radikale Kurzhaltung der reinen Klangphänomene bis sehr nah an ihre Leugnung heran. Diese Kurzhaltung mag kurzfristig per Mangel umso stärkere visuelle Erlebnisse provozieren, auf Dauer aber gerät ihr die Bewegung abhanden, wie der Revolution ihre Feinde. Und dieser Mangel an Gegenseitigkeit von Musik und Bild verweist das epische Theater letztlich auf einen relativ festen, kleinen und kurzen Platz in der Geschichte wie in seiner geografischen Verbreitung. Freilich wird Brecht noch immer gern gespielt, doch in neueren Inszenierungen schwingt schon auch immer eine gewisse Revolutionsnostalgie mit, die nur allzu gerne daran erinnert, wie herzhaft man in der eigenen Jugend Dinge zu verändern pflegte. Der „Apparat“ hat eben auch das epische Theater dankend in sich aufgenommen und produziert so seine eigene Kritik unter den eigenen Bedingungen gleich mit. Ein Aspekt des epischen Theaters aber überdauert bisher alle kulturindustriellen Mechanismen: Brecht führt das Moment des Scheiterns, des Brechens, des Misslingens des Übergangs ein, wenngleich auf nicht besonders subtile Weise, sondern eher in der Art eines wütenden Kindes: mit Sinn für den Effekt. Was das epische Theater als ungeeignet für die dauerhafte Aufrechterhaltung dieser seiner Aufklärungsarbeit macht, ist eben nicht, dass Brecht trennt, 31 Gemeint sind hier die Musiker. Nicht zu verwechseln mit dem Gegenseitigkeitsverhältnis von Musik und Drama, wie es sich bei Wagner findet. 32 Bertolt Brecht (1935): Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater. In: Schriften zum Theater, a.a.O., S.241.
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was ohnehin nie dasselbe war, sondern dass er Musik und Bild nicht in einem angemessenen Verhältnis von- und zueinander denkt, sondern den Graben bleiben lassen will. Doch dieser Graben ist erst der Grund seines Medial-Vermittelt-Seins, das Höllenloch, das die Medien zu überbrücken gemacht sind. Das Wesen der Medien lässt sich nicht technizistisch decodieren, wie man es etwa von der DNA meint, sondern nur im Scheitern oder Steckenbleiben oder sonst eines Nichtfunktionierens ihres Übergangs selbst erfahren, und zwar nur in dem Augenblick und für die Dauer ihres Scheiterns oder Steckenbleibens oder sonst eines Nichtfunktionierens. Die Sehnsucht nach Klarheit und Echtheit, nach Desillusion und gesellschaftlicher Bewegung treibt Brecht. „Der Epiker Döblin gab ein vorzügliches Kennzeichen, als er sagte, Epik könne man im Gegensatz zu Dramatik sozusagen mit der Schere in einzelne Stücke schneiden, welche durchaus lebensfähig bleiben.“33 Ein fast lustvolles Bekennen zu einer – im wahrsten Sinne des Wortes – rationalen Ästhetik, wie man sie sonst nur bei jungen Chirurgen vermuten würde. Oder aber beim Mainzer Gutenberg? 2.4. Die Idee einer öffentlichen Aufklärungsarbeit Die Idee eines medienphilosophisch aufklärenden Theaters verdankt sich meiner Einlassstelle zur Philosophie der Medien: der darstellenden Inszenierungspraxis selbst. Hier sei zunächst das Musik- und Bühnenwerk Richard Wagners genannt, das mich nicht von der Musik her gezogen, aber auf diese hin geführt hat. Die Bühne selbst ist ein Ort besonderer medialer Selbstbehauptung, der noch die größten Katastrophen – für das Publikum augenscheinlich schadlos – in sich zu bannen vermag. Gleichzeitig aber ist die Bühne ein sich ja geradezu aufdrängender Ort, eben diese Dar- und Vorstellungsgrenzen neu auszuloten, in Frage zu stellen. Ferner ist die Bühne ein Ort der Freizeit: Die moderne Bühne, sei es Oper oder Theater, ist heute immer auch ein Ort der Begegnung von Konsumenteninteressen, die zu allermeist wohl dem Wunsch nach Amüsement zuzurechnen sind, und den Ausdrucksbegehren verschiedenster Künstler. Wenn ich von Konsumenteninteressen spreche, spreche ich nicht automatisch von einem unkritischen Publikum. Nur ist der Bühnenbetrieb heute unweigerlich gewissen medialen Vorgaben, allem voran marktwirtschaftlichen Mechanismen unterworfen, denen man sich unmöglich aller zugleich entledigen kann. Etymologisch beschreibt Theater (von altgriech. oke¡_olki „théatron“) einen Zuschauerraum. Die Griechen der Antike trafen sich darin, um einerseits 33 Bertolt Brecht: Vergnügungstheater oder Lehrtheater? In: Schriften zum Theater, a.a.O., S.62. Es war Benjamin, der in seinem Kunstwerkaufsatz eben diese Nähe Brechts zum Film nicht hat zu stark werden lassen wollen, der aber immerhin gesehen hat, dass der Film und nicht das Theater das epische Medium technischer Effekte werden musste.
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ihre Feste oder Dionysien abzuhalten, andererseits politische Diskussionen zu führen. Man ging also dort hin, um aktiv zu handeln, zu feiern oder seine Positionen darzulegen. Theater heute ist bühnenzentriert. Ob das Publikum seinen Erlebnis-, Konsum- oder Bildungsanspruch zu befriedigen sucht, beeinflusst die szenische Darbietung objektiv nur unwesentlich und indirekt. Solche Veränderungen werden gerne dem Laufe der Zeit zugeschrieben. Nun, zu Recht, nur ist der Lauf der Zeit auch nichts anderes als fortgeschriebene – in diesem Fall immerhin knapp zweieinhalbtausendjährige – Mediengeschichte. Sage keiner vorschnell dahin, unser Theater gäbe es schon seit der Antike. Der rege Gebrauch modernster szenografischer Technik prägt Oper und Theater heute. Das ist auch eine Anpassung an die veränderten Sehgewohnheiten der Zuschauer. Die sind längst zutiefst geprägt von ganztägigem Umgebensein von modernster Medientechnik. Nichts habe ich gegen diese Technik einzuwenden, nur gibt die Bühne eines ihrer letzten Geheimnisse preis, will sie noch mit größter Anstrengung dem Kino oder Internet nacheifern. Den Wettlauf der Effekte wird sie doch wohl nicht zu gewinnen glauben? Doch wohl selbst dann nicht, wenn man die Realkörper der Schauspieler oder die LiveAtmosphäre als Effekte ins Rennen schickte. Neuerdings wird dem Opernbesucher die Hemmschwelle der vorbereitenden Lektüre in der Form genommen, dass er die Texte der jeweiligen Opern über der Bühne angezeigt bekommt. Auch nicht nur einmal – klassische Opern neigen doch zu mehrmaligen Wiederholungen – sondern quasi simultan zur singenden Darbietung. So bietet es sich im zweiten Akt Händels Rinaldo geradezu an, Almirenas Lascia ch’io pianga mia cruda sorte nachzukommen, und, sie ihr grausames Schicksal beweinen lassend, die Gunst der Stunde nutzend, fremde Sprachen zu lernen. Allerdings sind die Übertitel als rein visuelles Phänomen nicht ganz barrierefrei. Fairer wäre es etwa für Besucher mit Sehbehinderungen, per Audioguide eine Simultanübersetzung anzubieten. Wer glaubt, das seien nebensächliche Details, die mit dem Kern der Inszenierung nichts gemein haben, der irrt gewaltig. Der Kern der Inszenierung, sein Wesen offenbart sich sehr wohl an den technisch medialen Vorgaben, die in den unterschiedlichsten Formen auf die Bühnen gelangen. Zur Inszenierungswahrheit gehören eben auch der Zwist und die Machtverhältnisse unter den Beteiligten. Der Regisseur ist es wohl in den seltensten Fällen, der die Übertitelung per Beamer fordert. Und über die Inszenierungspraxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts ließe sich wahrlich vieles sagen. Das Gesamtkunstwerk – zumindest im Sinne Wagners – hat scheinbar ausgedient.34 Das epische Theater schimmert hier und dort wohl noch revolutionsnostalgisch als Stilmittel der Provokation durch das unübersichtlich gewordene Dickicht szenografischer Spielarten, die heutige 34 Von
dieser Aussage bleibt die Frage, inwiefern nicht alle modernen technischen Medien sich derselben Traumrekonstruktion verdanken wie das Gesamtkunstwerk, unberührt.
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Regisseure fast in voller Bandbreite zu beherrschen erwartet sind. Eine klare Haltung, wie Bühne heute zu sein hat, lässt sich daraus längst nicht mehr ableiten. Die Bestückung des Spielplans ist eine Wette geworden, deren Restrisiko es klein zu halten gilt. Freilich muss, wer heute erfolgreich sein will, neue Wege zu gehen bereit sein. Nur sind sie oft nicht ganz neu. Am Hamburger Thalia Theater haben sich Intendant Joachim Lux und Dramaturg Carl Hegemann Ende 2011 gedacht, der Schlüssel zu einer breiten Akzeptanz des Spielplans beim Publikum sei in dessen demokratischer Teilhabe zu suchen. Per Onlinevoting war nun das Hamburger Bildungsbürgertum – und selbstverständlich, wer sich dafür hielt – aufgerufen, alte Schätze aus den Tiefen der Theaterliteratur hervorzurufen. Mit 703 Stimmen schaffte es Dürrematts Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi auf den ersten Platz, mit 636 Stimmen (heute sagt man: Votes) dicht gefolgt von Peers Heimkehr, einem Musiktheater von Emig/Hopf/Schmidt. Den dritten Platz in der Gunst der Community eroberte sich Thornton Wilders Schauspiel Wir sind noch einmal davongekommen.35 Diese Geschichte ist vom Feuilleton ausreichend mit Häme bedacht worden. Es kann scheitern, wer etwas wagt. Womöglich – das ist noch nicht abzusehen – erweist sich diese Geschichte noch als Segen für das Hamburger Haus. Hingewiesen sein soll hier nur auf die der Marktwirtschaft entliehenen Variablen, mit denen man heute glaubt, rechnen können zu müssen, will man etwas auf die Bühne stellen. Inhaltlich ist den meisten Bühnen ein gewisser Hang zur Aktualisierung anzumerken. Die Relevanz eines Stückes ist demnach in dem jeweiligen Effekt seiner Zeit auf ebendiese zu suchen und kann nur dadurch übertragen werden, dass der Effekt nach heutiger Maßgabe ein ähnlicher ist. Bliebe zu wünschen übrig, dass es sich um einen Trend im Sinne einer Mode handelt und nicht im Sinne einer Tendenz. Letzteres aber trifft wohl die Wirklichkeit ein wenig besser. In diesem Kontext eine Philosophie der Medien, ihre möglichen Grenzen, die vor allem Darstellbarkeitsgrenzen sind, auf die Bühne zu übertragen, sei diese Arbeit ein lohnender Versuch. Dabei sei angemerkt, dass es sich allemal nur um einen Versuch handeln kann. Denn die Grenzen der Darstellbarkeit werden auch hier letztlich nicht überwunden. Aber wenn es gelänge, die Grenze als schmerzende und irgend störende zu erinnern, die überwinden zu wollen sich sämtliche Kulturphänomene verdanken, wäre dieser Versuch doch recht geraten.
35 Die Ergebnisse des Votings sind der Onlineausgabe des Hamburger Abendblatts entnommen: http://www.abendblatt.de/kultur-live/article2132132/Ein-dramaturgischer-Schildbuergerstreich. html (30.12.2011, 13:19 Uhr).
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3. SKRIPT
WIR WERDEN WOHL TRÄUMEN MÜSSEN (Arbeitstitel)
Ein medienphilosophisches Theater in dreieinhalbTraumbildern ERSTES BILD
Ein Kind, ein Junge, ein Mann, ein Greis, Streicher Aus der völligen Dunkelheit erklingt leisestes Flirren der Streicher. Erkennbar wird allmählich das Zitat der Lohengrin-Ouverture. Der Vorhang ist bereits aufgezogen. Die ersten zaghaften Hervorhebungen der Bläser aus dem Pianissimo sind begleitet von blitzartig aufflackernden, jeweils nur für den Bruchteil einer Sekunde währenden Belichtungen des gänzlich schwarzen Bühnenraums. Die Belichtungen erinnern an Spannungsschwankungen einer unsoliden Stromversorgung. Durch die kurze und lückenhafte Beleuchtung wirken die Bewegungen auf der Bühne unzusammenhängend, unvollständig und abgehackt. Ein Mann (schwarz gekleidet) liegt in der Bühnenmitte. Der Mann ist spurlos verschwunden. Der Mann sitzt auf der Bühne. Der Mann steht auf der Bühne. Der Mann steht an einer anderen Stelle auf der Bühne. Ein Junge (schwarz gekleidet, allein) steht rechts auf der Bühne. Ein Kind (schwarz gekleidet, allein) steht links auf der Bühne. Ein Greis (schwarz gekleidet, mit Gehstock, leicht gebückt, allein) steht links vorne auf der Bühne. Das Kind (links) und der Mann (Mitte) tauchen gleichzeitig auf. Der Mann nähert sich dem Kind.
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Der Mann erreicht das Kind und beginnt es zu würgen oder zu schlagen (man erkennt es nicht recht, wohl aber, dass er es angeht). Das Kind ist verschwunden. [Ein kräftiger Beckenschlag] Der Mann steht mit dem Gesicht der Stelle abgewandt, an der eben noch das Kind stand. Der Greis taucht jetzt weiter rechts auf. Er scheint langsam nach rechts zu gehen. In der Mitte taucht der Junge, der Mann, wo er gerade stand, auf. Der Mann nähert sich dem Jungen. Der Mann erreicht den Jungen und beginnt ihn zu würgen oder zu schlagen (man erkennt es nicht recht, wohl aber, dass er ihn angeht). Der Junge ist verschwunden. [Ein kräftiger Beckenschlag] Der Mann steht mit dem Gesicht der Stelle abgewandt, an der eben noch der Junge stand. Der Greis taucht jetzt noch weiter rechts (etwa zwei Drittel der Bühnebreite abgeschritten habend) auf. Der Mann taucht in der Bühnenmitte, der Greis am rechten vorderen Bühnerand auf. Der Mann nähert sich dem Greis, der ihm entgegensieht. Der Mann erreicht den Greis und will ihn angehen. Dieser richtet sich auf und versteht sich gestenreich zu wehren. [Die Musik wird deutlich mächtiger, das Licht stabiler] Der Mann hält sich die Ohren zu und taumelt die gesamte Bühne nutzend hin und her. Der Greis geht dabei langsam (sich zwischendurch nach dem Mann umblickend) nach rechts ab. Ein Graben voller Licht, der die Bühne der Breite nach teilt, tut sich auf. [Die Musik wird noch mächtiger, unaufgeräumter und aggressiver.] Aus dem Graben erkennt man erste Bogenspitzen der Aufstriche der Streicher. Nun erkennt man den Graben als Orchestergraben [er ist eben so tief, dass man nicht die Köpfe, wohl aber die Bögen beim Aufstrich sehen kann]. Der Mann rennt wild über die Bühne als suche er verzweifelt nach etwas.[Die Intervalle der Beleuchtung haben sich derweil ins Gegenteil verkehrt. Beleuchtet wird jetzt dauerhaft und lediglich unterbrochen wird durch teilweises Erlöschen. Die Beleuchtung erinnert jetzt vielmehr an Neonröhren mit defektem Zünder.]
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Da senkt sich ein schwarzer Vorhang langsam von oben herab. Der Mann läuft zum vorderen Bühnenrand und sieht zum Vorhang auf. Sowie dieser in Greifweite kommt, zerrt der Mann mit aller Kraft daran, bis dieser auf die Bühne stürzt. [Die Musik steigert sich ins Nötigende.] Der Mann nimmt den Vorhang auf, greift ihn beherzt und zieht ihn über die gesamte Bühnenbreite ausgestreckt über den Orchestergraben hinweg zur hinteren Kulisse. [Die Musik klingt dumpf und sehr leise, als sei der Vorhang schalldicht.] Über dem Orchestergraben sieht man die Aufstriche der Streicher noch durch das Heben und Senken des Tuchs. Der Mann versucht hier und da das Heben zu unterbinden, aber die Streichbewegungen führen sich fort. Vom ständigen Gezerre, Heben und Senken muss der Stoff Risse kriegen, aus denen vereinzelt die Musik und Lichtstrahlen entweichen, bevor der Vorhang im hellen warmen Licht des Orchestergrabens untergeht. ZWEITES BILD
Eine Diplomatin, ein Diplomat, zwei kleine Delegationen, opferwillige Briketts Das Licht des Orchestergrabens sucht sich einen festen Platz auf der hinteren Kulisse. Von unten nach oben, langsam anschwellend [die Musik tut es ihm gleich], als wollte es eine Mauer aus Klang und Licht hochziehen. Von rechts tritt ein Diplomat auf. Er hält einen weißen Wimpel (mit Logo) in der rechten Hand. Von links tritt eine Diplomatin auf. Sie hält einen weißen Wimpel (mit selbem Logo) in der rechten Hand. Am rechten und linken Bühnenrand wartet je eine kleine Gruppe Nichtsprachbegabter auf das Ergebnis der Verhandlung. DIPLOMAT (zur Diplomatin gewandt) Ahh, ich habe Sie erst gar nicht gesehen. Die unschönen Vorfälle der letzten Zeit aus ihrer Kriegshaftigkeit in einen Handel zu bringen, schicken mich, einen der wenigen Sprachbegabten meiner Art, als ihren Diplomaten die Sehenden. DIPLOMATIN (zeitgleich!) Ohh, ich habe sie erst gar nicht gehört. Die beunruhigenden Vorfälle der letzten Zeit aus ihrer Kriegshaftigkeit in einen Handel zu bringen, schicken mich, eine der wenigen Sprachbegabten meiner Art, als ihre Diplomatin die Hörenden. Sie tauschen die Wimpel und schütteln sich die Hände. Blitzlichtgewitter wie von einhundert Fotografen.
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DIPLOMATIN Nun, ich höre. Diplomat reagiert nicht. DIPLOMATIN (etwas lauter) Nun, ich höre! DIPLOMAT (erst abgelenkt, dann gesammelt) Ah, ich seh’ schon. Wir wollen gleich zur Sache kommen und die Lage ein wenig beleuchten. DIPLOMATIN Das klingt gut. DIPLOMAT Unsere Position ist klar, und wenn ich mir die Deutlichkeit erlauben darf, mit ein wenig diplomatischem Bemühen, recht leicht einzusehen. DIPLOMATIN Die unsere nicht minder, wenn ich sie erst einmal dargelegt haben werde. Aber eines nach dem anderen, wie es sich gehört. DIPLOMAT Aus unserer Sicht gibt es da vielerlei Sachen zu besprechen, die den Bühnenraum betreffen. Ich darf davon ausgehen, dass wir die Sache im Kern doch wohl ähnlich sehen? DIPLOMATIN Alles andere wäre ja wohl unerhört. DIPLOMAT Na, sehen Sie. Wo man die Diplomatie walten lässt, bedarf es nicht der Opfer. DIPLOMATIN Ihr Verstehen wird die Hörenden erleichtert stimmen. DIPLOMAT (verbeugt sich) Wir sehen uns. DIPLOMATIN (verbeugt sich) Wir hören voneinander. Die beiden schütteln sich die Hände und schauen unter erneutem Blitzlichtgewitter ins Publikum. Der Diplomat geht zu der rechten Gruppe. Die Diplomatin geht zu der linken Gruppe. DIPLOMAT (zu seiner Gruppe gewandt) Wenn ich das richtig sehe…ich weiß nicht…ich glaube…es war ein Erfolg. DIPLOMATIN (zeitgleich und ebenfalls zu ihrer Gruppe gewandt) Wenn ich das richtig gehört habe…ich weiß nicht…ich glaube…es war ein Erfolg. Große wortlose Freude bei den Delegationen und Diplomaten, die darauf zur jeweiligen Seite abgehen. Eine Delegierte der Hörenden und ein Delegierter der Sehenden werfen vor Freude je einen Papierflieger, den sie während des Wartens gefaltet hatten, in den Himmel. Die Flieger verschwinden im heiteren Himmel. Die Lichtwand verwandelt sich nun in ein Mosaik bewegter Bilder. Die einzelnen Stummfilme zeigen Technik und technische Katastrophen von Zugunglücken und Flugzeugabstürzen. Leichte, heitere Klaviermusik begleitet lustvoll die Szene. Unten mittig ist ein schmaler Spalt gelassen, aus dem Feuer zu lodern scheint. Er erinnert an einen Ofen, der den „Apparat“ am Laufen hält. Lustige Tänzer (schwarz und praktisch gekleidet, an Kohlebriketts erinnernd) rennen
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dem Spalt entgegen und stürzen sich lustvoll hinein. Die Klaviermusik ist jetzt deutlich als Schumanns Kinderszene „Am Kamin“ [Op.15] zu erkennen. „Glückes Genug“ [selber Zyklus] erklingt, als sich wie in Zeitlupe der Papierflieger von rechts oben der Wand nähert. Wenig später nähert sich ein zweiter Flieger von links oben. Der erste stupst derweil an die Wand, worauf erwartungsgemäß nichts geschieht. Sekunden später trifft der zweite Flieger auf die Oberfläche der Wand, die daraufhin unter den vorher entzogenen Klängen der jeweiligen Filme in sich zusammenfällt, und zwar mehrmals und immer aus einer anderen Perspektive. Das Bühnenbild geht in einer Aschewolke unter. DRITTES BILD
Delegierte beider Lager, lebende Tweets Als sich die Aschewolke legt, steht da plötzlich und anschlusslos ein Lichtding, das aussieht wie eine Wand. Delegierte laufen aufgeregt umher und bestaunen das unbekannte Ding. ERSTER DELEGIERTER (staunend) Was zur Hölle ist das? ERSTE DELEGIERTE Wo kommt das her? Waren wir das? ZWEITER GELEGIERTER Ich habe so etwas noch nie gesehen. ZWEITE DELEGIERTE Ich habe auch nichts davon gehört, dass so etwas jetzt hier stehen sollte. ERSTER DELEGIERTER (die Wand vorsichtig berührend) … so eine Art … Klagemauer. DRITTE DELEGIERTE Oder so eine Art antifaschistischer Schutzwall? ZWEITER DELEGIERTER Ich meine, die Eiger Nordwand wäre so weiß. DRITTER DELEGIERTER Eine Torwand vielleicht? ERSTE DELEGIERTE Schallmauer. ERSTER DELEGIERETER Eine Twitterwall. [Auf „Twitterwall“ erscheint in der linken oberen Ecke des Dings eine Art Logo, das an einen aus zerknittertem Papier gefalteten Spatz erinnert.] ERSTE DELEGIERTE (den ersten Delegierten mit dem Ellenbogen anstupsend) Frag es! ERSTER DELEGIERTER Was denn? ERSTE DELEGIERTE Na, was es ist? ERSTER DELEGIERTER Wie soll ich es denn fragen? ERSTE DELEGIERTE Einfach fragen halt.
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ERSTER DELEGIERTER Ja, wie? Das Ding hat ja nicht mal ein Ohr oder so was. (Das Ding absuchend) Wo ist denn vorne bei dem? ERSTE DELEGIERTE Einfach fragen halt. Das braucht kein Ohr. Ist wahrscheinlich höher entwickelt oder so. ERSTER DELEGIERTER Dann weiß es womöglich auch so, was wir wollen. ERSTE DELEGIERTE Einfach fragen halt. ERSTER DELEGIERTER (ungläubig) Was bist Du? Hallo? Ist da jemand? ERSTE DELEGIERTE Vielleicht kann es ja doch twittern. ERSTER DELEGIERTER Ja und? ERSTE DELEGIERTE Gib einen Hashtag vor! ERSTER DELEGIERTER Welchen? ERSTE DELEGIERTE Einfach fragen. #herkunft oder so. ERSTER DELEGIERTER (laut rufend) #herkunft! Was bist Du? Wo kommst Du her? [#herkunft (sprich: Hash Herkunft) ist das im Vorfeld vereinbarte Signal für die Zuschauer, dass die Twitterwall jetzt frei geschaltet ist.] Das Ding ist nun eine Twitterwall, die die eingehenden Tweets nicht grafisch visualisiert, sondern von Schauspielern, die auf einem vertikalen Fließband von oben nach unten fahrend die Tweets sprechen (vorlesen). Die Körper der Schauspieler stapeln sich dabei nach und nach auf dem Bühnenboden. Das Fließband wird schneller und schneller. Es türmen sich die Körper, die Tweets vermengen sich zu einem Stimmenwirrwarr, später regnet es gar Körper von der Decke. Die Delegierten halten sich die Ohren zu und schreien verzweifelt, bis auch sie vereinzelt schon von regnenden Körpern getroffen und begraben werden. Der Vorhang senkt sich auffallend zügig. Dann noch ein Vorhang und noch einer. Man staunt, wie viele Vorhänge so ein Theater hat. VIERTES BILD
Alle Akteure, die noch leben Die Bühne ist nach dem Aufzug offenbar etwa einen knappen Meter höher als zuvor. Aus der dem Publikum zugewandten Seite schauen vereinzelt Schuhe und Hände heraus. Alle noch lebenden Akteure betreten die Bühne und verneigen sich zum Schlussapplaus. (Ende des Skripts)
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4. ERLÄUTERUNGEN ZUM SKRIPT
Zum Skript seien hier einzelne, dem rechten Verständnis wichtige Aspekte näher erläutert. Das erscheint mir dringend geboten, zumal das Skript schon formal nicht die Stimmungen und Verstörungen wiederzugeben in der Lage ist, die ich diesem Stück in der szenischen Darstellung zutraue. Abgesehen von dieser – nicht nur formalen – Beschneidung kann ein Bühnenstück m.E. nach frühestens mit seiner Premiere als fertig gelten. Die Vorstellung, dass ein an sich fertiges Skript durch eine Flut von Schwierigkeiten, die dann wohl zumeist technischer Natur sind, zu lotsen sei, kann mir nicht gefallen. Eine solche Herangehensweise verkürzte das Bühnenstück auf die Adaption eines der Vorstellung gefolgten, nicht durch den ganzen Prozess der Medien hindurchgegangenen Schriftstücks. Solche Vorstellung wiederum vermag sich aber nur aus der nicht durch Probleme gestörten Erinnerung heraus zu konstruieren. Der Nichthinterfragbarkeit der Medien hätte man so mitnichten ein Schnippchen geschlagen, man hätte hinsichtlich der Bühnenarbeit eher auf ihre Hinterfragung vollständig verzichtet. So ist diese Arbeit auch immer auf das Mitdenken des noch Ausstehenden angewiesen, ist also in ihrer hier vorliegenden Form zwar nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als ein Konzept. Drei wesentliche Aspekte seien hier kurz erläuternd dargelegt, an denen letztlich auch zu beurteilen sein wird, ob und inwiefern das Skript eine den Thesen entsprechende Sicht auf das Wesen der Medien eröffnet oder in ihrer Nichteröffnung etwas Medienwesentliches darzustellen vermag. Als geeignete Einlassstellen bieten sich m.E. die Eröffnung, der Weg vom Klangstein zum Multimedium und die Twitterwall an. 4.1. Die Eröffnung Am Anfang steht der Wille zum Werden. Es ist dunkel und still. Aus dem Dunkel heraus beginnt zaghaft und zögernd Musik zu erklingen. Hat sich die Musik im Raum stabilisiert, vermag sie erste Lichtstrahlen zu erwecken, die nicht mehr vermögen, als kurzfristig die Dunkelheit zu unterbrechen. In diesen kurzen Lücken des visuellen Nichts scheint sich etwas Lebendes, Menschliches zu regen. Erst liegend, später sitzend, dann aufrecht, dann sich bewegend: der Mensch. Suchend, fragend, sich aus Mangel absolut behauptend.36 Dann: der zur Tat gewordene Wille zum Nicht-tot-Sein. Der Mensch wird erst aus der Differenz zu seiner Abkünftigkeit (im Skript: Kind und Knabe als er selbst und somit Zeugen seiner Vergangenheit37). Sich absolut zu behaupten, kann ihm nicht gelingen, seine Herkunft dröhnt gar in seinen Ohren als Trennungsschmerz, den es 36 „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“, heißt es etwa in Wilhelm Müllers Lieder-
zyklus Winterreise. Vertont von Franz Schubert (1827) D911, 22, „Muth!“, g-Moll. Der Greis ist zukünftig und bleibt trotz des Versuches, ihn anzugehen, zugriffslos.
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zum Schweigen zu bringen gilt. Doch weder die Stille noch der Klang, weder die Dunkelheit noch das Licht bieten dem Begehren zum Sein eine bleibende Stätte. Die Bewegung zwischen ihnen wird Ort und Zeitpunkt menschlicher Existenz. Den Klang unterdrückend droht das Nur-Bild in seiner Referenzlosigkeit stillständig zu werden. Der Klang muss in die Dinge geraten, als verschlossenes Gedächtnis. Nichts anderes stellt das erste Bild dar. Wichtig erscheint mir vor allem anderen, dass die menschliche Existenz keinen Ort und keine Zeit hat, sondern nur in der Bewegung Statt findet. Die Medien sind dieser Ort und diese Zeit phantasmatisch. Sie rückvermitteln erst den menschlichen Körper zu sich selbst aus diesem heraus. Musik und Drama, Klang und Bild sind unentkoppelbar ihr gegenseitig in Erinnerung zu setzendes Gedächtnis. Dieses Verhältnis zueinander kann nicht aus einer dritten Position heraus beurteilt werden; das Auge kann nicht hören, das Ohr nicht sehen. Ergo gibt es keine der Befriedung zustrebende Symbiose, sondern eine Bewegung, die sich dem aus Mangel erhobenen Absolutheitsanspruch ihrer beiden Pole verdankt. Das sind Gewaltverhältnisse allererster Ordnung. 4.2. Vom Klangstein zum Multimedium Musik provoziert das Bild. In ihrer Unmittelbarkeit gehört sie in Differenz zum immerhörenden (nie nichthörenden) Körper gebracht. Das gelingt phantasmatisch etwa durch Dingproduktion. Im Skript ist es eine Wand, die errichtet wird. Sie besteht aus Klangsteinen, d.h. sie ist produziertes Klanggedächtnis. Die Sichtbarkeit vermittelt uns die an sich unmittelbaren Katastrophen aus sicherer Distanz. Die Wand wird zu dem, was alles Ding schon immer ist: ein Multimedium. Dieses Multimedium wiederum behauptet sich als die Einzelnen einend. Alles Nichtsichtbare bleibt aber geopfert. Das Geopferte (das Vergessen) ist hier der Klang, der als lautloses Ding (Papierflieger) unangekündigt indifferent mit den anderen Dingen und so zu deren und seiner eigenen Klangerinnerung wird. Die Realität selbst stürzt in einem Augenblick des offenbaren Scheiterns der vermittelnden Übergänge in sich zusammen, bis wechselnde Perspektiven und Wiederholungen (als sichere Unterscheidungen gegenüber der Vorstellung des echten Todes) den Medienzusammenhang wieder einführen. Auch das Ding währt seine Zeit. Die Papierflieger kamen nur für diejenigen aus heiterem Himmel, die vergessen hatten, dass die Heiterkeit des Himmels Resultat des Miss- bzw. Unverständnisses zwischen den Sehenden und Hörenden war. Beide Delegationen schickten einen Flieger auf die Reise, beide kamen zurück. Das Misslingen der Diplomatendialoge – wer hätte es nicht auch so erkannt – ist ein Zitat Ovids Narziss-und-Echo-Mythe. Narziss als selbstreferentieller Augenmensch kann nicht recht mit Echo, die nie „gelernt einem Anruf zu schweigen, / noch zu reden als erste“, kommunizieren. Im Skript sind die Diplomaten gesandt, die Kriegshaftigkeit der Situation in einen Handel zu bringen. Sie können genauso
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wenig Erfolg haben, wie sie merken können, dass das so ist. Was die Situation augenscheinlich befriedet, moderiert, sind die vermittelnden Multimedien. Der Klang motiviert die sichtbaren Dinge, bleibt aber als Gedächtnis in der Welt. 4.3. Die Twitterwall Plötzlich steht da ein Ding auf der Bühne. Keiner hat gesehen oder gehört, wie und woher es kam. Es hat keine Ohren und keine Augen. Lebt es? Es ist die Medien. Es ist eine Twitterwall, die man innerhalb der technischen Ordnung ihrer Bedingungen auf ihre Herkunft hin befragen kann. Eine Supermaschine, die den Menschen mit sich verbindet. Braucht nur ein wenig Strom, aber sonst sind keine Opfereingaben nötig…oh Gott, da kommen im Sekundentakt Opfer heraus. Der Zuschauer (ganz gleich ob im Zuschauerraum oder online via Livestream) wird zum interaktiven User. Nur dass hier plötzlich der Körper nicht mehr in den Glasfaserkabeln verschwindet, sondern öffentlich erinnernd geopfert wird. Je einer für jeden Tweet. Die Tweets werden, so sie nicht in zur Katastrophe ausreichenden Mengen eingehen sollten, einfach erfunden. Wichtig für das Theater ist lediglich, dass die real eingegangenen Tweets auch wirklich zur Erscheinung kommen. Wer einmal in den zweifelhaften Genuss des Informationskollapses Twitterwall gekommen ist, wird verstehen, dass ein hohes Maß an Absurdität ohnehin in dieser Medieninszenierung steckt. Gelesen werden kann eine Twitterwall nur mehr bei irrelevanten Themen oder solchen, die nur wenige Experten ansprechen. Bei Themen, die großes Interesse in der Community auslösen, bleiben nur noch Schlagzahlen (z.B. 170 Tweets/min) zu bestaunen, die dann zumal als die wesentlichere Information behauptet werden. Sich in dieser Raserei des Körperopfers zu erinnern, darf durchaus irritieren. Auf der Bühne stapeln sich die Körper der Tweets. Es werden mehr und mehr und immer schneller werden es mehr. Die Tweets selbst sind recht bald nicht mehr zu verstehen, alles brabbelt durcheinander, zumal in einer Lesesprache, für die dieser Onlinedienst nicht konzipiert ist (z.B.: At junky siebenunddreißig Doppelpunkt Lol Doppelpunkt Bindestrich Klammerzu). Die Delegierten beider Lager laufen auf der Bühne umher und ahnen das Unheil. Schon bald darauf regnet es geradezu Körper vom Himmel. 5. FAZIT
Ist es mir mit dieser Arbeit gelungen, von ästhetisch künstlerischer Warte her, den Mediendiskurs zu bereichern oder ihn andersherum für die Gestaltungsdisziplinen als lohnende Herausforderung zugänglicher zu machen und ihre künftige Teilhabe zu provozieren? Ich habe versucht, tradierten Sichtweisen – gerade hinsichtlich der Bühnenarbeit – neue Verknüpfungsmöglichkeiten
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gegenüberzustellen, die eben nicht auf deren multimediale Vermischung hinzielen, sondern ihre jeweiligen spezifischen Perspektivierungen als deren eigentliche Aussage herausarbeiten. Einen Medienbegriff aus der Sprache in die Darstellung zu bringen, der bis an die basalen Konstitutionskriterien des Menschen und der Medien heranreicht, mag szenografisch mitunter problematisch bleiben, doch meine ich, eben damit auf eine Lücke hingewiesen zu haben, die ungeschlossen einen ungleich höheren Wert für das Verständnis des Medienwesentlichen hat und damit erst angemessener Beitrag zu einer Philosophie der Medien sein kann. Letztlich wäre mir ein ganz wesentlicher Aspekt meines Vorhabens geglückt, wäre das Vertrauen der Rezipienten in die Realität der Medien wenigstens zeitweise aus den Fugen geraten, als deren Kitt ich sie zuvor skizzierte. 5.1. Antworten oder noch mehr Fragen? Die Frage ist ein gemeinhin unterschätztes Werkzeug der Sprache. Wie Brecht darauf hinweist, sind für „heutige Menschen […] Fragen wertvoll der Antworten wegen“.38 Ein Hinweis also, dass es da einen historischen Zusammenhang geben könnte. Und in der Tat klänge es ja glaubwürdig und wenig aus der Luft gegriffen, dass das Rationalitätsverständnis des Abendlandes wenig offene Fragen zu dulden vermag, verdankt sich doch das Abendland selbst einer ultima responsio. Doch diesen Gedanken hier ohne die ihm angemessene Expertise weiter zu führen, gerät er noch zur Spekulation, die sich ohnehin zu nichts weiter eignete, als die Frage nach der Frage beantwortend zu endigen. Was ist also dran an der Frage? Eine Frage vermag zugleich auf einen unaufgeklärten Sachverhalt wie auf sein Unaufgeklärtsein selbst hinzuweisen. Sie wird zur Erinnerung an Erinnerung und damit zur Aussage selbst, ohne die Lösung für das Problem, auf das sie hinweist in sich zu behaupten. Um keine Missverständnisse oder gar falsche Hoffnungen auf ein bisher übersehenes Supermedium aufkommen zu lassen: Die Frage war gewiss nicht zuerst da. Die Wissenschaft etwa hat gleich ganze Anstalten errichtet, die herauszufinden bemüht sind, solche Fragen zu formulieren, deren Beantwortung überhaupt gelingen kann. Die Frage provoziert immer die Beseitigung des Mangels, aus dem sie provoziert ist. 5.2. Kleiner Exkurs zum Dilettantismus An dieser Stelle sei mir ein kleiner, nicht eben wissenschaftlicher Exkurs zum Dilettantismus gestattet, der vielleicht auch einen angemessenen Ausblick einzuleiten vermag. Dem Dilettantismus ist ein merkwürdiger Wahrheitssinn zu eigen, der wohl in der Unfähigkeit des Dilettanten liegt, die Dinge so zu ordnen und in Sinn zu setzen, wie es der Experte vermag. Diese Ordnungen der Experten aber neigen der Überschätzung der jeweiligen Disziplinen zu, denen 38 Bertolt Brecht (1955): Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? In: Schriften zum Theater, a.a.O., S.8.
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sie entstammen, und mehr noch zur Begründung ihrer selbst mit den eigenen immer schon verkürzten Mitteln. Die Herkunft dieser Mittel zu ergründen, bedarf es aber einer Perspektive, die nicht in ihrer Position ruht. Es ist dies die Perspektive des Wanderers, der zwar hinschaut, aber eben weitergeht. Nicht dass der Dilettant diese Perspektive per se innehätte – überschätzen wollen wir ihn nicht –, nur ist er, seiner Natur entsprechend, ein wenig heimatloser und des ständigen Moderieren-Müssens geübter. Für den Experten sind Fragen immer Störungen, die einer Beantwortung bedürfen. Der Dilettant vermag sich noch irgend lustvoll einer Sache zu nähern, die ihm nicht als ein in einen vermittelnden Kontext zu bannendes Problem begegnet, wie es sich aus der bereits vor dem Problem gestellten Aufgabe des Experten ergibt. Oder mit Adorno: „Es sind die orientierten, weitblickenden Urteile, die auf Statistik und Erfahrung beruhenden Prognosen, die Feststellungen, die damit beginnen ,schließlich muß ich mich hier auskennen‘, es sind die abschließenden und soliden statements, die unwahr sind.“39 Ein angemessener Beitrag zu einer Philosophie der Medien wollte und will diese Arbeit sein. Als angemessen kann ein Beitrag gelten, wenn es ihm gelingt, die Darstellbarkeitsgrenzen recht zu beleuchten. Wenn ich eingangs darauf hingewiesen habe, dass alle Philosophie schon immer Medienphilosophie ist, ist es jetzt vielleicht deutlicher geworden, dass alle Probleme schon immer Medienprobleme sind. Ihre Behebung hat immer auch etwas Vergebliches an sich, aber eben auch immer etwas von Vergebung. So bleiben viele Fragen wie ihre Frager – so hoffe ich doch – offen. Derer vor allem diese: Wie lange wollen die Gestaltungsdisziplinen noch dem Mediendiskurs fernbleiben? Ist denn nicht die Gestaltung als Allererste zur Verbewusstung ihrer Verunbewusstungs- und Fetischisierungssaufgabe verpflichtet? Kann denn Gestaltung etwa einen sinnstiftenderen Aspekt entbergen als den medialen Grenzgang aus intellektueller Lust?40 LITERATUR Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, zusammengestellt von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 199322. Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 20041. 39 Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen und Entwürfe. Gegen Bescheidwissen. In: Max Horkheimer/The-
odor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main, S.218. Adorno meint die „Gescheiten“, die den Faschismus im Westen nicht für möglich hielten. Ein Vernunftsbegriff, der sich am Tausch bildet, ist auf etwa gleichmäßige Machtverhältnisse angewiesen. 40 Mein Dank gilt in besonderem Maße Christoph Weismüller für die Ermutigung, sich einem Diskurs zu stellen, der nicht eben einfach zu fassen und darzustellen ist. Ferner gilt mein Dank Sonja Hunscha, David Wesemann und Ralf Bohn für das Korrektorat meiner oftmals eigensinnigen Sprache und Geert Schüttler für die Unterstützung im Modellbau. Die Modelle sind hier nicht abgebildet.
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Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 200918. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I.1, Zürich, Diogenes, 1977. Arthur Schopenhauer: Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt. In: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand, Band IV: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften (1851). Erster Band, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich, Haffmans Verlag, 1977, S.225-310. Cosima Wagner: Die Tagebücher (1869-1883), editiert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, Band 2, München, Piper, 1976/77. Richard Wagner: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main, Insel Verlag, 19831. Christoph Weismüller: Musik, Traum und Medien. Philosophie des musikdramatischen Gesamtkunstwerks. Ein medienphilosophischer Beitrag zu Richard Wagners öffentlicher Traumarbeit, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2001. Christoph Weismüller: Philosophie der Medien, Düsseldorf, Peras Verlag, 2009.
STEPHAN TRÜBY
MAGIE, TECHNIK UND ARCHITEKTUR.
Unter den vielen Versuchen der letzten Jahrzehnte, kulturelle Evolution in ein theoretisches Modell zu überführen, ragt Heiner Mühlmanns MSC-Theorie heraus. Erstmalig in Natur der Kulturen dargelegt und unter dem Eindruck von 9/11 in MSC. Die Antriebskraft der Kulturen aktualisiert,1 besagt dieses Modell Folgendes: Alle zentralen kulturellen Ordnungen sind stressinduziert; sie resultieren aus grundstürzenden Kriegen und Katastrophen. In den Entspannungsphasen nach derlei Stress-Ereignissen feiern Populationen entweder ihren Triumph oder – um nur von den Extremen zu sprechen – sie lecken ihre Wunden. Die architektonischen Pendants dieser Mentalitäten heißen beispielsweise Triumphbogen, christliche Untergrundstadt oder auch Kolonialarchitektur. Im Lichte der MSC-Theorie wird jedes kulturelle Artefakt zur Coping-Technik einer post-katastrophischen Kondition. Und wenn es sich bei der Katastrophe um einen Krieg handelt, so bedeutet dies im Falle des Bauens: Jede Architektur ist Nachkriegsarchitektur.2 Diese Theorie hat viele Verdienste und sei daher „nach hinten“ erweitert, in Prä-MSC-Zeiten. In gewisser Hinsicht ist „nach der Katastrophe“ auch „vor der Katastrophe“; Nachkriegsarchitektur kennt keine „Stunde Null“,3 sondern hat tiefe historische Wurzeln. Nicht zuletzt verdanken sich die vermeintlich neuen MSC-Ordnungen poststressaler Kulturen auch jenen alten Gewohnheiten, die in magische Gefilde führen. Magie – und davon gehen die folgenden Ausführungen aus – ist ebenso MSC-Präludium wie MSC-Finale. Jede politische Souveränitätssetzung – auch jene in demokratischen Zeiten der Gewaltenteilung – ist magisch begründet insofern, als Macht von den Göttern oder – in säkularen Staaten – einer Rest-Transzendenz hergeleitet wird; und diese magische Souveränitätsbegründung, die seit Beginn der Geschichtsschreibung in allen Gesellschaften zu finden ist, wurde bis dato noch nach jedem MSC-Ereignis in wechselnden Dosierungen reinstalliert. Der irdische Stellvertreter einer magisch begründeten Macht heißt „Technik“. Sie garantiert – verstanden als „Diskriminierungspotential“ oder, allgemeiner, Impressionsmittel – die Durchsetzung 1 Heiner Mühlmann: Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie. Wien/New York, Springer, 1996; MSC. Die Antriebskraft der Kulturen. Wien/New York, Springer, 2005. 2 Vgl. Peter Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2008. 3 Werner Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900-1970. Braunschweig/ Wiesbaden, Vieweg, 1986.
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von mächtiger, im Transzendenten verankerter Souveränität. Das Verhältnis von Magie und Technik sei an einigen Beispielen verdeutlicht. Den provisorischen Anfang macht eine recht allgemein „Vormoderne“ genannte Epoche, die der besseren Übersicht halber zumindest in eine polytheistische und eine monotheistische Phase untergliedert sei. MAGIE, ARCHITEKTUR UND TECHNIK IN DER VORMODERNE
Die Magie kam – als eine polytheistische – am folgenschwersten über die Kombination von Achsialität und Terrassenbau in die Welt der Architektur. Doch bevor diese Kombinatorik greifen konnte, waren noch die entsprechenden Orte, an denen Achsialität und Terrassenbau zusammenfinden sollten, zu bestimmen. Die magische Ortswahl des Polytheismus ist am besten mithilfe eines Diagramms nachzuvollziehen, das vom amerikanischen Theater-Anthropologen und Regisseur Richard Schechner stammt (Abb.1), und das dieser mit folgenden Worten Abb.1 Richard Schechners Diagramm von Orten, die zu zeremoniellen Zentren werden, weil sich an bestimmten Stellen Jagdzüge im Rhythmus der Jahreszeiten überschneiden und landschaftliche Merkmale vorhanden sind. Aus: Richard Schechner: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990 [1985], S.118.
erläutert: „Wo sich zwei oder mehrere Gruppen zu festgelegten Jahreszeiten trafen, wo Nahrung vorhanden war oder gehortet wurde und wo zudem noch ein geographisch markanter Punkt gegeben war, eine Höhle, ein Hügel, ein Wasserloch o.ä., da existierte mit großer Wahrscheinlichkeit ein zeremonielles Zentrum [...].“4 Waren die magischen Orte erst einmal räumlich festgelegt, vermochte die Kombination von Achsialität und Terrassenbau zu greifen. Letztere beschrieb Gottfried Semper als eine „Urtechnik“, die in langen Evolutionsschritten zur 4 Richard Schechner: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1990 [1985], S.118
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Kunst des Steinschnitts führte.5 Auf elaborierten steinernen Plattformen fanden magische Fokoi wie Skulpturen und andere Standbilder einen besonders effektvollen und damit auch wirkmächtigen Grund. Die insbesondere von Jan Assmann beschriebene kultische Szene als Dreiheit von Zeigen, Tun und Sagen konnte nur auf achsial orientierten stereotomischen Terrassenkunstwerken so folgenträchtig evolvieren: Die kultische Szene erfordert dreierlei: ein sichtbares Kultziel in Gestalt einer Statue, Stele oder ‚Scheintür‘, eine Handlung, z.B. die Überreichung von etwas, und einen Spruch, der diese Handlung begleitet und ausdeutet. Damit haben wie die aus den griechischen Mysterien bekannte Dreiheit von Deiknymenon, dem, was gezeigt wird, Dromenon, dem was getan wird, und Legomenon, dem was gesagt wird.6
Mit Assmann lässt sich die polytheistische Magie, die das Göttliche als der Welt immanent begreift, von einer monotheistischen Magie unterscheiden,7 die „demgegenüber auf der Transzendenz Gottes und der kategorialen Unterscheidung zwischen Gott und Welt“8 besteht. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Christentum, das einen „Monotheismus light“ darstellt, etwa mit seinen gotischen Kathedralen den Steinbau von aller Erdenschwere zu lösen versuchte. Während die Romanik noch von einer massiven, festungsartigen Bauweise geprägt wird, ermöglichen gotische Spitzbogen, Kreuzrippengewölbe und Strebepfeiler eine Verlagerung statisch notwendiger Strukturen aus dem Innenraum hinaus ins Äußere. Dadurch konnte im Innern die Vertikale betont und eine Illusion von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit geschaffen werden. Diese Tendenz erreichte in der ab 1247 erbauten Kathedrale von Beauvais einen Höhepunkt (Abb.2), die mit ihrer Scheitelhöhe von 48,5 Meter etwa den romanischen Dom zu Speyer um mehr als 15 Meter übertrifft. In Ergänzung zur Technik des Pfeiler-, Bogen- und Gewölbebaus trug vor allem auch der mittelalterliche Fensterbau zur magischen Herleitung von päpstlich-bischöflicher Souveränität aus göttlicher Macht bei: Die Strahlen der Sonne, das Licht Gottes, sollten durch großflächige Glasfenster die ganze Kirche erfassen und das Bauwerk zur gebauten Metaphysik verwandeln. So kam es in der Gotik zur ersten großen Blütezeit der Glasmalerei, insbesondere in den französischen Kathedralen, wo sie stärker noch als in anderen Teilen Europas Teil des kirchlichen Gesamtkonzepts war. Während die polytheistische Magie ihren räumliche Bezugsebene in der 5 Vgl. Gottfried Semper: Die vier Elemente der Baukunst“ (1851). In: Heinz Quitzsch: Gottfried Semper. Praktische Ästhetik und politischer Kampf. Bauwelt Fundamente 58, Braunschweig/Wiesbaden, Vieweg, 1981. 6 Jan Assmann: Magie und Ritual im Alten Ägypten. In: Jan Assmann, Harald Strohm (Hrsg.): Magie und Religion. München, Fink, 2010, S.37. 7 Zum schwierigen Verhältnis monotheistischer Religionen zum Magie-Begriff vgl. Jan Assmann. 8 Jan Assmann: Zur Einführung: Die biblische Einstellung zu Wahrsagerei und Magie. In: Jan Assmann, Strohm, Magie und Religion, a.a.O., S.22.
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Abb.2 Kathedrale von Beauvais, erbaut ab 1247. © Oliver Wittmann 2012.
Terrassierung der Erde und der Platzierung von Kultzielen auf Terrassierungen suchte, verlegte die monotheistische Magie ihre räumliche Bezugsebene in die Höhe, um damit Jenseitigkeit und Abgehobenheit von Innerweltlichkeit zu betonen. Indem monotheistische und quasi-monotheistische Religionen wie das Judentum, das Christentum, der Islam ihren Souveränitätsanspruch nur von dem einen Gott ableitet, agierten sie genuin magisch, obwohl sie die Magie in der Regel als ein zumeist mit dem Tod zu bestrafendes Verbrechen verurteilten. Als magisch sind vor diesem Hintergrund nicht nur die religiösen und politischen Bauten von implizit magisch agierenden politischen Mächten zu betrachten, sondern auch jene Menschen und ihre Wohnumwelten, die von eben diesen Mächten als explizit magische ins gesellschaftliche Abseits gestellt und für vogelfrei erklärt wurden. Dies war vor allem bei den Hexen der Fall. Verursacht durch die konfessionellen Konflikte im post-reformatorischen Europa, handelte es sich bei der europäischen Hexenverfolgung von 1450 bis 1750 (Höhepunkt 1550–1650, Österreich bis 1680) zum Teil um ein europäisches HysteriePhänomen bezüglich Zauberei und Hexerei, zum Teil um eine kirchliche Aktion gegen Häretiker. Im Zuge dieser Verfolgungen speiste sich das Bild des abgelegenen und sonderbaren Hexenhauses ins kollektive Gedächtnis ein (Abb.3). Es geht konform mit den abseitigen magischen Ortspräferenzen nach traditionell anthropologischem Verständnis, repräsentiert etwa durch Marcel Mauss: Die Friedhöfe, die Kreuzwege und der Wald, das Moor und die Abfallgräben, alle Gegenden, in denen Gespenster und Dämonen wohnen, sind bevorzugte Orte der Magie. Man betreibt die Magie am Rand des Dorfes und der Felder; Türschwelle, Herd, Dächer,
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Abb.3 Das Hexenhaus im Überlinger Stadtgarten.
Firstbalken, Strassen, Wege und Pfade gehören zu den Plätzen, die eine bestimmte ausreichende Eigenschaft besitzen.9
MAGIE, ARCHITEKTUR UND TECHNIK IN DER MODERNE
Die verbannende Verharmlosung der Magie ins Wunderlich-Randständige, die durch die traditionelle Anthropologie betrieben wurde (und teilweise noch wird), verfehlt die auch in der Moderne nach wie vor ortbare Präsenz des Magischen. Folgte man gängigen Verlautbarungen, so wurde Magie in der Moderne zur unterhaltsamen Zauberei verharmlost,10 doch trifft dies nicht den Kern der Sache. Magie, verstanden als ein von Göttlichkeit, Rest-Göttlichkeit oder Pseudo-Göttlichkeit abgeleiteter Souveränitätsanspruch, spielt auch nach der Aufklärung eine nicht zu unterschätzende Rolle, und das zyklisch auftretende Hin und Her um die Notwendigkeit einer Politischen Theologie bestätigt dies. Kein moderner, von der Kirche emanzipierter Staat kann seine Souveränität aus sich selbst heraus begründen, und Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmtes Diktum, wonach der „freiheitliche, säkularisierte Staat [...] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“,11 fasst diesen Sachverhalt gut zusammen. Anders als im Feudalismus, wo der König stets von „Gottes Gan9 Marcel Mauss: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (1903). In (ders.): Soziologie und Anthropologie Band 1. Frankfurt am Main/Berlin/Wien, Ullstein, 1978, S.80. 10 Vgl. Christoph Daxelmüller: Zauberpraktiken. Die Ideengeschichte der Magie. Düsseldorf, Patmos, 2005 (1993). Vgl. zu dieser Unterscheidung auch den Beitrag von Ralf Bohn in diesem Band. 11 Ernst-Wolfgang Böckeförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1976, S.60.
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den“ regierte, gibt es in der Republik keine allgemein gültige Definition des Souveräns. Denn nur in der Theorie ist das Volk Träger der Souveränität; faktisch delegiert es große Teile der Souveränität bzw. Staatsgewalt an Staatsoberhäupter und Parlamente, deren Handlungen und Architekturen ohne religiös-transzendente Spurenelemente des Magischen nicht auskommen. Vor allem aber reüssiert Magie in Gestalt der Technik. Begleitend zur technischen Entwicklung der Moderne wurde aus dem Magier, dieser vormodernen Souveränitätszumutung, ein in der Regel souveränitätskonformer Unterhaltungszauberer, der in zumeist anti-spiritualistischer Manier beherrschte Technik inszeniert. Wenn die polytheistische Magie ihre bodennahen Diesseits-Techniken vor allem der Stereotomie und der (steinernen, bronzenen etc.) DeiknymenonFertigung zu verdanken hat und wenn die monotheistische Magie – zumindest in ihrer abgeschwächten christlichen Spielart – ihre himmelwärts strebenden Jenseits-Techniken vor allem den ausgedünnten innenräumlichen Tragstrukturen und der Glasmalerei verdankt, so ist moderne Magie vor allem der mehr oder weniger gottlosen Welt allgemeiner technischer Innovationskraft verbunden – vor allem im Bereich der geheimen Waffentechnik. Die Architektur, die seit der Moderne ihre Verbindung zur architectura militaris weitgehend verloren hat, kann jedoch von derlei avancierter Technologie kaum noch berichten. Sie kann nicht mehr durch technische Innovation von magischen Bezügen zeugen, nur noch durch Tradition. Wahrscheinlich wird der Moment, ab dem politische Magie und Architekturtechnik getrennte Wege gingen, am besten durch den Palace of Westminster repräsentiert, erbaut 1840 bis 1860 durch die Architekten Charles Barry und Augustus Pugin. Das britische Parlamentsgebäude beherbergt ein abgeschwächtes System der Politischen Theologie insofern, als das politische System des Vereinigten Königreichs seit der Glorreichen Revolution auf dem Konzept basiert, dass der „King in Parliament“ (auch „the-Crown-in-Parliament“ oder „the-Queen-in-Parliament“) die volle Staatsgewalt innehat und zugleich Oberhaupt der Anglikanischen Kirche ist. Nicht das Volk ist in Großbritannien der Souverän, sondern ein Parlament, das aus drei Kammern besteht: dem
Abb.4 David Boswell Reids Plan für die künstliche Luftzirkulation im Palace of Westminster Aus: David Boswell Reid: Illustrations of the Theory and Practice of Ventilation. London: Longmans, 1844.
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Oberhaus, dem Unterhaus und der kirchlich-weltlichen Macht des Monarchen. Mit dem Parlamentsneubau sollte für dieses System eine gotisierende, weil dadurch angeblich wahrhaft ‚christliche‘ Architektur errichtet werden. Gleichzeitig sollte das Bauwerk durch die Verpflichtung des schottischen Erfinders David Boswell Reid ein showcase im Bereich künstlicher Luftzirkulation werden. Im Palace of Westminster sind, bedingt durch die Arbeit Reids, die Quellen des air-conditioning zu finden (Abb.4). Derweil lagerte sich – wie bereits angedeutet –, der technische Arm des Magischen in einen anderen kulturellen Bereich aus, nämlich die Zauberei. Moderne Magie ist als ein waffengestütztes Verfahren zu bestimmen, das an jedem Ort und zu jeder Zeit ein nichtwestliches Jenseits in ein westliches Diesseits zu transformieren vermochte; das ferne Weltgegenden in Kolonien verwandelte; das in heimischen Parlamenten sich dafür Beistand von oben einholte; und das in der beginnenden Unterhaltungsindustrie des Bühnenillusionismus symbolisch wiederholte, was die Armeen ohnehin praktizierten, nämlich die Techniken des Verschwinden- und Erscheinenlassens, der Verwandlung, der Levitation und der Fragmentation zu feiern.12
Abb.5 Jean Eugene RobertHoudin bei der Vorführung des „Wunderbaren Orangenbaums“, 1844 (Sammlung Wittus Witt).
Ein gutes Beispiel für den Nexus von Zauberkunst und magisch befeuerter Aggressionspolitik ist der französische Zauberkünstler und „Vater der moder12 Siegfried Fischbacher: „Alle Illusionen beruhen auf fünf Grundkonzepten: Auftauchen, Verschwinden, Verwandlung, Levitation (das freie Schweben eines Körpers im Raum) und Zersägen.“ – In: Siegfried und Roy: Meister der Illusion – Die Geschichte eines Welterfolgs. Düsseldorf, Econ, 1995 (1992), S.66f.
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nen Zauberkunst“ Jean Eugène Robert-Houdin (1795-1871), der Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Gauklertradition seiner Profession hinter sich ließ, ein eigenes Theater im alten Pariser Palais Royal eröffnete, um dort ein gehobenes und intellektuelles Publikum mit eleganten Kunststücken, optischen Illusionen und Mentalmagie zu begeistern (Abb.5). Seine Fähigkeiten stellte er auch in den Dienst der französischen Kolonialpolitik, als er im Auftrag seiner Regierung die Algerierer von der Überlegenheit der Franzosen zu überzeugen versuchte. Hierzu fertigte er einen kleinen Kasten an, den selbst die kräftigsten Männer unter den nordafrikanischen Zuschauern nicht zu heben vermochten; nur einem kleinen französischen Mädchen gelang dieser Akt mühelos – wenn der versteckte Elektromagnet abgeschaltet war. Auch führte Houdin das Auffangen von Gewehrkugeln vor, die er anschließend auf eine Mauer schoss, welche darauf hin scheinbar zu bluten begann. Noch deutlicher wird der Nexus von Zauberkunst und magisch befeuerter Aggressionspolitik mit dem Fall des deutschen Illusionisten Helmut Schreiber, genannt ‚Kalanag‘ (1903-1963). Noch in den Trümmern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs baute er seine berühmte Kalanag-Revue auf, mit der er in den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts um die halbe Welt tourte. Höhepunkt dieser Show war ein verschwindendes Auto: Seine Assistentin (und Ehefrau) Gloria nahm mit dem zahmen Geparden Simbo auf dem Schoß in dem Fahrzeug Platz, und nachdem Kalanag einen Schuss abgegeben hatte, waren Auto, Frau und Raubtier verschwunden. Dann wurde ein
Abb.6 Kalanag und Hitler (Zeitpunkt unbekannt).
zuvor aufgeblasener Luftballon zerschossen und gab Frau und Raubkatze wieder frei. Was Wirtschaftswunderdeutschland gerne verdrängte, war die Tatsache, dass
MAGIE, TECHNIK UND ARCHITEKTUR 143
Kalanag als „Zauberer des Führers“13 galt, der Hitler wiederholt auf dem Berghof am Obersalzberg vorgezaubert hatte (Abb.6). Im Nationalsozialismus machte er aufgrund seiner guten Kontakte zu Propagandaminister Joseph Goebbels schon bald Karriere als Direktor der Tobis-Filmgesellschaft. Vom „Dritten Reich“ als Präsident des Magischen Zirkels eingesetzt, reduzierte Schreiber die ursprünglich 1373 Mitglieder auf 400 und untersagte die Verwendung von Kompositionen aus der Feder von Juden als Hintergrundmusik. Ohne Zugehörigkeit zum Schreiber-Zirkel hatten Zauberer in Deutschland faktisch Auftrittsverbot; in der Logik der Zeit betraf dies natürlich vor allem jüdische Illusionisten. Seine letzten Lebensjahre genoss Kalanag in Gaildorf bei Backnang. In geradezu zwingender Tradition Politischer Theologie befand sich in seinem letzten Wohnhaus in Gaildorf ein gotisierendes Glasfenster, das gleichnishaft die größten Erfolge des Zauberers zusammenfasst (Abb.7).
Abb.7 Das „zauberhaftgeheimnisvolle Glasfenster“ des Kalanag (Helmut Schreiber), eingebaut in Schreibers letztem Wohnhaus in Gaildorf; Postkarte des Kalanag-Museums im TraumZeit-Theater Backnang.
MAGIE, ARCHITEKTUR UND TECHNIK IN DER NACHMODERNE
Mit der provisorisch „Nachmoderne“ genannten Epoche, deren Beginn, Überlegungen von David Harvey aufgreifend,14 auf Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts datiert sei, gerät die Idee staatlicher Souveränität insbesondere in den global vernetzten Zentren des Nordens zunehmend unter Beschuss. Die Gründe hierfür sind vor allem in der Wirkmacht der Bretton-Woods-Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds zu suchen, deren weitreichende Handlungsspielräume und Interventionsmacht erst nach dem Ende 13 Vgl. 14 Vgl.
Bettina Albrod: Der Zauberer des Führers. In: Die Welt, 15.11.08. David Harvey: The Condition of Postmodernity. Cambridge, Mass./Oxford, Blackwell, 1990.
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von Bretton Woods so richtig deutlich werden. Der internationale Souveränitätsdiskurs übt sich daher seit ein paar Jahren – befördert auch die Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2008 – in Revisionsmut. Mit dem Stichwort „Responsibility to Protect“ wird der Versuch gemacht, Souveränität neu zu definieren: Vor allem die Verpflichtung, für den Schutz seiner Bürger zu sorgen, zeichne sie nach aktuellen Verständnis aus, nicht mehr das absolute Abwehrrecht eines Staates. Komme ein Staat der Schutzverpflichtung für seine Bürger nicht mehr nach – man denke etwa an die jüngeren Diskussionen um Libyen und Syrien –, gehe die Verantwortung auf die internationale Staatengemeinschaft über. Ein in diese Richtung zielendes Souveränitätskonzept wurde von 150 UN-Mitgliedstaaten im Schlussdokument der UN-Vollversammlung 2005 akzeptiert und gilt als ein im Entstehen begriffenes internationales Recht. Es ist offensichtlich, dass mit einem solch bürgerfixierten Souveränitätsverständnis, das stets vom Konsens der internationalen Staatengemeinschaft mitgetragen werden muss, eine magische Souveränitätsableitung stark in die Defensive geraten ist. Nicht mit der Aufklärung und der Moderne, wie viele Autoren meinen, sondern erst mit der Nachmoderne könnte sich daher die Politische Theologie als ein historisch überholtes Konzept entpuppen. Begleitet wird die Entvölkerung des politischen Himmels durch technologische Entwicklungen, die auf traditionell göttlichem Terrain – der Erzeugung von Leben – immer größere Erfolge verbuchen können. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Reihe von zentralen Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie. So gelang 1972 den beiden Biologen Stanley N. Cohen und Herbert Boyer die erste In-vitro-Rekombination von DNA, und seit 1977 können rekombinante Proteine in Bakterien hergestellt und in größerem Maßstab produziert werden. Erste transgene Nutzpflanzen wurden ab 1982 gefertigt, und im selben Jahr gelang die Erzeugung von so genannten „Knockout-Mäusen“ (also Mäusen mit gezielt deaktivierten Genen) für die medizinische Forschung. Im Jahr 1990 schließlich startete das Humangenomprojekt mit dem Ziel, das gesamte menschliche Genom zu entschlüsseln und zu sequenzieren – was bis 2003 dann tatsächlich auch erreicht wurde. Das erste transgene Produkt kam 1995 mit der Flavr-Savr-Tomate auf den Markt; ein Jahr später, 1996, erfolgten erste gentherapeutische Versuche beim Menschen und 1999 konnten humane Stammzellen erstmals in Zellkulturen vervielfacht werden. Im selben Jahr überschritt das Marktvolumen rekombinant hergestellter Proteine in der Pharmaindustrie erstmals den Wert von 10 Mrd. US-$ pro Jahr. 1997 wurde das Schaf Dolly geboren, zu dessen zehntem Geburtstag die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Dolly war einzigartig, gerade weil sie es nicht war – das Schaf war die erste genetische Kopie eines Säugertiers. Mit ihm begann das Klonzeitalter.“ Die biotechnologische Revolution, die die politische Revolution im Bereich der Souveränitätslehre parallelisiert, führt zu einer wesentlich augen-
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Abb.8 Siegfried & Roy mit ‚Haustieren‘ (ca. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre).
und sinnfälligeren Verbindung von Technik und magischer Erscheinung, als dies noch in der Moderne der Fall war – und niemand hat dies besser verstanden als die Magier Siegfried Fischbacher und Roy Horn. Die beiden gebürtigen Deutschen, die ab 1966 unter dem Namen ‚Siegfried & Roy‘ zu Weltruhm gelangten (und für die mit insgesamt über 25 Millionen Zuschauern meistbesuchte Show von Las Vegas verantwortlich zeichneten), machten sich vor allem mit ihrem Umgang mit Tieren einen Namen (Abb.8). Doch anders als noch Kalanag, von dessen Gepard-Tricks sie für ihre spätere Arbeit inspiriert worden waren, blieb es bei Siegfried & Roy nicht bei Dompteurnummern, sondern sie griffen in die Evolution des Tierwesens durch die Biotechnologie der Züchtung aktiv ein.15 Es war insbesondere der Tier-Empathiker Roy, der dafür sorgte, dass die herkömmlichen Zaubertricks sich einer anrührenderen Story unterordneten: der Sensation einer gleichsam auf der Weltbühne sich vollziehenden Entstehung von Leben. Hierzu verstand es Roy, seinen alten Traum, einen weißen Tiger in das Bühnengeschehen einzubeziehen, Wirklichkeit werden zu lassen. Vom Cincinnati-Zoo erhielt Roy drei weiße Tigerbabies; die beiden Magier begannen systematisch mit der Aufzucht einer Tigerrasse, der sie später den Namen „Royal 15 Vgl.
Siegfried, in: Siegfried und Roy, Meister der Illusion, a.a.O., S.91.
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Abb.9 Siegfried & Roy und Michael Jackson beim Füttern eines weißen Tigerbabys (1980er Jahre).
White Tigers of Nevada“ gaben, und sie schafften tatsächlich ein zoologisches Novum: Sitarra, eines der Tigerbabies aus dem Cincinnati-Zoo, wurde 1986 zum ersten schneeweißen Tigerweibchen, das wiederum schneeweiße Junge zur Welt brachte (Abb.9). Roys persönlicher Traum wurde Realität: „die Wiederauferstehung oder Erschaffung – was immer man glauben mag – der schneeweißen Tiger“.16 Er erinnert sich begeistert: Wie sollten wir das als Magier übertreffen? Das war die größte Magie, die ich je erlebt hatte. [...] Wir konnten verschwinden, wiedererscheinen, fliegen und schweben, wir konnten praktisch alle unsere Phantasien verwirklichen – aber die Geburt von Sitarras Jungen übertraf alles, wozu wir jemals imstande gewesen wären.17
Ende der achtziger Jahre ließen sich Siegfried & Roy in Ergänzung zu ihrem Züchtungserfolg mitten in Las Vegas ein Habitat für sich und ihre Tiere errichten, das unter dem Namen ‚Jungle Palace‘ bekannt wurde (Abb.10-11). Siegfried beschrieb das Haus einmal mit folgenden Worten: Mitten in der Wüste haben wir auf 32 Hektar Grund ein bayrisches Landhaus errichtet und eine Landschaft geschaffen, die mich an meine Kindheit in Bayern erinnert: üppig grünes Gras, Tausende von Bäumen, Bäche, Brücken, König-Ludwig-Statuen und malerische Teiche mit Enten und schwarzen Schwänen. Außerdem haben wir Pferde, Ziegen und Hühner, und über die weiten Rasenflächen stolzieren Dutzende von weißen Pfauen. Schließt man das Tor, könnte man glauben, irgendwo in Süddeutschland zu sein. Zu Hause bevorzugen wir noch immer herzhafte deutsche Kost und bemühen uns, liebgewordene Bräuche auch im amerikanischen Alltag beizubehalten.18
16 Roy
in ebd., S.211. Ebd., S.216f. 18 Siegfried, in ebd., S.226. 17
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Abb.10 Im Innern von Siegfried & Roys Jungle Palace in Las Vegas (1990er Jahre).
Abb.11 Tiger-Habitat auf dem Gelände des Jungle Palace in Las Vegas (Aufnahme: ca. 1990er Jahre).
Auf dem riesigen Areal realisierten die Magier aber auch Roys Vision eines weißen Lebensraumes für seine weißen Tiger: Der Maharadascha von Baroda hatte mir erzählt, vor über 300 Jahren habe die Urheimat der weißen Tiger in den Ausläufern des Himalajas gelegen. Folglich waren sie von schneebedeckten Bergen umgeben gewesen. Dies ist reine Spekulation, aber vielleicht hatten die Schneeflächen ihnen Schutz durch Tarnung geboten, den sie dann einbüßten, als sie in andere Gebiete überwechselten. Ich wollte ihnen das Gefühl der Sicherheit aus ihrer ursprünglichen Heimat zurückgeben.19
Der Jungle Palace ist eine gebaute Absurdität und repräsentiert aufs Eindrücklichste die magischen Potentiale einer nachmodernen Architektur: Ein homosexuelles Paar errichtet ein Manifest der sexuellen Reproduktion: einen Ersatz-Himalaya-Gletscher, der die Fertilität vermeintlich weißer Tiger unterstützen soll, umgeben von bayrischer Landhaus-Üppigkeit, die sich wiederum in einem künstlichen Dschungel befindet, die in der Wüste von Nevada geschaffen wurde. Ein Gletscher im Dschungel in der Wüste – wie könnte Magie besser Raum werden?
19
Roy, in ebd., S.212.
ERIKA THÜMMEL, KARL STOCKER
SZENOGRAFIE EINES HEILIGTUMS.
EDITORIAL
Als wir von den Herausgebern des vorliegenden Bandes zu einem Vortrag zum Tagungsthema eingeladen wurden, war unsere Arbeitsteilung von vorneherein festgelegt: Erika Thümmel beschäftigt sich seit Jahrzehnten beruflich als Gestalterin und Restauratorin intensiv mit Mariazell und religiösen Praktiken, während sich Karl Stockers Tätigkeit als Kulturwissenschafter und Infodesigner auf die wissenschaftliche Leitung einer steirischen Landesausstellung zum Thema Wallfahrt beschränkte. Daher ist auch in der gedruckten Fassung des Vortrags Erika Thümmel für die gesamte Textierung und Analyse der Szenografie dieser prototypischen katholischen Wallfahrtskirche verantwortlich, während Karl Stocker eine unterstützende Funktion über Strukturierung und Kontextualisierung (Auswahl der Zitate) ausübte. Wir hoffen, dass dieser Beitrag die dialogische Qualität dieser Interaktion widerzuspiegeln vermag.
1. VORBEMERKUNG Die Religion ist eine Form des geistigen Jochs, das überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für andere, durch ein Leben in Elend und Verlassenheit niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht des Ausgebeuteten im Kampf gegen die Ausbeuter läßt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits aufkommen, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf gegen die Naturgewalten den Götter-, Teufel-, Wunderglauben usw. aufkommen ließ. Wer sein Leben lang schafft und darbt, den lehrt die Religion Demut und Geduld im irdischen Leben und vertröstet ihn auf den himmlischen Lohn. Wer aber von fremder Hände Arbeit lebt, den lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden; sie bietet ihm eine wohlfeile Rechtfertigung für sein Ausbeuterdasein und verkauft zu billigen Preisen Eintrittskarten zur himmlischen Seligkeit. Die Religion ist das Opium für das Volk. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz, ihren Anspruch auf ein auch nur halbwegs menschenwürdiges Dasein ersäufen. W. I. Lenin, Sozialismus und Religion, 1905.
Wallfahrtsort Mariazell Der weithin bekannte Wallfahrtsort Mariazell liegt in einer abgelegenen und schwer erreichbaren Region im Norden der Steiermark auf ca. 850 Metern Seehöhe. Ca. 1,5 Mio. WallfahrerInnen bzw. BesucherInnen kommen jedes Jahr in diesen kleinen Ort in den Bergen mit der größten Kirche des Bundeslan-
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Abb.1 Ankunft der Pilger bei der Wallfahrt der Völker im Mai 2004.
des. Gerade in den vergangenen 15 Jahren erlebt die im Jahr 1157 gegründete Mönchszelle wieder einen neuen Boom des Wallfahrtswesens. Wenn ich im Folgenden die szenografischen Konstruktionen dieses ‚Heiligtums‘ freilege, so versteht sich diese Analyse als Beschreibung einer seit Jahrhunderten unverändert auf höchstem Niveau praktizierten, szenografischen Praxis, an der ich Gelegenheit hatte über ca. 15 Jahre hindurch am Rande mitzuwirken und vor deren Professionalität ich – als agnostische Protestantin – höchste Achtung entwickelt habe, übertrifft sie doch bei weitem alles, was ich
Abb.2 Gotisches Hauptportal der Basilika Mariazell in den langen Wintermonaten.
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im Bereich von Ausstellungen u.dgl. erlebt habe. Da bei dieser Beschreibung die visuelle Komponente eine große Rolle spielt, ist sie ergänzt durch Bilder aus meinem persönlichen Mariazell-Fundus und Filmstills vom Habsburgerrequiem 2012, welches ich zwischen der Security von den Emporen aus dokumentieren konnte. 2. STORY TELLING Aber freilich […] diese Zeit, welche das Bild der Sache, die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem Wesen vorzieht […]; denn heilig ist ihr nur die Illusion, profan aber die Wahrheit. Ja die Heiligkeit steigt in ihren Augen in demselben Maße, als die Wahrheit ab- und die Illusion zunimmt, so daß der höchste Grad der Illusion für sie auch der höchste Grad der Heiligkeit ist. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 1848, S.23.
Firmenlegende Im Jahr 2007 wurde mit großen und vielfältigen Festivitäten das 850-jährige Bestehen des Wallfahrtsortes Mariazell begangen. Den Höhepunkt stellte der Besuch Papst Benedikts XVI. im Gnadenort dar. Die diesen Feiern zu Grunde liegende, weitverbreitete Gründungslegende ist eine relativ einfache und vergleichsweise wenig wundersame: Ein Benediktinermönch aus dem ca. 170 Kilometer entfernten Mutterkloster St. Lambrecht wurde in ein von wenigen Holzknechten bevölkertes Waldgebiet in den Bergen geschickt, um sich dort anzusiedeln und zu missionieren. Er errichtete eine
Abb.3 Eine der frühesten Darstellungen der Gründungslegende, ausgeführt durch Giovanni Battista Colomba um 1665 am Deckenfresko des Presbyteriums.
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Abb.4 Die im 18. Jh. neugestaltete und umschreitbare Gnadenkapelle im Zentrum der Basilika.
Zelle, d.h. eine kleine hölzerne Kapelle, die ihm als Wohn- und Schlafraum diente. Der Abt erlaubte ihm, eine selbstgeschnitzte, einfache und handliche Marienfigur, gefertigt aus einer alten Linde oberhalb des Klosters, mitzunehmen. Fotos dieses Baumes finden sich noch in Führern aus dem Beginn des 20. Jh. Der einsame Mönch auf einem Reitpferd musste im Winter und bei Nacht durch unwegsames Gelände, wo ihm ein Felsblock den Weg versperrte. Aber dank der wunderbaren Wirkung der Marienfigur öffnete sich dem verzagten Mönch der Weg und er erreichte am 21. Dezember 1157 sein Ziel. Die Marienfigur wurde auf einen Baumstrunk in der Zelle gestellt und es sprach sich bald herum, dass von ihr eine wunderbare Wirkung ausgehe. Nach dem Zustrom der Holzknechte kamen bald auch bedeutsame Herren aus weit entfernten Gebieten des Habsburgerreiches, insbesondere Markgraf Heinrich von Mähren und König Ludwig der Große von Ungarn. Der Wallfahrtsort wurde immer bedeutender, aus der hölzernen Kapelle wurde eine große gotische Kirche und schlussendlich ein monumentaler Barockbau. Überliefert wird auch, dass die hölzerne Marienfigur nach wie vor an dem Ort der ersten Zelle steht. Geschmückt mit prunkvollen Marienkleidern und gekrönt mit goldenen Kronen stellt sie unverändert das Zentrum der Wallfahrten dar. Sie spendet Beladenen Trost, heilt Kranke und schützt die BewohnerInnen Österreichs und der ehemaligen Kronländer in allen Belangen des Lebens. Soweit die Überlieferung!
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Recherchen rund um das Gnadenbild, durchgeführt von meiner Kollegin Heidelinde Fell und mir, haben interessante Erkenntnisse zu der Entstehung dieser Erzählung erst Jahrhunderte nach der angeblichen Gründung ergeben. Zwischen dem überlieferten Gründungsdatum von Mariazell und der ersten urkundlichen Erwähnung von ‚cella‘ (Cellerwald) im Jahre 1243 liegen 86 Jahre, aus denen wir keinerlei Kenntnis von einer Zelle, einer Kirche oder einer Ansiedlung in diesem Gebiet haben. Erst 1266 wird in einer Urkunde über Grenzstreitigkeiten zwischen den Stiften Lilienfeld und St. Lambrecht eine Ortschaft Cell erwähnt und eine Kirche mit einem Altar der glorreichen Jungfrau. Das symbolträchtige Datum 21. Dezember als Gründungstag und das Jahr 1157 hat sich wahrscheinlich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh. ‚eingebürgert‘. In den spätmittelalterlichen schriftlichen und bildlichen Zeugnissen kommt dieses Datum jedenfalls noch nicht vor. Auf dem Tympanonrelief über dem Haupteingang der Basilika, angefertigt um 1438 unter Abt Moyker (1419-1455), sind zwar die ersten Mariazeller Wunder in Stein gehauen, ist aber weder die Gründungslegende mit Mönch ‚Magnus‘ dargestellt, noch das Gründungsjahr
Abb.5 Spätgotische Schutzmantelmuttergottes mit König Ludwig d. Großen am Tympanonrelief über dem Haupteingang.
erwähnt. Die Inschrift am Tympanon erwähnt vielmehr das Jahr 1200 als (Bau-) Beginn der Kirche. In der ältesten erhalten gebliebenen Zusammenfassung der Geschichte des Gnadenortes, verfasst vom St. Lambrechter Benediktiner Johannes Menestarfer aus dem Jahr 1487, wird das Jahr 1284 als Gründungsjahr des Heiligtums und der Ortschaft genannt. Das heißt, im 15. Jh. wusste man noch nichts von einer Gründung im Jahr 1157. Wie in einigen wissenschaftlichen Beiträgen bereits dargelegt, lässt sich das Gründungsjahr 1157 aus einer ‚Fehlinterpretation‘ der Bulle Papst Hadrians IV. (reg. 4.12.1154 -1.9.1159)
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ableiten. Dieses am 21.12. (ohne Jahresangabe) ausgestellte Schutzprivileg stellt auf Ansuchen des Lambrechter Abtes Otker einige von St. Lambrecht aus besiedelte klösterliche Niederlassungen – darunter ist Mariazell nicht erwähnt – unter seinen Schutz und Schirm. Auch hinsichtlich der Gnadenstatue bestehen augenfällige Ungereimtheiten zwischen der überlieferten Erzählung und den Ergebnissen wissenschaftlicher Recherche. Aus stilistischen Gründen lässt sich die Gnadenstatue in die Zeit um 1280 datieren, mit Sicherheit stammt sie nicht aus der Mitte des 12. Jh. Und sie ist auch keine einfache bäuerliche Arbeit eines dilettierenden Mönches, sondern eine höchst qualitätsvolle, feine, fast höfisch elegant zu nennende Arbeit, wie es sie in der Region Steiermark kaum in vergleichbarer Qualität gibt. Die Verehrung dieser Figur als sogenanntes Gnadenstatue beginnt erst mit der Gegenreformation zu Beginn des 17. Jh. Bis dahin finden sich auf allen Darstellungen des Wallfahrtsortes, wie Votivtafeln, Wunderaltären etc., unterschiedliche Marienfiguren, aber nie die jetzt als Gnadenbild verehrte Skulptur. Mariazell war ein Marienwallfahrtsort und man betete zur Muttergottes. In der großen Kirche gab es mehrere Marienaltäre und mehrere Mariendarstellungen. Im Zuge der propagandistischen Bemühungen der Gegenreformation und in Anbetracht der Konkurrenz unter den Wallfahrtsorten schien es den Mönchen aber offenbar
Abb.6 Die Gnadenstatue gekrönt und geschmückt mit einem der ca. 120 Kleider.
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besser, alle Aufmerksamkeit auf eine wundertätige Marienfigur zu fokussieren. So wurde diese vermutlich älteste Figur zum Gnadenbild erhoben, optisch durch einen Baldachin betont und aufwändig geschmückt. Was die Narration betrifft, so wurde die sich auf das Jahr 1157 beziehende Gründungslegende erstmals 300 Jahre später, um 1470, unter dem sehr um die Propagierung von Mariazell bemühten Abt Menestarfer, in dieser Art formuliert. Er ließ diese aufschreiben und verbreiten, da eine klar kommunizierbare Entstehungsgeschichte auch zu dieser Zeit bereits als wichtig erkannt wurde, obwohl sich die wirkliche Geschichte zu dieser Zeit bereits im Dunkel der Vergangenheit verlor. Bildliche Darstellungen der Gründungsgeschichte ließen noch weitere ca. zwei Jahrhunderte auf sich warten. Und so ließ Abt Moyker auf dem großen Tympanonrelief nicht die ‚aktuelle‘ Gründungslegende, sondern die ersten Wunder in Stein meißeln. Die Wirkung guter Geschichten war den Mönchen dieser Zeit völlig bewusst. 3. USP (UNIQUE SELLING PROPOSITION) Religionen mit universalem Anspruch, die anerkannt worden sind, verändern sehr bald den Akzent ihrer Werbung. Anfangs ist es ihnen darum zu tun, alle zu erreichen und zu gewinnen, die zu erreichen und zu gewinnen sind. Die Masse, die ihnen vorschwebt, ist universal; es kommt auf jede einzelne Seele an und jede Seele soll die ihre werden. (...) Was sie sich wünschen, ist im Gegensatz zu dieser [der Masse; A.d.V.] eine folgsame Herde. Es ist üblich, die Gläubigen als Schafe zu betrachten und für ihren Gehorsam zu loben. Auf die wesentliche Tendenz der Masse, nämlich zu raschem Wachstum, verzichten sie ganz. Sie begnügen sich mit einer zeitweiligen Fiktion von Gleichheit unter den Gläubigen, die aber nie zu streng durchgeführt wird; mit einer bestimmten Dichte, die in gemäßigten Grenzen gehalten wird, und einer starken Richtung. Das Ziel setzen sie gerne in eine sehr weite Ferne, ein Jenseits, in das man gar nicht gleich hineinkommen soll, da man noch lebt, und das man sich durch viel Bemühungen und Unterwerfungen verdienen muß. Die Richtung wird allmählich das wichtigste. Je ferner das Ziel, umso mehr hat es Aussicht auf Bestand. Canetti, Masse und Macht, 1980, S.21.
Ewiges Leben Für die Wahl eines Wallfahrtsortes im Spätmittelalter war die Dauer des Ablasses, also der Erlass von zeitlichen Sündenstrafen im Fegefeuer, ein wesentliches Argument. Bereits im Jahr 1330 ist die Kirche „unserer Lieben Frau zu Zell“ in einer Ablassurkunde des Salzburger Erzbischofs Friedrich III. erwähnt, der einen Ablass von 40 Tagen allen, die „bei Gelegenheit die Mühen einer andächtigen Wallfahrt zur Kirche zu Zell“ auf sich nehmen, gewährt. 1340 verheißen neun Bischöfe jenen Gläubigen Ablass, die Bauhilfe für die Kirche leisten. Von großer Bedeutung für den Aufschwung von Mariazell war dann die 1399 erfolgte Verleihung eines vollkommenen Ablasses durch Papst Bonifaz IX. Er wurde für die Woche nach der Oktav von Maria Himmelfahrt gewährt und für all jene, welche zur Erhaltung der Gnadenkirche beitrugen.
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„Stars have been here!“ Wichtiger als die Gründungslegende erschien vorerst die Erzählung, dass bereits wichtige HerrscherInnen durch Anrufung der Mariazeller Muttergottes Hilfe gefunden hatten. So werden auf unzähligen Darstellungen der mährische Markgraf Heinrich und seine Frau Agnes gezeigt, die angeblich von einem Gichtleiden geheilt wurden, sowie König Ludwig d. Große von Ungarn, der ein feindliches Heer besiegt hatte und daher als großer Stifter auftrat. Nach der Gegenreformation kam diese Rolle zahlreichen Herrschern aus dem Hause Habsburg, insbesondere Leopold I., Karl VI. und Maria Theresia zu. Das Volk der Wallfahrer und die unterschiedlichen Ausprägungen der Volksfrömmigkeit wurden von den leitenden Benediktinerpatres leicht verächtlich als Notwendigkeit in Hinblick auf die erwünschte Besuchermasse respektiert. Diese Haltung ist bis in die Gegenwart wirksam, indem der Kontakt zu Staatsoberhäuptern und Wirtschaftsbossen bewusst gepflegt, die einfachen WallfahrerInnen und ihr Glaube an die Hilfe der Gnadenmutter hingegen eher als Argument zur Sicherung der Credibility inkaufgenommen werden. Auf enge Verbindungen gerade des Benediktinerordens mit der weltlichen und geistlichen Obrigkeit wurde ich gleich zu Beginn meiner Arbeit für Mariazell von einem Bekannten scherzhaft hingewiesen, indem die Ordensabkürzung OSB (Ordine Sancti Benedicti) als „oben sehr beliebt“ umgedeutet wurde. Aus dieser Haltung heraus ist auch verständlich, dass den Gaben des Volkes wenig Aufmerksamkeit geschenkt und allfälligem Wunderglauben eher mit Skepsis begegnet wurde. Ungebrochen wirksam und allgemein akzeptiert ist jedoch der Glaube an die heilsame Kraft des Glaubens, das Wissen um die Wichtigkeit eines Ortes an dem Platz ist für Sorgen und Ängste, sowie das Wissen um die Stärkung durch die Gemeinschaft. Und in diesem Sinne wirkt der Gnadenort auch nach wie vor. Sicherheit Wichtig waren aber auch weltliche Schutzbriefe für den gefährlichen, weiten Weg. Und so bemühte sich der schon erwähnte Abt Heinrich Moyker 1429 erfolgreich um einen Schutzbrief, welcher schließlich 1442 eine Bestätigung durch das Konzil zu Basel erfuhr und in dem all jene mit Kirchenbann belegt wurden, die WallfahrerInnen nach Mariazell nicht ungehindert ziehen ließen. Gesundheit und Glück Im Vergleich zu anderen Wallfahrtsorten ist Mariazell arm an sogenannten ‚Wundern‘. Die Gründungsgeschichte ist banal und wenig wunderbehaftet, und die Propagierung setzte nur in einer eng eingegrenzten Phase von der Mitte des 15. Jh. bis zu Mitte des 17. Jh. auf die Wirksamkeit von überlieferten ‚Mirakeln‘.
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Abb. 7 Ein Stück Stacheldraht vom „Eisernen Vorhang“, aus Dank nach Mariazell geschickt in einer alten Schachtel.
Mit Krankenheilungen wird nur sehr am Rande geworben, betont wird hingegen die vielfältige Schutzfunktion in vielerlei Bedrängnissen: von Seenot bis zur Heilung einer besessenen Kindsmörderin, von Schutz vor Feuersbrünsten bis zur Unterstützung im Kampf gegen die sogenannten Türken. 4. PROPAGANDA
Schautafeln Die Produktion von Bildtafeln und unterschiedlichen Darstellungen des Heilsgeschehens für Menschen, die des Lesens nicht kundig waren, haben in der Kunstentwicklung des christlichen Abendlandes eine zentrale Bedeutung. Natürlich auch an einem Wallfahrtsort wie Mariazell. Nachdem Mariazell bereits im 14. Jh. eine bedeutende Anziehungskraft erlangt hatte, setzte im 15. Jh. eine vom Stift St. Lambrecht gelenkte massive Werbetätigkeit für den aufstrebenden Wallfahrtsort ein. In dieser Zeit begann man, die Wundertaten der Magna Mater Austriae aufzuschreiben, und so wurde um 1430 auch das erste Mirakelbuch verfasst. Handgeschriebene Mirakelbücher zählten in dieser frühen Phase, neben den Mirakelbildern, zu den wichtigsten Propagandainstrumenten. Ebenfalls um 1430 wurde die St. Lambrechter Votivtafel in Auftrag gegeben, wobei die Bezeichnung missverständlich ist, da es sich nicht um ein – von einem/er betroffenen VotantIn – gestiftetes Bild handelt, sondern um eine Auftragsarbeit der Kirche. 1438 wurde mit ähnlicher Ikonografie das nach außen hin sichtbare Tympanonrelief über dem Hauptportal angebracht und im
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Jahr 1467 erfolgte die Aufstellung eines ersten (nicht mehr erhaltenen) Wunderaltares innerhalb der Kirche mit 18 Mirakelbildern. Ein halbes Jahrhundert später, als sich bereits die Reformation abzuzeichnen begann, unternahmen St. Lambrechter Äbte noch größere Anstrengungen, um den Bekanntheitsgrad von Mariazell als Wallfahrtort zu steigern. Im Jahr 1512 wurde der Kleine Wunderaltar mit sechs Bildern errichtet. Um 1519 folgte der Große Wunderaltar, der ursprünglich sogar 50 Bilder aufwies. Dieser große Flügelaltar war wie auch die anderen in der Kirche aufgestellt und diente der Propaganda für die Mariazellwallfahrt in Konkurrenz zu bayrischen Wallfahrtsorten. Nach einem reformationsbedingten Einbruch des Pilgerstroms im 16. Jh. wurde der neuerliche Aufschwung der Wallfahrt in Zusammenhang mit der Gegenreformation durch Abt Heinrich von Stattfeld zum Anlass genommen, 1622-1626 einen großformatigen Mirakelzyklus anfertigen zu lassen. Nach den doch eher kleinformatigen Darstellungen auf den gotischen Holztafeln bediente man sich nun der neuen Technik von Öl auf Leinwand, welche größere Formate zuließ und gleichzeitig günstiger war. So entstanden 32 Bilder von 160 x 120 cm, welche weithin sichtbar an den gotischen Säulen des Langhauses der Basilika angebracht waren, bevor sie umbaubedingt hinauf auf die Emporen wanderten.
Abb.8 Zu Propagandazwecken um 1520 hergestellter Holzschnittzyklus mit den Wundern von Mariazell.
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Dort wurden in Erweiterung dieses großen Zyklusses Ende des 17. Jh. auch die Deckengemälde mit Wunderdarstellungen aus der Geschichte des Wallfahrtsortes geschmückt, womit bereits fast die gesamte Kirche im Dienst der Propagierung der Gnadenmutter stand. Printprodukte Eine größere Vervielfältigung von Werbemitteln war durch die Etablierung des Holzschnittes (in Europa zwischen 1400 und 1550) möglich. Auch das Stift St. Lambrecht bediente sich dieser modernen Technik und ließ um 1520 einen umfangreichen Zyklus von Mirakeldarstellungen anfertigen, von welchen noch 26 Holzschnitte u.a. in der Albertina erhalten sind. Hinsichtlich der dargestellten Mirakel ist eine enge Beziehung zu dem in etwa gleichzeitig entstandenen Großen Mariazeller Wunderaltar erkennbar. Ab dem beginnenden 17. Jh. wurden dann in weit größerer Auflage und zu viel geringerem Preis kleine Beichtzettel und Andachtsbildchen aufgelegt. Aktuell läuft eine Kampagne mit österreichweit affichierten 8-Bogen-Plakaten, gesponsert durch eine renommierte Werbeagentur. Magische Objekte Entgegen der allgemeinen Meinung, dass das Wallfahrtsgeschehen immer auf das Gnadenbild fokussiert war, muss festgestellt werden, dass es sich dabei um
Abb.9 Früheste Darstellung des bekleideten Gnadenbilds auf einem der wenigen erhaltenen gotischen Pilgerzeichen von um 1520.
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eine relativ späte ‚Erfindung‘ handelt: Die ersten erhaltenen Darstellungen einer Marienfigur in direktem Zusammenhang mit wunderbaren Begebenheiten stammen aus der ersten Hälfte des 15. Jh. und zeigen die Muttergottes als Schutzmantelfigur. So ist auf der von St. Lambrecht in Auftrag gegebenen Votivtafel von 1430 eine gekrönte Schutzmantelmuttergottes dargestellt, unter deren weitem Mantel weltliche und geistliche Würdenträger Schutz suchen, im Hintergrund der königliche Reiter Ludwig bei einer Schlacht. Ebenfalls eine Schutzmantelmadonna ist auf dem bereits genannten Tympanonrelief von 1438 und auf einer Kirchenglocke von Hans Mitter von 1453 dargestellt. Dies ist insofern bemerkenswert, weil heute keine derartige Figur in und um Mariazell erhalten ist. Ab der zweiten Hälfte des 15. Jh. hingegen begegnet uns diese Darstellungsart nicht mehr, sondern sind verschiedene andere, in der jeweiligen Zeit ‚moderne‘ Darstellungsformen Mariens vertreten. Das bekleidete Gnadenbild, so wie wir es heute kennen, begegnet uns erstmals auf einem Pilgerzeichen von 1520 und einem Beichtzettel von 1610, bis ca. 1650 aber durchaus nicht durchgängig, sondern gleichzeitig mit anderen unterschiedlichen Mariendarstellungen. Unter einem Gnadenbild ist in diesem Zusammenhang natürlich nicht nur ein gemaltes zweidimensionales Bild zu verstehen, sondern wie auch im Begriff ‚Bildwerk‘ oder ‚Bildhauer‘ auch eine Skulptur. Um die Mitte des 17. Jh., gleichzeitig mit der Barockisierung der Basilika und dem Neubau der Gnadenkapelle, setzte sich das aktuelle Gnadenbild und die bekannte ikonografisch festgelegte Darstellungsform als Zentrum des
Abb.10 Das Gnadenbild von Mariazell, eine ca. 48cm hohe, gefasste Holzskulptur.
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Wallfahrtsgeschehens durch. So ist die unbekleidete aktuelle Gnadenstatue bei der Darstellung der Gründungslegende am Deckenfresko des Presbyteriums von 1670 erstmals eindeutig erkennbar. Seit diesem Zeitpunkt wird sie zu einem millionenfach verbreiteten Topos. Interessanterweise aber nicht nur in einer Darstellungsart, sondern in zwei ganz unterschiedlichen Formen: als stets prunkvoll, aber immer wieder anders bekleidete und gekrönte, stehende Figur mit dem Kind auf dem rechten Arm Mariens und als unbekleidete, blaugewandete Holzskulptur mit dem ikonografisch vielfältig interpretierten Zeigegestus, dem Apfel in der Hand des Jesuskindes und der Birne (oder Feige) in der Hand Mariens. Dadurch wurde die Verehrung der Muttergottes als solche umgelenkt auf die Verehrung dieser einen Holzskulptur, von der eine besondere Wirkung ausgehen soll. Durch die besondere Verehrung dieser Figur ist sie in den vergangenen dreihundert Jahren tatsächlich zu etwas Außergewöhnlichem geworden, einer Figur, die nicht in erster Linie als Kunstwerk oder als historisches Zeugnis gesehen wird, sondern als Heiligtum. Das erklärt auch, warum bis heute von naturwissenschaftlichen Untersuchungen wie aber auch von einer ‚normalen‘ Restaurierung Abstand genommen wurde. Bisher geflissentlich übersehen wurde auch, dass alle Hände und somit auch alle Attribute vermutlich erst Ende des 17. Jh. neu angesetzt wurden, wahrscheinlich weil die alten Hände beim Bekleiden störten. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass die Hände davor ebenfalls zwei Früchte und einen weggestreckten Zeigefinger aufgewiesen haben, ja das ist sogar eher unwahrscheinlich. Aber dies hindert nicht daran, dass die aktuelle Ikonografie von vielen KatholikInnen mit großer Inbrunst gedeutet und auch propagandistisch durch Werbeslogans wie „Auf Christus zeigen“ genutzt wird. Die strategisch kluge Konzentration auf eine ‚wundertätige‘ Statue steht vermutlich im Kontext barocker Volksfrömmigkeit, aber diente selbstverständlich auch einer einfacheren ‚Vermarktung‘ dieses Heiligtums in Konkurrenz zu nun sehr zahlreichen anderen. Kopien des Gnadenbildes gibt es seit dem 18. Jh. bis heute unzählige. Allein in Kirchen zwischen Washington und Südafrika werden mehrere hundert Kopien verehrt, in einigen Ländern gibt es auch eigene Mariazell-Kapellen und Nachbauten des Gnadenaltares. Über die Anzahl von Kopien der Gnadenstatue in verschiedenen Größen und Materialien in privaten Haushalten und Museen können nur Spekulationen angestellt werden. Ihr ungewöhnlicher Zeigegestus wurde zu so etwas wie einem schnell erkennbaren Logo und Alleinstellungsmerkmal und wird nach wie vor von der Gemeinde und der Wallfahrtsleitung auch so verwendet.
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Abb.11 Die über einem kleinen Bergort thronende riesige Basilika Mariazell.
5. GESTALTUNG DES RAUMES Bestes und wohl ältestes Beispiel für ein gelungenes Sensory Branding und damit für eine starke Marke ist die katholische Kirche. Die Wahrnehmung der Kirche über alle Sinneskanäle hinweg führt zu einer hohen Erlebnisqualität und Wahrnehmungsintensität und damit zu einer hohen emotionalen Markenbindung. Die Kirche bleibt dabei nicht bei Insellösungen, sondern bespielt alle sensorische Reize, um zu einem umfassenden Branding zu kommen. Das hartnäckige Festhalten an den über Jahrhunderte lang identischen Reizen sorgt für ein scharfes Profil der Kirche. CORPORATE SENSES, 2012
Der Wow-Effekt Mit der Gegenreformation wurde Mariazell zum Nationalheiligtum und durch das habsburgische Kaiserhaus, konkret durch Kaiser Ferdinand III., der barocke Erweiterungsbau großzügig unterstützt. Der Bau sollte keine normale Barockkirche werden, sondern neue Maßstäbe setzen. Der Abt von St. Lambrecht Benedikt Pierin reiste mit seinem Baumeister Domenico Sciassia – wie in dieser Zeit üblich ein Norditaliener – nach Rom, um den neuesten barocken Kirchenbau zu
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Abb.12 Ostteil der Kirche mit Presbyterium, Hochaltar von Johann Bernhard Fischer von Erlach und moderner Orgel.
studieren und in einem Heft zu skizzieren. Auf Grund dieser Anregungen realisierte Sciassia eine monumentale Kuppel auf ovalem Grundriss, den bis dahin größten Kuppelbau im Bereich nördlich der Alpen. In der Steiermark ist sie bis heute die größte Kuppel und die Basilika mit 84m Länge und 30m Breite auch nach wie vor die größte Kirche des Landes. Die Ausstattung mit plastisch durchmodelliertem üppigen Stuck, ausgeführt ebenfalls von italienischen Meistern des 17. Jh., sowie die für diese Zeit typischen, noch relativ kleinen, bemalten Kartuschen mit Heiligenfiguren, Kirchenpatronen und Begebenheiten aus den Mirakelbüchern, ließen und lassen die Menschen in einen völlig neuartigen, monumentalen Raum treten. Nicht erst in dieser Basilika, sondern auf einer jahrhundertealten Tradition im Kirchenbau aufbauend, wurde ein umwerfendes Immersionserlebnis geschaffen:
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Schon der monumentale Treppenaufgang und der großzügige Vorplatz schafften eine Schleusensituation zur Vorbereitung auf das Erlebnis. Die bleiverglasten Fenster verhinderten einen Bezug zur Außenwelt und tauchten das Innere in fremdartiges farbiges Licht. Da an einem Wallfahrtsort häufig wertvolles Wachs gespendet wurde, konnte sich Mariazell auch zahlreiche Kerzen zur Beleuchtung leisten und erst durch diese entfalteten die großzügigen Vergoldungen vieler Ausstattungsgegenstände ihre Brillanz, unzählige Reflexe und durch das Flackern des Lichtes lebendig wirkende Oberflächen. Fokussiert wird der Blick auf das eindeutig erkennbare Zentrum, die Gnadenkapelle mit aus echtem Silber getriebenem Gitter und Altar. Da ein alter Wallfahrtsbrauch aber auch das Umschreiten des Heiligtums beinhaltet, entdecken die PilgerInnen hinter dem Gnadenaltar ein zweites, weniger intimes aber dafür szenografisch noch großartigeres Zentrum: den Hochaltar von Mariazell, entworfen 1692 von Johann Bernhard Fischer von Erlach. Mit seinem Aufbau aus vielen Tonnen schweren Marmorblöcken, die unter unendlicher Mühe und nur bei gefrorenem Boden in den Wintermonaten von weit her hinauf in den hoch gelegenen Ort transportiert werden konnten, und mit seinen überlebensgroßen Figuren des berühmten Bildhauers Lorenzo Mattielli aus getriebenem Silber stellt er bis heute ein Kunstwerk von außergewöhnlicher Qualität dar. Der Altar, vermutlich der wertvollste in Österreich, kostete in etwa so viel wie ein mittelgroßes Schloss. Ein weiterer szenografischer Kunstgriff war die ‚optische Täuschung‘ betreffend der Größenverhältnisse. So wirkt die Kirche nicht so groß wie sie ist, weil alles doppelt so groß wie gewöhnlich ist, jede Türe, jedes Fenster und jede Treppe. Das bemerkt man, wenn man dort arbeitet und z.B. eine Mitarbeiterin vergisst, nach dem Mittagessen auf die Toilette zu gehen, und dann eine halbe Stunde unterwegs ist, bis sie vom Turm hinunter, durch die Kirche und wieder zurück kommt. Und die praktischen Schwierigkeiten beim Hantieren mit riesigen, schwer gängigen Türschnallen und Schlüsseln in Stirnhöhe lassen jede/n fühlen, wie klein und schwach er/sie doch ist. Wenn man den Erfahrungshorizont der Menschen des 17. Jh. mitberücksichtigt und mitbedenkt, dass die Steiermark immer eine relativ arme Region war, in der die meisten Menschen in kleinen Holzhäusern wohnten, ja noch nicht einmal die späteren Schlösser gebaut waren, muss die Raumwirkung eine großartige gewesen sein. Kritiker der Katholischen Kirche meinen umgekehrt, dass bewusst das Gefühl von ‚Unwohlsein‘ vermittelt wird, des Sich-klein-und-unbedeutend-Fühlens, eingeschüchtert durch die unerreichbaren Vorbilder von grausam Massakrierten und ausgesetzt einem aufgehängten Leichnam als zentralem Bezugspunkt. Aber zurück zur Erhabenheit des wunderbar gestalteten Raumes. Oft wird in diesem Zusammenhang die Prunksucht der Katholischen Kirche beklagt. Aber man kann in diesem Zusammenhang auch die Aussage des bekanntesten Armenpfarrers Österreichs, des seit Jahrzehnten für Obdachlose engagierten
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Abb.13 Die Überlieferung sagt, dass Schneekugeln eine Erfindung aus Mariazell sind, unbestritten ist, dass die ungewöhnliche Form der Kirche auch auf diese Art Verbreitung fand.
Pfarrer Wolfgang Pucher bedenken, der mir in einem Gespräch darlegte, dass die Kirchen immer für alle offen waren und sind und auch den Ärmsten die Möglichkeit boten und bieten, in diesem prunkvollen Rahmen persönliche Familienfeste zu feiern. Es ist der einzige festliche Raum, der diesen Menschen unentgeltlich zu Verfügung steht, in dem sie als gleichwertige Menschen neben den Wohlhabenden stehen. Ein in szenografischem Zusammenhang besonders interessanter Aspekt ist jener des Fastens mit den Augen, welcher bedeutet, dass in der 40-tägigen Fastenzeit vor dem Osterfest die prunkvollen Altäre mit einfachen bemalten Tüchern verhängt werden, aber auch ein Fasten der Ohren praktiziert wird, indem beispielsweise kein Halleluja gesungen wird. Um so prunkvoller erstrahlt danach wieder der Kirchenraum. Landmark Auf einen letzten Aspekt sei hier noch hingewiesen: die Basilika von Mariazell als Landmark und Logo. Auf jedem Andachtsbildchen und jeder Postkarte sofort erkennbar ist die ungewöhnliche Dreiturmfassade. Sie entspricht nicht ganz den Vorstellungen von Barockbaumeister Scassia und kann auch nur schwer als wirklich schön bezeichnet werden, aber sie ist unverwechselbar und einprägsam. So sind drei Türme an einer Fassade ungewöhnlich, noch mehr aber zwei barocke Zwiebeltürme und dazwischen ein, diese überragender, gotischer Turm. Dieses Charakteristikum ist selbst in der größten Vereinfachung noch erkennbar und so wird es auch bis heute als Logo eingesetzt. Verdankt wird diese Lösung der Tatsache, dass der gotische Mittelturm an die großzügigen Spenden von König Ludwig dem Großen von Ungarn gemahnt. Und um die WallfahrerInnen aus Ungarn nicht zu verärgern wurde beschlossen, ihn im Zuge des barocken Umbaus nicht abzutragen. Nicht nur für Mariazell, sondern für zahlreiche Kirchenbauten gilt, dass drei unterschiedliche Gestaltungsaufgaben wahrgenommen wurden: die auf
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Fernwirkung bedachte Sichtseite, d.h. die Fassadengestaltung, der Innenraum mit seinem ‚multimedialen‘ Setting und die Gesamtform als symbolbeladenes Zeichen, hier – wie in vielen katholischen Kirchen – als lateinisches Kreuz. Multisensorisches Raumerlebnis Ohne im Detail darauf eingehen zu können, wäre die Szenografie von Mariazell unvollständig dargestellt, erwähnte man nicht auch die Beschallung. Es beginnt mit dem außergewöhnlichen Schallkörper, den ein derartig großer Steinbau darstellt. Jeder Schritt, jedes Wort eines Priesters, aber auch der Gesang der Gläubigen hat durch das langanhaltende Echo einen fremdartigen, pathetischen Klang. Die Wirkung der Sprache des Priesters wurde dabei seit dem 2. Vatikanischen Konzil stark verändert, wurden doch die unverständlichen lateinischen Zauberformeln, die der Zeremonienmeister zu einer oft trichterförmig gestalteten Altarwand gesprochen hat, von dieser reflektiert und erschallten dadurch als verfremdete und nicht genau lokalisierbare – vielleicht göttliche – Stimme im Kirchenraum. Dadurch, dass der Priester nun mit dem Rücken zum Altar in den großen Raum spricht, wurden Lautsprecher notwendig, durch die verständlichen Worte in der jeweiligen Landessprache erklingt nun die Stimme eines Irdischen. Der Klang der Glocken – seit jeher äußerst wertvolle Gussarbeiten aus Bronze, die bis heute nur wenige Meister herzustellen verstehen – war und ist in der Lage, über viele Kilometer das Land zu beschallen, an den Gottesdienst zu erinnern, über den Tod eines Menschen zu informieren und in einer Zeit, in der kaum jemand eine Uhr sein Eigen nennen konnte, zeitliche Orientierung zu stiften. Und was die Kirchtürme betrifft, so sind sie nicht nur die schon erwähn-
Abb.14 Sorgfältig für die vielspännigen Messen vorbereitete, farblich aufeinander abgestimmte Messkleider und Stolen.
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ten optischen Landmarks, deren Höhe durch kein anderes Gebäude des Ortes überragt werden durfte, sondern sie stellen auch hinsichtlich der Positionierung der Glocken in großer Höhe eine durchdachte Lösung zur Optimierung der Beschallung dar. Im Inneren wurden riesige, bis heute ein echtes Vermögen kostende Orgeln errichtet. Auch hier kann man nur erahnen, was eine derartige Beschallung in einer Zeit ohne Musikkonserven bedeutete, gab es doch hochwertige musikalische Darbietungen sonst nur für den Hochadel und auch dort nur im Rahmen von festlichen Veranstaltungen. Derzeit verfügt Mariazell über vier Orgeln, welche sich getrennt oder gleichzeitig spielen lassen. Die Möglichkeiten, dieses völlig außergewöhnliche Potential einzusetzen, wartet darauf, dass eigene Kompositionen für Mariazell geschrieben werden, so wie das in der Vergangenheit z.B. Joseph Haydn 1782 mit der Missa Cellensis tat. Wie ausgeklügelt das aktuelle Beschallungssystem ist, welches im Zuge der Restaurierung und Neuelektrifizierung der Kirche installiert wurde, möchte ich zum Schluss erwähnen: Derzeit ist der ganze Ort Mariazell mit Lautsprechern versehen, so dass bei den beliebten abendlichen Lichterprozessionen im Sommer der Superior vor dem Gnadenaltar seine schöne Tenorstimme erklingen lässt und sein Gesang immer gerade in jene Bereiche übertragen wird, in denen sich die Prozession bewegt. Dass eine moderne Wallfahrtskirche über ein Induktionssystem für Schwerhörige verfügt, ist selbstverständlich. Zum räumlichen Gesamterlebnis für alle Sinne gehört natürlich auch ein spezieller Duft, den wir alle sofort mit einem Kirchenraum assoziieren: der Weihrauch. Auch in diesem Bereich wird in Mariazell auf sorgfältig ausgewählte, beste Qualität Wert gelegt. In früheren Zeiten hatte er medizinische Wirkung und natürlich die Aufgabe, den omnipräsenten Gestank zu überdecken. In kaum einem anderen Bereich hat sich der systematische Einsatz von Beduftungssystemen aber über so viele Jahrhunderte unverändert erhalten. Last but not least wurde aber auch der Geschmackssinn angesprochen und assoziiert jede/r gläubige oder ungläubige ChristIn das Zergehenlassen der fad schmeckenden Hostie auf der Zunge unentrinnbar mit Kirchenbesuch. Und die Zahl der benötigten Hostien war immer ein wichtiges Instrument zur Zählung der WallfahrerInnen. Fest verankert im Christentum ist aber natürlich auch der kollektive Konsum der Droge Alkohol mit einer kultisch stark aufgeladenen Bedeutung und nach der ‚Wandlung‘ während der Messe sogar als tatsächlich vorhandenes Blut Christi. Die wertvollsten Kelche wurden aus diesem Grund dem Befüllen mit Wein vorbehalten, für das Reinigen des Kelches nach der Verwandlung in Blut Christi eigene Auslässe in die Böden der Kirche gebaut.
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Abb.15 Immer wieder finden in Mariazell Messen mit mehr als dreißig Priestern statt, hier anlässlich des Papstbesuches 2007.
6. SPEKTAKEL In seiner Totalität begriffen, ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise. Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. Es ist das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen Formen: Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens. Es ist die allgegenwärtige Behauptung der in der Produktion und ihrem korollären Konsum bereits getroffenen Wahl. Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollständige Rechtfertigung der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems. Das Spektakel ist auch die ständige Gegenwart dieser Rechtfertigung, als Beschlagnahme des hauptsächlichen Teils der außerhalb der modernen Produktion erlebten Zeit. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1996, S.14f.
Performance So weit die Quellen zurückreichen, waren mit dem Gottesdienst, viel mehr aber noch mit der großen Palette an Wallfahrtsbräuchen, vielfältige Rituale, körperliche Übungen und Möglichkeiten der Interaktion verbunden. Schon die Messe mit ihren bis vor wenigen Jahrzehnten in lateinischer Sprache gesprochenen Anrufungen, aber auch die in wertvolle bunte Kleider gewandeten Priester, die an einem Ort wie Mariazell bis zu „30-spännige“ Messen feiern (Messen mit 30 Priestern), stellten und stellen ein umwerfendes Schauspiel dar. Sicher nur bei besonders festlichen Messen trug der Priester die schweren, mit zentimeterdicken Reliefs versehenen Kaseln mit aufwändig gestalteten, den Gläubigen zugewandten Rückenansichten. Besonders bemerkenswert ist die aus der bereits erwähnten ersten Phase der Propagierung des Heiligtums stammende, spätgotische Kasel mit Reliefstickerei aus tausenden Flussperlen und
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Abb.16 Da die Kirche den Besucheransturm bei großen Festveranstaltungen nicht zu fassen vermag, wurde für derartige Events der Hauptplatz der Ortes mit einer Bühne überbaut.
Goldfäden. Die aus dem letzten Viertel des 15. Jh. stammende Kasel zeigt eine stehende schlanke Muttergottesfigur unter einem aufwändig gestalteten ausladenden Baldachin. Ein außergewöhnliches Stück ist aber auch die in ähnlicher Technik und ebenfalls mit einer großen Marienfigur am Rücken des Priesters gestaltete Kasel aus dem ausgehenden 16. Jh. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass damit die Wirkung Mariens direkt auf den Priester übertragen wurde. Gekonnt in Szene gesetzt wird auch die Heilige Schrift, handelt es sich beim Christentum doch um eine der großen Buchreligionen: prunkvoll verziert, in einer auf Fernwirkung bedachten Größe und hoch erhoben in einem auffälligen Zeigegestus, allen Gläubigen vor Augen gehalten.
Prozessionen Zur Verehrung der Reliquien kommt als neue Attraktion die der Gnadenbilder, die durch Wunder (Mirakel) zu einem concursus populi, zum Zusammenlaufen des Volkes, führen. Aus dem Pilgerziel wird dann eine Wallfahrtsstätte, wenn das „Geläuf“ der Gläubigen, der Andrang vieler gläubiger Menschen, durch Formen der liturgischen Prozession einen organisierten Ablauf gewinnt. Je größer der Andrang, desto größer wird der Bedarf nach Ordnung und Struktur. Der Concursus des Volkes zielt nicht nur auf das Gnadenbild und die Wunder, sondern auch auf den von Bischöfen und Päpsten für das Aufsuchen des Wallfahrtsortes gewährten Ablass. Die Wallfahrt resultiert somit aus einer Verschmelzung von Concursus und Prozession. Die früher private und individuelle Marienverehrung wird somit zu einer öffentlichen und kollektiven Angelegenheit. Das Christentum war nun Sache des Volks geworden und von diesem verinnerlicht. Nach Hengstler/Stocker, Wallfahrt, 1994
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Abb.17 Prozession mit der durch eine Acrylglasvitrine vor dem Regenwasser geschützten Gnadenstatue aus dem 13. Jh. durch die Straßen des Ortes, anlässlich des Papstbesuches 2007.
In Folge des Ablasses durch Papst Bonifaz IX. im Jahr 1399 bildeten sich in der Woche nach der Oktav von Maria Himmelfahrt diverse Bußriten und Prozessionen heraus, die auch nach der Aufhebung dieses Ablasses lebendig geblieben und bis in die Barockzeit hinein nachweisbar sind. Vom knienden Erklimmen der Hochstiege hinauf zur Basilika, über das Tragen von schweren Steinen während der Wallfahrt, bis zu dem Umrunden der Basilika durch kontinuierliches Sich-auf-den-Boden-Werfen reichten die sich tief im Gedächtnis verankernden Bußrituale. Heute stellen gemeinsamer Gesang, gemeinsame Litaneien, das
Abb.18 Bühne am Flugfeld vor Mariazell anlässlich der Wallfahrt der Völker 2004, an der trotz miserablem Wetter 100.000 Menschen teilnahmen.
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Gehen bei einbrechender Nacht in einer großen Gruppe von Kerzen tragenden Menschen und Lieder wie „O Maria, hilf uns all / hier in diesem Jammertal!“ tatsächlich einprägsame Erlebnisse dar. Und wie es das Wesen einer Prozession will: Sie entfaltet ihre Wirkung nach außen und nach innen. Wie in der Vergangenheit nur bei besonders wichtigen Ereignissen wie z.B. der Pest 1679 wird die Gnadenstatue in einer Prozession durch den Ort getragen. Ich selbst durfte zwei derartige Prozessionen als ‚Security‘ begleiten, beim Katholikentag am 22. Mai 2004 und beim Besuch Papst Benedikts XVI. am 8. September 2007. Meine seltsame Rolle als persönliche Begleiterin der Gnadenstatue beinhaltete beim Papstbesuch, dass ich diese während des Festaktes vom Altar herunterheben und beschädigungsfrei in einer Vitrine befestigen musste. Dies, damit sie anschließend, bei strömendem Regen durch den Ort getragen werden konnte. Fast wäre ich an den strengen Sicherheits-Schleusen gescheitert, weil ich in meiner Handtasche Werkzeug verstaut hatte und damit in den innersten Kreis rund um den Papst vordringen wollte. Vor laufenden Fernsehkameras musste ich dann auf den Altar steigen und meine Arbeit verrichten. Jeder Priester hätte eine so seltsame Kletterübung und weltliche Handlung vermutlich entwürdigend empfunden. Die Position im Zentrum des Geschehens nutzte ich nebenbei für unauffälliges Fotografieren: bis ins Kleinste durchorganisierte und durchgeprobte Abläufe ebenso wie auf telegene Wirkung bedachte Bilder, bei denen beispielsweise abgesehen von geistlicher und weltlicher Prominenz nur der Malteserorden mit den von ihm betreuten Gebrechlichen in das Innere der Kirche Zutritt hatte. Der Event Die „Wallfahrt der Völker“, das Motto des Katholikentages rund um den 22. Mai 2004, stellte diesbezüglich eine ganz besondere Großveranstaltung dar. Anlässlich der Osterweiterung der EU kamen 100.000 Pilger insbesondere aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks, um die Wiedervereinigung Europas zu feiern und der Gnadenmutter von Mariazell Dank zu zollen. Die Feier fand am Flugfeld am Stadtrand von Mariazell statt, denn in Anbetracht der prominenten WallfahrerInnen verfügt der nur 1.500 EinwohnerInnen große Ort sogar über einen kleinen Flughafen. Die auf Fernwirkung angelegte riesige Bühne mit der winzigen Gnadenstaue in einer großen blumengeschmückten Vitrine erstrahlte dank gleißender Beleuchtung und trotz strömenden Regens in ‚fast himmlischem‘ Licht. Nach dem Gottesdienst wollten Zehntausende auf die Bühne stürmen, um zumindest die Vitrine zu berühren. Diese Massenhysterie führte zur Sperrung der Bühne aus statischen Gründen und löste bei mir, als einer der beiden Bewacherinnen des Gnadenbildes, echte Panik aus. Von hohem theatralischem Wert war auch das Requiem für Otto Habsburg am 13. Juli 2011. Auf Wunsch der Familie Habsburg wurde eines der zahlreichen
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Begräbnisrituale von Familienoberhaupt Otto in Mariazell zelebriert, wobei sich dabei zwei ‚Institutionen‘ mit Jahrhunderte alter szenografischer Erfahrung teils ergänzten, teils rivalisierten. Aber auch darin sind sie ein eingespieltes Team, auch wenn es im 20. Jh. nur noch wenige Gelegenheiten gab, dies zu zelebrieren. Neu war die Überlegung einer Zusammenführung der bereits mehr als ein Jahr früher gestorbenen Gemahlin Regina mit ihrem nun verstorbenen Mann vor dem Mariazeller Hochaltar. Sie erfolgte in jener Kirche, in der sie 1951 geheiratet hatten, das anschließende gemeinsame Bestattungsritual fand der Tradition des Kaiserhaues entsprechend in der Kapuzinergruft in Wien statt.
Abb.19 Einfache Notizzettel mit Bitten, aber auch lange Briefe an die Gottesmutter werden an verschiedensten Orten der Kirche hinterlegt, in Mauerritzen gesteckt und unter Altarplatten geschoben.
Da man nie weiß, wann der Tod eintritt, und dann alles sehr schnell gehen muss, hatte ich bereits über ein Jahr vor dem Tod Ottos ein großes Foto in goldenem Rahmen für die Aufstellung in der Basilika vorzubereiten. Ein Bild, bei dem mehr auf telegene Fernwirkung zu achten war als auf fotografische Qualität. Alle Regeln höfischer Etikette und fundiertes Wissen um präzise hierarchische Ordnungen kamen zur Anwendung. Wertvolle alte Schleier, welche an Gemälde des 19. Jh. erinnerten, zierten die Häupter der mehreren Hundert Nachkommen. Die Prozession mit den beiden Särgen und den auf Kissen platzierten Orden rund um die Kirche gemahnte an barocke Rituale, wie sie heute nur aus alten Gemälden bekannt sind. Dass wir jemals in die Lage geraten würden, so etwas live miterleben zu können, erstaunte uns. Dass ich noch dazu die Gelegenheit hatte, zwischen der Security von oben auf der Empore das Geschehen überblicken zu können, verdanke ich der langjährigen Tätigkeit für das Heiligtum.
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7. KUNDINNENBINDUNG Im Zentrum aller Kultriten steht das Opferwesen, das den Menschen helfen soll, die Götter gnädig zu stimmen. Verehrung, Dankbarkeit, Bitten um Hilfe, Einlösung eines Gelübdes, all das können Gründe sein, ein Opfer zu bringen. Im Votivkult, wie er im Katholizismus praktiziert wird, gab und gibt es noch heute viele vorchristliche Momente, die freilich aus dem Bewusstsein der Gläubigen verschwunden sind. Dabei handelt es sich in erster Linie um Relikte eines ehemaligen Analogie- oder Nachahmungszaubers. Man ahmt also den Gegenstand der Fürbitte oder des Dankes nach und bringt ihn als Votivgabe dar. Dargestellt werden menschliche Figuren, Gliedmaßen, Organe, Haustiere und auf den Votivtafeln die Geschichte eines Unglücks und die dazugehörige Rettung. Hinter der auf die Zukunft bezogenen Votivgabe steht die Vorstellung, dass das Bild – indem es in der Nähe eines geweihten Ortes aufgestellt wird und somit den göttlichen Segen erhält – auf das zukünftige Leben positiv wirken könne. Ältere archaische Vorstellungen gehen davon aus, dass durch das Hantieren mit dem Bild die Wirklichkeit beeinflusst wird: so etwa durch das Aufhängen oder Ins-Feuer-Werfen von Nachbildungen kranker Körperteile, wodurch die Krankheit gebannt und am Zurückkommen gehindert wird. Nach Hengstler/Stocker 1994
Hands On Nur Dinge auch tatsächlich zu tun, führt zur nachhaltigen Verankerung in unserem Gedächtnis, haben uns MuseumspädagogInnen in den letzten Jahren beständig vermittelt. Zahlreich sind derartige Handlungen in das Gottesdienstgeschehen integriert, wobei die zentrale Handlung – das Essen der Hostie – immer auch auf einen ausgewählten Personenkreis rigid limitiert war und vor aller Augen durchgeführt werden musste, was die Handlung noch mit zusätzlicher Spannung versieht. Auch das aktive Bekennen sehr persönlicher Dinge in der äußerst seltsamen Situation, mit einem anderen Menschen in einen Holzkasten gesperrt zu sein, zählt zu den sehr einprägsamen Erlebnissen, die geboten werden. Durch
Abb.20 Die für die Papstmesse benötigten Oblaten, angeliefert in großen Holzkisten und zwischengelagert in der Sakristei.
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ein Gitter spricht man zu einem unsichtbaren Wesen als Stellvertreter eines Gottes. Als ob die späteren PsychoanalytikerInnen dieses Ritual aufgegriffen hätten, setzten auch sie sich so hinter die Couch, dass der/die Sprechende sie nicht sieht. Aber auch durch die beständigen Aufsteh-, Hinsetz- und Hinknieübungen, bei denen sich die meisten (nur selten in die Kirche gehenden BesucherInnen eines Wallfahrtsortes) nie so richtig auskennen und stets Angst haben, etwas falsch zu machen, werden einprägsame Situationen geschaffen, die manche Menschen über Jahrzehnte beschäftigen. Giveaways Pilgerzeichen sind die ältesten Andenken an Mariazell, der nach Rom und Aachen der drittbestbesuchte Gnadenort im 14./15. Jh. gewesen sein soll.1 Vor der Erfindung des Holzschnittes und des Kupferstiches dürften derartige Gussstücke aus Zinn oder Blei die einzigen Artefakte gewesen sein, die in Massen erzeugt werden konnten. Der Gebrauch von gut sichtbar auf dem Hut oder der Kleidung befestigten Pilgerzeichen ist in Aachen ab 1300 belegt, in Mariazell seit 1442, als der Kardinal von Arles, Ludwig d’Alleman, einen Ablass von 100 Tagen unter anderem jenen WallfahrerInnen gewährte, welche Pilgerzeichen von Mariazell mit sich trugen.2
Abb.21 Während der Bestandsaufnahme der Votivbilder in der Turmstube des Nordturmes der Basilika mit ihren dicht beschriebenen Wänden.
Nach einem Rückgang des Pilgerstroms während der Zeit der Reformation wurden im Zuge der Gegenreformation ab Beginn des 17. Jh. Andachtsbildchen und Beichtzettel in Form von Holzschnitten und Kupferstichen in großer 1
Ungarn in Mariazell, Mariazeller Pilgerzeichen und Gnadenmedaillen, S.454. Gnadenbilder, S.57f.
2 Wonisch,
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Zahl aufgelegt. Der erste erhaltene Beichtzettel von Mariazell stammt von 1610 und auf ihm ist erstmals die unzweifelhaft erkennbare aktuelle Gnadenstatue dargestellt. Diese als Beichtbestätigung übergebenen oder bei den Standlern erworbenen Drucke wurden von den PilgerInnen zur eigenen Erinnerung aber auch als Gabe an die Zurückgebliebenen mit nach Hause gebracht und in das Innere von Kästen oder Truhen – dem einzigen persönlichen Besitz – geklebt bzw. in Gebetsbücher eingelegt. Bei jedem Öffnen des Schrankes wurde man so an den weiten Weg nach Mariazell erinnert. Zeichen setzen Um 1400 gab es bereits circa zwei Dutzend Verkaufsstände für Votivgaben und Andenken. Über die Art der ersten von WallfahrerInnen in der Kirche hinterlassenen Votivgaben wissen wir wenig. Einige bildliche Darstellungen zeigen uns an die Gitter rund um die Gnadenkapelle gebundene Objekte und überliefert ist die Existenz einer Schatzkammer bereits in der gotischen Kirche. Tatsächlich erhalten ist eine Sammlung von mehr als tausend Schmuckstücken aus der Zeit der Renaissance, welche dazu verwendet wurden, zwei frühbarocke Reliquienschreine zu schmücken, und die auf diese Art und Weise die Jahrhunderte überdauerten. Ab der Zeit um 1630 sind von einzelnen Hilfesuchenden gespendete Votivbilder erhalten. Die aktuelle Sammlung umfasst etwa 2.600 Votivbilder und ist somit die größte derartige Sammlung in Österreich, wobei anzumerken ist, dass nur knapp 20 Bilder aus der Zeit vor dem Josephinismus und den napoleonischen Kriegen erhalten sind, alle anderen stammen aus dem 19. und 20. Jh. Darunter sind 510 Gemälde im engeren Sinn, 860 mit Widmungen versehene Drucke, 340 Textilbilder etc. Dazu kommen ca. 3.200 Votivgaben in den Schatzkammern und zahlenmäßig nicht erfasste Fotos, Partezettel, Briefe an die Gottesmutter etc. Die Tradition des Hinterlassens von eigenen Bildern ist bis in die Gegenwart lebendig, wobei der Mut, sich dazu zu bekennen, bereits seit Beginn des 20. Jh. rückläufig ist und viele SpenderInnen lieber einen versteckten Brief an der Rückseite anbringen als eine weithin sichtbare Widmung mit vollem Namen. Nach den großen Umbau- und Restaurierungsarbeiten zwischen 1996 und 2007 sind nun so viele Votivbilder zu sehen wie vermutlich noch nie in der Geschichte, wurden sie doch aus allen Bereichen des Gebäudes hervorgesucht und in äußerst dichter Hängung präsentiert. Als geschulte SzenografInnen haben wir dabei eine Gestaltung erdacht, die dank einiger Kunstgriffe so wirkt, als sei sie über die Jahrhunderte ‚gewachsen‘. Da aber fast alle Bilder einen neuen Standort haben, waren die AufseherInnen jahrelang damit beschäftigt, mittels einer Datenbank den Nachkommen der SpenderInnen Auskunft zu geben, wo ‚ihr‘ Bild nun aufgehängt ist. Dabei fiel auf, dass manche Spenderfamilien jeden Besuch in Mariazell auf ‚ihrem‘ Bild heimlich vermerken.
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Abb.22 Durch den Orden der Malteser begleitete Kranke und Behinderte, fernsehgerecht positioniert in den vordersten Reihen vor der Gnadenkapelle.
Sehr wichtig ist es den ÜberbringerInnen von Votivgaben auch, dass ihre Gabe ‚ausgestellt‘ wird, manche legen einen Nagel bei, andere versuchen selbst die Bilder anzubringen oder drücken dem Sekretär 10 Euro in die Hand, um die Anbringung zu beschleunigen. In jedem Fall ist bemerkbar, dass die Übergabe einer Votivgabe – bei der auch kirchenrechtlich gewährleistet ist, dass sie ‚auf ewig‘ am Gnadenort erhalten werden muss – dazu führt, dass sich die SpenderInnen bzw. ihre Nachkommen mit dem Ort schicksalhaft verbunden fühlen und vermutlich auch deshalb immer wieder kommen. Interaktion Zumindest seit der griechischen Antike (z.B. in Delphi) gaben Menschen dem Bedürfnis nach, an heiligen Orten unerwünschte oder erwünschte Spuren der eigenen Präsenz zu hinterlassen und gleichzeitig Erinnerungsstücke an diesen besonderen Ort und die damit verknüpften Emotionen mit nach Hause zu nehmen. Die tätlichen Spuren des Bedürfnisses, Zeichen der eigenen Anwesenheit zu hinterlassen, wenn man über das Alltägliche hinausgehende Erfahrungen macht – sei es an einem besonderen Aussichtspunkt, bei einer leidenschaftlichen Verliebtheit oder an einem heiligen Ort, welcher Kultur auch immer – sieht man auch in Mariazell. Seit vielen Jahrhunderten haben WallfahrerInnen ihre Namen, das Datum ihres Besuches und manchmal auch konkrete Bitten auf die Wände geschrieben oder in die Wände gekratzt. Ebenso ist überliefert, wie die geistlichen Herren diese Sachbeschädigung vergeblich mit großen Verbotsschildern zu verhindern suchten. Dabei machten die WallfahrerInnen nicht einmal vor wertvollen Altären Halt und vor der Oberfläche von Gemälden. Aktuell verfolgt das Superiorat auch mit Hilfe von Polizei und Gericht Menschen, die die-
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Abb.23 Trotz regnerischem und kaltem Wetter viele Stunden ausharrende Teilnehmer an der Papstmesse 2007.
ses Bedürfnis nicht zu zügeln wissen. Als zeithistorisch interessante Dokumente wurden in Mariazell aber auch manche dieser Spuren bewusst erhalten. Während in früheren Jahrhunderten nur über den Eingang materiell wertvoller Schatzkammergaben sorgfältig Buch geführt wurde und erst in den vergangenen Jahren ein Eingangsbuch und ein Inventar der materiell nicht als wertvoll geltenden Votivbilder geführt wird, liegen an mehren Orten Anliegenbücher auf. Seit Beginn des 20. Jh. wurde so einerseits das Bedürfnis, sich auf den Wänden zu verewigen, kanalisiert, andererseits der weniger tief verwurzelten Gläubigkeit Rechnung getragen. Sind doch nur noch wenige Menschen bereit, echte Votivbilder um einiges Geld bei einem Künstler in Auftrag zu geben. Aber erfasst von der Magie des alten Ortes und mit einer Haltung von ‚man kann’s ja mal probieren‘ wird das Angebot, sich mit Wünschen, Sorgen oder einfachen Ich-war-da-Aussagen in Anliegenbücher einzutragen, gerne angenommen. Die Wünsche reichen von erhofften Wahlerfolgen für den einen und die andere KandidatIn über die Hoffnung auf das Bestehen von Prüfungen bis zu psychischen Problemen des/der Partners/Partnerin, Suchtverhalten und Dank, dass es einem im Moment im Grund gut geht. Dass die Muttergottes weder in Beziehungskonflikten noch politisch eindeutig Stellung bezieht, erkennt man daran, dass sowohl Nazis Votivgaben hinterlassen haben als auch Opfer von Konzentrationslagern. Gemeinsam ist ihnen, dass sie beide Hoffnung in verzweifelter Lage schöpfen konnten, und darin besteht – zumindest in meinen Augen – die Wirkung dieses marianischen Heiligtums. Nur was etwas kostet, ist etwas wert Damit auch in keinem Moment darauf vergessen werden kann, dass all diese Leistungen auch etwas kosten und man sich einen Teil des Heiles möglicher-
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weise auch durch Wohltätigkeit erwerben kann, stehen überall Opferstöcke bereit, geht der Mesner mit seinem Klingelbeutel bei jeder Veranstaltung durch die Sitzreihen, aber werden auch moderne elektronische Spendemöglichkeiten angeboten. Um aber auch jenen den Zutritt zu gewähren, die nichts besitzen, bleibt es freigestellt, wie viel man zu geben bereit ist. 8. TRADITION
Eine Ursache für das gute Funktionieren dieser Performance ist, dass die SzenografInnen und die ZuseherInnen das Ritual kennen. Dass die Ausformung einen derart hohen Grad an Perfektion hat, liegt aber auch daran, dass das Denken in langen Zeiträumen sehr aufwändige Lösungen ermöglichte. Das Freilegen der gestalterischen Überlegungen und der persönlich namhaft zu machenden ProtagonistInnen, d.h. der LiturgInnen und der KünstlerInnen, scheinen dabei auch kirchenfremde Menschen eher störend zu empfinden. Irgendwie soll dieser Zauber, die Magie nicht zerstört werden, und da sind Vorstellungen von uralten, gewachsenen Traditionen, den vertrauten Strukturen der sogenannten Volksfrömmigkeit vielen angenehmer, als das Zuschreiben an einzelne, bewusst strategisch planende Menschen. Das wusste auch die Kirche seit Jahrhunderten, womit die zahlreichen einer überirdischen Hand zugeschriebenen wundertätigen ‚Lukasbilder‘ erklärt wären und sich der Kreis zur Legende von Mariazell schließt. LITERATUR Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt am Main 1980 (Original 1960). CORPORATE SENSES. Institut für integrierte multisensorische Markenbildung, Krailling b. München, http://www.corporate-senses.com/de/. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996 (franz. Original 1967). Helmut Eberhart, Heidelinde Fell: Schatz und Schicksal. Steirische Landesausstellung 1996. Graz 1996. Peter Farbaky, Szabolcs Serfözö: Ungarn in Mariazell – Mariazell in Ungarn. Geschichte und Erinnerung. Budapest 2004. Heidelinde Fell, Erika Thümmel: Die Mariazeller Gnadenstatue. Geschichte, Datierung und neue Erkenntnisse, Eigenverlag Thümmel. Graz 2012. Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Leipzig 1848 (Original 1841).
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Wilhelm Hengstler, Karl Stocker: Wallfahrt – Wege zur Kraft. Katalog zur steirischen Landesausstellung 1994. Graz 1994. W. I. Lenin: Religion und Sozialismus. In: Über die Religion: eine Auswahl. Berlin 1981, S.39-44. (Original in: Nowaja Shisn, Nr. 28, 3. Dezember 1905). Benedikt Plank, Heidelinde Fell: Wallfahrtsbasilika Mariazell. Ried im Innkreis 1996. Imma Waid: Mariazell und das Zellertal. Aus Geschichte und Chronik, Eigenverlag Mariazell 1982. Othmar Wonisch: Die vorbarocke Kunstentwicklung der Mariazeller Gnadenkirche. Graz 1960.
GERRIET K. SHARMA
{kA} : KEINE AHNUNG VON SCHWERKRAFT. GEBÄUDE-KLANGKOMPOSITIONEN IM (HALB-)ÖFFENTLICHEN RAUM.
1. {„KEINE AHNUNG VON SCHWERKRAFT“1 | IDEENRAUM}
Die Projektreihe beschäftigt sich mit der klangkünstlerischen Erforschung von ‚Gebäude-Klangkompositionen‘. Temporär leerstehende Gebäude werden in verschiedenen europäischen Städten als Klangräume genutzt, als integraler Bestandteil von mehrkanaligen Klangkompositionen verstanden und für Publikum erfahrbar gemacht. Dies geschieht in Form einer Werkreihe von konzertanten oder installativen Kompositionen mit und in diesen Gebäuden. Auf diese Weise sollen Erfahrungswerte gesammelt werden, wie klangkünstlerisch auf ortspezifische Gegebenheiten reagiert werden kann bzw. diese umweltbedingten akustischen Charakteristika Teil einer vorher nicht existierenden Komposition werden können. Zur Verfolgung dieser Ziele wurde seit 2009 zunächst ein elektroakustisches Instrumentarium entwickelt und getestet. Zudem wurde in 2010
Abb.1 Sauraugasse 4, Graz. Rechter Flügel, Untergeschoss. Foto: Nico Bergmann. 1
Die Werkreihe wird seit 2010 von der Abteilung A9 der steiermärkischen Kulturförderung sowie dem Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz und seit 2011 vom Atelier Klangforschung der Universität Würzburg unterstützt.
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für die Erarbeitung verschiedener Methoden der Gebäudeerschließung, Komposition und Dokumentation die Kanzlei für Raumbefragung gegründet.2 2. RAUM-MUSIK | KONZEPTE „... So stark dieses Erlebnis einer ersten Raum-Musik auch war, so zeigte sich doch von Anfang an die Schwierigkeit, diese Musik in einem Raum vorzuführen, der für ganz andere Zwecke gebaut wurde. Es müssen neue, den Anforderungen der Raum-Musik angemessene Hörsäle gebaut werden...“ K. Stockhausen, Musik im Raum, 19583
Diese nach der Uraufführung des Gesang der Jünglinge niedergeschriebenen Zeilen schildern ein häufig auftretendes Problem der elektroakustischen Aufführungspraxis. Im Studio produzierte Kompositionen treffen im herkömmlichen Konzertsaal auf für ihren Klang und ihre Struktur meist ungeeignete akustische Bedingungen. Als Konsequenz hat man entweder Klang-Raumreproduktionsverfahren entwickelt, die eine Raumbespielung möglichst unabhängig von der jeweiligen Raumsituation erlauben sollen (z.B. Wellenfeldsynthese4 oder Ambisonics5), oder spezielle Säle für die elektroakustische Vorführung6 gebaut. 2.1. Klangkünstlerische Praxis | der umgekehrte Weg Mit dem Ansatz, den ich im Rahmen der Kompositionsreihe „Keine Ahnung von Schwerkraft“7 verfolge, gehe ich konzeptionell und kompositorisch den umgekehrten Weg. Ausgehend von meinen konzentrierten Tonstudio- und Konzertsaalerfahrungen der letzen 12 Jahre habe ich einen Weg gesucht, elektroakustische, klangkünstlerische Praktiken in die Stadt, den öffentlichen und halböffentlichen Raum zu übertragen und sich an diesem reibend weiter zu entwickeln, um neue Praktiken, Kompositions- und Hörweisen zu erforschen. Nachdem ich mich mit der Raum-Klangkomposition in den Ambisonics8 und 2
Informationen über die Kanzlei für Raumbefragungen: www.kavs.cc. Karlheinz Stockhausen: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik. Verlag M. Dumont Schauberg, Köln, Band I, S.153. 4 Allerdings stark abhängig von Reflexionsfreiheit. 5 Allerdings stark Sweet Spot (idealer Abhörpunkt) gebunden. 6 Z.B. MUMUTH Graz, Österreich oder EMPAC Troy, USA. 7 Der Titel soll vor allem Fragen aufwerfen. Er ist paradox. Was hat Schwerkraft mit Klang zu tun? Die Antwort: Erstmal nicht viel. Und natürlich haben wir eine ausgeprägte Erfahrung mit der auf unseren Körper einwirkenden Schwerkraft. Aber wann werden wir uns dieser bewusst? Häufig erst, wenn wir durch einen unvorhergesehenen Unfall das Gleichgewicht verlieren oder wenn wir unseren Körper im Rahmen eines Experiments anders erleben, werden wir dieser gewahr. Ähnlich ist das mit der Wahrnehmung von Klängen außerhalb von Konzertsälen, in unserem Alltag, insbesondere in Alltagsbauten. „Keine Ahnung von Schwerkraft“ soll für eine Grundhaltung der natürlich nicht realen, aber angenommenen ‚Leere‘ und ‚Unvoreingenommenheit‘ zu Beginn der jeweiligen Beschäftigung mit dem vermeintlich Vertrauten stehen. 8 „Abandonee“ in 2007 und I_LAND 2009, im CUBE des IEM Graz. 3
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auch Wellenfeldsynthese9 beschäftigt habe, Techniken, bei denen Einwirkungen des Umgebungsraums möglichst ausgeschlossen werden sollen, wollte ich in der Folge den unabgeschotteten Alltagsraum10 als Ausgangspunkt und untrennbaren Bestandteil der Komposition verstehen. Klang braucht als Medium Raum, und der steht zur Verfügung – und zwar in großem Umfang. Während auf der einen Seite die Neubauten in den Himmel streben, stehen bisher stark frequentierte Gebäude für Monate, häufig Jahre leer11 – und das in der Mitte von Gesellschaften, die „Raum“ als Luxusartikel handeln und behandeln.12 Ich möchte mehr an „auralen Architekturen“13 arbeiten als in nach Normen entworfenen Architekturen, die für die Aufführung von Musik oder installativen klangkünstlerischen Arbeiten geeignet sein sollen.14 Es ist möglich, und das ist letztlich das Ziel meiner derzeitigen Bemühungen, Kompositionen an Orten inmitten von lärmenden und lebendigen Städten zu erarbeiten und zu inszenieren. Diese Arbeiten beziehen die Eigenheiten der Orte15 mit ein, das ökologische Gefüge, historische Gegebenheiten, 9
„Aubaine“ in 2005 am Fraunhofer Institut IDMT Illmenau. In Abgrenzung zum abgeschotteten Studioraum: Gebrauchsgebäude wie Kanzleien, Geschäfte, Büros. 11 „Zum Abschluss des dritten Quartals 2004 stehen ca. 1,9 Millionen Quadratmeter dem Münchener Büroflächenmarkt zur Verfügung. Die bis vor drei Jahren herrschende Flächenknappheit ist Vergangenheit, denn das Leerstandsvolumen hat sich während dieses Zeitraums um das über 24-fache auf 1,59 Millionen Quadratmeter vergrößert. Es wird davon ausgegangen, dass der Leerstand künftig noch weiterhin zunehmen wird.“ Stephan Anderl: Büroimmobilienmarkt München. Wirtschaftlicher Umgang mit Leerständen, Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Dipl. Betriebswirt (FH) im Studiengang Immobilienwirtschaft an der Hochschule Nürtingen, 2004. 12 „Der Wohnsitz ist eine Primärinvestition, durch welche die Akteure der Businesswelt ihre Geschäftsfähigkeit und soziale Prätention unter Beweis stellen. Als Investition in einen sozialen Ort ist die Adresse ein Teil des fixen Kapitals.“ Peter Sloterdijk: Sphären III. Schäume. Frankfurt am Main 2004, S.561. 13 Eingeführt wird der Begriff bei Barry Blesser, Linda Ruth Salter: Spaces Speak are you listening? Experiencing Aural Architecture. The MIT Press Cambridge Massachusetts, London 2007, S.2 „The composite of numerous surfaces, objects, and geometries in a complicated environment creates an aural architecture. As we hear how sounds from multiple sources interact with the various spatial elements, we assign an identifiable personality to the aural architecture...“, entsprechend, S.5: „An aural architect, acting as both an artist and a social engineer, is therefore someone who selects specific aural attributes of a space based on what is desirable in a particular cultural framework.“ 14 „Während die Bau- und Raumakustik konkrete Problemstellungen in Hinsicht auf standardisierte Ziele bearbeitet, in dem sie ein störendes Geräusch eliminiert oder die Akustik eines Konferenzraums optimiert, bildet die Gesamtheit der Maßnahmen und Mittel der auditiven Architekten den Entwurf für eine zu kreierende Klangumwelt, also für die Rahmenbedingungen der Wahrnehmung.“ Alex Arteaga, Thomas Kusitzky: Klangumwelten. In: Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung. Hg. Holger Schulze, Bielefeld 2008, S.262. 15 Zu Ort und Raum: „keine Ahnung von Schwerkraft“ geht von dem akustischen Potential von Orten in Gestalt urbaner Leerstände aus und verräumlicht sie in der kompositorischen Weiterentwicklung und hörbaren Manifestation ihrer Klangimplikationen. Michel de Certeaus Ansatz, Raum und Ort zu differenzieren, liefert hierbei einen passenden, weil seinerseits auf Alltagsgegebenheiten ausgerichteten Rahmen. Sein Orts- und sein Raumkonzept ist in seine soziologischen Theorie des Alltagslebens 10
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springen in die Vergangenheit des jeweiligen Raums zurück, betonen das Vorhandene und bespielen und nutzen die akustischen Besonderheiten der Architektur.16 Diese Arbeiten sind ephemer, da diese Gebäude auf kurz oder lang abgerissen oder umgebaut werden und sich die akustische Umgebung durch fortwährende Baumaßnahmen drastisch ändern kann. Ein Publikum kann die Komposition nur für eine begrenzte Zeit im jeweiligen Gebäude erleben.17
Abb.2 Obergeschoss der Villa 3 auf dem ehemaligen US-Stützpunkt, heute: „Hubland-Nord“, Würzburg. Foto: Nico Bergmann.
2.2. Leerstand als Thema künstlerischer Auseinandersetzung Für diese Werkreihe wichtig ist die Thematisierung eines alltäglichen Phänomens. Gebäudeleerstand hat es immer schon gegeben, aber in den letzten 15 Jahren wurde dieser in Innenstädten und Randbereichen immer auffälliger. Manche Fußgängerzonen sind oberhalb der ebenerdigen Geschäftszeilen nahezu verwaist. Während man früher allenfalls durch diskrete Schilder des Maklers auf die Mietmöglichkeiten eines Objekts hingewiesen wurde, haben in den letzten Jahren die Transparente mit der Aufschrift „Zu vermieten, provisionsfrei abzugeben!“ stetig größere Dimensionen an den Fassaden angenommen, während gleichzeitig ein eingebettet (Michel de Certeau: Invention du Quotidien. Vol.1, Arts de Faire, Paris 1980 / deutsch: Kunst des Handelns, Merve Verlag, dort S.217ff ). Ort bezeichnet darin das Eigene, eigentlich das Originäre, das sich definitorisch scheidet von demjenigen, was es nicht ist. Gegenüber einer solcherart stabilen Konstellation ist Raum ein dynamisches Konzept. Raum entsteht aus Ort, und zwar qua Eingriff, was Certeaus handlungstheoretischen Argumentationsrahmen plausibel macht. Raum ist „ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen“ (S.233). 16 Vgl. Methoden, V. 17 Dennoch verschwindet die Arbeit nicht gänzlich. Sie wird durch Tonaufnahmen und Video-Aufzeichnung dokumentiert und archiviert. Eine CD-Reihe mit sechs Booklets und zusammenfassendem Katalog begleitet den Zyklus (sechs Gebäude) abschließend. Die Website www.kavs.cc als Plattform und Informationsmedium der Kompositionsreihe ist Anfang März 2011 online gegangen.
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paar Meter weiter ein Büro- oder Gewerbebauboom stattfindet. Im Rahmen der Arbeit findet eine temporäre Umwidmung eines Gebäudes statt18, das als ‚leer‘, im wirtschaftlichen Sinne nutzlos, meist über viele Jahre hermetisch gegen die Umwelt abgeriegelt, auf seinen Abriss bzw. seine Entkernung wartet, gleichzeitig aber eine eigene Geschichte, Gestaltung und Atmosphäre birgt. Gemeint ist die klangkünstlerische Nutzung ehemals wirtschaftlich und sozial im urbanen Umfeld völlig integrierter Gebäude (Kanzleien, Krankenhäuser, Kaufhäuser, Hotels, Amtsstuben), die aufgrund ihrer Vergangenheit mit Formen, baulichen Ästhetiken, klanglichen Eigenheiten (Nachhall, Absorptionseigenschaften der Räume etc.) und nicht zuletzt Geschichten aufgeladen sind. Diese Leerstände gibt es in jeder Stadt. Orte, die entweder auf lange Zeit leer stehen und einer etwaigen Entkernung und Umwidmung19 entgegensehen oder auf ihren Abriss warten, bis sich ein neuer Investor gefunden hat, der eine völlige Umgestaltung vornimmt. Diese ‚Einkapselung‘ im öffentlichen Raum kann mitunter Jahre dauern, die PassantInnen nehmen diese Gebäude nach kurzer Zeit nicht mehr wahr, sie verschwinden in der öffentlichen Wahrnehmung. In der Gesamtheit des bewussten urbanen Raums entsteht eine Lücke, ein Nicht-Ort.20 Erst, wenn das Baugerüst befestigt oder gar die Abrissmaschinen installiert werden, rückt der Ort wieder in ‚die Öffentlichkeit‘. Lücken der Wahrnehmung sind Ansatzpunkte für die Künste, denn hier können neue Territorien beschritten und erforscht werden und grundlegende Fragestellungen (z.B. Individuum und Klang-Umwelt, (un-)bewusstes akustisches Weltbild) neu kombiniert und thematisiert werden.21 Darüber hinaus soll aber mit den Mitteln der Klangkunst ein ephemeres Werk entstehen, das eben auf der Grundlage des ‚ausgemusterten‘ Gebäudes, aus dem Gebäude und dem Ort heraus entsteht. D.h., Geschichte, bauliche Eigenheiten wie Materialauswahl, Schnitt (Großraumbüros seit den 80er Jahren, kleine Zimmer im Messehotel, Stein-/Marmorböden in Eingangshallen internationaler Kanzleien etc.22) werden Bestandteile eines künstlerischen Gesamtkonzepts. Die häufig 18
Beispiel: Ein Kaufhaus wird zum Konzertraum. Beispiel: Eine alte Post wird zu einem H&M-Modegeschäft. 20 Obwohl Marc Augé mit seinen „Non-Places“ andere Orte meint als die von mir aufgesuchten, wage ich die Analogie: „Perhaps today’s artists and writers are doomed to seek beauty in ‚non-places‘, to discover it by resisting the apparent obviousness of current events.“ Marc Augé: Non-Places: Introduction to an Anthropology of Supermodernity. Verso Books (deutsch: Nicht-Orte. München: Beck 2010) S.XXII. 21 Vgl. zur Umsetzung: Methoden, V. 22 „Aural Architecture can also have a social meaning. For example, the bare marble floors and walls of an office lobby loudly announce the arrival of visitors by the resounding echoes of their footsteps. In contrast, thick carpeting, upholstered furniture, and heavy draperies, all of which suppress incident or reflected sounds, would mute that announcement. The aural architecture of the lobby thus determines whether entering is a public or private event.“ Blesser/Salter, Spaces speak are you listening?, a.a.O., S.3. 19
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einseitige, abwertende Sicht- bzw. Hörweise auf diese Leerstellen oder gar NichtOrte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft soll durch die alternative Interpretation des Orts erweitert werden. Diese Nicht-Orte bieten auch Chancen.
Abb.3 Sauraugasse 4, Graz. Lautsprecherinstallation im Obergeschoss. Foto: Nico Bergmann.
3. GEBÄUDE-KLANGKOMPOSITIONEN | EFFEKTE
3.1. Erweiterung einer künstlerischen Praxis und Denkweise Die akustische Kunst hat eine bewegte aber kurze Geschichte, die auch eng mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten zusammenhängt.23 „Indeed (...) we are in the early days of sound.“24 Insofern verwundert es auch nicht, dass sich weite Teile der Entwicklung in Studios und Laboratorien abgespielt haben. Bei „keine Ahnung von Schwerkraft“ handelt es sich jedoch nicht um eine Summe von Ideen, die durch die Verlagerung des Spielfelds lediglich aufbereitet werden sollen. Mir geht es nicht um die (wieder einmal) einmalige Erprobung einer klangkünstlerischen Idee in einem Gebäudekontext, sondern um die sukzessive Erforschung der sich aufgrund dieser Rahmenidee ergebenden klangkünstlerischen Möglichkeiten an verschiedenen Orten mit ihren jeweiligen akustischen und baulichen Eigenheiten und ihrer spezifischen Geschichte mittels einer zu entwickelnden und im Prozess sich verfeinernden persönlichen Wahrnehmung und eines genauer zu stimmenden und abstimmbaren Grundinstrumentariums.25 Tatsächlich ist diese Arbeit und die damit verbundenen 23 „...both sound and listening have been and continue to be transformed through cultural elaboration
of technology.“ Douglas Kahn: Noise, water, meat. A history of sound in the arts, Cambridge, Mass. [u.a.]: MIT Press 1999, S.15. 24 Ebd., S.19. 25 Zum Instrumentarium siehe Abschnitt 4.
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zu erwartenden Ergebnisse, aufgrund der neueren technischen Möglichkeiten in Bezug auf Mobilität und Materialqualität (Equipment) und der internationalen theoretischen Basis26, für mich erst in den letzten Jahren so denkbar und durchführbar geworden. Das Ziel ist hier, eine andere (neue) Praxis der RaumKlangkomposition zu entwickeln. Gebäude sollen beim Betreten kompositorisch ‚gelesen‘ werden. Die Komposition beginnt mit dem ersten geübten (Hör-) Eindruck. Dieser Eindruck soll, als Erfahrung gefestigt und durch Übung27 zu Wissen verfestigt, in einer kompositorischen Antwort als eigenständige RaumKlangkomposition mitgeteilt werden.28 3.2. {Herausforderung aktiver auditiver Wahrnehmung durch klangkünstlerische Intervention} Lautsprecher im (halb-)öffentlichen Raum zu installieren und Letzteren mit einer zusätzlichen klanglichen Ebene zu färben, ist ein sehr alltägliches und ausuferndes Raumgestaltungsverfahren.29 Aber nur weil wir feststellen, dass mittlerweile fast in jeder Boutique und jeder Gastwirtschaft Musik zur Raum- und Gemütsfärbung eingesetzt wird, ist das eigentliche Problem noch nicht umrissen. In diesem Fall geschieht genau das Gegenteil des von mir entworfenen Ansatzes: Der Ort wird übertüncht, die Atmosphäre verschmiert. „Keine Ahnung von Schwerkraft“ will auf das Elementare des uns Umhüllenden, die akustischen Eigenschaften und Eigenheiten der Orte, an denen wir uns aufhalten, denen wir uns aussetzen und denen wir ausgesetzt werden, hinweisen. Hierzu gehört auch das Einbeziehen des Unvorhersehbaren. Die Komposition ist einerseits bedroht durch die nicht verbannte und ununterdrückbare Umwelt und bezieht diese im gleichen Moment mit ein, so dass ein Spannungsverhältnis zwischen Setzung und Umgebungsraum entsteht. Durch diese Spannung soll die auditive Wahrnehmung des Hörers herausgefordert und beansprucht und gleichzeitig zum aktiven ‚Erhören‘ des bespielten Orts aufgefordert werden. 4. INSTRUMENTARIUM
Das hierfür erforderliche Instrumentarium besteht vor allem aus einem Setup von 32 baugleichen aktiven Lautsprechern (nebst Digital/Analog-Wandlern, 26 The Soundscape of Modernity von Emily Thomson stammt von 2004; spaces speak are you listening?
von Blesser/Salter stammt von 2007; das Buch zum Projekt ‚tuned city‘ wurde 2008 veröffentlicht. hierzu Raumbefragung, V.1.b. 28 Vgl. hierzu kompositorische Antwort, V.1.b. 29 „Die Macht der mit Klang geschaffenen Atmosphäre ist auch den Produzenten von Kaufhausmusik, sogenannter ‚Muzak‘ bekannt und wird zur Manipulation von Konsumenten und Kunden verwendet.“ Martin Neukom: Topologie des Klangraums in Milieux Sonores, S.33; Zur aktuellen Kommerzialisierung des Verfahrens: www.muzak.com. 27 Vgl.
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Abb.4 Aus dem Wechselspiel von Lautsprechern und Gebäude entsteht das Gebäude-Instrument. Foto: Nico Bergmann.
MADI-Audiointerface, Laptop, Stativen, Kabeltrommeln, fahrbaren Cases) und einem Mehrkanalsystem, was es ermöglicht, das Gebäude differenziert akustisch anzuregen bzw. zu bespielen. Dieses Instrumentarium wurde zuerst vom Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz nach mehrmonatiger Planungs- und Testzeit im Frühjahr 2009, ein zweites vom Atelier Klangforschung der Universität Würzburg im Sommer 2011 angeschafft. Beide stehen mir in Kooperation mit den Instituten für die Werkreihe zur Verfügung. Als Software wird u.a. SuperCollider 330 und LogicPro31 eingesetzt.32 Zudem werden zu Aufzeichnungszwecken vier Sennheiser Richtmikrophone und eine KFM 6 Mikrophonkugel von Schoeps so wie ein OKM-Mikrophonpaar verwendet.
30 http://supercollider.sourceforge.net/: „SuperCollider is an environment and programming language
for real time audio synthesis and algorithmic composition. It provides an interpreted object-oriented language which functions as a network client to a realtime sound synthesis server.“ 31 Logic Pro ist ein Software-Midi- und Audiosequenzer. Das Programm unterscheidet zwischen mehreren Spurtypen: unter anderem MIDI, Audio, Plugin- und Mischpult-Automationsspuren. 32 Vgl. zur Art und Weise: konzeptueller Werkzeugkasten, 5.1.b.aa.
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5. METHODEN
5.1. Komposition | Klangräume modellieren Kompositorisch geht es mir vor allem darum, die Arbeit am Ort und aus dem Ort heraus zu entwickeln. D.h. die Komposition wird nicht, auch nicht in Teilen. im Studio (oder: Laptop) vorproduziert und dann an den jeweiligen Ort angepasst, sondern die klang-raumkompositorische Arbeit soll immer erst im Moment des Betretens des Gebäudes beginnen. Keller werden als natürliche Hallräume verwendet, Fenster geöffnet, um die Umgebungsgeräusche mit einzubeziehen, Türen können zur Filterung eingesetzt werden. Die Dämm- bzw. Reflektionseigenschaften der vor Ort verbauten Materialien wie Teppichböden, Glas, Holz, Stahl spielen sowohl bei der Positionierung der Lautsprecher als auch bei der Entwicklung des Klangmaterials eine Rolle. Dieser Teil des Arbeitsprozesses dauert zwischen 6 und 8 Wochen vom Moment des ersten Betretens des Gebäudes bis zum Ende der Dokumentation. 5.1.a. Begehung Jedes Gebäude wird zunächst so weit wie möglich über mehrere Tage ausführlich begangen. Das Hören der Klangsituation vor Ort ist immer der Ausgangspunkt für weitere Überlegungen.33 Das Ohr ist im gesamtkompositorischen Prozess das wichtigste Werkzeug.34 Die vermeintlich simple Hauptfrage ist hier: „Wie wirkt der Ort auf mich?“ In dieser Phase finden bereits grundlegende Zuordnungen der gemachten Erfahrungen statt: Mögliche Antworten werden in Begriffen wie dumpf, hell, hallig, trocken, weit, eng, düster etc. fixiert und in eine Raumskizze oder einem Grundrissplan eingetragen. Der Klang der eigenen Schritte, das Lauschen in die verschiedenen Räume und Gänge, Sitzen in Treppenhäusern, das Beschreiben der Bausituation und der verwendeten Materialien – diese Erfahrungsberichte werden schriftlich oder sprechend mittels Audioaufnahmen archiviert und durch Einbeziehung in die späteren Überlegungen zur Raumbespielung ausgewertet. Hierbei werden auch immer wieder Audio-Aufnahmen gemacht, um die Situationen an bestimmten Plätzen zu bestimmten Zeiten im Gebäude festhalten zu können. Diese Phase ist nicht nur bloße Vorbereitung, es handelt sich um den ersten aktiven Schritt, bei dem eine sukzessive langsame Aufladung mit Eindrücken und Erfahrungen stattfindet, die das Fundament der folgenden Arbeiten bildet.35 33 „Learning how to hear space is mostly a matter of inventing a cognitive strategy that can decode the
specific cues that arise from the acoustical behavior of objects and geometries in the world.“ Blesser/ Salter, Spaces speak are you listening?, a.a.O., S.36. 34 „Because experiencing sound involves time and because spatial acoustics are difficult to record, auditory memory plays a large role in acquiring the ability to hear space.“ Ebd., S.17. 35 „Diesen Widerspruch gilt es auszuhalten: wichtige Aspekte des Materials als Autorität anzuerkennen – seinen Inhalt, seine Struktur, seine Bilder .... seine potentielle Entfaltung – und sich zugleich
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5.1.b. Raumbefragung Auf Grund der bei der Begehung gemachten Erfahrungen findet dann in einem weiteren Schritt eine Raumbefragung statt. Hierfür wurden seit 2009 verschiedene Software-Werkzeuge programmiert und getestet. Es handelt sich um standardisierte Anwendungen zum Testen des Gebäudes: 5.1.b.a. Konzeptueller Werkzeugkasten Der Werkzeugkasten beinhaltet verschiedene, in SuperCollider 3 geschriebene Programme, mit denen man das Gebäude akustisch erkunden kann, z.B. mehrkanalig abspielbare Klangpartikel-Ketten (Bursts) oder tiefe kurze Pulse zur Erfahrung der Halligkeit von Gebäuden. Zudem lassen sich so je nach Situation Vibrationen von Türen oder losen Blechen provozieren, deren Geräusche eventuell in eine spätere Komposition mit einfließen können. Ebenfalls im Werkzeugkasten befindet sich ein Generator für einfaches weißes Rauschen, das dann auf einem Lautsprecherkreis in verschiedenen Geschwindigkeiten bewegt werden kann, so dass man das Absorptionsverhalten des Gebäudes auf dem Weg vom jeweiligen Lautsprecher zum Abhörpunkt kennen lernt.36 Ein anderes Werkzeug-Patch erzeugt Klänge, die an ein ‚Einritzen‘ mit einem spitzen Gegenstand erinnern. Auf diese Weise kann das Gebäude an der jeweiligen Lautsprecherposition markiert werden. Die so erzeugten Klänge tragen dann die akustischen Informationen über Material, Entfernung, Raumgröße bis zum gewählten Abhörpunkt. Weiter werden bei der Arbeit entwickelte LogicPro-Templates37 für das Arrangieren von Klängen und die Klangabstimmung mit Equalizern in den Kanalzügen und Mehrkanalausgabe verwendet. Die Verbindung mit SuperCollider findet über JACK-Audio38 statt. So können Klangatmosphären und Stimmungen schnell in Logic arrangiert und in Schleife gespielt werden, während in SuperCollider die Testprogramme verändert werden, um eine andere Raumreaktion zu provozieren. Zudem verwende ich komponierte Miniaturen und Arrangements, die mir vertrautes Klangmaterial beinhalten, um einen weiteren Raumeindruck zu bekommen. Das Spatialisierungswerkzeug, das ich im konkreten Fall für „keine Ahnung von Schwerkraft“ benutze, spielt die (22) 6 Kanalfiles auf Knopfdruck mit fortlaufenden Output-Verschiebungen (1-6, 2-7, 3-8, 4-9 etc.), so dass man das bekannte Klangmaterial sehr langsam durch ein unbekanntes Gebäude wandern lassen kann. Wenn man jetzt die eigene Abhörüber andere sich frei hinwegbewegen zu können.“ Goebbels, Überlegungen zur künstlerischen Praxis, a.a.O., S.213. 36 Lässt man ein kontinuierliches Signal auf einem Lautsprecherkreis im Tonstudio rotieren, wird es klanglich kaum verändert, verteilt man diesen Kreis auf eine Folge von angrenzenden Räumen, verändert sich das gleiche Signal beim ‚Wandern‘ durch die Räume aufgrund der baulichen Eigenschaften. 37 Meint: Standard-‚Vorlagen‘. 38 http://jackaudio.org/, JACK ist eine Software-Schnittstelle für Audio-Computerprogramme unter Unix-ähnlichen Systemen.
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position durch Ortswechsel verändert, erfährt man wiederum etwas über die konkreten raumspezifischen Einflüsse, die sich auf die Klänge auf dem Weg zum ursprünglich gewählten Abhörpunkt auswirken. 5.1.b.b. Entstehung impliziten künstlerischen Wissens Ich nähere mich dem Gebäude durch ein zunächst standardisiertes Frage-Antwort-Spiel (akustischer Fragebogen) an, das dann erweitert und variiert werden kann. Hier ist die Hauptfrage: „Wie reagiert der Ort auf diese Befragung?“ Es geht in diesem Stadium jedoch nicht ausschließlich darum, eine Vorbereitung oder einen Einstieg in die Komposition zu finden. Vielmehr liegt dem Ganzen die Annahme zugrunde, dass die Antworten sich wahrscheinlich zu weiteren HörErfahrungswerten verdichten, so dass man bei jedem neuen Gebäude die Fragen genauer oder direkter stellen kann und die Eigenschaften des Materials, den Raum und das Zusammenspiel mit der Umgebung zu ‚lesen‘39 lernt. „Es geht also nicht mehr um die Erfindung, Originalität, Individualität, sondern um die Perspektive auf das Vorzufindende, auf das Erzählen mit dem Vorgefundenen, in anderen als den bekannten Kontexten.“40 Was als Ergebnis dieser Projektreihe kompositorisch viel wichtiger als die sechs Gebäudekompositionen sein könnte, ist eine akustische (Eigen-)Wahrnehmungsschulung, deren Ergebnisse sich in anderen Arbeiten dann ihre ganz eigenen Umsetzungen verschaffen könnten. Durch die Werkreihe entsteht implizites
Abb.5 Lautsprecher und Herrentoilette. Untergeschoss Sauraugasse 4, Graz. Foto: Nico Bergmann. 39
„Das, was ich [...] ‚Lesen‘ nannte, ist eine Übersetzung dieses Textbegriffs ins Musikalische und bedeutet hier: hören, erleben, sich aussetzen, damit seine Erfahrung machen.“ Wolfgang Sandner (Hrsg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung. Henschel Verlag, Berlin 2002, S.182. 40 Heiner Goebbels, Musik entziffern, a.a.O., S.181.
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künstlerisches Wissen, das eine neue Praxis informiert bzw. deren Basis wird. Dieses spezifische Wissen kann also nur anhand von Werken – hier der Arbeit im Gebäude – und aufgrund seiner prägenden Wirkung mit den hiervon ableitbaren Erfahrungen für weitere Arbeiten entstehen.41 In Anlehnung an meine bisherigen Arbeiten, in denen ich häufig einen Klang oder eine skulpturale Klangkonstellation aus einer vorangegangenen Komposition einbaue42, gehe ich davon aus, dass sich ‚Raumsituationen‘ und Ergebnisse der ‚Raumbefragungen‘ über das Gehör einschreiben43, die dann zum Vokabular einer ‚Gebäudekomposition‘ werden.44 5.1.b.c. Kompositorische Antwort Aufgrund der so gemachten Erfahrungen entsteht dann das Stück, am Ort aus dem Ort heraus.45 Dies kann bedeuten: – Einbeziehung der akustischen Gegebenheiten und Verwendung ortspezifischer Klänge, z.B. Straßenbahnklänge bei geöffneten Fenstern und Tram-Fahrplan als Zeitachse für die Makrostruktur der Klangorganisation, Trittschall von Passanten, Aufzugsgeräusche, Lüftungs- und Heizungsschwebungen, Entladungsknacken elektrischer Lampen, Windgeräusche im Gebäude. Aber auch Klänge, die assoziativ mit dem Ort verbunden sind (Papier/Papierfabrik), können zumindest als Ausgangsmaterial dienen. – Modifizierung ortspezifischer Klänge: z.B. die Filterung aufgezeichneter Klänge, so dass bestimmte Rhythmen (bei Schritten) übrigbleiben, oder Schichtung und Harmonisierung sowie zeitliche Dehnung oder Verdichtung von Klangereignissen. – Spatialisierung von Klängen im Gebäude: z.B. durch zeitlich abgestimmte Sprünge von Klangereignissen durch unterschiedliche Räume oder Bildung 41 „Art practice – both the art object and the creative process – embodies situated, tacit knowledge that
can be revealed and articulated by means of experimentation and interpretation.“ Henk Borgdorff: The debate on research in the arts. Sensous Knowledge (No: 2/2006), Bergen 2006, S.18. 42 Gerriet K. Sharma, Projektarbeit Computermusik: „Dieser Prozess reflektiert eine für mich sehr grundlegende und bewährte Arbeitsweise, bei der Fragmente bisheriger Kompositionen in ein Archiv einfließen, das als Bestandteil einer neuen Komposition zwischen mir Bekanntem und Unbekanntem vermittelt. Dadurch entsteht nicht nur etwas Drittes, sondern es wird auch ein noch andauernder Prozess abgeschlossen – erst in dem Moment, da eine Komposition teilweise Bestandteil eines Klangarchivs wird, ist diese für mich auch tatsächlich beendet.“, S.12, IEM 2010. 43 „To preserve our experience of aural architecture, most of us depend on long-term memory, which without extensive training and practice, is even more unrelieable than short-time memory. For this reason, few of us accumulate aural experiences of spaces; our culture cannot readily communicate ist aural architectural heritage.“ Blesser/Salter, Spaces speak are you listening?, a.a.O., S.17. 44 „Grundriss, Schnitt, Materialangaben könnten im Grunde wie eine Partitur gelesen und mit dem Wissen über Nachhallzeit und Funktion zur Beurteilung einer Klangatmosphäre verbunden werden – es macht sich nur keiner die Mühe, jahrelang das entsprechende Vorstellungsvermögen zu trainieren.“ Anne Kockelkorn, Doris Kleilein, Gesine Pagels, Carsten Stabenow (Hg.): Tuned City – zwischen Klang- und Raumspekulation. Idstein: Kookbooks 2008, S.9. 45 Hinweise zu den Print-Dokumentationen nebst CD zu den bisherigen Arbeiten finden sich auf www.kavs.cc.
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verschiedener Klanginseln mit verschiedenen Dichten und Ausbreitungen im Gebäude. D.h., Lautsprechergruppen mit ähnlichen Klängen scheinen zu korrespondieren und werden so von anderen Gruppen mit anderen Klängen unterscheidbar. Dichten können durch zeitliche Stauchung von Klangereignissen erzeugt werden, Ausbreitungen durch entsprechende Anordnungen von Lautsprechergruppen im Gebäude. – Völlige Verweigerung gegenüber akustischen Gegebenheiten und ortspezifischen Klängen: z.B. Einbau einer ortsfremden Klanglandschaft, die rein elektronisch erzeugte Klänge verwendet oder ortsfremde Klänge, die durch ihre Gegensätzlichkeit zu den ortspezifischen Klängen einen Assoziationsraum eröffnen. 5.2. Konzert | Inszenierung | Präsentation Um die Arbeit zugänglich und vor Ort wahrnehmbar zu machen, sind verschiedene Szenarien vorgesehen. Auch hier ist das Gebäude mit seinen baulichen und akustischen Eigenschaften ausschlaggebend. Zum einen können in einem Komplex von Räumen verschiedene Positionen bestuhlt werden, in denen die durch das Gebäude gefärbten Klänge ‚zusammentreffen‘: z.B. Bestuhlung eines Treppenhauses, das verschiedene Etagen verbindet oder Kreuzungsräume in einem Gangsystem. Die bauliche Situation bietet häufig Möglichkeiten, den akustischen Horizont (Acoustic Horizon)46 des Hörers zu erweitern. Wenn mehrere Abhörplätze gefunden werden, ist auch das mehrmalige Abhören eines Stückes aus verschiedenen Hörperspektiven möglich. Das Publikum kann dann nach jedem Durchgang die Hörplätze wechseln. Aber auch unbestuhlte, installative Formen sind möglich, wie z.B. ein begehbarer Hörparcours in einem klingenden Gebäude: Im zweiten Teil bewegen sich die Hörer beim Abspielen der gleichen Komposition durch die Räume. Eingebunden in die Klänge kommt es zu scheinbar inszenierten Begegnungen, filmischen Momenten im Raumgefüge. Die Geräusche der Besucher mischen sich mit der Klangkomposition. Jeder Schritt wird ‚beleuchtet‘, jedes Kratzen setzt sich in Relation zum Gesamtklang. Durch die Aufhebung der Fixierung auf das Stuhlcarré wird aus der RaumKlangkomposition eine audiovisuelle Komposition, da der Konzertbesucher zum Passanten wird und nun auch mit den Augen im Gebäude sucht. Im Gemisch der bewegten und gestaffelten Klänge finden sich gefrorene Bilder, Momentaufnahmen: eine Kaffeestation, ein Waschbecken, ein Schutthaufen, eine ausgebaute Tür, eine Zelle aus Glas.47
46 Ich beziehe mich hier auf den von Blesser/Salter eingeführten Begriff in Spaces speak are you listening?, a.a.O., S.22: „...an acoustic horizon, the maximum distance between a listener and source of sound where the sonic event can still be heard. Beyond this horizon, the sound of a sonic event is too weak relative to the masking power of other sounds to be audible or intelligible. The acoustic horizon is thus the experimental boundary that delineates an acoustic arena, a region where listeners are part of a community that shares the ability to hear a sonic event.“ 47 Aus der Dokumentation der Gebäudekomposition – {kA}: Sauraugasse 4 – Graz, Kanzlei für Raumbefragung 2012, www.kavs.cc.
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Abb.6 Grundrissplan und Raum-Klangpartitur. Foto: Nico Bergmann.
Oder eine einen Spalt aufstehende Tür, ein Lüftungsschacht oder ein Fenster werden für nur jeweils einen Zuhörer zum fixen Abhörpunkt einer dahinter liegenden Klangwelt. 5.3. Dokumentation | Raum | Klang | Erinnern Jede Gebäudekomposition wird vom Moment der Aufbauarbeiten über die Experimentier- und Kompositionsphase bis hin zum Stadium der Präsentation visuell dokumentiert. Dabei geht es weniger darum, die fertige Arbeit zu visualisieren oder zu erklären, als die im Prozess gefällten Entscheidungen und in der Praxis gemachten Erfahrungen festzuhalten und visuell zu unterstützen, damit die verschiedenen Gebäudesituationen bzw. praktischen Problemlösungen auch in der Zukunft erinnerbar und somit nutzbar sind. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist die bereits erwähnte Audio-Aufzeichnung der jeweiligen Klang-Raumsituation. D.h., nach Begehung, Befragung, Komposition und Vorführung erfolgt immer ein letzter Schritt, der sich mit der Mikrophonierung und Aufzeichnung der jeweiligen Orts-Klangsituation auseinandersetzt, um die Ergebnisse, die Wechselwirkungen von Gebäudeklang und Klangkomposition zu dokumentieren und als Unikat festzuhalten. 6. GEDANKENRÄUME | FRAGEN, DIE MITSCHWINGEN
„Keine Ahnung von Schwerkraft“ versteht sich als Ansatz für eine Kompositionsweise, die im Dialog mit ihren Bedingungen entsteht und besteht, und zwar sowohl den musikalischen als auch medialen, organisatorischen und tech-
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nischen.48 Die beschriebenen Methoden wurden seit 2009 erprobt, bedürfen aber der Übung bei der Anwendung. Es geht mir um den Lernprozess und die Verfeinerung der kompositorischen Möglichkeiten im Rahmen dieser selbst gestellten Bedingungen. Hierbei ergeben sich neue Fragen, die die zur Durchführung der Werkreihe gegründete Kanzlei für Raumbefragungen49 in Vorträgen und Workshops thematisiert und im Gespräch mit Architekten, Komponisten, Städteplanern, Szenografen und Akustikern zu lösen sucht. Beispielhafte auf Architektur bezogene Fragen wären: Wie ‚lesen‘ Architekten den akustischen Gebäuderaum?50 Welche akustischen Kriterien kann man wie bei der Planung eines Gebäudes und seiner Umgebung in die Gestaltung mit einfließen lassen?51 Was bedeuten bestimmte Baustoffe und Materialien hinsichtlich der Gestaltung des visuellen und/oder akustischen Lebensraums? Weitere Themenfelder und Fragen sind: – Aurale Architekturen – ist alles ‚Lärm‘, was im öffentlichen Raum klingt?52 – Komponieren im öffentlichen Raum – Wo ist mein Konzertraum? Muss dieser nicht heute immer wieder neu gesucht und bespielt werden? – Was und wer ist Publikum? Bei herkömmlichen elektroakustischen Konzerten wird das Publikum immer spezieller oder es bleibt ‚fachspezifisch‘. Geht man aus dem Konzertsaal hinaus, kommt es zu ganz anderen, womöglich drastischen Begegnungen. Etwa wenn sich ehemalige Mitarbeiter eines Gebäudes interessieren, Gebäudeverwaltungen und der Sicherheitsdienst. Kann 48
Beispiele: Wie weise ich in der jeweiligen Stadt auf ein Konzert hin? Wie finde ich ein leerstehendes Gebäude? Wie komme ich in Kontakt mit einem Gebäudeträger? Wie transportiere ich das Instrument? Gibt es Strom? 49 Nico Bergmann: Gestaltung & Dokumentation, Dr. Saskia Reither: Projektmanagement & Research, seit 2011, Astrid Mönnich: Projektmanagement & Research, Gerriet K. Sharma: Komposition & Klanginstallation – (www.kavs.cc). 50 „Der Raum war schon immer Thema in der Architektur, doch heute, jenseits der Moderne, zeichnet sich ab, dass die Architektur den Raum in einer anderen umfassenderen Weise zum Thema macht, indem nämlich die Erzeugung von Atmosphären zu ihrem zentralen Anliegen wird.“ Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S.18. 51 „Akustik kann durch Photographie und Renderings nicht kommuniziert werden. Sie ist allein in Echtzeit erlebbar und lässt sich nicht als Bild erinnern und reproduzieren – Faktoren, die es Architekten so gut wie unmöglich machen, die akustische Ästhetik ihrer Bauten zu vermitteln. Während Architekten im besten Fall intuitiv akustische Erfahrungswerte verarbeiten..., scheint es für die Rezeption und die Theorie nahezu undenkbar zu sein, sich aufs doppelte Glatteis von Erfahrungs- und Erinnerungswerten zu begeben und Architektur – oder gar die Stadt – nach Klangkategorien zu bewerten und zu diskutieren. Grundriss, Schnitt, Materialangaben könnten im Grunde wie eine Partitur gelesen und mit dem Wissen über Nachhallzeit und Funktion zur Beurteilung einer Klangatmosphäre verbunden werden – es macht sich nur keiner die Mühe, jahrelang das entsprechende Vorstellungsvermögen zu trainieren.“ Kleilein/Kockelkorn, Akustik nervt, a.a.O., S.9. 52 „Es muss noch einiges von seiten der kulturellen Übereinkunft geschehen, bis die ‚Materie‘ Sound als etwas Substanzielles akzeptiert und nicht nur als Nebenprodukt des konstruierten Raumes verstanden wird.“ Ganchrow, Klangmaterial, a.a.O., S.64.
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und sollte man diese aushalten oder zumindest in den Prozess der Arbeit mit einbeziehen?53 – Wo ist mein Publikum? Im Konzertsaal ist das Publikum in den meisten Fällen fixiert. Verlagert man den Ort der Aufführung, kann das auch bedeuten, dass die Hörsituation ein andere wird. Das Publikum könnte im Nebenraum sitzen oder gar aus Passanten bestehen. Mit „keine Ahnung von Schwerkraft“ möchte ich eine flexible und anpassungsfähige künstlerische Praxis auf der Reise erarbeiten. Das ‚Sich-Aussetzen‘ und immer wieder ‚Zurechtfinden‘ gehört als Herausforderung des Alltags im und um das jeweilige Gebäude bei der Etablierung dieser künstlerischen Technik dazu. Hierbei suche ich immer den Kontakt zu einem Publikum vor Ort, um das Werk und die von mir verwendeten Begrifflichkeiten an der Außenwahrnehmung zu überprüfen.54 „Nicht immer verstehe ich selbst, woran ich arbeite. Hätte ich es verstanden, dann müsste ich nicht daran arbeiten. Aber ich lasse den Zuhörer (Zuschauer) an dieser Erfahrung und Entdeckung teilhaben.“55
LITERATUR Stephan Anderl: Büroimmobilienmarkt München. Wirtschaftlicher Umgang mit Leerständen, Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Dipl. Betriebswirt (FH) im Studiengang Immobilienwirtschaft an der Hochschule Nürtingen, 2004. Marc Augé: Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity, Verso Books (deutsch: Nicht-Orte, München: Beck 2010). Sandeep Bhagwati: Komponieren im 21. Jahrhundert, Texte 1993-99, in BEM – Beiträge zur Elektronischen Musik 9, Institut für Elektronische Musik (IEM), Graz, 1999. Barry Blesser, Linda-Ruth Salter: Spaces Speak are you listening? Experiencing Aural Architecture, The MIT Press, Cambridge Massachusetts, London 2007. Henk Borgdorff: The debate on research in the arts. Sensous Knowledge (No: 2/2006), Bergen, 2006.
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Hierzu auch Sandeep Bhagwati: Komponieren im 21. Jahrhundert. Texte 1993-99, in BEM – Beiträge zur Elektronischen Musik 9, Institut für Elektronische Musik (IEM), Graz 1999, S.69: „Es gibt keine idealen Hörer einer Musik. Es gibt nur verschiedene Hörhaltungen, aus denen heraus Musik mit Aufmerksamkeit aufgenommen werden kann. (...) Was passiert, wenn mehrere Hörhaltungen aufeinander treffen? Es ist jene letzte Frage, die für mich den Horizont einer Musik des 21. Jahrhunderts aufreißt.“ 54 „When music is composed and sounds as the composer wishes it to, the audiences speak of this music as being ‚contrieved‘. When music is composed and sounds as the audience wishes it to, they admiringly call it ‚achievement‘. In both cases all involved are in the right. Only the expression accompanying these verdicts is, in any case wrong.“ Herbert Brün: When Music Resists Meaning. Wesleyan University Press, Middletown, CT 2004, S.136. 55 Goebbels, Komposition als Inszenierung, a.a.O., S.139.
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Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, Wilhelm Fink Verlag, München, 2006. Herbert Brün: When Music Resists Meaning, Wesleyan University Press, Middletown, CT, 2004. Michel de Certeau: Invention du Quotidien. Vol. 1, Arts de Faire, Paris 1980 (deutsch: Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin 1988). Christoph Cox und Daniel Warner: Audio culture. Readings in modern music, New York: Continuum, 2004. Stephan Günzel und Jörg Dünne (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2006. Douglas Kahn: Noise, water, meat. A history of sound in the arts, Cambridge, Mass. [u.a.]: MIT Press, 1999. Anne Kockelkorn, Doris Kleilein, Gesine Pagels, Carsten Stabenow (Hg.): Tuned City – zwischen Klang- und Raumspekulation, Idstein, Kookbooks, 2008. Brandon LaBelle: Background Noise. Perspectives on Sound Art, New York, Continuum, 2008. Brandon LaBelle: Acoustic Territories. Sound Culture and Everyday Life, News York, Continuum, 2010. Marcus Maeder (Hg.): Milieux Sonores/Klangliche Milieus. Klang, Raum und Virtualität, Bielefeld, transcript, 2010. Wolfgang Sandner (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung. Henschel Verlag, Berlin, 2002. Murray R. Schafer: The Soundscape, Destiny Books, 1993. Holger Schulze (Hg.): Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate: Eine Einführung, Bielefeld, transcript, 2008. Peter Sloterdijk: Sphären III. Schäume, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2004. Jonathan Sterne: The audible past. Cultural origins of sound reproduction, Durham, NC [u.a.]: Duke Univ. Press, 2005. Kralheinz Stockhausen: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Band I, Verlag M. Dumont Schauberg, Köln. Trevor Wishart: On Sonic Art (Studies in Anthropology and History), Amsterdam: Harwood Acad. Publ, 1996.
MARTIN ZENCK
THE LABYRINTH AS A SPACE AND A FORM OF KNOWLEDGE. REFLECTIONS ON THIS TOPIC IN PHILOSOPHY, IN THE ARTS AND IN THE GARDENS.
PREFACE
In preparation of the essential points of this contribution, there are three aspects of this topic that require prior commentary: Firstly, there is an article on the background of the chosen subject, on the Labyrinth, especially in the Baroque era, in a congress report on Forms of Knowledge in the Baroque1; there is another article on the relationship between space and forms of knowledge in Michel Foucault in a special reader about Spaces of Knowledge in Philosophy since Aristotle, Leibniz, Heidegger and Foucault.2 Secondly, a short synopsis will precede the major arguments of this contribution, in particular as regards the material as the labyrinthian garden and music in the baroque era, further in regard to the Encyclopédie de Diderot et d’Alembert; moreover, as regards Roland Barthes’s last work of the idea of labyrinth in his essay on The preparation of the novel (La Préparation du Roman), further regarding Nietzsche’s Dionysos dithyramb Ariadne’s Lament in relationship to the concept of a labyrinth by Michel Foucault (Ariadne s’est pendue) and Deleuze’s book about Nietzsche, and finally concerning Wolfgang Rihm’s Opera Dionysos with Ariadne’s Lament after the corresponding Dionysos Dithyrambs by Friedrich Nietzsche. Thirdly, in the phenomenon of the labyrinth as a kind of staged space, aspects of the narrative, as well as of those of tracing and tracking respectively, are to be considered, in order to show to a disorganized world a mirror of the forceful order in chaos. Specifically, this is indicated in the ratio of the visible and invisible, and the audible, but invisible, i.e. in some differences of its meanings and transfers. In respect to the subject matter of this present volume on the 1
Cf. Martin Zenck: Theater, Masques, Labyrinths and Tableaus as forms of knowledge in Baroque, in: Forms of Knowledge. Sixt International Baroque-Sommer-Course, Foundation Bibliotheque Werner Oechslin, Einsiedeln, Zürich: gta-publisher 2008, p.72-85. 2 Cf. Martin Zenck: Spaces and Forms of Knowledge in Michel Foucault (in: Spaces of Knowledge: Fundamental Positions in the History of Philosophy, ed. by Karen Joisten; Bielefeld: transcript 2010: p.177-210).
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staging of effects, the effect of metaphorical aesthetics of the chaos lays in an ethical perspective on actions to ‚scenify‘ into an option for interpretation in order to gather the organization of the (conscious) world and at the same time to develop it further. Thus the effect follows the dialectical understanding of (Nietzsche) Dionysus in opposition to the affective woes of Ariadne: „Haven’t we to hate before we should love each other?“3 Thus the effect of the labyrinth is not rooted in error, but in the enlightening education of what aesthetics could mean in the sense of arriving at a particular awareness, i.e. in consideration of human decisions in response to sensory perception. INTRODUCTION
Paradoxically and symptomatically, considering our knowledge in relationship to the Labyrinth, d’Alembert mentions in a remark made in his Encyclopédie that this kind of a universal knowledge represented in an Encyclopédie becomes a labyrinth. This means that the more we know, the more we will move in a labyrinth. This statement is related to a Porphyrian Tree: while one here has a clear relation to the origin, to the trunk and its deviations and branching – this kind of tree is a permanent and convincing picture, a tableau of knowledge in accordance with the Aristotelian manner of definitions – an alphabetic Encyclopédie is a totally different kind of representing many cognitions, because the entire alphabetization, the continuing of the alphabet did not guarantee a logical causality. This paradox, which was typical of the 18th century (for instance, for the actor as a paradox by Diderot), serves as a pertinent point of departure because the labyrinth became a constant figure for the total enlightenment. In this tradition, Umberto Eco developed his thoughts on the labyrinth in relation to the Encyclopédie de Diderot et d’Alembert in comparison to this alphabetical system of cognitions with the Porphyrian Tree. – It must be clear that this kind of figuration of a universal knowledge on the basis of a labyrinth, that this form of knowledge goes back to the labyrinth as a space of knowledge and of permanent errors such as in the tradition of Minotaur’s labyrinth and the consequences of this tradition all the way to the labyrinths in the gardens in the time of Absolutism in France during the 17th century. Here, one can directly step inside these built labyrinths to prove the experience of being lost in a non-oriented space. Here is the place where one can manifest the relationship between the space and the form of knowledge in the Labyrinth: from the Labyrinth as a real place to a figurative form.4 And there is no chance that one will find the first composition 3
Friedrich Nietzsche: Dionysos Dithyramben. Klage der Ariadne. This relation between space and form of knowledge is fundamental to Michel Foucault; see the quoted article.
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with the title Le Labyrinthe by Marin Marais in music following a specific path to a labyrinth in that time. This style is full of harmonic surprises and full of unexpected developments. 1. THE ENCYCLOPÉDIE AS A LABYRINTH: D‘ALEMBERT/DIDEROT AND UMBERTO ECO
There are probably two totally different kinds of preconditions leading to the labyrinth. They are either connected with a system of ordering or with the acceptance of chaos. One precondition is imparted by the French encyclopaedists of the 18th century: the more knowledge we gain, the more easily we can be caught in the labyrinth at the same time. The other precondition is not to be found in the exaggerated, alphabetized knowledge of an encyclopedia, but in floating, in letting go and in not approaching the labyrinth through definitions, but in allowing oneself to be left playfully in one’s own narrative fantasy. These two entirely different preconditions of the labyrinth have been looked at and reflected on by two entirely different authors. In 1980, Roland Barthes, being close to the end of his life without knowing it, wanted to say goodbye to the demanding work of giving seminars and lectures at the Collège de France to dedicate himself to writing a novel. At first, his idea remained a vision, following which Roland Barthes gave an interdisciplinary seminar, which was supposed to be a sort of preparation of the novel. In this seminar, Roland Barthes researched the huge difficulties of writing a novel, mainly with regard to Marcel Proust’s Recherche au temps perdu et retrouvé. Different from Roland Barthes, Proust with his novel simultaneously succeeded in implicitly phrasing the theory of a novel, whereas Barthes had stopped at this very point, not knowing that he would die in a car crash so suddenly. Nevertheless, we can find a conceptualised seminar with many other disciplines concerning the labyrinth in his book. One of the main theses argues that as an author, one only steps into the labyrinth if one does not follow a teleological narrative style, but instead a playful, unexplained narrative style because – to also argue with Benjamin – each explanation would destroy the narration, and – in adding Barthes – each narrative style which is not left to the playful fantastic would too. (Barthes will be reconsidered later on). The other author who tries to approach the labyrinth from an opposite perspective is Umberto Eco.5 He takes his first inspiration from the Porphyrian Tree on the one hand, and from the French Encyclopédie of Diderot and d’Alembert on the other. Here, in contrast to the playful fantastic, the strict 5
Umberto Eco: Die Enzyklopdie als Labyrinth, in: Umberto Eco: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig 1999, p.104-112.
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derivations and the alphabetization of knowledge lead to the limits of truth or right into the middle of the labyrinth. So, the more one knows, the more one will seem to find one’s way around, the greater the peril of being led astray, losing one’s path in rough terrain, in mazes and labyrinths, in a sense of nowhere (no where). This is not post festum the single explanation given to the encyclopedists by Umberto Eco, but this also represents an understanding which d’Alembert phrases himself in his preface. Here, he arrives from different knowledge orders: from the family tree (also from the Porphyrian Tree), from the world map and the labyrinth. In the first place these describe knowledge spaces, demonstrations, tableaus, synopses and walkable mazes, and only in the second place they describe forms of knowing/not knowing in the transmission of knowledge space. Umberto Eco introduces the Porphyrian Tree6 to derive all substances and accidents from a root or from a tree crown via the Aristotelian determination of the definition. For this purpose, he depicts different family trees. The world map is a different metaphor, comparable to the family tree, to gain an overview of the whole via a synopsis. Helpful are Vermeer’s famous paintings Geometer and Allegory of painting. While the art of painting displays a horizontal image detail of a reality, the world map is shown from above – from a bird’s-eye perspective. This sight catches everything at one go as ‚totum simul praesens‘, to pick up a phrase by Leibniz; still, this view on the world from above is not seen ‚clare et distincte‘, as that is only reserved for a godly sight. After the „family tree“ and the „world map“, d’Alembert introduces the „labyrinth“ as a third aspect in his preface, which seems somewhat paradoxical considering the comprehensive Encyclopédie. Through seeing the picture from above with the family tree and the world map, this metaphor is obvious, because it is important to the author to have a view from above on the „meanderings of the mind“, on the missing outline and rules of his organization, and therefore on the „labyrinth“. (One will find this bird’s eye-perspective in the movie Dogville by Lars von Trier). „Both searching formulas, tree and map, help arrange the ‚labyrinth of nature‘ […] into figures of understanding.“7 So, one can read in d’Alembert: Le système général des sciences et des arts est une espèce de labyrinthe (A 84; The system of sciences and of arts is a kind of labyrinth). „The labyrinth of vast knowledge systems becomes a knowledge tree and a knowledge map of an Encyclopédie. („Das Labyrinth der unüberschaubaren Wissenselemente wird zu einem Wissensbaum und zur Wissenskarte der Encyclopédie transformiert.“8). D’Alembert describes 6 Umberto Eco: Kritik des Porphyrischen Baums. Aristoteles zur Definition, in: Eco, Im Labyrinth der
Vernunft, a.a.O., p.89-104. 7 Theo Stammen, Wolfgang Weber: Wissenssicherung, Wissensordnung, Wissensverarbeitung: Das euro-
päische Modell der Enzyklopädisten, Oldenburg 2004, p.124. 8 Stammen, op. cit., p.124.
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the appearance of knowledge from a synoptically superior point of view: „Il faut […] placer, pour ainsi dire, le philosophe au-dessus de ce vaste labyrinthe dans un point de vue fort élevé d’où il puisse apercevoir à la fois les sciences et les arts principaux.“ (A 84/A 86) („The philosopher has to be placed high on top of this vast labyrinth to a point of view from which he can perceive the knowledge systems and the arts at the same time.“) Diderot describes this comparison of the „labyrinth of nature“, which by means of a „world map of knowledge“ is enhanced as well as well arranged to some extent, elsewhere as follows: […] the general encyclopedic order is at the same time a world map, where great areas can be found; the special orders are at the same time special maps of kingdoms, provinces, landscapes; the dictionary is at the same time the geography, the detailed description of all places, the well-thought-out topography of all the things we know in the intelligible and visible world; the cross references serve as routes in these two worlds, whereby the visible world can be regarded as the ancient world and the intelligible world can be regarded as the new world. (D125)9
The following aspects are of the greatest importance in these three quotations: First, the description of a world lying far below seen from a higher position, which can be measured like a walkable space because of its created order. By this, the encyclopedia is presented as a metaphoric and speculative form of knowledge against the background of a real knowledge space, which is wandered through like landscapes shown on a map and thereby experienced. Second, the distinction between the visible and the intelligible worlds points out a growth, an enhancement of knowledge through imagination and the fantastic. Therefore, not only does what is empirically captured have to be presented in the encyclopedia, but also what only exists in the imagination, which in a way exists beyond the tree of knowledge determined by derivations and also beyond a cartographic view. Thus, visible and invisible orders cross each other early on in the Encyclopédie. One can easily imagine to which measure the growth of intelligible knowledge leads to more ramifications of the paths inside the labyrinth. In this consequence, Umberto Eco distinguishes between three forms of a labyrinth, while he grants a particular reflection to the third form. It has to be clear at this point already that, against the background of a differentiated depiction, this contribution does not agree with all of Umberto Eco’s thoughts. Eco differentiates between three forms in his essay The encyclopedia as a labyrinth: first, the simple, Minoan labyrinth of Crete; second, the Mannerist maze, and third the meanderer, bordering on the vegetatively widely spread rhizome following Deleuze and Guattari. The present analysis cannot follow Eco mainly in the 9
Stammen, op. cit., p.124.
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immediately given evidence of the linear labyrinth, which proceeds like a ball of wool, characterising it as being all too simple and foreseeable. Eco apparently forgets the mythical terror spread by the Cretan Minotaur. Therefore, also to satisfy Poseidon, each year, seven girls and boys had to be sacrificed to him. To stop this pointless sacrificing, Theseus had to find the Minotaur in the centre of the labyrinth, regardless of his roaring and furious desire for food, kill him and find his way out with the help of Ariadne’s thread. This was not a small thing to do, especially when considering more mythologems: on the one hand, that the Minotaur was formed after the union of Pasiphaë with the white bull and that Ariadne, daughter of Pasiphaë and king Minos, on the other hand was abandoned by Theseus, whom she had fallen in love with, after his great deed.The other two forms of the labyrinth can be discussed like this first form. Fundamentally, Eco’s is right in claiming that these three forms of the labyrinth always result in more complex systems of links and orders to tame an apparent disorder. With this, it is interesting to point out that the labyrinth can be located on the border of visible and invisible orders and that exactly this knowledge space is recalled to describe what is prototypical of the Encyclopédie. It is important to keep in mind that the mazes of Versailles and the musical labyrinth by Marin Marais, thus the architectural knowledge spaces as well as the figurative forms of knowledge, originated in the era of the Enlightenment in the 17th/18th centuries, which was also the time of d’Alembert’s and Diderot’s Encyclopédie. – It is important to emphasize that one will find – corresponding to the Encyclopédie – labyrinthine gardens in the tradition of Robert Hill’s The gardeners Labyrinth in France during the 17th and 18th centuries. In addition, there are labyrinthine compositions in music, for instance by J. S. Bach’s Das harmonische Labyrinth (The harmonious labyrinth), and then especially by Marin Marais in the piece Le labyrinthe. Important for all these mazes and labyrinths is a definition in Pierre Richelet’s Dictionnaire de la langue francaise ancienne et moderne from 1728: „Ce mot [le labyrinthe] vient du Grec. Lieu où il y tant de chemins entrelassez les uns dans les autres qu’on s’y égare & qu’il est comme impossible de s’en sortir, lorsqu’on y est une fois entré.“10 In the Figures (Fig.1) concerning the gardens from Versailles one find many kinds and forms of these gardens (4o/41) and under No.19 Le Labyrinthe with an entrance, 39 places with fountains and sculptures of animals (after Aesop), further with many paths continuing or not continuing. The layout of the maze was very particular, because in opposition to the labyrinth of Knossos, there was no central goal. Before continuing with Marin Marais’s character-piece Le labyrinthe one should ask oneself an important question concerning the existence and the deve10
There is more detailed information in the article Theater, Masken, Labyrinthe und Tableaus als Wissensform im Barock. In: Wissensformen. Sechster Internationaler Barocksommerkurs Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Einsiedeln, Zürich, p.72-83.
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Fig.1 Versailles: Labyrinth of nature.
lopment of a maze in Versailles: What is the reason for organizing and constructing a labyrinthine garden in the first place? Perhaps, on the one hand, it could be a figuration for the Encyclopédie; on the other hand, perhaps, the maze is a projection of a wild and chaotic nature onto human society in substitution for a lost and really dangerous nature. The background can be seen in the opposition between a closed and safe city and a wild nature outside of this enclosed village. Until the modern age in the Renaissance life outside of a city had been insecure, full of dangerous wild animals and robbers. One was without protection against tempests too. So in a first step it was important to tame this wild nature outside of a village, the domesticated gardens being one significant attempt to shield man from a hitherto untamed nature. In substitution for these domesticated gardens, the maze becomes the aesthetic status of a second nature reminiscent of the first wild outside. So the opposition between natural gardens and mazes could be understood as a transformation of a tamed and chaotic nature. As a human being one is exposed to a maze like in the earlier wild nature outside of a village. So the maze can be seen either as another different cultivated garden or as a transformation of a wild and chaotic nature into a domesticated environment. Obviously, conceiving of the human being as one in constant need of defining itself against the dangers of a wild environment is as such highly problematic; however, according to Freud’s theories as voiced in his Civilisation and Discontent (Das Unbehagen in der Kultur), it is surprising that, given humans’ potential for aggression, they do not constantly attack one another. These aspects are discussed by Hartmut Böhme in a special reader about different concepts of nature and civilisation; further in an article by Elisabeth Oy-Marra and Martin Zenck about the experience of nature by Niklas Poussin and Hugues Dufourt in his orchestral piece after Poussin’s Le déluge. After this tangent, it makes sense to continue with Marin Marais’ Character-Piece Le Labyrinthe for viole, lute and Cembalo. (Fig.2 and 3)
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Fig.2 Marin Marais: Pièces de viole Quatrième Livre, Paris 1717. (Facsimilé Jean-Marc Fuzeau. La musique française classique de 1650 à 1800. Collection publiée sous la direction des Jean Saint Arroman, Vol. 113, No.74 p.71).
Fig.3 Marin Marais: Pièces de viole Beginning of the score Le Labyrinthe.
In this piece one can listen to a harmonization full of surprises, an accumulation of dissonances, an idiom very severe, that is, with many perturbations, with a happy ending, with the exitus in a double meaning. Within this piece one will realize the extremes between an overhasty run off and a desperate standstill, between overcoming and resignation, between deep hope and deep melancholia at the same time. About this Labyrinth of Marin Marais one can read in a report by Titon du Tillet from 1732: […] savoir, une pièce de son quatrième livre, intitulé Labyrinthe, où après avoir passé par divers tons, touché divers dissonances, et avoir marqué par des tons graves, et ensuite des tons vifs et animés l’incertitude d’un homme ambarassé dans un labyrinthe; il en sort enfin heureusement, et finit par une chaconne d’un ton gracieux et naturel.11
At this point, concerning the alphabet of the Encyclopédie by Diderot and d’Alembert, the parallelism between the alphabet and the order of gardens with 11
Zenck, op. cit. p.73 under foodnote 1.
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plants ordered in a sequence according to the alphabet shall be introduced. This context was established in the 18th century by Simon Polockij and further developed by Anna Anieva in her dissertation about ‚Russian Green‘12 in her chapter 2. Alphabetische Ordnung als Garant der Wissensvermittlung (The alphabetic order as a guarantee for the distribution of science, p.104). There the different gardens are structured in the order of plants arranged in an alphabetic manner. This is a real space of knowledge, which can be passed as a wanderer, with the latter realizing that the bed of plants is ordered in accordance with the alphabet. 2. THE LABYRINTHIAN IN THE NOVEL: THE PROHAIRESIS AND ARIADNE’S THREAD AS THE TAMING OF THE LABYRINTH (ROLAND BARTHES)
If the Encyclopédie can finally be interpreted as a labyrinth, it is remarkable that it is defined by orders of knowledge and not by the entire disorder of chaotic systems. Together with many of his interdisciplinarily working colleagues, Roland Barthes attempted to design the labyrinth with an imaginative fantastic produced by a freely associated narration in the novel. Because of this, he is neither interested in the definition of the labyrinth and its subdivisions as Umberto Eco would be, nor in the entrance to the labyrinth or its exit, but in the questions of when exactly the wanderer starts feeling to be lost and when the novelist slides into the situation of being lost in narration (past his controlled writing). Concerning the seminar on the ‚labyrinth‘ (in the context of the book La préparation du roman13), which took place from 2nd of December until 10th March, 1979, it is important to point out that there participated excellent scholars and scientists in their disciplines, including the mathematician Pierre Rosenstiehl, the Nietzsche-Scholar Gilles Deleuze, the art historian Hubert Damach and other literary scholars who spoke about the labyrinth in different cultures and literatures. Unfortunately there is only one audio tape recording of Roland Barthes on which the publication of the book La préparation du roman is based, especially in regard to the chapter on the labyrinth; in addition there is a publication by the mathematician Pierre Rosenstiehl.14 So, this is a highly interdisciplinary sub-project as part of the whole undertaking involving seminars on the 12
Anna Anieva: Russisch grün. Eine Kulturpoetik des Gartens im Russland des langen 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2010. 13 Roland Barthes: La Préparation du Roman (I et II). Notes de cours et de seminaries au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980, Paris 2003; hier zitiert nach der englisch-amerikanischen Ausgabe: Roland Barthes, The Preparation of the Novel, Lecture Courses and Seminars at the Collège de France (1978-1979 and 1979-1980) – Translated by Kate Briggs, New York 2011. 14 Cf. Pierre Rosenstiehl, in: The Catalogue of the exhibition Cartes et figures de la terre, Paris: Éditions du Centre Pompidou 1980, p.94-105.
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Fig.4 und 5 Roland Barthes. The Preparation of the Novel.
Préparation du roman, where the natural sciences collaborating with the „humanities“ were mainly represented. Roland Barthes limited himself in the initial meeting of his one-semester seminar to the development of various word meanings and word fields of the labyrinth to then sum up the whole series of events in the closing session. This analysis limits itself to certain aspects which are crucial to the thematic coherence our depiction of his two contributions: 1. The symbolic meaning of the labyrinth as a result of the Minoan Labyrinth in various literatures. 2. The spatialarchitectural meaning which subsequent to Nietzsche would play a consistent role regarding the metaphorical meaning of the labyrinth. 3. Because Barthes is concerned about the function of the labyrinth in an almost random narrative style in the novel: about the rhetorical figure of the „prohairesis“, to reach a confusing and straying narrative style through ramifications, where in Proust only the style unfurls Ariadne’s thread and then re-tightens it to find a way through the labyrinthian narrative style. Ariadne’s thread as a style therefore allows for a dispersing and manifoldly ramifying narrative style. This is the thread which presents itself as a sorting measure opposite a virtually endless happening and meandering. Like in the Minoan Labyrinth, Ariadne’s thread thus bans and constrains disorder amidst interrupted and non-interrupted ramifications. According to the etymological derivation of the labyrinth from the word ‚Labrus‘, ‚labrys‘, ‚Doppelaxt‘ (double ax/axe), a „permanently repeating motive
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of Knossos’s palace, a symbol where Barthes recognizes the horns of a bull to the left and to the right and „india“ as a game, a cave-game“ (p.189-190), Barthes subdivides the labyrinth, subsequent to Santarcangeli’s book Le livre des labyrinthes, into „natural“, „accidental“ and „artificial labyrinths“. Then he distinguishes in the tradition of the lexicography of Littré with six visions of a labyrinth, for instance, the pictorial vision of the labyrinth as a „distress“, a „quandary“ and „confusing situation“ is mentioned only in the end. Above all this, all five semantic levels are unmistakably spatially and anatomically related. Finally, Barthes examines the areas where the metaphor of the ‚labyrinth‘ plays a role. Here, the labyrinth refers to spatial ideas in the city, in gardens and in imitations of movements which result from the experience in a labyrinth: Dances which either relate to the dance of the cranes in the legend of Ariadne or to the „wrong tracks of Knossos’s labyrinth“ in „parallaxeis“ or „analexeis“ in imitating circulating movements forward and backward (p.192). In his further distinctions, Barthes touches on the subject of the spatial, basic constitution of the labyrinth quoting from Nietzsche’s Morgenröte: „Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelenart […], so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein.“ (p.192) [„If we willed and dared an architecture corresponding to the nature of our soul […] – our model would have to be the labyrinth!“15] Here too the ideas of an outward spatiality run inward, using the metaphor in literary ways of proceedings like the „prohairesis“, which takes up the principles of a connected and disconnected ramification from the Minoan labyrinth and structures these ramifications only through Ariadne’s thread in the style of an author in a novel: „c) style, the sentence; Proust (Preface to Tendres Stocks) saying that style is his Ariadne’s thread; d) narrative: narratology; indeed, the forks in the path are what drive a narrative forward (‚prohairesis‘); of course, the author guides the reader, chooses the bifurcations, but he sometimes returns to himself, chooses a different path; confusion, complexity, the feeling of being lost in a story“(p.118). Here, it is of importance to emphasize that the labyrinthian feels at home in spatial surroundings and from here proceeds to pictorialfigurative and stylistic ideas in Proust; and in the planned novel by Roland Barthes one finds respective strategies of letting fantasy go astray and being tamed by Ariadne’s thread. – In addition, as concerns the „labyrinthology in mathematics“ in Pierre Rosenstiehl, who gave a lecture as part of Barthes’ seminar.16 Rosenstiehl takes a look at different forms of the labyrinth with various circular and nested structures, with open and closed connecting passages, trying to read logical processes of structuring into the systems which turn more and more chaotic. 15 Roland Barthes: The Preparation of the Novel, Lecture Courses and Seminars at the Collège de France
(1978-1979 and 1979-1980. Translated by Kate Briggs, New York 2011, p.118). 16 His contribution to the discussion was published in the catalogue of the exhibition Cartes et figures
de la terre, Paris: Éditions du Centre Pompidou 1980, p.94-115.
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3. NIETZSCHE – FOUCAULT – DELEUZE: THE LABYRINTH
Opposite the spatial condition of the labyrinth discussed in Nietzsche’s relevant writings, another important matter is central mainly for the labyrinth in Nietzsche. It is in the self-reflection that the labyrinthian, mainly in the seventh dithyramb Ariadne’s Lament, conceives the form and the knowledge that each unilaterally and logically proceeding interpretation has to fail because of this labyrinth. In Nietzsche, the ear assumes a special meaning, playing a crucial role in the relationship between Ariadne and Dionysos, the ears being either small or drawn out long. Barthes points out, without displaying the relation between Ariadne and Dionysos, the anatomic importance of the labyrinth for the hearing organ. It is in this inner ear (Auris internalis: Labyrinthus, the inner ear) that acoustic signals are turned into nerve impulses. It will be clear later on in the dithyramb Ariadne’s Lament (Die Klage der Ariadne) that it is once the crossing leading from the outside to the inside, from the outer world to the inner world of man, which will be determining in the dithyramb, and secondly the act of Ariadne and Dionysos listening to each other, the direct or indirect address of the one who listens and takes in what has been said, internalising it, to then give an answer as Dionysos does in the end of the dithyramb. Apart from that the research on Nietzsche has pointed out Ariadne’s significance and also the significance of the labyrinth, both being continuously present in Nietzsche’s oeuvre: from his early work Geburt der Tragödie via the Morgenröte and Ecce homo to the late dithyrambs of Dionysos. One does not need to go into detail about this development, which has been demonstrated sufficiently by Deleuze, in some parts by Foucault and mainly by Wolfram Groddeck. Instead, it is instructive to concentrate on the seventh dithyramb, on this personal constellation of Ariadne – Theseus – Dionysus, in which Peter Gast (Köselitz, Nietzsche’s friend) saw a configuration of Cosima Wagner – Richard Wagner and Nietzsche, and on the form and the trains of thought in the poem itself, as reflected by Deleuze and Foucault and later by Wolfgang Rihm. At first, Ariadne’s Lament clearly invokes the Lamento d’Arianna by Monteverdi, the monody no less than the madrigal, but also the opera of the same title which was lost and which Rihm undertook to compose with his „opera-fantasy“ Dionysos. Already in Nietzsche there is a recitative calling Dionysos as if it were Ariadne’s inner self-assurance, where Dionysos gains more and more presence and becomes more importunate. Her own wishing and at the same time resisting projection of his availability thus get stronger, which will be reconsidered later on. Nietzsche pays particular attention to the tension between empowerment and wishful thinking: Dionysos comes closer to Ariadne, to her skin; in return, she at the same time demands the same of Dionysos. And so, through Nietzsche’s description of Dionysos’s descent to Ariadne’s interior, the circumstance of
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hearing gains progressive momentum: not only in the comparison of the small ears, but also in Dionysos’s appeal to Ariadne, had she rather „put a clever word in them“. („Be clever, Ariadne! [...] /You have little ears; you have my ears:/Put a clever word in them!“ – ). With this, tactile imaginations are connected, which peak in Dionysos’s final words to Ariadne: „Ich bin dein Labyrinth“/I am your labyrinth […] “, also referring to the inner ear, to its labyrinthian passageways leading to the interior of man. Previously the metaphor of the descent to the interior of hearing plays a role in another way: not in the listening, but in the listening to feelings: „Du hörst mich athmen,/du behorchst mein Herz,/Eifersüchtiger“ („You hear me breathing,/You eavesdrop on my heart;/most jealous one!“) As far as Ariadne invokes Dionysos’s senses, they at the same time enter her body: eavesdropping, listening to her deepest wishes, until the words which Dionysos puts into her ears become her own. Wolfram Groddeck17 has summarized the following in his illustrative study on Dionysos’s dithyrambs, which is important for this present analysis of the labyrinth: it is the interior of the ear where the ‚word‘ is put namely by Dionysos, who becomes visible in his emerald beauty. With his scenic appearance, he disrupts the genre of the Lamento the way it had been sung by Ariadne. Her incredible Aria recalling Wagner in showing hysterical features is simultaneously fulfilled and destroyed by the theatrical appearance of Dionysos. Likewise the crossing of the two vocal genres, Lamento and Opera, reveals the genre of this reasonable or not reasonable scene in the understanding of the labyrinth. It is not only its architecture, not the confusing Carceri Piranesis, but the apparently logical structure in contrast to the nonlogical structure of the labyrinth, where every interpretation fails if it does not consider the tension between sense and nonsense. This contribution has already referred to the particular meaning of the monody and opera, of the recitative and the scene. This is, so to speak, the crucial aspect which Michel Foucault points out in his short article Ariane s’est pendue (Ariadne hanged herself )18 referring to Deleuze’s book Différence et Répétition. Although Foucault recognizes a „wonderful theatre […] a theatre of today“ in Deleuze’s book, corresponding to the theatricalization of Ariadne’s scene, the author tries to re-tell Deleuze’s book beginning with the story of Ariadne, Theseus and Dionysos. In this, Foucault discovers that Umberto Eco’s interpretation of Mino’s common labyrinth is all too simple, because it is a matter of a radically retold story of this myth; hence the history of occidental philosophy would have to be rewritten. According to the latter Ariadne does not wait 17 Friedrich Nietzsche: Dionysos-Dithyramben. Band 2. Wolfram Groddeck: Die Dionysos-Dithyramben. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk. (Monographien und Texte zur NietzscheForschung), Berlin 1991. p.205-213. 18 Michel Foucault: Ariane s’est pendue, in: Michel Focuault: Dits et Ecrits. Schriften, Band. I 19541969. Frankfurt am Main 2001, p.975-979.
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for Theseus at the labyrinth’s exit, but meanwhile has hanged herself with the thread. The life-sustaining cord/umbilical cord between Ariadne and Theseus has been torn apart. In contrast, Theseus does not search for the exit according to Foucault, but proceeds, limping, dancing, jumping“ […] „through tunnels, caves and caverns, gaps and chasms; lightning and thunder coming from below.“ (Foucault, p.973) So, contrary to the myth, he does not exit the labyrinth with Ariadne’s help to then leave his beloved behind on Naxos, but descends to the interior of the labyrinth to face the Minotaur. Foucault then bestows an entirely new twist upon the myth, through which he tries to re-tell Deleuze’s path-breaking book on the difference through repetition. For it is not Ariadne and Dionysos that meet, but Theseus and Dionysos in the shape of the Minotaur. The Minotaur’s Silen, half man, half beast, arisen from the unification of Pasiphaë and the white bull, is consequently identified with Dionysos’s character in Foucault. Foucault, because of this different interpretation, asks himself the question of „whether the bacchanalian god lies in waiting not in the labyrinth and not on Naxos to desire Ariadne, but to ask Theseus for an erotically connoted duel. According to Foucault the estimated duel does not terminate in an actual fight, but rather in a unification of the genital strength of the bull“, in which Theseus loses himself in an „extreme wrench“. In this bull Foucault recognises the „masked Dionysos, the disguised Dionysos, in endless repeat“. He lies there in waiting and this possible duel of the two has remained prevalent until today. Foucault has them both directly ‚reflected‘, eliminates Daedalus, the technologist who invented the fake bull and the labyrinth, as well as the traumatic side of Ariadne’s encounter with Theseus. Foucault sees the main point of the myth in this ever-repeating fight between man and his hybrid creature. It is not by accident that he sees the Minoan labyrinth from the point of Deleuze’s review of his Différence et répétition. The difference is only noticeable in the repetition, not in anything else or anything new, but in the execution and arousal of the animal in ourselves. Foucault hereby compares the „judge of hell‘s void and repeating time“ with the „sudden genital strength of the bull“. This does not only take place in the middle of a labyrinth, but also „along the unsymmetrical, along the winding, the irregular, the mountainous and the precipitous“ (Foucault, p.975). In relation to Umberto Eco’s first linear and central construction of the labyrinth, Foucault sees the myth outside of these foreseeable orders. Foucault’s interpretation surprisingly starts with the discussion of Deleuze’s book Différence et répétition and not with Deleuze’s early epoch-making book Nietzsche et la philosophie (Paris 1962). There is a distinct final section dedicated to Ariadne and Dionysos and one part drawing on Zarathustra. One is called „Die doppelte Bejahung: Ariadne“ („the double affirmation: Ariadne“) and the other is called „Dionysos and Zarathustra“. Deleuze at first sticks close to the narration of the myth to then
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push forward in a direction which connects with a much later text by Foucault. Firstly, there is the cycle of the labyrinth, its circular structure, where the movement comes back to the starting point in the end, yet at the price of an ontological difference, whereby the becoming – the passageway through the labyrinth – does not turn into being but stays in the motion of becoming. (This is not the time to pursue the fundamental principles of Nietzsche’s „eternal return“ in Deleuze’s interpretation, but the background has to be clear: eternal return also means that the things and the associated experiences return indeed, but thanks to the difference do not establish themselves in being, but blend into a steady process of becoming. So here disgust does not arise, no loathing of the return of things, because the eternal return in ever-changing ways continues into an unforeseeable future.) Deleuze not only remains close to the myth, but also to Nietzsche’s text, already discussed in detail above: the seventh dithyramb, „Ariadne’s Lament“, addresses mainly the similarity of Ariadne’s and Dionysos’s ears (small and long drawn-out) and the associated transformation of hearing and speaking; thus Dionysos’s words „I am your labyrinth“ could also have been said by Ariadne. Deleuze dedicated one chapter particularly to Ariadne’s and Dionysos’s ears. There are two determinations which gain a special meaning in Deleuze: „The labyrinth designates first the unconscious, the self; only the Anima is capable of reconciling us with the subconscious, of giving us a guiding thread for its exploration.“19 (Das „Labyrinth bezeichnet zunächst das Unbewusste; nur der Anima ist es gegeben, uns dem Unbewussten zu versöhnen, uns für seine Erforschung einen Leitfaden an die Hand zu geben.“20) So, one is connected to the unconscious by an umbilical cord leading to the labyrinth. Secondly: not the encounter with Theseus, a „higher“, „more sophisticated and heroic human being“ (p.202) is decisive for Ariadne, but the encounter with Dionysos. „But Dionysos teaches Ariadne his secret: the true labyrinth is Dionysos himself, the thread is the thread of affirmation.“21 („Er gibt Ariadne sein Geheimnis preis: Das wahre Labyrinth ist Dionysos selbst, der wahre Faden ist der Faden der Bejahung.“22) The relation to the bull in the labyrinth being central, Foucault alludes to Deleuze, without moving the conflict to Theseus and the bull/Dionysos: („Dionysos is the labyrinth and the bull.“23) „Dionysos ist Labyrinth und Stier.“24 Finally, the listening and the speaking processes intersect in the 19 Gilles Deleuze: Nietsche and Philosophy. Translated by Hugh Tomlinson, London, New York 1983, p.188. 20 Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Aus dem Franzöischen von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 1985 (franz.: Nietzsche et la philosophie, Paris 1962), p.203. 21 Nietzsche, engl. translation, p.188. 22 Nietzsche, p.203. 23 Nietzsche, engl. translation, p.188. 24 Nietzsche, p.203.
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similarity of both ears: Dionysos speaks and approves of Ariadne’s questioning recitative in the same way that Ariadne had listened to Dionysos’s direct speech and woven it into her lament. With this, Dionysos becomes Ariadne’s labyrinth in the same way that Ariadne becomes Dionysos’s labyrinth. In contrast to the myth, which had moved the tension between an inner and an outer space into the labyrinth with Theseus and the Minotaur and onto Ariadne, who waits outside the cave and who was indirectly linked with Theseus and the Minotaur through the ball of wool, everything is transferred to the interior in Deleuze and Foucault, to a tension between the subconscious and the conscious, the animalistic and the reflexive, the Dionysian and the Apollonian. 4. FINAL PART: WOLFGANG RIHM‘S OPERA-FANTASY DIONYSOS AND ARIADNE‘S ARIA DIE KLAGE DER ARIADNE (ARIADNE‘S LAMENT) (IN CONNECTION WITH RICHARD STRAUSS‘ OPERA ARIADNE VON NAXOS)
The strongest impact coming from the myth of the labyrinth and reaching with incomparable intensity from Nietzsche into our present concerns a certain excerpt from this legend which has grown around Ariadne’s Lament. Ariadne is in the focus not only of Nietzsche’s late Dionysos-Dithyramb, but has expanded her scope of effect from Deleuze, Foucault, mainly up to Wolfgang Rihm’s latest work, his opera-fantasy Dionysos of 2010, where Ariadne meets Dionysos in an impressive way. The composer Rihm has pointed out that this mysterious text has been keeping his distinct attention for „now almost forty years“ and that while reading these lines he has had recurring reflections, new associations and stories regarding particular parts which then entered into his opera-fantasy Dionysos. The important thing for this analysis in this thematic coherence is shown in Nietzsche in two ways: First, Ariadne’s emotional and intellectual world is compared to a space where Dionysos could „enter her heart“ via a ladder – so this is not only a metaphorical occupation, but direct and real –, secondly, this late dithyramb by Nietzsche is geared to a dialogicity. So, Ariadne speaks to Dionysos in an over and over immediate and increasing manner until he actually appears before her eyes: „A lightning. Dionysus appears in emerald beauty“. And finally he answers: „Dionysos: Be prudent, Ariadne!…/You have small ears, you have my ears:/put in a prudent word!/Don’t we first have to hate each other, to then fall in love?/…/I am your labyrinth…“ The ears, especially the small ones, although too long-drawn-out, which Nietzsche refers to at another point (which becomes apparent in some images of the Silen), again refer from the outside to the inside and thus also to the space to which Dionysos descends after hearing Ariadne’s words. The closing state-
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[... Ariadne]
[... Ariadne]
Haha! Mich—willst du? mich? mich—ganz? ...
Aha! Me?—you want me? me—all of me? ...
Haha! Und marterst mich, Narr der du bist, zermarterst meinen Stolz? Gieb Liebe mir—wer wärmt mich noch? wer liebt mich noch? gieb heisse Hände, gieb Herzens-Kohlenbecken, gieb mir, der Einsamsten, nach Feinden selber, nach Feinden schmachten lehrt, gieb, ja ergieb grausamer Feind, mir—dich! ...
Aha! And tormenting me, fool that you are, You wrack my pride? Give me love—who warms me still? Who loves me still? Give warm hands, Give the heart’s brazier, Give me, the loneliest one, Ice, alas! whom ice sevenfold Has taught to yearn for enemies, Even for my enemies Give, yes, surrender to me, Cruelest enemy— Yourself! ...
Davon! Da floh er selber, mein einziger Genosse, mein grosser Feind, mein Unbekannter, mein Henker-Gott! ...
Gone! He has fled, My only companion, My splendid enemy, My unknown, My executioner-god! ...
Nein! komm zurück! Mit allen deinen Martern! All meine Thränen laufen zu dir den lauf und meine letzte Herzensflamme dir glüht sie auf. Oh komm zurück, mein unbekannter Gott! mein Schmerz mein letztes Glück! ...
No! Come back! With all your affictions! All my tears gush forth To you they stream And the last flames of my heart Glow for you. Oh, come back, My unknown god! my pain! My ultimate happiness! ...
EIN BLITZ. DIONYSOS WIRD IN SMARAGDENER SCHÖNHEIT SICHTBAR
A LIGHTENING BOLT. DIONYSUS BECOMES VISIBLE IN ERMERALD BEAUTY.
Dionysos: Sei klug, Ariadne! ... Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren: steck ein kluges Wort hinein! — Muss man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll? ... Ich bin dein Labyrinth ...
Dionysos: Be clever, Ariadne! ... You have little ears; you have my ears: Put a clever word in them! — Must one not first hat oneself, in order to love oneself? ... I am your labyrinth ...
Fig.6 Friedrich Nietzsche: Klage der Ariadne / Ariadne’s lament.
ment in this context, „I am your labyrinth“, implies that this doesn’t represent a mere metaphor but a realm of experience with wrong tracks and no escape. By descending to Ariadne’s heart, he takes possession of her, while at the same time becoming her labyrinth. With this, the crucial condition of the labyrinth is addressed: only when entirely hollowed out from the inside, like Ariadne, who became Dionysos’s sacrifice, only with this addiction to the myth and the thus associated headlessness, is a superiority awarded to the labyrinth, through which it becomes an inextricable maze with no exit. Still, Barthes’ sceptical question
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Fig.6 Beginning of the score: Wolfgang Rihm: Dionysos. Szenen und Dithyramben (2009/2010).
of when the feeling comes to the realisation that one is caught in a labyrinth remains unanswered. Nietzsche ascribes this state of realising to Ariadne saying the more she falls for Dionysos, the more he will possess her. Nietzsche’s dithyramb provides information about this. The more Ariadne delves into the fictitious conversation with Dionysos, enthusiastically devoting herself to him, the more she goes wild in terms of an ecstasy. Thus, the complementarity of being completely secretive in one’s self and being completely beside one’s self is precisely named: ecstasy and labyrinth are mutually dependent. Only when one is totally beside oneself or when one is totally caught in oneself will the maze gain power over one. Seen and heard from a musical and scenic perspective, Wolfgang Rihm stages the dithyramb of Ariadne’s lament. The scene starts with the nymphs who want to seduce N./Dionysos (in remembrance of Wagner’s Rhine maidens). Ariadne’s lament towards the character referred, as N. relates, far less to her own fate than to Nietzsche. She rather pesters N./Dionysos, turning her train of thought into a process of reverse wishful thinking. It is not N./Dionysos who descends to the inside of Ariadne’s labyrinth, but she herself wants him to do so.
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Contrary to Nietzsche’s argument, Dionysos does not speak the famous words that he should be her labyrinth. Instead of beginning with these words, Rihm has this character gasp and stammer, until he actually rediscovers his language and his singing: „I am your labyrinth“. So, he clings even more to the prelinguistic, similar to the hybrid creature of Silen, who is beast and man at the same time: Marsyas, who is being skinned by Apollo in Titian’s famous painting (The scene plays a central role in Rihm’s opera-fantasy in terms of an opposition of high and low art, archaic cult and civilising culture). A clearly alluding background to Rihm’s opera-fantasy is Richard Strauss’s comedic-heroic opera Ariadne von Naxos. Like in Rihm the nymphs appear in Strauss’s opera and try to relax the atmospheric scene by laughing. In Strauss their task is to free Ariadne from her hard and inescapable fate of being abandoned by Theseus and to point towards new possibilities of falling in love. This happens in Strauss’s opera with the character of Bacchus, with whom Ariadne falls in love. Here seems to be the interface between the dramaturgy of Strauss and Rihm, the latter introducing the figure referred to as „N“, carrying features of Nietzsche himself, but regarded from Nietzsche’s dialogue as invoked by the character of Dionysos. The Bacchus in Strauss/Hofmannsthal becomes the „speechless“ Dionysos in Rihm. The mutually reviving game of comedy and tragedy, whose characteristic features find entrance in the musical scenario of Rihm’s opera-fantasy, don’t have to be discussed here. With regard to the topic of the labyrinth, one should conclusively compare the opening scene between „Ariadne“, „N“ and the „Guest“ in Wolfgang Rihm with Nietzsche’s dithyramb „Ariadne’s lament“. This can be done more easily now that the text Ariadne’s Lament has already been elaborated on, so that it is now sufficient to apply the text directly to Rihm’s Aria of Ariadne. Importantly, the first part of Rihm’s opera including Ariadne’s Lament already made an appearance in another complex of works entitled Drei Frauen. Ariadne’s Aria is followed by Das Gehege, which is the final part of a Monodrama by Botho Strauss and finally there is Penthesileas’s Monolog from the final monologue in Heinrich von Kleist’s Penthesilea. SUMMARY
1. The labyrinth is a metaphor which has not yet found entry into the encyclopedia of philosophical terms, but would have to be considered in the conception of a current Dictionary of philosophical metaphors, such as in the Wörterbuch der philosophischen Metaphern.25 25 Dictionary of philosophical metaphors, ed. by Ralf Konnersmann, Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 2007.
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2. The labyrinth begins with the myth of the Minoan Minotaur. Its story lives on uncertainties, on causal inexplicable events, which is why on the one hand the respective legend has been told until today in continuous and ever changing ways. On the other hand it is not the continuing of a story that is characteristic, but since Nietzsche, Foucault and Deleuze the importance has lain in its concentration and return to the labyrinth itself: we are the labyrinth in our unconsciousness, like Ariadne is the labyrinth for Dionysos and vice versa. (Not only is Ariadne still waiting with the thread for Theseus outside of the Labyrinth, she is rather looking forward to meeting Dionysos inside the labyrinth.) 3. Within the visible and the invisible orders, the labyrinth is a special place: it can be experienced in its architecture as well as in its spatial determinations because it is walkable and accessible. Being inside the labyrinth, one’s senses are confused by seeing and hearing, recalling the chaos and silence in Dante’s Inferno. 4. The labyrinth stands in between logical strategies of ratio like the encyclopedia, where it would be placed beside the family-porphyrian tree/the world map and the non-logical strategies of a narration losing itself in the novel. In this, the labyrinth communicates Nietzsche’s double ratio: seeing the labyrinth as an organized shell which at the same time is to be considered as a riddle, because each logical interpretation, also the mathematical, becomes damaged. 5. Because the labyrinth marks an intermediate realm, an intensity threshold between logic and the fantastic, it is appropriately situated in the arts: in painting, in mazes and in music, because it remains „Between two voids,/One which is twisted,/A question mark,/A very enigma! – like Nietzsche’s dithyramb („zwischen zwei Nichtse/eingekrümmt,/ein Fragezeichen/ein müdes Räthsel“, Nietzsche, Zwischen zwei Raubvögeln, Vers 88-92), because with every answer even more new and abysmal questions are raised. 6. Perhaps it is surprising to speak about the myth, about the myth of the labyrinth. Because after the filiation (Descent) from the myth to the logos (the formula of ‚Mythos zum Logos‘) the myth is something like anti-enlightenment. But since we know that the totalization of the enlightenment becomes a myth itself, it is necessary to define the myth from a new point of view. In the myth, in this ‚récit‘ (legend) there are recollections and condensations of general human experiences. And for this reason every historical time, every society negotiates historical experiences with epochal experiences. This is the reason why the myth is open; it comprises undefined places and stories and thereby invites us to tell the story in a permanent and in ever-changing ways from archaic history via the early modern times (Renaissance) through the Enlightenment all the way to Nietzsche, Deleuze, Foucault and Wolfgang Rihm. The labyrinth is such a ‚récit‘ [narration] which is open in the beginning and in the end. And one ‚récit‘ is consistent in telling the story from the beginning to the end with many interrup-
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tions and many preconditions before the actual myth begins. Ever since Nietzsche, Foucault and Deleuze one has increasingly found an abbreviation of this ‚récit‘, a reduction of the myth to the labyrinth, in which Theseus meets Dionysos, in which Dionysos meets Ariadne, and in which we perhaps will encounter ourselves with our own unconscious/subconsciousness in the labyrinth. 7. The arguments above have shown that an enactment of the human self-reflection is essentially inherent to the metaphor of the labyrinth. Not the inside as outside is demonstrated, but rather that, at the same ‚scenification‘ (order), different possibilities of interpretation are corresponding to the labyrinthine paths (i.e. to understand the myth in different ways and to order and structure knowledge on different levels). Ariadne’s attention is directed to these options of choice by Dionysos, indicating a deep problem of all scenographic effects. In scenography options for interpretation should be offered instead of letting audiences amble on trodden paths and having them redundantly revisit familiar events. That is, it should be outlined in the end, in the act of aestheticizing events, that the real options for action are not nullified, and that it is always better to keep the secrets of the magic moments alive as opposed to disclosing them in the process of staging the subliminal techniques.
ERNEST WOLF-GAZO
THE GRAFFITI-EFFECT IN EGYPT’S REVOLT.
PRELIMINARY REMARKS
Something new is happening in the streets of Cairo, Egypt, since the uprising in January 25, 2011 at Tahrir Square, the downtown center: the urban graffiti phenomenon is emerging as a sign of social and political protest against the existing order. The graffiti functions as a visual communication to anyone who pays attention in the streets of Cairo. At first, few seriously paid attention and considered the graffiti appearing on different government walls as silly doing of young boys and men. In due course, it became obvious that the artistic quality and messages carried in these projects of art that had a direct effect on the viewers and the people in the streets at large: we may call this phenomenon the Graffiti-Effect. The direct effect and effectiveness of the graffiti lay in the open modes of expressions that suddenly opened up to a public that basically had no idea about graffiti or art in general. Even more important for the effect was, that the graffiti works and messages, were expressed on walls in the center of the city, that were generally reserved for serious public announcements. Especially government walls of building are considered public property and ‚defacing‘ them was considered an insult to authority and a crime punishable, accordingly. The effect also lies in the fact that it was to be seen by everyone, without exception due class and gender. This was a revolt, not simply politically and social, but also an emotional revolt in terms of graffiti and music. This eye witness of the events saw, as the graffiti emerged, not even western television, not to say Arabic television, showed any interest in the walls that carried the graffiti presentations. It was a sort of byproduct of the public gathering that spilt into emotional rituals with nationalistic, and at times, moralistic overtones. But art was not part of that revolt: at least according to official reports, beamed by international broadcasts onto the global stage. Slowly some people, especially the local younger reporters and YouTube activists, paid attention to some graffiti not simply because they carried a sign of protest, but they showed artistic quality. The onlookers were mainly, at first a few foreign students and local Egyptian intellectuals, then younger people and the middle level educated taking notice. Photographers appeared and European activist with an instinct for social and political forms of artistic protest started to make documentations of these graffiti. This eye witness, living about
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twenty minutes from Tahrir Square, was able to follow these developments first hand. I remember well in March of 2012 that I marveled at some of the graffiti murals and wondered if they would be kept there, if anyone noticed the high quality and artistic skills of the murals. In fact, there were some local intellectuals interested in art who started to make digital photos and even YouTube reports, including some interviews of the graffiti artists involved. These preliminary remarks are important since the set the stage and the atmosphere of a development in artistic expressions in Cairo’s streets, not anticipated. In fact, local television stations and slower to respond, American and European broadcasts, mentioned some graffiti murals, but only after some disappeared over night. What happened: the authorities of the existing order, whoever they may have been, started to whitewash the graffiti, especially the downtown Tahrir Square area, in particular Mohammed Mahmoud Street, a side road of Tahrir, that leads to the Interior ministry, but is also located at well-known private and Egyptian educational institutions. This eye witness feels dear about Mahmoud Street, since he had his office for many years, located within the Tahrir Campus of American University. The graffiti we are reporting and coming to terms with are particularly to be found on the walls of the science building of American University, the walls of the former French Lycee (now an Egyptian public school), and further down the street the respectable girls school, run by the German Barromäerinnen (Order of German Nuns). This is the education side and its walls, on which the graffiti appear, mainly private property. Adjacent to the graffiti walls are all the establishments of modernity which have appeared since 1990s, from Pizza Hut, Kentucky Fried Chicken, McDonalds, and coffee shops such as Cilantro, Costa, or Beanos; former upper-middle class hang outs of Egypt’s elite youth. At this point, the establishments are also frequented by the middle and lower middle class of Egyptian society. I have eye witnessed the opening of each establishment since 1991 when many of my students attended the opening ceremonies of some of these places. The fact that suddenly political graffiti and symbolic murals should decorate the walls, and be seen sitting in these establishments, is a kind of irony of history in Egypt. Again, as class is important in Egyptian society, depending from what angle one perceives the graffiti, directly on the street itself, or from the adjacent Café, depends very often on the social status one finds oneself in Egyptian society. This is not museum art, we are dealing with, since most Egyptians have no experience of art, in the European sense, and very few ever have seen a classic museum from the inside. But a game started to emerge: hide and seek, paint and whitewash, each day, each night. Every whitewash action by the government, usually during the night, was replaced by new graffiti and fresco-like paintings. And with each whitewash action, so it seemed to this eye witness, the quality of the graffiti and wall paintings got better. Ironically, the whitewash action improved the art that
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was to be whitewashed. For the first time Egypt’s younger generation, especially those celebrating the birthdays with internet, discovered an open-ended communication form, namely the graffiti. They also discovered, very quickly, its effect it had on the viewers in the streets and, later, in the wider public, making its career onto a global stage, via YouTube, and international network broadcasting. In this presentation we want to make the attempt to find a sense-making of these graffiti, their effects, and their social and political background. It is important to note that so far a few illustrated books have appeared displaying the graffiti and poster art, but no analysis have been provided. Events have been documented, but a deeper sociological assessment of the graffiti phenomenon is still forthcoming. This eyewitness intends to make some initial approaches in order to make clear that the graffiti-effect, as defined above, takes on a function within the ongoing revolt against the existing social, political, and economic order. Art in this process is underestimated and neglected by the larger public. Digital photography and YouTube has replaced simply sloganeering of protest in the streets. People learn fast in the entire Middle East and discovered the propaganda value of pictures in form of YouTube and photos. The graffiti has been noticed, but undervalued by many since, apparently graffiti does not depict the reality of the situation ad hoc. Pictures don’t lie is an old saying of the halfeducated. And the fact that the majority of Egypt’s population can’t read and write, the picture and photo, or the television is considered adequate proof of the opponents’ evils. Thus, the symbolic value of graffiti still needs to be discovered by the majority, if ever. Perhaps the historical value of the graffiti, in the long run, will justify its existence as an excellent tool to get the message across, in mural form of metaphor, or allegory, as is the case of many graffiti in Mahmoud Street. We will also consider the sociological aspects of this graffiti phenomenon as well as the underlying emerging ‚Kulturkampf‘ between the secular and the religious themes and its forms, the graffiti take on. In the process of this development, anywhere from March and November 2012, this eye witnessed noticed changes in emphasis and subtle variations of topics, signs, symbols, that may indicated religious or secular sentiments. There are no neutral graffiti, but only reinforcing traditional values, or negative aspects of society, in terms of critique. It is no surprise that the graffiti artist are educated in art schools and well-versed in Egyptian traditions and history. From ancient Egypt, to Byzantine faces, to Arab symbolism, as well as modern classic expressionism, we find the graffiti and wall paintings refreshing. The depictions are not for a museum visitors, but for contemplation and soul searching, as to what a new Egypt should strive for. Of course, freedom, justice, bread, and dignity, as some of the themes emphasized by the graffiti. The effects are put in surrealistic forms that any person, even illiterate, can decipher in the picture. Thus, the graffiti-effect has the function
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to calling the viewer to be alert and conscious of what is going on daily. It is a sort of education in the streets, that is to say, education those, who never learned anything in the classroom, or had no time due to the fact, that they had to hustle in the streets of Cairo’s informal economics. In effect, the classic art form of the so-called ‚Arab Spring‘ the graffiti, will take on, I am certain, a more mature form and develop its own variety of expression that will enrich the art form, unkindly called street art, to attain respectability of classic museum art. This process has started already. The famous Hungarian sociologist of art, Arnold Hauser, had pointed once, „[…] revolution occurs when a certain style is no longer adapted to expressing the spirit of the times, […]“.1 No doubt, the ‚Zeitgeist‘ of monumental art, 1 Cf.
Arnold Hauser: The Philosophy of Art History. New York 1959, p.14.
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Fig.1 Murals of the Martyrs at Mahmoud Street, Cairo Foto: Osama Boshra.
Fig.2 Foto: Sinan R. Wolf-Gazo.
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so prevalent in ancient Egypt, is over, and the revolt in Egypt heads towards a democracy in which the graffiti-effect functions as spearhead of pictorial and visual expression of the generation that make up the digital age. Not only spontaneous protest, due to social media communications, and the mobile phone, as well as the YouTube, have been used effectively as tools for promoting social, political, and economic change, but the more subtle graffiti phenomenon testifies to the fact that a new ‚Zeitgeist‘ has been heralded on the walls near Tahrir Square. INTRODUCTION
In order to come to terms with the graffiti phenomenon that we see, apparently emerging in the streets of Cairo, we must be aware of the historical repository of Egypt’s rich history. Art among Egypt’s people can be found in the crafts, as tourists remember during their Khan-Halili shopping tour; they are amazed to find carpet weavers or metal craftsman, demonstrate extraordinary skills, long forgotten in modern Europe. In fact, the pictorial history, and the architectural landscape in the Fatimid City of Old Cairo, reminds us of the successive developments in what is known as Islamic architecture and art form. An ordinary Egyptian may not know how to read and write, but is very much aware of the different sorts of art forms and craftsmanship of his historic environment, not according to a classified history of art book, but according to memory and story told him by grandparents and preceding generations. The Pyramids of Giza, of course, are the world historical expression of ancient Egyptian civilization and of monumental art. Indeed, it is a long way from the Pyramids to Mahmoud Street and its graffiti murals. But the historical connection is there in terms of what the French sociologist Maurice Halbwachs called „collective memory“. Without that the memory recalled in the graffiti could not be ‚understood‘ by the viewer. The graffiti opens up the memory that have been installed in every Egyptian since birth, about Egypt’s past, be it in form of the Pyramids, Mosques, or Churches. The themes of the graffiti bear witness to that fact. A non-Egyptian who may not be familiar with the more subtle aspects and symbolisms of Egyptian history may be not able to ‚read‘ the graffiti at Mahmoud Street. He is, in Egyptian terms, an illiterate. Thus, the graffiti have their own grammar and organizational structure. In fact, we can say, the modern Egyptian graffiti is in the process of being institutionalized. No doubt, this art form will not vanish, but will develop into a kind of maturity we will have to wait how the revolt in process, itself, evolves, and along with it, the graffiti form of art. Again, Arnold Hauser, has this to say about the development of historic Egyptian art:
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The frontality of Egyptian art, that paradigm of all conventions, obviously originated in the difficulty of drawing foreshortened aspects; but the circumstances that it remained current long after the primitive state of technique in which it arose had been overcome shows that in the course of history it had taken on a significance of its own, had been transformed from a mere expedient into a symbolic form, from an improvisation into an institution.2
This is exactly what is happening to the Cairo graffiti phenomenon: there is gradual improvisation, even daily, after each whitewash, and, no doubt, the institutionalization of the Egyptian graffiti art has already began through illustrated books published and attention paid to graffiti artist who were yesterday, unknown and belittled. Egypt’s younger generation has discovered a talent that it did not know it had, until the occasion gave rise to a revolt, and unleashed the collective memory of ancient Egyptian history, not as monument, but as graffiti. Thus, the specific form of Egypt’s so-called ‚Facebook generation‘ took on a ‚Graffiti-Effect‘ as an expression of political and social protest. This certainly is anathema to any monumentality. The comparison between the graffiti scene of Mahmoud Street, directly across from the so-called Mugamma Building, at the center of Tahrir Square, build in the 1950s in a soviet-Stalinist style realist architecture, is telling. Literature students call the Mugamma ‚Kafka’s Castle‘, rightfully so, since it handles the daily bureaucratic activities of ordinary Egyptians.
Fig.3 Illusions at Sheikh Rihan Street, Cairo. Foto: Sinan R. Wolf-Gazo.
Fig.4 Dreams at Sheikh Rihan Street, Cairo. Foto: Osama Boshra.
Philosophically speaking Cairo’s graffiti manifests a protest on behalf of value and dignity for those who can’t write and read and had no voice. It was a protest on behalf of ‚Plato’s Cavemen‘. Yet, the irony of the ‚cavemen‘ turned out to be exactly what Plato and Marx had anticipated: they demanded to express themselves freely and vote in terms of democracy (the understanding was that of the rule of the many, or as Plato said, the oi polloi) but voted with Marx’s opium 2
Ibid., p.377.
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in the mind. The result, so far, has been that the religious political parties and groups, received the majority of votes from the cavemen. The very parties that stood aside, at first, in Tahrir Square. The graffiti artist and those supporting their efforts are working on behalf of Plato’s Sunlight, are caught between too much sunlight of television and photography cameras, and the shadows of the secret services and censors. At the same time, however, the Cave, seems to have disappeared; instead, a public space and forum has been constructed by the Facebook generation and trying to engage the new authorities into dialogue and debate. The results, thus far, are mixed. The democratic process of debate and discussion in the forum has not been well understood by the ordinary Egyptian. No wonder that Plato’s Republic, to my students, seem to surprise them, such an old text, and the problems seems to reemerge in history. The old symbolism and allegories, as well as icon reappear in the streets of Cairo, but they are not ancient Greek, but ancient Egyptian. The collective memory of the ordinary Egyptian seems to be reawakened, the stories told from old, renewed in evening chatter with shisha (water pipe). The graffiti messages are expressed in clever and symbolic language, as well as simple signs and cartoon versions of what happened at Tahrir Square since January 2011. However, the Hobbesian State of Nature has also been rediscovered in Cairo and seems to be in a state of waiting for a real Leviathan to emerge. The political and social atmosphere in November 2012 is touch-andgo. Where it will lead no one knows. Every one hopes for the best, and, as is Egyptian tradition awaits the worst. The graffiti artists, part of the leadership of the Facebook generation no longer accepts this ancient Egyptian logic and wants to produce their own history. In that sense they are closer to the early Marx than to Hobbes. However, Rousseau’s notion of the innocent natives is certainly fiction. Plato’s Cavemen are not simple minded humans who are naturally peaceful and fun loving; in fact, some of them turned out street smart. Already some try to manipulate the emotions of the masses, in the sense of Elias Canetti’s Masse und Macht, and develop tactics and strategies in order to exploit mass psychology developed in the Cave.3 Instead of serious plans to work out programs to develop employment and economic well-being for the population there is talk about morality, a sensitive area of the Egyptian psyche, particularly the underclass. Sexuality is still taboo, while at the same time sexual harassment in the streets of Cairo has been rampant. The several graffiti drawings have tried to address this theme, but, immediately these graffiti have been whitewashed. In the psychology of those who give orders to whitewash is the notions that this way the mind of the young people, especially the Facebook generation, is cleaned. For the language in many Middle East societies, particularly the underclass and 3
Cf. Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt am Main 1981.
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Fig.5 AUC Wall of Science Building, Cairo. Foto: Sinan R. Wolf-Gazo.
Fig.6 Mahmoud Street, Cairo. Foto: Sinan R. Wolf-Gazo.
lower-middle class, the talk is of a ‚clean woman‘, meaning, an unmarried girl must be a virgin before marriage in order to be represent herself and family as honorable. These are very touchy topics that non-Egyptians and outsiders of Middle Eastern culture are no longer sensitive too and seem to be somewhat disturbed hearing this. Sexuality is explosive and it is important not to speak at all about it, or, if hinting at anything that may deal with sexuality, the family, and female issues, to use proper and modest language. This is one of the reasons why some graffiti had been immediately whitewashed especially at night time by military authorities, self-appointed religious censors, or fanatics of morality. Anyone who remembers scenes from Plato’s Republic will be astounded to see them in the contemporary Egypt transitional period, from protest to the unknown. Especially young men in the streets of Cairo, and other Middle Eastern cities, can be seen acting in aggressive manner, with their pinned-up sexual oppression carried along in the demonstration. Girls and women are pressed to wear headgear and ‚modest dress‘, or be branded prostitutes and manhandled. The response by groups of young men is usually nervous laughter and dangerous longing to attack the victim found apparently provoking the virtuous manhood of the young males. The actions are usually conducted in the name of proper moral clothing and female behavior. It is a self-styled half-educated morality stemming part from the village, part from the underdog existence in the slums of Cairo. Graffiti, posters, and YouTube, activated usually by middle and uppermiddle class young people try to protest the ideological attitudes of the street. There seems to be a new kind of psychological terror operating against young women, particularly. Ironically, Plato’s philosopher kings are nowhere to be seen, since there was no place for them in the national curriculum of Egypt in the first place. Plato understood something fundamentally about human nature: when the ‚going gets rough‘ ordinary people retreat either to their mothers, or want to return to the Cave (a self-imposed slavery takes place), and demand Leviathan.
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We want to show, in a nutshell, how the graffiti-effect phenomenon reaches into the core of sociology of Egyptian society. That the sudden outburst of graffiti on the wall of Cairo’s streets was no accident, or a mode of the moment, but a potential that was waiting to burst upon the scene. No doubt, graffiti is there to stay and it will develop into various forms, yet unknown, in terms of daily conversion for a public that is able to ‚read‘ graffiti, if not books. We will note the sociological significance of the graffiti phenomenon, some of its actors known, the intentions, but also the deep seated desire to recover ancient Egyptian stories, myths, legends, symbolism, allegories, and icons, ordinary Egyptian in the streets of Cairo can relate too. The monumental art that was always surrounded Egyptian has had the effect of power over the masses and was installed by the ruler to make clear the power structure of the country – from the pyramids to the obelisk, from the tombs of the Valley of the Kings, to the temples of Luxor. Obedience and prayer, as well as fate, was to be the dimension of history in which the fellaheen (farmer) in the Nile Valley existed. The graffiti show that the collective memory can be reactivated, but put into the service of a different sort of life, instead of ‚under the ground‘, now tombs are present ‚over the ground‘, in daylight, as one graffiti artist put it. Instead of looking forward to Hades, the underworld, Egyptian’s should to be looking forward to a new kind of Heliopolis, in which enlightenment and education of the masses should be a priority in order to regain a sense of dignity fit for a modern life – at least that is the general message of many graffiti in the streets of Cairo. ON THE SOCIOLOGICAL SIGNIFICANCE OF THE GRAFFITI-EFFECT IN THE MOVABLE STREET ART SCENES NEAR TAHRIR SQUARE
In one of his works on the sociology of art Arnold Hauser makes this claim: „Culture serves to protect society.“4 Art he considers to be an experience of forms analogous to the society levels of how a society organizes itself. Of course, this is a useful statement, if we presuppose that the historical formation has been continuous. Yet, as we know in geological terms there is, at times, volcanic activity and deformation of the earth’s crust takes place; likewise, in societies, when social revolutions erupt, huge deformations of the existing structure take place that may last for some time. In human life time, like the French Revolution, it may impress upon a life time of several generations, as we know, from the accounts of those who witnessed the events in 18th century Paris and France. In fact, all of Europe had to deal with the revolution half a century. Likewise, this may be the beginning in the Middle East for a slow, but volcanic disruption of 4
Ibid., Hauser, p.6; relevant Alexander J. Peden: The Graffiti of Pharaonic Egypt. Leiden 2001.
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the old form of life style which will have an impact on many generations. At this point we may ask, what is the significance of art in such volcanic events, especially of a revolutionary nature? If we survey the initiations of graffiti on the walls of Cairo’s street that may be insignificant, at first, but on a second look, it seems consequential. The ordinary Egyptian has not really yet registered the significance of graffiti and thinks it to be some child-like activities of young people who need to blow off some stem. Whitewashing this childish coloring on walls of streets, especially around Tahrir Square makes sense. However, witnessed first-hand, I noticed that some ordinary Egyptians started to look at the graffiti with a sense of astonishment of good craftsmanship. The graffiti in terms of fresco, for instance, show excellent quality and skills, and draws out a sense of beauty in anyone who stands, even for a few minutes, contemplating the walls of graffiti and fresco-like paintings. Seeing the graffiti artists work and contemplating the results Hegel comes to mind that art and religion and technical skill are different modes of the same spirit. No doubt, the graffiti were not constructed to destroy, but to preserve and remember. At times graffiti art serves magical ways of expressing spirituality, such as the murals of the martyrs on parts of the wall at Mahmoud Street, or, at times, they are used for critique of the powers that exist. Graffiti can also be read as a manifestation of the Facebook generation and its outcry of injustice, corruption, and immorality, of a marauding society that does not face the reality of its own demise, in terms of religious symbolism. The religious symbolism that we find in the graffiti is more of a spirituality, less of a confessed institutionalized religion. The aesthetics of the human body, especially the female body, is presented in a positive, life giving formation, as some murals show. This is, already, part of the ongoing ‚Kulturkampf‘ (cultural warfare) that has started to take place, more openly, since the revolt, then covert, as was the case prior to the revolt in January 2011. We will refer to that phenomenon shortly. The artists are mostly the young, under thirty years of age. Arts students of the middle class not necessarily of the traditional French-English language educated elite of Cairo. The audience for whom the art student produce are for the young, basically, since they seem to be attracted to that kind of pop-art productions that the graffiti elicit. We should remember that the demographic structure of contemporary Egypt is that of a ‚pyramid‘, contrary to contemporary Germany which resembles an ‚inverted pyramid‘. That is to say, almost half of Egypt’s population is below thirty years of age.5 In addition, in Egyptian society the arts students are considered the lowest level of academic achievers in the hierarchy of university education. Especially boys and young men in a family are expected to study engineering or medical science for pecuniary reasons. There 5
Cf. Onn Winckler: Arab Politcal Demography. Sussex, UK 2009.
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are those, of the elite, that follow in the footsteps of the family business, or in governmental offices, social class inherited such as the diplomatic corps. Art is usually reserved for girls and young women and understood more as adornment activity than serious intellectual activity. It should be added that the majority of Egypt’s population has no sense for art, in the traditional ways, but more a sense of kitch and adornment. Something that is considered beautiful, such as a young woman, is considered by the ordinary man in the streets of Cairo, as something dangerous. That is the reason why the evil-eye emulate is strongly believed in for protecting the ‚beautiful baby‘. Many traditions and myths make up the fabric of the social ritual to which the population is subjected to, especially on religious holidays. We will find, specifically in the homes of the elite and educated uppermiddle class paintings in the living rooms of their villas, or spacious apartments. Carpets are on the wall, some times for decorative purposes, in the homes of the elite, but for the population at large, small prayer carpets function for daily ritual prayer. Books too, are usually to be found in the homes of the elite and uppermiddle class, hardly ordinary people, aside religious families, who direct their children towards religiously inspired literature. Even among the young Egyptians very few read books, or encouraged to read; the audio-visual revolution from the West added to the negation of book-knowledge, since the television became the first informer for the eyes of the masses of people. Visualization is the basic way of receiving information for the masses and not literary book knowledge. The book, and the only one that the ordinary Egyptian identifies with, if he is Muslim is, of course, the Quran. This is something sacred and the word from Deity, in the feeling and thinking of the population. Of course, for the Christian (Coptic) sector of Egyptian society, there is a long collective memory, reaching into pharaonic times. The Bible has a significant status among books, and the Holy Scriptures, are held in respectable and time-honored remembrance and embrace. The themes and topoi from religious texts occur also in the graffiti, but not as direct depiction, but more in an indirect allusion to religious memory. Officially there are museums in Cairo, especially the Egyptian Museum. It has a time-honored place in the world of tourism and is seen as a place that shows Egyptian history. Yet, Egyptian school children visit the Egyptian museum more in a sense of national pride than middle class education. It should be remembered that a sizable sector of Egyptian society considers the Pyramids as irreligious and not in accordance to their own believes. They are ‚tolerated‘, but not presented as an example of historical significance for the faithful. But, on the other hand, the Nile river, it is agreed, represents the real Egypt, for the fellahin (Nile Valley farmer), as well as for the elite and underclass. A careful study of some graffiti bears this out. Lotus flowers and a resemblance to the Nile symbolizes the fruitful black earth of the Nile valley. It should also be remem-
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bered that the original name for Egypt meant Kemet, that is, the black earth. After all, the Roman Imperial Army was feed by Egyptian wheat. Thus, some of these small memories from the historical treasure of Egypt are useful to unlock the symbolic nature of some of the graffiti. For the Egyptian the understanding is intuitive, for the non-Egyptian and tourist the graffiti and its significant symbolism and analogy would have to be explained, which is expected dealing with any national and local situation. Specifically for the art scene up to the revolt we find some establishments that represented the art situation in Cairo. The Young Artist Salon was promoted by the Ministry of Culture, headed by a former minister who actually was a painter by profession; there is the commercial establishment known as the Safar Khan Gallery that deals in a more western type of art activity in which art proper, design, and business, form a profitable alliance; there is the well-known Townhouse Gallery, founded by a Canadian artist, who has a great following among Egypt’s younger generation of intellectuals and privately financed. I had the honor of speaking at the Townhouse on the photography workshop of the Bauhaus, a few years ago, when the Townhouse Gallery honored the achievements of the Bauhaus in the 20th century. I should add, as a fond memory to many, the Cairo-Berlin Gallery, located at Falaki Street, near Tahrir and Mahmoud Street, located in a basement, had a great following among literary people and artists, Egyptian and foreigners, which promoted a dialogue between Cairo and Berlin. Unfortunately, with its owner’s death, a German lady from Berlin, the gallery was discontinued, but in the memory of many continues to exist. The opening of a retrospective of the art work of the Swiss artist, living in Egypt many decades, Margo Veillon (1907-2003), remain unforgettable.6 It is in her work that the Egyptian rural life comes to live and has yet to be discovered in the art markets of Europe. Perhaps there is one aspect that is very much part of the story of Islamic art and architecture: the absence of a name or specific reference to an artist, except a ruler. This eye-witnessed noticed that none of the graffiti artist would put their name or any emblem on their work. And the reason was not, that they anticipated that their work would be whitewashed overnight, but they did not consider themselves, as artists in society, important. There is no tradition of a Vasari or a Renaissance sense of importance. Most mosques and other monumental art in the Middle East are remembered in the name of the ruler at the time. The individual workmen of the Luxor Temples or obelisks are unknown; everyone knows that Ramses II was an avid builder of monuments, but no individual artists are known by name. This tradition continued into the Islamic cultural centuries; there are exceptions like the Ottoman master architect Mimar Sinan, or the works of the Egyptian national sculpture Mahmoud Moukhtar 6
Cf. Margo Veillon: Egyptian Harvest. Cairo 2000.
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Fig.7 Judgement Day, Mahmoud Street, Cairo. Foto: Osama Boshra.
(1883-1934), yet, these are exceptions. The artist communities in the 20th century in Egypt had taken over the tradition of the French and British to produce art with individual identification of the artist. For the majority of Egyptians these ‚modern‘ works of art are meaningless because they are produced outside the social context of Egypt’s collective memory. A consciousness of a modern form of art has had some impact of a small group of intellectuals and some elite of Egyptian society. Yet, as is the case with form of social modernity, Egypt remained a tribal society, and along with it goes the artistic production.7 Since the revolt began in January 2011 many musician groups have developed; yet, these are youthful groups that experiment in rapper rhythms that are considered totally alien to the Egyptian music tradition. There is, of course, the time honored songs of Om Kulthum, especially for the older generation. The Facebook generation follow the international developments they find on YouTube, while some experiment with a mix of rapper and traditional village music. Modern sociology of art tells us that as social eruptions take place, and discontinuity in society is reflected in all other activities in society. The response to the challenge varies, but the majority, so it seems at present, take cover under the cloak of traditional ways, such as headgear for the women, and pious representation and positioning in the streets, especially during times of prayer. It is noticeably that a sort of ‚pious scenography‘ has appeared in the streets of Cairo and elsewhere, while the drums of the village is announcing a new day era has arrived in the name of religion and morality. 7
See K.A.C. Cresswell: A Short Account of the Early Islamic Architecture. London 1989.
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Fig.8 Foto: Osama Boshra (Detail Fig.7)
No doubt the sociological change (Umbruch), instead of speaking about revolution, is slowly emerging; the new outlines are formatting, but it is difficult to make out, at this point, what kind of shape and form the new era will take on. Modernity is there to stay, but it is fragile, and not clear cut. It is usually in the form of value-neutral technology, to be used, from the mobile to the internet, but modern forms of life-style is considered suspect of tradition. One of the reason why the graffiti is whitewashed and looked upon with suspicious eyes by authority and the so-called ‚Arab street‘ it does not use the traditional symbolism and iconology in traditional places, like a mosque or holy shrine. The walls upon which the graffiti survives are not public walls claimed by the Egyptian state, but are walls owned by private institutions, usually non-Egyptian, such as the American University and the Deutsche Schule der Borromaerinnen at Bab ElLouk, or the Goethe-Institute at Mesaha Square. Thus, ironically graffiti appears in private-public places and sets up a possible confrontation of a political nature as well as a debate on modernity. In Egyptian society the difference between what is private and what is public is not clear. There is, certainly not in the public a sense of consciousness, as to what is considered private, since everything ought to be public; one of the reasons why marriage is such a fundamental institution in Egyptian society. Marriage is not a private event, but the public, the whole street in which a couples lives ought be invited, or at least, notified, since marriage by definition is considered a public event. Families, and thereby society at large, have a stake in who marries whom. Thus, the sociological aspects that are considered in western society clear cut, at least until the internet appeared, as to what is privacy or not
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are ill defined. Yet, one thing is clear, that the graffiti phenomenon is a subverting activity that is eyed with suspicion by the new ruler of Egypt and the newly appointed moral leaders. That graffiti engages in art that is displayed in public, without permission and without asking any ruler as to the moral or normative content of what it displays is a new phenomenon. Yet, the subtle games of power in the streets of Cairo still needs to be analyzed in due course. The graffiti activity is an ongoing process that I have been able to witness first hand and follow with great interest. The public, viewing the street art varies, depending on the day and evening, or on the mood in the streets. Modern Art activity had never been an issue in Egyptian society since it was shown and displayed in private places of the elite and art galleries open to the select. Art that does not display the ruler or the symbols of power has had no place in Egyptian history, except the calligraphy or arabesque to be found in mosques, or frescos in Coptic Churches. We will see in the next section who there has been a sort of ‚Kulturkampf‘ going on since the revolt. It is struggle for cultural hegemony and moral order that is being fought out between Nasserite nationalism, the ideology of the Muslim Brotherhood, the more extreme ideology of the Wahabi version of Saudi Arabian forms of religiosity fostered by the Salafya, and the modern liberal-leftist youth groups, that included the Facebook generation and computer kids, who laid the foundation of the revolt, initially. But the masses were waiting for the release of their bonds from slavery; yet, the newly emerging masters may not have read Plato, but follow a different script closer to the nature of Hobbes’s Leviathan. GRAFFITI AND KULTURKAMPF IN THE ‚ARAB SPRING‘
The graffiti experience in the Middle East is an urban phenomena produced by the young for the young. It is understood as a subversive activity contrary to state approval and undermining the prevailing censorship. Especially the visual arts have been under tight control of the various regimes of the existing order. The ironic situation is that a new censorship may be emerging that simply supplants the old rules of censorship. Previously we may find the censorship dealing with defacing image of the ruler; slowly we find that Islamic ideology dictates the censors approval or non-approval. Graffiti finds itself in the middle of this transition; the old modern versions of art were produced by the upper-middle class artist for an elite of the society. In that sense, censorship would not work, as long as it remained a private matter. Since the revolt we noticed a competition takes place, may have always been at large, at least subconsciously, between the religious forces and the secular-modern segments of society in the Middle East.
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The current violence that we witness, from the Maghreb to Syria, is an indication of ‚Realpolitik‘ and ‚Kulturkampf‘ taking places between various forces determining societies; needless to say, many try to influence the outcome since this confrontation has been there, psychology for at least a century, and never had the opportunity to come out into the open. The graffiti phenomenon only highlights and display, in public, that ‚Kulturkampf‘. This is not merely a matter of art, but an issue of collective memory. The religious forces felt that it had been supplanted by secular colonial powers for too long and insists that it is their right place where religion is the sources of daily life for the multitude; the special difficulty with this in Egypt is that Egypt’s history has always displayed a kind of religiosity that the ancient Greeks noticed on their travels to old Egypt and its temples and priests. But it is an old-fashioned religiosity that promotes the ever recurrent modes of the life cycle and a naturalistic version of everyday life. We must recall the fact that the Arab’s invaded Egypt and brought along their own religion; a fact that I try to recall to my students. Egypt was a Christian country for many century and the consequences of that can be seen everywhere, despite the majority of Egyptian taking on the Islamic faith. Modernist versions of ideology mixed in with some extremist moralization in the name of piety has promoted a dangerous kind of censorship for the arts and public life style. Indeed, ‚Kulturkampf‘ has been going on in Egypt for many centuries that can be witnessed in the architecture of Cairo and Alexandria, the life styles of its various groups and classes, as well as ideologies promoting modernity, as well as calling for a return to the old ways of the village. Any illustrated book that shows photos of Alexandria’s beaches of the 1950s can testify the change of life style and attitudes, compared to the contemporary scene. This witnessed compared some of these photos at some Alexandria beaches and today, and was shocked; the grandmothers of my students where the once who wore modern beach outfits for ladies, while presently we only see women and girls in Islamic dress with headgear – accompanied by their husbands and family – swimming! At least this is the scene in the public beach area of Alexandria. This is one form of ‚Kulturkampf‘ manifestation that extends into all other areas of public, even private life. We remind ourselves that Egypt has a grand cultural history and is based upon a kind of cultural competition of various invaders, as well as the culture produced in the Nile Valley. This has not always been conscious to the ordinary Egyptian; society accepted whatever showed up, revolted, here and there, but in due course the colonial and the local enmeshed into a new form. The difference between the modern day confrontation of cultural form and the traditional days, turns out to be time. The confrontations are more edged and the time framework in which the confrontation takes place took a shorter notice in modern times. In our days of YouTube and Facebook what makes this ultra-modern com-
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Fig.9 Martyrs of the Revolution, Mahmoud Street, Cairo. Foto: Sinan R. Wolf-Gazo.
munication devise so dangerous is, that there is hardly any time-lag between real and virtual time. The local is seen on the global screen without mediation; that is to say, there is no explanation or guide providing a meaningful sense of what is seen on the global screen, to anyone, who does not live, in real time at the local scene events take place. This has repercussion around the world. The reason why we can speak of ‚Kulturkriege‘ in the 21st century is exactly that the previous gap between real and virtual time no longer exists. Thus, how to explain a phenomenon that took generations to grow, in a few minutes newscast? The result is a strange situation: the more quick access we have to other cultures in virtual time, the more real, massacre in real time. Needless to say, we may have been advances in communication technology, but thereby shown how unprepared our education has been to deal with the strange phenomenon we witness on the global screen. The local has, indeed, become stranger to the global. Cultural anthropology is in crises for the simple reason that there is hardly anything to be found out on the planet, not yet discovered; anthropology turns into feminism or research into the esoteric. This should be the time for sociology, but we find disarray of methodologies and ideologies prevailing, but not value-free sociological investigations. Instead, more and more we find statistics that are interpreted, according to whoever pays for the data collecting. Indeed, more than ever we need a sociology of art that deals with various forms of audio-visual production based upon its social context. For example, scenography is such an activity and can be subsumed under a sociology of art in which multifarious visual and practical cultural activities are incorporated in order to produces various meanings within the context of the scenographic situation. What makes Cairo an interesting cosmopolis is that it displays the many historical forms of visual materials embedded into the life style of its population.
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It may seem, at first glance, that Islamic symbolism and life style prevails, but that is a surface. The psychological make-up of the population is much more diverse and consists of a mix of the pharaonic, Christian, Islamic, and western-modern. Each historical forms can be identified in terms of social strata and class structure. Likewise, with the arts, fine and applied, to use old-fashioned language. Depending on a particular district in Cairo we can witness the different form of art and its historical context. Most tourists to Cairo usually see the Fatimid district, the so-called ‚Islamic city‘ of Cairo with its Citadel, bazaars, and Khan Khalili. This is the picture-postcard for the tourist and the illusions of the Arabian nights. The modern Cairo, at least since Mohamed Ali and the opening of the Suez Canal in 1869, is seen by the tourist from his five-star Hotel, but the architecture and sculpture surrounding the hotels, such as the Corniche, remain empty in the mind of the modern-day tourist. Egyptian nationalists will reduce the modern architecture as something from the colonial times, irrelevant to Egypt. Yet, the sculpture at the New Opera House by Mohammed Ablas called Sisyphus, of stone, bronze, and iron, is too abstract and ‚foreign‘ to the ordinary Egyptian. Monumental architecture, such as Rameses II at Abu Simbel, or the Pyramids of Giza, or the Luxor Temples, are acceptable, since they produces tourists and finance. For those on the Islamic extremes they symbolize the icons of the unbelievers. The Monument to the Unknown Soldier by Sami Rafei, which also happens to house the mausoleum of the late Anwar Sadat, combines a pharaonic structure revealing an attempt to amalgamate the ancient with the modern. Walking on top of the medieval gate called Bab al-Futuh (1087), enclosing the Islamic regions of the old city of Cairo, we can discover ‚graffiti‘ in the form of inscriptions made by Napoleon’s soldiers who, apparently, during some boring moments inscribed their names on the sandstone. Inscription is an old custom in Egypt; this witness remembers discovering the signs of Hermann von Pueckler-Muskau, near Trajan’s Kiosk on the Island of Philae. Apparently the Count needed to inscribe his name in memory of his trip to Nubia in 1837. The contemporary Bibliotheca Alexandrina, completed in 2004, in post-modernist style testifies to the multiply architectural styles that we find in contemporary Egypt; or the new museum in Alexandria in honor of the modernist painter Mahmoud Said (1879-1964)8, reminds us of the 1920s Berlin, in whose paintings we can recall the dark sides of modernity as we find them in Otto Dix, Max Pechstein, or Max Beckmann.9 And we are reminded of the architect Hassan Fathy (19021989) who tried a social experiment at New Gurna, near the Valley of the Kings, 8
Cf. E.M. Forster: Guide and History of Alexandria. London Rev. Edition 1986; by an eyewitness Harry Tzalas: Farewell to Alexandria. Cairo 2003. 9 Cf. Esmat Dawestashy, editor: Mahmoud Said Memorial Volume. Ministry of Culture, Cairo 1999.
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but failed. Architecture for the poor was to be the experiment, but the poor, noticed that they were living on top of some pharaonic burial grounds and started digging in their huts discovering that gold found, as well as mummies, could be sold for profit to the tourists. So much for a social experiment, but Fathy’s architectural style, combining Nubian local form with a Bauhaus attitude, did make some impact a generation later.10 We can see that throughout Egypt’s history various forms of art have been produced that reflect the specific historical era in which it was produced. Museums and art galleries are modern and have never been part of the collective awareness of the Arab street. These were products of a European middle class becoming conscious of its commercial powers and needed representation. In that sense a middle class never emerged in the Middle East and the tribal structure of the family remained, despite the invasion of modern communication technology. We see hieroglyphs, inscriptions, epigraphic, and calligraphy as well as the arabesque; ornaments and mosaics, as well as faience (floral ornaments, wall tiles from Iznik, and glasswork), manuscripts and illuminations of the Quran can be admired in Cairo’s Islamic Museum, metalwork, embroidery, and carpets, as well as abstract design and fresco paintings in Coptic churches can be enjoyed.11 Famous the mashrabiya (lattice wood work), familiar to Cairo villas and window covers. The mashrabiya (Erker) reveals a double function, one for art, the other for the social protection of the ladies of the house; it was the special window in the ladies quarters (Harem) which made it possible for the lady of the house to observe the streets, down below, or the sitting room, without being seen from the outside, or the male guests entering the foyer. Again, the cultural ramification of art in the Middle East always had a social function analogous to it. Belly dancing was not merely a skill of presenting the female body in various contours, but also symbolized, mainly, the religious-social institution reinforced at marriage ceremonies. The ‚Kulturkampf‘ in the ‚Arab Spring‘ has never simply been about art and form, but foremost a struggle for moral hegemony of one group over another. Art is used as a social tool to dominate and subject the society to a moral code that is supposed to be reflected in the form of art. And it is struggle for power in the streets of Cairo that makes graffiti a fascinating study worthwhile.
10 Cf. Hassan Fathy: Architecture for the Poor. An Experiment in Rural Egypt. Cairo 2000; relevant J. Winegar, Creative Reckoning: The Politics of Art and Culture in Contemporary Egypt. Stanford 2006. 11 See Prisse d’Avennes: Islamic Art in Cairo. Cairo 1999; related Agnieszka Dobrowolska and Jaroslaw Dobrowolski: The Sultan’s Fountain. An Imperial Story of Cairo, Istanbul, Amsterdam. Cairo 2011.
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EGYPTIAN GRAFFITI ARTIST AT WORK (MOHAMMED MAHMOUD STREET) NEAR TAHRIR SQUARE
The American art historian Bernhard Berenson had this to say about art and value: Tactile values occur in representations of solid objects when communicated, not as mere reproductions (no matter how veracious), but in a way that stirs the imagination to feel their bulk, heft their weight, realize their potential resistance, span their distance from us, and encourage us, always imaginatively, to come into close touch with, to grasp, to embrace, or to walk around them.12
No doubt, at Mohammed Mahmoud Street, near Tahrir Square we can experience such a phenomenon called „tactile value“ by Berenson. That specific value is drawn out particularly in the murals that were drawn by three young Egyptian graffiti artist, namely, Alaa Awad, Ammar Abu Bakr, and Hanaa El Deighem. Alaa lead the group of artist in constructing two frescos on the wall near the entrance to American University at Mahmoud Street. The murals were called ‚The Epic Murals of Tahrir‘, one depicting the martyrs (shuhada), the other, representing judgment in ancient Egyptian style and the underworld (Hades). Alaa is a junior professor at the Faculty of Fine Arts at Luxor, Upper Egypt, specializing in mural painting. Many who encountered the fresco where awe struck, even those who may never have stop to look at a painting before – the Arab street took notice. If we apply the criteria of iconology, according to the master art historian Erwin Panofsky from the former Warburg Institute in Hamburg, we ‚see‘ immediate levels of comprehension of the mural of judgment. We see a composition and a narrative that reminds us immediately of Egyptian tombs tourist admire on their trip to the Valley of the Kings. The theme is social justice and equality; that is to say, the artist mixes ancient and modern themes. There is a ladder reaches upwards towards the sky and breaks through it to symbolize the revolution. The Egyptian tradition is emphasized, rather than the Arabic, since the artist wants to make clear that Egypt has its own traditions. In that sense the mural is a narration of identity – of genuine Egyptian identity. The onlookers, as this witnessed observed, understood intuitively what the fresco mural wanted to spell out. And there was the tactile feel, the emotions steering from the inside, since the collective memory of Egypt was addressed. The mural is a subversive piece of resistance to the conservative religious influence from the more extreme religious wing stemming from Saudi Arabia. The artist makes no mistake about this and makes clear, also in public appearances, that Egyptian identity is a stake in the revolt. The mural dealing with the young people who got killed at Port Said following a football match, are presented as martyrs, portraits-like images, in dif12
Cf. Bernhard Berenson: Aesthetics and History. New York 1965, pp.69-70.
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Fig.10 Dance into the Future, Mahmoud Street, Cairo. Foto: Osama Boshra.
ferent versions of color, resembling the faces and masks by Alexej von Jawlenky. We see modestly glad women, carrying black flowers mourning the deceased, at the door of Osiris, the land of the dead. Women from the Nile Valley, smearing their face with earth, and old Egyptian tradition as far as pharaonic times. And there is the sky-goddess Nut, welcoming the martyr’s soul into heaven with a lit candle. This is powerful imagery with tactile value, no doubt, and engrained in the Egyptian memory. The mural fresco with its graffiti, functioning as commentaries, carry along with it cultural iconography of ancient Egypt. Alaa, his colleagues Ammar and Hanaa, transformed Mahmoud Street into an open court in which the public participates in the judgment of the existing ruler; in addition, they remind the Egyptians of their heritage of the soul culture that plays such significant part in ancient Egyptian mythology. In fact, the ancient traditions are upgraded and modernized into a modern social critique of the existing order. In ancient Egypt it was the prayer to the heavens and the acceptance of inevitability (kismet). Ancient Egypt had not yet produced the ideas of the Enlightenment or
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Marx. But the junior artist professor from Luxor are children of modern times, yet, their memory steeped in the Valley of the Kings. Both modes of history are combined in the murals and their powerful graffiti. This answers the question as to the tertiary level of an iconology, namely, the meaning of the Gesamtkunstwerk. The amalgamation of the ancient and the modern, the heritage and the search for identity are the driving forces of the murals at Mahmoud Street. Instead of the slaves being lead out of Plato’s Cave, the Luxor artist bring the sunlight into the Cave, by transforming the ancient tomb into a public street so that the slaves can see, not shadows, but forms, shapes, and figures that remind them of a memory they may have forgotten. As we survey others parts of the walls we detect animal figures and animal form symbolisms that remind us of Franz Marc: cows, horses, donkeys, and dancing girls, alongside angels with wings, next to the martyrs’ images. There is the famous symbol of peace (Ankh) that Egyptian Christianity found useful; we see designs that remind us of Kandinsky. We see a boat with nymph-like figures saying farewell to the fallen; embalming scenes of mummification, but also scenes that portray colorful happy figures reminding us of August Macke. And there are
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Fig.11 Egytian Nightmare and Dream, Mahmoud Street, Cairo. Foto: Osama Boshra.
women in headgear, Hijab mourners, in repetitive fashion of Andy Warhol style, popping up, with images that remind us of Giotto. On one cement block-stonewall, put up on Sheikh Rehan Street, parallel to Mahmoud Street and leading to the ministry of the interior, an allusive montage was painted on the stones by Hanaa resembling children playing with a rainbow covering them. Brutality and sensitivity, ugliness and beauty, intermingled powerfully in this act of transforming a brutal road block into an installation of art. No doubt, Joseph Beuys would have been delighted at this scene. Many colors of the fresco and graffiti (for which no spray cans were used, but paint brush) are expressive and colorful reminding the viewer of some Brücke Künstler (Kirchner, Pechstein), or surrealists such as Max Ernst and Salvador Dali. On the wall of the Goethe-Institute at Mesaha Square we are reminded of Jackson Pollock and abstract expressionism. No doubt, prior to January 2011 this display of protest in form of graffiti and fresco display with powerful motifs recalling Egypts ancient memory would have been unthinkable. The only form of ancient Egypt presented was in monumental architecture in order to promote absolute rule. The absolute rule was no longer accepted by the Facebook generation to which the Luxor artists belong. Their way of protest was not simply art, but art form carrying collective memory
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into the public street, into the sunlight, for everyone to be reminded of their heritage. It is a protest with a subtle reformed version of ancient cultural forms into modern messages. At Mahmoud Street we are presented a visual culture that makes use of the vivid colors and powerful symbols from an historical context to reawakening this memory in order to mold it into a new form of modernity. Many of the graffiti and frescos have been whitewashed by the masters of the new existing order. Yet, digital photography and YouTube has ‚saved‘ these powerful works of meaning and aesthetic quality from extinction and therefore of contemporary memory. In the process of protest and revolt, as well as transformation, time will tell us as to the real significance of the pioneer graffiti artist and their role in constructing a new modern Egyptian consciousness.13 PRELIMINARY CONCLUSION
At this point we can’t come to a final conclusion since the revolt in Egypt is still underway. Yet, signs tell us that more ideological aspects enter into the arena of the revolt and counter-revolt. The ideological competition is evolving, especially in the visual fields of art and educational curricula re-examined. Unfortunately, 13 Cf. Lilliane Karnouk: Modern Egyptian Art: 1910-2003. Cairo 2005; relevant Mia Gröndahl: Revolution Graffiti. Street Art of the New Egypt. Cairo 2012.
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the philosopher kings do not rule, it is more of a situation of Plato’s guardians taking over the state. The basic needs are at the forefront of concern, but the psychology of the population is reminded of moral values that were adopted in tribal times, but are useful for modernity. The pressures is on many who believe that by following moral conformity other social problems can be solved. We wanted to point out the activities of the so-called graffiti artist who spearhead the visual protests in the streets of Cairo and Alexandria. The output of the graffiti is extraordinary and the effects, specific emphasis in subtle forms of slogans and signs, are done with a great sense of urgency, but with humor. Egyptians have not yet unlearned to make fun of their rulers or their daily lives. Many have not yet become aware of the effectiveness of graffiti art, but the impact, due to YouTube and digital photography has had some resonance. However, what is needed is an analysis of the meaning of these messages that are little understood outside Egypt. Epic murals and sardonic graffiti among barbed wire and cement blockades in Cairo’s streets have introduced a new form of ‚optic culture‘, to use a term from the master Bauhaus architect, Walter Gropius, namely graffiti effectively to reawakening Egyptian collective memory on behalf of those who are in chains, who must be freed, but also must rebuild the Cave into a house of civilization. The days in which a graffito read, ‚Pharaoh for sale‘, is over, now the new updated graffito read, „Where is the bread, freedom, and social justice?“
FOSCO DUBINI
DER FILM LUDWIG 1881 – INSZENIERUNG EINER INSZENIERUNG.
AUSGANGSLAGE: EIN GRÜNDUNGSMYTHOS UND SEINE INSZENIERUNG
Im Jahre 1991 hatte das Schweizer Fernsehen anlässlich der 700-Jahresfeier der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1291 eine Ausschreibung für 20 Spielfilme initiiert, die sich diesem Thema widmen sollten. Dies war der Anstoß für ein Filmexposé, das sich nicht unmittelbar mit dem Gründungsmythos auseinandersetzt, sondern diesen über den Umweg einer zweiten Inszenierungsebene als Blick von außen rekonstruiert. Der Film sollte gewissermaßen ein seinerseits historisches Vexierbild der im Schweizer Nationalbewusstsein verankerten Gründungsgeschichte liefern, wobei dieses Bild eine zusätzliche Beglaubigung durch das Theaterstück Wilhelm Tell von Friedrich Schiller und dessen Rezeption in Deutschland nach der Entstehung des deutschen Kaiserreichs erfährt. Das Filmprojekt filtert die Tell-Legende nicht im historischen Bewusstsein der Schweizer Volksdemokratie, sondern im absolutistisch verklärenden Blick der Volkstümlichkeit des deutschen Historismus: eine Art Doppelprojektion. Die Figur, die aus ihrer Sicht den Rückgriff auf das Volk und dessen wahre und tiefe Empfindung von Größe und Gerechtigkeit ausgehend von Schillers Theaterstück emphatisch verfolgt, versteht dies in erster Linie als Gegenentwurf zum wilhelminischen Zentralismus und keineswegs im Sinn von Schillers Kritik an absolutistischer Willkür: Ludwig II., König von Bayern, begriff den Freiheitspathos der Figuren Schillers als Ausdruck einer nur noch in und über den Umweg der theatralischen Inszenierung möglichen Zurückgewinnung authentischer, ‚originaler‘ Selbstbehauptung des in Zwängen und Konventionen verstrickten Individuums. Damit wird die Aktualisierung republikanischer Visionen im historisierenden Gewand des Schweizer Gründungsmythos, wie sie Schiller vorgenommen hatte, reduziert auf eine ästhetisch induzierte emotionale Grunderfahrung der Gemeinschaft unter gleich gestimmten und durch die Inszenierung gleich eingestimmten Individuen. Schillers Text erhält so die Qualität eines wortwörtlichen Rezitativs unmittelbarer Empfindungsintensität. Diese konzeptuelle Anlage des Films trat umso mehr in den Vordergrund, als der ursprüngliche Anstoß für das Projekt in den Hintergrund rückte.
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Eine Volksabstimmung in der Schweiz verhinderte die Finanzierung und die Feier konnte nur in einem reduzierten Rahmen stattfinden. Die 20 Filmprojekte wurden gestrichen. Der Film Ludwig 1881 aber machte sich auf den Weg der Annäherung an das besondere Schweizer Reiseprojekt des Königs Ludwig II. von Bayern. EINE REISE ZU WILHELM TELL
Unter den Bedingungen szenographischer Ausgestaltung konzipierte der Monarch im Jahr 1881 seine Reise an den Vierwaldstättersee. Einziger Zweck dieser Reise war der durch Schillers Theaterstück Wilhelm Tell vorgegebene und zugleich überhaupt erst ermöglichte Nachvollzug ursprünglicher und daher großer Gefühle in einer ursprünglichen und nur deshalb überhöhten Landschaft. Schillers theatralische Inszenierung von mythischer Ursprünglichkeit bildet für den König Ludwig II. den unerlässlichen rite de passage von der Banalität direkter Anschauung der historischen Schauplätze zur Erfahrung ihrer sublimen Größe. Erst im Medium der dramatischen Deklamation von Schillers Wilhelm Tell erhalten die Orte und die Landschaften der Gründungslegende für den königlichen Betrachter ihre originale Bedeutung zurück. Diese Bedeutung erschöpft sich nicht im Wissen um die Möglichkeit einer politischen Gemeinschaftsideologie, die dem bayerischen König vollkommen fern lag. Sie dient vielmehr der Reinkarnation einer, wenngleich nur im Ausnahmeraum der Inszenierung möglichen, daher notwendigerweise immer nur gespielten Begegnung zwischen zwei auserwählten, authentisch fühlenden und agierenden Individuen. Zur penibel ausgearbeiteten Reinszenierung trat hier, wie schon zuvor, ein ebenso planvolles Rollenspiel, das Authentizität als Grundbedingung von Kommunikation erst hervorbringen sollte. Eine solche immer auch homoerotisch unterfütterte, aber zugleich immer ästhetisch sublimierte Freundschaft zwischen standesgemäß Ungleichen, aber idealtypisch Gleichen hatte Ludwig II. seit seiner Begegnung mit Wagner vergebens gesucht und im Bewusstsein der Vergeblichkeit schließlich bewusst inszeniert. Die Einrichtung der Separatvorführungen ab 1872 für den theaterbegeisterten Monarchen dienten nicht nur dazu, ihm ein schaulustiges und daher lästiges Publikum fern zu halten. Vielmehr wird deutlich, dass der Ausschluss Dritter aus dem Theaterraum es leichter machte, die ästhetische Distanz zwischen dem Betrachter und der Bühne aufzuheben, ja, dem König mochte es nun scheinen, als seien die Worte des Schauspielers direkt und authentisch an ihn, den unsichtbar im Dunkel sitzenden Betrachter gerichtet, ein Dialog nicht auf der Bühne, sondern zwischen den Dramenfiguren und ihm, dem König, der incognito im Bühnenraum sich so jede Figur als Dialogpartner aneignen konnte. Die Bühneninszenierung und die
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Deklamation bildeten hier nur den Sockel einer weiteren Inszenierungsebene, die der Monarch für sich allein, im imaginären Zwischenraum zwischen der Theaterrampe und seinem einsamen Logensitz, entwarf, eine Inszenierung, deren Koordinaten er keineswegs dem Zufall überlassen konnte, sollten die Effekte täuschend echt ausfallen. DAS LEBEN ÜBERNIMMT DIE KUNST: LITERARISCHE ROLLENSPIELE
Unter solchen Voraussetzungen gestaltete Ludwig II. seine Freundschaft zu dem jungen und gut aussehenden österreichischen Schauspieler Josef Kainz, den er im Jahr 1880 zum Hofschauspieler am Münchner Nationaltheater berief. Ein Modell für die von dem Monarchen für die Schweizer Reise ausgewählte Form der Beziehung entnahm Ludwig II. dem Stück von Victor Hugo Marion Delorme, in dem ein jugendlicher bürgerlicher Held, Didier, im Gefängnis im Namen der Gerechtigkeit eine Freundschaft mit dem älteren Marquis de Saverny eingeht, die für beide mit dem Tod auf der Guillotine endet. Freundschaft und Selbstaufopferung für den anderen bis auf den Tod: Konnte es etwas geben, was bühnengerechter und idealisch zugleich war? Unter dieser Devise wählte König Ludwig II. auf der Schweizer Reise 1881 für sich als incognito den Namen Marquis de Saverny und für seinen Begleiter Joseph Kainz den Namen Didier, der auch die Rolle bezeichnete, die der Schauspieler in Marion Delorme am Münchner Nationaltheater dargestellt hatte. (Abb.1) Die Reise im Jahr 1881 in die Schweiz unternahmen also der Adlige Marquis de Saverny und sein bürgerlicher Begleiter und enger Freund Didier. Aber während dieser siebzehn Tage dauernden Reise an die Schauplätze des Wilhelm Tell agierten die beiden Personen nicht als Figuren aus dem Stück von Victor Hugo, sondern sie spielten nunmehr die Rollen von Melchtal und seinem vom Tyrannen gebelendeten Oheim aus Schillers Drama. Und indem sie dieses Spiel an den originalen Orten des Wilhelm Tell und der Schweizer Gründungslegende inszenierten, sollte das Spiel selbst zum wahren Leben und die handelnden Personen zu ihrem wahren Selbst finden. Wenn Joseph Kainz alias Didier im Medium von Schillers Diktion und einer ursprünglichen Landschaft die Rolle des Melchtal nicht nur spielen, sondern erneut nachleben würde, dann, aber nur dann könnte auch Ludwig II. alias Marquis de Saverny seinen Königs- und Adelstitel in der Imagination ablegen und blind, allein in den Worten den jungen Melchtal sein eigenes wahres Freundschafts-Ich jenseits aller Standesgrenzen erkennen. Der König bleibt auch in dieser Inszenierung vorgeblich nur der Betrachter, aber er ist vor allem auch der Regisseur eines auf der Realität fußenden und doch imaginären Dramas, in dem er letztlich die dominante Hauptrolle einnimmt. Dass die um dieses Zentrum kreisenden ständeübergreifenden Rollenspiele vor
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Abb.1 Ludwig 1881.
dem absolutistischen Ich versagen müssen, ist in der Versuchsanordnung schon angelegt. Gerade weil das Konstrukt einer solchen Verwandlung auf Zeit so prekär erschien, ja, weil nicht einmal sichergestellt war, dass der Schauspieler wie auch der königliche Zuschauer ihre jeweiligen Rollenwechsel meistern würden, durfte nichts dem Zufall überlassen bleiben, jede Störung von Stimmung, Atmosphäre, Setting und Ausstattung musste ausgeblendet werden. Ort und Rezitation einer bestimmten Szene aus Wilhelm Tell wurden passgenau gewählt. Damit nicht genug: Die jetzt erst zum wahren Leben erweckte Person Melchtal sollte nun auch realiter alles das ausagieren, was Schiller sie in seinem Drama nur berichten lässt. Der Film Ludwig 1881 insistiert auf diesem absolutistisch aufgeworfenen Imperativ von Authentizitätskonstruktion. Die Erfahrung von Ursprünglichkeit ist auch im Erwartungshorizont des Monarchen an die Bewältigung einer gefahrvollen, Selbstopfer verlangenden ursprünglichen Landschaft geknüpft, wie sie das Schweizer Seen- und Alpenpanorama exemplarisch vorzuführen schien: Liebliche und stimmungsvolle Seen konnten durch Stürme zu gefährlichen Fluten mutieren, schimmernde Gipfel und Gletscher zu tödlichen Felswänden und Spalten aufreißen. Im Namen der großen Gefühle ist jedoch keine Gefahr zu groß. Wie Schillers Protagonist zur Zeit der Gründung der Schweiz im Jahr 1291 sollte nun, im Jahr 1881, ein zweiter Melchtal den Surenenpass und den Jochpass überqueren. Wie in Schillers Drama wollte der König als ‚geblendeter Oheim‘ seinen Hofschauspieler in Stans nach vollzogener Überquerung erwarten, um seinen dramatischen Bericht zu hören. An solchen nicht nur medialen, sondern physischen und logistischen Herausforderungen scheiterten der Hofschauspieler Kainz wie auch der Regis-
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seur Ludwig II. Beide konnten, so darf man wohl sagen, nicht aus ihrer Haut heraus und blieben trotz aller Anstrengung, die Inszenierung nicht nur mit der Realität zu überblenden, sondern sie gleichsam in eine höhere Realität zweiter Ordnung zu zwingen, die, die sie zuvor und immer schon gewesen waren: in dieser spezifischen Konstellation womöglich noch mehr und deutlicher als sonst. Eine endgültige Trennung der Protagonisten nach dieser Reise und die Rückkehr auf ihre jeweiligen Positionen schienen das voraussehbare Ergebnis des Projekts zu sein. DAS DOKUMENT DER FREUNDSCHAFT: DIE FOTOGRAFIE
Mit diesem Scheitern gab sich der königliche Regisseur nicht zufrieden. Was die gemeinsame Reise und das unmittelbare Zusammensein mit dem Schauspieler nicht leisten konnten, das sollte nun die mediale Inszenierung im Fotostudio nicht nur punktuell belegen, sondern auf Dauer verewigen: das Bild der Verbundenheit, die Gleichheit der gleichgesinnten edlen Freunde. Am Ende der Schweizer Reise ließ sich Ludwig II. mit seinem Hofschauspieler von dem Fotografen Synnberg in Luzern fotografieren, in einem außergewöhnlichen und ganz unstandesgemäßen Doppelporträt. Im Medium der gestellten Fotografie wurde nunmehr das beglaubigt, was die Realität verweigert hatte. Seit dem Foto mit seiner Verlobten Sophie (auch dies Dokument einer in der Folge skandalträchtig gelösten Verbindung) waren dies die ersten
Abb.2 Zwei Fotos von Synnberg von 1881.
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Aufnahmen, die Ludwig zusammen mit einer anderen Person zeigten, und wie schon das Verlobungsfoto, dieser Versuch der Behauptung dynastisch gebotener Normalität in der Verbindung zu einer Frau, so waren auch diese Fotografien trotz ihres dokumentarischen Anspruchs ein gewollter fake, ein bloßes Wunschbild. (Abb.2) Eine dieser Aufnahmen zeigt den jungen Schauspieler Kainz oder vielmehr sein Incognito Didier, der auf einem Stuhl sitzt. Neben ihm steht der deutlich gealterte König in seiner Verkleidung als bürgerlich gewandeter Marquis de Saverny, in offenem Widerspruch zu den hierarchischen Konventionen. Das zweite Foto geht noch weiter darin, diese behauptete Überschreitung von Standesgrenzen vorzuführen. Nun sitzt der König auf dem Stuhl, der Schauspieler steht hinter ihm und legt ihm, ganz offensichtlich auf Anweisung, als Zeichen seiner Freundschaft die Hand auf die Schulter. Die Fotografien verbürgen auf diese Weise im Nachhinein die ideale Gemeinschaft der beiden Männer jenseits der ständischen Grenzen. Diese intime Annäherung des königlichen Protagonisten an seinen Hofschauspieler, wenngleich nur im Bild, konnte als skandalös gelten. Nach dem Tod von Ludwig II. wurde im Auftrag des Hofs die auf der Schulter des Königs liegende Hand des Joseph Kainz retouchiert. Mit dieser Korrektur wurde auch das Rollenspiel aufgehoben: Das Bild zeigte nun nichts anderes mehr als die Fotografie des Königs und seines Hofschauspielers.
EIN LEBEN IN WUNSCHKULISSEN
Der bayerische König hatte bereits lange Übung darin, die Banalität realer Gegebenheiten auszuschalten und sie ganz neu zu verkleiden. Seine berühmten Schlösser sind Fluchtpunkte, die sich auf solche mittelalterlichen Sagen stützen, welche vor allem durch Wagners musikalische Neuformierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das kulturelle imaginaire prägten. In der Figur des unverstandenen und verkannten Schwanenritters Lohengrin fand Ludwig II. eine seiner Rollenadaptationen. Die Umsetzung der Sage in eine private Inszenierung geschah allerdings unter Zuhilfenahme modernster Bau- und Ausstattungstechniken, die er in Bayern auch öffentlich förderte. Um eine authentische Wirkung zu erzielen, musste die Illusionstechnik auf dem neuesten Stand sein: Nur dann war auch die Täuschung, die überhaupt erst die imaginäre Metamorphose ermöglichte, perfekt. In dem kleinen Rokokoschloss Linderhof ließ der König die Blaue Grotte von Capri nachbauen. Ein Kuppelbau wurde über einem künstlichen Gewässer errichtet und von außen mit Erde zugeschüttet, so dass der Eindruck von Natur
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erhalten blieb. Im Inneren der Grotte waren Beleuchtungsanlagen installiert, die fünf verschiedene Farb- und Stimmungsvarianten ermöglichten. Die Bedienungspulte waren hinter Felskulissen versteckt. Der Film Ludwig 1881 macht diesen nur scheinbaren Widerspruch in der Nutzung moderner technischer Verfahren für bühnenähnliche Effekte deutlich: Eine Maschine erzeugt leichte Wellen auf der Wasseroberfläche, die sich wiederum als Farbenspiel an der Decke und an den Wänden spiegelt. Eine andere Maschine erzeugt durch einen Scheinwerfer im Wasserdunst einen künstlichen Regenbogen. Durch eine Laterna magica werden Projektionen von Orten und Szenen an die Wände geworfen.
Abb.3 Ludwig in der Blauen Grotte in Linderhof.
In diesem Ambiente führte Ludwig II. seine persönliche Verwandlung in den Schwanenritter vor: Er stand in einem Boot, das die Form eines weißen Schwans aufwies, und fütterte echte Schwäne, die sein Boot geleiteten. (Abb.3) Auch Schloss Neuschwanstein trägt schon im Namen eine Reminiszenz an Lohengrin. Das Schloss ist als mittelalterliche Burg konzipiert; sie enthält in einem zentralen Trakt einen Nachbau des Saales auf der Wartburg, wo der Wettstreit der mittelalterlichen Minnesänger stattfand, jener Sängerkrieg, den Richard Wagner im Tannhäuser als zentrale Episode der dramatischen Handlung verwendete, sowie weitere legendäre, in sakralisierte Räume gebannte Ursprungsund Gründungsmomente, wie etwa den Parzival-Zyklus. Neuschwanstein ist allerdings gleichzeitig erbaut wie die Wolkenkratzer in Chicago und der Bauherr ließ auch die gleichen Konstruktionselemente, nämlich Eisenträger, verwenden, die allerdings sorgsam kaschiert wurden.
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Das Schloss Herrenchiemsee versteht sich als Reminiszenz auf Versailles und das von Ludwig XIV. implementierte Gottkönigtum, in dem Ludwig II. sich als verspäteter Nachfahre wiedererkannte: Die Spiegelgalerie von Versailles wurde hier nachgebaut, sie war noch einmal drei Meter länger als das Original. Die Monumentalität des Vorbilds stellte allerdings eine fast unlösbare Aufgabe dar, die zu Lebzeiten des Bauherrn und seiner immer weiter reichenden Pläne nicht bewältigt wurde. Der König ließ angesichts der mühsamen, durch finanzielle Probleme immer wieder verschobenen Bauarbeiten in den Gärten vor dem Schloss Kulissen aufstellen, die seine Theatermaler fertigten: Sie fungierten als Simulation dieses zweiten Versailles und seiner Idee eines sublimierten Absolutismus, die in der bürokratisierten Welt des 19. Jahrhunderts aus jedem Rahmen fiel. An den Fenstern des unvollendeten Schlosses zeigten sich kostümierte Puppen als Statisten jener vergangenen Zeit, die nun mit allen Mitteln: Bauten und Kulissen, wieder zum Leben erweckt werden sollte. (Abb.4)
Abb.4 Provisorische Heckenkulisse in Herrenchiemsee, Zeitschriftenillustration von 1866.
Alle diese Verfahren der lebensechten Imitation von anderen Räumen und damit der Erzeugung von Heterotopie dienen jedoch nicht allein einer bühnengerechten Dekoration: Sie sind nur Prozeduren, die es im besten Fall möglich machen, dass die selbst gewählte Figur und ihre Rolle mit der Umwelt verschmelzen. Tatsächlich geht es nicht darum, etwa Lohengrin darzustellen, sondern sich seine mythische Aura anzuverwandeln. Der Film Ludwig 1881 versucht dieses Projekt zu fokussieren, denn gerade auch die Schweizer Reise 1881 stand unter diesem Vorbehalt. Allerdings kann vermutet werden, dass Ludwig II. hoffte, in der Schweiz selbst jene ursprüngliche Umwelt vorzufinden, die keine oder nur minimale artifizielle Korrekturen benötigte.
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GENERIERUNG EINES URSPRUNGSMYTHOS ODER STAGING THE ORIGINS
Das Scheitern des von Ludwig II. initiierten Experiments war jedoch schon dadurch impliziert, dass die angeblichen Originalorte der Gründungslegende keineswegs jene Originalität der Ereignisse beglaubigen konnten, die ihnen von Schiller zugeschrieben worden war. Zwar sind Schillers Ortsangaben so konfiguriert, dass sie die wilde Unberührheit der Landschaft und den von zivilisatorischen und ständischen Konventionen unberührten Gemeinschaftssinn der Einwohner in eins setzen. Die karge Landschaft selbst verkörpert die Unbeugsamkeit und Unbezwingbarkeit des kollektiven Willens und die Selbstgenügsamkeit der Bewohner: Hohes Felsenufer des Vierwaldstättersees, Schwyz gegenüber. Der See macht eine Bucht ins Land, eine Hütte ist unweit dem Ufer. (1. Aufzug, 1. Szene)
oder: Zu Steinen in Schwyz. Eine Linde vor des Stauffachers Hause an der Landstrasse, nächst der Brücke. (1. Aufzug, 2. Szene)
oder: Eine eingeschlossene wilde Waldgegend, Staubbäche stürzen von den Felsen. (3. Aufzug, 2. Szene)
oder eben: Die hole Gasse bei Küssnacht. (4. Aufzug, 3. Szene).
Auch die Reisenden im Jahr 1881 markieren die Landschaft nach solchen Merkmalen. Allerdings waren die angeblichen Originalschauplätze Ende des 19. Jahrhunderts selbst schon das Ergebnis einer sorgsam touristisch aufgewerteten Inszenierung, die zugleich als geschichtliches Gedächtnisbild für die Schweizer selbst festgelegt wurde. Dies erschien umso notwendiger, als sich die Schweiz und ihre territorialen Grenzen nach dem Wiener Kongress 1815 weder als ein klar geographisch definiertes Gebilde noch als kulturell eindeutig bestimmte Identität präsentierte. Die vier Hauptsprachen und die Vielzahl der lokalen Dialekte stellten eine singuläre Ausnahme im europäischen Kontext dar. Die religiösen Konflikte zwischen den Kantonen mit katholischer oder reformierter Konfession führten 1847 sogar zu militärischen Eskalationen. Die Gegensätze zwischen den bäuerlich geprägten armen Kantonen und den zunehmend von der Industrialisierung erfassten Städten vertieften sich. Der politische Rückgriff auf die mittelalterliche Tell-Legende und den Schwur der Urkantone, ein gemeinsames Bündnis zu schließen, stand Pate für die Überführung des losen Verbands der einzelnen Kantone in einen Bundesstaat 1848. Die Legende wird zum Gründungsmythos, die Landschaft, in der die Gründungsgeschichte sich verfestigt, wird zum Memorialort, der immer fort inszeniert wird: am eindrücklichsten in Schillers Wilhelm Tell.
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DIE HEROISCHE BESETZUNG DER LANDSCHAFT
Oberhalb des Ortes Brunnen bei Morschach befindet sich eine Stelle, von der man sowohl auf das Urnerbecken wie auch auf das Gersauerbecken sehen kann. An diesem Ort stehen heute zwei große exotische Bäume. Sie gehörten zu einem Luxushotel, das am Ende des 19. Jahrhunderts hier gebaut wurde und nicht mehr existiert. Wie andere ähnlich platzierte Hotels sollte auch dieses Gebäude Aussicht und Ansicht zugleich garantieren: Aussicht auf eine eindrucksvolle Landschaft und Ansicht ihrer historisch und symbolisch aufgeladenen Bedeutung. Schon der Genfer Landschaftsmaler Alexandre Calame hatte ebendiesen Aussichtspunkt mit dem Blick auf den Urnersee als zentrale Kulisse für eines seiner historischen Gemälde gewählt: Die Landschaft und die ihr eingeschriebenen historische und mythische Erzählung ersetzen hier notgedrungen die heldischen Figuren der Historienmalerei. Die heroische Dimension der Ereignisse wird nun in die Naturkulisse verlegt. (Abb.5)
Abb.5 Alexandre Calame: Der Vierwaldstättersee, 1849.
Von einem der Hotels aus sah man jeweils auf die anderen Hotels, die wie verspätete mittelalterliche Burgen und Schlösser auf den Bergen oder an den Seeufern anmuteten. Erst durch diese scheinhistorischen Markierungen erhielt die Landschaft ihre inszenatorische Qualität. Auch das Wetter war als Teil dieses Naturschauspiels eingeplant. Mal blitzten die weißen Flächen der Hotels im hellen Sonnenlicht auf, mal waren sie durch den Nebel wie eine Fata Morgana nur zu erahnen. Diese Hotels in Brunnen, Morschach, Seelisberg, Bürglenstock, Gersau, Luzern, Rigi Kulm und auch noch andere bildeten somit ein kalkuliertes ästhetisches Gesamtarrangement, das die Orte der Ursprungslegende in das
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richtige Licht rückten. Ein Stein, der vor dem Rütli aus dem See ragte, wurde durch das simple Anbringen einer Plakette zum Schillerstein deklariert. Der Schweizer Hotelierverband hat diesen Effekt bewusst eingesetzt und weitere solche mythischen, historischen, ästhetischen Fixpunkte implementiert. Im Jahre 1858 wollte der Eigentümer des Rütli an dieser Stelle ebenfalls ein Hotel bauen. Die Grundmauern waren schon errichtet. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft erfuhr davon und organisierte eine Sammlung der Schuljugend, um die Wiese zu kaufen. Diese sollte nun zum Nationalheiligtum ausgebaut werden. Man pflanzte Büsche und Bäume, um dem Ort wieder den Charakter einer ländlichen Verschwörungsstätte zu geben. Ein Bauernhaus wurde neu errichtet, und zwar in einem romantischen Schweizer Chaletstil. Auch der Schwurplatz selbst sollte neu gestaltet werden. So reichte auch der Gottfried Semper, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Architekt des Operntheaters in Dresden und des Wiener Burgtheaters, ein Projekt ein. Sempers Vorschlag wurde vehement abgelehnt, weil er nicht hinreichend natürlich erschien. Zuletzt wurden einige Kalksteine zu einem künstlichen Naturarrangement zusammengeschichtet. Für die hohe symbolische Qualität dieses (äußerlich wenig spektakulären) Orts spricht die Tatsache, dass König Ludwig II. von Bayern schon bei seiner ersten Reise in die Schweiz 1865 das Rütli käuflich erwerben wollte, um dort ein Schloss zu errichten. Seine Enttäuschung über die Ablehnung war groß. An der Stelle am Ufer, wo Wilhelm Tell sich von dem sturmgepeitschten Schiff an Land flüchtete und auf eine Felsplatte sprang, wurde eine Tells-Kapelle errichtet. Hier wollte Ludwig eine monumentale Statue errichten lassen, durch deren Beine auch größere Schiffe hätten durchfahren können, eine Art Koloss von Rhodos am Vierwaldstätter-See. Auch diese Idee musste Ludwig begraben. Jedoch stiftete er vier Fresken für die Renovierung der Tells-Kapelle. 1881 waren sie fast fertig gestellt. Die Wandgemälde zeigten die Apfelschuss-Szene, den Tellssprung, den Hinterhalt in der hohlen Gasse und den Schwur der Eidgenossen am Rütli vor dem Naturschauspiel eines Regenbogens. Diese vier Fresken bilden den Gründungsmythos der Schweiz in nuce ab, als theatralische Verdoppelung und Konzentrat der sie umgebenden Memorialorte. INSZENIERUNG DER INSZENIERUNG IM FILM
Bisher war vor allem von jenen Inszenierungen die Rede, die sich jenseits der Kamera abgespielt haben. Das Medium Film wiederum hat seine eigenen Verfahrensweisen, um spezifische Effekte von Inszenierung zu erzeugen. Vor Beginn der Produktion von Ludwig 1881 waren eine Anzahl von ästhetischen und auch technischen Entscheidungen zu treffen, um die oben genannten komplexen
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Inszenierungsmodi der historischen Protagonisten ihrerseits in einen filmischen Modus zu überführen. Eine der ästhetischen Entscheidungen bestand in der Reduktion von Bewegung auf statische ‚bühnengerechte‘ Szeneneinstellungen. Es gibt in dem Film keine Kamerafahrten, es sei denn, die Kamera befindet sich auf einem Vehikel: auf einem Schiff, in einer Kutsche oder in einer Eisenbahn. Durch die Wahl des breiten Formats 1:1.85 und das statische Kamerakonzept ergibt sich eine dem Theater ähnliche Ansicht. Dieser Bühneneffekt wurde verstärkt dadurch, dass in einzelnen Szenen selbst eine Bühne ins Bild gestellt wird: Vor der Rezitation des Schillertextes aus Wilhelm Tell durch die Figur des Joseph Kainz alias Melchtal werden Theaterkulissen und Paravents in der Landschaft aufgestellt. Die Protagonisten bewegen sich in der Landschaft und zugleich vor den Kulissen, die Schillers Bühnenanweisungen darstellen. Die Natur wird selbst zur Kulisse eines historischen Dramas, das seinerseits Bestandteil und Ingredienz dieser Landschaft ist. Die Beleuchtung wird durch die Tageszeiten und das Wetter vorgegeben, Bedingungen, die nicht kontrolliert werden können. Für die Szene auf dem Rigi, wo die Figur Kainz/Melchtal das aufgehende Sonnenlicht begrüßen soll, lag die Wahrscheinlichkeit für Nebel bei 65 Prozent. Dafür wurden zwei Tage eingeplant, um die Wahrscheinlicht für eine klare Sicht des Sonnenaufgangs zu erhöhen. Auf dem Gipfel des Rigi wurde eine Aussichtsplattform errichtet, auf der die Szene spielen sollte. Vorsichtshalber wurde alternativ ein Dialog für die Szene im Nebel vorbereitet, sollte die ursprünglich geplante Szene mit Fernsicht auf die Berge und Seen wegen ungünstiger Wetterbedingungen nicht realisiert werden können. (Abb.6)
Abb.6 Dreharbeiten auf dem Rigi, bei Nebel (links) und bei Sonnenschein (rechts).
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Da am ersten Tag Nebel über dem Gipfel lag, wurden die Dreharbeiten unterbrochen. Als auch am zweiten Tag Nebel herrschte, wurde entschieden, in der Abenddämmerung nun die ‚Nebelvariante‘ zu drehen. Doch während die Schauspieler diese Szene schon spielten, kam überraschend die Sonne durch und gab den Blick in die Ferne frei. Daher gibt es im Film zwischen dem Dialog und dem Szenenbild eine unfreiwillige Verschiebung, was sich im Film wie eine zuletzt auch erwünschte ironische Pointe über die symbolische Aufladung dieses Sonnenaufgangs am historischen Ort ausnimmt. Da der Film auf 35mm-Material analog gedreht und geschnitten wurde, waren die Möglichkeiten von Veränderungen des Bildmaterials während der Dreharbeiten und auch während der Postproduktion sehr beschränkt. Trotz der historischen Umgebung, vor allem der in den Schlössern Ludwigs II. gedrehten Aufnahmen, trotz der Kostüme und der Diktion von Schillers Drama zeigt der fertige Film den fast ‚naturalistischen‘ Stil eines konkreten touristischen Reiseablaufs. Denn das waren sie doch zu allerletzt, der König und sein Hofschauspieler: normale Touristen, die ein bisschen Theater spielen wollten. Aber in der längst auf ein Massenpublikum ausgerichteten und hergerichteten Schweizer Naturkulisse blieb Ludwigs Wilhelm Tell bloßer theatralischer Budenzauber. LUDWIG II. DARSTELLEN: DIE REDUPLIKATION EINER ROLLE
Für die Figur von Ludwig II. eine passende Besetzung zu finden, war nicht einfach. Die Figur sollte im Moment ihres Auftritts, auch ohne Dialog, eine besondere Aura und Autorität ausstrahlen, die mit ihrer selbst gewählten Extravaganz auf natürliche Weise harmonierte. Tatsächlich war für die Rolle in einem ersten Moment der Regisseur Werner Schroeter in der Diskussion, dessen eigene Vorstellungen von Artifizialität und ästhetisierter Gefühlswelt von der Imagination des bayerischen Königs nicht allzu entfernt schienen. Ein nächstes Wagnis war es, die Rolle dem Schauspieler Helmut Berger anzutragen, der schon 20 Jahre zuvor im Film Ludwig II. von Luchino Visconti den strahlenden jungen König und dessen tragischen Verfall gespielt hatte und damit zu einer Ikone der Filmgeschichte geworden war. Das Engagement von Helmut Berger, der sich entgegen allen Erwartungen bereit erklärte, noch einmal den bayerischen König, diesmal nur den gealterten Monarchen, im Film Ludwig 1881 darzustellen, veränderte das gesamte Konzept der filmischen Inszenierung. (Abb.7) Das idealtypische Bild von Ludwig II., vorgegeben durch das berühmte Gemälde des jungen Monarchen im Alter von zwanzig Jahren, war durch Viscontis Nachschöpfung mit dem Gesicht und der Gestalt des jungen Helmut
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Abb.7 Helmut Berger in Ludwig II. von Luchino Visconti.
Berger so überblendet worden, dass der Schauspieler tatsächlich im kulturellen Bildgedächtnis den Platz des Königs eingenommen hatte, als bleibende Verkörperung der mehr und mehr ungreifbaren historischen Person. Das Remake von Helmut Bergers Auftritt als König Ludwig II. bedeutete, diese Figur bewusst in ein Verhältnis zu Viscontis Inszenierung zu setzen, das heißt, zu einer Historie, welche die des Mediums Film einerseits und der Biografie von Helmut Berger andererseits ist. Natürlich greift der Film Ludwig 1881 nur eine Episode aus dem Leben des Monarchen heraus, wobei durch den Rückgriff auf den gleichen Schauspieler als Darsteller des Monarchen und zum Teil die gleichen Drehorte Inhalt und biografische Ausdeutung von Viscontis großem Film als bekannte Referenz vorausgesetzt werden können und auch vorausgesetzt werden. Ludwig 1881 baut gewissermaßen auf diese Weise auf dem Vorgängerfilm auf. Die zwanzig Jahre, die seit dessen Entstehung vergangen waren, hatten nicht nur den Umgang mit dem Medium Film verändert, sondern ebenso den Umgang mit den Bildermythen im Film: War der hochfliegende Mythos des schönen jungen Königs und die Prägekraft seiner Bilder schon im Film von Visconti zum Verfall und zum (biografisch gesicherten) Untergang bestimmt, so erscheint die Schweizer Episode 1881 im Vergleich dazu als doppelt gebrochener Versuch, dem Mythos in der bewusst geplanten Inszenierung noch einmal die Aura jugendlicher Ursprünglichkeit zurückzugewinnen, die weder die Rolle des gealterten Königs Ludwig II. noch die Darstellung des um zwanzig Jahre älteren Schauspielers Helmut Berger zurückzuholen vermochten. (Abb.8) Die Verdoppelung seiner Rolle, die Helmut Berger in Ludwig 1881 ausagierte, legte auf sein Spiel die melancholische Sehnsucht und die Nostalgie des
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Abb.8 Helmut Berger in Ludwig 1881.
Vergangenen wie auch die Vergeblichkeit der jugendlichen Illusionen. Seine Darstellung ist durchdrungen von der Reminiszenz an die zwanzig Jahre zuvor an den gleichen Drehorten gespielte Rolle im Film Viscontis, die, so darf man sagen, die Rolle seines Lebens war. Insofern war es wichtig, dem Schauspieler die Freiheit zu lassen, seine eigene persönliche Erinnerung sowie auch die Reminiszenz an seine ikonische Filmrolle in seine Darstellung einzubringen. NACH DER DIGITALEN REVOLUTION
Heute, zwanzig Jahre nach den Dreharbeiten zu diesem Film und nach einer digitalen Revolution, hat sich sowohl die Aufnahmesituation wie vor allem auch die Postproduktion völlig verändert. Das Verhältnis von Artifizialität und inszenierter Realität stellt sich unter den Bedingungen einer unlimierten Veränderungsmöglichkeit von digital produzierten Bildern neu. Die Frage nach den making of gewisser Spezialeffekte ist weitgehend hinfällig geworden. Damit stellt sich auch ein neues mediales Unterscheidungsvermögen für die Durchlässigkeit von künstlichen Bilderwelten für naturalistische Rezeptionsweisen ein. Die ästhetischen Grenzziehungen zwischen den Inszenierungsmodi werden anders verlaufen. WEITERFÜHRENDE LITERATUR Bilder vom Vierwaldstättersee. Katalog zur Ausstellung des Kunstmuseums Luzern vom 10. Juni bis 1. Oktober 2006, kuratiert von Peter Fischer, Christoph Lichtin.
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Paola-Ludovika Coriando: Helmut Berger. Ein Leben in Bildern. Berlin, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2012. – Dieser monumentale Bildband ist selbst ein Dokument einer Selbstinszenierung. Er enthält 500 Fotos aus dem Leben des Schauspielers, davon 42 von den Dreharbeiten von Ludwig 1881. Dazu beschreibt Helmut Berger aus seiner Sicht den Ablauf der Dreharbeiten. Der König und der Hofsschauspieler – Ludwig II. und Josef Kainz: Zwei Aufnahmen eines Luzerner Photographen. Fosco Dubini, Neue Zürcher Zeitung, 7./8. Sept. 1996. Ludwig II. Spielfilm, 1972, Regie: Luchino Visconti, Drehbuch: Luchino Visconti, Enrico Medioli, Suso Checchi D’Amico, Vertrieb DVD: arthouse.de Ludwig 1881. Spielfilm, 1993, Regie: Fosco Dubini, Donatello Dubini, Drehbuch: Fosco Dubini, Donatello Dubini, Barbara Marx, Martin Witz, Vertrieb DVD: artfilm.ch. Trailer: www.trevallifilm.ch. Peter Wolf, Richard Loibl, Evamaria Brockhoff (Hg.): Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Katalog zur Bayerischen Landesaustellung 2011 im Schloss Herrenchiemsee vom 14. Mai bis 16. Oktober 2011, Hg. Haus der Bayerischen Geschichte. (In dem Katalog gibt es viele detaillierte Angaben zum Einsatz der Technik bei Ludwig II.)
CÉLINE KAISER
NOISE AND VOICE. ZUM EINSATZ VON STIMME UND GERÄUSCHEFFEKTEN IN DER GESCHICHTE DER PSYCHOTHERAPIE SEIT DEM 18. JAHRHUNDERT.
1. DAS GEWALTIGE NIESEN ODER: DIE MAGIE DER COUCH
Niesen ist eigentlich gar kein Spezialeffekt. Auch kein special effect.1 Denn immerhin handelt es sich beim Niesen um einen natürlichen Vorgang, also gerade um keinen Einsatz gewiefter Tricktechnik, mit Hilfe derer etwa im Spielfilm Phänomene simuliert und die visuelle oder akustische Wahrnehmung gesteigert werden könnten.2 Doch unter bestimmten Umständen, unter Rahmenbedingungen, die man durchaus als außergewöhnlich, dem Allerweltserleben entrückt beschreiben könnte, ja unter solchen Gegebenheiten kann es vielleicht doch sinnvoll sein, über das Niesen als akustischen special effect respektive sound effect nachzudenken. Eine solche Gegebenheit schildert Tilmann Moser in seinen Lehrjahre[n] auf der Couch aus dem Jahre 1973. Das Nießen [sic!] kam unvorbereitet, schnitt mit Naturgewalt alles ab. Es schmiß mich sozusagen in den Graben, ich flog beiseite und suchte Deckung, von der Kränkung der Unterbrechung einmal ganz abgesehen. Im Anfang kannte ich den Dreierrhythmus noch nicht, kam also zu früh aus dem Graben wieder heraus, ordnete unvorsichtig und ohne Deckung meine psychischen Gliedmaßen; da kam die zweite Explosion, die mich noch weiter ins freie Feld warf. Diesmal robbte ich schon vorsichtiger zum Gefahrenherd zurück und warf mich beim ersten kleinen Warngeräusch platt auf den Boden, so daß ich den Endknall relativ gut überstand. Danach war eine Weile Ruhe.3
Moser entwirft eine dichte Szenenfolge, die in ihrer Bildlichkeit (Graben, Explosionen, freies Feld, Vorwärtsrobben, Suche nach Deckung) auf Darstellungen des Ersten Weltkriegs oder allgemeiner: auf Kriegsfilme oder Frontromane 1 Zu Unübersetzbarkeiten, systematischen Fernen und Nähen zwischen Magie, Spezialeffekt, special effect und Phantasmagorie siehe die Überlegungen von Ralf Bohn in diesem Band. 2 Doch schon ein Blick auf die einschlägigen Einträge bei Wikipedia belehrt darüber, dass ein Soundeffekt durchaus „ein natürlich oder künstlich erschaffenes bzw. technisch verändertes akustisches Signal“ sein kann, welches „dem Zuhörer eine veränderte Realität suggerieren soll“. Neben den zunächst in den Sinn kommenden digitalen Quellen wird auch herausgestrichen, dass „[viele] Soundeffekte […] auf alltäglichen Geräuschen [basieren]“. (Artikel auf Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/ Soundeffekt; letzter Zugriff 09.09.2012) 3 Tilmann Moser: Lehrjahre auf der Couch. Bruchstücke meiner Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1973, S.74.
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verweist. Die Detonationen des Niesens schleudern ihn in den Schützengraben, den er besser erst verlässt, wenn die Schlacht im dritten „Endknall“ geschlagen ist. Das Niesen des Analytikers ist der akustische Auslöser für ein rasantes Kopfkino. Denn rein äußerlich passiert nicht viel in dieser Passage: Moser liegt auf der Couch, der Analytiker sitzt in seinem Sessel und niest. Und doch ist es gerade die Art und Weise, wie in Mosers Bruchstücke[n] meiner Psychoanalyse, wie der Untertitel seiner ersten Autobiographie als Lehranalysand heißt, Analysand und Analytiker miteinander in Szene gesetzt werden, welche die imaginäre Filmprojektion in Gang setzt. Das klassische Setting von Couch und Sessel, wie es zur Entstehungszeit der Lehrjahre noch weitgehend orthodox gesetzt war, sieht eine strikte Trennung von Sehen und Hören, von Sehen und Gesehen-Werden vor. Der Sessel des Analytikers steht in dieser Anordnung im Rücken der Couch, sodass der Analysand, der seinen Platz liegend auf der Couch einzunehmen hat, ihn während der Sitzungen nicht sehen kann. Moser charakterisiert eine zentrale Wirkung dieses klassischen psychoanalytischen Settings wie folgt: Deshalb muß ich noch einmal für Nichteingeweihte wiederholen, daß man vom Analytiker, bis auf die Worte und Laute, abgeschnitten ist, und das bringt es mit sich, daß man, fast wie ein Blinder, zu einer allmählichen Steigerung der akustischen Wahrnehmungsschärfe kommt, um so mehr, als der Mensch hinter einem so viel bedeutet.4
„Worte und Laute“, ‚Noise and Voice‘ sind demnach das, was der Analysand, während er auf der Couch liegt, von seinem Therapeuten überhaupt zur Kenntnis nimmt. Verstärkt wird diese Fokussierung auf akustische Reize durch die Raumgestaltung des analytischen Behandlungszimmers. Wie ein Labor ist dieses abgeschottet von Außenreizen, ein abgeschlossener, störungsfreier Raum, zu dem während der Dauer einer Sitzung niemand anderes als der Analytiker und sein Analysand Zutritt haben. Durch Doppeltüren oder klassische Einrichtungselemente wie den Wandteppich, der zum vielfach kopierten und seit Jahrzehnten musealisierten „Ur-Setting“ der Psychoanalyse zu zählen ist, Freuds Arbeitszimmer in der Wiener Berggasse oder in Maresfield Gardens in London, kann diese Abschottung gegen Geräusche von außen noch verstärkt werden.5 (Abb.1)6 4
Ebd., S.75. Zur wegweisenden Bedeutung des Freudschen Settings siehe die Arbeiten von Claudia Guderian: Die Couch in der Psychoanalyse. Geschichte und Gegenwart von Setting und Raum. Stuttgart 2004, und den korrespondierenden Katalogband Die Magie der Couch. Bilder und Gespräche über Raum und Setting in der Psychoanalyse. Stuttgart 2004. An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, mich für die anregenden Diskussionsbeiträge auf dem Symposium „Magie der Effekte“ zu bedanken! 6 Die Abbildungsrechte dieser auf Wikipedia zur allgemeinen Nutzung bereitgestellten Abbildung liegen bei Konstantin Binder. Siehe http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Freud_Sofa.JP G&filetimestamp=20041207190259. 5
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Abb.1 Freuds Arbeitszimmer, Freud-Museum London.
Stille herrscht im analytischen Behandlungszimmer – außer einer der beiden Protagonisten produziert Worte und Laute. Ein starkes Niesen kann in diesem Arrangement wie ein Spezialeffekt wirken, weil die – wie Moser in seinen späteren kritischen Auseinandersetzungen mit der klassischen Psychoanalyse nicht müde wird anzuprangern – partielle sensorische Deprivation einen idealen Nährboden für akustische Wahrnehmungssteigerungen bietet. Der überbordende Knalleffekt des Niesens ist allerdings nicht das wesentliche Moment, das hier die Rede von Spezialeffekten rechtfertigen könnte. Folgt man der Definition, die Barbara Flückinger in ihrem Buch Visual Effects vorgelegt hat, kommen stärker narratologische Aspekte in den Blick, die für Fragen nach den Effekten und der Magie von Inszenierungen zentral sind. Flückinger betont das Spannungsverhältnis von Täuschung, Simulation, Sich-Täuschen-Lassen auf der einen und Bewunderung für die Technik der special effects auf der anderen Seite, welches für die Filmrezeption – und nicht nur für diese – konstitutiv ist. Sie arbeitet heraus, dass Spezialeffekte auf einem „Doppelspiel“ beruhen, das sich „zwischen dem Glauben an die Wirklichkeit der dargestellten Vorgänge“ und „der gleichzeitigen Bewunderung für die Leistung des Kinos“ bewegt. Das heißt, ein Spezialeffekt kommt genau dort zur Geltung, wo Medialität im Dienste einer intakten Diegese einerseits unsichtbar bleibt und zugleich ein Bewusstsein für Artifizialität, für mediale Kunstfertigkeit, auf den Plan gerufen wird. Mit Rückgriff auf psychoanalytische Filmtheoretiker wie Edgar Morin und Christian Metz nennt sie diese Doppelbewegung auch „Verdrängung“: „Verdrängung ist
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eine unerlässliche Voraussetzung dafür, dass die Diegese intakt bleibt, während die Bewunderung auf der Ebene des Diskurses angesiedelt ist.“7 Im zitierten Ausschnitt, in welchem Moser ausführlich auf das Niesen des Analytikers zu sprechen kommt, ist die Rede „von der Kränkung der Unterbrechung“. Mosers Darstellung suggeriert folgenden Verlauf: Unterbrochen wird durch das Niesen zunächst einmal der laufende Fortgang der Sitzung, in der Moser, wohl gebettet auf seine Couch und versenkt in seine Assoziationen, seinen Einfällen ‚ungestört‘ folgen konnte. Das Niesen katapultiert ihn unsanft aus seinem stream of consciousness und lässt ihm die äußere Situation, in welcher sich beide miteinander befinden, bewusst werden. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass „von der Kränkung der Unterbrechung“8 auch gleich wieder „ganz abgesehen“ wird: Sie taucht im Redefluss Mosers auf, um augenblicklich wieder im cineastischen Bildersturm des Schlachtgetümmels unterzugehen. Oder anders ausgedrückt: Der Film, der sich für Moser im Behandlungszimmer abrollt, könnte mit dem Niesen tatsächlich unterbrochen werden. Ein Sich-Aufrichten, ein Taschentuch-Reichen, die Frage, ob der Analytiker im Zugwind sitzt, er sich verkühlt hat, oder ein beleidigtes Abwarten, bis die Sitzung weitergehen kann, würden ausreichen, um aus dem Raum der Filmprojektion, dem Kinosaal, in das konkrete Behandlungszimmer zurückzukehren. Stattdessen wird der Plot der Narration, das Genre, in welchem sich Moser vor dem Niesen bewegte, gewechselt – und der Film läuft weiter. Moser zeigt sich beeindruckt von der Wucht des Niesens, doch er verlässt das diegetische Universum seiner analytischen Sitzung nicht. Ja, die Wucht selbst wird zum Anlass für weitere „Übertragungen“, die den Analytiker gedanklich mit Dinosauriergröße und gottähnlichen Merkmalen ausstatten. Statt eines Bruches im diegetischen Universum kommt es zu einer Steigerung der Übertragungsleistung. Dass Worte und Laute sich in Mosers Beispiel so zueinander verhalten, lässt sich mit der immer wieder beschworenen „Magie der Couch“, die auch nur eine Magie des Medialen ist, motivieren. Das liegt zum einen daran, dass sich in der Analyse wie im Kinosaal eine zweite, eine „künstliche“ Welt entfaltet, eine Welt, die, wie Gregory Bateson kommunikationsanalytisch herausgearbeitet hat, in vielerlei Hinsicht dem Kommunikationsmodus des Spiels, des Als-ob, folgt.9 Diese zweite Welt wird nicht nur durch sprachliche Kommunikation, durch einen Behandlungskontrakt und ein wie auch immer privates oder kassenärztliches Reglement, sondern vor allem über die Inszenierung und Konzeption der Behandlungssituation hergestellt. 7
Barbara Flückinger: Visual Effects. Filmbilder aus dem Computer. Marburg 2008, S.29. Moser, Lehrjahre, a.a.O., S.74. 9 Gregory Bateson: Eine Theorie des Spiels und der Phantasie. In: Ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt am Main 1985, S.259f. 8
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In diesem Sinne hatte schon Theodor Reik Ende der 1940er Jahre die Frage nach der ‚Magie der Couch‘ aufgeworfen.10 Reik konstatierte zwar, dass „[a]n der äußeren Situation“ „nichts Besonderes“ festzustellen sei, ja, dass „Warte- und Behandlungszimmer eines Analytikers […] wie diejenigen jedes Arztes oder Rechtsanwalts“ aussehen würden: „Es gibt dort Tische, eine Couch und Stühle, Bücher, Bilder und Aschenbecher.“11 Dennoch stellte er Überlegungen darüber an, welche Momente auch in der szenografischen Gestaltung des psychoanalytischen Settings dafür verantwortlich seien, dass sich „eine nüchterne Situation in eine magische“ verwandeln könnte.12 Auch Reik kommt zu dem Ergebnis, dass die Trennung von Sprechen und Sehen im klassischen Setting hierfür maßgeblich sei, doch er nutzt diese Beobachtung zur Charakteristik der kommunikativen Situation, die sich daraus entfaltet. Zunächst einmal kann der Analysand den Analytiker nicht sehen, spricht aber dennoch nicht so, „als wäre er allein im Zimmer“, sondern er ist sich „der Anwesenheit des Analytikers bewußt“. Diese Anwesenheit ist jedoch nicht die der Alltagswelt: „Spricht er dann mit dem Analytiker, einem gewissen Dr. A oder Dr. B.? Nein, er spricht nicht mit ihm, sondern vor ihm, und er hat auch Zuhörer, die nicht anwesend sind.“13 Die Differenz, welche Reik an dieser Stelle behauptet, ist die Differenz von einer diskursiven Rede auf der einen und einem Reden, das ein Zeigen ist, eine Vorführung (und kein Selbstgespräch), welche sich auf sprachliche Mittel stützt, auf der anderen Seite.14 Dem Analytiker kommt in dieser Konstellation eine komplexe Aufgabe zu: Er soll in den ersten Phasen der Analyse das zeigende Reden (unter-)stützen und alles unterlassen, was die grundlegende Illusion zerstören könnte. Zugleich muss er die Grenze zwischen Realität und Phantasie aufrechterhalten, um nicht in eine folie à deux zu entgleiten. Ziel des Prozesses ist es dann schlussendlich, „die unbewußte magische Sicht des Patienten in bewußte psychologische Einsicht zu verwandeln.“15 An 10 Theodor Reik: Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers. Hamburg 1976. 11 Ebd., S.117. 12 Ebd., S.118. 13 Ebd. 14 Mitte der 1990er Jahre hat man für diese Differenz auch eine hirnphysiologische Erklärung angestrengt: „Freud hatte die Funktion der rechten Hirnhälfte entdeckt […]. Wenn sich der Patient nämlich hinlegt und ohne Blickkontakt mit dem Analytiker spricht, wird diejenige Hirnhälfte aktiviert, die für Emotionen, Phantasien und Illusionen und weniger für Logik und Kontinuität zuständig ist als die andere. […] Daraus schließt Grotstein, dass der Patient, während er liegt, nicht mehr in einen Diskurs mit dem Analytiker verwickelt ist, sondern sich auf einer tieferen Ebene in einem Diskurs mit sich selbst befindet. Der Psychoanalytiker ist nur der Kanal (channel), über den die beiden Daseinsformen miteinander kommunizieren.“ Guderian: Couch in der Psychoanalyse, S.23. Guderian bezieht sich auf J.S. Grotsteins Aufsatz A Reassessment of the Couch in Psychoanalysis. In: Psychoanalytic Inquiry, Vol. 15, Number 3, 1995, S.396. 15 Reik, Hören mit dem dritten Ohr, a.a.O., S.124. Die programmatische Vielfältigkeit der Aufgaben des Analytikers als Objekt für Projektionen, Instrument für Forschung und affektive Selbsterforschung in der Gegenübertragung etc. sei hier nur am Rande erwähnt.
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diesem Punkt kommt der diskursiven Rede wiederum zentrale Bedeutung zu: So sehr der therapeutische und namentlich der analytische Prozess von einem Re-, in anderen Formen auch einem Pre- oder Enactment, einer tendenziell traumatischen Störung abhängt, so sehr bedarf es an seinem Ende einer Transformation des zeigenden Gebarens in Sprache. Mosers Lehrjahre selbst sind Teil eines solchen Zeigens: Dem Niesen des Analytikers ist eine Passage gewidmet, die deutlich aus dem restlichen Erzählstrang herausgehoben ist – auch weil von dem, was um den Lehranalysanden herum vorgeht, sonst kaum berichtet wird. Es ist Stille auf Seiten des Analytikers, auch wenn dieser in der Rede des autobiographischen Ich-Erzählers ununterbrochen mit Fäden einer in psychoanalytischer Terminologie vorgetragenen Übertragungsliebe umgarnt wird. Das, was als ein Bruch, ein sinnloses, lautes, den Analysanden aus seinem Sprechen herausreißendes Moment hätte erlebt werden können, wird zu einem weiteren Baustein im Rede- und Deutungsfluss. Der Leser der Lehrjahre wird auf diese Weise zum Zeugen eines rastlosen Bemühens, sich – sei es aus Angst davor, dass man sich als unheilbar erweisen könnte, sei es aus dem Wunsch, selbst Mitglied der psychoanalytischen Institutionen werden zu können16 – als psychoanalytisches Subjekt zu erweisen. Die rastlos deutende Rede, die den Bruch der Diegese scheut, ist in diesem Sinne auch der Versuch einer glücklichen, wenn nicht gar auf Totalität abzielenden Subjektivation.
2. KANONENDONNER UND DONNERWETTER ODER: DER EINSATZ DES PSYCHOTHERAPEUTISCHEN SUBJEKTS UM 1800 Die Situation des Sprechens und Ansprechens ist konstitutiv für die Begegnung, weniger das Gesprochene, das kaum verstanden wird.17
Wenngleich sich die Strategien und Praktiken der Subjektivation in der Entstehungsphase der institutionalisierten Psychotherapie von Mosers psychoanalytischem Bildungsroman erheblich unterscheiden, ist die Differenz von Reden und Zeigen doch auch schon im 18. Jahrhundert zentral. Dies wird besonders deutlich dort, wo es darum geht, dem Patienten zu begegnen, ihn zu adressieren, zu therapieren und möglichst auch zu heilen. 16
So die zahlreichen expliziten Hinweise in Mosers späteren Bekenntnissen auf eine schier endlose Therapiekarriere, das Scheitern aller Analysen und das gleichzeitige Projekt einer Lehranalyse, die auch als Leistungs- und Konkurrenzsituation aufgefasst wird. Tilmann Moser: Bekenntnisse einer halb geheilten Seele. Psychotherapeutische Erinnerungen. Frankfurt am Main 2004. 17 Klaus R. Scherpe: Die First-Contact-Szene. Kulturelle Praktiken bei der Begegnung mit dem Fremden, in: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hrsg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S.149-166, hier: S.155.
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Der Gründungsmythos der Psychiatrie, der in besonderer Weise mit dem Namen von Philippe Pinel verbunden ist, rankt sich um die „Befreiung der Irren von den Ketten“. Der – heilbare – ‚Irre‘ soll nicht länger fixiert und außerhalb des Tätigkeitsfeldes des Arztes verwahrt werden. Er wird nicht mehr als Tier, sondern als Mensch adressiert. Von nun an gilt es, aktiv seine Heilung voranzutreiben, durch Wahnvorstellungen ‚verrückte‘ Ideen wieder zu normalisieren und affektive Fixierungen aufzulösen. Erst Pinel, so die vielfach wiederholte und kritisierte Geschichtsschreibung nicht nur der französischen Medizingeschichte, habe den Irren als zu heilendes Subjekt erkannt und Möglichkeiten einer Therapie geschaffen.18 Dieser Entdeckung des Psychiatriepatienten korrespondierte auch eine Regie der therapeutischen Stimme. So forderte Philippe Pinel in seinen Recherches et observations sur le traitement moral des aliénés eine „usage judicieux des voies de douceur“.19 Die sanfte Stimme des behandelnden Arztes soll eine vertrauensvolle Basis für die folgende Therapie liefern. Doch auch innerhalb der Gruppe derjenigen Psychiater und Psychotherapeuten, die auf ein moral treatment bzw. ein moral management im Umgang mit ihren Patienten setzen, gibt es vehemente Zweifel an der diskursiven Macht der therapeutischen Stimme. Zum einen wird um 1800 kontrovers diskutiert, ob und in welchem Maße man sich auf die Wahnideen der Patienten einlassen oder diese nicht vielmehr durch gezielte und dramatische Gegeneffekte depotenzieren sollte, zum anderen korrespondiert der von Pinel geforderten Sanftheit der Stimme kein Vertrauen in die argumentative Überzeugungskraft der Rede. So verweist John Ferriar Erfolgsgeschichten über eine talking cure avant la lettre ins Reich der medizinischen Sagen: I have seen great exertions thrown away, in attempting to influence lunatics by arguments, or to surprise them into rationality by stratagem. I never knew such endeavours answer any good purpose. The stories current in books, of wonderful cures thus produced, are, like most other good stories, incapable of serving more than once.20
Joseph Mason Cox räumt hingegen diskursiven Strategien in der Therapie immerhin einen geringen Stellenwert ein. Sollten sie überhaupt eine Wirkung auf den Patienten haben, so läge dies an der selbst-evidenten Schlagkraft 18
Siehe hierzu etwa Edward Shorter: Geschichte der Psychiatrie. Berlin 1999, S. 28; Roy Porter: Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute. Berlin 2003, S.498, sowie grundlegend Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main8 1989, und ders.: Die Macht der Psychiatrie. Frankfurt am Main 2005. 19 Philippe Pinel: Recherches et observations sur le traitement moral des aliénés. In: Mémoires de la Société médicale d‘émulation de Paris, 1799, Band VII (2), S.215-255, hier: S.5. [Ich danke der Abteilung Histoire de la Santé an der Bibliothèque interuniversitaire de Santé, Paris, für ihre freundliche Unterstützung!]. 20 John Ferriar: Medical Histories and Reflections. Four Volumes in One. Philadelphia 1816, S.187.
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gängiger Argumente bzw. an der überredenden Macht der Sprache – und nicht an ihrer Fähigkeit zu überzeugen: Reasoning with maniacs is generally worse than useless; but the ideas that [partake] most of the hallucination, may be sometimes very efficaciously combated by a few self-evident arguments or propositions often repeated; but the talking at will be found more efficacious than talking to a patient; that is talking of him to a third person in his presence and hearing.21
Der Diskurs mit dem Patienten wird bei Cox in einer bemerkenswerten Wendung aufgehoben: Wenn die Rede mit dem Patienten einer Rede mit einer dritten Person entspräche, bei welcher der Adressat in irgendeiner Form hörend anwesend ist, wird die paradoxale Struktur der Adressierung des Subjekts in der Psychotherapie (und anderen aufklärerischen Redeformen) auf den Punkt gebracht. Das Subjekt, welches durch die argumentative Rede hervorgebracht werden sollte, ist nicht deckungsgleich mit dem Individuum, welchem die Rede doch vordergründig gilt. Die dritte Person mag im Rahmen der Therapie als in der Vergangenheit und möglicherweise in der Zukunft existent betrachtet werden, im Moment der therapeutischen Anrede ist sie das konstitutiverweise jedoch nicht. Für Cox lautet dementsprechend die Antwort auf das Paradox der Subjektivation (und in eins damit: das Paradox der aufklärerischen Erziehung zur Mündigkeit): Da ein Diskurs mit dem Patienten nicht möglich ist, bleiben lediglich Strategien der verbalen Überwältigung, der Persuasion. Der Diskurs mit dem Patienten erscheint in den Fallgeschichten und klinischen Reflexionen der Zeit aussichtslos: Wer Eintritt in die frühe Psychiatrie findet, mit dem lässt sich nicht gut ‚räsonieren‘. Statt auf diskursive Vernunft setzt also der behandelnde Arzt auf die Erzeugung einer Evidenz, der sich der Patient nicht entziehen kann. In diesem Sinn hatte auch Pinels namhafter Schüler, Jean-Etienne Esquirol, in seiner Abhandlung über die Geisteskrankheiten geschrieben: Man muß psychische Erschütterungen erregen, die die Wolken, von denen die Intelligenz bedeckt ist, zerstreuen; […] den Zauber, welcher alle thätigen Kräfte des Geisteskranken in Unthätigkeit erhält, vernichten. Man erreicht diesen Zweck, indem man die Aufmerksamkeit der Kranken erregt; bald dadurch, daß man ihnen neue Gegenstände zeigt, bald, daß man Phänomene um sie her erstehen läßt, die sie erschrecken, bald indem man sie in Widerspruch mit sich selbst setzt […].22
Um den „Zauber“ zu brechen, sind all jene Hilfsmittel statthaft, die diesen sinnlich wahrnehmbar in das therapeutische Geschehen verstricken und – 21 Joseph Mason Cox: Practical Observations of Insanity; In which some Suggestions are offered towards an improved Mode of treating Diseases of the Mind, and Some Rules proposed which it is hoped may lead to a more Human and successful Method of Cure: to which are sujoined, Remarks on medical Jurisprudence, as it relates to Diseased Intellect. London3 1813, S.62. [Auch der Wellcome Library, London, in der auch dieser Titel zu finden ist, habe ich für Ihre Unterstützung zu danken!] 22 Jean Etienne Dominique Esquirol: Von den Geisteskrankheiten. Bern, Stuttgart 1968, S.128.
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im günstigsten Falle – die Aporien seiner Wahnideen unmittelbar vor Augen stellen.23 Statt der diskursiven Rede mit dem Patienten ist es eine zentrale Aufgabe des Therapeuten, etwas zu zeigen, „Phänomene“ um den Patienten herum „erstehen“ zu lassen, die – je nach Indikation und diätetischen Erwägungen – mal Schrecken oder Zutrauen, mal Dämpfung oder Anregung der Leidenschaften hervorrufen sollen. Um das Ziel zu erreichen, ist es ein probates Mittel, die Wahnvorstellungen des Patienten aufzugreifen, sich sozusagen gemeinsam mit ihm auf seine verrückte Welt einzulassen. In letzter Konsequenz bedeutet das – auch für einen erklärten Skeptiker gegenüber Theaterbesuchen aller Art innerhalb der Psychotherapie –, dass die Therapie szenisch werden, selber zeigen muss. In seinem ebenso kompilatorischen wie phantastisch anmutenden Werk Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung von 1803 hat Johann Christian Reil zeitgenössische Experimente mit szenischen Praktiken versammelt und in mancherlei Hinsicht gedanklich auf die Spitze getrieben. Er forderte nicht nur, eine Theaterbühne in die Irrenheilanstalt zu integrieren, sondern auch besondere Vorkehrungen, die für die Ankunft des Patienten in der Anstalt getroffen werden sollten. Um den Kranken zu unterjochen muzs man ihm zuvörderst jede Stütze rauben, damit er sich durchaus hülflos fühle. Man entferne ihn von seinen Verwandten, dem Gesinde, das ihm gehorchen musz, von seinem Hause und aus seiner Vaterstadt; bringe ihn in ein Tollhaus, in welchem ihm weder das Lokal noch die Menschen bekannt sind. Dies spannt seine Erwartung, und um desto mehr, wenn seine Einführung in dasselbe mit feierlichen und schauderhaften Scenen verknüpft ist. Er hört bey seiner Annäherung Trommelschlag, Kanonendonner, fährt über Brücken, die in Ketten liegen, Moren empfangen ihn. Ein Eintritt unter so ominösen Vorbedeutungen kann auf der Stelle jeden Vorsatz zur Widerspenstigkeit vernichten.24
Die Herauslösung aus der bisherigen gesellschaftlichen Position und der damit verbundene Verlust der symbolischen Stellung des künftigen Patienten ist der erste Schritt auf dem Weg zur Unterwerfung, der das zu heilende Subjekt konstituiert. Der Verlust der Souveränität, die Unterwerfung unter das Regime der Anstalt und die Neubildung eines (zu heilenden und zu erziehenden) Subjekts sind dabei grundlegende Elemente der Szene. Vermittelt wird der grundlegende Szenenwechsel im Leben des Patienten nicht zuletzt durch akustische Effekte: Trommelschlag und Kanonendonner dienen gleichermaßen der dramaturgischen Zuspitzung (die Erwartung wird zunehmend gespannt) wie auch der gezielt herbeigeführten Konfusion des Neuankömmlings. Diese soll in einem 23 Siehe auch Céline Kaiser: Schauplatz Psychiatrie. Aspekte der Theatralität in der Psychotherapie um 1800. In: Bettina Jagow und Florian Steger (Hrsg.): Jahrbuch Literatur und Medizin. Band II. Heidelberg 2008, S.61-78. 24 Johann Christian Reil: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung. Aachen 2001 [Reprint ed. Halle 1803], S.225.
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weiteren Schritt noch durch die „Verfremdung“ der Stimmen im Rahmen der Anstalt fortgesetzt und verstärkt werden. Die Officianten könnten eine unbekannte und sonore Sprache reden. Der Kranke glaubt dann, unter fremde Nationen gerathen zu seyn. Dies macht ihn muthloser. Er wird die Blöszen derselben nicht so leicht gewahr, die er zu entdecken meistens noch schlau genug ist, und vermuthet hinter unverständlichen Tönen mehr Weisheit, als sie wirklich andeuten. Daher, sagt WILLIS, werden Fremde, die auch nicht einmal die Sprache des Tollhauses verstehn, unter gleichen Umständen leichter geheilt als Einländer, weil sie vollkommener isolirt sind.25
Auch wenn Reil an diesem Punkt unter Bezugnahme auf Francis Willis den Aspekt der Isolation betont, der Einsatz von Stimme und Sprache soll in der psychotherapeutischen Erstbegegnung zunächst und zumeist Anschlussunfähigkeit erzeugen. Es ist kaum von Belang, was in der Anrufung des Patienten ausgesagt wird. Nicht das Was, sondern das Wie der Ansprache ist maßgeblich für die therapeutische Intervention. Nicht der logos steht im Zentrum der psychotherapeutischen Szenen des Subjekts, sondern der Ton der Stimme. Diese Betonung der Tonalität der Stimme findet sich selbst in Ausführungen, die sich, wie im Kontext der deutschen Psychiatriegeschichte bei Karl Wilhelm Ideler, scharf von persuasiven Strategien der Rhetorik abgrenzen und einen einfachen Stil der Rede propagieren, jeden „Theaterprunk“ in der therapeutischen Rede verdammen und einer Eloquentia cordis das Wort reden.26 Wenn jedoch die Stimme, welche in der therapeutischen Szene errichtet werden soll, nicht im logos aufgeht, stellt sich die Frage, wie diese Stimme näher zu charakterisieren ist. Handelt es sich beim Auftritt des Therapeuten lediglich um die Behauptung einer beinahe hypnotischen Macht, die sich mit Hilfe der Stimme den Patienten untertan macht? Und wenn dem so wäre, woher leitet sich die Souveränität der ärztlichen Stimme ab? Verdankt sie sich lediglich der geschickten Anwendung rhetorischer und theatraler Techniken, die Souveränität behaupten und zugleich performativ durchsetzen können? Auf welche diskursiven Strukturen bauen diese Techniken gegebenenfalls auf? Diese Fragen lassen sich meiner Meinung nach nicht losgelöst von der dramaturgischen Einbettung der Stimme beantworten. Wie man anhand von Reils Szenen, die den Eintritt in die Anstalt flankieren und strukturieren sollen, sehen kann, treten neben die optische Ausgestaltung und den speziellen Einsatz auch andere akustische Effekte. Trommelschlag und Kanonendonner sind der Verfremdung der Stimmen, dem Reden in fremden Zungen, gleichgestellt. Wenn also der Ton der Stimme die gleiche Wirkung erzeugt wie diese, scheint es lohnenswert, diesen alten Theatermitteln weiter nachzugehen. 25 26
Ebd., S.226. So etwa in Karl Wilhelm Ideler: Grundriss der Seelenheilkunde. Band 2. Berlin 1838, S.749f.
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Trommelschlag und Kanonendonner sind nicht nur, wie die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer Semiotik des Theaters erklärt hat, untrügliche akustische Zeichen für das Denotat „Schlacht“27, sie verweisen über die Konnotationen zu Donner auch auf den Aspekt einer Schlacht mit dem Höchsten hin. So heißt es in Grimms Wörterbuch unter Kanonendonner: „das krachen des geschützes, dem donner des himmels verglichen, die kanonen ‚donnern‘“.28 Geht man dieser theologischen Spur weiter nach, wird schnell deutlich, dass Blitz und Donner im biblischen Kontext als „mahnende[] Zeichen des himmlischen Strafgerichtes“29 eingesetzt werden. Insbesondere der Donner verweist also auf die göttliche Macht, deren natürliche Stimme er sozusagen ist (vgl. Ijob 26,14). 3. „GOTTESÜBERTRAGUNGEN“
Mladen Dolar hat in seinen Arbeiten über die Macht der Stimme eine Analyse Reiks fortgesetzt, die die Funktion des jüdischen Schofars in den Blick nimmt.30 Das Schofar, eine Art Horn, war im biblischen Text „das Element der Stimme inmitten des Donners als natürlichem ‚Geräusch‘ “.31 Die Stimme des Schofars ist im Sinne Dolars eine Stimme der Tonalität, für die die differentiellen Merkmale der Sprache irrelevant sind. Während die überwältigenden Naturzeichen die ebenso überwältigende Macht Gottes symbolisieren, wird das Schofar insbesondere im Kontext der Gesetzesübergabe an Moses zu einer Stimme, die den göttlichen Ton flankiert, ohne selbst diskursiven Sinn zu produzieren, es ist eine Stimme, „die totales Einverständnis befiehlt, obwohl sie in sich sinnlos ist“.32 Dolars Analyse der Stimme des Schofars zielt in eine ähnliche Richtung wie die vorgestellten Szenen zur Einsetzung des psychotherapeutischen Subjekts um 1800. Die Stimme des Therapeuten funktioniert in diesem Sinne – zumindest in den Szenen der ersten Kontaktaufnahme – ähnlich wie die Stimme des 27 „Geräusche können eingesetzt werden, um eine Situation oder Handlung zu beschreiben: Windgeräusche, Donnern, Grollen und Regenklatschen konstituieren die Bedeutung ‚Gewitter‘, Säbelklirren, Kanonendonner, Minendetonationen oder das Rattern von Maschinengewehren die Bedeutung ‚Schlacht‘ […].“ Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Band 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983, S.165f. 28 Jakob Grimm, Wilhelm Grimm: Artikel „Kanonendonner“. In: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1960. Band 11, S.170. [Online-Ausgabe der Akademie der Wissenschaften unter: letzter Aufruf: 11.09.12]. 29 Manfred Lurker: Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole. München 1973, S.53. 30 Mladen Dolar: Das Objekt Stimme. In: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin 2002, S.233-256. 31 Ebd., S.254. 32 Ebd., S.253.
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Schofars: Sie verweist auf eine andere Stimme, die Stimme der göttlichen Macht, welche ein „totales Einverständnis befiehlt“. Die Souveränität der Stimme des behandelnden Arztes leitet sich – folgt man den Konnotationen, welche in den ärztlichen Phantasien aufgebaut werden – somit von der göttlichen Stimme ab, die dem künftigen Patienten in ihrem übermächtigen Schrecken vorgeführt wird. Dass man den Begriff der Vorführung hier ganz wörtlich nehmen darf, möchte ich abschließend an einem weiteren Beispiel demonstrieren. Joseph Mason Cox sah für weniger schwere Fälle von Wahnideen eine Art Kurz- oder Schocktherapie vor, die er „pious frauds“ nannte. Im Rahmen dieser Therapie war es das Ziel, to make strong impressions on the senses, by means of unexpected, unusual, striking, or apparently supernatural agents; such as after waking the party from sleep, either suddenly or by a gradual process, by imitated thunder or soft music, according to the peculiarity of the case, combating the erroneous deranged notions by some pointed sentence, or signs executed in phosphorus upon the wall of the bed chamber, or by some tale, assertion, or reasoning; by one in the character of an angel, prophet, or devil: but the actor in this drama must possess much skill, and be very perfect in his part.33
Es bedarf einer Reihe von Theatermitteln und Spezialeffekten, damit sich die anrufende Macht in der Stimme des Arztes und der „Officianten“ manifestieren kann.34 Die „supernatural agents“, die die therapeutische Bühne betreten, können zwar je nach Diagnose zwischen „soft music“ und „imitated thunder“ entscheiden, sie übernehmen jedoch in eins damit die Rollen von „angel, prophet, or devil“, also verschiedene Grade zwischen guten, beschützenden Figuren auf der einen und überwältigenden, gefährlichen auf der anderen Seite. Die paradoxale Struktur der Anrufung, die etwa Cox auf den Punkt brachte, wird begleitet von einer metaphysisch-theologischen Gründungsszene psychotherapeutischer Macht. Dass Gottesübertragungen in der Geschichte der Psychotherapie nicht nur den Inszenierungstrategien der behandelnden Ärzte geschuldet sind, hat Tilmann Moser in späteren Arbeiten thematisiert. Gerade die Szene um das Niesen des Analytikers gilt ihm in einer retrospektiven Deutung als deutlicher Hinweis auf eine massive Gottesübertragung.35 Dreißig Jahre nach seinen Lehrjahren 33
Cox, Practical Observations, a.a.O., S.63. Hervorhebung von mir, C.K. Zur Adressierung als Anrufung siehe das Interpellationsmodell von Louis Althusser sowie seine kritische Wiederaufnahme bei Judith Butler. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin 1977; Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt 2001; sowie Leander Scholz: Anrufung und Ausschließung. Zur Politik der Adressierung bei Heidegger und Althusser. In: Michael Cuntz, Barbara Nitsche, Isabell Otto, Marc Spaniol (Hrsg.): Die Listen der Evidenz. Köln 2006, S.283-297. 35 „Ein Teil der Sprache der ‚Lehrjahre‘ ist durch und durch religiös. Ebenso die Hoffnung auf Erlösung; die Erwähltheitsgefühle; der ‚Bund‘ (vulgo Arbeitsbündnis) mit dem Retter; die Formen des Rühmens 34
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erscheint ihm das Schlachtgetümmel und das Ausmaß, in welchem er seinem Analytiker Allmacht und Größe zuschrieb, vor allem als religiös gefärbte Idealisierung. Wiederum ist es das klassische psychoanalytische Setting, das neben den eigenen religiösen und familiären Kindheitserinnerungen für die Form der Übertragung herangezogen wird. Dadurch dass dieses einer „partiellen sensorischen Deprivation“ zuarbeitet, ist es nach Mosers Ansicht auch „so geeignet, Gottesübertragungen zuzulassen oder abzurufen.“36 Dass die Trennung von Sehen und Hören solche Effekte zeitigen kann, ist auch aus ganz anderer Richtung nahe gelegt worden. Der Filmtheoretiker Michel Chion hat in seiner Forschung zur Stimme im Kino darauf hingewiesen, dass der Einsatz akusmatischer Stimmen, d.h. von Stimmen, die sich nicht innerhalb der filmischen Diegese zuordnen lassen, deren Sprecher also nicht im Bild zu sehen sind aber auch nicht die Funktion der Erzählerstimme aus dem Off übernehmen, zur Zuschreibung von Allmacht und Allsicht führt. Auch wenn sich die Wortbedeutung „Akusmatik“ aus der Praxis einer pythagoräischen Sekte ableitet, deren Jünger ihren Meister nur hinter einem Wandbehang hören, ihn aber nicht sehen durften, so hat Chion selbst auf Parallelen zu religiösen Riten und dem Setting der Psychoanalyse hingewiesen.37 Schon in den 1940er Jahren hatte Fritz Perls das klassische Setting der Psychoanalyse verdächtigt, die Riten christlicher und jüdischer Religionen aufzugreifen, um den Psychoanalytiker in die Position eines „unsichtbare[n] Gott[es] hinter den Wolken“ zu rücken, „der nicht gesehen werden darf“. Harsch grenzt er sich in Das Ich, der Hunger und die Aggression von dieser psychotherapeutischen Anordnung ab: Der Patient hat nichts, woran er sich halten kann außer der Stimme des Analytikers, und manchmal nicht einmal diese. Ich hatte einmal einen Analytiker, der wochenlang den Mund nicht auftat; um anzuzeigen, daß die Stunde beendet war, scharrte er nur mit dem Fuß. […] Verwandeln Sie den Psychoanalytiker, der ein so erfurchtgebietendes Bild bietet, in ein menschliches Wesen auf gleicher Ebene wie der Patient. Hören Sie auf, die Angst und Preisens wie die des Hassens, wenn die religiöse Hoffnung nicht in Erfüllung geht. […] Ich war in eine kleine Prophetenrolle geschlüpft […]. Ein klares Beispiel für das Auftauchen einer möglichen Gottesübertragung in den ‚Lehrjahren‘, eingewoben in Erinnerungen an den Vater, anhand meines Erlebens seines bereits erwähnten Nießens in der Regression. Ich schwieg nach seinem aufwendigen Nießen andächtig, er fragt: ‚Was gibt’s?‘ Ich antworte: ‚Herr Doktor, es war wie ein Naturereignis.‘ “ Moser, Bekenntnisse, a.a.O., S.133f. 36 Ebd., S.134. 37 Michel Chion: Mabuse – Magie und Kräfte des ‚acousmêtre‘. Auszüge aus ‚Die Stimme im Kino‘. In: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hrsg.): Medien / Stimmen. Köln 2003, S.124-159, hier S.128: „Aber diese Regel des Seh-Verbots, die aus dem Meister, dem Gott oder dem Geist eine akusmatische Stimme macht, findet sich natürlich in einer Vielzahl von Riten und Religionen wieder, insbesondere der islamischen und der jüdischen Religion. Man trifft auch in der Anordnung der Freudschen Kur auf sie, wo der Patient den Analytiker nicht sieht, der ihn seinerseits nicht anschaut. Und schließlich findet man sie im Kino, wo die Stimme des akusmatischen Meisters, der sich hinter einer Tür, einem Vorhang oder außerhalb des Bildfeldes versteckt, im Zentrum mehrerer wichtiger Filme steht: Das Testament des Doktor Mabuse (Stimme des bösen Genies), Psycho (Stimme der Mutter), The magnificient Ambersons – Der Glanz des Hauses Amberson (Stimme des Regisseurs).“
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und den Protest des Patienten als ‚Gottesübertragung‘ zu deuten! Solange sich der Analytiker sich weiterhin wie ein Priester verhält, mit all den Riten der festgelegten analytischen Sitzordnung und der zwanghaften Zeitbeschränkung […], muss der Patient den Analytiker korrekterweise als religiöses Objekt deuten […].38
Gegen ein Setting, das Gottesübertragungen erzeugt, setzt Perls in den nächsten Jahren auf seine Form der Gruppen- und Einzeltherapie, auf die Gestalttherapie, in welcher Sehen und Hören, Zeigen und Reden auf strukturell ganz andere Art und Weise zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden. 4. SCHLUSS
Mit dem klassischen Setting der Psychoanalyse und den frühen Experimenten um 1800 habe ich zwei historisch und strukturell sehr unterschiedliche Modelle der Psychotherapie in den Blick genommen. Auf der einen Seite das klassische psychoanalytische Setting mit seiner strikten Trennung von Hören und Sehen: Hier wird, wie gesehen, aus dem Akt des Zeigens ein asymmetrischer Vorgang, in welchem der Analysand zwar hören, sich aber in keiner Weise selbst über die Wirkungen seiner Rede bzw. seines Schweigens auf den Analytiker vergewissern kann. Dass diese Form der Vergewisserung umgekehrt für den Analytiker eine wesentliche Rolle spielen mag, wird z.B. in Diskussionen wie der um die Statthaftigkeit von Telefonanalysen deutlich. Die raum-zeitliche Koexistenz von Analytiker und Analysand, so kann man den Haupttenor dieser Kontroverse zusammenfassen, erscheint als ein notwendiges Kriterium dafür, ob eine Therapie als Psychoanalyse anerkannt werden soll oder nicht. Die Begründung ist eine doppelte: Traumatisierungen auf Seiten des Patienten sollen vermieden werden, aber als ebenso wichtig wird es angesehen, das Wahrnehmungsspektrum des Analytikers nicht auf die gesprochene Sprache zu reduzieren.39 Diese auf den ersten Blick supplementäre Fragestellung macht deutlich, dass es für das Modell der psychoanalytischen Therapie unerlässlich ist, dass sich im Rahmen der Begegnung zwischen Analysand und Analytiker etwas zeigt, was zwar nicht ausagiert werden soll, aber auch nicht direkt in Worte gefasst werden kann. 38
Frederick Perls: Das Ich, der Hunger und die Aggression. Die Anfänge der Gestalttherapie. Sinneswachheit, spontane persönliche Begegnung, Phantasie, Kontemplation. Stuttgart7 2007, S.278f. Siehe hierzu auch Bernd Bocian: Von der Revision der Freudschen Theorie und Methode zum Entwurf der Gestalttherapie. Grundlegendes zu einem Figur-Hintergrund-Verhältnis. In: Bernd Bocian, FrankM. Staemmler: Gestalttherapie und Psychoanalyse. Berührungspunkte, Grenzen, Verknüpfungen. Göttingen 2000, S.47. 39 Sharon Zalusky: Telefonanalyse. In: Internationale Psychoanalyse. Das Nachrichtenmagazin der IPV. Sonderheft „Einsicht“. Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Jahrgang 12, H. 1, Juni 2003, S.13-16; Simona Argentieri/Jacqueline Amati Mehler: „Hallo, wer spricht da, bitte?“. In: Internationale Psychoanalyse. Das Nachrichtenmagazin der IPV. Sonderheft „Einsicht“. Internationale Psychoanalytische Vereinigung. Jahrgang 12, H. 1, Juni 2003, S.17-19.
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An Ort und Stelle soll eine wegweisende Reinszenierung jener Störungselemente stattfinden, die anschließend im deutenden Zugriff in Sprache transformiert werden sollen. Das Modell, welches sich anhand der therapeutischen Phantasien und Experimente von Cox, Pinel, Reil und anderen zeitgenössischen Psychotherapeuten entfalten lässt, setzt dagegen auf die Etablierung eines szenischen Raums, einer auch akustischen ,Welt in der Welt‘, auf eine Therapie als Bühne der überwältigenden (oder behütenden) Geräusche/Tonalität. Sehen und Hören sind hier auf der einen Ebene des Geschehens, innerhalb des diegetischen Universums, welches der Therapeut für seinen Patienten inszeniert, nicht getrennt. Doch gehört dieses Universum zur Klasse der Simulationen, deren Spielcharakter der Patient weder erkennen noch reflektieren soll. Diesen beiden Modellen ist gemeinsam: Es sind akustische Räume ohne Zuschauer; die laborhaft abgeschlossene Welt des psychoanalytischen Behandlungsraumes ist weitgehend abgeschirmt gegen Umweltfaktoren, unzugänglich für weitere Beobachter oder (reale) Zuhörer. Die Szenarien, die z.B. Reil in seinen Rhapsodieen entwirft, versetzen den Patienten in medias res: Von einer totalen akustischen Überwältigung beim Eintritt des Patienten in die Anstalt über wilde und brutale Klangexperimente40 und abenteuerliche Parcours, die er zu bewältigen hat, wird er mit phantastisch anmutenden Welten konfrontiert, die ihren theatralen Charakter zwar stets leugnen wollen, innerhalb derer die Zuordnung von Stimme/Ton und visuellem Sinneseindruck aber immer klar gesetzt wird. Vom apathisch-wortlosen Ankömmling schreitet der Patient – so lautet der Plan – von einer Entwicklungsstufe zur nächsten bis hin zu jenem erwünschten Endzustand, in dem er vermittelt über die Trias ,Abschreiben, Auswendiglernen, Erlebnisaufsatz schreiben‘ die Grundfähigkeiten, die sprachliche Expressivität des aufklärerischen Bürgersubjekts (wieder) beherrschen lernt.41 Diesen zuschauerfreien Formen stehen jene gegenüber, in denen Gruppensituationen (auch) das Verhältnis von akustischer Gestaltung und Therapiemodell verändern. Bei Perls oder Jakob Levi Moreno finden Hören und Sehen in 40
Wie das Katzenklavier, welches auch den völlig apathischen Patienten mit jammervollen Tönen über das unbewaffnete Ohr aus seiner Apathie herauskatapultieren soll – wobei auch hier Bild und Ton sich wechselseitig verstärken sollen. Siehe Reil, Rhapsodieen, a.a.O., S.205: „Ich erinnere mich, irgendwo von einem Katzenklavier gelesen zu haben. Die Thiere waren nach der Tonleiter ausgesucht, in eine Reihe mit rückwärts gekehrten Schwänzen geordnet; auf dieselben fiel eine mit scharfen Nägeln versehene Tastatur. Die getroffene Katze gab ihren Ton. Eine Fuge auf diesem Instrumente, zumal wenn der Kranke so gestellt wird, daß er die Physiognomie und das Geberdenspiel dieser Thiere nicht verliert, müsste selbst Loth’s Weib von ihrer Starrsucht zur Besonnenheit gebracht haben.“ 41 „Man lässt die Kranken abschreiben, rechnen, auswendig lernen, Correcturen lesen. Sie müssen anfangs mechanisch, in der Folge mit Ausdruck vorlesen, und zuletzt über den Inhalt dessen, was sie gelesen haben, aus dem Gedächtnis referieren. In Gesprächen halte man sie an, immer bestimmt zu antworten. Man veranlasse sie, irgendetwas selbst vorzutragen, Scenen ihres Lebens bloß geschichtlich oder pragmatisch zu erzählen.“ Reil, Rhapsodieen, a.a.O., S.246f. Dies mit und gegen die Thesen Friedrich A. Kittlers: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1985.
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einem funktional differenzierten Raum statt, letztlich auf einer theatralen Bühne also, die für Zuschauer und Mitzuspieler offen ist und dementsprechend auch Zuschauergeräusche und -zwischenrufe, visuelle und akustische Rückkoppelungen zulassen muss.42 Noise und Voice, Stimme und Tonalität haben in diesem Setting wiederum eine andere Funktion als in den beiden besprochenen Therapieformen. So unterschiedlich die Psychotherapien in der klassischen Psychoanalyse und der Anstaltspsychiatrie um 1800 strukturiert sind, in beiden Formen zeigt sich, dass gerade die Ebene akustischer Mittel starke Anleihen an religiöse Räume, performative Praktiken und Zuschreibungsmodelle macht. Das Übergewicht der religiösen Assoziationen und Konnotationen ist zunächst sicher auch der (zum Teil unbewussten) Dominanz religiöser Deutungsmuster und kultureller Praktiken geschuldet. ,Gottesübertragungen‘ liegen nahe, wenn es z.B. in der Idealtypik der psychiatrischen Anstalt darum zu tun ist, dem Arzt die strukturelle Zentralposition zu verleihen, in welcher von ihm „Alles abhängen“ soll, er „Alles leitet“, wie ihm auch „Alles über jedes Individuum referirt“ werden soll.43 Und die Raumstruktur der klassischen Analyse weist noch über die oben diskutierten Merkmale hinaus einige Parallelen zur Raumstruktur religiöser Architektur auf.44 Von daher bestimmen ,Gottesübertragungen‘ gleichermaßen die Imaginationen der hier zu Wort gebrachten Ärzte wie die Deutungen derjenigen Patienten-Therapeuten, die wie Moser oder Perls ihre Wahrnehmungen in der Therapie kritisch beäugen. Die Tatsache, dass sich hier ähnliche Deutungen an ganz verschiedene Inszenierungsstrategien heften, macht zugleich deutlich, dass man auch in der Geschichte (und Gegenwart) der Psychotherapie nicht von trivialen medialen Effektmaschinen ausgehen kann. Auch wenn die Sprache der psychotherapeutischen Literatur immer wieder suggeriert, dass therapeutische Interventionen lenkbare Handlungen seien, deren Effekte man kalkulieren könne, darf man dieser Annahme nicht nur aus historischer, sondern auch aus systematischer Perspektive mit Skepsis begegnen. Zwar beherrscht die Behauptung von Effektivität, von möglichst in Zahlen und Grafiken dokumentierbarer Wirksamkeit ärztlichen Handelns den Diskurs innerhalb des medizinischen Systems. Doch Therapie wird definiert als wohl kalkulierte Intervention, in welcher der Therapeut als Autor und Regisseur erscheint, dem die zu erzielenden Wirkungen intentional zugerechnet werden können, doch im Rahmen der Psychotherapie 42 Hinzu kommt bei Moreno und noch stärker bei Perls schon der Einsatz von Aufzeichnungsmedien wie Radio- oder Video-Aufzeichnung. Auf Folgen, Formen und Implikationen dieser Medientechnologien für diese Modelle der Psychotherapie werde ich an anderer Stelle näher eingehen. 43 Esquirol, Geisteskrankheiten, a.a.O., S.122. 44 Guderian, Couch in der Psychoanalyse, a.a.O., S.35f., S.82f.
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lässt sich über die Wirksamkeit von therapeutischen Inszenierungen und Deutungen nicht sinnvoll in den Kategorien von Ursache und Wirkung sprechen. Keine Inszenierung kann sich ihrer anvisierten Effekte sicher sein, keine Szenographie erzeugt zuverlässig gleiche Atmosphären oder Affekte im Betrachter/Hörer.45 Medien sind keine trivialen Maschinen, auch wenn die Diskussion darüber spätestens seit den so genannten Werther-Selbstmorden andauert.46 Zugleich ist es nicht sinnvoll, aus diesem Grund die Frage nach der medialen Struktur, welche etwa zur ,Magie der Couch‘ beizutragen vermag, zu suspendieren. Medien-, Raum- und somit auch Stimm- und Toneffekte sind Elemente von Kommunikationsprozessen. Sie führen zu affektiven Zuschreibungen, inhaltlichen Interpretationen, wie ich sie hier exemplarisch vorgestellt habe. Dabei waren vordergründig die Rollen klar verteilt: Moser in der Rolle des passiven Patienten/Rezipienten, Cox, Pinel und Reil als handlungsmächtige Ärzte/Theaterregisseure. Gegen eine solche strikte Aufteilung in Passivität und Aktivität spricht, dass für Medienwirkungen wie auch für psychotherapeutische Begegnungen gilt: Sie sind keine eingleisigen Produktionen, sondern vielmehr Koproduktionen.47 45
Hier ist Guderians kritischer Abgrenzung gegenüber aktuellen Raumpsychologien zuzustimmen: „‚Raumwirkung‘ ist ein sich wechselseitig durchdringender Zustand zwischen Mensch und Raum. Man kann keine Gleichung aufstellen, derzufolge ein bestimmter Raum jeden Menschen unfehlbar in eine bestimmte Stimmung bringen wird […]. Verschiedene Räume können auf denselben Menschen in der gleichen Gestimmtheit gleich wirken; umgekehrt kann derselbe Raum auf verschiedene Menschen eine völlig unterschiedliche Wirkung entfalten. Dies ist mit zu bedenken, bevor man kritiklos die Ergebnisse der Wirkungsästhetikforschung übernimmt, die innerhalb der Sozialpsychologie als Raumspsychologie seit knapp dreißig Jahren einen eigenen Forschungszweig bildet.“ Guderian, Couch in der Psychoanalyse, a.a.O., S.75. 46 Siehe hierzu die instruktiven Arbeiten von Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006, S.111-196; ders.: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung). München 2005. 47 Aus psychotherapeutischer Sicht ist dieser Punkt in aller Deutlichkeit von Ulrich Streeck formuliert worden: „Manchmal werden interaktive Phänomene, wenn sie in der therapeutischen Beziehung unübersehbar in den Vordergrund treten, ausschließlich dem Patienten zugerechnet und allein auf dessen Verhalten und auf dessen seelische Erfahrungen zurückgeführt bzw. daraus erklärt. Was als Interaktion im Behandlungszimmer auffällt, wird dann so verstanden, als wäre das interaktive Geschehen zuerst ,im Kopf‘ des Patienten vorhanden gewesen, ehe es im nächsten Schritt als Verhalten im Raum zwischen Patient und Psychotherapeut in Szene gesetzt wird. […] Das ist eine a-soziale Auffassung von der therapeutischen Beziehung. Psychotherapie wird nicht als Verhältnis zwischen Selbst und Anderem, zwischen Patient und Psychotherapeut verstanden, sondern als ein am Anderen abgehandeltes Selbstverhältnis. Gerade damit aber wird die therapeutische Beziehung ihres Beziehungscharakters entkleidet. Denn, so Bateson (1993), ,Beziehung […] ist immer ein Produkt doppelter Beschreibung […] Eine Beziehung existiert nicht innerhalb einer einzelnen Person‘ (S.165) […] Das jeweils individuelle Verhalten, sei es das des Patienten, sei es das des Psychotherapeuten, entspringt nicht allein vorgegebenen seelischen Dispositionen und Motiven, sondern ist immer auch bezogen auf den unmittelbaren lokalen Kontext, in dem es plaziert ist und aus dem es seine Bedeutung gewinnt.“ Ulrich Streeck: Auf den ersten Blick. Psychotherapeutische Beziehungen unter dem Mikroskop. Stuttgart 2004, S.39f.
RALF BOHN
AM NULLPUNKT DER SZENOGRAFIE. ZUR EINFÜHRUNG EINER SZENOLOGISCHEN DIFFERENZ.
Die Thaumaturgen-Könige sind zahlreich und niemand entlarvt sie. Nur der Dramaturg stellt sich gegen die Thaumaturgen, er ist derjenige, der nicht gegen das Ereignis ist, sondern dessen Drama zeigen will, der zeigen will, dass etwas verloren geht. Paul Virilio1
ERKENNTNISKRITISCHER EINSPRUCH
Die Not, im öffentlichen Diskurs der Szenografien nach logischen Ordnungen zu suchen, d.h., szenologische Referenzen zu entwickeln, wird als überflüssiger Affekt einer sozialen Praxis angesehen, die innerhalb der sozialen, ökonomischen und technischen Regeln ‚ganzheitlich‘ zu funktionieren habe, und deren Aufgabe es ist, Differenzpositionen – um es vorsichtig zu sagen – ‚zu vermitteln‘, wenn nicht in eben diesem problematischen Sinne einer ‚Ganzheitlichkeit‘ zu vertuschen. Uns beschäftigt deshalb die Frage, warum das praktische Feld der Szenografie eine Bedeutung im akademischen Diskurs gewinnen können soll. Eine Angst, sich von außen Legitimation verschaffen zu müssen? Oder handelt es sich um ein Gran Selbsterkenntnis, dass Szenografie lediglich ein Gegeneffekt sich ausdifferenzierender Medien- und Simulationstechniken sei? Der Affekt gegen Sinn- und Sinnenverschmelzung – würde der nicht darüber Auskunft geben, dass in Szenografien nicht konträre, sondern wenigstens dialektische, gar ökonomische Positionen auszumachen sind? Solche Fragestellungen setzen voraus, dass ‚Szenologie‘, dieser harmlose Neologismus. den Widerspruch jeder Szenografie kritisch bewahrt, nämlich das Problem der Inszenierung und der Authentizität. Ist das allein ein Problem der Weltdeutung oder zeigen nicht gerade die szenografischen Hoffnungen und Probleme, dass der Kern jeder Inszenierung ist, zu beweisen, dass es eine Freiheit zwischen der Weltdarstellung und der Weltdeutung gibt? In dieser Hinsicht müssen deutungstheoretische Ansätze auf den Tisch: Szenografien sind nicht Welterschaffung und -zurichtung, sie sind Weltdeutung, und zwar Deutung vor Bedeutung.2 1
Paul Virilio/Philippe Petit: Cyberwelt, die wissentlich schlimmste Politik. Berlin 2011, S.61. Ihr Sinn besteht darin, beim Sinnlichen zu verbleiben, oder, positiv formuliert, den festgelegten Regeln der Bedeutungen und Handlungsweisen wieder eine sinnliche Komponente zuzuweisen, und zwar eine subjektive. Es ist ein Allgemeinplatz, dass jede Inszenierung ihre Deutung als einen mögliche unter anderen ausweist. Es gibt keine Inszenierung ohne Deutungsabsicht (Publikumsresonanz). 2
282 RALF BOHN
Die Frage der Szenifikation ist die nach einer bestimmten Ordnung der Deutung in Bezug auf Bedeutung. Die Sprache des professionalisierten Amateurs wird erst bedeutsam durch die ‚Schrift‘, die als Szenografie nicht nur einmalig erlebt, sondern als Erlebnis selbst mit den gleichen Mitteln archiviert wie erzeugt werden kann. Nicht-Inszenierung als Spontaneität schließt diese Reproduktion aus. Wie jede Schrift hat die Szenografie ihre Grammatik, deren Artikulation sich u.a. in den Effekten manifestiert. Die Szenografie, wie sie derzeit gelehrt und praktiziert wird, soll die sensoriell sinnlich-technische Ausdifferenzierung von Ausdrucksfolgen vereinheitlichen und in Analogie zur Sprache allgemein kommunizierbar machen, und zwar ohne dass es eines theoretischen oder praktischen Einspruchs bedürfe. Szenografie ist in der Regel für alle lesbar, die Spielregeln sollen im Spiel selbst erfahren werden können. Im Sinne dieser Vereinheitlichung und einer Indifferenz von Deutung, Bedeutung und Intention haben einige Theoretiker dem Begriff ‚Atmosphäre‘3 ihre Aufmerksamkeit geschenkt, um das Phänomen der Inszenierung zu klären. Die Szenografie schafft als atmosphärisch gestimmter Raum kontingent empfundene Welten. Stimme aber ist nicht Schrift.4 Wesentlich ist, dass diese ‚Welten‘ selbst innerhalb von Welt (respektive von ‚Realitäten‘) relativ abgeschlossen sind – wobei es um die Qualität der Relativität der Abschließung geht. Die Gefahr, dass unter dem Begriff der ‚Ätmosphäre‘ oder der ‚Ganzheitlichkeit‘ die Verschleierungstaktik gegenüber einer anstrengenden Differenzierung, also Kritik – so wie Nietzsche das an den Nebeln Wagners wahrgenommen hat – dominiert, ist bei den Praktikern, die das Funktionieren der szenografischen Arbeit im öffentlichen und sozialen Raum feiern und ihren Gewinn daraus schlagen, groß. Ein erstes szenologisches Kriterium ist also das der Kontingenz, oder, klassisch formuliert, das der Verhältnisbestimmung von Identität und Differenz, derart, dass ‚die‘ Welt eine unhintergehbare Voraussetzung (Existenzial oder Identität) dafür ist, dass zur ihr eine differente wahrgenommen werden muss. Ohne Wahl keine Freiheit, ohne Design kein Technikgebrauch. Üblicherweise wird in der Logik des Theaters wie in der der religiösen Bräuche sowie in jeder Insofern ist evident, dass Inszenierung und Realitätssetzung in Bezug auf die Intentionalität (nicht in Bezug auf die Materialisierung) unterschieden werden, aber auf Basis einer Eindeutigkeit, nämlich jener der ‚cartesianischen‘ Techniken, die von den Szenografen in magische verwandelt werden wollen. Im Grunde verlangt man von einer Szenologie, dass sie eine existentiale Hermeneutik aufstellt. Heißt das aber nicht, z.B. Heiddegger einen ‚Szenografen‘ zu nennen, der zwischen Inszenierung und Authentizität im akademischen Theater der Philosophie diesbetreffend die Szene beherrscht? Die Argumente von Pierre Bourdieu sprechen eindeutig dafür. Vgl. Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers. Frankfurt am Main 1988. 3 Vgl. vor allem die Arbeiten von Gernot Böhme (Architektur und Atmosphäre sowie Anmutungen: Über das Atmosphärische) und Ludwig Fromm (Situativ bestimmte Qualitäten im Raum. Leibliche Dispositionen situativer Erfahrungen. Eine Studie. In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis. Bielefeld 2012, S.195-214). 4 Vgl. Ralf Bohn: Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee. Bielefeld 2009, S.19ff.
AM NULLPUNKT DER SZENOGRAFIE 283
ethischen Haltung (Tabu), die keiner explizierbaren Regel folgt, die ernste Welt (die die der Götter ist) derjenigen des Spiels (die die der Menschen ist) gegenübergestellt. Die Gegenüberstellung richtet sich auf eine Differenz a priori, nicht auf die Identität dessen, der diese Gegenüberstellung leistet. Auf Grundlage dieser Differenz werden, nachträglich, theoretisch und im Diskurs der Schrift die Identitätsbeziehungen legitimiert: Soziale Räume und Konfigurationen, Aussetzung der ökonomischen Regeln, Opferderivationen, heiliges Sprechen, poetische Formen, externe Position des Magiers usw. – alle diese Regeln können szenografisch kombiniert und mittlerweile technisch simuliert werden (Nebelmaschinen, Götterstimmen, Licht und Dunkelheit etc.). Doch gerade der Übergang in den Diskurs der Schrift, den Fetisch der Rückholbarkeit der Ereignisse, ihrer Enthebung aus der Zeit, wird nicht als Inszenierung verstanden, sondern als Prozess der Rationalisierung, der Aufklärung, der Wissenschaft, also einer präventiven Haltung gegenüber einer ‚unhintergehbaren Voraussetzung‘, die nicht zur Deutung, sondern zur logischen Konstruktion ansteht. Hier stellt sich ganz dringlich die Frage nach dem Effekt der Szenografie: Strategie der Vermeidung des Aushaltens von Differenz, von expliziter Kritik und, positiv, aber vielleicht schlimmer noch, die Therapie einer hyperdifferentiellen Weltordnung, der mit Wissen weniger als mit Spontaneität (Situativität), der dialektischen Antithese zur ‚Inszenierung‘ beizukommen ist?5 Der Sache nach kann eine ‚Szenologie‘ nur eine Deutungstheorie sein, nämlich eine solche, die einer jeden Inszenierung unterstellt, Deutung von etwas zu sein, was noch nicht (respektive noch nie und niemals) Bedeutung angenommen hat oder je haben wird, was also im konkretesten Sinne magisch ist, oder als protomedialer Zustand (‚Atmosphären‘) augewiesen werden muss. Auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurses spielt sich folgendes ab: Weil alle Regeln der ‚Praxis‘ situativ, also der Praxis als ‚Welt‘ und ‚Existenz‘ inhärent sind, wird die Identität der Welt als situativ wahrgenommen respektive als ein Bewusstsein ohne positives Objekt, ein ‚reines Unterbewusstsein‘: die prophylaktisch ‚angenommene‘ Situation, in der ich durch die Straßen einer Stadt (einer Ausstellung) flaniere, ohne Ziel, ohne besondere Aufmerksamkeit. Von dieser Situation ausgehend erfährt mein Bewusstsein eine Differenz durch den Umstand, dass plötzlich ein Ereignis in den Fokus meiner Aufmerksamkeit fällt.6 Der Effekt der Erfahrung der ‚Weltlichkeit‘ der Welt, also der Tatsache, 5
Bedarf es angesichts dieser Unordnung nicht eines zweiten Foucault, um die gegenwärtige Lage zu klären? 6 Das erste Kapitel von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (ders.: GS Bd.1, Reinbek 1978, S.9-11) konstruiert das monadische, szenografische Programm einer Szenifizierungsamplitude. Es gibt den Deutungsanspruch als monadologische ‚Faltung‘ (Deleuze) dessen vor, was im gesamten Roman in der Latenz zwischen Deutung und Bedeutung verbleibt, den hermeneutischen Einspruch gegenüber einer Kompetenz des Wissens. ‚Gefaltet‘ (Amplitude) und nicht zyklisch ist der Ablauf deswegen, weil die Richtung einen kontinuierlichen Kompetenzzuwachs erfährt (als Differenzierung
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dass eine Ordnung von Welten immer schon etabliert wird, ist zweigeteilt: Zum einen wird ein Selbstbewusstsein konkretisiert/gestört, in dessen Vermeinen wir den Auslöser und Sammelpunkt der Situativitäten erkennen, zum anderen sind die Situationen, die nun mit dem Bewusstsein des Ichs ‚infiziert‘ und indiziert sind, nicht mehr allgemeine Praxis, sondern Szenifikationen einer gemachten Praxis, in der die impliziten Ordnungen explizit7 werden. In diesem Zerfall von des Wissens und als Bestand der Verdinglichung), sodass zunehmend eine Achronie zwischen „Gefühl und Verstand“ aufbricht, deren Vermittlungsproblematik darzustellen das Hauptanliegen des essayistischen Romans ist. Eine Szenologie will mehr: diesen Deutungszwang selbst als notwendigen Mangel situativer Existenz, als Mangel an Bewusstsein thematisieren. Musil beginnt mit einer meteorologischen (!) Beobachtung – „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum ...“ –, führt dann in das Alltagsgetriebe einer Großstadt ein, in der zwei Personen (Mann und Frau) selbstvergessen flanieren und plötzlich von einer „quer schlagende(n) Bewegung“ eines „jäh gebremste(n) Lastwagen(s)“, der einen Passanten erfasst, in ihrem Gang gestört werden und sich beobachtend verhalten: mit der Kompetenz des Mannes und der emotionalen Performanz der Frau. Der Mann: „Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.“ Die Antwortet verschafft ein beruhigendes Bauchgefühl. – Die Genealogie ist auf den drei Seiten dieses Kapitels beispielhaft für die dynamische Relation der szenologischen Differenz entfaltet: a. Atmosphäre, b. Situation, c. Unfall/Bruch, Szenifikation, d. Affektivität, e. Effektreduktion (Kausalierung, Statistik, Differenzanmahnung als Schuldverschiebung) f. Opferausweis (Anteilnahme). Musil deutet damit an, dass jede Situativität, durch eine spontane Aktion veranlasst, ihr abhanden gekommenes Signifikat nachträglich durch eine Deutung inszenieren muss, um die Spontaneität des Ereignishaften zu kompensieren. 7 Jeder Bibliothekar weiß, dass es (wie beim Militär) auf die Ordnungsmächte ankommt, wie Musil im Kapitel 100 („General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung“) seines Mann ohne Eigenschaften humorvoll beschreibt. Insbesondere in der Archäologie des Wissens (Frankfurt am Main 1981) geht Michel Foucault auf Ordnungsbeziehungen ein, die nicht mehr durch ein Opus und einen Autor (... „definitiv die Frage nach dem Ursprung aufzugeben, die beherrschende Präsenz der Autoren verschwinden zu lassen“ ...) (S.59) bestimmt sind, die sich über die Geschichte erheben können, sondern über das „Material, das man in seiner ursprünglichen Neutralität zu behandeln hat, eine Fülle von Ereignissen im Raum des Diskurses im allgemeinen. So erscheint das Vorhaben einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten.“(S.41) Ordnungen gleich welcher Art setzen die Wahl von Einheiten voraus, die Foucault nicht numerisch, sondern „allegorisch“ (S.43) durch „Analogiebeziehungen“ (S.19) von Subjekt und Wissen, im Sinne von Gleichnissen festgelegt sehen will. Der Ur-Sprung des Ereignishaften als Problem a priori des Konflikts/der Differenz erscheint als Doublette (Wissen von etwas), die Wissen unter dem deutenden Subjekt in seinen Zweifel befreit: „Die kontinuierliche Geschichte ist das unerlässliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts.“ (S.23) Die Einheit, von der Foucault spricht, bezieht sich auf ein ‚strukturales‘ Selbstbewusstsein, dessen ‚Einheit‘ im Sammeln und Lesen von Ordnungsbeziehungen niemals fest, sondern immer nur in der Verdichtung besteht, die auf Seiten des Individuums die Beständigkeit des Scheiterns mit der Kontrolle der Macht (Wissen als Macht und als Technik der Selbstbeziehung) retourniert. Deswegen scheint es angebracht, von der nichtnumerischen (natürlichen, evidenten, praktischen) Einheit als Szenifikation zu sprechen, von seiner Doublette als Situation, auch wenn der normale Sprachgebrauch davon abweicht. Man sagt aber: „Diese Person macht eine Szene“, man sagt nicht: „Diese Person macht eine Situation.“ Man befindet sich in einer Situation, ist ihr also unterworfen (subjectum). „[...] eine Geschichte, die nicht Einschnitt ist, sondern Werden; die kein Spiel von Relationen, sondern innere Dynamik ist; die nicht System, sondern harte Arbeit der Freiheit ist; [...]“. (S.24) Die Konstanz dieser dynamischen Relation, in der das eine nur unter dem Primat des anderen analogisiert werden kann (Begriff vs. Sache; Macht vs. Wissen; Subjekt vs. Ding etc.) kontingentiert dann Subjektivität als ein niemals in Positivität aufgehendes Selbstbewusstsein, das als Folie von Authentizität nur negativ erscheinen kann.
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Situation und Szenifikation, dessen virtueller Rest ‚Selbstbewusstsein‘ ist, wird nun auch die Welt der Natur, Gottes oder der Kultur plötzlich zu einer Welt für mich, und zwar zu einer von einem anderen Ich (Autor) gemachten Welt. Foucault hat das so bestimmt: „Eine Formulierung als Aussage zu beschreiben besteht nicht darin, die Beziehungen zwischen dem Autor und dem, was er gesagt hat [...] zu analysieren; sondern darin, zu bestimmen, welche Position jedes Individuum einnehmen kann und muß, um ein Subjekt zu sein.“8 Die Position ist zunächst die der Armut an Aussage selbst, die in der Vorgabe jeglicher Bedeutung als technisch vorgegebenem Gebrauch ruht. Dagegen kann das Subjekt eine theatralische Position einnehmen, die aus sich selbst die Szenifikation (nämlich die Formulierung der Aussage) erschafft. Die Freiheit und das Spiel werden zu einem symptomatischen Zwang, also gerade nicht das, was sie in der Geschichte der Aufklärung zu sein vorgeben: Die Angst vor der Freiheit (Sartre) dominiert die Tendenz, Inszenierungen als Deutungsvorgaben zu erzwingen. Die szenifikatorische Transformation einer Situation setzt allererst ein Ich ein. Dieses Ich braucht durchaus nicht personalisiert zu sein. Nehmen wir an, ich erlebe, durch die Straßen einer Stadt wandernd (immer ist es die städtische Kultur, die das Ereignis schafft), einen Autounfall (das Gleichnis Musils). Er wird mich nicht kalt lassen und wenn ich zu seiner Beschreibung (etwa gegenüber der Polizei) ansetze, werde ich das Isolat der Szene mit dem Wort „Plötzlich“ beginnen lassen und mit der Mutmaßung auf die Schuldfrage beenden. Auf diese Weise ist der ‚Autor‘ des Unfalls implizit der Agent meiner Erzählung und der Unfall ein szenisch verdichtetes Ereignis, mit einem abrupten Anfang und Ende ausgestattet. Die Szenifikation besteht in der Subjektivierung der Situation, d.h. in der Erschaffung eines (nachträglichen) Autors, von dem die Polizei die Authentizität der Ereignisse nach einem Schema wird re-konstruieren müssen. Damit verwandelt sie das subjektive Geschehen in eine situative Episode zurück. Das Ereignis wird dadurch theoretisiert, es folgt einer gewissen Logik usw. Diese szenologische Differenz von Authentizität (Situativität) und Szenifikation (Verdichtung) ist nicht bloß eine Differenzierung, sondern sie ist als Beschreibung der Differenz zu einer konstruktiven Identität (Situation) zu entwiDerrida zeigt an Artauds Theateranspruch, dass es gerade die Bevorzugung des Wortes als Begriff, also die skripturale Tradition war, die die Szene als Ort der Freiheit reglementierte. „Durch das Wort (oder vielmehr durch die Einheit von Wort und Begriff [...]), unter der theologischen Aszendenz von diesem ‚WORT (das) den Maßstab für unsere Ohnmacht‘ [Artaud] und unserer Angst darstellt, wird die Szene selbst während der ganzen okzidentalen Tradition bedroht. Das Abendland – und darin bestünde die Energie seines Wesens – habe immer nur an der Auslöschung der Szene gearbeitet. Eine Szene, die nur einen Diskurs illustriert, ist nämlich nicht mehr durchgängige Szene. Ihr Verhältnis zur Sprache ist ihre Krankheit, und ‚wir wiederholen, dass unsere Zeit krank ist‘. Die Szene zu rekonstituieren, endlich in Szene zu setzen und die Tyrannei des Textes umzustürzen, stellt somit ein und dieselbe Geste dar. ‚Triumph der reinen Inszenierung‘:“ Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1976, S.357. Zitationen: Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. 8 Foucault, Archäologie des Wissens, a.a.O., S.139.
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ckeln. Die Logik dieser Beschreibung als Deutungszuschreibung lässt sich nicht mehr auf eine technische Logik oder eine physikalische Ästhetik zurückführen, weil mit ihr ein Subjekt der Deutung etabliert wird. Sie folgt einer Logik, die Hegel im Diskursfeld der Philosophie als ‚Phänomenologie des Geistes‘ vorgeschwebt haben mag,9 eine Rückverwandlung ästhetischer in ethische Prinzipien und deren Handlungserkenntnis als einer ‚Technik‘ des Selbstverstehens.10 9
Ich überbeanspruche den Leser gerne mit diesem Exkurs: Hegel hebt in der Phänomenologie des Geistes nicht auf den Begriff der Situation ab, sondern auf den der Erfahrung. Aber die Erfahrung manifestiert sich als Welt der medialen Vermittlung und der Möglichkeit der Täuschung. „Es erhellt, dass die Dialektik der sinnlichen Gewissheit nichts anderes als die einfache Geschichte ihrer Bewegung oder ihrer Erfahrung und die sinnliche Gewissheit selbst nichts anderes als nur diese Geschichte ist.“ (G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main 1980, S.90.) Es gibt aber einen eigenen größeren Abschnitt über den Begriff der Situation in der Kunst in den Vorlesungen zur Ästhetik, Teil I. Hier wird Situation verstanden als „allgemeine(r) Weltzustand“, ausgehend von einem „Ideal der Kunst“ (im Sinne der griechischen Kunst). Die Individualität der Form, die ein Prozess des Zerfalls von Autor und Werk darstellt, die Kunst ihres mythisch/magischen Zwecks entkleidet, vollzieht sich erst in der „Kollision“ der Subjektivität des Künstlers (nach Wilhelm Worringer dann der ‚Stilfreiheit‘ bzw. der Differenz zwischen dem Ideal des Könnens und der Individuation des Wollens) und der technischen Möglichkeit der Künste/Techniken. „Denn die Situation überhaupt ist die Mittelstufe zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung, weshalb sie auch den Charakter sowohl des einen als anderen Extrems in sich darzustellen und uns von dem einen her zu dem anderen hinüberzuleiten hat.“ G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Stuttgart 1977, S.290. Zurecht setzt Hegel also ‚Situation‘ nicht als bloße ‚Ausgangslage‘. Wenn das für die Einführung der szenologischen Differenz der Einfachheit halber geschieht, dann nur unter dem Hinweis, dass die Amplitudenbewegung keinen Anfang und kein Ende hat, weil sie Zeit selbst ist, im Sinne der frühromantischen Tradition: Zeit ist Einbildungskraft, so das Theorem von Kant über Novalis bis zu Heidegger. Unter dem Abschnitt „Kollision“ erläutert und differenziert Hegel die möglichen Konflikte zwischen dem Subjektiven und dem Allgemeinen in Hinblick und in Vorbereitung auf die Idee der Dramatik, also der Opferverhältnisse – vor allem in Beziehung auf das Ideale/Reale. Der Konflikt aus der Kollision führt in einem dritten Abschnitt zur „Handlung“. Hegel bezieht sich hier ausnahmslos auf Dichtung und Theater und darin handelnde Personen. Erst in dem darauf folgenden Abschnitt (III. Die äußerliche Bestimmtheit des Ideals; S.346ff.) werden die szenischen Elemente und Medien als „sinnliches Material“ (S.349) aufgerufen. Im Zusammenwirken der äußeren und inneren Bestimmtheit des Ideals gemäß des „subjektive(n) Geltendmachen(s) der eigenen Zeitbildung“ (S.374) werden dann die Probleme der Inszenierung insbesondere eines ‚Zeitideals‘ besprochen, wobei Hegel nicht von Inszenierung, sondern von „Aneignung“ spricht, und zwar nicht der einfachen Aneignung, sondern der Aneignung der Intention des Autors (Idee/Genie), womit wiederum der Tausch ideal-real gemeint ist. Hegel arbeitet also systematisch auf einen Übergang von Situation, Konflikt (Kollision), Inszenierung (Aneignung) hin, und zwar unter der Voraussetzung, dass etwas an der Sitation in Konflikt mit dem Ideal ihrer Ruhe/Indifferenz passiert. Dieses Moment ist das der Handlung – worunter sich die Unmöglichkeit der Ruhe (der Unerklärbarkeit) des Selbstbewusstseins als Zeit verbirgt. Damit ist Hegel vermutlich der Erste, der Inszenierungen (in Roman und Theater) als Formalisierungen der Selbstbewusstseinsproblematik wie der Welt (respektive der Geschichte) versteht – und nicht als Effektivität eines Spiels. Auf diesem Weg müssen wir Hegel folgen. 10 Auf den Zusammenhang von Situation und Szenifikation (Ästhetisierung) als Verschiebung eines „Horizonts“ hat ausführlich Hans-Georg Gadamer aufmerksam gemacht. Die damit zusammenhängenden Ausführungen auch zu Gadamers Spielbegriff gehören ebenfalls in das Register einer zukünftig zu leistenden ‚Szenologie‘„ [...] sie habe den Weg der Hegelschen Phänomenologie des Geistes insoweit zurückzugehen, als man in aller Subjektivität die sie bestimmende Substanzialität aufweist.“ Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 4. Auflage, Tübingen 1975, S.286.
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Als Vorgabe von alle Kultur durchdringenden Göttern kann eine Szenologie zumindest zwei Fragen stellen: Was ist und unter welchen Bedingungen wird von Subjekten ‚Spiel‘ realisiert (wobei das Realisieren und das Wahrnehmen identisch sein können)? Diese Frage tangiert die Idee der Freiheit vom Selbstbewusstsein. Sie ist in scharfem Gegensatz zum (inneren) Unbewussten im Freudschen Diskurs zu denken, das wir als die ‚Welt da draußen‘ (Sartre) interpretieren müssen. Im Gegensatz zu Freud ist das Unbewusste in den Dingen und das Unterbewusste in den Situationen latitiiert. Eine Situation brauche ich zum Beispiel bei einem Spaziergang durch eine Stadt nicht eigens zu reflektieren: Kompetenz und Performanz sind identisch, Heimat ist ein Zustand, der nach Freud Abwesenheit von ‚Schocks‘, von spontanen Ereignissen meint, d.h. Ritualität. Die zweite Frage stellt sich ebenfalls von der Situativität her. Wenn die Situation die Evidenz der Deutung ist, was muss ich dann wissen, um eine Szenifikation z.B. als Inszenierung (eines Autors oder einer Institution) von einer Situation zu unterscheiden, gesetzt die Forderung, dass die Erkenntnis als Selbstbewusstsein voraussetzt, dass es andere Selbstbewusstseine gibt?11 Hier sieht man, dass die Inszenierung eine Deutung ist, die eine Bedeutung erst nachträglich gewinnt, indem die Identität von Kompetenz (Wissen) und Performanz (Handeln, nämlich ‚Deuten‘) zerfällt. Szenografien sind nun solche Situativitäten, die ihre Ereignisse durch ihre Deutungen erzeugen. Hinsichtlich des szenografischen Interesses nach der Konstruktion und Simulation von Welten kann nun behauptet werden, dass in jeder Szenifikation die Deutung früher ist als das Wissen, während die Inszenierung das Wissen um die Deutungsautorisierung mit einschließt.12 Diese Achronie genügt, um die Freiheit der 11
Zu dieser Diskussion vgl. Manfred Frank: Ansichten der Subjektivität. Frankfurt am Main 2012, S.261ff., z.B. im Verweis auf Dieter Henrich: „Tatsächlich vertritt Henrich aber die Auffassung, dass im Mit-sich-Vertrautsein gar keine Identifikation stattfinde und dass die Vertrautheit auch nicht den Charakter eines Wissens habe.“ (S.272) Aus diesem Umstand, so werden wir sehen, schließt dann Luhmann zu Recht, dass es sich beim Selbstbewusstsein um eine Täuschung der Subjekte in ihren überindividuellen Austausch- und Kreditierungsformen handelt, die in Momenten der reversiblen, der antizipierenden und der still gestellten Zeit geschehen können. Diese magische Zeit (Reziprozität) konstituiert das Subjekt durch die Gemeinschaft. Wobei die Gemeinschaft (Horde, Clan, Familie, Gruppe, Klasse, Partei) unhintergehbar rituell, also zeitneutralisierend wirkt. 12 Vgl. dazu den Subjektivitätseffekt, den Michel Foucault beschreibt: „Interpretieren ist eine Weise, auf die Aussagearmut zu reagieren und sie durch die Vervielfachung des Sinns zu kompensieren. [...] Aber eine diskursive Formation zu analysieren heißt, das Gesetz dieser Armut zu suchen, ihr Maß zu nehmen und ihre spezifische Form zu bestimmen.“ (Ders., Archäologie des Wissens, a.a.O., S.175) Wenn also der Szenograf den Standpunkt des Deutens offeriert oder auch nur seine Offerte vortäuscht, muss nach der Armut bzw. der Not dahinter gefragt werden: ein Mangel an Bedeutung, d.h. in Bezug auf die Performanz: ein Mangel an Handlungsfreiheit? Es gibt also Sinn ohne Bedeutung. Die szenografischen Narrative arbeiten wie die Geschichten aus 1001 Nacht. Ihre Bedeutung besteht darin, Zeit festzuhalten, sie zu verzögern und zu verfielfältigen, die Kreditierungen und Aufschübe der ‚Triebdynamik‘ voreilig vom Himmel auf die Erde zu holen. Denn dass es zur technischen Kompetenz keine Alternative gibt, ist qua Universalisierungsanspruch der Naturwissenschaften eine conditio sine qua non der Bedeutungsarmut. Letzteres ist etwa durch die Täuschungsmenagerien des Barock
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Subjektivität als Freiheit des Spiels zu konventionalisieren und zwar in der Regel unter der Akzeptanz mehrerer Subjekte, als Regulativ der „Kollisionen“ (Hegel). In spezifischer Weise ist Inszenierung nie eine Bedeutungs-, sondern eine Deutungsvorgabe (Motiv), die in der ‚normalen Praxis‘ sublimiert wird, nämlich in dem, was wir Realität nennen. In der Inszenierung kann sie hochgradig konventionalisiert sein.13 Realitäten werden im Allgemeinen als ‚nichtinszeniert‘ wahrgenommen, können aber gerade in einer subkutanen oder Metainszenierung subvertiert werden, eben dann, wenn nachträglich aufgeklärt werden muss, dass es sich um eine Inszenierung gehandelt hat. Aber gerade dann wird vom ‚Opfer‘ der Inszenierung eine Umdeutung vorausgesetzt, weil er die ‚wahre‘, weil verliehene Bedeutung nicht erkennen sollte. Die Parallele zu Hegel ist evident: In der Frage der Konstitution der Subjekte in einer Form spezifischer Regularität (deren Mächtigste der Staat repräsentiert) ist die zeitliche Reihenfolge der Konstitutionsetappen selbstbewusster Subjekte dem Spiel retroaktiver und inversiver Ereignisse ausgesetzt. Subjekte suchen sich in einem Akt der Selbstgründung aus einer Situation heraus zu legitimieren, als deren Folge sie sich erst profilieren sollen. Hier beginnt das Spiel mit den Zeiten, Welten und den Deutungen sich einer konkreten Logik fassbar zu machen. Die Idee der retroaktiven Performanz als Antwort auf die Aporien des Ursprungs hat immer wieder in Inszenierungsmodellen ihre Darstellung gefunden, z.B. in der Verfassung der USA. Das Amerikanische Volk – „im Namen und aus Macht der guten Leute dieser Kolonien“14 –, das sich erst durch die (der Himmel auf Erden in der barocken Deckenmalerei), die theatralischen Techniken (Versailles) und durch die Techniken der Zauberei allenfalls noch möglich und zunehmend möglich durch die Inszenierung der Mediengadgets. Die Welt aus Stuck und Leim versteht sich selbst als politische Inszenierung durch avancierteste Technik. Nicht die Armut dahinter, sondern den Reichtum davor stellt sie zur Schau. Unter dem Siegel der ‚Ganzheitlichkeit‘ und dem der universellen Teilhabe verbergen sich eine Armut der Dialekte und Artikulationen und eine Prävention vor der Leere: der Szenograf als Unterhaltungssamariter. Theoretisch gilt es – wie in der hermeneutischen Theorie seit Gadamer üblich – die Vorurteilsstruktur einer Prätention der Deutung positiv aufzufassen als Inszenierung und somit Öffnung des hermeneutischen Zirkels für eine ursprungslose Anerkennung eines Spiels jeder Deutung. Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.250-275. 13 Freuds Realitätsbegriff ist von dem der Verdrängung der „Phantasiewelt“ geprägt, also ebenfalls dem Spiel von Armut an Bedeutung und Reichtum an Deutung unterworfen. Werden die kulturellen Bedeutungen aufgegeben bzw. durch alternative Ordnungen (Foucault) verdrängt, also die Verdrängung selbst teilweise aufgehoben, stellt sich ein Stück des alternativen Spiels, der Phantasie und Magie wieder ein, und zwar marginalisiert als Pathologie: „Aber die neue, phantastische Außenwelt der Psychose will sich an die Stelle der äußeren Realität setzen, die der Neurose hingegen lehnt sich wie das Kinderspiel gern an ein Stück der Realität an […], verleiht ihm eine besondere Bedeutung und einen geheimen Sinn, den wir nicht immer ganz zutreffend einen symbolischen heißen. So kommt für beide, Neurose wie Psychose, nicht nur die Frage des Realitätsverlustes, sondern auch die eines Realitätsersatzes in Betracht.“ Sigmund Freud: Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. In: Ders.: Schriften zur Krankheitslehre der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1991, S.277. 14 Natürlich ist die Repräsentation des Kongresses der Einzelstaaten eine Zwischenvermittlung. Im letzten Abschnitt der von John Hancock unterzeichneten Erklärung vom 4. Juli 1776 wird aber die Gewalt der Separation, also ihre Unvermittelbarkeit, deutlich hervorgehoben.
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Verfassung konstituiert, kann nicht zugleich der Verfasser dieser Verfassung sein. Die Reversibilität des Zeitproblems wird in der Praxis durch einen Akt des ‚Vertrauens auf Gott‘ kreditiert und in einem Akt der Unterzeichnung inszeniert. Die Inszenierung besteht in einer Medialisierung, der Verwandlung des Wortes in reproduzierbare Schrift. Kurzum, die Performanz wandelt sich in Kompetenz um, die Götter verschwinden als Medien, weil die Inszenierung sich ‚außerhalb der Zeit‘ (und somit außerhalb der historischen Realität) als einmalige, unwiederholbare Situation (Datum/Kompetenz) reetabliert. Das zeigt, dass die Einheit der Zeit in der Szenifikation unterlaufen wird und weniger für die Philosophie als für die Wissenschaft ein Ärgernis bedeutet, das mit der Abschaffung des Subjekts zu beantworten ist. Mit Datierung und Unterschrift versehen ist der Akt der Verschriftung nicht hinterfragbar, er reiht sich wieder in die historische Zeit ein. Erst danach wird wieder zum Wort gegriffen: die Vereinigten Staaten von Amerika werden ausgerufen und erlangen somit in der Praxis Geltung. Wir haben hier also den Fall der Inszenierung einer Situation auf der Grundlage eines Paradoxons der Ursprünglichkeit der Selbstbestimmung, das nicht anders legitimiert werden kann als durch eine Inszenierung – was nichts anderes ist, als ein magischer Akt zur Bannung des Götterwillens (der Aufsässigkeit der Kolonisten), Hervorbringung von Legitimität einerseits und Selbstbewusstsein (jetzt, ab diesem Augenblick Amerikaner zu sein!). Wenn wir also den Begriff der szenologischen Differenz als eine Beziehung von Wissen und Handlung auffassen und eben nicht als ein ästhetisches Verhältnis, dann lässt sich leicht die faule Atmosphäre der bisherigen Bestimmung des szenografischen Geschäfts erkennen. Es hat keinerlei Lust, sich mit der Situation zu beschäftigen, in der immer differenziertere Techniken nach immer plausibleren Reduktionen von sich selbst aktivierenden Handlungen verlangen, es stellt sich nicht die Frage nach seinem eigenen Effekt. Dieses Harmoniebedürfnis, dem es sich andient, konterkariert und bestätigt sich zugleich durch die fürsorgliche Einfügung von Störungen (Sensationen, aber auch Subversionen) als Training in einer Welt, die nicht mehr durch kontingente Situativität, sondern durch eine permanente Folge von Schocks erwächst, wie schon Poe und Baudelaire wussten. Dabei haben begriffliches Denken und szenifikatorische Strategie – wie das Problem der amerikanischen Verfassung zeigt – als differente je ihre Berechtigung, was in der Formel zum Ausdruck kommt: Keine Aufklärung ohne Inszenierung; oder anders formuliert, ohne ‚Bewusstsein‘ bleiben alle Aufklärungen magisch, werden als Inszenierungen nicht wahrgenommen. Es geht nicht darum, die Szene und die Situation als differente Ereignisformen zu erweisen – schon aus dem Grunde nicht, da Deutungen nicht negierbar sind –, sondern darum, die Frage zu stellen, zu welchen extremen Positionen der Ernst der Lage führen könnte, der sich durch eine hedonistische
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Verzückungsbranche gesichert weiß, die Szenografien einsetzt, um mit geplanten Effekten ‚spontane‘ Affektionen hervorzurufen.15 Das eine nicht ohne das andere. Die Moderation der Verhältnisse, der inzwischen inflationäre Gebrauch der Begriffe ‚Szenografie/Inszenierung‘, sowie die Wahrnehmung der Welt als einer Simulation (Baudrillard) lassen den Verdacht aufkommen, dass wir uns erstens wieder katholisch barocken Zeiten nähern, in denen wenigstens provisorisch aus Gips und Kleister die unkontrollierbaren Fliehkräfte der technisierten Realität ästhetisch und armselig verwaltet werden könnten, zweitens, dass die für ein Selbstbewusstsein notwendige Voraussetzung der Körperfühlbarkeit selbst technisch, und d.h. immer im Zuge einer strategischen Intervention, also als Inszenierung hergestellt werden muss. Dieser Konfusion des Realen wenigstens auf reflexiver Ebene und somit nachträglich (also immer zu spät) nachzudenken, die Flucht in das Identitsche und aus der Identität wahrzunehmen und zu markieren, muss ein szenologisches Konzept konstituiert werden – umso mehr, als mit ‚Szenifikation‘ nicht nur der marginale Bereich der ‚Inszenierung‘ im produktionsästhetischen Sinne zu verstehen ist.16 Kann also Freiheit nur als inszenierbare Geltung haben? Die Begriffe Situation und Szenifikation scheinen mir neutral genug, um nicht einen Sachverhalt, ethnologisch, anthropologisch, soziologisch oder historisch vorauszusetzen, den man doch eigentlich erst begründen will. Mit dem Begriff des Homo ludens ist nichts gewonnen. Es geht ganz konkret um die transzendentale Frage des Effekts der Freiheit für eine Affektivität von Selbstbewusstsein – ich benutze absichtlich die Begriffe aus der kantischen und nachkantisch, kritischen philosophischen Diskussion, um die Magie des Selbstbewusstsein, dessen Kern für mich die Deutungsfigur einer jeden Szene ist, aus dem modischen Medien- und Technikdiskurs zu entlassen. Ich als anderer für den anderen als Ich selbst: Situation, in der das Individuum invers seiner eigenen Fremddeutung unterliegt, indem es sie über den anderen gleichnishaft (und das eben ist das Momentum des Spiels) antizipiert und sich als Different seiner Situation entwirft.
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Man kann nicht nachdrücklich genug auf das nationalsozialistische Rezept verweisen, sich mit Inszenierungen Legitimation zu verschaffen, obgleich die Probleme nicht auch hätten sich begrifflich oder diplomatisch vermitteln lassen. Die Inszenierungen, die im Übrigen vom ästhetischen Standpunkt manchmal hochwertig waren (wenn auch arm an Bedeutung), ersetzen die artikulierte Auseinandersetzung, sie ergänzen sie nicht notwendig an jenen Stellen, die paradox oder unerklärbar sind. Tauchen solche Paradoxa auf, setzt das Regime entweder auf Gewalt oder auf die Inszenierungseffekte von Lüge und auf Trug. 16 Die Meinung der Herausgeber ist die, dass man alle diese Diskurspositionen gleich bewerten sollte. So stehen in diesem Band z.B. künstlerische Darstellungen neben theoretischen Überlegungen.
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1. WITZ DER EFFEKTE
Behandelt wird die Frage der Effektivität der Szenografie unter zwei Gesichtspunkten: Was ist Effekt der szenografischen Techniken und Dialekte im Ensemble der Effektivitäten der Ökonomie? Und: Welche gesellschaftlichen Widersprüche müssen erscheinen, damit eine Verdeckungsleistung der Inszenierung innerhalb der Gesellschaft verstanden, institutionalisiert und professionalisiert wird? – Der zweite Gesichtspunkt zielt darauf ab, zu verstehen – nicht zu wissen –, warum es zwei unterschiedliche Arten der Realisierung gibt: Die eine schafft eine (physische) Realität, die behauptet, zu sein, was sie ist, und ihre gesellschaftliche Abkunft irrealisiert, die andere, die Szenifikation, irrealisiert sich selbst und zeigt sich als produziert, nämlich als Inszenierung. Sie ist Simulakrum einer künstlichen Natur und simuliert die Differenz zu einer globalisierten Kultur. Der ideale Effekt der Szenografie soll sein, eine Balance zwischen der Armut an Bedeutung und der Freiheit der Deutungsmöglichkeiten herzustellen, um die Implosion der technischen Komplexionen in der Gesellschaft konsum- und gebrauchsfertig zu halten und um die Polarisierung (cartesianischen) Wissens in performative Strategien zu verwandeln. Diese Verwandlung soll in der Übersetzung technischer Kompetenzen (einer dritten Natur) in Szenisches bestehen. Es handelt sich also um eine Anverwandlung von Ethik (dem Wert- und Handlungsraum) in Ästhetik (Darstellungsraum). Deswegen beginnen wir mit dem Problem von Übersetzung und Übertragung. 1.1. Werk und Inszenierung In einer Designzeitschrift las ich in einen Artikel zur Biennale in Venedig unter dem Titel „Kunst im Kontext“ den bemerkenswerten Satz: „Die Wirkung eines Kunstwerks hängt von seiner Inszenierung ab.“ 17 Dieser Satz, der an den Unterschied der Präsenz von Aura und Darstellung bei Walter Benjamin mahnt, kann als affirmativer Imperativ dem Motiv der Effektivität vorstehen. Denn in ihm wird die relationale Wechselwirkung zwischen Auratisierung und Ausstellungswert18 als Wirkung beschrieben, in der die Inszenierung einen Faktor von Kunst 17 MD. International designscout for furniture, interior and design. Heft 9.11. Konradin Verlag, Leinfelden-
Echterdingen, S.20. Der Artikel bezog sich auf die 54. Kunstbiennale in Venedig. 18 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. (Zweite Fassung)
GS Bd.1.2, S.504. Beides trifft insbesondere auf die „Architektur“ als „Prototyp eines Kunstwerks (zu), dessen Rezeption in der Zerstreuung und durch das Kollektivum erfolgt.“ Deswegen wird Architektur, besonders im Ensemble der Stadt, selten szenisch, meist situativ rezipiert. Vgl. auch den Abschnitt XIV, in dem Benjamin auf die historisch-ökonomische Entwicklung von Effekten eingeht, indem er diese als Vorwegnahmen einer zukünftigen (Medien)-Technik beschreibt. Effekte sind demnach Technikantizipationen am durch sie sich veraltenden Medium. Benjamin zeigt das am Dadaismus. „Der Dadaismus versuchte, die Effekte, die das Publikum heute im Film sucht, mit den Mitteln der Malerei (bzw. Literatur) zu erzeugen.“ (S.501) Damit ist Benjamin einer der wenigen, vielleicht sogar der Einzige, der Medieneffekte nicht als kurzschlüssige Knalleffekte, sondern als Not einer Achronie zwischen Kompetenz und Performanz deutet. Der Körper gibt immer noch mehr vor,
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darstellt: deren Übertragbarkeit, deren Medialisierung. Der Raum der Präsenz wird durch eine Zeit des Präsens, der in einer Ausstellung präsentierten Wirkung, ersetzt. Der Begriff ‚Wirkung‘ lässt die Hierarchie der Wechsel-,wirkung‘ von Kunst und Inszenierung ebenso offen, wie er die Frage nach einer eigenständigen Kunst der Inszenierung gar nicht erst stellt. Das Fehlen dieser Frage macht die Inszenierung zum Mittel für einen Zweck, nämlich die Illusionierung, das Kunstwerk sei ohne Inszenierung ein object truveé, seine Dekontextualisierung sei schlicht spontan. Die Wirkung ist, anders als bei Benjamin, mehr von der Zeitlichkeit als von der Räumlichkeit her gedacht. Dass in der Moderne Nicht-Inszenierung (Banalisierung) und Inszenierung ineinanderfallen, macht die Sache nicht einfacher. Angesichts einer journalistischen Bagatelle mag es nicht angebracht sein, in kunstphilosophische Überlegungen zu verfallen. Gerade aber im journalistischen und interpretatorischen Zusammenhang, der selbst eine Inszenierungsform ist, muss es notwendig sein, dem technischen Wirkungsgrad der ‚Verkunstungsleistung‘ szenografischer Arbeiten, also Inszenierungen, nachzudenken, erstens, weil der Künstler sich in das Gewerk der Inszenierung wird einbeziehen lassen wollen, zweitens, weil er den Anschein vermeiden will, in die Nähe der Inszenierungsform der Waren zu gelangen, die mit den gleichen inszenatorischen Praktiken ihre ‚Auratisierung‘ erreichen. Für einen Roman scheint das Problem weniger wichtig als für Kunst im öffentlichen Raum. So überwiegt im Messewesen der Inszenierungscharakter, während im musealen Zusammenhang einer der Autonomisierung der Werke überwiegen kann, was nichts anderes heißt, als dass die erfolgreiche Inszenierung sich selbst verdrängt bzw. neutralisiert, nachdem sie die Übertragung geleistet hat. Um das Drama der Verdrängung und der Abhängigkeit geht es in der Zuschreibung von Szenograf und Künstler, von Design und Kunst auf dem Feld ästhetischer Praxis. Wer oder was veranlasst diese Zuschreibung: Der Thaumaturg, der Dramaturg oder die Situation, d.h. die Kontextualität, die weniger räumlich als zeitlich in Erinnerungen, Gewohnheiten und Erfahrungen im Umgang mit Dingen sich vollzieht. Die ‚Ableitungsfähigkeit‘ des Kunstwerks von der Inszenierung, die im obigen Satz behauptet wird, meint nicht eine Verursachung. Es geht um Bezüge des Kontextes, der Dekontextualisierung und der Übertragung. In der englischen Übersetzung, die dem Artikel der Zeitschrift beigesetzt ist, ist das der Fall. Die Übersetzung des obigen Satzes, die man eher aus Gründen eines Scheins der Internationalisierung als aus Gründen der Information fremdsprachiger Leser hinzufügt, lässt den Sinn der Aussage wechseln: „The effect created by an artwork depends on how it is presented.“ Hier wird von einem als die Technik zu leisten im Stande ist, d.h., es entstehen Gestaltungen, deren Vergesellschaftungen und Verdinglichungen erst geleistet werden müssen. Solche Abweichungen sind stets dem Amateur oder Künstler vorbehalten.
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Effekt gesprochen, der durch ein Kunstwerk geschaffen wird, in dem Maße, wie es präsentiert wird. Dass lässt den Schluss zu, dass das Kunstwerk selbst in der Lage ist, seine eigene Präsentationsform mitzugeben, mitzudenken – dass es nicht möglich ist, eine Kunstform als solche zu betrachten, die nicht die Kunst der Selbstinszenierung gleichsam funktional aus sich herausstellte. Das wahre Kunstwerk schafft sich seine Präsentationsform, in dem Maße wie der Künstler auch Szenograf, aber der Szenograf nicht Künstler ist. So wie die Kunstform der gotischen Glasmalerei die Fenster der Gotik impliziert oder die gotische Figurenplastik abhängt vom Betrachtungswinkel und der Höhe der Kathedrale, so schafft sich beispielsweise das Tafelbild den Museumsort, es wird selbst zum Fenster, mit dem Effekt, dass das Problem der Beleuchtung relevant wird. Die Überlegungen zum Verhältnis von Werk und Inszenierung, von Künstler und Szenograf, aber auch von Kunst und Kunsthandwerkstechnik, stellen die Frage nach dem Effekt als Frage nicht nach der Autonomie der Kunst, sondern nach der Autonomie der Inszenierung. Unter Auratik könnte durchaus eine Inszenierung ohne Werk verstanden werden. Wenn wir das Beispiel der Warenwerbung betrachten, wird einleuchten, dass sie als vom Gebrauch getrennte ‚aufgesetzte‘ Ästhetisierung verstanden werden muss. Der Deutungsaspekt ist darauf bezogen, dass in vielen Fällen die Ware die Inszenierung ist und die Inszenierung einen Unterschied zwischen identischen Dingen macht. Die Inszenierung transformiert Dinge in Waren, d.h., sie verwandelt Bedeutungsarmut in Deutungsreichtum. Im doppelten Sinne kann deshalb die Inszenierung in der Szenografie eine Ware sein, die sich als Dienstleistung verkauft und erst einmal eines generiert: Übersetzungsmaschinen, Medialisierungen. Wenn Inszenierung im Vordergrund steht, dann geht es um Magie, Phantasmagorie, Zauberei und Illusion als Effekt des Versuchs ihrer Autonomisierung. Das Unableitbare wird mittels gezielter Ableitung in den Schein einer Logik gezogen. Aber die Inszenierungsform soll von der Produktionsform vollständig und ableitungslos getrennt sein, und die Ware erscheint wie durch ein Wunder auf den Affekt des Wunsches hin. Ein Kaninchen, das erscheint und verschwindet, ist scheinbar der Physik der Ableitungen enthoben, aber ein Kunstwerk, das als solches erscheint, wird insoweit als autonom gelten, wie nicht die Autorität des Künstlers (sein das Kunstwerk zeichnender Name) und seine Geltungskraft im sozialen Raum sich im Kunstwerk und im Versuch seiner Veröffentlichung die Macht der Aufmerksamkeit als ästhetischer Präsenz verschafft. In gewisser Weise ist das Kunstwerk heute durch den Künstler eher in einem sozialen als einem ästhetischen Raum inszeniert. Weil das Kunstwerk die Physik der Ableitungen im Künstler transzendiert – so ist überhaupt Kunst als soziales Phänomen zu habilitieren –, muss es Hand in Hand eine Komplizenschaft mit den Techniken eingehen, die die Zwischenschritte ihrer Herkunft (den Mangel)
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eliminieren. Die Magie des autonomen Kunstwerks, seine Ablösung von der Hand des Künstlers, wird in der Inszenierung der Ware zur Zaubertechnik. 1.2. Situation und Szenifikation Die Benjaminschen Begriffe von Nähe und Ferne wären als apparative Distanzierung zu übersetzen.19 Aus der Evaluation eines sozialen Raums schafft die Kategorie des Effekts die Unvermitteltheit von Präsenz, die sie vermittelnd präsentieren muss. Deswegen ist der Effekt eine transzendente Kategorie der Kunst. Wir sehen das an den Treppenhäusern des Barock: Hier repräsentiert der Ort, die Stufe, den sozialen Rang der Lakaien. Auf der obersten Stufe wartet der absolute Fürst und begrüßt den Gast. Das Treppenhaus ist ein brillanter Effekt am Rande der Kunst, zur Kunst hin (der Deckenmalerei), dort aber noch dienend gegenüber dem Monarchen oder Mäzen, der nicht die Autonomie der Kunst, sondern die Autonomie der Macht ihrer Selbstdarstellung referiert. Die (Selbst-) Inszenierungen Ludwig des XIV. in Versailles betonen, wie der Concettismo insgesamt, die Deutungshoheit über Zeitlichkeit, zum Beispiel indem sie Blickwege antizipieren und die Inszenierungen der Dauer verpflichten. Sie bilden erst den Rahmen für die szenografischen Ereignisse im Engeren (Feuerwerk, Fest, Aufführung etc.).20 19
Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, a.a.O., S.500f. An Stelle der Aura als einer „Ferne, so nah sie auch sein mag“ weist Benjamin auf die Effekte der Kamera (Großaufnahme, Zeitlupe etc.) hin. Der Unterschied zwischen Aura und Effekt liegt in dem „künstlich gewordenen“ „apparatfreien Aspekt der Realität“ (S.495), den Benjamin im Maler noch gegeben sieht, im Kameramann nicht mehr. Explizit verweist er in Abschnitt XI darauf, dass der Maler noch Magier sei, indem er sich auf ein „totales“ bezieht, während der Kameramann durch den „Schnitt“ seiner Apparatur bestimmt ist. „Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammenfinden.“ (S.496) Benjamin nennt dies „eine Natur zweiten Grades“. (S.495) In den neuen Gesetzen finden sich die des Szenografen, der mise en scène wieder. Statt ‚Natur zweiten Grades‘ ist heute von einer Naturproduktion dritten Grades zu sprechen: von Szenografie. 20 Es galt, den in der Fronde rebellierenden Adel an den Hof zu beordern, wo er wegen des Arbeitsverbotes auf jede Art von Zeitvertreib angewiesen war. Doch die Inszenierungen waren auch strategischer Natur: Der ausländischen Diplomatie galt es, eine konkrete Form der Macht zu demonstrieren, nämlich die über die Selbsttechniken. In den Illusionsformen gewinnt der König Macht über die Wahrnehmung, er kann sie lenken, ihrer ‚Natur‘ zuvorkommen, und er kann sie täuschen. Die Inszenierung der Macht als Strategie (Zauberei) schnürt so das Selbst als Subjekt in seinen Funktionen ein. An Stelle des Aggressionswillens versetzt der König seine Opponenten in den Zustand des Selbstzweifels. Foucault hat dieses ‚Spiel der Macht‘ als Spiel mit den Selbsttechniken, letztlich also mit dem Phantasma des Selbstbewusstseins beschrieben. „Für den Widerstand gegen die politische Macht [gibt es] keinen anderen praktikablen Ausgangspunkt [...] als den des Bezugs des Selbst auf sich selbst.“ „Die Macht ist nicht böse. Macht heißt: strategische Spiele.“ Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt am Main 2007, S.277 u. S.276. Daraus folgt aber auch, dass die Macht sich immer als Spiel das strategische ‚Glacis‘ verschaffen muss, dessen gegenseitig akzeptierte Wahrheit die ist, dass das Selbst sich über den anderen konstituiert, d.h., die Züge des anderen deuten kann. In der gleichen Weise arbeiten heute die Zauberkünstler. Sie sind
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Abb.1 Leiter zum Himmel (siehe Anm. 21).
Abb.2 Treppe zum Himmel (siehe Anm. 21)
Das barocke Treppenhaus wird ebenfalls von einem Effekt der Transzendierung getragen. Es geht nicht nur um allegorische Hierarchisierung, es schafft einen sozialen Raum und setzt damit die Normung des physikalischen Raumes außer Kraft. Diese Verwandlung ist im anthropologischen Sinne magisch. Während der Gast die Stufen emporsteigt, auf denen jeder nach seinem Rang sich präsentiert, steht die Zeit still, denn die Lakaien arbeiten nicht, sie posieren. Dadurch verwandelt sich der Raum der Bewegung in eine Dauer von Präsenz: Der Monarch ist in der Lage, mit diesem Effekt nicht nur den physikalischen Raum zu transformieren, er lässt auch die Zeit stillstehen. Und als wäre das nicht schon Magie genug, illusioniert das Deckengemälde eine anamorphotische Welt und eine der fugenlosen Übergänge von der Malerei zur Plastik und macht die eine Kunstdisziplin zur Inszenierung der anderen. Damit wird, neben der bedeutenden Kunst, die Inszenierung zu einer Antizipation der Deutung: die Subscriptio der Allegorie. Es kommt zu einer Verwandlung der Situativität. Wahrend die Emblematik Kompetenz verlangt und verleiht, wird in der Anzeigenreklame, die ebenfalls mit Motto, Subscriptio und Pictura 21 arbeitet, diese Kompetenz vorausder Wahrnehmung immer um ein Stück voraus und rechnen damit, dass wir unserer Subjektivität, d.h. unseren Deutungsintentionen treu bleiben. Gegen Selbstzweifel gibt es nur eine Strategie: „Die Selbstverwandlung durch das eigene Wissen.“ (Ebd., S.168) Bei Foucault wird deutlich, wie die Kompetenz, die Performanz, die Freiheit und die Macht strategisch aufeinander bezogen sein müssen, um sich jeweils selbst ihre Zukunft offenzuhalten. Macht hat also nicht prinzipiell etwas mit Gewalt, sondern etwas mit Lenkungsoptionen zu tun. 21 Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart und Weimar 1996, insbesondere die Vorbemerkungen: „Die Doppelfunktion des Darstellens und Deutens, welche die dreiteilige Bauform des Emblems übernimmt, beruht darauf, dass das Abgebildete mehr bedeutet, als es darstellt.“ (S.XIII) Demzufolge befreit sich die Emblematik in der Darstellung durch die Inszenierung, um mit der Deutungsmöglichkeit einer nicht mehr katholischen, sondern pluralisierten Welt Schritt zu halten. Die ganze Zeitepoche wird schließlich allegorisch. [Subscriptio zu LEITER IM HIMMEL (a quo trepidabo): Vor wem soll ich mich fürchten? – Ich will dir helffen auß der Noth / Sey nur getrost / Also spricht Gott: / Auff diesem Steg tritt dapffer her / Mein
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gesetzt. Damit ist aber ein wesentlicher Faktor der Verknüpfung von Kompetenz und Performanz egalisiert. Die Wechselwirkung von Kunst und Inszenierung ist nur dann gegeben, wenn die Inszenierung nicht Kunst und die Kunst nicht Inszenierung ist. Ihr Unterschied, das ist die Pointe der Überlegung zu den Übersetzungen, liegt in der Effektivität und Subtilität der Nichtidentität von Kunst (Ware) und Inszenierungsform, nämlich in der Art und Weise, wie das Transformationsopfer zur Darstellung gelangt und als positiver Effekt gedeutet werden kann. Zur Differenzsetzung bedarf es einer grundlegenderen Ebene der Differenzierung, die ich jetzt einführen möchte: die der szenologischen Differenz mit ihrer dynamischen Relationalität von Situation und Szenifikation.22 Damit die szenologische Differenz gewahrt und verifiziert werden kann, muss gezeigt werden können, dass jede Übersetzung eines physikalischen Raumes, wie seine Transformation in einen sozialen Raum bzw. soziale Zeit, Differenzen schafft, die einerseits die Realitäten verfestigen, andererseits aber die Differenzen selber an den Orten kassiert, indem die Unterscheidung von Situativität und Szenifikation Selbstbewusstsein als Kontingenz stiftet und damit erst nachträglich den Ort konstituiert, von dem aus die Unterscheidung nicht mehr draußen, sondern durch mich (Ich), als Verinnerlichung23 zu erfolgen scheint. In den philosophischen Theorien des Hand ich dir darreichen wer / Ob schon der Weg gefährlich ist / Hilff ich dir doch zu aller frist / Laß sausen / brausen / was es mag / Halt dich an mich / vnd nicht verzag. | Ps.21.1. 144,7. 119, 173; Mont. Nr.13 | Emblemata, a.a.O., Spalte 1416f.] [Subscriptio zu TREPPE ZUM HIMMEL: Ich kenne jemanden, dem träumte, als er noch ein Kind war, daß vom Himmel eine steinere Treppe zur Erde herabführte und er auf ihr nach und nach hinaufstieg. Und jedes Stufe, die er betrat und hinter sich ließ, brach zusammen, sobald er seinen Fuß hinweggeschoben hatte. Und so mußte er immer weitersteigen, weil er beim Zurückgehen abgestürzt wäre. | Hor. II Nr.26 | Emblemata, a.a.O., Spalte 1203] 22 Um die terminologische Problematik nicht ausufern zu lassen, lehne ich mich an die Begriffe an, die Sartre (und Hegel) gebrauchen, um die Überschreitung der menschlichen Existenz nachzuvollziehen. Sartre geht von einer situativen Praxis aus, die eine Negation als Position ist und die in einem Entwurf überschritten und verinnerlicht werden kann. Analog den Begriffen ‚Existenz (Praxis)‘ und ‚Entwurf‘ benutze ich die Begriffe ‚Situation‘ und ‚Szenifikation‘, um anzudeuten, dass die Praxis der Inszenierung eine Form der Appropriation des Realen (nicht: Realität!) zu Zwecken der Integration des Entwurfs in die Praxis hinein darstellt, womit einer Simultaneität zweier unterschiedlicher Praktiken (Psychose!) widersprochen wird: Die eine zergliedert, individuiert und verdinglicht, die andere vertuscht oder rettet die Verdinglichungen in die integrative Einheit einer Sache, in der der Entwurf der Praxis vorauseilt statt umgekehrt. Das Primat des Entwurfs ist dabei vor allem das Kennzeichen einer imaginären Praxis des Entwurfs, für Sartre im konkreten Sinn Literatur und Theater: „Die Wahrheit der imaginären Praxis liegt ganz einfach in der wirklichen Praxis, und jene enthält, soweit sie sich für bloß imaginär hält, implizite Verweisungen auf die wirkliche Praxis zu ihrer Interpretation.“ (S.40) Das Problem, das sich für uns heute stellt, ist klar: Wie ist die imaginäre Praxis als gesellschaftliche Reziprozität von einer realen Praxis zu unterscheiden? Und: Welche Methoden der Interpretation bieten sich an? Denn die situative Praxis kann die Deutung ihrer Darstellung nicht eigens herausstellen, ohne Inszenierung zu werden. Vgl. Jean-Paul Sartre: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik. Reinbek 1971. 23 Sartre, Marxismus und Existentialismus, a.a.O., S.92: „Die Welt ist draußen: weder Sprache noch Kultur sind im Individuum wie ein ihm durch sein Nervensystem aufgeprägtes Warenzeichen, sondern das Individuum ist in der Kultur und in der Sprache, d.h. in einem Sonderbereich des
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Selbstbewusstseins wird dieser magische Vorgang als Inversion bezeichnet. Als entsprechender Effekt wird diese Bewegung der Einbildungskraft als Bildlichkeit (Ästhetisierung, Darstellung) aufgefasst, wie Hans-Dieter Bahr nachgewiesen hat: „Der Sinn des ‚Wieder‘ der bildlichen Wiedergabe liegt darin, nachträglich eine Vorgabe zu stiften. Das Thema des Bildes hinkt nicht, wie das bloße gespiegelte, als Effekt irgendwelchen Ursachen hinterher.“24 Szenifikationen sind aber gerade deswegen nicht ‚bloße‘ Bilder, weil in ihnen nicht der Darstellungsvorgabe als Sujet (Bahr) Raum gegeben wird, sondern weil sie funktionale Vorgaben einer sozialen Zeit sind, die sich – aus ihren Strukturvorgaben heraus – nicht wiederholen lassen, weswegen gerade Inszenierungen in ihrer Ritualisierung quasi neurotisch auf einem Wiederholungszwang beharren. So ist Benjamins Effektbegriff als Antwort auf einen antizipatorischen Ursachebegriff zu verstehen, derart, dass Effekte den Wunsch nach einer Verdinglichung (Realisierung) ihrer Leistungen erkunden, aber, und dass zu bemerken macht den Hauptgegenstand der szenologischen Differenz aus, noch keinen dinglichen, sondern einen Entwurfscharakter besitzen. Noch grundlegender als in Bahrs Bildtheorie wird deswegen die Beziehung auf die Kategorie des Selbstbewusstseins als zeitlicher Dauer virulent, und zwar in der Tradition der philosophischen Verhältnissetzung von Zeit und Einbildungskraft und deren Repräsentation als Subjekt, worauf es sich gründen muss. Dass im Prinzip der Einbildungskraft immer noch der Impetus- bzw. Kausalbegriff der Kraft lauert, verhindert ein Denken des Gleichnischarakters von Inszenierung. Es ist überraschend, dass die Kategorie ‚Selbstbewusstsein‘ nicht aus einem autonomen Akt des Denkens und des Zweifels als Denken der Differenz fundiert wird, sondern als Effekt des Effekts von Subjektivität. Denn das Paradoxe an der Relation der szenologischen Differenz ist, dass unter Situation ‚Gegenwart‘, eine zeitliche, präreflexive Präsenz, und zwar eine des Stillstandes verstanden wird, während die Szenifikation eine Ordnung meint, die sich auf die Gegenwart der Vergegenwärtigung bezieht, die ich nicht eigentlich bin, sondern deren Deutung ich unterworfen bin, und zwar mittels der Bewegung, die meine Selbstwahrnehmung verpasst, sich aber als Selbstbewusstsein behauptet, Instrumentalfeldes.“ – „Die Praxis ist nämlich ein Übergang des Objektiven zum Objektiven durch Verinnerlichung.“ (S.79) Entsprechend ist die Inszenierung ein Übergang der Aneignung durch Veräußerlichung (Darstellung, Ausstellung). 24 Hans Dieter Bahr: Schreckensbilder. Entwurf einer Bildtheorie. In: Petra Maria Meyer (Hg.): Gegenbilder. Zur abweichenden Strategie der Kriegsdarstellung. München 2009, S.114. Die Komplexität des Ansatzes von Bahr kann hier nicht einmal nur angedeutet werden. Sie umfasst sowohl eine Ableitung des Problems der Einbildungskraft durch Kant und mit Heidegger, als auch eine Ableitung eines Bewusstseins („Daseins“) aus der Situation des „Daseienden schlechthin“. (S.93) Weitere Ausführungen zur Bildphilosophie sind von mir gemacht in: Zur soziografischen Darstellung von Selbstbildlichkeit.Von den Bildwissenschaften zur Szenologischen Differenz. In: Bild und Moderne, hgg. von Martin Scholz und Klaus Sachs Hombach, (IMAGE, Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Themenheft Frühjahr 2013).
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indem sie die Nachträglichkeit sublimiert. Es muss also in einem bestimmten Moment der Selbstvergegenwärtigung zu einer Umkehrung der Zeit kommen, die die Schmach der Verspätung auslöscht. Die Antizipation (Konstruktivität) des nachträglichen Effekts des Bewusstseins-von-sich-selbst ist Szenifikation (in Differenz zu Inszenierung). Während also die Situation ist, was sie ist, lanciert die Szenifikation, was sie als Selbstbewusstsein verpasst: Es ist der Versuch einer nachträglichen Stiftung der Vorgabe, die sich selbst in ihrem Seinstatus zurücknehmen muss, um nicht als Ding bzw. als Inszenierung die Zeitstruktur der Vorgängigkeit zu zerstören, um deren Darstellung es ihr geht. Selbstbewusstsein ist also Selbstdeutung, nicht aber Selbstbedeutung. Als diese, nämlich als Problem der Selbstdarstellung ist sie Selbstinszenierung. Durch den Verlust des seit der Frühromantischen Philosophie beklagten ‚authentischen‘ Bewusstseins-von-sich-selbst erscheint, wie die Philosophie seit Heidegger und mit Kant herausgefunden hat, das Problem der Synchronisation von individueller und allgemeiner Zeit, als das der von Vorstellung und Darstellung.25 Es gibt nicht halbes oder teilweises Selbstbewusstsein. Es gibt nur und ganz Bewusstsein in seinen zeitlichen Stasen.26 Der Hysteriker, um dieses Urbild der Selbst-Szenifikation aufzunehmen, macht eine Szene aus dem Wissen heraus, dass er nicht der Ursprung seiner selbst sein kann, sondern nur in seiner Szenifikation (Performance) für einen anderen, den er neurotisch auch noch selber spielen muss. Dass ihm dieses Paradox zu lösen misslingt, macht den Zwangscharakter aus: Aber gleichzeitig zeigt das Misslingen die Wahrheit des Selbstbewusstseins. Der Hysteriker dementiert alle Ursprungssetzungen als falsch und wirft damit die Frage nach der Kontingenz von Weltdeutung auf. Ich habe im letzten Abschnitt vor, auf die fundamentale Problematik der Differenz von Situation und Szenifikation, das präreflexive Selbstbewusstsein27 25 Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt am Main 1973, §32. Und: Manfred Frank: Das Problem ‚Zeit‘ in der deutschen Romantik. Zeitbewusstsein und Bewusstsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. München 1972. 26 Zur in diesem Aufsatz nur angerissenen Problematik der Bestimmung von Selbstbewusstsein sei auf Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939. Reinbek 1982; und: Ders.: Bewusstsein und Selbsterkenntnis. Die Seinsdimension des Subjekts, Reinbek 1981 (*1948) verwiesen. Als Übersicht zur Darstellung der philosophischen Positionen folge ich den neueren Ausführungen von Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O. 27 Es geht dabei um Identität als Präsenz, die ja schon vorhanden sein muss, um sich reflexiv im Licht der Dinge deuten zu können. Aber dann sind die Dinge schon bedeutsam, bevor ein Ich es ihnen zugesteht. Dieser Zirkel der Reflexion wird seit der Frühromantik problematisiert. „Zwei Neuerungen charakterisieren das frühromantische Paradigma: Erstens ist der kantische Dualismus in einem neuen Monismus überwunden; zweitens wird Selbstbewusstsein nicht mehr wie bei Kant und Fichte (und auf andere Weise wieder bei Hegel) als Prinzip oder oberster Grundsatz der Philosophie gedacht. Die Relation, in der ein bewusstes Wesen im Selbstbewusstsein zu sich selbst steht, wird vielmehr für etwas Abkünftiges gehalten: für eine bloße relative Einheit, die die absolute zu ihrer Voraussetzung hat.“ Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O., S.194. Dieser vorgängige Monismus nimmt im Verlauf des 19. Jh. zwei Gestalten an: 1. Die Geschichte als Organisation der Präsenzen, des ‚Erwachens der Subjekte‘, die zweite Aufklärung. 2. Die (bürgerliche) Gesellschaft als Organisation
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einzugehen und auf die Not der reflexiven Verspätung und des reflexiven Regresses abzuheben, in der die Unterscheidung Subjekt-Objekt immer schon die Unterscheidung von Situation und Szene voraussetzt, sodass die Selbstansicht als Exhibition, als Schauspiel, nicht zuletzt in der verloren gegangenen Geste der Hysterie, sich durch sich selbst quasi als ‚außerhalb der Weltzeit‘, d.h. außerhalb der Genesis der Verdinglichung bemerkbar machen kann. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass die im Spielbegriff lancierte Freiheit etwas anderes ist als die illudische Illusion eines offenen ‚Raumes‘. Freiheit muss als solche inszeniert werden. Szenifikation ist also kein Surplus, sondern die Möglichkeit der Brechung des Selbstbewusstseins für sich selbst durch einen anderen – wider alle physikalische oder cartesianische Ursprungsanmaßung. Dass die Präsenz des Selbstbewusstseins – dass ich nur bin durch die anderen – die Effektivität meiner physischen Realität auf die Magie einerseits und Zauberei andererseits als ‚Sozialtechniken‘ verschiebt, muss einleuchten. Selbstbewusstsein lässt sich autonom weder ableiten noch inszenieren: Es ist die Situativität selber als Gedächtnis des Differenten. Man wird das Problem nicht grundlegender erklären können als durch die Tatsache, dass der Schauspieler sich selbst im Schein eines anderen findet und erfindet und das Publikum zusieht und hört und kritisch begleitet, ob diese Findung des Selbst trotz aller Dementis gelingen kann. Das Publikum, das im kritischen Fall der Antagonist sein kann, verweist nicht auf das Spektakel, sondern auf die Situativität, auf die unmögliche Möglichkeit eines Nullpunktes, von dem aus das Selbst gedacht werden kann. Das Spektakel ist dabei in jedem Fall eine Erkenntnisform des Scheiterns. Wer von Ursprungssetzung spricht, muss auch von Inszenierung des Ursprungs und somit Kausalität sprechen. Sie ist seit Descartes der legitime Nullpunkt derjenigen Inszenierung, die sich technisch zur Realität totalisiert und der magischen Form ein anderes Refugium zuweist, das der Irrealität der Inszenierung, des ästhetischen Scheins und – seit Mauss – das des Sozialen, d.h. der Beziehung zum anderen. Die Argumentation umfasst folgende Schritte: – Was heißt Szenografie der Effekte im Zusammenhang mit dem Ursprungsdementi jeder Szenifikation? (Kap. II) – Welche ökonomischen Formen (Tauschformen) bestimmen die Komplementarität von Magie und Wissenschaft, von Szenifikation und Situation (Spontaneität und (narrativer) Strategie)? (Kap. III) – Unter welcher ‚anthropologischen‘ Prämisse leistet die szenologische Differenz der Motive, Interpretationen und Ideologien, kurz: die Kultur oder das soziale Feld. Wenn man also die Vorgängigkeit der Motivation des Subjekts manipulieren will, es inszenieren will, dramatisiert man zu 1. die Tauschverhältnisse (Ökonomie der gegenseitigen Kreditierungen); zu 2. die magischen Beziehungen und fetischistischen Objekte (Institutionen und Sozialität).
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eine Beschreibung der Sublimierung von Gemeinschaft durch ein selbstbewusstes Subjekt bzw. ihrer dialektischen Selbstbestimmung? (Kap. IV) 2. SZENOGRAFIE UND EFFEKT
2.1. Special Effect Ob ‚Wirkung‘ mit ‚effect‘ übersetzt werden kann, ein Kunstwerk Effekte kreiert, ob diese von der Inszenierung abhängen oder nur von Präsentation, ob Präsentation (Darstellung) und Inszenierung das Gleiche sind oder gar der Werk-Begriff durch den von work ersetzt werden kann – über den Sinn und Widersinn von Übersetzungen lässt sich streiten, über den von Übersetzung und Übertragung weniger. Während Ersterer impliziert, dass bei der ‚Übersetzung von Informationen‘ kein Defizit auftritt, das nicht durch die höhere Differentialität des Übersetzungsmediums abgegolten wird, ist im Begriff der Übertragung die Konstitution dieses Restes als magische Vergemeinschaftung (Reziprozität, Metamorphose), deren Zustandekommen sich den Individuen entzieht, mitgedacht. Eine Klage darüber, dass Übertragungen in diesem Sinne ineffizient seien, geht von einem positivistischen Ideal numerischer, absoluter Identität aus, in der z.B. die Wärmeproduktion der Übersetzungsmaschinen (Computer) unterschlagen werden darf. Szenografie als Effekt der Effekte sollte der Bestimmung des Restes als Sozialisierung (in diesem Sinne eben: Kommunikation und nicht Information) zum Gegenstand ihres theoretischen Engagements machen. Und hier hat nicht nur Hegel auf die Situativität der Übertragung verwiesen.28 Die Opfersubstanzen der Übertragungen werden sonach in Mediendinge verwandelt. Der Opferrauch, der zu den Göttern aufsteigt, ist Transformation und Medium zugleich. Es schließt sich die Frage nach der Sublimierung technischer Kompetenz in ästhetische Darstellung an. Nicht der affirmative Positivismus des Sichtbaren (und die Redundanz der Übertragung), sondern der irritierende Trug des Unsichtbaren hilft in der Frage nach der negativen szenifikatorischen Bestimmung von Selbstbewusstsein weiter und hilft die Frage nach der Bestimmung von Präsentation und Präsenz (Bewusstsein als intentionalem Akt) zu präzisieren.29 28
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, a.a.O., S.358. Hegel spricht von der ‚Aneignung‘ „äußerer Natur“. Das entspricht der These von Sartre, dass die Inszenierung eine Aneignung durch Veräußerlichung ist, was wiederum voraussetzt, dass sie motiviert ist, was wiederum zur Folge hat, dass sie sich der Deutung aussetzt. Dass macht jede Inszenierung gegenüber der ‚Realität‘ unabgeschlossen. Sinnfällig wird das in der Mosaischen Geschichte. Während Moses das ethische Gesetz empfängt, frönt Aaron einem performativen ästhetisierten ‚Happening‘: dem Tanz ums goldene Kalb. 29 Dass das Bewusstseinsproblem mit der Zeit zu tun hat, hat seinen Grund in den sozialen Verbindlichkeiten, in denen Erinnerungen und Projektionen ausgetauscht werden und einen ökonomischen Austausch gewähren, aufgrund dessen überhaupt erst soziale Beziehungen (z.B. Vertrauen) entstehen können. Soziale Zeit ist deswegen ebenso eine Kategorie der Realität wie der physische und der soziale Raum. Das geht auf Husserl zurück: „Das aufregende an seinen Göttinger Vorlesungen und
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Um gleich den Stachel des Vorwurfs zu ziehen, dass es um die ‚Magie‘ des Unbewussten in der Szenografie geht, sollte eine Unterscheidung zwischen magischen Praktiken und Zauberei als theoretischer Konstruktion hilfreich sein. Umgekehrt ist sich die professionelle Szenografie der Logik der „leeren Stelle“,30 des „freien Platzes“ (Szene) bzw. des hermeneutischen Zirkels bewusst, und zwar in der Anwendung einer hinter der scena verborgenen Technik, deren Urgestalt (rituelle) Wiederholbarkeit (Natur) ist. Das Bewusstsein ist ein Negatives: nämlich eines der Wechselwirkung von magischer Zauberei und verzauberter Magie. Die Logik der Trennung von Zauberei und Magie bestimmt sich nicht von der Differentialität der Techniken/Tricks her, sondern von der Logik der Szene, oder eben genauer, von der Präsenzform der szenologischen Differenz. So ist eine jede Inszenierung in Abgrenzung von einer situativen Realität stets nur durch Deutung (nachträglich) möglich, also durch Selektion von Eingrenzung und Ausgrenzung. Gerade der Zusammenschluss von apparativer Technik (Realität) und magischer Verhüllung (Realität-für-mich resp. Selbstbewusstsein) ist verantwortlich für eine Bestimmung dessen, was inszeniert bzw. nicht inszeniert ist. Man muss deutend der Deutungsabsicht hinterherrennen (so der Agon, der Opferlauf )31, also der Selbstbefragung, wie man sich durch diesen oder jenen Trick hat täuschen können lassen. Der letzte Effekt der Inszenierung ist dann der einer Vergemeinschaftung (im Gegensatz zur Vergesellschaftung), die sich der eigenen Unbestimmbarkeit ihrer legitimierenden Ableitung bewusst ist und das Bewusstsein des Mangels in ein Surplus an Vergemeinschaftung verwandelt. In der Magie wird die Täuschung als Selbstbewusstseinsphänomen (oder, mit Foucault: als Subjektivierung des Individuums) konstitutiv. Weil es sich aber um eine notwendige Konstitution dieser ‚Selbsttäuschung‘ handelt, wird sie situativ unterschlagen. Statt von Nachträgen zu ihnen aus den Jahren 1906 bis 1917 ist dies, dass er die Zeitlichkeit ins Bewusstsein selbst verlegt. Zeit ist nicht länger Thema des Bewusstseins; das Bewusstsein, das Zeit zum Thema machen will, dauert selbst – das Bewusstsein von Zeit ist selbst zeitlich. Und daraus (unter anderem) hat Peter Bieri (in seiner ausgezeichneten Dissertation über Zeit und Zeiterfahrung von 1972) auf die Realität der Zeit geschlossen.“ (Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O., S.196) Von diesem Punkt aus führt ein direkter Weg zur strukturalen Annahme, dass die Dynamik der gesellschaftlichen Tauschbeziehungen (inkl. Sprache!) auf eine dispositive Lücke, einen leeren Platz angewiesen ist, in/ an/auf dem Tauschoperationen ‚rangiert‘ werden können. Dieser leere Platz bestimmt sich in der Möglichkeit und der Freiheit der Szenifikation gegenüber der Situation, die ein Ort der Fülle, der Statik und der Präsenz als Abwesenheit ist. 30 Eine der besten Kurzdarstellungen der strukuralistischen Logik findet sich in Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukuralismus? Berlin 1992, S.44f.: „Eben in diesem Sinne bildet die Verschiebung, und allgemeiner alle Austauschformen, kein von außen hinzugefügtes Merkmal, sondern die grundlegende Eigenschaft, die es ermöglicht, die Struktur als Ordnung der Orte unter wechselnden Verhältnissen zu definieren.“ Zum strukturalen Ansatz gehört immer auch die kritische Frage nach der möglichen Genesis einer Struktur. Sie stellt vor allem Manfred Frank in: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1984. 31 Vgl. Ralf Bohn: Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium. Würzburg 2005.
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Täuschung soll von einer Reversibilität der Zeit (Deutung und (Selbst-)Darstellung) gesprochen werden.32 Es ist wenig Phantasie nötig, um die Dialektik zwischen Magie und Effekt zu erkennen: Wenn der Effekt die kürzeste Verbindung zwischen Ursache und Wirkung bezweckt und zur Polarisation aufruft, so geht es der Magie darum, in einer dramaturgischen, also konfliktreichen ‚Odyssee‘ zu zeigen, dass jeder Effekt einen Selbstbetrug einschließt, nämlich einen, der mediale Vermittlungsarbeit kurzschlüssig ausblendet. Zur Aufdeckung müssen die Vermittlungsdifferenzen dramatisch, möglichst in narrativer Form als scheiternde oder gelingende vorgeführt werden. Explizit muss gezeigt werden, dass die Differenzen als Isolate, Hin- und Abführungen der eigentlichen Inszenierung, mithin im engeren Sinne ‚szenografisch‘ protokolliert oder wahrnehmbar sind. Im ersten Fall ist von einer funktionalen, im zweiten Fall von einer symbolischen Inszenierung zu sprechen, auch wenn in der Regel beide Fälle durchmischt auftreten, etwa wenn in den frühen Filmen von Woody Allen der Regisseur Allen sich über den Schauspieler Allen auslässt und zum Kinopublikum spricht, oder noch feinsinniger, wenn Oliver Hardy nach einem ‚Unfall‘ mit Stan Laurel für einige Sekunden unverwandt in die Kamera sieht.33 Im klassischen Theater wie im Kino gelten in der Regel die gleichen Formen der Dramaturgie der Inszenierung und der Technik der Szenifikation, ja, die gleichen Formen ihrer Überschreitung, die nicht als ‚Rückstürze in die Realität‘, sondern als Re-Volutionen oder besser Inversionen von Effekt und Magie verstanden werden müssen.34 Es gibt keinen Zauberer, der nicht explizit den leeren Zylinder dem Publikum zeigt, um so eine Situation zu konstituieren, die schon inszeniert ist. Die Deutung, dass der Zylinder leer ist, aus dem er das Kaninchen hervorholt, ist Inszenierung einer Situation. Der Begriff ‚Magie‘ lässt sich auf die Ebene der Reflexion heben, indem er als „natürliche Magie“ präzisiert wird. Der kulturwissenschaftliche Begriff dafür, vor allem von Benjamin verwendet, ist ‚Phantasmagorie‘. Die Phantasmagorie eines Kunstwerks sagt z.B. etwas über die Unterscheidbarkeit von Präsenz 32 Einen Überblick zur Begriffsdifferenz von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung gibt: Hartmut
Rosa u.a.: Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung. Hamburg 2010. Insbesondere wird mit Luc Nancy auf die „Dialektik von Ursprung und Vollendung“ (S.165) hinzuweisen sein, sodass im Deutschen sich der Terminus ‚Vergemeinschaftung‘ als Moment der Unvollendbarkeit als Selbstinzenierung eingebürgert hat. Denn „das Politische ist der Ort, an dem Gemeinschaft als solche ins Spiel gebracht wird.“ (Zitation Jean Luc Nancy: The Inoperative Community. Minneapolis/Oxford 1991, S.37.) 33 Der dialogische Aspekt ist derjenige, auf den Debord anspielt, um auf die Differenz zum Spektakel der Warenästhetik zu verweisen. Die Ursache der monologisierenden Reklame sind nicht monologische Medien, sondern der Monolog des Mangels. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996, S.19: „Das Spektakel ist das, was der Tätigkeit der Menschen, der Neubetrachtung und Berichtigung ihres Werkes entgeht. Es ist das Gegenteil des Dialogs.“ Der Monolog schafft den Interpretationsspielraum zwischen verschiedenen Ansichten zu Gunsten des Spektakulären ab. 34 Über die zentrale Differenz zwischen Theater und Film informiert André Bazin in Theater und Film schon 1951. Abgedruckt in: Ders: Was ist Film? Hg. Robert Fischer. Berlin 2009, S.162ff. Zur Inversiongestalt vgl. auch den Beitrag von Brigitte Wiens in diesem Band.
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(presented), Repräsentation und Performanz aus. Phantasmagorisch ist das Spiel mit dem Undarstellbaren, der Aura von Originalität im Zeitalter der Reproduktion. Originalität und Reproduktion sind keine Polaritäten, sondern dialektische Größen. Auch das Einzigartige kann nur über das andere vergleichend bestimmt werden. Man bezieht sich in beiderlei Hinsicht aber auf die Identität und Singularität eines Selbstbewusstseins, das in der nachträglichen Konstruktion einer Szenifikation (eines ‚Erinnerungsbildes‘) auf irgendeine Weise mit sich selbst identisch und einzigartig sein soll. Man kann Einzigartigkeit nicht durch Effekte herstellen, ebenso wenig wie Präsenz. Phantasmagorie bezieht sich auf die Medialisierung des Werks als dessen Bewusstwerdung für einen anderen. So gibt es, nach Benjamin, auch und gerade eine Phantasmagorie der Technik, die in ihrer Aufklärungsgestalt, dem ‚Making Of‘, das Wunder der Technik als magische „Offenbarung“ feiert.35 In dieser Hinsicht ist der Special Effect eine magische Komponente der Produktion, denn er betet die Technik an – es ist selbst schon magisch, dass dieser englischsprachige Begriff ‚Special Effect‘ seinen Sinn aus der Fremdheit einer Sprache bezieht, die wir nur zu genau zu verstehen glauben, deren Übersetzung aber mit ‚Spezialeffekt‘ nicht identisch ist. Was Benjamin zuerst für die Sprache annonciert, dann für die Schrift, schließlich für die Fotografie und den Film, kann auf mediale Inszenierungen aller Art, also auf solche der technischen Simulation leiblicher Magie übertragen werden. Weil wir niemals verstehen können, wie der andere sich versteht, und nicht ständig nach den Voraussetzungen des Sinns fragen können, wollen oder dürfen, gibt es Effekte. Sie sind Indizien eines Nicht-Aushalten-Könnens von Ausdrucksarmut, wie vor allem an Gesten und emotionalen Affekten zu sehen ist. Gesten kann man trainieren, emotionale Affektionen hingegen drängen sich auf, sie schreiten zur unvermittelten Tat und generieren magische Handlungen: Geschrei, Fuchteln mit den Händen, Flucht, Weinen. Damit evozieren sie ein Publikum unter der Voraussetzung, dass dieses Publikum zwar die soziale Realität der Affektausdrücke, aber nicht den Konflikt, der sie bewirkt, versteht. Zur ihrer Semantisierung werden sie in Effekten vorgedacht und der Affektökonomie vorgelegt. Was ist deshalb angemessener, als dialogisch Affekten in ihren Konflikten zum Ausdruck zu verhelfen, und zwar so, dass ihre unvermittelte Emotionalität als Vermittelte verstanden werden kann. So wird jede inszenierte, theatralische Geste (Geste als präsemiotischer Vorgang) zu einem magischen Moment der Vermittlung von Individualität und Allgemeinheit, oder, wie die Linguisten bemerken, jeder, der die Sprache spricht, verändert sie im Ganzen und für alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft. Eine Befragung des Affekt erzeugenden 35
Burkhard Lindner in einem Beitrag zu „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In: Ders. (Hg.): Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S.248. Vgl. zum Verhältnis von Magie, Technik und Zauberei auch den Beitrag von Stephan Trüby in diesem Band.
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Effekts kann erst nachträglich erfolgen, aber im Effekt ist der Affekt schon vorgedacht und somit nicht mehr der Spontaneität unterstellt. Wenn, wie Benjamin sagt, der Dadaismus mit Effekten arbeitet, dann nur, weil ihm ein Stück Realität fehlt, die herzustellen Technik noch nicht nachgekommen ist, respektive ein Stück Welt, deren Kontingentierung anderswo, im Film gelungen ist. Philosophisch betrachtet handelt es sich beim Affekt erzeugenden Effekt um die Simulation eines Selbstbewusstseins als umweglose, evidente Selbstidentität. Jeder Affekt bezeugt jedoch das Dilemma der Einheit von mir als Nicht-Reflexivität. Mit dem Begriff der Phantasmagorie kommt die Differenz zwischen aristotelischer Wirkursache, causa efficiens, und medialer Ursachewirkung zum Tragen, nämlich die Erkenntnis, dass ich das opferreiche Resultat von Vermittlungen bin, die stets gebrochen, im Ernstfall sogar unübersetzbar sind. Die Phantasmagorie ist die Antwort auf das Phantasma der Aufklärung.36 Auf die Ware als ästhetische Form (Design) angewandt ist mit Phantasmagorie die Reästhetisierung, Reinszenierung des effektiven, industriellen Produktionsprozesses in der Partialität einer reproduzierbaren Form zu verstehen. Die Ware, von Zauberhand verhüllt, trägt als Zaubermantel der Magie ihr Design.37 Im Ursachebegriff werden das Verschulden, das Verdanken und das Begehren38 von und zum anderen absorbiert. Aus diesem Grunde ist Kausalität 36
Vgl. Foucault, Ästhetik der Existenz, a.a.O., S.171ff. („Was ist Aufklärung?“). Foucault bezieht sich hier ausdrücklich auf Kant, der das Problem der ‚Selbsttechniken‘ als kritisches angestoßen hatte. Ausgang aus der Unmündigkeit heißt: Problematisierung und Kritik des Selbst. 37 Ich glaube, dass es nicht hinreicht, wie Debord nur vom Spektakel als Bild-Ästhetisierung (Debord, Gesellschaft des Spektakels, a.a.O., S.14) zu sprechen, Benjamin hat hier mehr geleistet und die Bildwissenschaft ihr Übriges, um Differenzierungen des Spektakels einzuführen. Debord: „Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.“ Und das ist nach wie vor in der Praxis nicht festgelegt, auch wenn Bildlichkeit selbst zu einer Form der „Weltanschauung“ (ebd.) geworden ist – was in der Selbstreflexion der inflationären Bildwissenschaften oft unterschlagen wird. – Im Nachwort von 1984 erweitert Debord seinen Bildbegriff auf alle Medien: „Das Spektakel sei somit weiter nichts als ein Auswuchs des Mediensektors.“ (S.198) Er müsste an gleicher Stelle seinen eigenen Geschichtsbegriff als Form medialer Weltanschauung kritisieren. Schließlich kommt es in dem „integrierten Spektakulären“ zu einer Vermischung von „Spektakel“ und „Realität“ (S.200f.), ohne dass man sagen könnte, wie sich Realität als unspektakulär ausweisen sollte. Es bleibt die Situativität selber, die als unvermittelte, entfremdete Arbeit vom Spektakel befreit ist. Was also Debord fehlt, ist eine historische Analyse der ‚Selbsttechniken‘, die sich gerade in der spektakulären Entfremdung zeigen. Es ist grundlegender, nach der Brechung dessen zu fragen, was Blumenberg als Metaphorologie bezeichnet: den Wunsch nach Identität von Ding und Bewusstsein, der nur als scheiternder (nämlich ‚metaphorischer‘) die Produktion antreibt. Man kann es nicht ablehnen, wenigstens die von Hegel propagierte Historizität der Ereignisse (Warenproduktion, Phantasmagorie) für eine Gesellschaft des Spektakels zu analysieren und mit den ‚anthropologischen Konstanten‘ zu konfrontieren. Von der Anthropologie wird sehr wenig übrig bleiben. 38 Damit sind die Grundformen der Reziprozität, der ‚sozialen Zeit‘ genannt, die ich von Niklas Luhmann übernehme, der in diesem Zusammenhang – wenn auch unabsichtlich – im Sinne der szenologischen Differenz argumentiert: „Das Gedächtnis stützt sich zunächst auf einen bekannten Raum. Es nimmt topografische Formen an und benutzt erst später auch eigens dafür geschaffene symbolische Formen.“ Diese Stufe „schriftlos tribaler Gesellschaften“ ist von der Magie der Ähnlichkeit durchdrungen. „Es beruht vornehmlich auf Objekten und auf Inszenierungen [!] wie Riten und Festen, die hinreichend
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Form magischer Blendung: dieses Ver-Stehen gilt es zu reinszenieren, keinesfalls die Magie zu entzaubern. Die Geste muss nicht Tat werden. Die Bestimmung von Effekt, Reflex und Affekt geht gerade dort nicht auf, wo es um Spontaneität geht, wo es Aufgabe der Inzenierung, z.B. auch einer designorientierten Szenografie ist, Affekte zu entkoppeln, wo man „Halt!“ in die Manege der Exhibitionen rufen könnte.39 Die phantasmagorische Kraft einer Inszenierung besteht darin, Technik für den Bereich der Selbsterkenntnis von Subjektivität zu reservieren. Man sollte bei Special Effects nicht die Frage erwarten: Wie haben die das gemacht?, sondern: Was haben die aus mir gemacht? Deswegen geht es in der szenologischen Differenz nicht um die Frage guter, schlechter oder angemessener Inszenierungstechniken, sondern um den magischen Zusammenhang von Selbstbewusstsein und Vergemeinschaftung innerhalb der Gesellschaft effizienter Technisierung. Niklas Luhmann hat Magie als „sozialen Raum“ bestimmt, der gegen die „Reziprozität“ (Verschulden, Verdanken, Gabe und Kreditierung) als „soziale Zeit“ abzugrenzen ist. Der soziale Raum überschreitet den Bereich der geografischen Anwesenheiten und Abwesenheit in Form der theatralen Bezirke und Objekte, in der Tote anwesend sein können und in der die Erscheinungen der Objekte (Phänomene) für objektlose Erscheinungen (Phantasmen) stehen können. Der soziale Raum ist ein Schwerefeld sozialer Beziehungen. Die Magie ist eine implizite Form der Anerkennung der Normung der Gemeinschaft in ihrem Inneren. Von anderen Gemeinschaften kann sie verworfen werden. Die Reziprozität dagegen kann auch als externe Form (Anerkennung durch andere) Geltung erlangen. Sie überschreitet das Territoriale zu Gunsten von immobilen Besitzformen. Jede Form der Szenifikation dient dazu, für einen Moment die Offenbarkeit der Abhängigkeit vom anderen zu zeigen, um sie jedoch gleich wieder durch die Autorität der Inszenierung zu verschließen, um nicht in Selbstzweifeln verloren zu gehen. Die Marge zwischen der Offenbarkeit und dem Verschluss, Autonomiewunsch und Vergesellschaftung nennen wir ‚Szene‘, im Luhmannschen Sinne ‚sozialer Raum‘.40 Die Szene ist nicht physikalisch, sondern magisch typisiert sind, um in einer über die Situation [!] hinausreichenden Bedeutung erkennbar zu sein.“ Die Unterscheidung von Situation und Szenifikation erfolgt durch „Stilmarkierungen“, deren Basis Wiederholungen sind. Wiederholbar meint, von unterschiedlichen Individuen in gleicher Weise identifiziert, was eine Gemeinschaft wechselseitig zur Subjektivierung affirmiert. Die Wiederholungen im Raum schließen später auch Wiederholungen in der Zeit ein, dass heißt z.B. die Kreditierung von Zukunft und Vertrauen als Verlässlichkeit als „anspruchsvollere Formen“. Von ihnen dominieren die auf die Realität von Zeit und Raum bezogenen schließlich ganz. Physikalisch sind sie aber nur Effekte eben der Unterscheidung von Situation und Szenifikation, auf die sich Luhmann beschränkt, „auf Magie und auf Normen der Reziprozität“. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, Zweiter Teilband, S.644f. 39 Eine Parabel dazu bietet Franz Kafkas Erzählung Auf der Galerie. 40 Der Raumbegriff ist in der weitesten Gestalt zu nehmen, auch wenn er sich ursprünglich als
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als Relation der unendlichen medialen Verweise (Nähe und Ferne) zu erfassen, wobei der physikalische Raum selbst ein magischer Raum ist, insofern er als Vorstellung einer universellen Gesellschaft (der Wahrheit, der Vernunft, oder seit Russel/Wittgenstein, der Anerkennung, der modellhaft-simulativen, theoretisch antizipierenden Gültigkeit) angesehen werden muss.41 Es kann Aufgabe einer Phantasmagorie der Szenografie sein, die Offenbarung meiner selbst als eines verführten Verführers zu stabilisieren. Es ist einleuchtend, warum es in der Szenografie ohne Techniken der Effekte nicht geht: Denn in der Technik als Versicherung ist die Instabilität der Selbstbeziehungen erfasst. Deswegen verschwindet technische Dinglichkeit in die Kulissen der Inszenierung, solange sie selbst nicht zu einem anbetungswürdigen Objekt wird: dem Special Effect des Katastrophenkinos beispielsweise, dessen Höhepunkt die Animation ist. Welchen Grad ich aber dominieren lasse, natürliche Magie oder elektromagnetische Zauberei, was ich aufdecke und zur Entdeckung verdecke, welcher Different zwischen der Situation ‚außerhalb‘ und ‚innerhalb‘ der Szene kommuniziert, ist der Autorschaft und der Autorisierung überlassen. Man kann Deutungsmöglichkeiten eröffnen, ausschließen oder unterlaufen. Ein Theaterstück, eine museale Darstellung sind durch die Präsenz der Vergemeinschaftung selbst vermittelt. Der magische Aspekt wird immer unter der Dialektik einer unendlichen Differentialität eines übergeordneten Mediums eingeführt, wenn auch technisch gebannt, da die medialen Hierarchisierungen unter dem Primat der Übersetzungen selbst unendlich sind. Max Reinhardt hat die natürliche Magie in seiner berühmten Inszenierung des Sommernachtstraums 1935 auf der Open Air Bühne in einer warmen Sommernacht in Los Angeles kongenial vorgeführt. Er ließ am Abend vor der Premiere von Kindern hunderte von Glühwürmchen sammeln, die er dann während der Vorführung von der Bühne aufsteigen ließ. Gegen diese sich allmählich verflimmernde natürliche Magie kann keine Feuerwerksinszenierung an. Die Magie der Glühwürmchen liegt nicht in der Leuchtkraft, sondern im Flimmern. Bewusstsein selbst ist dieses odysseeische Flimmern. Der Sommernachtstraum ‚Präsenzverwandlung an einem geografischen Ort‘ versteht. Magischer Raum meint den Interpretationsspielraum, zwischen einer situativen Realität und der Auffassung dieser Realität als einer szenifikatorischen Bedeutung (z.B. heiliger Bezirk). In höheren Gesellschaften ist mit ‚Raum‘ eine „divinatorische Praktik“ (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S.646) gemeint, die variierende Interpretationen für variierende Situationen in identischer Weise, vornehmlich auch prospektiv theoretisch reguliert und somit Zufall und Schicksal bannen kann. Der Raum wird zur leiblich bezogenen ‚Welt‘. 41 Vor allem Wittgenstein geht es nach dem Scheitern der logischen Grundlegung des Wahrheitsaspektes um den der sprachlichen und ästhetischen Darstellbarkeit nicht einer idealen Wahrheit, sondern einer ideellen Anerkennung eines Satzes durch eine ideale Sprachgemeinschaft. Mit Einstein wird die Zeit zu einem Phantasma des physikalischen Ereignisses. Als Abstraktum hört sie auf zu existieren, sie wird Geschwindigkeit. Geschwindigkeit ist, wie Virilio sagt, ein soziales Phänomen, kein physikalisches. Die Physik, die scientific community wird unter diesen Volten zu einer nach paradigmatischer Logik gehorchenden Divinationsgemeinschaft im magischen Raum der Theorie.
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ist dem Raum enthobene soziale Zeit, ein ‚Fest‘. Auf die Rückbesinnung von Rationalität als magische Formel der Selbsterkenntnis ist zu erinnern. Szenografie der Effekte heißt dann, Inszenierung der Magie, um dem Witz der Erkenntnis, dass ich bin, was ich nicht bin, Dauer und Sinn in einer permanent sich verändernden Dynamik zu verleihen. 2.2. Szenografie als Effektmanagement? Eine Verhältnissetzung zwischen (technischem) Effekt (Tools) und psychischem Affekt (Verhalten der ‚Beobachter‘) macht einsichtig, dass es sich bei den Effekten um ein dialektisches Spiel zwischen äußeren Erscheinungen und innerem Erleben handelt. Was aber ist mit psychischem Affekt gemeint? Dahinter steht ein Modell, durch dass sich der Mensch irgendwie energetisch ausagieren und ventilieren muss, um der Zwanghaftigkeit der Effekte (Schocks) einen Widerstand entgegenzusetzen. Nur in seltenen Fällen werden Affekte als körpersprachliche Artikulationen verstanden, die in sozialer Rücksicht offeriert oder inszeniert werden, um der Realität den Spiegel ihrer Paradoxie entgegenzuhalten. Angst als grundlegender Affekt des Erschreckens zeigt, dass ein Affekt (Flucht beispielsweise) sich um Überbietungs- und Abwehrmaßnahmen von Rationalitätseffekten bemüht. Flucht oder Schreckensstarre als Motorik oder Dingmimetik zu erfahren, setzt voraus, dass in den Dingen der Schrecken schon gebannt ist. Folglich kann man zwischen Effekt und Affekt im Psychischen nicht unterscheiden. Affekte sind Versuche, die Wahrheit der Szenifikationen mit Körperinszenierungen zu durchschauen. Der Grund dafür ist, dass uns das Psychische unter den Metaphern der Kraft und des Triebes mit der gleichen Kurzschlüssigkeit überrascht wie das physische Geschehen. Der Kraftbegriff sorgt dafür, dass die energetischen Verhältnisse im Effekt ebenso ausgeblendet werden wie in den Effekten die Übertragungsdifferenzen. Wir wollen uns in der szenologischen Wendung nicht mit dem Impetus zufriedengeben, zwischen Effekt und Affekt sei ein Reiz-Reaktionsmechanismus anzunehmen. Es gibt einen dritten Bereich, in dem die passiven und aktiven Dispositionen, die zwischen Kurator und Besucher, Szenograf und Akteur etc., nicht spiegelbildlich (reflexiv) verlaufen, sondern ihren irritativen Wert aus Brechungen beziehen, in denen dem Affekt eine planvolle, strategische und mithin inszenatorische Form zukommen kann. Es hat sich herumgesprochen, dass der Ort der szenografischen Besetzung stets auf drei unterschiedliche Strukturen bezogen sein muss: auf die Realität, auf die Vorstellung und auf die Illusion. Das Inszenierungsspiel besteht darin, sich von ‚Realität‘, d.h. Situativität abzugrenzen. In Bezug auf Effekte besteht das Spiel in der Unentscheidbarkeit der Ambivalenz, dass technische Hervorbringungen, die stets Realität sind (qua Technikdefinition), zur Konditionierung illusionärer Welten eingesetzt werden können, die als Möglichkeitswelten Realität als überschreitbar erscheinen lassen. Das Drama der Szenifikation
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Abb.3 Frauentausch, Frauenwahl und Frauenopfer in Casablanca als Inszenierung einer dramatischen Situation.
besteht darin, dass in ihr einer ‚unfreien‘ Wahl des Opfers gedacht wird. Während die negative, unfreie Wahl sich auf die Realität bezieht, bezieht sich die freie Wahl auf die Inszenierung der Dramatik als einer Wahl, die das Opfer reversibel hält, gleichwohl also das Opfer positiv im Blick hält – so wie Sartre sagt, dass die Pariser Bevölkerung nie so frei in ihrer Wahl war wie unter der deutschen Besatzung. Ein anderes Beispiel ist noch bekannter: Im Film Casablanca (Regie: Michael Curtiz, Warner Brothers, USA 1942) kann Rick (Humphrey Bogart) mit Ilsa (Ingrid Bergman) Casablanca verlassen, aber auch zu Gunsten von Victor (Paul Henreid) verzichten. Ilsa kann ebenfalls zwischen den beiden Männern wählen. Und auch Kapitän Renault (Claude Rains) kann zwischen dem Vichy der Kollaboration, den Nazis und der Resistance wählen. Die Perfektion der dramatischen Inszenierung in Casablanca besteht darin, dass jede Wahl, die eine andere ausschließt, von einem Opfer begleitet wird, aber nicht zum Ausbruch kommt. Die Exilanten sind verdammt, zu warten. Ihr Opferstatus ist rein situativ. Der Aufschub unter den Exilanten bewirkt soziale Verdichtung, deren strukturaler, leerer Platz durch die beiden Visa bestimmt wird, die zur Flucht und damit zur Reintegration in eine andere Gemeinschaft verhelfen können. Von der Statik der Eingeschlossenen in der Stadt Casablanca (der dramatischen Situation) entwickelt der Film Schritt für Schritt die Möglichkeit der Dynamik einer Flucht, die nicht blind und unter Angst geschieht, sondern letztlich von den vier Protagonisten inszeniert werden kann, weil ihnen die Wahl bleibt, das und ihr Opfer zu bestimmen. Der Einzige, der dieser Inszenierung wirklich zum Opfer fällt, ist der Nazimajor Strasser, dessen absoluter Gehorsam (die Entsubjektivierung bzw. die Selbsttechnik des Faschismus) eine Wahl unmöglich macht. Man
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Abb.4 Männerwahl in Hollywood. Inszenierung einer opferlosen Situation.
hat immer wieder auf die dünne Stelle in der Argumentation bei Casablanca hingewiesen: die Nichtrevidierbarkeit der Ausreisevisa.42 Die Schwachstelle in der filmischen Logik ist struktural bedingt, denn die Situativität der Exilanten in der Stadt Casablanca muss als Situation inszeniert sein. Irgendein Mehrwert, ein Überschuss muss aus der Situation eine paradoxe Lage machen: Die Visa schenken Freiheit, ihre Erlangung aber verlangt Opfer. Die externale Stelle ist durch eine Autorität des Ursprungs gesetzt, die absolut ist und somit als absoluter, göttlicher oder durch den Führer unterschriebener Befehl nicht in den Verdacht kommen darf, Inszenierungsform zu sein. Ihr zukünftiges, in Aussicht gestelltes Freiheitsversprechen entzieht die Visa einerseits der Realität (Rick nimmt sie insgeheim in Verwahrung, nachdem sie gestohlen worden waren), andererseits wird genau deshalb, um diese Realität als Suspence, das Theater der Opferwahl veranstaltet. Wie in Casablanca die Sache ausgeht, das ist exemplarisch. Die gesamten Verdeckungsoperationen des Designs müssen in diesem Sinne als Komplizen einer weiteren, möglichen Effektivität der Technik begriffen werden. Versuche nur jemand, ohne illusionäre Designwelt einen Computer zu bedienen. Der Einsatz von Effekten (z.B. der Visa in Casablanca oder der berühmten MacGuffins von Hitchcock) als szenifikatorische Strategeme, Quasirealitäten innerhalb der Szenografie, dient auf subtile Weise der Stabilisierung der Unterscheidung von Realitätsmächten und Illusionen, und zwar so, dass Irritationen stets am Realen (dem leeren Platz der Wahl und der Freiheit) abgebunden werden – der Film wird ‚glaubwürdig‘ und kommt nicht, wie noch zu 42
Vgl. Aljean Harmetz: Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen. Wie Casablanca gemacht wurde. Berlin 2001, S.267. Wie die Gestaltung der Schlusssequenz des Films aussehen sollte, war bis zum Drehende ungewiss – genau das macht aber die situative Spannung des Films aus.
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seiner Anfangszeit unter Meliés, magisch daher.43 Effekte sind sozusagen Realitätsausweise, Eingangs- und Ausgangstüren in illusionäre, szenische Situationen, und zwar weil sie bivalent oder aporetisch sind: unterbrechend und rhythmisierend, technisch kausalistisch und verzaubernd, offen für funktionale und für symbolische Lesarten, und zwar unerachtet des Umstandes, dass das Kino einen sozialen, also magischen Raum offeriert. Effekte bieten das, was für Szenifikationen wesentlich ist: ihre scheinbare Unableitbarkeit, eröffnen einen Entwurfsund Interpretationsspielraum, der wiederum Inszenierungen als (neurotische) Nachspielungen des Vorganges der Unableitbarkeit (Illegitimität) in Realität einzugliedern hilft. In Casablanca wird zudem auf die anthropologische Konstante, die Reziprozität des Frauentauschs verwiesen. Zu wem wird Ilsa gehören: zu Rick oder zu Victor – der (schlecht) inszenierte Mangel (zwei Visa) erzeugt die dramatische Szenifikation und das Opfer. So gut gemeint also die Thematisierung von etwas so Banalem wie Effekten in Inszenierungen ist, die Frage nach der funktionalen Verwobenheit im Aufmerksamkeitsfluss der inszenierten Inhalte, der Beteuerung oder Desillusionierung einer inszenierten Situation muss gestellt werden. Es gibt z.B. zwei Effekte, die in einer Inszenierung nur um den Preis einer pathologischen Situation fehlen dürfen: der Eingang und der Ausgang einer Szene. Situation, Szenifikation, Realität: Die Verwandlung bedarf der nachträglichen Rückverwandlung der Ausgangssituation. Es handelt sich also letztlich nicht nur um eine Legitimation, sondern um die Herstellung, genauer Stiftung einer Authentizität. Deren Korrespondenz aber ist ein dem Körper zugeschriebenes Selbstbewusstsein. Eine diskursive Aufarbeitung scheint dringlich: Was ist dem Begriff nach und wofür gilt der Begriff ‚Effekt‘? Was ist der Unterschied zwischen technischen, magischen und natürlichen Effekten? Man bemerkt schnell, dass das einfache Denken über Effekte sich einem vorherrschenden Ursache-Wirkungs-Prinzip andienen will, also einer Antizipation von Zeit, dass aber diese Zeit unterschiedlich belegt wird: die physikalische Zeit für technische Effekte, die dramatische Zeit für szenfikatorische Effekte, die soziale Zeit, aber auch der soziale Raum für 43
So galt etwa Michael Curtiz, der Regisseur von Casablanca, nicht als „Regisseur, der Schauspieler führte, sondern (als) ein Regisseur der Effekte“. (Harmetz, Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen, a.a.O., S.116. – In Avatar (USA 2010, James Cameron) geht es nur noch nebenbei um eine Geschichte. Die Demonstration der Effekte einer Metamorphose der Verwandlung von Menschen durch Maschinen einerseits und der Illusion einer paradiesischen Welt, in der dieser Unterschied auf magische Weise (eine höher entwickelte Baumintelligenz) überwunden ist, ist eine rein funktionale Angelegenheit der Animateure. Avatar ist die Kriegsform der Selbstdarstellung des Effekts der Amalgamierung von (zeichnerischer) Illusion und (realistischem) Film. Letztlich geht es um die Abschaffung der Kamera als dem leeren Platz in der Soziologie des Films. Im Übrigen galt schon die Magie bei Meliés in erster Linie der unverstandenen neuen Technik, nicht den Tricks an sich. Diese sind Zauberei, nicht Magie. Magisch bleibt allein die illusionäre Interpretation der Zuschauer.
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magische Effekte. Die hochtechnischen Special Effects (weiland noch ‚Zauberei‘ oder Illusionskunst genannt) unterlaufen diese Kriterien systematisch, um die Tauschbarkeit der Strukturen der Lesbarkeit der Welt zu ermöglichen. Ich will noch einige Probleme mehr aufzeigen, die es zu diskutieren gilt: Der Begriff des Effekts ist philosophisch kaum besetzt. Jeder meint aber zu wissen, was mit dem Terminus ‚Special Effect‘ gemeint ist: die technische Simulation oder Illusion eines realen Vorgangs oder Ereignisses, zumeist im Film, eingesetzt aus Gründen der Effizienz zweidimensionaler Darstellung. Dabei kommt den Effekten oft die Eigenschaft zu, eine magische Wirkung als ästhetische Erscheinung aus nichtmagischen Techniktools entwickeln zu können, da sich die Realität selbst immer mehr aus ästhetischen Objekten und Funktionen zusammensetzt. In dieser Hinsicht sind z.B. Stunts keine Effekte, haben aber effekthafte Wirkungen, da sie sich auf Körpertechniken beziehen. Auch eine Geste kann in diesem Sinn ein Effekt sein, wird aber nicht als solcher bezeichnet. Effekte (von lat. effectus) sind dem Wortsinn nach Wirkungen, die affirmativ und antizipativ über die Realität (im Sinne der ‚natürlich‘ ablaufenden Ereignisse) hinausweisen, oft im Sinne einer künstlichen, utopischen oder poetischen Wirklichkeit. In dieser Hinsicht sind sie strategischen Schocks ähnlich, wie Benjamin sie in seinem Essay über die technische Reproduzierbarkeit analysiert hat.44 Den maschinenhaften Schocks entsprechen auf der Rezeptionsseite die Affekte. Allgemein verstanden sind Effekte also strategische Kontinuitätsunterbrecher, Sprünge zwischen und in medialen Verläufen, stellen Medienverlässlichkeiten auf den Prüfstand und generieren sie durch Übersetzbarkeit. Was dagegen ist affekthafter als die Angst, im Sprung nicht wieder das feste Land, sprich Realität gewinnen zu können? Der Affekt ist also ein Widerstand gegen den Effekt als Effekt, geradezu der Inkorporationreflex auf den Körperangriff der Effekte. Eine diskursive Verortung des Begriffs ‚Effekt‘ im szenografischen Diskurs fehlt bislang. Sie fehlt insbesondere, weil sowohl theatralische als auch szenografische Ereignisse und Aufführungen selber nicht als effekthaft, sondern im Sinne der medientechnischen Simulation und Illusion ihrer Einheit als situativ verstanden werden – als spielerische Unterbrechungen der ‚rationalen‘ Wirklichkeit, die nicht willkürlich, sondern geplant und damit realisiert ist. ‚Innerhalb‘ der rationalen oder effektiven Wirklichkeit, die durch das lückenlose Kausalitätsprinzip (mathematisierbare Realität) gekennzeichnet ist, nimmt die szenografische Wirklichkeit eine Zwischenstellung ein, da sie als professionalisierter Effekt Einzeleffekte (also 44 Mit Benjamin gewinnt der ‚Chock‘ („Schnitt“) eine „taktile Qualität“ und verletzt damit das Gesetz der Unversehrtheit der Körper im szenischen Raum. Der Moment, der im Übergang von einer Situation in eine Szene als Gedankenbewegung („Denken“) erfolgt, wird übergangen. Seine Wirkung ist letztlich die von körperlicher Gewalt und führt damit das tatsächliche Körperopfer (wie in Avatar) wieder ein, den Krieg (respektive den antiken Circus). Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repoduzierbarkeit, a.a.O., S.38f. Bekanntlich kann man den Tod nicht inszenieren.
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Krisen ihrer selbst; Situationen in denen man aus der Inszenierung aufzuwachen droht) choreografisch oder narrativ so darstellt, dass sich die Illusion einer ‚Gegenwirklichkeit‘, also eines Bereichs des Spiels ergibt – wobei Spiel hier der unspezifische Begriff für szenisches Erleben meint, der räumliche oder zeitliche Bereich, in dem es zu einer ‚Ökonomie der inneren und äußeren Wirkungen‘ kommt, in der Opfer dramatisch aufgeschoben werden können. Effekte sorgen dafür, dass das Spiel realistisch, glaubwürdig ist, d.h. kontingent, zufällig und detailreich wie Realität selbst. Diese Überlegungen klären noch nicht die Gegenstandsentsprechung des Begriffs. Ist dann alles, was außerhalb der Notwendigkeit des Naturzusammenhanges besteht, ein Effekt, oder wird Effekt nur im Gegensatz zu Kausalität und in der Antithesis des Affektes zu bestimmen möglich? Besteht ein Zusammenhang zwischen Effekt und Ursache, d.h. technischer Kompetenz und magischer Erscheinung? Handelt es sich z.B. beim Ursache-Wirkungs-Verhältnis nicht ebenfalls um eine illusorische Antizipation, nämlich Effekt einer magischen Verdrängung unmöglicher Selbstbegründung? Sortieren wir den Bestand: Effekt heißt Wirkung. Keine Wirkung ohne Ursache, so das Kausalitätsprinzip. Wirkungen ohne Ursache sind göttlich, transzendent und/oder magisch. Der Satz der Ursache-Wirkung, in dessen Sinne die mittelalterlich-scholastische causa efficiens als eine der vier Ursachen definiert worden war, kann nur lückenlose Prozesse von Verursacher und Bewirkung feststellen. Sie kann, im Sinne der mittelalterlichen Impetus-Theorie, z.B. nicht das Newtonsche Gesetz der Gravitation (Trägheitsprinzip) akzeptieren, das auf eine relative Wechselwirkung gründet. Im Übergang von der mittelalterlichen Impetus-Theorie zur Newton’schen Physik45 werden Wirkungen ohne Ursachen interessant. Die Physik z.B. setzt zunehmend auf die Erforschung von Effekten, die sie selbst durch die Verfeinerung ihrer Darstellungs- und Messmethoden erzeugt. Einer dieser Effekte war die Erkenntnis der Grenze der Lichtgeschwindigkeit. Aus ihr wird eine Naturkonstante, deren kritisches Ereignis die ‚absolute Geschwindigkeit‘ ist. Naturwissenschaftlich und somit messtech45 Vgl. Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie abendländischer Geschichte. Weinheim 1989. Sohn-Rethel knüpft die Logik sowohl der theoretischen wie der praktisch technischen Ableitung an die Produktionsform. „Die Grunderfahrung der handwerklichen Produzenten besteht darin, dass, wenn die Arbeit aufhört, weil ihr Werk getan ist, der Mußezustand der Ruhe eintritt. Der statische Inertialbegriff von der Natur der Dinge ist für diese Produzenten nicht das Problem, wohl aber der Kraftaufwand oder Impetus, den ihre Arbeit zu ihrem Anstoß wie in ihrer Dauer von ihnen verlangt und den sie als innewohnende Eigenschaft auf die Bewegungsvorgänge der Natur übertragen.“ (S.114) Die industrielle Produktion unterliegt dann – wie der Übergang von der Fotografie zum Film – einem „funktionell selbsttätigen Mechanismus“. (S.116) Daraus kann man folgern (auch wenn das für die Fotografie nur teilweise Geltung hat), dass die Fotografie (in Analogie zur Malerei) ihre Inertion auratisch betreibt. Während der Film eigens einen künstlichen, inszenierten Effektraum (Kino) benötigt, der ihn kontingentiert. Die Aura ist in diesem Sinne eine Überschreitung der statischen Inertion, während die Szenografie eine Kontingentierung der dynamischen Inertion darstellt.
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nisch gesehen, verlagern sich damit die Raum- und Zeiterfahrungen zwischen Ursache und Wirkung, sie werden medialisiert. Solange zwischen ihnen noch eine Differenz oder Beziehung auszumachen ist, ist diese eine Kausalbeziehung, keine zufällige oder magische – obschon insgesamt die Politik der Kausalität eine magische Form der Setzung eines Grundes bezeichnet, der psychologisch auf die fehlende Selbstsetzung des Objekts referiert, das Ich ist. In der Physik sorgt die Referenz auf die Allmächtigkeit des Zahlenraums für die Unmöglichkeit der Selbsteinsicht eines magischen Effekts. Magisches gilt als individuelles Ereignis, nicht als Voraussetzung für die Bildung einer universellen scientific community. In Beziehung auf die technischen Effekte, also u.a. die Special Effects, muss gesagt werden, dass der Effekt der Technisierung darin besteht, ideale Erkenntnisformen antizipativ zur realisieren. Technik schafft Wirklichkeit voreilig, damit überhaupt Gegenstandsbezüge realisiert werden können. Der Effekt der Technik entspringt einer Ungeduld, eine Effizienzsteigerung zu Gunsten eines hier und jetzt Realisierten. Noch effizienter in zweiter Potenz ist die Ungeduld der Abbindung/Darstellung in den Modell- oder Simulationstechniken, die schneller sind als die Verwirklichung; eine Art Katastrophenprophylaxe vor dem drohenden ‚Verlust der Wirklichkeit‘. Sie konstruieren eine niemals fertig werdende Gegenwart. Special Effects sind dann solche technischen Verwirklichungen (verengt auf den Bereich der ästhetischen oder spielerischen Wirklichkeit), die anders nur durch hohen Aufwand zu erreichen wären, aber einer affektiv reduzierten, medialen Authentizität genügen. Die doppelte Ökonomisierung als Effekt sich selbst herausfordernder Technik bewirkt letztlich das Zusammenfallen von Wirkung und Ursache und schafft so die Effekte der Medientechnisierung, d.h. der Ästhetisierung der Realität. Stopp-Motion-Effekte, Doppelbelichtungen, Rückprojektionen dienen nicht der Konstruktion von Wirklichkeit, sondern der Schaffung einer Illusion, eines Modells der Wirklichkeit. Im Rahmen szenografischer Konzepte sind Special Effects vornehmlich gadgets oder tools, die durch Apparaturen standardisiert und vielfältig als Algorithmen einsetzbar sind. Im eigentlichen Sinne sind es deswegen nicht magische, sondern Zaubereffekte, insofern der Zauberer das Magische inszeniert. 2.3. Effekt und Affekt In Meyers Konversations-Lexikon von 1894 findet man noch einen anderen Aspekt von Effekt, der in Rücksicht auf den Begriff des Affekts bei Aristoteles hervorgehoben wird. In seiner Metaphysik, aber auch in der Poesie spricht Aristoteles mehrfach von Affekten als quantitativen Veränderungen des Gefühls. Ihnen sollen die qualitativen ‚Sprünge‘ der Effekte entsprechen. Aristoteles vermeidet es aber, von Effekt zu sprechen, da qualitative Veränderungen in seiner
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Physik (z.B. der Effekt der Kristallisation von Wasser in Eis) nicht begründbar und ableitbar sind. Der Effektbegriff kann erst dann angewandt werden, wenn entweder die Kausalität (Impetus) als Deutung angesehen wird, deren Letztursache immer effektiv, also dem ‚Vermögen Gottes‘ (respektive einem autonomen Selbstbewusstsein) unterstellt wird, oder wenn Effekte zunehmend in technische Umsetzungen und mediale Verwandlungen hinein systematisch illusionierenden Charakter gewinnen, sodass alle Erscheinungen grundsätzlich qualitative, nämlich gestaltverändernde Positionen markieren können, obwohl es sich um eine Technik der Quantitäten handelt, z.B. die der Miniaturisierung/Skalierung. Diese Auffassung über Effekte als Kontingentierung von Beweisgängen durch illudische Modellierung finden wir in der Wissenschaftsgeschichte allenthalben. So wird etwa deutlich, warum die Unregelmäßigkeiten der Planetenbewegung bis Kepler (aber auch noch bei Newton) in der Astrologie affektiv semantisch besetzt werden, nicht aber als effektiv astronomisch erklärt, d.h. in einem Modell nachgespielt werden können.46 Ebensolche Erfahrungen macht man im 17. Jh. mit den Effekten des Magnetismus und der Elektrizität, deren nichtableitbare Übertragungen einerseits die Newton’sche Physik herausfordern, andererseits stets als magische Formen etwa zu Heilungs-, aber auch zu Unterhaltungszwecken inszeniert werden vom Mesmerismus bis Freudianismus.47 Insgesamt kann man sagen, Effekte sind die durch Ableitungen (Funktionen) in den Griff und narrativen Vollzug gebrachten, als Realität bestimmten Affekte. Letztlich schafft Technik also eine effektive, schockhafte Welt, der die Profession des Designs eine kontingente, narrative Struktur unterstellt, die dann jeweils durch bestimmte Überraschungen oder Rhythmisierungen wiederum emotionale Affekte hervorrufen kann. Heute wird auf keiner Zauberbühne der Akteur als Magier verehrt, sondern als trickreicher Agent spezifischer Techniken erkannt, für den Übung präziser Bewegungsabläufe notwendig ist. Das Genie wird Ingenieur. Offensichtlich ist in der kreativen Idee des Genies noch die magische, das heißt ungeschiedene Einheit von Affekt und Effekt (Deutung und Darstellung, Kompetenz und Performanz) ebenso gedacht wie im griechischen Begriff der Kunst/des Handwerks (techné). So heißt es eben in dem Lexikonartikel aus dem Jahre 1894: Effékt (lat. Effectus), Wirkung, Erfolg, günstiger Erfolg; besonders der Eindruck, den ein Werk der Poesie, bildenden Kunst, Tonkunst ec. hervorbringt. Stärker, aber nicht reiner kann der E. gemacht werden durch starke Kontraste, Kolossalität, Waffenhaftigkeit ec; unrein und tadelnswert wird er, wenn das Kunstwerk nicht mehr durch die Art des Inhalts 46 Erst Kepler betrachtet die Planetenbewegungen auf der Grundlage der Zahlenliste von Tycho Brahe theoretisch und ist in der Lage, mit den Planetengesetzen eine entsprechende modelladäquate Gesetzmäßigkeit zu beweisen. Bezüglich der Astrologie erschließen sich diverse Deutungstechniken und -rituale, wie Divinatorik und Mantik (mantike techné). 47 Vgl. Ralf Bohn: Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004, S.147ff.
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und der Darstellung wirkt, sondern sich einer herrschenden Geschmacksrichtung des Publikums anschmiegt, wodurch es sich zugleich aller Selbständigkeit entäußert. Von diesem Fehler ist nur ein Schritt zu dem noch niedrigern, durch Anwendung ungewöhnlicher Mittel Überraschung und dadurch Erfolg zu bewirken, zu dem sogen. Knalleffekt.48
Wenn eine Verhältnisbestimmung zwischen Effekt und Affekt als Dialektik aufgemacht wird, dann ist zwischen den ‚reinen‘ Effekten zu unterscheiden, die einem Werk wesensmäßig sind – hier wäre der Begriff Thema oder Motiv als ‚Keim‘ des Werks angemessen –, und den ‚unreinen‘ knallig-dekorativen Effekten (Waffen!), die sich wiederum nur auf reine Affektionen beziehen, also unter Umgehung der Werkintention direkt auf das Publikum und dessen Affekthaushalt zielen. Das sind Formen des Schocks, insbesondere auch Werbeformen, die schon aufgrund ihrer ableitungslosen Direktheit auf eine Kurzschlüssigkeit zwischen Effekt und Affekt abzielen. Von diesem Punkt aus wird die falsche Entgegensetzung von Homo ludens und Homo Faber protegiert. Natürlich ist der Ingenieur genauso ‚kreativ‘ wie der Gestalter. Während ersterer aber die Begründbarkeit und Wiederholbarkeit seiner Handlungen akzeptiert, wird sie beim anderen als bloß instrumentelle Enteignung des ‚autonomen Subjekts‘ ausgelegt – Foucault zum Trotz. Bezeichnenderweise gilt für die szenografische Ausbildung eine Zwischenstellung zwischen technischer Kompetenz und gestaltender ‚Magie‘. Angemessen sind Effekte, die in besonderer genealogischer Rücksicht die Funktionalität ihrer Form in das Werk einbringen, dazu gehören insbesondere musikalische Effekte und thematische Musikstücke (Symphonie mit dem Paukenschlag; Peter und der Wolf). Diese Effekte beanspruchen in ihrer Rhythmisierung analoge Kontinuitäten, z.B. den Takt als Konstante, innerhalb welche effektive Variationen ausgespielt werden können. Es kann auch sein, dass in einer szenografisch dramatisierten Ausstellung der Ausstellungsraum selbst der Effekt ist, innerhalb dessen die Affekte einzeln durch Spezialeffekte gesetzt werden, die auf den Raum in seiner Gesamtheit abgestimmt sind, so z.B. bei den gotischen Kathedralen, die eine dichte szenografische Grammatik besitzen, da ihr Legitimitätsdruck besonders eindrucksvoll sein muss. Die reflexive Synthesis zwischen Effekt und Affekt ist durch Dramaturgie in ihren Differenzräumen zu sichern und im aristotelischen Sinne kathartisch aufeinander abzustimmen. Unter Katharsis ist keine Reinigung im Dialog der Sprache zu verstehen, sondern vielmehr, im Gegenteil, die Aufhebung der menschlichen Affektivität in einer unkriegerischen Ordnung von Mythos und Logos zur Darstellung der möglichen Unterscheidung von Effekt und Affekt, passiver (schicksalhafter) und aktiver (wählender) Lebensmomente: Schauder (phobos, Angst), Jammer (eleos, Klage über die Differenz des Wirklichen und des Möglichen) und Befreiung (katharsis, Aufweis der Möglichkeit einer (dramati48
Meyers Konversations-Lexion, 5. Aufl. Bd. 5, Leipzig und Wien 1894, S.397.
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schen) Opferwahl) sind die effektiven Elemente der aristotelischen Tragödientheorie, die es ermöglichen, Rücksprache mit der Genealogie einer bürgerlich zivilen, dramatischen und künstlerischen Ordnung zu halten. Diese Ordnungen sind nicht naturhafte, sondern artifizielle Arbeitsprodukte, die über symbolisch inszenierte Illusionen und den Respekt ihrer Repräsentationen Gesellschaften stabilisieren und Gemeinschaften formieren. Eine Effekteökonomie ist in einer redlichen Szenografie sowohl der illusionierenden wie der aufklärenden Funktion der Technik geschuldet, was der Tauschbarkeit von Agent und Publikum entspricht. In dieser Funktion sind die Special-Effect-Agenten unserer Tage stets von einer Filmcrew begleitet, die die Frage des Publikums in einem Making Of beantwortet, noch bevor der Film in die Kinos kommt: „Wie haben die das gemacht?“ – Genau diese Frage ist auf den Knalleffekt gerichtet! Es gilt vielmehr zu fragen: „Was ist bewirkt worden, was haben die aus mir gemacht?“ In Erweiterung dieser ontologischen Aufklärungsposition setzen performative Künstler allein auf den körperlichen Ausdruck, um theatrale Affekte aufzuweisen und Technik als Körpertechnik (Tanz) zu verbergen. Brecht ist wohl der effektökologischen Auffassung am nächsten, da er in jeder Geste des Theaters zugleich die desillusionierende Kraft der Aufklärung einfordert und somit die reine Form des Affekts anspricht, nämlich die der Erkenntnis. Aber auch im Film kann es neben der unreinen Aufklärung im Making Of eine reine, immanente Form geben, z.B. in Der Kameramann von Buster Keaton (USA 1928), Du sollst mein Glücksstern sein (Singin’ in the Rain) von Gene Kelly (USA 1951), Das Fenster zum Hof von Hitchcock (USA 1954), Die Verachtung (Le Mépris) von Godard (I/F 1963), Blow up von Antonioni (GB 1966), Die Amerikanische Nacht von Truffaut (F 1973). Hier sind Film- und Bildtechniken jeweils über sich selbst autosymbolisch aufklärend, ohne den Bruch in eine andere mediale Einheit vollziehen zu müssen, erfüllen also im Prinzip den ökologischen Grundsatz der griech. techné als kathartischer Kunst/Technik. Innerhalb dieses Genre ‚Film im Film‘ gibt es aber auch das Gegenteil, die Verzauberungen: z.B. The Purple Rose of Cairo von Woody Allen (USA 1985). 3. KOMPLEMENTARITÄT IN MAGIE UND WISSENSCHAFT – GRUNDLEGUNG EINER SZENOLOGIE
3.1. Interpretationsspielräume Auf die Frage, was ‚Inszenierung‘ von ‚Realität‘ unterscheidet, darf man zwei vorläufige Antworten geben. Die eine lautet: Nicht ‚was‘, sondern ‚wer‘ unterscheidet. Da jede Inszenierung eine sich von Realität abhebende Praxis darstellt, bedarf diese Praxis einer retroaktivierenden Autorisierung von ‚Realität‘ als einer zweiten Natur. Diese kann durch einen Autor oder durch eine Gemeinschaft
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bestimmt sein und schafft in jedem Fall eine soziale Realität, einen sozialen Raum und eine soziale Zeit, also Praxis selbst. Die zweite Antwort beginnt mit der Umstellung der Frage: „Gibt es ein ontologisches Kriterium, von dem aus die Unterscheidung Sinn macht, oder ist die Unterscheidung selbst schon eine Inszenierung, derart, dass die Deutung von Realität sich von anderswoher autorisiert, z.B. von Gott, der Natur oder einem Gespenst der Geschichte, d.h., handelt es sich bei dieser Unterscheidung nicht schon um eine ‚Inszenierung von Realität‘? Offensichtlich bewegen sich beide Begriffe nicht auf der gleichen kategorialen Ebene – so lässt die zweite Antwort vermuten. Denn dem Begriff der Realität entspricht eine Totalisierung, die eines nicht umgreift: die menschliche Vorstellung oder Subjektivität. Wenn man Inszenierung und Realität also im Verhältnis von Subjektivität und Objektivität versteht, dann nur aus der sozialen Praxis der Selbstobjektivierung von Vorstellungen, d.h. den Techniken (Dingen und Medien), mit denen Vorstellungen irreale Gestalt bekommen. Es ist kein Geheimnis, dass mit Inszenierung im engeren Sinne gemeint sein soll, dass der ‚Szenograf‘ (Autor, Regisseur, Akteur etc.) bestimmte seiner Vorstellungen als Realität umgesetzt sehen will, die als Gesamtheit oder als Gestalt sich zu einer Vorstellung im Subjekt der Beobachtung wiederfinden soll – eine Art dematerialisierter Warentausch. Auf diese Weise gelingt es, Inszenierung und Technisierung zu unterscheiden.49 In der Inszenierung geht es darum, ob eine verloren gegangene natürliche Einheit (dazu gehört der handwerklich/ künstlerische Impetus der an Präsenz gebundenen Arbeitskraft) durch eine dem permanenten Warenstrom entrissene Form der Fülle kontingentiert werden 49
Dabei eignet der Technik natürlich ebenfalls eine Struktur des Mangels. Als Beispiel kann die Erfindung des Fotoapparats dienen. Wenn der Apparat von Anfang an alles darzustellen ermöglicht, gäbe es keinen Inszenierungsspielraum des Fotografen. Da aber alle Technik der Vollendung vorgreift, existiert die Möglichkeit, die Fotografie als antizipierend zu inszenieren. Aber die relative Perfektion des Apparates von Anfang an, seine Einfachheit, verhindert, dass die frühe Fotografie als Kunst angesehen wird und von den Fotografen, die Handwerker sind, als solche realisiert wird. Die Fotografie verbleibt in einem kontingenten Inertialsystem. Ihre künstlerische Wirkung ist auratisch. Erst ab den 20er Jahren des 20. Jh., als die fortschreitende Entwicklung der apparativen Technik ihren zeitgenössischen Status als entwicklungsfähig erkennt (Einführung der Kleinbild-Kamera, Lichtstärke, Möglichkeit des Schnappschusses, Zoom etc.), verwandelt sich der handwerkliche Effekt auf Grundlage einer magischen Metamorphose (Verwandlung von Licht) in einen der inhaltlichen Inszenierungen. Die Fotografie ist Kunst, sobald die technische Funktion Interpretationsmöglichkeiten nicht nur rein motivimmanent zulässt. Die Inszenierung der Fotografie als Kunstform (was erst theoretisch in den 60er Jahren unter anderem unter dem Einfluss der Texte Benjamins geschieht) geht einher mit der Befreiung von der Technik bis hin zur heutigen digitalen Malerei fotografischer Vorlagen. Vgl. Rolf H. Krauss: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern 1998, S.102. Der Film hat es da einfacher: seine Technik bestand von Anfang an in der Möglichkeit, realistisch zu sein, da die Montage dem Film eine Differenz zur Realität als Inszenierungsmöglichkeit bot. In dem Sinne war z.B. die Nouvelle Vague, trotz ihrer realistischen Nähe zur Darstellung von Situativitäten, immer bemüht, das theatralische im Film hervorzuheben und die Bedeutung der mise en scène zu stärken, um, wie es Bazin ausdrückt, eine Differenz zwischen Realismus und Theatralität aufzubauen und die Authentizität und Eigenständigkeit einer kinematografischen Realität ins Spiel bringen zu können.
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kann.50 Denn einerseits ist die Inszenierung ärmer, weil sie eine strategische Wahl impliziert, andererseits ist sie reicher, weil sie Funktionalität der Realität übercodiert. Damit ist noch nichts über die der Inszenierung grundlegendere Form der Szenifikation gesagt, die in jedem Subjekt vorlaufend die Situation in eine ‚Einheit‘ verwandelt. Was als Subjektivität geschieht (Affekt), das wird in der Inszenierung bewusst und antizipatorisch konstruiert (Effekt). Allerdings gewinnt das Subjekt den Eindruck, dass es als Selbstbewusstsein nicht das Opfer, sondern der Akteur seiner Einheiten ist. Der Szenograf kann dem Subjekt diese Opferrolle zufügen, er ist aber auch in einer echten Dramaturgie (siehe Casablanca) in der Lage aufzuzeigen, wie die Verhältnisse von Opfer und Gewinn ausbalanciert werden können. Letztlich ist nicht eine Alterität, sondern ein hermeneutischer Akt, eine Lesart für die Kultivierung von Realität gründend, die den ‚Reflex‘ der Situativität (Spontaneität) für sich selbst demonstrabel macht.51 Es geht um eine hermeneutische Ökonomie der Einholung des vorlaufenden, progressiven Entwurfs in einer nachlaufenden, regressiven Verifikation. Anders als in der progressiv-regressiven Methode 52 der Sartreschen Hermeneutik gilt nun, dass sich jede Inszenierung (im Gegensatz zur Szenifikation) als solche kenntlich machen muss, was in der Regel durch den kritischen Aspekt einer begutachtenden Haltung geschieht. Dass etwa Benjamin die auratische Rezeption eines Kunstwerkes nicht als Inszenierung seines Ausstellungswertes versteht, oder dass man den Ausstellungswert des Kunstwerks in der Rezeption zur Kenntnis nehmen soll, hat damit zu tun, dass das Kunstwerk in seiner ‚natürlichen‘ Umgebung von einer ‚natürlichen‘ Gemeinschaft, also im Verbund seiner sozialen Zeit und seines sozialen Raums, magisch unter geringstmöglichem Interpretationsspielraum rezipiert werden konnte, während heute die Natürlichkeit seiner Umgebung als Inszenierung künstlich (und auch in zunehmenden Maße 50
Diese Regel gilt nicht erst seit Aristoteles’ Poetik, Kapitel 8.
51 Zum Verhältnis von Lesart und Inszenierung vgl. Ralf Bohn: Paris, Ruhr. Zur geschichtsliterarischen
Inszenierung von Urbanität. In: Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis, Bielefeld 2012, S.289ff. 52 Sartre, Marxismus und Existentialismus, a.a.O., S.70ff. „Wir behaupten ausdrücklich den Sondercharakter der menschlichen Handlung, die die gesellschaftliche Sphäre unter voller Wahrung der Bestimmung durchdringt und die Welt im Rahmen der gegebenen Bedingungen verändert. Für uns ist der Mensch vor allem durch das Überschreiten einer Situation [!] gekennzeichnet, durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, was man aus ihm gemacht hat, selbst wenn er sich niemals in seiner Vergegenständlichung erkennt.“ (S.74f.) Einen kurzen Vergleich strukturalistischer und hermeneutischer Interpretationstheorien mit der progressiv-regressiven Methode Sartres gibt Manfred Frank in: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt am Main 1977. In aller Kürze gesagt, handelt es sich beim Sartreschen Ansatz um die Wiederaufnahme der Lösung der frühromantischen Schlüsse des hermeneutischen Zirkels unter Beachtung der Möglichkeit der Inversion von Individuum und Allgemeinheit (subjektive und soziale Praxis), die der Reflexion von Mensch und Ding als Vorurteilsstruktur (Regression) vorausgeht, um in einer Progression explizit (Deutungsdarstellung/Subjektivität) zu werden. Im Einholen der eigenen Vorgängigkeit in einer nachträglichen Bestimmung geschieht der Austausch der Subjekte sowie deren gegenseitige Abgrenzung in Person und Gesellschaft.
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künstlerisch) hergestellt werden muss.53 Der kritische Aspekt, also der, zwischen verschiedenen Interpretationen wählen zu können und zu dürfen, sei es vom Standpunkt des Szenografen, sei es vom Standpunkt des Beobachters ausgehend, ist entscheidend für eine Selbstbestimmung der Wahl. Der Effekt des Interpretationsspielraumes ist eine allmähliche Verfestigung der Erfahrung des Selbstbewusstseins, das jetzt nicht mehr als präreflexiv, sondern als reflexiv erscheint, was eine Inversion der Zeitlichkeit54 der Autorität des selbstbewussten Subjekts (regressiv-progressiv) bedeutet. Durch die beiderseitige Öffnung eines Interpretationsspielraumes erfolgt die Stabilisierung des Subjekts durch einen gesellschaftlichen Prozess im Sinne einer Vergemeinschaftung, der auf Seiten des Individuums zu seiner Personalisierung, der Integration in die Gemeinschaft führt, auf der anderen Seite jedoch stets die narzisstische Wunde des unhintergehbaren Selbstbewusstseins (das Ich lässt sich nicht ‚inszenieren‘ – bzw. handelte es sich dann um eine Paranoia) als Abhängigkeit vom anderen erkennbar bleiben lässt. Neben dem Aspekt des Interpretationsspielraums ist eine weitere Voraussetzung notwendig, um von der existenzialhermeneutischen Idee zur Beantwortung der Frage zu kommen, was Inszenierung als solche bedeutet. Erstens ist ‚Inszenierung‘ nicht effektiv nach außen, sondern nach ‚innen‘, auf Erfahrung und Selbstbewusstsein hin gedacht in Richtung auf Vergesellschaftung (sensus communis) dieser Erfahrung. D.h., die Inszenierung muss als evident verstanden werden, obgleich es sich um eine Konvention handelt. Zweitens richtet sie sich auf einen anökonomischen Faktor innerhalb der ökonomischen, sprich ‚kapitalistischen‘ Praxis.55 So verläuft die Magie des geldvermittelten Tauschs völlig 53 Entsprechend verschwinden die fetischisierten Bildwerke in protestantischen Kirchen als Zwischen-
vermittler von Mensch und Gott. Als Gegenbewegung setzt die bis heute unüberbotene Kraft der barocken szenografischen Techniken die Vermittlung der Kirche wieder ein. Aber diese Vermittlung ist angesichts der Spaltung der Kirche eine künstliche: Sie ist in der Essenz Kulisse und Fassadenkunst. Schwerlich auch wird man aus diesem Grunde in der Gotik von Szenografie, wohl von Inszenierung sprechen können, da es in ihr, wenigstens für den Großteil der Bevölkerung, keinerlei Spaltung des Glaubens und keinerlei Interpretationsspielraum zwischen dem Diesseits und dem Jenseits gab, von dem her man die Lebenspraxis und die der Kirche unterscheiden kann. D.h. die Kathedrale ist das Jenseits, sie simuliert es nicht nur. 54 Zur Problematik der Reversibilität der Reflexion in der Inversion vgl. Manfred Frank, Gerhard Kurz: Ordo Inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg 1977, S.75-97. Zur literarischen Inszenierung der Instruktion der Inversion genügt es, Kafkas kleine Erzählung Auf der Galerie zur Hand zu nehmen. Hier wird die Inszenierung einer Kunstreiterin von der Reflexion auf die Produktionsbedingungen, die solche Kunstfertigkeit ermöglicht, gleichnishaft durchexerziert, die Inszenierung als Schein entzaubert, gleichwohl aber als Realität ihres Kunstcharakters anerkannt. Die Inszenierung ist eine Realität, die zeigt, dass die Realität eine interpretative Ordnung ist. 55 Es ist Sohn-Rethels zentrales Anliegen, zu zeigen, dass die (kapitalistische) Ökonomie wie eine „gesellschaftlich verursachte Naturkausalität“ (S.5) wirkt, von der man zu zeigen hat, dass sie künstlich ist. Denn im Moment des Geldtausches müssen „Tauschhandlung und Gebrauchshandlung“ (S.17) einander ausschließen. Dadurch entsteht aber die Möglichkeit, die Produktion und den Konsum in kontigente Einheiten zu trennen, obwohl die Geschichte der industriellen Produktion (und ihrer Produktivkräfte) keine Pause kennt. Die kontingenten Einheiten – Ware auf der einen, Wunsch auf
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unkritisch und ohne Interpretationsspielraum, als Praxis einer unbedingten Realität und eines gesellschaftlichen Unbewussten. Diese ‚Situativität des Tauschs‘ wird als die einfache, unbedingte Unvermitteltheit der Gegebenheiten unkritisch (situativ) vollzogen, d.h., im engeren Sinne werden die Produktionsmittel im Produkt nicht mitgedacht, noch haften dem Produkt (der Ware) Spuren davon an, wie ja auch das Geld sich im Tausch nicht verbraucht und die Mona Lisa,durch die Unzahl der Betrachter nicht an Wert verliert oder ‚unleserlich‘ wird. Gegen diese scheinbare Unvermitteltheit der (physikalischen und ökonomischen) Realität, die um der Praxis willen nicht in Frage gestellt wird – das ist ja gerade der Vorteil von Vergemeinschaftung! – steht die ‚Inszenierung‘ als von ‚der Gesellschaft‘ aus bedingter Möglichkeitsspielraum, als kritischer Ort dem gegenüber, was von Seiten des Individuums sonst nur die Eskapade der ‚hysterischen‘ Selbstinszenierungsversuche demonstriert: die eigenen Produktionsbedingungen, die von Selbstbewusstsein selbst, autorisieren und problematisieren zu können. In der Grundrelation der szenologischen Differenz, Situation – Szenifikation, drückt sich also der Umstand aus, dass das ‚Selbst‘ nicht selbst und die Gemeinschaft nicht unverrückbar durch Gott, sondern beide aneinander verwiesen in einer über die ökonomische Praxis hinausweisenden allgemeinen Praxis vermittelt sind: keine Kausalitäten, doch immerhin eine dynamische Amplitude, die den Vorzug hat, von der Präsenz des Subjekts als Leiblichem aus gedacht zu
der anderen Seite – werden nun wieder zusammengeschlossen werden müssen. Das geschieht aber nicht durch Aufklärung der Ökonomie, die wie die Vergesellschaftung selbst rätselhaft bleibt, sondern durch Übergangsszenarien wie z.B. Reklameversprechen und gestaltete Wareneinheiten einerseits und Kreditierungen andererseits. Sohn-Rethel spricht im Übergang von der Realabstraktion zur Praxis von einem Vakuum, das zu medialisieren sich die Szenifikationen andienen: „Wo der gesellschaftliche nexus rerum auf Warentausch reduziert ist, muß ein Vakuum an aller physischen und geistigen Lebenstätigkeit der Menschen hergestellt werden, damit in diesem Vakuum ihr Zusammenhang zu einer Gesellschaft Platz greift.“ (S.18) Als Folge der Tauschinszenierungen wird nicht nur die Trennung von Produktion und Konsum überwunden, es verändert sich auch der ‚ontologische‘ Zustand der sozialen Zeit, in der als Effekt die tauschenden Individuen zu Subjekten der (Geld-)Gemeinschaft mutieren. Diese ‚Zeit‘ außerhalb der Zeit verschafft a priori dem Tausch eine magische Inszenierungsform. Für Sohn-Rethel ist nicht die ‚Künstlichkeit‘ der Schocks entscheidend für den Einsatz inszenierender Integration, sondern die geistige Abstraktion (reine Vernunft), die ihre Wirkungen in einer undurchschaubaren (Selbst-)Technik hat. Historisch gesehen entstehen die modernen szenografischen Initiativen aus dem Impuls, unterschiedlichste mediale Ausdrucksmöglichkeiten und -techniken gesamtheitlich im Sinne einer ‚dritten Natur‘ dem ‚humanistischen‘ (sprich: bürgerlichen) Bild des Menschen als Vakuum vorzustellen. „Die Abstraktion ist ein raumzeitlicher Vorgang: sie geschieht hinter dem Rücken der Beteiligten. Was sie so schwer entdeckbar macht, ist der negative Charakter ihrer Konstellation, dass sie nämlich in der bloßen Absentia eines Geschehens gründet. Was hier den Raum und die Zeit ‚ausfüllt‘, ist das Nichtgeschehen von Gebrauch im Bereich des Austauschs, die Leere an Gebrauch und die Sterilität, die sich durch den Ort und die Zeit erstreckt, welche die Transaktion beansprucht.“ (Sohn-Rethel, Über geistige und körperliche Arbeit, a.a.O., S.21). Es lässt sich feststellen, dass eine Inszenierung die situative Leere an Bedeutung durch eine inszenatorische Fülle zu kompensieren im Stande ist, was für Sohn-Rethel eine konservative Haltung repräsentiert. Die ‚Revolutionäre‘ hätte den ‚ontologischen‘ Mechanismus der Repräsentation der Macht aufzuklären.
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werden.56 Keinerlei Rolle spielt der Umfang des Interpretationsspielraums, sei er nun sehr klein, bei einer affektiven, reflexhaften Produktinszenierung, oder sehr groß, z.B. der Inszenierung einer Stadt mit ihrer unbegrenzten Fülle an Lesarten und Räumen. Erlauben wir uns definitorische Setzungen: – Unter Situation ist die Universalität der menschlichen Praxis als je gegebene zu verstehen. Wenn man will, kann man den nicht mehr aktuellen philosophischen Begriff der Existenz dafür verwenden: Der Mensch unter Menschen, Sachen und symbolischen Beziehungen existiert. Die Selbstsetzung ist spontan. – Unter Szenifikation ist die Darstellung der Unabschließbarkeit des Sozialen als Bewusstsein von Selbstdarstellung, respektive der Unangemessenheit des Subjekt-Objekt-Verhältnisses für die Vorstellungen des Einzelnen von sich selbst zu verstehen. Szenifikationen sind Deutungsräume als Handlungsorte.57 – Die Beschreibung einer szenologischen Differenz dient der Entfaltung der Analytik von Interpretationsspielräumen. – In diesem einer Szenologie vorgreifenden Aufsatz geht es um den Versuch einer Entfaltung der ursprünglichen Problembestimmung des individuellen ‚Machens einer Szene für einen anderen‘, also des Wechselspiels von Personalisierung und Vergemeinschaftung. Der philosophische Hintergrund wird in zwei Sätzen angedeutet: 1. Selbstbewusstsein ist, was es nicht ist; 2. Selbstbewusstsein ist umso stabiler, je dynamischer es sich für und gegen einen anderen entwirft.58 Der Effekt dieses Spiels ist der von Subjektivität auf Seiten des Rezipienten und Zerfall der Einheit der Welt in eine Welt für mich, die nicht identisch zu sein braucht mit der Ansicht der Welt des anderen. 56 Diese Einschränkung ist nicht notwendig. Aber wenn wir von Szenografie sprechen, dann ist doch
stets die Aktion eines persönlich anwesenden Körpers gedacht und nicht ein ‚Maschinenballett‘, ein Programm oder ein Algorithmus. Die Szenografie ist immer ein gesellschaftliches und vergesellschaftendes Ereignis, in ihr gehört der Körper nicht zur Opfersubstanz, ist im Sohn-Rethelschen Sinne als ‚Arbeitskraft‘ vom Tausch ausgeschlossen ist – anders als eben in den antiken Sklavengesellschaften und ihrem inszenierten Gladiatorenspektakel. Aber für den Gladiator ist der Körper eine Ware und kein Objekt der Selbsttechniken. 57 In diesem Sinne benutzt etwa auch Hans Ulrich Reck den Begriff der Theorie, in: Ders.: Kunst als Medientheorie. Vom Zeichen zur Handlung. München 2003, S.23f. 58 Frank, Theorien der Subjektivität, a.a.O., S.254: „Im Selbstbewusstsein deutet sich eine Dualität von Schein und Widerschein an, die sich zu einer Art innerem Selbstdementi zuspitzt („das Bewusstsein ist nicht, was es ist, und ist, was es nicht ist.“). Aus diesem Sich-selbst-in-Abrede-Stellen (‚contestation‘) lässt sich die Zeiterstreckung des Bewusstseins und seine Fähigkeit zur Selbstveränderung erklären.“ Mit anderen Worten: Das Selbst des Bewusstseins erstreckt sich über die unmittelbare Situation als seine eigene Andersheit hinaus, die ihm die Vorstellung vermittelt, es selbst in Dauer zu sein, als Integration der Modalitäten der Zeit. Die Vermittlung durch einen anderen kann dann auch nur zeitlich sein, d.h. sie muss (‚Ich bin auch, was ich jetzt gerade nicht bin‘) sich dem anderen als NichtIch darstellen lassen. Da aber auch der andere mir nicht gibt, was ich bin, erscheint der Versuch nicht der (hysterischen) Inszenierung als eine syndromosche Wiederholungshandlung. Die Zeitlichkeit des Selbstbewusstseins berührt damit fundamental das Problem der Inszenierung als einer ambivalenten inzestuösen körperlichen Motorik.
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Abb.5 Das Theater von Orange, Eingangsbereich (Jenseits). Foto: Ralf Bohn.
3.2. Diskursive und historische Anmerkungen zur szenologischen Differenz Es gibt zwei historische Ableitungen, die verstehen helfen, was unter ‚Inszenierung‘ gemeint sein kann. Die eine entstammt nicht der Theaterwissenschaft und geht auf die Not der Szenifikation als ‚Selbstinszenierung‘, zugleich ‚Selbstobjektivierung‘, ein. Sie entstammt der strukturalen Anthropologie. Wir wollen ihr gleich mit einer Einleitung von Claude Lévi-Strauss zum Werk von Marcel Mauss nachgehen, insbesondere zu der von Mauss 1902/3 publizierten Studie Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie.59 Auch wenn dem Werk von Mauss heute ein historischer Charakter zukommt, kann es grundlegende Hinweise darauf geben, was unter ‚Magie der Szenografie‘ zu verstehen ist, kurz gesagt, welche Rolle der Inszenierung im Effekt der Vergemeinschaftung zukommt. Die Einleitung von Lévi-Strauss zum Werk von Mauss60 geht auf Überlegungen der mittleren Phase des Strukturalismus zurück. Sie erscheint etwas später als Sartres Das Sein und das Nichts, einer nach Heidegger zweiten Popularisierung des Existentialismus. Die zweite Ableitung ist ontogenetisch. Sie hat der Erkenntnisse von D.W. Winnicott, der Annahme eines Übergangsobjektes, nachzudenken. Winnicott61 präzisiert in seinem Werk den Übergang von der Erfahrung der Einheit 59 Marcel Mauss: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie. In Zusammenarbeit mit Henri Hubert, zuerst erschienen in L’année sociologique, Bd. 7, 1902-1903, S.1-146. Abgedruckt in: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie. Frankfurt am Main 1989, S.43ff. 60 Mauss, Soziologie und Anthropologie, a.a.O., S.7ff. Die Einleitung von Claude Lévi-Strauss ist zuerst abgedruckt in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1973, Heft 4. Das Originalmanuskript stammt aus dem Jahre 1950. 61 Zusammengefasst werden die Untersuchungen in: D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1973. Die empirischen Untersuchungen an verhaltensgestörten Kleinkindern gehen auf Überlegungen vor allem der 40er Jahre zurück.
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Abb.6 Das Theater von Orange. Bühnenseite (Diesseits). Foto: Ralf Bohn.
des eigenen Seins zu einer Erfahrung des Körpers als ein Ding, dessen Besitz mir sicher ist – im Gegensatz zu solchen Dingen, deren Besitz disponibel ist, die aber auf magisch fetischisierte Weise zu mir gehören, auch wenn sie abwesend sind. Diese Erfahrung der Abspaltung der Dinge vom Körper als „Besitz“ hat im Übergangsobjekt die Form einer präsymbolischen, abwesenden Anwesenheit. Die Übergangsobjekte sind also Gedächtnissurrogate. Das heißt, die Fetische des Kleinkindes (Rassel, Teddy) werden in einem Übergangsphänomen als zum Körper gehörig angesehen, wozu umgekehrt auch die Verdinglichung des Körpers als sein ekstatisches Außer-sich-Sein gehört. Auf diese Weise lässt sich etwa das Martern von Puppen erklären, das in magischen Gesellschaften der Bekämpfung des Feindes dient, ebenso aber auch das, was in bürgerlichen Gesellschaften unter Besitz als Eigentum verstanden wird. Es kommt dabei auf das Moment der Ablösung (‚Geburt‘) eines Körpers an, der nicht der meinige ist und sich somit seine eigene Welt schafft. Das Übergangsobjekt verbindet und trennt den Körper von den Dingen. Beides, die magische Beziehung zum Ding und die magische Beziehung zum Körperding bewegen sich in einem Übergangsraum, den Winnicott als szenischen Raum (illudischen Raum62) bezeichnet. Dieser Fetischismus verliert sich nicht, wenn man z.B. an die öffentlichen Räume der Bibliotheken denkt, die 62 Winnicott, a.a.O., S.11. Winnicott sagt auch „intermediärer Raum“. „Die Übergangsphänomene
repräsentieren die frühen Stadien des Gebrauchs der Illusion, ohne die ein menschliches Wesen keinen Sinn in der Beziehung zu einem Objekt finden kann, das von anderen als Objekt wahrgenommen wird, das außerhalb des Kindes steht.“ (S.22) Winnicott ist der Einzige (soweit ich sehe), der „das Spiel für das Universale“ hält. Es präsentiert die Dynamik der „Gesundheit“ (S.52), nicht die Statik der Realitätskonstitution. Winnicott macht auch deutlich, dass unter Appropriation dreierlei zu verstehen ist: Aneignung, Verlust und Trennung (vom/als Körper). Damit stellt er einen materialistischen Gegenentwurf zur Phänomenologie des Leibraums vor.
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als Auslagerungen des Gedächtnisses verstanden werden, oder eine Axt, einen Dolch, der als Verlängerung der Hand prunkvoll verziert wird.63 Ich werde hier nur auf die kritische Interpretation des Werkes von Mauss durch Lévi-Strauss eingehen, nicht auf Winnicotts Ideen, die eines der wenigen Modelle darstellen, die nicht auf einem Kraftbegriff fundieren. Nur die Ausgangslage scheint mir wichtig: Da der andere als anderer seiner selbst kein verlässlicher Agent meiner Selbstzeugung sein kann, muss die Andersheit meiner selbst und damit meine Selbstbeziehung zum narzistischen Grund einer Instrumentalisierung eines durch mich produzierten Körpers des Selbst werden. In jedem Fall scheint damit die soziologische Begründung der magischen Akte sekundär zu sein. Mit einer Ausnahme, wenn sich die anderen mit mir als identisch erweisen. Das Problem hierbei ist aber, dass die Vergemeinschaftung die Vergemeinschaftung voraussetzt. Es bleibt also dabei: Die Vergemeinschaftung verlangt mindestens ein Subjekt (Priester, Führer), das seine Selbstheit entweder einer transzendenten oder einer transzendierenden Einheit verdankt (Vater oder Namen-des Vaters). Bedeutsam für die Replik von Lévi-Strauss auf Mauss ist deshalb die historische Datierung 1945/46, weil nach dem II. Weltkrieg eine Stimmung herrscht, die erst einmal tabula rasa mit den bestehenden Ideologien machen kann. Zur Bewegung einer Praxis der Darstellung des auf seine Existenz zurückgeworfenen oder befreiten und sich befragenden Menschen gehört unter anderem Sartres Propagierung des ‚Theaters der Situation‘.64 Das Situative (nicht: Situationistische) meint eine Situation am Nullpunkt gesellschaftlicher Konstellationen, keinen Anfang, eher ein ‚Reset‘ der nach dem Krieg bestehenden Strukturen, eine Art Inventur der Menschlichkeit inmitten der Unmenschlichkeit, also auch die Befeiung von ungewollten Vaterschaften. Der Begriff Situation bezeichnet ein Innehalten und einen Zugriff auf das Unmittelbare (der Existenz), eine leibliche Nähe dessen, auf das zugegriffen werden kann (Übergangsobjekte), und eine Abwehr von ideologischen, stets auf eine Utopie der Idealität gerichteten Teloi. Der Mensch wird als sein eigenes, befreites Produktionsmittel verstanden: Er ist gemacht und macht sich im Kontext der Situativität von Gesellschaft. Das ‚Theater der Situation‘ ist ein Terminus, der von Sartre 1947 anlässlich einiger Theaterstücke von Jean Anouilh gebildet wird, und hat nichts mit den Performances der Situationistischen Internationalen (Situationistisches Theater) zu tun. In diesem Theater geht es nicht um die Ableitung einer menschlichen Natur, sondern um die Wahl des Menschen in einer konkreten, spontanen Situation 63 In die Philosophiegeschichte ist die Organprojektionstheorie durch Ernst Kapp als erster Versuch der Grundlegung einer mimetischen Technikphilosophie eingegangen: Ders.: Grundlinien der Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Düsseldorf 1978 (*1877). 64 Vgl. Jean-Paul Sartre: Für ein Situationstheater. In: Ders.: Mythos und Realität des Theaters. Aufsätze und Interviews 1931-1971. Reinbek 1979, S.45ff.
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und die Voraussicht auf das Opfer, das daraus resultiert (das, was nicht gewählt wird). Szenifikation ist das Innehalten vor dem Opfer, Inszenierung die Durchstreichung seiner Realität.65 Für das Theater Sartres ist bezeichnend, dass einige seiner Bühnenstücke aus dem Jenseits oder vor dem Jenseits (nach dem Tod) der Protagonisten spielen und damit eine seltsame Inversion des griechischen Theaters offerieren, in dem die Schauspieler Tote im Diesseits verkörpern können. Darin liegt die magische Idee, die Objektivität der Zeit durch Inszenierung einer unerfüllbaren Vorstellung überlisten zu können. Weil der Raum der Inszenierung ein erfundener ist, kann er nicht der Grenze des Todes unterliegen. Gott, als derjenige, der den Menschen entscheidet, aber erscheint nicht. Selbst im Jenseits ist man auf sich selbst und die „Hölle der anderen“ zurückgeworfen. Andererseits, da die Situativität des Theaters unmittelbar sein soll, kann das Jenseits szenifiziert und realisiert werden: Denn das Jenseits ist das Diesseits der Inszenierung. Ein ‚Jenseits‘ im christlichen Sinne gibt es für Sartre nicht – das Paradies gehört zu den Bildern einer verworfenen Ideologie. Alles, was es gibt, ist immer schon da, gegenwärtig und spontan.66 Praxis ist nicht ableitbar und in diesem Sinne auch nicht effektiv. Jedenfalls bestimmt sich die Situation als eine solipsistische Stellung der Individualität, die die Ketten der Gemeinschaft abzuschütteln in der Lage ist, ganz bei sich, ganz gegenwärtig, ganz Tat und im Theater doch ganz Geste.67 Was im Theater inszeniert wird, unterliegt in der Wirklichkeit der Szenifikation. Die Situation ist demnach ein Nullpunkt, die Szenifikation ist die Medialisierung als Selbst- und Fremdvermittlung. Situation, Szenifikation und Inszenierung ereignen sich wechselweise. Die Pointe der Überlegung ist die, dass in der Idee des sozialen Feldes68 die Situativitäten unter dem Begriff des strukturalen 65 Schon bald stellt die politische Linke verwundert fest, dass an Stelle der großen Vaterschaften der
Warenbesitz tritt: als Fetischismus der ‚Selbstbesorgung‘. Sartre wehrt mit dieser These vor allen Dingen ein nicht aktualgenetisches Unbewusstes ab. 67 Über den Unterschied von Tat und Geste, Rolle und Realität des Schauspielers handelt das Stück Kean oder Unordnung und Genie. Abgedruckt in Jean-Paul Sartre: Dramen II. Reinbek 1966, S.303ff. (insbesondere V. Akt, II. Szene). – Umso schlimmer für den frühen Sartre, dass sich sein solipsistischer Sozialismus nicht mit der Doktrin vom besitzlosen Besitz des zeitgenössischen Kommunismus vereinen lässt. Zugegebenermaßen ist das aber auch der idealistischen Stellung zu verdanken, die Sartre dem Freiheitsbegriff einräumt, der von einer autonomen ‚Selbstwählbarkeit des Menschen‘ ausgeht, der also die Problematik der Inszenierung nicht funktional ethisch betrachtet. Es fehlt, und das ist in allen Theorien dieser Zeit signifikant, eine Problematisierung des ‚medialisierten Menschen‘. Der Cartesianismus, das gibt der Sartre der 60er Jahre gerne zu, überwiegt in dieser Periode seiner Schriften. 68 Zum ursprünglich militärischen Feldbegriff, der von Heinrich Hertz in die Physik, von Kurt Lewin in die Psychologie eingeführt wird, vgl. Christoph Hoffmann: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942. München 1997, S.139ff. Der Feldbegriff konkretisiert einen „Repräsentationsraum“, und somit einen erweiterten Gestaltbegriff. Eine Gestalt zu sehen, heißt, das Subjekt mit dem Objekt in einem Interpretationsraum zu figurieren, genauer, nicht die Gestalt zu reflektieren, sondern sich in der Gestaltbildung zu invertieren. In gewisser Weise ist dann das Feld der soziologische Raum, die Gestalt der subjektive und die Inversion (Reziprozität) der anthropologische Faktor. 66
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Feldes konkrete theoretische Gestalt annehmen. Nicht so bei Sartre: hier bleibt alles einer Bühne vorbehalten. Das hat ein fatales Problem zur Folge: Wie kann man die Darstellung einer Sozialwissenschaft als nichtideologische, nicht an die Geschichtlichkeit gebundene Wissenschaft an die Anthropologie binden? Jedenfalls ist die Neutralität ebendieser Struktur einer wissenschaftlichen Faltung an einen sozialen Raum (Magie) und eine soziale Zeit (Reziprozität/ Tauscheffekte) gebunden, deren objektive Beschreibung, wie sie der Strukturalismus versucht, möglicherweise an der Realität des Menschen und seiner Selbstbewusstseinsstruktur (wenn nicht Narzissmus) scheitert.69 Nur was Anfang und Ende hat, kann ganz in die Verfügbarkeit und den Besitz des Subjekts übergehen: hat den Status eines vom Körper abgetrennten natürlichen Objekts. Die Rückeroberung dieses autonomen Körpers als Element des Sozialen wird in jeder Inszenierung simuliert. Aus diesem Grunde spricht Hegel von „Aneignung“ (Appropriation). Demnach gehört die Inszenierung einer Logik der Retroaktivität an: Die nachträgliche Selbstbestimmung ist nicht der Logik der Objektivation unterzuordnen, sondern stets aktuelles, situatives Selbstbewusstsein, das sich seiner selbst nur über den Vorgang des Ereignisses, also des Außer-sich-Seins von (physischer) Realität bewusst ist. Wir stehen also wieder am Anfang der Frage nach der Authentizität von physischer und sozialer Realität, nur knüpfen wir diese Frage jetzt an die der sozialen Anerkennung des Problems selbst, nicht an dessen Auflösung (Verdrängung). Man muss dann auch sehen, dass ‚Inszenierungen‘ nicht irgendwie eine soziale oder narzisstische Not beheben, sondern dass sie diese darzustellen haben. Mit Sartre ist das situative Bewusstsein ein präreflexives Selbstbewusstsein, das als Bewusstsein von sich selbst am Widerstand der Objektwelt als reflexives gebrochen wird.70 Hier also die zweite Setzung, nach der der szenologi69 Das ist der Punkt der Kritik von Frank (und Sartre) am Strukturalismus, der, um es unverantwortlich
kurz zu sagen, nicht die Genesis seiner selbst und damit die Geschichtlichkeit der gesellschaftlichen Strukturen zu erfassen weiß. Vgl. Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S.296f. Ein weiterer Punkt betrifft die Möglichkeit, umgekehrt, aus einer sozialen Struktur heraus Individualität abzuleiten. „Alle Vergesellschaftung muss – das war die richtige Intuition von Sartres Sozialphilosophie – beim Individuum anheben.“ D.h. das Gesellschaftliche ist immer letztlich zurückgeworfen auf die Präsenz und die Bedürfnisse des Körpers der Einzelnen in ihrer situativen Praxis. Das ist mit den Einsichten Winnicotts identisch, der davon ausgeht, dass alle Beziehungen des Neugeborenen nur Selbstbeziehungen sein können, da auch die Mutter nicht als ein anderer Körper erfasst wird. „Die Einsichtigkeit einer Sozialtheorie hat darin ihr Maß, dass sie die vielfältigen Bedingungen, denen Individuen unterworfen sind, zwischen der Skylla eines souverän sich und die Welt setzenden Subjekts und der Charybdis einer subjektlos-verdinglichten Systemtheorie hindurchführt. Das war die unvergessliche Einsicht, die die Sozialtheorie der critique de la raison dialectique [Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft, *1960] leitete.“ (S.299) In Bezug auf Inszenierung von Subjektivität habe ich versucht, diese Einsicht Sartres auf das Werk und die Personalisierung Paul Klees anzuwenden, wie schon Sartre es in seiner Flaubert-Studie angewandt hat. Vgl. Ralf Bohn: Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee. Szenografie & Szenologie Bd.2, Bielefeld 2009. 70 Vgl. vor allem Sartre: Marxismus und Existentialismus, a.a.O., S.74ff. Sartre kommt konkret auf die Differenz zwischen „Situationsbewusstsein und Entwurfsbewusstsein“ (S.76) zu sprechen.
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schen Differenz: Jeder Szenifikation geht es um die nachträgliche Inbesitznahme (Darstellung) des Vorgangs der Subjektivierung, als Versuch syndromischer Selbstaneignung – zu der das Subjekt immer zu spät kommt, die es aber in der nachträglichen Reflexion mindestens inszenierend (interpretativ) präfigurieren kann, denn hier wird aus der Verspätung Vorzeitigkeit. Genau so muss man die Begriffe Szenifikation und Inszenierung auseinanderhalten. Inszenierung kann nachgerade als Übergangsform eines sich vom Körper ablösenden Objekts verstanden werden, das als Isolat Anfang und Ende in seiner Form vereinigt, dessen gestalthafter, ästhetischer Interpretationsspielraum jedoch die Frage seiner Produziertheit (also die Frage seiner Produktionsherkunft, seiner ‚Inszeniertheit durch ein Begehren‘71) mit sich führt, und zwar in der Regel an der Unbestimmtheit des Seins des anderen. Es ist unbedingt zu markieren, dass es sich dabei nicht um einen szenischen Raum handeln muss, sondern um eine Inversion, eine Freiheit von der Zeit. Denn die Szene ist im Wesentlichen Handlung (der Akteure, der Deuter ...), eine Reethisierung. Leider widmen sich die Theoretiker der ‚Atmosphären‘ eben nur dem ästhetischen Aspekt, kaum dem ethologischen und gar nicht dem Zeitproblem des Selbstbewusstseins, als scheine das ‚klassische‘ Theater geradezu die heterotope Abschirmung einer solchen metatheoretischen Soziologie zu leisten. Die Reflexion auf diese und weitere Probleme lenkt Lévi-Strauss mit einem frühen Hinweis auf Lacan,72 wonach das Individuum in seiner Selbstreflexion die Objektivation des Mangels des Selbstbewusstseins im anderen entdeckt – Reflexion, weil es dieses Begehren nicht direkt aus dem Blick, sondern aus den Objekten ableitet.73 D.h., die soziale Variante der Agonie des Selbstverhältnisses ist als Inszenierung die Negation der Objektwelt und die Zentrierung des Blicks.74 Und was ist jedes inszenierende Spiel anderes als die Negation der Situativität von (physikalischem) Raum und Zeit in einer Vorstellung, über deren auch negentropische Scheinhaftigkeit Praktiken der Verständigung herrschen: das Soziale selbst, das, was Sartre und Lacan den Blick, d.h. die deutende Zuwendung nennen. Wer spielt und Gesten offeriert, handelt nicht in spontaner Gewalt, objektiviert nicht den Körper des anderen. Der Effekt der Negation besteht darin, erstens, die Subjekt-Objekt-Spaltung als Effekt der Vergemeinschaftung, nicht als deren Voraussetzung zu gewärtigen. Die Negation ist Ausdruck einer unhaltbaren Selbstobjektivierung/Selbstabschließung. Zweitens ist die Relation von Situation und Szenifikation nicht ökonomischer Natur 71
Begehren, das sich über einen Mangel konstituiert, der auch den Mangel der Unabschließbarkeit der Inszenierung betrifft. ‚Inszenierungen an sich‘ kann es ja nicht geben. Diese wären reine Situativität, also Praxis. 72 Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.15. 73 Wobei der andere auch Objekt sein kann – beschreibt Sartre das Verhältnis von Voyeur und Exhibitionist. Vgl. Bohn, Inszenierung als Widerstand, a.a.O., S.108ff. 74 Siehe den Beitrag von Alla Sosnovskaja in diesem Band.
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und lässt sich auch nicht auf materialistischer Grundlage definieren, ebenso wie Inszenierungen nicht in technischen Effekten aufgehen – ihre Struktur ist magisch, d.h., sie fundiert auf einer verzweifelten Komplementarität zwischen den sozialen und den physikalischen Strukturen derart, dass „die Übersetzung eines Systems in ein anderes die Einführung von Konstanten voraussetzt, deren Werte irrational sind [...] [Daraus] folgt, dass keine Gesellschaft jemals ganz und vollständig symbolisch ist.“75 Anders gesagt, da es keine Konstante gibt, da die Systeme nicht statisch sind, ist die Form der Übertragung magisch, d.h., sie geschieht über eine Struktur des Mangels an Objektheit (strukturale Lücke)76, – als Unabschließbarkeit der Deutung sozialer Praxis. Vice versa ist dieser Mangel als Negation der Position der Inszenierung der Versuch einer Aufhebung des Mangels, was im Strukturalismus der Dynamik der symbolischen Beziehungen entspricht, die sich um einen Nullpunkt (Fetisch) organisieren. Deutlicher gesagt, die Unschärfe des Magischen ist der Aspekt ihrer Wahrheit – das ist aber etwas anderes, als in Inszenierungen über die Unschärfe des Atmosphärischen zu sprechen und sozusagen immer vom technischen Standpunkt einer realistischen Detailschärfe auszugehen. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Weltsicht hat die magische keine Geschichte, keine Ableitungen, sie ist situativ an die Gegenwart gebunden, gleichwohl ist sie an einen genealogischen Nullpunkt ausgerichtet, in der Regel an die Position der Vaterschaft, die immer heikel ist (in der Struktur des Ödipus etwa) und deswegen in der Regel einen Mythos der Gewalt voraussetzt. Sie ist ‚vergegenwärtigend‘, während die objektive Geschichte das stets vergangene Gegenwärtige setzt und an der Re-Inszenierung/-animation scheitert, bzw. sich mit Modellierungen und Inszenierungen begnügen muss: die Geschichtsschreibung. Es gibt keine ‚Ende eines magischen Zeitalters‘. 75 Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.15. Man benötigt nicht tiefe philosophiegeschichtliche Kenntnisse,
um Kierkegaard als den Urheber dieser Idee der ‚Verzweiflung‘ zu erkennen. Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus? a.a.O., S.44f. Diese Lücke oder „das leere Feld“ sind nur in Ausnahmen Szenen, also geografische Orte, z.B. dann, wenn sie durch einen Stellvertreter (Fetisch) okkupiert sind. Deleuze bezieht sich z.B. eher auf die Reziprozität, also die Möglichkeitsstruktur der Zeit, deren Fetischcharakter durch Wünsche, Hoffnungen, Vertrauen etc. soziale Konvertibilität ermöglicht. Problematisch wird das strukturalistische Konzept erst, wenn man Individualität tatsächlich als ein von außen hinzukommendes Merkmal betrachtet, in dem Selbstbewusstsein eine autonome Kategorie darstellt, die sich dann allerdings als der Fetisch des Absoluten (Vernunft – oder ein Kraftbegriff ) erweist. Für die sozusagen ‚Unfälle‘ ist eine Praxis verantwortlich, in der die Beobachtung niemals ganz absolut sein kann. „Der Strukturalismus ist keineswegs ein Denken, welches das Subjekt beseitigt, sondern ein Denken, welches es zerbröckelt und es systematisch verteilt, welches die Identität des Subjekts bestreitet, es auflöst und von Platz zu Platz gehen lässt, ein Subjekt, das immer Nomade bleibt, aus Individuationen besteht, aber aus unpersönlichen, oder aus Besonderheiten, aber aus vorindividuellen. Genau in diesem Sinne spricht Foucault von ‚Selbsttechniken‘; und Lévi-Strauss kann eine subjektive Instanz nur als eine von den Objektbedingungen abhängige definieren, unter denen Wahrheitssysteme umwandelbar und folglich ‚für mehrere Subjekte gleichzeitig annehmbar‘ werden.“ (Deleuze, S.55; Zitation Claude Lévi-Strauss: Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt am Main 1971, S.25).
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Unter den Komplex magischer Vergegenwärtigung fällt auch der objektlose Begriff ‚Selbstbewusstsein‘. In dieser Hinsicht fragt Lévi-Strauss, ob es sich bei magischen Praktiken tatsächlich um eine Form von animistischer Inszenierung handelt oder ob das Magische nicht ein Verweis auf das Scheitern jeglicher Inszenierung in Bezug auf das Problem der Selbstobjektivierung (also der Gottesposition) sei. „Die Komplementarität zwischen individuell Psychischem und sozialer Struktur“77 wie sie die Magie dem Vergegenwärtigungsargument nach verlangt, muss so tun, als sei im magischen Zirkel die Realität selbst am Werk. Anders gesagt, Inszenierung (besser ‚Szenografie‘) als bewusste Strategie der Manipulation gesellschaftlicher Praxis durch eine Autorschaft (real oder zugeschrieben) ersetzt die magischen Praktiken durch technische Realisierungen und ist auf diesem Wege gezwungen, Magie als Zauber der Effekte zu simulieren. Affekte und Effekte sind nicht mehr komplementär, sie werden als ableitbar behandelt. Aus diesem Grunde meint der Begriff der Inszenierung stets einen Akt, der im Glauben der Verfügbarkeit des Selbstbewusstseins geschieht (mit allen Ablenkungen auf die Ebenen des Künstlertums, der Genialität etc., die ebenfalls wie die Wissenschaften soziale Praktiken der Selbstlegitimierung sind). Im Gegensatz dazu steht die Szenifikation als Moment, in dem die Präreflexivität des Selbstbewusstseins als Bewusstsein von sich selbst erscheint. Während also in der Szenifikation das Scheitern evident ist, muss in der Inszenierung das Scheitern eigens dramatisch produziert sein. Auf diese Weise verliert es seinen Schrecken: Es wird zur Verhandlungssache. Man muss nicht das Bewusstsein von sich haben, wenn man durch eine Stadt läuft, es ist evident, dass ich es bin, der durch die Straßen der Stadt läuft. Aber wenn ich das Bewusstsein vorstelle, dann ist es evident, dass die Stadt sich zur Gänze von mir isoliert und als diese Stadt erscheint. Der Unterschied besteht darin, dass jede Inszenierung zwar aufgrund der Struktur des Mangels formalisiert ist, aber als solche eine Negation des Mangels darstellt, der im Übrigen im Begehren des Zuschauers, im Genießen der Freiheit78 – wenn auch nur interpretativ/kritisch – zum Ausdruck kommt, während in der Szenifikation die Offensichtlichkeit des Mangels der eigenen Autorschaft in der Verspätung sich ankündigt, mit der ich aus einer alltäglichen Situation in eine Szene ‚erwache‘, mich als Beobachter einer Situation einsetze, die aus der Situation ein konkretes Gebilde macht, der die Vaterschaft (Erweckung) als ein Dilemma des Entzugs vorausgegangen ist. Das setzt nicht voraus, dass ich mich selbst als Beobachtenden beobachten muss. Die Inszenierung ist in jedem Fall an ein Moment der Nachträglichkeit gebunden, genau darin liegt auch ihr kritischer Charakter gegenüber der ‚Realität‘ einer situativen Präsenz (‚Dasein‘). 77
Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.18. Sartre, Marxismus und Existentialismus, a.a.O., S.121: „Was wir Freiheit nennen, ist die Unzurückführbarkeit der Ordnung der Kultur auf die der Natur.“
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4. SZENOLOGIE UND VERGEMEINSCHAFTUNG (DISKURS LÉVI-STRAUSS – MARCEL MAUSS)
Diskutieren wir das Problem der Anthropologie und der Anthropomorphisierung, das Lévi-Strauss bewegt anlässlich der Mauss’schen Thesen zur Magie. Diese Diskussion erlaubt, das Vorstehende in einen Rahmen zu setzen, von dem aus eine Szenologie sich in den Diskurs um das Spektakel, das Ereignis, die Realität und die Inszenierung einbettet. Szenografie ist als technische Institutionalisierung von Inszenierung zu verstehen, Inszenierung als magische Anthropomorphisierung gesetzt.79 Es geht Lévi-Strauss nicht um das Problem der Verifikation von Inszenierung, sondern um die Problematisierung der szenologischen Differenz, der irreflexiven Möglichkeit, einen Ausschnitt der Welt als szenifiziert zu betrachten (zwecks der Aufhebung eines unaufhebbaren antinomischen Mangels der Selbstbegründung), und zwar, wie Lévi-Strauss präzisiert, mit den Mitteln der Ethnologie, der Psychologie, der Anthropologie und der Soziologie. Auf der Grundlage dieser sich zu Mauss’ Zeiten etablierenden Wissenschaften kann von außen das Paradigma der szenologischen Differenz für eine Propädeutik der Szenologie umrissen werden. Denn, wie Kuhn dargestellt hat, es bedarf zur Konstitution einer Wissenschaft neben der veränderten Selbstansicht eine externe Perspektive. Die Szenologie ist mit der vorschnellen Einordnung in Theaterwissenschaften nicht grundgelegt. Vielmehr ist unter ihrem Begriff derjenige Moment zu verstehen, in dem das menschliche Verhältnis zur Welt vom Körper noch nicht gelöst, in der Spanne der Übergangsobjekte und Übergangsphänomene verbleibt, ohne zu verdinglichen, noch sich auf das Symbolische als ein bereits gesellschaftlich Festgeschriebenes beziehen zu müssen. Wäre es anders, hätte man die Frage nach der Szenifikation als solcher gar nicht zu stellen. Als abgelöstes, reflexives Phänomen kann jede Inszenierung für einen anderen im Gegensatz zur Szenifikation für mich autorisiert und angeeignet werden. Wir untersuchen szenologisch die Subjekt-Objekt-Differenz vor ihrem Zerfall auf einen externen Grund hin, der durch den Übergang von der Szenifikation zur 79
Man darf mit Adorno fragen, ob Szenografie nicht ein Instrument darstellt, das dem Menschen die Unzumutbarkeit seines Verhältnisses zur eigenen Kultur nahelegt, nicht indem sie die Welt real verändert, sondern indem sie die Illusion aufrechthält, dass die vom Szenografen (im Barock auch der absolutistische Fürst, also derjenige, der sich im Namen-des-Vaters einschreibt) geschaffene Moderation der Produktionsverhältnisse angenehmer sei als die ‚natürliche‘ Realität. Vgl. Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen: Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Abgedruckt in: Friedemann Grenz: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Frankfurt am Main 1975, Anhang S.224-251. „Ich bin altmodisch genug zu glauben, dass die Kritik der Gesellschaft das ist, auf das es viel mehr ankommt, als etwa auf eine Kritik der Technik als Technik. Die Technik als Technik ist weder gut noch böse; sie ist wahrscheinlich eher gut.“ „Also, wenn ich frage: ‚Ist die Soziologie eine Anthropologie?‘, dann meine ich prägnant damit die Frage, ob die Institutionen wirklich eine Notwendigkeit der Menschennatur sind oder ob sie die Frucht einer geschichtlichen Entwicklung sind, deren Gründe durchsichtig sind und die sich unter Umständen auch verändern lässt.“
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Inszenierung geschaffen wird: die Vergemeinschaftung, respektive konkret die Trennung zwischen Magier/Zauberer (Szenograf ) und Publikum, d.h., diejenigen, die der Deutungsvorgabe folgen.80 Wenn man will, bewegen wir uns, wie Winnicott annonciert, im Protostadium der Verdinglichung einerseits und der Personalisierung andererseits. Ist nun also (magische) Inszenierung ein soziologisches oder ein anthropologisches Datum? Denn darum geht es in der Szenifikation: um die Durchstreichung der Subjekt/Objekt-Differenz zu Gunsten einer ‚atmosphärischen‘ Erzeugung einer dritten Natur.81 Die Natur, die Realität, die Inszenierung – statt der großen Erzählung existiert ein Puzzle von Deutungsvorgaben ohne Bedeutung – Signifikate statt Signifikanten. Nachdem Lévi-Strauss zunächst auf den Begriff der ‚Körpertechniken‘ und den Versuch einer Archivierung derselben unter die symbolischen Bedeutungen bei Mauss reüssiert und dessen moderne Konzeption hervorhebt, kommt er auf den Unterschied zwischen Gesellschaft und Individuum zu sprechen, um sogleich das Moment der Magie als deren Komplementarität zu betonen: Es gehört zur Natur der Gesellschaft, dass sie sich in ihren Gebräuchen und in ihren Institutionen symbolisch ausdrückt, während die normalen individuellen Verhaltensweisen im Gegensatz dazu niemals durch sich selbst symbolisch sind: sie sind nur die Elemente, aus welchen ein symbolisches System, das nur kollektiv sein kann, sich bildet. Nur die 80
Z.B. stellt sich für Jean Baudrillard die Frage der „Referenzlosigkeit der Bilder“, wem sollte man folgen, wenn die Magie nicht autorisiert? (Ders.: Agonie des Realen. Berlin 1978) Was sollten solche Bilder inszenieren? Inszenierungen verlangen Deutungsofferten. Baudrillard nimmt das Beispiel der militärischen Musterung: Der junge Mann, der absichtlich „eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich einige Symptome der Krankheit“. (S.10) Über die Wehrtauglichkeit kann der Arzt nur im Kontext der Musterung entscheiden: Inszenierung einer Krankheit als Simulation einer Deutungsmaxime (Untauglichkeit bei Krankheit). D.h. aber auch, die Musterung selbst wird nicht als Inszenierung wahrgenommen. Die „Simulation erscheint als Gegenkraft zur Repräsentation“. (S.14) Repräsentiert werden kann nur, was die Deutungsintention in die Realität verlagert. Die Simulation dagegen „verweist auf keine Realität“. (S.15) Damit wird die Entscheidung des Arztes unbegründbar. Im Zweifel bleibt ihm nur übrig, das Militär vor Simulanten zu schützen. Das ist der Fall in der berühmten Musterungszene in Felix Krull von Thomas Mann. Seine übertriebene Wehrbereitschaft lanciert, dass es zwischen dem Zivilen und dem Militär keinerlei Differenz gibt, was für das Militär unannehmbar ist. In Thomas Manns Protagonist fallen Kompetenz und Performanz (Felix – der Glückliche) zusammen. 81 So die These der Postmoderne von Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1983, und Jean Baudrillard, der an die Stelle der Geschichte die Simulation setzt und in Bezug auf die ‚Inszenierungswut‘ als Renaturalisieung den Begriff „Reservat“ benutzt. Das Reservat (Naturschutzgebiet, Weltkulturerbe, Disneyland etc.) ist die Inszenierung von Atmosphären, die bislang noch im Experimentellen verbleiben. „Jedenfalls sollte man meinen, dass dieses Experiment – wie jedes Streben nach einem künstlichen Überleben, nach einem künstlichen Paradies – illusorisch ist, und zwar nicht wegen technischen Versagens, sondern vom Prinzip her. Es ist somit ungewollt von den gleichen Fährnissen wie das wirkliche Leben bedroht – glücklicherweise. Hoffen wir, dass die zufallsbestimmte Außenwelt diesen gläsernen Sarg zerbrechen wird. Jeder beliebige Unfall wäre gut, um uns dieser am Tropf hängenden wissenschaftlichen Euphorie zu entreißen.“ Jean Baudrillard: Die Illusion des Endes oder Streik der Ereignisse. Berlin 1994, S.138. Es ist bezeichnend, das die historische Situation nach beiden Weltkriegen, vor allem aber die performative Wende in den 60er Jahren, ein theoretisches Interesse an einer Szenografie als Indifferenzdifferenz geweckt hat, in dem Maße, wie die Rede von der Herrschaft des Subjekts sich in seine gesellschaftlichen als medialen Beziehungen auflöst, aufgrund des Verlustes der Referenz, des Körpers als Nullpunkt.
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anormalen Verhaltensweisen realisieren, weil sie desozialisiert und in gewisser Weise sich selbst überlassen sind, auf individueller Ebene die Illusion eines autonomen Symbolismus.82
Auf der Ebene dieser Illusion, einer Eigenkomplementarität des Individuums, wird von außen die Psychosenrelevanz von „Krüppel und Ekstatiker, Nervöse und Vagabunden“ als Kritik am Kollektiv verstanden. Denn die normalen Verhaltensweisen werden von diesen ‚Autonomen‘ nicht praktiziert, sondern erneut in ein System privater Inszenierung übersetzt. Sie szenifizieren sich selbst, sie sind Selbstdeutungen. Lévi-Strauss zitiert Mauss: „Was ihnen magische Kräfte verleiht, ist nicht so sehr ihr individueller physischer Charakter, als vielmehr die von der Gesellschaft ihrer ganzen Art gegenüber eingenommene Haltung.“83 Wir sehen, wie Lévi-Strauss sich sofort den Elementen des Außen in der Inszenierung widmet, um von dort die ‚Natur der Gesellschaft‘ und ihr Magisches Moment aufklären zu können. Das magische Element ist dasjenige, das die Mitglieder einer Gruppe unter Zurücknahme ihrer Individualität aus dem Auge verlieren müssen, nämlich warum sie sich als (nichtpathologische) Mitglieder identifizieren. Ihr Aufgehen in der Gemeinschaft lässt sie ihren konstruktiven Status vergessen. Gleichwohl wird die Aufnahme in magischen Gesellschaften durch ein Ritual, also eine Inszenierung dessen erfolgen, für das sie blind sind, nämlich die soziale Realität der symbolischen, auratischen oder magischen Konstitutionsregeln. Dafür bietet die Privation der Individuen keine Regel an, da diese Außenseiter selbst als Teil der extrinsischen Bedingungen der Gemeinschaft gelten, z.B. wenn sie als ‚autonome‘ Schamanen bestimmte Funktionen einnehmen und Praktiken veranlassen. Das Magische hat nichts übernatürliches, sondern bezeichnet den der Physis entgegengesetzten, aber in den Übergangsphänomenen nicht losgelöste Pol des „sozialen Raumes“ und der „sozialen Zeit“ (Luhmann). Dieser Vorgang zum Sozialen lässt sich aufgrund der immer schon stattgehabten Körper/Ding-Leib-Relation nicht physikalisch ableiten. Jede Kultur kann als Ensemble symbolischer Systeme betrachtet werden, wobei die Sprache, die Heiratsregeln, die ökonomischen Verhältnisse, die Kunst, die Wissenschaft und die Religion an erster Stelle rangieren. All diese Systeme zielen darauf ab, bestimmte Aspekte der physischen und der sozialen Realität auszudrücken, und darüber hinaus die Beziehungen, in welchen diese beiden Typen von Realität zueinander stehen und welche die symbolischen Systeme jeweils zueinander haben.84
Es ist wichtig, zu bemerken, dass Lévi-Strauss die beiden Realitäten (die physische und die soziale) zwar in den symbolischen Systemen ausgedrückt findet, dass er aber bereit ist, anzuerkennen, dass ihrer Differenz ein grundlegen82
Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.13. Ebd., S.13f. 84 Ebd., S.15. 83
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derer Vorgang als der der Realitätsbildung unterliegt, nämlich die kulturellen Beziehungen als praktische und zufällige. Das ist nachgerade der Sinn und die Definition dessen, was im Begriff der Komplementarität, den er einführt, nur ungenügend zum Ausdruck kommt, nämlich, erstens ein „inkommensurables“ Übersetzungsverhältnis der Realitäten, zweitens ein Feld oder eine Struktur, in dem die systemische Dopplung der Realität ausgedrückt werden kann – zeitliche oder räumliche Szene –, und drittens die magische, protowissenschaftliche Aufklärung über die Antinomien des Selbstverhältnisses (Ich-‚Überich‘) als privative Rückaneignung. In dieser Verklebung erfährt das Autonomie- und Autarkiebegehren seine das Subjekt konstituierende Widerständigkeit als notwendige Verkennung, in der das Individuum sich qua Selbstbewusstsein konstitutiv über seinen Autonomiemangel hinwegtäuscht. Das führt nach Lévi-Strauss dazu, dass sich die Gesellschaft der deplatzierten Individuationen (Pathologien) bedient, um der Konsistenz dessen sich zu versichern, was sie in sich überwunden glaubt, nämlich ihre Selbsttäuschung. In Wahrheit sind die Individuationen aber nicht überwunden oder ‚gewusst‘, objektiviert, sondern sie erweisen sich lediglich über die Szenifizierung des Individuellen hinaus als inszenierbar, d.h. wiederholbar, und das meint, als Institutionen sowie technische Funktionen und Verfahren, deren Kleinste das Subjekt, deren Größte die Bürokratie ist.85 Das Magische, das diesem Fetischismus der simulativen Entwürfe eignet, gewinnt dadurch etwas dem Traum ähnliches, es entzieht sich der Übersetzung und markiert als Wiederholung den verloren gegangenen Interpretationsspielraum seiner selbst, Abwehr leerer Reproduktion. Man kann also sagen: Die Deutung ist vor dem Traum. Denn die Reproduzierbarkeit verweist auf den Mangel der nicht wiederholbaren Zeit, der nicht wiederholbaren kontextuellen Situation des Erwachens. Auf diese Weise gelingt es den ‚magischen Gesellschaften‘, die Pathologien als Zeichen einer überzeitlichen Wahrheit zu honorieren, statt sie, wie in Gesellschaften der ‚Gesellschaft‘, zu verfemen. Die Pathologie kann gar keine ‚Andersheit‘ sein: Sie ist der präreflexive Teil des gesellschaftlichen Gedächtnisses. Lévi-Strauss vollzieht diese Schritte von Mauss nicht ganz mit, aber er gibt zu, dass „genau genommen [...] der[jenige], den wir geistig gesund nennen, gerade derjenige ist, der sich entfremdet, weil er bereit ist, in einer Welt zu leben, die allein durch das Verhältnis von Ich und Anderem definiert werden kann.“86 Die Entfremdung soll nicht einen Rückfall in das geistig ‚Ungesunde‘ bedeuten, sondern muss innerhalb der Gesellschaft als Entfremdung, das heißt Möglichkeitswelt ausgespielt werden. Das Ritual dient dazu, die Komplementa85 Auch hier sieht Adorno zunächst nicht die Technik, sondern die bürgerliche Kultur als problematisch
an: „Die Entformung ist vielmehr, wenn ich es einmal kraß sagen darf – ein Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft als ein Phänomen, das an sich notwendig mit der Industrie qua fortschreitender Technik gleichzusetzen ist.“ (Adorno in: Grenz, a.a.O.) 86 Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.15.
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rität von Individualität und Gesellschaft als Gemeinschaftsverhältnis auszudrücken, so dass die Individuen in die Lage versetzt werden, „imaginäre Übergänge zu fingieren“.87 Fingierung und Entfremdung stehen sich als zwei Ausdrucksebenen gegenüber, die beide nicht das ausdrücken können, was sie als Stasen eines Prozesses der Ablösung von und zu den Dingen sind. Nun wird aber klar, was hier ‚Inszenierung‘ bedeuten kann: dass die nichtpathologische ‚Andersheit‘ zum Schein als Inszenierung gemacht werden muss – verbrämt gewiss mit einer Praxis von Künstlertum. Das affirmiert die jeweiligen szenografischen ‚Berufungen‘ ,sich zu professionalisieren. Als eine solche Professionalisierung sieht LéviStrauss die psychologische und die soziologische an, was auch einer möglichen Szenologie eine gewisse übersetzende Zwischenstellung verleiht, deren Mythos darin besteht, dass das inszenatorische Genie qua individuellem Künstlertum sich für die Gesellschaft als deren Entfremdungs-Entfremdung, also Aufklärungsmoment der Vorstellungsvermittlung etabliert: Kunst beispielsweise einerseits, was die sozialen Praktiken anbelangt – technische Medialisierungen als Entdinglichungen andererseits, beides Formen der Fingierung von Aneignung als Indifferenz-Differenz, und zwar mit dem Effekt, „das Soziale als die Realität zu definieren.“88 Lévi-Strauss gibt in seiner Interpretation zu Mauss einige Hinweise, die wir aus heutiger Sicht unter systemtheoretischen Aspekten betrachten: Die Stellung des Beobachters zu einem System, in das er integriert ist, die von „den Sozialwissenschaften abgelehnte Unterscheidung zwischen Objektivem und Subjektivem“, deren Schärfe auch die Physik zunehmend kritisch beurteilt, und die Auflösung der Kategorie des Selbstbewusstseins unter der sezierenden Optik der (strukturalen) Wissenschaften.89 Es ist der letzte Punkt, der für die Szenifikation als Position der Negatität des Selbstbewusstseins relevant wird. Wenn für das Selbstbewusstsein nach der Definition von Frank gilt, „das es ist, was es nicht ist und nicht ist, was es ist“, also die Totalisierung eines je sozialen Ereignisses je individuierbar hält, und diese Individuation als Szenifikation bezeichnet wird, unter der das Individuum Beobachter oder Selbstbeobachter werden kann, dann löst sich die Mangelstruktur des Einzelnen in einen rettenden Vorteil für Gesellschaften auf. Szenifikation als Experiment oder Modell dispensiert von der Ordnung der Zeit, aber so, dass die Einheit der erlebten Zeit unter dem Defizit der ‚Inszenierung‘, der künstlichen Ereigniserzeugung, wiederhergestellt werden kann und dass diese Inszenierungen als Spektakel oder Simulationen bewertet werden 87
Ebd., S.16.
88 Ebd., S.20 und S.22: „Die besondere Situation der Sozialwissenschaften ist von einer anderen Natur
und hängt mit dem inhärenten Charakter ihres Gegenstandes zusammen, zugleich Subjekt und Objekt, oder – in der Sprache von Durkheim und Mauss – ‚Ding‘ und ‚Vorstellung‘ zu sein.“ 89 Ebd., S.20-23.
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dürfen. Referentiell wird in der Inszenierung jede Person auf ihre Subjektivität reduziert. Hier beginnt wieder der zauberhafte Aspekt des Magischen hervorzutreten. Von der differentiellen Elementarität der zerbrochenen Zeit lassen sich komplementär (und tauschresistent) Effekte fingieren: Zauberei, Special Effects, die als Affekte deren Aneignung sind. Die soziologische Beobachtung, die offenbar zu der unüberwindlichen Antinomie verdammt ist, die wir im vorhergehenden Paragraphen freigelegt haben, entgeht ihr dank der Fähigkeit des Subjekts, sich unbegrenzt zu objektivieren, das heißt (ohne jemals den Punkt zu erreichen, wo es sich als Subjekt aufgäbe), immer weiter abnehmende Bruchstücke seiner selbst nach außen zu projizieren. Mindestens theoretisch hat diese Zerstückelung keine Grenze, es sei denn, dass sie immer die Existenz beider Terme als Bedingung ihrer Möglichkeit impliziert.90
Die Kulissen, die Gesten und die Explorationen auf der Bühne werden nicht verstanden als Fingierungen oder Simulationen, sondern sie werden als Dinge verstanden, denen der Mangel anhaftet, (noch) nicht vollständig vom Körper abgelöste Dinge zu sein (sondern z.B. Masken), statt umgekehrt den Dingen selbst einen Mangel-an-Sein zuzuschreiben, nämlich den, sich als Interpretamente zu verweigern und auf ihren Gebrauch zu pochen. Man braucht nur den Dingbegriff von Mauss in den Medienbegriff von heute zu übertragen, um zu sehen, welche dramatische Verschiebung zwischen dem Individuellen und der Gemeinschaft derzeit stattfindet. Wichtig für Lévi-Strauss ist deshalb, dass nicht ein Ich sich als autonom setzt, sondern eine antinomische Struktur am Anfang steht, die ein Drittes impliziert: die sozialen Beziehungen als Wahlen, Entwürfe und Opfer der Dramatiken, die Inszenierungen dieser antinomischen Struktur sind, d.h. genau das leisten, was in ‚magischen Gesellschaften‘ die Pathologien (respektive bei Foucault: der Wahn) leisten. Es ist die Aufgabe der Soziologie, genau diese magischen Wirkungen gegen die Wissenschaften für die Wissenschaften nutzbar zu machen: als Soziologie. Die Entdeckung der Achronie des Sozialen (Gesellschaft) als Effekt einer Indifferenzierung (Gemeinschaft) der Individuen (deren Subjektivierung) und der Objekte erkennt Lévi-Strauss als eine der bedeutsamsten Entdeckungen im Denken von Marcel Mauss. Allerdings bleibt Lévi-Strauss nicht bei der Konstatierung der Antinomien stehen. Dafür sind zwei Eigenheiten der Überlegungen von Mauss verantwortlich. Zum einen bemerkt er, wie der ethnologische Blick die vom „Austausch“ beherrschte soziale Form der „drei Verpflichtungen: Geben, Nehmen, Erwidern“, die „Reziprozität“91, die sowohl auf der produktiven wie auf der sprachlichen Ebene vorherrscht, durch irgendetwas verbindet, das Mauss „Kraft“ und er selbst 90 91
Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.23. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S.651.
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im Anschluss an Freud das „Unbewusste“ und Luhmann ‚soziale Zeit‘ nennt. Alle diese Begriffe sind an die Funktion der „Kopula“92 eines überwertigen, leeren Signifikanten gebunden (ethnische Begriffe wie ‚hau‘ und ‚mana‘).93 Sowohl Kraft als auch Unbewusstes als Effekte der Sozialisation sind in einer Ethnologie entweder zu physikalisch oder zu psychisch. Sie dissimulieren vielmehr Ableitungslosigkeit. Zum anderen gerät die besondere Komplementarität zwischen Sprachhandlung und (Ding-)Produktion in Gefahr, ununterscheidbar zu werden, was freilich der theoretischen, strukturalen Bestimmung der Magie als algorithmisierbarer Linguistik entgegenkommt. Kräfte lassen sich zwar, gemäß dem Bild vom Kraftfeld, das Heinrich Hertz begründet, als Verdichtungsräume wie soziale Räume interpretieren94, wenn sie Subjekte wie Objekte gleichermaßen durchdringen. Damit ist die Subjekt-Objekt-Differenz aber nicht kritisch hinterfragt: und zwar auf die Übergangsobjekte hin. Ist unter magischem Gesichtpunkt nicht die Unverbundenheit des Ausdrucks ‚Kraft‘ (Trieb/Force), sei es, dass er sich in der Materie und den Dingen niederschlägt, sei es, dass er sich in Bewegung ritualisiert, letztlich nur die Übersetzung der Gedächtnisform, hinter deren Rücken die antinomischen Verhältnisse ausgehöhlt werden? Indem die Sprachhandlungen als reale Handlungen unter magischen Gesichtpunkten eine illudische Form aufweisen, die das Subjekt-Objekt-Verhältnis als nicht grundlegend markieren, beweisen sie, dass die Inversion der Zeitlichkeit des Selbstbewusstseins als Intervention der Wissenschaft, als einer zeitlich neutralen, sich gegen eine Historisierung des Wissens immunisiert, dass das Problem das der Inversion der Zeit ist. An dieser Stelle bezieht sich Lévi-Strauss auf eine zweite Eigenheit der Argumentation von Mauss. Wie ist es möglich, dass es Individualität als Selbstbewusstsein geben kann und nicht restlos alles sozial, symbolisch und dinglich im Austausch existiert? Hier öffnet sich für einen Spalt die Tür, in der eine Konzession zum Selbstbewusstsein aufscheint, für die die szenologische Differenz eine andere Formel bereithält als die Lancierung einer Kraft. Mit der Mauss’schen „Vorschrift“ aus der Theorie der Magie: „Die Einheit des Ganzen ist noch viel realer als jeder der Teile“95 – der Inversion des gestaltlogischen Imperativs der Übersummenhaftigkeit96 – wird das eigentliche Problem der gesellschaftlichen Einheit 92
Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.32. Ebd., S.32f.: „das mana in der Theorie der Magie und das hau in der Theorie der Gabe“. 94 Auch hier ist der Begriff ‚Atmosphäre‘ nicht gerade hilfreich. 95 Mauss, Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, a.a.O., S.120. zitiert bei Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.31. 96 Das ‚Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile‘, lautet die vulgäre Formel für das Prinzip der Übersummenhaftigkeit, das Christian von Ehrenfels 1890 in die Psychologie einführt. Sartre bezichtigt die Gestalttheoretiker (Kurt Lewin) eines „Fetischismus der Totalisierung“ (Sartre, Marxismus und Existentialismus, a.a.O., S.57), wodurch diese Soziologie stets außerhalb ihres Objektes bleibt; sie ist nicht „situiert“. In Wahrheit ist die Soziologie ein Teil der Gesellschaft, die sie studiert und von der sie abhängt. Will sie sich dieser Abhängigkeit entziehen, so wie das Subjekt sich der Abhängigkeit 93
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(Vergemeinschaftung) gegenüber der Partikularität (Elementarität bzw. ‚Warencharakter‘) der Dinge explizit. Zur szenologischen Differenz invers steht dieser Satz, weil die Szenifikation die Totalisierung der Einheit durch eine Totalisierung jedes Teiles (Szene) aus der Überwertigkeit des Realen monadisch destilliert. Die Szene ist ja immer ein ‚Ausschnitt der Wirklichkeit‘. Der Witz einer fensterlosen Monade, so Deleuze, ist es gerade, dass eine psycho-physisch ungeteilte Welt – und wer vermöchte diese Sezession tatsächlich durchführen – von einer Universalität ausgeht, in der die Entdeckungen und Verdeckungen, die Realitäten und die Inszenierungen nur Faltung ein- und derselben Struktur sind.97 Die Universalität schlägt sich im Selbstbewusstseins nieder und zwar, so Lévi-Strauss als Kopula, als diejenige neutrale, leere Form der Ambivalenz, die alle anderen Elemente sinnvoll unterwandert. Das Unbewusste, das Selbstbewusstsein ebenso wie der physikalische Kraftbegriff 98 haben identische Funktionen: Aufhebung des Widerstandes gegen die niemals sich positiv erklärende Struktur: Die szenografische Sprache versucht es deswegen im Negativen, sie macht die Deutung ihrer Selbst explizit und zwar in der Implikation, Deutungsraum und nicht Repräsentationsraum zu sein.99 „Das hau ist nicht der letzte Grund des Austausches: es ist die bewusste Form, in welcher die Menschen einer bestimmten Gesellschaft, in der das Problem eine besondere Bedeu-
entziehen will, muss sie sich inszenieren, d.h. sie wird zu einem Reservat oder Modell einer Situation, die sich in ihrer Überschreitung beobachtet. 97 Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main 2000. In sehr dezidierter Weise versucht Deleuze, den strukutralen Begriff des leeren Platzes respektive den Sartreschen des ‚Loches/Risses‘ (S.48) durch den der Falte zu ersetzen, um eine Reihe von Antinomien und Paradoxien im Sinne der Funktionentheorie des Barock und ihrer sublimierenden Inszenierungswut aufzulösen. In der Falte ist das spätere (frühromantische) Moment der der Reflexion vorgängigen Inversion vorgedacht. „Man kannte die Welt mit unzählbaren Etagen, zufolge eines Abstiegs und Aufstiegs, die auf jeder Stufe einer Treppe einander entgegenstehen, einer Treppe, die in der Eminenz des Einen sich verliert und im Ozean des Vielfachen sich auflöst: die Welt als Treppe der neuplatonischen Tradition. Die Welt aber aus nur zwei Etagen, getrennt durch die Falte, welche sich auf beiden Seiten in unterschiedlicher Weise auswirkt, das ist der barocke Beitrag par excellence. Er drückt, wir werden es sehen, die Transformation des Kosmos in den ‚mundus‘ aus.“ (S.53) ‚Mundi‘ sind im Barock szenische Zusammenfassungen zu einer Weltkarte. Die Trennung von ‚natürlicher‘ und ‚künstlicher‘ Realität entfällt im Barock, wie die Anekdote zeigt, in der Ludwig XIV. in einem Schauspiel als Ludwig XIV. auf die Bühne reitet, um sich selbst zu spielen. Es handelt sich also um die Erkenntnis, dass die Welt nicht nur die Lesart von ihr ist, sondern die Macht, die Lesart von ihr zu bestimmen – den anderen seinen Blick aufzuzwingen, was wiederum die Vielfalt der Blicke und Lesarten voraussetzt. Das Barock ist letztlich die Inszenierung der Macht einer ‚Fokusierung‘ eines szenischen Blicks, die heute durch die technische Inszenierung der Realität als Realität sequenziert wird. 98 Wie oben gesagt, erst die Industrialisierung macht aus dem Impetus der direkten Kraft eine kontinuierliche, raumüberschreitende Kraft: nicht mehr Affekt, sondern Bewusstsein. 99 Obwohl sich das nicht so einfach trennen lässt. Aber ein Archiv wird man nicht als ‚Inszenierung‘ deuten, sondern als ein Ordnungssystem. Eine Ausstellung derselben Archivalien nach einer thematischen Ordnung kann als Inszenierung gedeutet werden, weil im Moment der Öffentlichkeit (Vergesellschaftung) eine (individuelle) Deutungsvorschrift annonciert ist, weil also die Antinomie implizit ist.
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tung hatte, eine unbewusste Notwendigkeit erfasst haben, deren Grund anderswo liegt.“100 Und etwas weiter: „Die Chance nun, dass diese [die „viel realere Realität“; R.B.] sich in dem bewusst Durchgearbeiteten findet, ist viel geringer als die, dass sie in den unbewussten mentalen Strukturen liegt, die sich durch die Institutionen hindurch und besser noch in der Sprache fassen lassen. Das hau ist ein Produkt der Reflexion der Eingeborenen.101
Nach Lage der Dinge, und das hat insbesondere Sartre zu korrigieren versucht, erreicht Lévi-Strauss mit dieser Interpretation der Mauss’schen Thesen keine positive Setzung des Subjekts oder der Reflexion, wie sie in der Benennung des „flottierenden Signifikanten“ 102 repräsentiert sein soll. Genau das aber ist vorauszusetzen, wenn aus dem magischen Denken eine reflektierendes Denken werden soll, wenn also ‚Kraft‘ keine bloß magische Sublimierungsform ist, sondern wenn an seine Stelle ein Term gesetzt werden kann, der sich von der bloßen Benennung durch eine analytische Qualität unterscheidet, die die Gewissheit der Unmöglichkeit ihres Austausches sieht. Diese Funktion will das ‚Hau‘ erfüllen, das niemals eine konkrete Bedeutung hat, sondern diese aus einer Deutungsvorschrift erst gewinnt. Fällt die Inszenierung des Hau weg, verliert der Begriff seine magische Funktion für die Gesellschaft, die ihn im Kontext ihrer Rituale anruft. Was allerdings dann magisch erscheinen muss, das ist die Nichtrealisierbarkeit der Tatsache, dass eine jede Objektivation (Elementarität, Verdinglichung) sich der Möglichkeit beraubt, den Grund ihrer Objektivität zu verstehen, was darin liegt, sich als nicht szenifiziert zu behaupten. Spätestens hier wird die Sache für Lévi-Strauss heikel, denn wie sollte der Wissenschaftler, zumal der Ethnologe, der Falle entgehen, das, was er analysiert, noch als synthetische Ganzheit als ‚Situativität‘ (von außen, ohne Kontextbezug) erfassen zu können, wenn er mit dem Eintritt in die Geschlossenheit einer sozialen Gemeinschaft zugleich die Universalität dieser Gemeinschaft verändert? Das also ist der Kern des Übertragungsproblems, das jede Inszenierung zu lösen verspricht. Die Ethnologie kann, wie der Strukturalismus, vermutlich wie alle soziologische Wissenschaft, nur innerhalb der Selbstexplikation ihres Paradigmas erfolgen, d.h. die Gemeinschaft kann nur in der Unterscheidung von Situationen und Szenifikationen (Ritualen, Simulationen, Inszenierungen) zerfallen. Die eigentliche Magie kann nicht bedeutsam werden; das Magische ist das, was nicht bedeutsam werden kann. Das rührt an die magischen Grundlagen der Wissenschaft, die Gaston Bachelard schon 1934 unter dem Eindruck der Heisenbergschen Physik angesprochen hatte: „Wenn das Sein an sich ein Prinzip darstellt, das sich dem Geist mitteilt – ganz wie ein Massepunkt über ein Wirkungsfeld in eine Beziehung zum Raum tritt –, dann könnte es nicht das Symbol einer Einheit sein. Darum wäre 100
Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.31. Ebd. 102 Ebd., S.39. 101
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es an der Zeit, eine Ontologie der Komplementarität zu begründen, die sich dialektisch weniger zugespitzt darstellte als die Metaphysik des Widerspruchs.“103 Erinnern wir uns, dass auch Lévi-Strauss diese Funktion einer Ontologie der Komplementarität im Sinn hatte. An dieser Funktion muss sich auch jede Szenologie ausrichten. Bachelard plädiert dafür, zwischen dem magischen Denken der reziproken Komplementarität und dem Affekt ausschließenden Denken des Widerspruchs zwar auf der Ebene der Objekturteile scharf zu unterscheiden, nicht aber auf die Ebene der Vermittlung, also der Form des Selbstausdrucks zu verzichten sei – was de facto in dem Genre der mehr oder weniger geglückten heutigen Wissenschaftshows auch Berücksichtigung findet, – weniger aber in den Fachkonferenzen und Aufsätzen, denen an Stelle der Transparenz der Vermittlung eine ritualisiertes Diskussionsprogramm folgen muss. Lévi-Strauss entschuldigt sich dafür, wenn er einen Vorwurf fingiert, er würde Mauss unterstellen, in diesem Sinne der Soziologie eine „rationalistische Richtung“ vorzugeben, „ohne Berufung auf magische oder affektive Vorstellungen“. Und tatsächlich gibt es zu Mauss auch z.B. systemtheoretische Darstellungsalternativen, die das Komplementaritätsproblem stärker beachten. Mauss selbst hat seinen Blick auf eine rationalistische Spur gelenkt, indem er beginnt „die magische Handlung als ein Urteil zu begreifen“, das in der Benennung der Kopula einen ersten vorwissenschaftlichen ‚Namen‘ bekommt. Er [Mauss] ist es, der in die ethnographische Kritik eine grundlegende Trennung von analytischen und synthetischen Urteilen einführt, deren philosophischer Ursprung in der Theorie der mathematischen Begriffe liegt. Sind wir damit nicht berechtigt zu sagen, dass, wenn Mauss das Problem des Urteils nicht nach der klassischen Logik, sondern nach der Relationenlogik hätte formulieren können, mit der Rolle der Kopula auch diejenigen Begriffe verschwinden würden, die in seiner Argumentation für sie einstehen.104
Nun – was heißt das anderes, als dass Mauss und Lévi-Strauss in der Analyse der Magie einen Sachverhalt erkennen, indem die Möglichkeit der Reethisierung (Ethiologie) beschreibbar wäre, gerade weil die Magie zeigt, dass es Dinge gibt, die sich nicht ästhetisieren lassen. Wir bewegen uns mit diesem Einwand von Lévi-Strauss nicht mehr auf der Ebene der historischen oder strukturalen Ableitung einer möglichen Szenologie, sondern auf der wissenschaftstheoretischen einerseits und auf der einer Ontologie andererseits. Niemand wird bestreiten, dass die wesentliche szenografische Leistung eine Exklusion der Inklusion ist. Dabei waltet zwischen diesen beiden Polen, der situativen Kontingenz und der szenifikatorischen Synthesis, nicht der Widerspruch, der durch die Unterdrückung der Magie offensichtlich wird – nämlich alles zu zeigen –, sondern die Komplementarität inszeniert sich selbst, in deren Folge die ‚Freiheit‘ 103 104
Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist. Frankfurt am Main 1988 (*1934), S.21. Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.32.
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als Ermöglichung der Szene (der Nichtentscheidbarkeit überhaupt) sich artikuliert – im besten Falle also, indem verschiedene Deutungsansätze generiert und nachträglich motiviert werden. Die Kopula, das kritisiert Lévi-Strauss zu Recht an Mauss, verbindet etwas, was vorher künstlich, nämlich in der Täuschung der Welt über sich selbst differenziert worden ist. Wenn man das Phantasma der Differenz (und des Widerspruchs) aufgibt, wird die Kopula zum Gleichnis für eine Einheit, die es aber so nie gegeben hat, die im Gegenteil immer schon das Ergebnis von Szenifikationen war, indem der Körper und die Welt sich identisch glaubten. Szenografisch wird die Kopula positiv gesetzt sein müssen, da die moderne Szenografie ein Reflex auf die künstliche Differentialität der Welt in ihren Waren- und Medieneinheiten ist. Die Kopula erweist sich so als der transzendente Ort (Situativität, das Geld der Praxis), in dem die Inszenierung eingebettet ist. Deswegen ist es nicht unwichtig, dass Mauss die meisten seiner Begriffe auf eine Ökonomie der Gabe aufbaut, die für unsere Gesellschaft zwar moralisch positiv, realökonomisch jedoch negativ fungiert. Gabe ist der Gegenbegriff zu Besitz. Der Effekt von Inszenierung besteht nun gerade – das ist die Pointe meiner Überlegungen – in der Stiftung einer differentiellen, interpretatorischen Haltung gegenüber einem Ereignis und nicht in dem, was man mit nach Hause nehmen kann.105 Performative Akte lassen sich nicht ‚besitzen‘ – allen effektiven Aufzeichnungstechniken zum Trotz. Es ist wenigstens die Gabe der aktuellen Zeit, die man opfern muss. Die Inszenierung wirkt so als Verflüssigung einer kristallinen Ökonomisierung und Effektivitätssteigerung der Gesellschaft, die sich ‚Inszenierungen‘ als Luxus von Mehrdeutigkeit auf dem Boden eines Bedeutungsmangels leisten kann. Szenografisch zugerichtet und in den Zauberkünsten ihrer Effekte anschaulich realisiert wird (Medien-)Technik zum Garanten einer Mehrdeutigkeit, die wenigstens ästhetisch die Praxis übersteigt. Dass die Gefahr besteht, zu behaupten, „Alles ist Inszenierung“, oder: „Alles ist Spektakel“, wird bei dem universellen Technikanspruch ebenso verständlich, wie der Umstand, dass sich die Begriffslogik nur diskursiv klären lässt, dazu dient die Einführung des Begriffs einer szenologischen Differenz. Der Unterschied hängt weniger mit den Begriffen [Kraft, Macht] zusammen, die der Geist überall unbewusst prägt, sondern eher mit der Tatsache, daß diese Begriffe in unserer Gesellschaft einen fließenden und spontanen Charakter haben, während sie anderswo dazu dienen, durchdachte und offizielle Deutungssysteme zu begründen, das heißt eine Rolle spielen, die bei uns der Wissenschaft vorbehalten ist. Immer und überall jedoch treten Begriffe dieses Typs ein [Kopula; gemeint sind bei Mauss mana und hau; R.B.], um, nahezu wie algebraische Symbole, einen seiner Bedeutung nach unbestimmten Wert zu 105 Das ist eine Erkenntnis des ersten Moguls der Filmindustrie, Carl Lämmle. Man bezahlt im Kino für etwas, dessen Physis marginalisiert und endlos reproduzierbar ist. Man kann den ‚Film‘ nicht mit nach Hause nehmen, folglich muss man ihn auch nicht endlos reproduzieren. Es genügt eine begrenzte Menge von Kopien, die nicht verkauft, sondern verliehen werden.
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repräsentieren, der in sich selber sinnleer und deswegen geeignet ist, jeden beliebigen Sinn anzunehmen – mit der einzigen Funktion, eine Kluft zwischen Signifikant und Signifikat zu schließen oder, genauer, die Tatsache anzuzeigen, dass unter bestimmten Umständen, bei einer bestimmten Gelegenheit oder einer ihrer Manifestationen zwischen Signifikant und Signifikat ein Verhältnis der Inadäquatheit entsteht, wodurch das zuvor komplementäre Verhältnis gestört wird.106
Es ist nicht schwer zu erraten, dass für Lévi-Strauss hier die linguistische und die semiologische Karte von weiterführender Bedeutung sind, um die Algorithmen des Sozialen soziologisch transponieren zu können. Allerdings kann er das nur unter Hinzuziehung eines hermeneutischen Arguments, nämlich der Überwertigkeit des Sinns, der aus der „Inadäquatheit“ „zwischen Signifikant und Signifikat“ erwächst. Das ist der entscheidende Punkt. Denn die Realisierung dieser Inadäquatheit ist schon die Störung eines „ursprünglich relationalen Charakters“.107 Denn nur so, in der Appropriation der semiologischen Differenz als einer funktionalen Variable (oder allgemeiner: dynamischen Relation) der Entwertung semiologischer Hierarchien kann erkannt werden, dass die szenologische Differenz sich theoretisch grundlegender zur semiologischen oder linguistischen Differenz artikuliert, was aber zur Folge hat, dass ihre Komplexität und Universalität in einer Algorithmisierung nicht in dem Maße ausgeprägt sein können wird wie in den vorgenannten wissenschaftlichen Beschreibungsformen. Die szenologische Differenz ist wissenschaftshistorisch eine generative Ergänzung des strukturalen Konzepts der semiologischen Differenz, sie ist – Blumenberg hat diesen Begriff geprägt – einer Metaphorologie zugehörig. Es muss nicht weiter betont werden, dass unter ‚Szenologie‘ ein bislang unausgefüllter Entwurf verstanden wird, dessen Grundierung hier und in anderen Zusammenhängen versucht wird. In einer recht oberflächlichen Ansicht darf man die Meinung vertreten, die Szenografie sei nichts anderes als der Versuch, die Mediendiversitäten aufeinander abgestimmt unter eine einheitliche Regie zu stellen. Freundlicherweise nennt man das ‚ganzheitlich‘ und enthebt sich damit jeder Anstrengung den gesellschaftlichen Effekt von Inszenierungen zu artikulieren. Dass die Logik individueller Szenifikation in der Praxis von Inszenierungen nicht mit der spätbürgerlichen Tradition des Theaters beginnen kann, sondern mit der Frage, was es bedeutet, dass die soziale und die physische Realität als getrennte vorstellbar gemacht werden sollen, also mit dem Übergang von Magie in Aufklärung. Zur Propädeutik einer Szenologie ist es nicht unangebracht, genau an jener Schnittstelle argumentativ anzuknüpfen, an der sowohl Magie als auch Wissenschaft ihre gemeinsame Urszene haben, die in dem Problem der Inkommensurabilität und Nichtkomplementarität eines Selbstbewusstseins besteht. 106 107
Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.35f. Ebd., S.37.
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Es kann nicht mehr nur um die Benennung der Autorität eines Cogitos gehen, sondern um die Offenbarkeit der Performanz von Situativität und Szenifikation. Es gibt keine externe Instanz dieser Differenz (Amplitude), nur die Komplementarität der Relationalität selbst, als deren Effekt dann auf der Seite des Individuums eine Art innerer Komplementarität – Inversion präreflexiver Vorzeitigkeit – steht. Das Reale und das Fingierte zeigen sich nicht in einem ‚Innen-Außen‘, sondern als Komplemente einer Relation sowohl im ‚Innen‘ wie im ‚Außen‘. Aber vielleicht zitieren wir nochmals Lévi-Strauss im längeren Zusammenhang. Er wehrt sich gegen die Vereinfachung, die Mauss anbietet, indem der die Kopula einen „Ausdruck sozialer Gefühle“ nennt. Aus den Texten von Mauss ist mehr herauszuholen, als dieser sich selbst gestattet. In den Begriffen, die ethnisch für die Protomedialitäten stehen (hau und mana), steckt schon mehr als ein Gefühlsausdruck, mehr als ein Affekt. „Was wäre das Ergebnis, wenn man auf den Begriff des mana retrospektiv die Konzeption projizieren würde, die Mauss für den Austausch nahe legt? Man käme zu der Annahme, dass das mana nur der subjektive Reflex einer nicht wahrgenommenen Totalität ist.“108 Diese Totalität des sozialen Zeitraums mit seinen projektiven und reprojektiven Verbindlichkeiten (memoria), die im Tauschmoment gleichsam angehalten werden können, gewinnt den Ausdruck ihrer Nichtwahrnehmung in einer konkreten Totalität, den Medien, dem Geld (mana). Deshalb muss das Geld sich selbst als Nichts inszenieren.109 Lévi-Strauss spricht von Retrospektion, also einer Retroaktivität, die nachträglich begründet. Daraus folgt, dass die Magie des mana nicht unwissenschaftlich, unreflektiert im bloß affektiven Sinne ist, sondern sie ist als Effekt der Retroaktivität eine Erkenntnisform von Totalisierung. Der Effekt der Emphase „Das bin ich also!“, oder „Das bin also ich, der die Welt wahrnimmt!“, ist an keinerlei Zweifel gebunden, sondern, wie in magischen Praktiken üblich, ein aufrichtiger Glaube und ein volles Selbst-Vertrauen in einer gegebenen Situation. Selbstbewusstsein ist in eben dieser Rücksicht eine Totalisierungsform.Halten wir uns weiter an die Worte von Lévi-Strauss. Er fährt fort: Der Austausch ist kein komplexes, aus den Verpflichtungen, zu geben, zu nehmen, wiederzugeben, und mit einem affektiven und mystischen Kitt konstruiertes Gebäude. Es handelt sich vielmehr um eine dem symbolischen Denken und durch das symbolische Denken unmittelbar gegebene Synthese, und das symbolische Denken überwindet im Austausch, wie in jeder anderen Form der Kommunikation, den ihm inhärenten Widerspruch, die 108
Ebd.
109 Vgl. dazu die anschaulichen Aufführungen von Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit Geben I. Mün-
chen 1993. Man kann eine Linie ziehen zwischen der Gabe und der Inszenierung. Beide erscheinen nur in der Unsichtbarkeit ihrer selbst. Wenn aber Unsichtbarkeit, respektive das Vergessen (amnesie) ein „anderer Name des Seins ist“ (S.36), kann man von dem Surplus der Szenifikation, ihrem Effekt nur sagen: Es erscheint – und zwar als ‚Aura‘ der Offenbarung selbst. Und das ist natürlich eine ontologische Magie, von der selbst der späte Heidegger sich zu distanzieren wünscht.
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Dinge als Elemente eines Dialoges wahrzunehmen, gleichzeitig im Verhältnis zu sich und zum anderen und als von Natur dazu bestimmt, vom einen zum anderen überzugehen.110
Heißt das aber dann, die (Re-)Inszenierungen des Symbolischen verfügen über die Möglichkeit, das Dialogische wieder einzusetzen? Oder für die Nachmoderne gesagt: Heißt das, dass die Inszenierungen das Verschwinden des Symbolischen wie des Sozialen auf einer anderen Stufe, die die der Magie näher ist, zu sublementieren versuchen? Der zweite Satz des Zitats belegt, wie die funktionale Direktion zwischen dem ‚als‘ der Mitteilung und dem ‚zu sich‘ stehenden performativen Akt zu lesen sei: die Dinge als vor- und nachträgliche Interpretamente ihrer Genesis. Das, wie heißt es nach der einfachsten Definition von Medialität nach Kittler: Aufnehmen – Wiedergeben – Speichern, referiert auf einen dematerialisierenden Handel, der im Sprung von Medium zu Medium den unmittelbaren Verbrauch supplementiert, verschiebt. Wie in der Ökonomie der Gabe und in der Metapher wird das Speichern als fataler Augenblick in der Tauschökonomie hingestellt: Waffencharakter jeder Verdinglichung. Soziologisch betrachtet sind die Dinge in Fluss zu halten und keineswegs auf Besitzverhältnisse festzulegen.111 110
Ebd. Nach Winnicott entwickelt sich der Eigentumsbegriff aus den Übergangsobjekten, die als nicht mehr zum Körper gehörige verfügbar gehalten werden können. Als verfügbare sind sie vom Körper schon getrennt, fetischistisch besetzter „Besitz“. Eigentum ist, was an Stelle der (verlorenen) sozialen Einheit steht: eine Beziehung zum Körper, nicht zum Leib. „Es gibt keinen Austausch zwischen Mutter und Kind. Psychologisch gesehen trinkt das Kind von einer Brust, die zu seinem Selbst gehört, und die Mutter nährt einen zu ihrem Selbst gehörenden Säugling. So gesehen beruht die Vorstellung vom Austausch auf einer Illusion des Psychologen.“ Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, a.a.O., S.22. Nur am Rande sei auf die Differenz zwischen dem Spielbegriff, den Winnicott gebraucht, und dem Begriff der Inszenierung eingegangen. Wenn ‚Spiel‘ einen „intermediären Raum“ konstituiert, in dem das Kind (Individuum, nicht Subjekt!) seine Selbstsicht für sich und andere objektivieren lernt, illusioniert es eine opferlose Sphäre, in der seine Subjektivität nicht zum Objekt seiner selbst gerinnt. Es handelt sich um eine Ästhetisierung des Ethischen (‚Probehandeln‘) – um eine Szenifikation. Vgl. dazu aktuell die erhellenden Studien in: Regine Strätling (Hg.): Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis. Bielefeld 2012). „Wie (kann) es dem Subjekt gelingen, neue Erfahrungen zu machen, ja allererst zuzulassen, ohne sich selbst in der Krise, die eine solche Begegnung darstellt, zu verlieren“, fragt beispielsweise Julia Krist in diesem Band (S.18; Die Möglichkeit des Anderen – Zur Dezentrierung des Subjekts im Spiel bei Kant und Winnicott, S.103-126). Die Antwort, die ich hier versuche: Indem das Spiel sich in der Inszenierung als Regulativ schafft, zwischen Freiheit und Determination einen medialen Widerstand als (performativen)Wert etabliert. Die Szenografie ist, wenn man so will, immer Inszenierung der Freiheit vom Gedächtnis als meiner Besitzform. Mit dem Spielbegriff allein ist, glaube ich, die Ökonomie zwischen dem „ästhetischen und ethischen Selbstentwurf“ nicht genügend differenziert, bzw. meint er einen protomedialen Status des Selbstverhältnisses, dem es – vorerst nur auf philosophischer Ebene – nachzudenken gilt. Weitere Fragen nach der Opferidentität (Krise) lassen sich anschließen, denn von Opfer sind die medialen Gaben keineswegs so frei, wie der Spielbegriff auf den ersten Blick suggeriert, darauf weisen die von Mauss so benannten „Ausdrücke sozialer Gefühle“ hin. Diese sind ja nichts anderes als eine Sprache der Szenifikation: der Voyeurismus des Zuschauers, der das Subjekt als Objekt missversteht, andererseits der Exhibitionismus des Akteurs, der sich seiner Objektheit durch den anderen versichern will usw. Man muss nur verstehen, dass das keine ‚anthropologischen‘, sondern ‚soziologische‘ Kategorien sind, die jede Szenografie ‚intuitiv‘ oder ‚strategisch‘ bedienen kann. 111
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Erst die Einsicht des Potlachs112, garantiert die Freiheit der sozialen Mannigfaltigkeit und Entwicklung. Im Potlach der Inszenierungen werden die Dinge zu Gunsten ihrer Kulissenhaftigkeit nicht vernichtet, sondern genichtet: sie werden der Wahrnehmung entzogen, aber da sie Seelen haben, können sie nicht restlos vernichtet werden. Im Gegenteil, sie tauchen als soziale Verbindlichkeiten in den Seelen der anderen wieder auf. Ihre „Natur“ realisiert sich als „Ökonomie“, wenn darunter nicht nur der Handelsverkehr, sondern auch der Nomos, der Akt der Benennung (Kopula), der der Autorisierung (Selbst-Verhältnis) und der Akt der Symbolisierung (des Erscheinens von Verschwinden gemäß der Inversion der semiologischen Differenz) ebenso verstanden wird, wie die Hyperökonomie des Krieges. „Daß sie [die Dinge im Übergang; R.B.] auf der einen oder anderen Seite stehen, ist ein gegenüber dem ursprünglich relationalen Charakter abgeleiteter Zustand. Verhält es sich nicht ebenso mit der Magie?“113 Lévi-Strauss weist am Ende seiner Überlegungen auf die Möglichkeiten hin, die Mauss aus seinen ethnologischen Untersuchungen eröffnet: die falsche, gleichwohl wissenschaftliche Notwendigkeit der Polarisierung, die in der Magie nicht aufgehoben wird, sondern nur die Übergänge für sich historisch nicht deuten kann. Deswegen sind in der Magie die funktionalen und die symbolischen Tauschorte weniger getrennt als in der Wissenschaft und es existiert kein Begriff für ‚Inszenierung‘. Gleichwohl wird die Magie aus dem Produktionszusammenhang herausgehalten, und zwar unter dem Hinweis, dass, gemäß der Marxschen Strategie, durch die Magie darauf hingewiesen werden könnte, dass zwischen der materiellen und der sozialen Produktion keinerlei Grenze und somit keinerlei substituiertes Medium oder Ideologem realisiert werden kann.114 In der bürgerlichen Gesellschaft hört der Mangel auf, ein physisches Problem zu sein, er wird als Mangel der Teilnahme an den Ereignissen lanciert, weil die Dinge, im Überfluss vorhanden, ihre Seele verloren haben, müssen sie in den Maskeraden, Kulissen, und Bildschirmen als Entmaterialisierung technisch reinszeniert werden. Es ist eine der Neuerungen, die Lévi-Strauss Mauss entgegensetzt, dass er die Begriffe ‚Kraft‘, ‚Macht‘, Unbewusstes (im vorfreudianischen Sinne) substituiert durch eine Strategie der Verfeinerung und Hierarchisierung der Differenzen zum Ding und ihre Universalisierung im Soziologischen vorantreibt 112
Der Potlach kann als Versuch angesehen werden, an Stelle des Eigentums erneut die sozialen Bindungen (‚Gesellschaftskörper‘) in den Vordergrund zu stellen. Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt am Main 1989. „[...] dass es sich hier vor allem um eine Verquickung von geistigen Bindungen handelt: zwischen den Dingen, die zu einem gewissen Grade Seele sind, und den Individuen und Gruppen, die einander in gewissem Grade als Dinge behandeln.“ (S.29) 113 Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.37. 114 Lévi-Strauss, Einleitung, a.a.O., S.36. An dieser Stelle zweifelt Lévi-Strauss auch das Arbitraritätstheorem von de Saussure an.
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damit aber die anthropologischen ‚Konstanten‘ relativiert. Der Strukturalismus ist aber – wie die Semiologie – wissenschaftsparadigmatisch auf halbem Wege stecken geblieben. Die Wahrnehmung einer szenologischen Differenz, 60 Jahre nach den Einlassungen von Lévi-Strauss und 50 Jahre nach der Klage über eine Gesellschaft des Spektakels, kann vielleicht der in der Inszenierungswut intendierten Kritik der Realitäten zu einem Räuspern verhelfen. Nicht Antizipationen von Zukunft, sondern Lesarten, Lesen überhaupt vergegenwärtigt und reaktualisiert sich selbst als veränderbar. Auf eine besondere Magie der Veränderung der Lesarten macht Walter Benjamin aufmerksam: die einer der Entfaltung der Technik entgegengesetzten Faltung des Buches. Das Buch als Form kann als materialisierter Effekt unabschließbarer Dingerfahrung angesehen werden. Es ist nachzuprüfen, ob dieses Origami der Menschheitsgeschichte nicht einen nichtmateriellen Effekt von Reichtum produziert, der der Bestandsaufnahme Benjamins Antwort gibt: „Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen.“115 Was technisch-medial als situative Gegenwärtigkeit erscheint und verschwindet, kann im Buch als Fetisch der Faltung erfahren werden: Inszenierung ist kein Mangel, sondern das Umschlagen der Seiten. In der Einleitung zum Gabentausch gibt Marcel Mauss eine Strophe der skandinavischen Edda quasi als Motto des Effekts der Szenografie gegen die Dingverhältnisse als Realitätsgaranten vor. Denn die Szenografie versucht den Balanceakt zwischen einem Buch, das man lesen kann, und einem Buch, das man ist: „Man soll Freund mit seinem Freunde sein und Gabe mit Gabe vergelten. Gelächter beantworte man mit Lachen, aber eine Lüge mit einem Trug.“116
115
Benjamin, GS Bd. II, a.a.O., S.214.
116 Marcel Mauss: Über die Gabe und insbesondere die Verpflichtung, Geschenke zu erwidern. In: Mauss,
Die Gabe, a.a.O., S.11. Strophe 42 aus dem Hávamál der Edda.
HEINER WILHARM
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT. ZUR ÖKONOMIE UND LOGIK VON INSZENIERUNG UND SZENIFIKATION.
Szenografien leben von Effekten. Szenografien leben vom Verschwindenlassen. Ist es das, was die „Magie der Inszenierung“ ausmachen könnte?1 Gibt es magische Effekte? Nun, die Vermutung liegt nahe, dass die Magie gewisser Inszenierungen zu tun hat mit dem Effekt, etwas verschwinden zu machen – aber auch einem Wiederauftauchen, womöglich desselben an anderer Stelle, in anderer Gestalt – überhaupt dem Oszillieren zwischen Anwesenheit und Abwesenheit.2 Was dieses verschwundene Etwas sein könnte? Wir wollen vorläufig behaupten, das „Ding“, das worum es sich zu drehen scheint.3 Ob sich magische Handlungen wohl gerne als „Inszenierung“ titulieren lassen? Die Frage stellen heißt die Antwort geben: wohl nicht. Wir nehmen darum weiter an, dass ein magischer Effekt, um seine Wirkung zu tun, auch seine Inszeniertheit zum Verschwinden bringen muss. Fragt sich, was überhaupt übrig bleibt angesichts solcher Kräfte, die an die Effekte Schwarzer Löcher denken lassen. Und was bleibt übrig vom Effekt? Und eine weitere Frage: Wirken alle Effekte auf magische Weise? Wahrscheinlich nicht. Wie wirken sie dann? Machen sie dennoch verschwinden, auch ohne Magie? Und wie verhalten sie sich zur Inszenierung? Der Kunst der Effekte und des Verschwindenmachens wollen wir sowohl in einem philosophisch begrifflichen als auch einem szenografisch gestalterischen Ambiente nachspüren. Unsere theoretischen Erwägungen zum Verhältnis von Inszenierung und Effekten erproben einen Anschluss an die medientheoretisch relevanten Begründungen zur Semiose von Effekten und Affekten bei Peirce. Wir konzentrieren uns dabei auf eine Ableitung zur Bedeutungslehre aus dem 1 Dem Aufsatz liegt ein Vortrag des Verfassers auf dem 4. Scenographers’ Symposium 2011 in Dortmund zugrunde. 2 Weitergeführt wird damit eine Diskussion, die schon mit dem ersten Band der Schriftenreihe Szenografie & Szenologie eröffnet und seitdem kontinuierlich weitergeführt wurde. Siehe z.B. Ralf Bohn: Versteckspiel. Ecksteine einer Genealogie der Szenifikation. In: Ralf Bohn/Heiner Wilharm (Hrsg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld 2009, S.61-103; Heiner Wilharm: Ereignis, Inszenierung, Effekt. Bausteine einer Szenologik. In: Inszenierung und Ereignis, a.a.O., S.207-267. 3 Die gewöhnliche Übersetzung von objectum: „das, worum es sich dreht“.
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Peirce’sche Œvre, da wir darin ein Instrumentarium finden, unser produktives Verstehens-, Kommunikations- und Inszenierungsvermögen mit unterschiedlichen Instanzen sinnlicher und intellektueller Ausstattung und Leistung zu verbinden, emotionaler, energetischer und begrifflicher. Bei Peirce finden wir eine sowohl szenologisch als auch inszenatorisch-szenografisch sinnvoll zu nutzende Stratifikation des Bedeutungsbegriffs und zugleich eine ontologische Verankerung desselben, welche die unterschiedlichen Wirkungsweisen und Reichweiten existenzbezogener Wirklichkeitsbindung berücksichtigt. Die begriffliche Elastizität dieses Entwurfs lässt Erklärungen phänomenaler Disparitäten zu, wie sie Konzepte einseitig rationaler Fixierung von Verstehensleistungen kaum erlauben. Die theoretische Anknüpfung ist dennoch nicht exklusiv. Vergleichbar subtile medientheoretische und ontologische Einsichten finden wir auch anderswo, zum Beispiel in Heideggers Rezeption und Kritik der Ästhetik, etwa im Rahmen seiner Nietzsche-Vorlesungen der 30er Jahre, auf die einen Blick zu werfen sich angesichts unserer Fragestellungen lohnt. Diese und vergleichbare Anleihen werden bei Gelegenheit einfließen, wenn es heißt, verschiedene, spezifisch synthetisierende Verstehensarten und Deutungsangebote zu differenzieren, mit denen die gewöhnlichen Inszenierungspraktiken wie die Strategien professioneller Szenografie gleicherweise operieren, möglicherweise auch deren magische Handhabung. Hier wie dort begegnen wir nur schwankenden Gestalten, wie es bei Goethe heißt, und manchem Zauberhauch, der ihren Zug umwittert, Bildern wie auch Schatten. Was sie scheinen, sind sie nicht; was sie sind, muss nicht erscheinen. Tatsächlich könnte man meinen, es wäre Magie im Spiel.4 Insgesamt, trotzdem, hoffen wir, weitere Prolegomena zur Ökonomie und Logik szenografischer und szenifikatorischer Praktiken und Strategien sowie zu Ontologie der Szene beizutragen. Warum konzentrieren wir uns auf die Frage nach der Bedeutung von „Bedeutung“? Weil im Spiel von Inszenierungen und Szenografien, Szenifikationen und Szenen nicht nur, was Objekt unseres Verstehens ist, leicht im Nebel verschwimmt, sondern in solch elementaren Lagen unseres Sinnverstehens auch zweifelhaft werden kann, was es überhaupt heißt, zu bedeuten. Mit Blick auf das Thema, wir wollen das Ergebnis vorwegnehmen, lautet unsere Hypothese zur begrifflichen Fassung von „Effekt“ zunächst und lapidar, das was den Effekt einer Inszenierung ausmacht, seine Bedeutung ist. Geraten wir damit in Widerspruch zu unserem eingangs erläuterten Verständnis, dass Effekte gewöhnlich nicht verstanden werden als das, was sie sind, sondern als das, was sie tun? Sicher nicht. Denn bekanntlich macht es viel Sinn, „Bedeutung“ im Sinne des Umgehens mit einem Ausdruck in seiner Verwendung zu verstehen. Was „Effekt“ „bedeutet“, 4
Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, Zueignung
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 349
wird sich zeigen im Gebrauch, in der Spiegelung um die Achse des Begriffs: des Ausdrucks für das, was der Effekt „macht“. Allerdings wird, wie angedeutet, ein spezielles und differenzierendes Verständnis von Bedeutung qua Anwendung im Gebrauch plausibel gemacht werden müssen, um zu szenologisch relevanten Schlussfolgerungen dieser Proposition zu gelangen. Beispielsweise ergibt sich schon aus dem bisher Gesagten, wir denken an die Magie der Inszenierung, die interessante Frage, wie denn, wenn die Inszenierung zum Verschwinden gebracht wurde, ihr Effekt bedeuten und was überhaupt er dann bedeuten kann. Oder ob „Bedeutung“ auch in dem Verständnis verwendet werden darf, dass keine Bedeutung, kein Deutungsangebot vorliegt. Das Ziel vor Augen, womöglich – wenn keine Antworten, so doch – einige Einsichten zur Fragestellung zu gewinnen, werden wir bestimmte Charakteristika der Effekt- und Affektäußerung herausarbeiten müssen. Die Konzentration auf Ausdrücke, Äußerungs- und Erscheinungsformen von Effekten und Affekten erscheint sinnvoll, da sie es sind, welche das Inszenieren im Sinne des ‚Szene-Machens‘, im Sinne der Szenifikation, regieren und welche nicht, welche das Sein der Szene zu bewegen und zu verändern wissen und welche sie in Ruhe belassen. Denn es soll verständlich gemacht werden, warum die wesentliche Inszenierungsleistung nicht einfach in einem Machen gründet, in diesem Sinne in der Gestaltung einer Szene besteht – der Herstellung des Raums, des Ambientes, der Atmosphären, der Utensilien, der Worte, die gesprochen werden usw. Tatsächlich ist die Aufgabe mehrschichtiger. Es geht um die Entfaltung einer Fiktion, eines Spiels, wobei das Theater, das gespielt wird, „kein Theater“ ist – natürlich gilt dies auch fürs Theater oder die Kunst, obwohl dort auch „Theater gespielt“ werden kann, aber nicht muss. Und es geht um die zu diesem Spiel gehörigen Aussperrungen, auch ‚Durchleitung‘5 unpassender Realitätsversatzstücke, zum Beispiel der Dinge und Dingreste. Aber es geht noch um mehr. Denn es erweist sich, dass sich die Produktionsenergie, die bei der Effekt- und Affekterzeugung freigesetzt wird, keineswegs in der Fiktion des Spiels und einer mit ihm verbundenen Inszenierung des Verschwindens und dem Verschwinden der Inszenierung erschöpft. Vielmehr sieht es so aus, als ob die Magie der Inszenierung tatsächlich vermöchte, Verschwundengeglaubtes an anderer Stelle wieder auftauchen zu lassen. Freilich geschieht das im Rahmen eines Zeremoniells, das auf diese Weise zum Hervortreten eigenständiger Dingqualitäten beiträgt, „Symptomen“, könnte man sagen. Doch fragt sich dann, ob dieses „Vermögen“ der Magie nicht bei der Magie, sondern bei den Dingen liegen mag und es gerade das Magische der magischen Performance ist, diesen Dingeffekt samt dem ursprünglichen Ding vergessen, verschwinden zu machen. Ein Spiel mit schwankenden Gestalten. Was es hervorbringt, umfasst alles, was dazugehört, 5
„Transmittierung“, ein Ausdruck aus der Magie des Transported Man, siehe unten.
350 HEINER WILHARM
alle agencies6, nicht allein die Dinge und die Effekte, sondern selbstverständlich auch die personalen Akteure selbst – und nicht nur in ihrem Bewusstsein. Aus der Perspektive der Vor- oder Darstellung treffen wir auf einen szenisch modulierten Realitätsschein theatraler, besser, da es nicht um das Theatrale der einzelmedialen Kunstform Theater zu tun ist, sondern um die Inszenierung und die Szenifikation, „theatrischer“ (ein Ausdruck Klossowskis7) Simulation, ein Schein, der indes die wirkliche Erlebniswelt von Spiel und Spielern ausmacht, womöglich jenseits von ‚Ereignissen‘. Dem Blick auf die von dorther, aus dem Spiel beleuchteten Objekt-, Ding- und Subjektwelten eröffnet sich so, paradoxerweise, ein scheinbar scheinfreier und daher vordergründig subjektstabilisierender Wirklichkeitsraum. Auf den zweiten Blick, der das Konstrukt ins Auge fasst, mag dies durchaus beunruhigen. Die eventuell destabilisierende Wirkung solcher Beunruhigung zu verkraften indessen, bietet sich an – erscheint es vielleicht sogar sinnvoll –, die Tatsache derartiger Realität aus der Fiktion möglichst nachhaltig zu verdrängen. Im Resultat aber bestätigt gerade dies die Magie der Geschichte, des mythos8, und ihrer szenisch kommunikativen Figuration zur Beschwörung des Ereignisses. Dieser Hypothese möchte ich im letzten Abschnitt des folgenden Textes einige abschließende Überlegungen widmen. Der Text kommt somit in vier Kapiteln: über Effekte, über Effekte und Bedeutung, über Effekte und Affekte, Magie und Inszenierung (das zentrale und umfangreichste Kapitel), über die Verdrängung gewisser Effekte von Effekten. Um das szenologische Gefüge zugleich in einem beispielhaften szenischen Spielrahmen zu illustrieren, schneiden wir die oben skizzierten theoretischen Erwägungen gegen mit der Interpretation einer exemplarisch künstlerischen Bearbeitung des Themas. Genauer gesagt einer literarischen wie einer filmischen Auseinandersetzung mit der Magie der Effekte. Es handelt sich um eine Geschichte aus den Annalen der Zauberkunst, zugleich um die Varianten der Dramatisierung des Stoffs und dessen besonderem medialen Zuschnitt. Beispiele, wenn man so will, für die Magie der Literatur wie die des Films. Wir haben dafür den Roman von Christopher Priest, The Prestige 9 gewählt und die Verfilmung durch 6 Vgl. Andrew Pickering: Kybernetik und Neue Ontologien. Berlin 2007, insbesondere den dort auf Deutsch vorliegenden Aufsatz: Agency and Emergency in the Sociology of Science. 1993 bzw. 1999: Die Mangel der Praxis. 7 Der in meiner Quelle, die ihn gebraucht, nicht nachgewiesen, sondern in einer Anmerkung des Übersetzers erläutert ist. Siehe Mario Perinola: Über das Fühlen. Berlin 2009, S.143, Anm. 28. 8 Dazu ausführlich unten Kapitel 3. 9 Christopher Priest: The Prestige, ed. Gollancz 1995. Priests Prestige gehört mittlerweile zu den kanonischen Texten des Splipstream-Genre, einer ambitionierten literarischen Phantasy- und SF-Fassung mit tiefer und breiter reichenden Wurzeln als die kanonisierte Science Fiction. Bekannt wurde Priest
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 351
Christopher Nolan (2006), den Regisseur von Back to the Future, Memento oder der Batman-Trilogie.10 Die Beispiele werden es erforderlich machen, auch die Unterscheidung von Zauberkunst und Magie szenologisch aufzurufen. „Are you watching closely?“
Mit dieser Frage aus dem Off beginnt The Prestige. Sie suggeriert, dass es vielleicht das genaue Hinsehen besorgen könne, in Erfahrung zu bringen, wie denn der eigentliche Effekt der Inszenierung, ihre Magie, in Wahrheit funktioniert. Doch dauert es nicht lange, bis der Altmeister und Ingenieur der Magiergilde (Michael Cane als Cutter(!)) die Hoffnung Lügen straft. Die Zauberkunst ist Technik mittels ihrer bloße Augentäuschung. Die Magier brauchen die Ingenieure, im Zweifel die Schlächter hinter der Bühne. „Are you watching closely?“ „Every great magic trick consists of three acts“, erläutert Cutter allen Adepten die Choreografie der großen Tricks. „The first act is called The Pledge: The magician shows you something ordinary, a deck of cards or a bird [...] or a man. He shows you this object, and pledges to you its utter normality [...] Perhaps he asks you to inspect it [...] to see that it is indeed real [...] unaltered [...] normal. But of course it probably isn’t. [...] The second act is called The Turn: The magician takes the ordinary something and makes it do something extraordinary. Now you’re looking for the secret. But you won’t find it [...] because of course, you don’t really looking [...] you don’t really want to know [...] you want to be fooled. That’s why every magic trick has a third act. The hardest part [...], the part we called The Prestige.“ „The Prestige?“, fragt der Staatsanwalt. (Es wird eine Einstellung übergeblendet, der zu entnehmen ist, dass der Vorspann teils einer Gerichtsszene entstammt, in der Cutter, der Ingenieur der Magier, vor Gericht als Zeuge vernommen – einer der Protagonisten ist zu Tode gekommen –, erklärt, wie die Dramaturgie eines Zaubertricks funktioniert.) „This is the part with the twists and turns, where lives hang in balance, and you see something shocking you’ve never seen before.“ 11 Veranlasst vom Magier, erweist sich das vorgezeigte Ding nicht als das, was es scheint, das Gewöhnliche, wie man es kennt, sondern anders, außerhalb der Ordnung. Suchen wir nach einer Erklärung, finden wir sie nicht – die Zeit bleibt stehen. Im ersten Akt des Dramas sieht es noch so aus, als dass uns ein Versprechen auf die Zukunft gegeben würde; dass sie sich wie bisher, mustergültig und regelhaft einstellen werde. Im zweiten Akt wenden sich die Dinge. Der Effekt, dem sie folgen sollten, ist nicht der erwartete. Das Präsentierte verschwindet. Doch: „Making something disappear is not enough, you’ve got to bring it back.“ Auch das muss der turn bewirken. Im dritten Akt wird die Mühe belohnt. Der neuerliche Schein, den der Magier zu erzeugen weiß, schon in den 7oer Jahren mit The Inverted World, ed. Faber & Faber 1974. Zu den Gewährsleuten des Splipstream gehören Autoren wie Paul Auster, Haruki Murakami, Jorge L. Borges, William S. Burroughs. Zuletzt verfilmt und so einem größeren Publikum bekannt wurde der Slimstream-Roman von David Michel: Cloud Atlas (2004 erschienen) von den Wachowski-Geschwistern und Tom Tykwer. 10 Christopher Priest: The Prestige (1995), dt. u.d.T.: Das Kabinett des Zauberers, 1997, und: Prestige. Die Meister der Magie, München 2007. Der Film ist 2006 bei Touchstone Pictures und Warner Brothers produziert worden. Die Passagen, die wir Roman und Film widmen, sind im Layout hervorgehoben, sie erscheinen als Exkurs in kleiner gesetzter Schrift. 11 Zitiert nach dem Script, verfügbar auf http://www.dailyscript.com/scripts/Prestige.pdf – und diversen Rezensionen.
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kann nicht durchdrungen werden. Das ist der Gewinn, der Prestigio des Künstlers.12 Für die, die es erleben, bedeutet es – so scheint es jedenfalls –, in der Schockstarre des Ereignisses verharren zu müssen, trotz der vielen Drehungen und Wendungen. Sind wir selbst schuld daran, dass wir nicht wissen, wie es dazu gekommen ist? Haben wir schlecht beobachtet? Das ist es nicht. Die Wahrheit ist nicht von der Art, dass es vom allergenauesten Hinschauen abhinge, ob sie sich zeigt – unverhüllt und zur Gänze. Aber selbst wenn es so wäre, dass wir genau beobachteten, wir täuschten uns trotzdem. Der Kreis schließt sich. Am Ende von The Prestige wiederholt die Off-Stimme die Behauptung des Vorspanns: „Now you’re looking for the secret [...] but you won’t find it because you’re not really looking. You don’t really want to know the secret [...] You want to be fooled.“ Die Dinge lägen mithin anders? Wir kennen die Wahrheit und täuschen uns absichtlich? Vom Prestigio ist am Ende des Films nicht mehr die Rede. Das versteht sich, denn die, von deren Gewinn die Rede sein sollte, sind tot. Doch wie verhält es sich mit dem Prestigio des Publikums, dem möglichen Gewinn der Zuschauer? Die Frage wird nicht gestellt. Doch wenn wir daran rühren sollten, werden wir auch die Frage beantworten müssen, die der Ingenieur regelmäßig seinen Künstlern stellen muss: ob sie bereit seien, „sich die Hände schmutzig zu machen“. Die Tricks, welche der geschilderten Eingangssequenz unterlegt sind, gehören offenbar nicht unbedingt zu den saubersten. Der Vogel, der sich samt Käfig in Luft aufgelöst hat und auf wunderbare Weise wiedererscheint, aus dem Mantel des Magiers oder eines Zuschauers hervorgezaubert, scheint ein und derselbe. Aber wer will denn wissen, wie die endgültige Lösung, die Loslösung vom Gewohnten, vor sich geht, wie der Effekt tatsächlich arbeitet. Übergeblendet wird an eine andere Stelle des Geschehens: Einer der Protagonisten ertrinkt im Glastank seines Prestigio.
Abb.1 Black box. Das vorgezeigte Ding (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Teslas Maschine, IMDb).
12 Was wörtlich „Ansehen“, „Geltung“, „Prestige“, heißt – unter dem gioco di prestigio aber versteht man, die Verbindung liegt auf der Hand, „Taschenspielerei“ und „Hokuspokus“. Wir übersetzen auch mit „Gewinn“ oder, im Kontext, „Effekt“ oder auch „Image“. Wie in der deutschen Übersetzung des Priest-Romans benutzen wir die maskuline Form des Artikels, beugen den italienischen Ausdruck im Singular aber, anders als die Übersetzung, nicht. Im Plural verwenden wir einige wenige Male die Form „Prestigios“ wie in der Priest-Übersetzung.
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1. BEGINNEN WIR MIT DEN EFFEKTEN.
Gewöhnlich werden sie weniger als das betrachtet, was sie sind, denn als das, was sie machen. Eigentlich sind sie, was sie tun. Effekte sind das, was an dem, was Wirkung zeigt, wirkt, das Bewirkte in der Wirkung hält, turns and twists, where lives hang in balance. Was sie vermögen, beweisen sie keineswegs nur im Rahmen öffentlicher Zurschaustellung. Dass eine Uhr läuft, gehört zu den Wirkungen, die sich einstellen, wenn sie aufgezogen ist – auch wenn niemand darauf schaut. Aber sie kann auch stehen bleiben. Im Inszenierungskontext allerdings gehört es zwingend hinzu, dass der gewünschte Effekt arbeitet, zeigt, was er kann, bedeutet. Selbst wenn er nicht in der Sichtbarkeit platziert wurde, nicht zu den spektakulären, sondern zu den verschwindenmachenden Effekten13 gehört. So oder so, erst im Ambiente der Szenifikation würden wir ernstlich vom „Tun“ und „Machen“ der Effekte reden, ja überhaupt vom Effekt statt von einem ansonsten eher als normales Funktionieren zu beschreibenden Verhalten. Das liegt daran, dass das üblicherweise Vorgezeigte, ob Naturding oder Artefakt, dessen Daseinsund Äußerungsformen uns gemeinhin geläufig sind, im Kontext der Szenifikation einen gewissen Spin annimmt, der uns veranlasst, auf ein ganz bestimmtes Verhalten zu achten und es als Effekt dieses Drehs am Ding zu verstehen. Dieser Dreh bringt den Prestigio. Es handelt sich offensichtlich um unterschiedliche Effekte oder – gut aristotelisch – um unterschiedliche Wirkungsarten, Effektivitäten des Effekts. Zunächst besticht die energetische Leistungsfähigkeit. Abgesehen vom Lebendigen und Energetisch-Physikalischen, die ihren eigenen Effekt besorgen können, sollten sie die passende Umgebung finden, dürfte der Effekt seine Leistung allerdings nicht aus sich selbst heraus garantieren können. Auf den Inszenierungskontext bezogen, würde man eher diejenigen Wirkungen ins Auge fassen, die aus tatsächlicher Arbeit erwachsen. Einer Arbeit, die für die Erzeugung des Dings (des technischen Ding- oder Funktionskomplexes) ebenso verantwortlich, „ursächlich“ wäre wie für die ihm mitgegebenen Energien oder Kräfte. Sei es, dass, was die Dinge vermögen, sich in ihrem normalen Gebrauchszustand einstellte – und ihr möglicher Effekt noch unterbestimmt bliebe –, sei es, dass sie einem bestimmten turn, einer bestimmten Richtungsvorgabe, genügen könnten, die den für sie spezifischen Funktionsweisen zwar kein zusätzliches Vermögen abforderte, aber doch Bedingung wäre für das Erscheinen des Effektes im 13 Eine Differenzierung, die so auch durchaus die Effekte-Industrie vornimmt, die sich mit der Pro-
duktion von digitalen visuellen Effekten (VFX) befasst. Im Unterschied zu den Spectacular Effects sind Invisible Effects verschwindenmachende Effekte: Sie sind u.a. dazu gut, Produktionen zu erleichtern und zu verbilligen, beispielsweise die Drehkosten, da sie quasi als digitale Retusche im Nachhinein wirken. Ihr Beitrag zur Inszenierung ist ein im Idealfall nicht bemerkbares Clearing. Vgl.: The VES Handbook of Visual Effects. Industry Standard VFX Practices and Procedures. Ed. by Jeffry A. Oku and Susan Zwerman, Focal Press 2010.
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Szenifikationsrahmen des Prestigio. Ein Effekt in diesem vorläufig dingspezifischen Verständnis, noch unterdeterminiert, aber ‚effektivierbar‘, wäre allgemein als (unter gewissen Umständen materialisiert Gestalt annehmendes) Resultat technisch medial definierter Erfindung, Entwicklung und Produktion zu charakterisieren. Man würde ihm eine kausale Wirkung zuschreiben. Versteht sich die Inszenierungstätigkeit vor allem bezogen auf die technologische und technische Produktion von Effektivität, treten alternative und überhaupt Handlungsgründe, Überzeugungen und Absichten, die man mit Kräften und Arbeitsweisen bestimmter Dinge verbindet, ebenso zurück wie Intentionen leitende Motive und Geschichten. Kausalität ist hier eng definiert. Entsprechend konzentriert sich das Interesse auf das Vermögen einzelner singulärer „Objekte“, die Leistungen von Effektmaschinen. Sie können schon alles, was sie können müssen. Ihr Prestigio, ihr Image, stellt nur bedingt ein Surplus von Inszenierung dar, gehört vielmehr zu ihrer Normalausstattung. Die Wirkungen sind durchaus auch unter der Kategorie „Ereignis“ zu bilanzieren; allerdings wie wenn man von „Effekten“ im Setting naturwissenschaftlicher Experimente spricht. Beispielsweise das Ereignis, von dem die Spur eines Teilchens in der Nebelkammer zeugt. Nun scheint im Kontext szenografischer oder theatrischer Inszenierungspraktiken evident, dass die Qualität prestigeträchtiger Effekte nicht am bloßen Dass einer bestimmten Wirkungsweise und der Mächtigkeit entsprechender Funktionen liegen kann. Erst wenn die Spezifikationen des Was, Wie und Warum Produktionsbedingungen wie tatsächliche Produktion oder Gestaltung zusätzlich qualifizieren, werden sich die Vorstellungen von dem, was die Effektqualität insgesamt ausmachen könnte, von der Konzentration auf Fragen technischer und ökonomischer Effektivität lösen und sich Überlegungen zu möglichen Inszenierungsumgebungen zuwenden. Damit verbunden den entsprechenden Entwurfsbereichen kreativen Tuns, eventuell auch ästhetischen Besinnens. Der erprobte Effekt wird in dieser Perspektive tendenziell zum universellen Akteur. Als das, was er sein mag, als Gebrauchsding oder Funktionskontext, sofern er ein Vermögen sui generis hat, ist er jetzt, ist er immer nur eingeschränkt, in spezifischer Hinsicht von Interesse. So in Gebrauch arbeitet er ohne aufzufallen; umgekehrt erschüttern auf diese Weise seine Leistungen die wenigsten. Viel weniger jedenfalls als mittels dessen, was er, selbst angestoßen in eine bestimmte Richtung zu arbeiten, anzustoßen vermag im Sinne eines Ingangsetzens aller möglicher Wirkungen und Welten. Die setzen seine Funktionsweise zwar voraus, sind aber keineswegs auch alle im Vorhinein installativ beabsichtigt. Vorstellungen von der tatsächlichen technischen Wirkungsweise und den sie determinierenden Naturgesetzen, die einer dynamisch dyadischen Figur der Verursachung folgten („Wurde ein Käfig mit einem Vogel darin von allen Seiten gewaltsam zusammengedrückt, muss der Vogel im Käfig tot sein“), werden im Szenifikations- und
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Inszenierungsrahmen in den Hintergrund gedrängt. Nun dominiert eine triadische Figur, der gemäß das Angestoßene immer als Mittelglied weiterer Wirkungen betrachtet wird, womit es in einen Sog von Bewegung gerät und geraten lässt. („Der Käfig wurde zusammengedrückt; der Vogel müsste tot sein. Aber der Vogel ist wieder da. Schluss: Der Vogel ist doch nicht tot. Oder: Der Vogel ist jetzt ein anderer Vogel.“) Das Anstoßen übernimmt der turn; die Richtung des Drehs erfolgt in Richtung der Inszenierung gemäß eines intendierten Prestigio und seiner inszenatorischen Rahmung (Priest spricht vom „Prestigio-Material“, das dazu verwendet wird14). Gelingt, was beabsichtigt war, wird man von einem gelungenen Effekt reden, einem Effekt, der seine technische Mächtigkeit zwar genutzt, aber hinter sich gelassen hat, um seine Wirkung als „Gewinn“ der Szenifikation und der sie vorbereitenden Szenografie, der allerdings ganz unterschiedlich ausfallen mag, einzustreichen. Nicht zuletzt kann sich ein solcher Gewinn für sich (re-)materialisieren. „Eine Täuschung [...], aber gewisserweise unter veränderten Vorzeichen.“
Christopher Nolans Film nach Christopher Priests Geschichte erzählt von einer lebenslangen Konkurrenz zweier herausragender „Meister der Magie“ des ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhunderts. Robert (bei Priest Rupert) Angier (Hugh Hackman) und Alfred Borden (Christian Bale) kämpfen erbittert um die Anerkennung als die Größten ihrer Kunst und überbieten sich im Laufe der Zeit in immer phantastischeren Vorführungen ihres Könnens als Illusionisten. Im weitaus umfangreichsten Kapitel gegen Ende des Romans, zu dem eine Rahmenhandlung gehört, die die Frage nach der Wirkung der Effekte, welche die Zauberkunst der beiden Großmeister zeitigte, bis in die Gegenwart ihrer Nachkommen verfolgt, steht die Lebensgeschichte des Rupert Angiers, wie er sie seinem geheimen Tagebuch anvertraut. Hier erfahren wir, was es mit dem zentralen Experiment, um das die Auftritte von Borden wie Angier jahrelang kreisen, auf sich hat. Es geht um die Demonstration und Inszenierung der Teleportation von hochentwickelten Organismen. (Bei Borden, dem Professor der Magie, der seine Illusion mit Hilfe seines Zwillings aufrechterhält, unter dem Namen The Transported Man und in der Neuauflage The New Transported Man und dann, ganz anders, in In An Flash bei Angier, dem Großen Danton.) Der Prestigio der beiden Zauberkünstler wird abwechselnd vom Glück begünstigt oder gemieden, bis Angier sich entscheidet, den Weg der „wirklichen Magie“ zu gehen und sich an Nikola Tesla (David Bowie), einen der namhaftesten Physiker seiner Zeit wendet, um ihn dazu zu bringen, auf seine, Angiers Kosten eine Maschine zu erfinden und für ihn zu bauen, womit „Materie von einem Ort zum anderen geschickt werden“15 kann. Die Anleihen bei der um 1900 aktuellen naturwissenschaftlichen Diskussion um die Wirkungen und Möglichkeiten der Elektrizität, der historische Bezug auf den sogenannten „Stromkrieg“ (den Streit um die Frage, Gleichstrom oder Wechselstrom?) und seine Protagonisten, Edison auf der einen, Westinghouse und später Tesla auf der anderen Seite, sind ebenso offensichtlich wie, was die großen Illusionisten und Zauberkünstler der 14 Wir
zitieren nach der Ausgabe 2007, Priest, Prestige, a.a.O., S.353. Priest, Prestige, a.a.O., ebd., S.324. Im Folgenden Verweise auf den Roman auch durch in Klammern gesetzte Seitenangaben im Text. 15
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Abb.2 The Pledge, Pfand der Szenifikation (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Ruprecht Angier, Hugh Hackman, IMDb).
Zeit anbelangt, die Anspielungen auf die Zwistigkeiten der um die Jahrhundertwende berühmten Zauberkünstler Harry Keller und John Nevil Maskelyne, auf Harry Houdinis Kabalen, auf etliche Tricks und Kunststücke anderer zeitgenössischer Künstler. Roman und Film spielen im Wesentlichen in historischer Kulisse. Rupert Angier jedenfalls bekommt von Tesla die Teleportationsmaschine gebaut und nutzt sie für die Inszenierung seiner „Transmittierung“. Er hat exakt hundert Abende angesetzt, um sich, so sein Plan, bei der letzten dieser Vorstellungen mittels des Effekts, der die Teleportation mit Hilfe der Übertragung in elektrische Energie umgewandelter Materie erlaubt, selbst zum Verschwinden zu bringen. Er verschwindet, taucht aber vorerst nicht wieder auf. Das Geheimnis der „Tesla-Illusion“ (359), das keiner kennen darf, ist, dass es sich bei Schnell wie der Blitz nur zum Teil um eine Illusion handelt und Angier deshalb in die Illusion, die er mit Hilfe seiner „Bühnenpräsentation“ auf die Beine stellt, so „reichlich Arbeit“ stecken muss (399), weil sie das Prestigio, in dem Fall die Camouflage des revolutionären technischen Effekts besorgen muss, indem sie dessen „Reinheit“ verschwinden macht. Dabei ist dem Künstler – je nachdem – bewusst, dass in Wahrheit „nicht die Illusion selbst [...] einzigartig [ist – und hier meint er die Zutat seines Prestigio – HW], sondern die Technik, mit der sie ausgeführt wird“. (347) Ganz konsequent gilt in solcher Blickrichtung die Bewunderung und ästhetische Würdigung des Künstlers nicht in erster Linie dem eigenen Prestigio als Effekt, sondern der Sparsamkeit der puren Technik, die keine Inszenierung braucht, um Wirkung zu zeitigen. Gemeinhin wird das Geheimnis der Täuschung, der Trick, wie bei seinem Kontrahenten „durch Requisiten [...] geschützt“. Auf diese Weise unerkennbar, wird das Rätsel aber „zugleich auch zu etwas Banalem gemacht“. Nicht so bei der Tesla-Maschine. „Die Schönheit des TeslaApparats besteht nun darin“, verrät der Technikbegeisterte seiner Frau, „dass der Trick“ – so als ob er gar keiner wäre, und in Übereinstimmung mit den Tatsachen, eigentlich – „offen ausgeführt werden kann“; „für die Materialisation sind keine Requisiten notwendig. Wenn dann alles wie geplant funktioniert, werde ich in einem Augenblick an jeden gewünschten Platz gelangen können“. (348/49) Wie sich herausstellt, kann dies in der Bühnenrealität so nicht funktionieren. Das muss Angier erleben und lernen. Überall gilt es alsbald, „äußerste Vorsicht walten“ zu lassen. (352) Schon die Abschirmmaßnahmen gegenüber Neugierigen verlangen großen Aufwand. Die Unvermitteltheit der Technik hinter der Bühne gilt es gegen den Ort der Performance abgedichtet zu halten. Tatsäch-
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Abb.3 The Turn, Drehung ins Unbekannte (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Ruprecht Angier, Hugh Hackman, IMDb).
lich lässt Angier bei jedem seiner Auftritte in den Theatern, die Schnell wie der Blitz gebucht haben, auf eigenen Kosten eine Trennwand gegen die Bühne einziehen. Das Geheimnis der Technik, nicht der Illusionskunst, darf in keinem Fall gelüftet werden, auch nicht gegenüber den Mitarbeitern.16 Ruprecht Angier schildert das Problem, das derjenige bekommt, der genötigt ist, als Zauberkünstler eine Magie, eine wahre Magie, zu betreiben, die nichts mit Tricks, dagegen viel mit der Beschwörung von Physik und Technik zu tun hat, in Wahrheit aber der Natur, in seinem Tagebuch: Der springende Punkt ist, dass ich zwar eine Täuschung vollbringen muss, aber gewisserweise unter veränderten Vorzeichen. Für gewöhnlich offeriert ein Magier einen Effekt, der ‚unmöglich‘ ist. Ein Klavier scheint zu verschwinden. [...] Die Zuschauer wissen natürlich, dass hier nicht das Unmögliche möglich gemacht wird. ‚Schnell wie der Blitz‘ hingegen verwirklicht mit Hilfe der Wissenschaft das bislang Unmögliche. Was die Zuschauer sehen, findet tatsächlich statt! Doch paradoxerweise kann ich nicht zulassen, dass dies je bekannt wird, denn dann hätte die Wissenschaft die Magie ersetzt. Ich muss – vorsichtig und geschickt – meine Wunder weniger ‚wunderbar‘ erscheinen lassen. Ich darf nach dem Prozess der Transportation nicht so auftreten, als wäre ich wirklich auseinandergeschmettert und wieder zusammengefügt worden.
Und so sucht Angier nach den Methoden und Mitteln der Täuschung, die die Wahrheit des technologisch technischen Effekts mit der Magie der Szenifikation umgeben und versöhnen, einen realen Prestigio präsentieren; „auch dies eine Täuschung, aber nicht zuviel, gerade ausreichend“.17 „Magie ist stets das Beste.“ (364) Christopher Priest lässt seinen Protagonisten genau beschreiben, auf welchen Bereich der Effektgestaltung sich die Ordnung der Prestigio-Materialien bezieht, so dass „das Wunder des Tricks [die Maschinenleistung – HW] durch die Art der Darbietung deutlich gemacht“ werden kann. Denn „Zuschauer lassen sich nicht ohne Weiteres in die Irre führen“. (367 ) Angier beginnt damit, „Teslas Apparat mit einer Reihe magischer Effekte und Techniken“ zu ergänzen. Mit Hilfe solcher unter Illusionisten bekannter Mittel hofft er, werde „das Publikum angemessen fasziniert, erschreckt und verblüfft“. 16 Zu einer ganzen Reihe weiterer Maßnahmen, die nur indirekt mit der Bühneninszenierung zu tun
haben, vgl. den Tagebucheintrag vom 15. Dezember 1900, Priest, ebd., S.350-352. Priest, Prestige, ebd., S.362
17
358 HEINER WILHARM
Abb.4 Geglückter Prestigio (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Ruprecht Angier, Hugh Hackman, IMDb).
Bei einer jeden Aufführung versetzt der Magier den technischen Effekt der Maschine auf diese Weise in einen szenifikatorisch einzigartigen Raum-Zeit-Kontext und macht aus der Vorführung ein Erlebnis, das sich spiegelt im versammelten Prestigio, dem eigenen und dem des Publikums. Auch dafür braucht es Techniken, indes keine Maschinentechniken, sondern psychologische und ästhetische „Kniffe“, hauptsächlich um zu fesseln und in die Irre zu führen. (368) Dem Tagebuch vertraut Angier Einzelheiten der Methode an: Besichtigungen des Apparats vor oder sogar noch nach der Übertragung. Markierung des Akteurs auf verschiedene Weisen. Teleportation an die verschiedensten Orte des Wiedererscheinens, abhängig zum einen von der Leistungsfähigkeit der Maschine, zum anderen „vom Grad des Effekts [...], den ich erreichen will“ (was unter Umständen sehr gefährlich sein kann und besonders präzise Planung erfordert). Transmittierung in oder auf vorbereitete Prestigio-Materialien oder Requisiten: verschlossene Kisten, verriegelte Tanks, versperrte Kammern, Verstecke aller Art, frei hängende Netze. Usw. (Ebd. 388/369) Schließlich, ein letzter „Knalleffekt“, Optimierung der Atmosphären und Anmutungen durch „arrangierte Beleuchtungseffekte“ – über die elektrischen Entladungen des Tesla-Apparats hinaus –, „Einsatz von Schminke“, um einen langsam fortschreitenden Gestaltwandel vorzutäuschen. Am Ende einer „Reise durch den Äther“, so das Ziel der Desinformationsstrategie, will Angier genau so gezeichnet und abgespannt aussehen, wie sich das Publikum einen Mann vorstellt, der seinem Körper immer wieder derartige Strapazen abverlangt. Dies alles als ultimative Vorbereitung, „nach so vielen Übertragungen durch Teslas höllischen Apparat [...] den eigenen Tod zu inszenieren“. (378/379) Bis dahin soll die Inszenierung mit Hilfe des jeweils aktuellen Illusionsspin erreichen, dass der Effekt ‚verblüfft‘, auf keinen Fall aber ‚anstachelt‘, irgendetwas wirklich wissen zu wollen. „Wenn man einem Meisterillusionisten bei der Arbeit zusieht“, kann sich Angier von einem in das Geheimnis der Technik mutmaßlich Eingeweihten beruhigen lassen, „ist man neugierig, wie das Wunder wohl vollbracht wird, aber man ahnt auch, dass eine Enthüllung des Geheimnisses nur enttäuschen kann“18, und geht seiner Neugierde nicht weiter nach. Man ahnt, dass mit dem Vorhaben leicht eine Reise ohne Wiederkehr angetreten sein könnte. Es geht ja nicht nur darum, den eigenen Tod vorzuspiegeln. Vielmehr sollte das kalkulierte Ableben auf Grundlage eines Vorgangs in Szene gesetzt werden, 18
Ebd., S.372. Ähnliche Argumentation ebd., S.382.
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 359
dessen Kausalitäten wissenschaftlich erforscht wurden, dessen gesetzmäßiger Ablauf in der Natur – in der Erde, wie Heidegger sagen würde – selbst gründet. Das Geheimnis der in Anspruch genommenen Wirkung allerdings würde sich auch genauerem Hinsehen nicht offenbaren, und deshalb die quasi magische Wirkung dem Eingeweihten keineswegs weniger unheimlich erscheinen als dem unwissenden Varietébesucher. Der würde sehen, was er bisher gesehen hat, einen Effekt des Verschwindens. Aber keinen Prestigio, nicht einmal ein Bild. Ob Angiers Kenntnis der Grenzen des Tesla-Apparats diese Situation korrekt berechnet, weiß er nicht, kann es nur hoffen. Und so geschieht es. Der geordnete Abtritt jedenfalls, den der Magier plant, misslingt schon im Vorfeld des Hunderttagelimits. Es gibt einen Zwischenfall, den Angiers ewiger Widersacher Borden verantwortet, der endlich hinter das Geheimnis der wahren Magie kommen will. Die unmittelbare Konsequenz ist, dass der Zeitreisende, anstatt sich in einer einzigen, eben seiner Gestalt zu re-materialisieren, sich selbst als „unvollständigem Prestigio“ gegenüber sieht: einem „Abbild“, „Doppelgänger“, „Ebenbild“, einer „Kopie“, einem Clon. Die Bilder überschlagen sich.
Wie beispielhaft demonstriert, mobilisiert sich die Szenifikation des Effekts als triadische Figur, der gemäß das Angestoßene stets als Mittelglied weiterer Effekte fungiert. Ein Mittelglied weiterer Wirkungen wird als Medium oder als Zeichen definiert.19 Bei der Zeichenwirkung handelt es sich nämlich, wie Peirce erklärt, im Unterschied zu einer „dynamischen Wirkung oder einer solchen, die auf schierer Kraft beruht, sei sie physikalisch oder psychisch, [und] entweder zwischen zwei Gegenständen statt[findet] oder [...] auf jeden Fall ein Produkt solcher Wirkungen zwischen Paaren“, ist, um eine intelligente „Wirkung“ oder einen intelligenten „Einfluss“, einen Effekt jedenfalls, der vom Zusammenwirken dreier Gegenstände abhängig ist20: dem Objekt, dem Zeichen und der Instanz, welche die beiden Elemente zusammenbringt. Was so zustande gebracht wird, ist die Bedeutung des Zeichens. „Magie ist stets das Beste.“
Der Zuschauer weiß, dass die Dinge vielschichtiger liegen, als es scheint, ist aber aus bestimmten Gründen nicht bereit, sich damit auseinanderzusetzen. Weder will er die gewöhnlich enttäuschende Wahrheit der technischen Funktionsweise eines Tricks wis19
Im Sinne der Peirce’schen Kongruenz der beiden Ansätze: „Meine Begriffe sind alle zu eng. Sollte ich, anstatt ‚Zeichen‘, vielleicht Medium sagen?“ Charles S. Peirce: Notizen und Skizzen zur Semiotik (H), Aus dem logischen Notizbuch (H) MS 339 1906, in: Semiotische Schriften 3, hgg. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1993, S.221; Hervorh. – Ch.S.P. Vergleichbar in: The Basis of Pragmaticism in the Normative Sciences, MS 283, 1906: „The reader will perhaps have noted that the phrase ‚medium of communication‘ is broader as the noun ‚sign‘ . [...] A too wide concept can do no harm whatever, provided that a careful division of it be made“. The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, vol. 2 (1893-1913), ed. by the Peirce Edition Project, Bloomington/ Indianapolis 1998, S.389. Weitere Nachweise ebd., S.544, Anm. 22. 20 Charles S. Peirce: Der Kern des Pragmatismus – drei Auszüge zu seiner Begründung (H), MS 318, 1907, Pragmatismus. 1. Auszug: 1, I. Fragment, Prag 1-11 und II. Fragment, Prag 12-90, in: Semiotische Schriften Bd. 3, hgg. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1993, S.255; siehe auch: 2. Auszug: III. Fragment, ebd., S.279.
360 HEINER WILHARM
sen noch die weit komplizierteren Verwicklungen der szenischen Interaktion zwischen Technik, Illusion und eigenen Projektionen. Der Magier wiederum hat kein Interesse daran, die Magie gegen den Zauber zu tauschen, „Magie ist stets das Beste.“ Zwar weiß er in der Regel mehr als der Zuschauer, insbesondere weiß er über die Technik des Tricks Bescheid. Doch da er so eine Vorstellung davon hat, was die Zuschauer verstehen könnten, vor allem dass und auf welche Weise der Effekt am Boden seiner Wirkung einen definierten kausalen Vorgang darstellt, arbeitet er mit Bick auf seine Repräsentation daran, das Publikum in dieser Hinsicht zu täuschen. Umso mehr investiert er in die magische Wirkung seiner Inszenierung, um Verblüffung, Erstaunen und Begeisterung zu ernten, Ent-täuschung dagegen zu verhindern. Was weder Zuschauer noch Illusionist wissen wollen, ist, was sich in the long run aus der Verbindung von Kausalitäten und individueller Zwecksetzung ergeben wird, ob und wie die zukünftigen Ereignisse, die im medialen Charakter des Effekts angelegt sind, ausfallen. Dies betrifft weniger die Wiederholungen, die vorderhand unbegrenzt möglich scheinen, doch in Wahrheit endlich sind, als das, was am Ende aller Bedeutung des Zeichens, aller Wiederholung steht und paradoxerweise absolut gewiss ist. Um die Endlichkeit der Wiederholung klarzustellen, verordnet Priests Dramaturgie daher seinem Protagonisten Angier für seinen letzten Vorstellungszyklus präzise einhundert Abende bis zur Inszenierung seines Todes. Die gegen den Effekt abgewiesene Gewissheit ist keinesfalls spekulativ, sondern durch Erfahrung im bisherigen Umgang mit der Komplexität der Effekte des Effekts schon bestätigt. – Sowohl Borden als auch Angier werden nicht nur am Ende von The Prestige selbst Opfer ihrer Illusionen, sondern lassen auch etliche Tote auf dem Schlachtfeld zurück. Nicht zuletzt aufgrund der Illusion, Physis und physikalische Gesetze mittels Inszenierung bändigen zu können.
Nun sah aber schon Peirce, dass der Begriff Bedeutung gemeinhin zu eng gefasst ist, um solcher komplexen Dynamik des Inszenierungs- und Kommunikationsprozesses gerecht zu werden.
Abb.5 Missglückter Prestigio (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Ruprecht Angier, Hugh Hackman, IMDb).
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 361
2. KOMMEN WIR ALSO ZUM ZUSAMMENHANG VON EFFEKT UND BEDEUTUNG.
Was an der Stelle von „Bedeutung“ stehen sollte – „kein existierendes Wort ist dafür passend genug“, erläutert Peirce in einem von verschiedenen Ansätzen des Jahres 1907 unter der Überschrift Der Kern des Pragmatismus, und fährt dann fort: „Gestatten Sie mir, diese gesamte eigentliche Wirkung des Zeichens an sich den Interpretanten des Zeichens zu nennen.“21 Die Bedeutung des Effekts, der als Mittelglied triadischer Konstellation in seiner medialen oder Zeichenfunktion hervortritt, lässt sich ermitteln, wenn man den Interpretanten des Zeichens bestimmt. Da er insgesamt die Wirkung des Zeichens ausmacht, handelt es sich um den Effekt des Effekts, genau die Instanz, auf die wir im Übergang von der technisch funktionalen zur szenifikatorischen Figur des Effekts stoßen mussten. Wichtig ist, dass der „tri-relative Einfluss in keiner Weise in Wirkungen zwischen Teilen aufgelöst werden kann“.22 Wie die damit angestoßene Bewegung arbeitet, erläutert Peirce in den Essays über Bedeutung aus dem Jahr 1909. Genauer ausgedrückt ist das Zeichen etwas, das [wie der Effekt – HW] anstelle seines Objektes erscheint, das nicht selbst erscheint (zumindest nicht in der Hinsicht, in der das Zeichen erscheint), so dass das Zeichen gewissermaßen die Species oder Erscheinung ist, welche, wörtlich oder bildhaft gesprochen, aus dem Objekt emaniert und fähig ist, in einem intelligenten Wesen eine Wirkung zu erzielen, die in diesem Buch durchgängig der Interpretant des Zeichens genannt wird, eine Wirkung, die in irgendeinem Sinne als durch das Objekt bedingt erkannt wird. Und indem es den Interpretanten so hervorbringt, dass er sich auf das Objekt bezieht, erfüllt das Zeichen diese Funktion, für die es geeignet ist, was es zum ‚Zeichen‘ macht.23
Die Bestimmung von möglichen Interpreten (etwa unserer Akteure als Künstler oder Zuschauer) durch einen Interpretanten geschieht, das ist leicht einsichtig, unter Bedingungen unterschiedlicher Präsenzen von Bewusstsein und unterschiedlicher Bereitschaft, Aufmerksamkeitslagen der Sinnessorgane. Für den logischen Interpretanten, die Fassung des Bedeutens im Sinne kontinuierlichen Schlussfolgerns, impliziert dies, dass derjenige, der etwas versteht, eine „Bewusstseinsveränderung“ durchmacht bzw. durchmachen muss. Am (vor21 Ch S. Peirce: Der Kern des Pragmatismus. 3. Auszug: IV. Fragment, Prag 10-56, in: Semiotische Schriften Bd. 3, a.a.O., S.304; Hervorh. Ch. S. Peirce. 22 Peirce, Der Kern des Pragmatismus. Pragmatismus. 1. Auszug: I./II. Fragment, in: Semiotische Schriften Bd. 3, a.a.O., S.255. „Ich sage also, dass alles, unabhängig von seiner Seinsweise, ein Zeichen ist, was zwischen einem Objekt und einem Interpretanten vermittelt, da das Zeichen sowohl durch das Objekt relativ zum Interpretanten bestimmt ist als auch den Interpretanten in Bezug zum Objekt derart bestimmt, dass es den Interpretanten aufgrund der Vermittlung dieses ‚Zeichens‘ durch das Objekt bestimmt sein lässt.“ (Ebd., S.253) 23 Charles S. Peirce: Essays über Bedeutung. (H) Entwürfe zu einem Logikbuch der Jahre 1909-1910, III. Essays über Bedeutung. Von einem alten Studenten dieser Wissenschaft. Vorwort, MS 640, 22/23. Okt. 1909, in: Semiotische Schriften Bd. 3, a.a.O., S.381.
362 HEINER WILHARM
läufigen) Ende seiner Schlussfolgerungen sieht er die Dinge vollständig anders als vordem. Mittels solchen Verstehens vermag sich ein möglicher Interpret aus der Gegenwart der Szenifikation und des Ereignisses zu lösen und – ausgehend vom präsenten Effekt – alternative Universen zu ventilieren. Der logische Interpretant muss deshalb konditional in der Aussage- und futurisch in der Zeitform bestimmt sein, in der Dimension eines „würde-sein“ agieren. Es entspricht ihm „keinerlei Objekt“ im Sinne eines Exemplars der Objektklasse, die seiner möglichkeitsorientierten Sinnproduktion entspräche. (Deshalb die Berechtigung, dem Effekt des Effekts die Offenheit eines expandierenden Universums zuzusprechen.) Denn es liegt in der unterschiedlichen Natur von „Objekt“ und „Interpretant“, dass das Objekt „dem Zeichen vorhergeht“, während der Interpretant „auf es folgt“.24 Objekt und Interpretant entsprechen sich also genau im Beziehungsgefüge der Semiose, „da das Zeichen durch diese korrelativen Korrelate definiert ist“.25 Was die Zeichenwirkung auf den Interpreten durch Semiose außerhalb dieser logisch folgernden, deshalb auch als „final“ bezeichneten Möglichkeit der Bewusstseins- oder Gewohnheitsänderung betrifft – außerhalb sozusagen von Langzeiteffekten –, können sie unterhalb der Reizschwelle für den Einsatz schlussfolgernder Arbeit entweder als energetische oder als emotionale Wirkungen eintreten. Auch in diesen Modi findet der Interpretant ein Objekt, doch korrespondierend zur Interpretantenwirkung in, wie man sagen könnte, ‚unvollendeter‘ Form. „Der emotionale Interpretant entspricht dabei dem unmittelbaren Objekt“, das heißt dem Objekt einer Wahrnehmung oder eines Eindrucks, „da sie beide Vorstellungen oder ‚subjektiv‘ sind“ und „beide allen Zeichen ohne Ausnahme zu[kommen]“. Alle Effekte von Effekten stehen auf die eine oder andere Weise der Wahrnehmung als unmittelbares Objekt, als Eindruck, zur Verfügung. Der energetische Interpretant wiederum korrespondiert dem realen Objekt. „Das reale Objekt und der energetische Interpretant entsprechen sich ebenfalls, da beide reale Tatsachen oder Dinge sind.“ Dieser Sinn von Effekt, zwischen begrifflicher und emotionaler Wirkung, der sich auf das Ding- und Funktionsgefüge oder die Tatsachen seiner Objektqualität bezieht, beschäftigt sich mit der „mit den Bedingungen und dem Motiv verbundene[n] Gewohnheit“; er „richtet sich [...] auf die Handlung“, die Weiterungen des ursprünglichen Arbeitsprozesses und seine Ökonomie. Wohlgemerkt, der Effekt hat sich als Mittelglied erwiesen, platziert inmitten des Inszenierungsprozesses und konkreter Szenifikationen. Der energetische oder Handlungseffekt besitzt die Färbung der emotionalen Wirkung, doch fehlt ihm die Allgemeinheit des Bedeutens aus 24 Peirce, Der Kern des Pragmatismus. Pragmatismus. 1.Auszug: I./II. Fragment, a.a.O., S.253/254. 25
Ebd., S.253.
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 363
finaler Schlussfolgerung – und damit auch ihre Zeit, könnte man ergänzen.26 Er arbeitet szenifikatorisch und szenisch gebunden. Am Ende jedenfalls leuchtet ein, „daß alle Zeichen wohl Interpretanten, aber nicht alle finale Interpretanten haben, sondern nur intellektuelle Begriffe und ähnliches.“27 Das heißt nicht, dass der logische Interpretant selbst als Begriff (conception) bestimmt wäre, auch nicht als „Begehren“ (desire; worunter Ängste und Hoffnungen fallen) und ebenfalls nicht als „Erwartung“. „Sehnsüchte“ oder „Begehren“ müssen als Ursachen von Anstrengungen und nicht als deren Wirkungen betrachtet werden, Erwartungen sind auszuschließen, weil sie kein Konditional darstellen, eine Bedingung, welche die Gewohnheitsänderung erfüllt.28 Doch darf man sich selbst unter der entfaltetsten Form der Bedeutungsgewinnung nichts rein Geistiges vorstellen, obwohl sie „die Form eines Experimentierens in der inneren Welt an[nimmt]“. Denn selbst die „vollkommenste durch Worte vermittelbare Erklärung eines Begriffs [wird – HW] in einer Beschreibung der Gewohnheit bestehen, die dieser Begriff zu erzeugen gedacht ist“.29 Die Schlüsse auf die Effekte, die Gewohnheiten, sind also real und lebendig. Doch können sie sich nicht auch schon ohne weiteres selbst verstehen. Gewohnheiten zu haben nämlich heißt gemeinhin nicht, Schlüsse zu ziehen. Eher leuchtet ein, dass „Gewohnheiten für sich genommen gänzlich unbewusst sind, obgleich Gefühle als Symptome für sie auftreten können, und auch wenn das Bewusstsein allein – das heißt das Gefühl – das einzige unterscheidende Merkmal des Geistes ist“. (Denn – Erläuterung! – „nichts außer Gefühl ist ausschließlich geistig“.) Vom Zeichen oder Medium her gesehen, ist mithin der „erste eigentliche bedeutsame Effekt eines Zeichens das Gefühl, das er hervorruft“. Übersetzt in die Logik der Effekte: Vom Effekt her ist sein Effekt, sofern er Mittelglied von Kommunikation ist, Zeichen der Effekte, Gefühle und Leidenschaften zu provozieren. Das ist sogar „in manchen Fällen der einzige eigentliche bedeutsame Effekt, den das Zeichen hervorruft.“30 – Das heißt nicht, dass Bewusstsein ein „Epiphänomen“ wäre, sondern dass eine Wechselwirkung zwischen äußerer und innerer Welt existiert. Der Anschluss an die äußere Welt versteht sich mithin als bewusstseinsgeleitet im Sinne von gefühlsgeleitet. Die Funktion des Bewusstsein, wohlverstanden als „Menge von Gefühlen“, liegt im Rahmen der Selbstkontrolle, Symptome für Gewohnheiten auszubilden, die bearbeitet „Vorgänge und Entschlüsse der inneren Welt“ zu „Bestimmungen 26
Ebd., S.266/267. Ebd., S.253/254. 28 Ebd., S.257. 29 Ebd., S.266/267. 30 Peirce, Der Kern des Pragmatismus, 2. Auszug: III. Fragment, ebd., S.282/283. 27
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und Gewohnheiten in der äußeren Welt“ zu überführen vermögen. Wie ausgeführt, sind das „keine Phantasien, sondern reale Kräfte“.31 Zwei wichtige Relativierungen sollten auf jeden Fall in Erinnerung bleiben. Dass „die Fülle der Gedanken“ sich einerseits, wenn überhaupt, nur in the long run anreichern wird, andererseits aber der Gang der Interpretantenwirkung durch die Geschichte nicht so verstanden werden kann, dass mit Bedeutungsfülle auch nur die relative Finalität begrifflicher Klarheit gemeint sein müsste. Im Gegenteil muss man davon ausgehen, dass die Färbung des Verstehens im Hinblick auf seinen Bewusstheitsstatus jederzeit weit mehr durch die Wirkungen von Gefühl und Handlung beeinflusst sein dürfte als durch schlussfolgernde Gedankenarbeit. Dabei kann der Einfluss zwar auf drei Instanzen relativiert gedacht, aber nicht als abhängig von Teilen eines Ganzen vorgestellt werden, sondern kontextuell oder ‚kosemiotisch‘. Es gibt auch nicht zutreffende Schlussfolgerungen, wie man gerade an der Magie der Effekte studieren kann. Denken wir an die Inszenierungen der Kunst und ihre Effekte, die „Kunstwerke“, zu denen unser Beispiel gehört, liegt es in der Logik der Ästhetik, von der die Kunst in der Moderne beherrscht wird, dass ihre Bedeutung gemeinhin nicht über Bühne und Theater, Präsentation und Inszenierung hinausreicht, unberücksichtigt den Betrieb und das Geschäft mit dem Prestigio, dem Gewinn der zweiten Art, die sich allerdings auf keineswegs der Kunst zuzurechnenden Bühnen wichtig tun – einer Rückkehr zum bloßen Objekt, das seine spezifischen Dingqualitäten verloren hat und deshalb universell getauscht werden kann. Die Rahmenbedingungen des Kunsterlebnisses sind verhandelt; was zählt ist die Illusion, die nicht etwa purer Schein im Sinne eines Irrealen ist, sondern, im Gegenteil, Bewusstsein als Gefühl, das heißt sinnliche Präsenz des Leibes voraussetzt. Dass das Erlebnis des Illusionären an die technisch ökonomische Potenz der Effekte gebunden und somit ihrer wahren Verankerung in der Physis verbunden wäre, mag für die Metaphysik der versammelten Prestigio-Instanzen von Bedeutung sein, die im Ghetto der Kunst Verabredeten wollen davon nichts wissen, halten sich an die Energetik der Gefühlserlebnisse, um sie auszuagieren und zu identifizieren mit einem „Ereignis“, veranlassen so gewisse Bestimmungen und Gewohnheiten in der äußeren Welt. 3. EFFEKTE UND AFFEKTE. INSZENIERUNG UND MAGIE
Momente von Unmittelbarkeit und Dynamik sind im komplexen Zeichenausdruck oder Medium, als das wir den Effekt jetzt betrachten, also nicht auf31
Peirce, Der Kern des Pragmatismus, 1. Auszug, I./II. Fragment, a.a.O., S.268/269.
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 365
gehoben, sondern zugleich wirksam. Wirksam, mit Blick auf die ‚Ansichten‘, welche die triadische Relation des komplexen Ausdrucks sehen lässt, zum einen hinsichtlich des im engeren Sinne Bedeuteten, des „Objekts“, zum anderen hinsichtlich seines materialisierten, phys(ikal)isch gebundenen Zeichenausdrucks, der materialen Basis seiner besonderen medialen Leistungsfähigkeit („Zeichenkörper“ oder „Repräsentamen“), schließlich hinsichtlich des oben stratifizierten „Interpretanten“. Das isolierte Effektobjekt kann, was es aufgrund seiner technisch medialen Ausstattung funktional fertigbringt, zum Ausdruck bringen oder bringen lassen. Seine Selbsttätigkeit ist weniger dadurch begrenzt, dass ihr generell nur begrenzte Äußerungsformen zur Verfügung stünden; viel eher darf man annehmen, schaut man auf die Gründung in der Physis, dass die selbsttätige Äußerung eines technischen Effekts für uns an die Verfügung über passende Schnittstellen gebunden ist. Allererst die sinnliche Ausstattung, sodann die Werkzeuge, Instrumente und Maschinen der Verstärkung und Erweiterung derselben, die allerdings nicht jedem und nicht allerorten zur Verfügung stehen. Dies vorausgesetzt, ist unwahrscheinlich, dass für uns so etwas wie einseitig ausgelöste, geradezu pure Wirkung auch nur auf der elementarsten Ebene einer Objekt-‚Äußerung‘ stattfinden kann, ein Ereignis ohne umgebende Szenerie. Der Interpretant (nicht der Interpret!) ist immer schon bei der Arbeit. Das heißt nicht, dass ein erster Eindruck solcher Effekte auf die Sinne gerade auf dieser elementaren Ebene, wenn nicht gewohnt, immer zu einer Affektion oder Reizung führen kann, die, wie Descartes sagt, zunächst als Überraschung ausfällt. Oder gar mit einer Störung, die „manchmal einem Schock gleichkommt“, wie Peirce immer wieder zu illustrieren sucht. Erst dann, also mit einem unter Umständen kaum messbaren Verzug, geschieht die Bilanzierung auf dem Niveau einer Vorstellung, die Symptom von Gewohnheiten ist. Die Reaktion muss nicht weniger affektiv sein. Ganz im Sinne Kants, der geltend macht, dass die Vorstellung dem „inwendigen Sinn“ entnommen sei, also einer Gefühlslage entspricht. Das heißt, es gibt Affektion, und die Affektion führt durchaus zu weiteren affektiven Reaktionen. Aber die Reaktionen sind zunächst unqualifiziert, müssen erst als Gefühle wahrgenommen, als „Gemütsregungen“ weiter ins Spiel gebracht werden. Sie müssen Anstrengungen provozieren, um zu Änderungen von Gewohnheiten zu führen. Dies geschieht 1. über das gesamte ästhetische Feld – also über alle Varianten sinnlicher Ausdrucksformung, durch all die verschiedenen Membranen zwischen Außen und Innen hindurch (Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen ...) und 2., von hierher sich ausweitend, über alle Varianten der Weiterverarbeitung von „Bedeutung“ oder „Sinn“ im zitierten Peirce’schen Rahmen der Verständnisgewinnung: von den Gefühlsäußerungen über die Energetik der Handlungenkontexte (auch auf dieser Ebene durchaus über die Wissenschaften, zumindest die technischen) bis hin zu den langfristig angelegten intellektuellen Gewohnheitsänderungen, Prozessen des Umdenkens.
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Wenn das Spiel seine eigenen Wirkungen und Einflüsse, die besondere Welt eines Geschehens und Erlebens befördert (Effekte, die wie schon die Leidenschaften des Publikums nicht einfach resultieren, sondern an deren Erzeugung alle beteiligten Kräfte oder Agenzien aktiv arbeiten), dann tut es dies durchaus kraft einzelner Einflüsse und Affektionen durch die äußere Welt. Doch über dem Spiel macht es diese Bindung vergessen. Mit anderen Worten: Miterlebende und Mitakteure verarbeiten solche Einzelausdrücke zwar in physi(ologi)schen Zusammenhängen, doch um zu eigenen Ausdrucksformen, Gewohnheiten und Gewohnheitsänderungen überzuwechseln oder darin fortfahren zu können. So müssen sie sich nicht als reflexhafte Reaktion auf eine Affizierung durch einen Effekt verstehen. Vielmehr erleben sie ihn als eine, unter Umständen unglaubliche Geschichte, zu der sie fühlend, handelnd und denkend beitragen. Das neuzeitliche Modell der Gewissheitsversicherung, das dazu führt, vornehmlich die Interaktion eines isolierten Subjekts mit dem durch seine Konstitution mit konstituierten Objekt zu bestimmen, samt der darin unterstellten kausalen Wirksamkeiten, führt von daher in die Irre. In seinen Grenzen zu denken, heißt immer wieder die Ursprungskonstellation, die Gründung des Subjekts wiederholen zu lassen. Denn auch wenn die Zuerkennung von Bedeutung generell die Form eines Experimentierens in der inneren Welt annimmt, ändert dies nichts daran, dass noch die „vollkommenste durch Worte vermittelbare Erklärung eines Begriffs in einer Beschreibung der Gewohnheit bestehen [wird – HW], die dieser Begriff zu erzeugen gedacht ist“.32 Das Peirce’sche Kommunikations- und Bedeutungsmodell bestimmt deshalb die Instanz des Interpretanten nicht als Subjekt, viel eher als Gemeinschaft, als Gemeinschaft potentieller Interpreten. Das heißt, dass an der Bedeutung, der Effektivität der Effekte in einem bestimmten Szenario, nur mitgearbeitet werden kann. Das heißt auch, dass jede einzelne Szenifikation in der Auseinandersetzung mit einem existierenden Szenischen stattfindet. Welche Formen der Inszenierung damit verbunden und welcher Szenografie die möglicherweise verpflichtet sind, steht auf einem anderen Blatt. Angewendet auf die dramatischen Vorführungen der Priest’schen Magier, wären die Instanzen des Peirce’schen Interpretanten, deren Abbildung auf die Arbeitsweise des Effekts dessen Objektcharakteristik zu erhellen vermochte, am Prozess der magischen Prozedur selbst ebenso zu realisieren. Die Triade von Pledge, Turn und Prestigio bezeichnet nur unterschiedliche Instanzen des Effekts, der – in deutscher Übersetzung als „Effekt“ – zunächst lediglich das Verschwinden des Vorgezeigten, die schlagartige Veränderung (turn) der Wahrnehmbarkeit, anzeigt, auf die das Verpfändete (pledge) verpflichtet ist. Das entspricht der Pointierung der Objektinstanz gegenüber dem Repräsentamen, während der 32
Ebd., S.266/267.
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 367
Prestigio im Einzelfall tatsächlich den Gewinn einer konkreten Zusammenführung von Pledge und Turn charakterisiert, also eine bestimmte Bedeutung des Effekts manifestiert. Doch geht es beim Prestigio des erweiterten Effektbegriffs wie bei den Varianten der Interpretanten-Instanz nicht um das Image eines einzelnen ‚Zauberers‘, sondern um die Magie des Sinns, an dem im Gesamt des Szenischen gearbeitet wird. Dem Prestige des Illusionisten kann der Prestigio seiner Zuschauer alles andere als egal sein. Ob sie und er in dieser Beziehung auf ihre Kosten kommen, ist keineswegs ausgemacht, sondern Inhalt des gemeinsamen Spiels. Die Ernsthaftigkeit, mit der es nichtsdestotrotz betrieben wird, soll und muss das Ding belegen, das verpfändet wird – wie der Zeichenkörper die Bindung der Kommunikation an Welt und Erde verbürgt. Da es entweder der Physis unmittelbar zugehört (der lebendige Vogel, der Körper der Magier, die wirklichen Zuschauer) oder zu den ihren Gesetzen gehorchenden Sachverhalten oder Dingen, an denen gerade die Tatsache des natürlich Waltenden das Unterpfand darstellt, oder zu den mimetisch technischen Reproduktionen solcher Entitäten, in jedem Fall stiftet das so zum Vorschein Gebrachte auf diese Weise die Möglichkeiten zur Erweiterung der Erfahrung, zur Gewohnheitsveränderung durch neue überraschende Wendungen des Objekts, das Priest als turn („Effekt“) instantiiert. Das Objekt ist das, was sich unter dem Einfluss des Prestigio vom Verpfändeten seines bisherigen Zeichenkörpers wegdreht, verschwindet, um unter Umständen in neuer Gestalt, trotzdem täuschend ähnlich, wenn nicht als „dasselbe“, wiederzukehren. Dies liegt zuallererst, so die Inszenierungen von Priest und Nolan, an seiner Natur, mit der man nicht machen kann, was man will. „Diese Dinge funktionieren selten so, wie man sie erwartet. Das macht die Wissenschaft so außerordentlich faszinierend.“
Rupert Angier besucht Tesla, der mit seinen Versuchen zur Elektrifizierung beschäftigt ist, in seinen Labors, um ihn um die Konstruktion der beschriebenen Teleportationsmaschine zu bitten. Tesla willigt ein, erlauben ihm doch gerade solche Aufträge, die theoretisch experimentellen Forschungen, an denen ihm, wie er betont, einzig wirklich gelegen ist, durchzuführen. (Abgesehen von den enormen Summen, die er fordert.) Bevor Angier ihn genauer informieren kann, dass er selbst sich übertragen lassen will, geht Tesla davon aus, dass die Teleportation anorganischer Substanzen, jedenfalls nichts Lebendigen, gewünscht sei. Grundsätzlich aber empfindet der Forscher den Auftrag keineswegs als abwegig, denn die Materie-Energie-Gleichungen sind ihm bekannt. Entsprechend bereitet er seine Experimente vor. Bei Priest ist es ein Eisenstab, bei Nolan, der diese Szene intensiviert, ist es der Zylinder des Auftraggebers, der als Erstes in den Apparat gesteckt wird, um an einen anderen Ort ‚gebeamt‘ zu werden. Keiner der Beteiligten weiß, ob der Transfer gelingt. Notwendige Berechnungen sind zwar angestellt, die Maschine funktioniert auch, aber nicht wie gewünscht. Weder Eisenstab noch Zylinder verlassen ihren Platz, bleiben als Pfand ihrer selbst da, wo sie hingelegt wurden, für jedermann sichtbar. Bei Priest verlässt der enttäuschte Magier den Wissenschaftler und seinen Assistenten,
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Abb.6 Science I, Inszenierung des Wechselstroms, TeslaPräsentation auf der Weltausstellung 1900 (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Nikola Tesla, David Bowie, IMDb).
findet aber durch Zufall auf dem Weg zurück einen Eisenstab, von dem sich herausstellt, dass er mit dem von Tesla verwendeten völlig identisch ist. Nolan inszeniert den missglückten Transport dramatischer. Die bisherigen Versuche waren erfolglos, verliefen nicht wie erhofft. „Weil die exakte Wissenschaft keine exakte Wissenschaft ist. Der Apparat arbeitet nicht so, wie wir erwartet haben.“ Tesla verspricht, Abhilfe zu schaffen. Er will es „mit anderem Material versuchen“ und fängt gleich damit an. Anders als in der Buchfassung kommt er selbst auf den Gedanken, Lebendiges zu teleportieren. Für den neuerlichen Turn holt er sich „Kopernikus“ (!), den Kater seines Gehilfen. Doch wieder gibt’s keinen Transport. Die Katze sitzt, wo Tesla sie hingesetzt hat. Der von seinem Experiment enttäuschte Forscher reicht seinem Besucher den Hut und verabschiedet ihn. Draußen auf dem Hang vor dem Forschungsgelände hört Angier das Fauchen des Katers, der offenbar schon das Weite gesucht hatte. Der Künstler folgt dem Geräusch und findet ein kaum überschaubares Feld voller Zylinder. Tesla, der dazu kommt, vermisst die Hüte und stellt fest, dass sie vom Zylinder Angiers nicht zu unterscheiden sind. „Es hat also doch funktioniert“, stellt der Wissenschaftler erstaunlicherweise fest, und erläutert was er meint: „Diese Dinge funktionieren selten so, wie man sie erwartet. Das macht die Wissenschaft so außerordentlich faszinierend.“33 Tesla ist nun guten Mutes, in überschaubarer Zeit mit dem Problem der ihm gestellten Aufgabe fertig zu werden. „Vergessen Sie ihren Hut nicht“, verabschiedet er Angier ein zweites Mal. „Welcher ist denn meiner?“ fragt der zurück. Man kennt schon die Antwort: „Es sind alle Ihre, Mr. Angier“, erklärt Tesla. In Priests Roman gibt es eine weitere Szene, in der die Offenheit des Interpretanten, des finalen Prestigio sozusagen, inszeniert wird. Auch hier unter Bedingungen der Erwartung, die ja nicht zu den Charakteristika der schlussfolgernden Bedeutungsgewinnung im Sinne des finalen Interpretanten gehört und insofern in der Gegenwärtigkeit der Handlung zu sehen ist. Da Priests Regie will, dass wir von Angiers Vorbereitungsphase auf seine Vorstellungen mit dem Tesla-Apparat nur über sein geheimes Tagebuch wissen, und der Magier das Geheimnis von Schnell wie der Blitz auch dort nur verschleiert zum Besten gibt, muss das Bild des Geschehens aus einzelnen Stücken zusammengesetzt werden, verbleibt aber auch dann im Ungefähren. Jedenfalls will der Künstler den Apparat testen, vor 33
Diese und die folgenden Zitate aus Nolans Prestige-Film gemäß der deutschen Dialogregie.
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Abb.7 Science II, „Diese Dinge funktionieren selten so, wie man sie erwartet“ (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, IMDb).
allem seine Befindlichkeit bei der Zerlegung und Wiederzusammensetzung seiner Zellen. Zwei Randbedingungen muss Angier dabei garantieren. Erstens muss er damit rechnen – „die exakte Wissenschaft ist keine exakte Wissenschaft“ –, dass sein atomisiertes Ich den Transport nicht unbeschadet überlebt, möglicherweise nicht vollständig rekombiniert wird. Zweitens darf er bei möglichen Unfällen nicht wegen fehlerhafter PrestigioVorbereitungen in der Umgebung seines Wohnsitzes auffällig werden. Versuchsweise tut sich auch an dieser Stelle des Romans, ähnlich wie in der Zylinderszene auf Teslas Versuchsgelände, eine Mannigfaltigkeit möglicher Szenifikationen in Gestalt einer Szenifikation der Mannigfaltigkeit auf. Erst später dann, fortgeschritten in der Erzählzeit, werden zunächst zwei der möglichen Ereignisse tatsächlich herausgegriffen: In der Fiktion der Geschichte sind es die noch unvollständigen, zukünftigen Hüllen des Verpfändeten, die sich zu dieser oder jener Gestalt entwickeln, die, soweit der turn aber zu solch’ neuen Ereignissen führt, einzigartig sein werden. Denn das ist es, was wir unter „Ereignis“ verstehen. Ähnliches finden wir dann in den einzelnen Prestigio-Vorbereitungen des Künstlers. Was Tesla als Wissenschaftler fasziniert, kann auf diese Weise kein Effekt der Darbietung vor Publikum sein. Teslas Wahrscheinlichkeitsfeld, dessen Dimensionen er gar nicht genau kennt, sind Angiers Effekte als Ereignisse. Er muss die wissenschaftliche Prognose, möglicherweise auch die Unschärfen der ihr folgenden technischen Installationen in der Praxis rationalisieren und operationalisieren. Indiziert Teslas Zylinderfeld die prinzipielle Offenheit zukünftiger Effekte des Bedeutens, so Angiers Auftritte die Notwendigkeit zur sukzessiver Abarbeitung dieses Programms, das trotz gut konzipierter Szenografien und Inszenierungen zur Szenifikation positiver wie negativer Prestigios führen kann, zu stimmigen wie unstimmigen Schlussfolgerungen. Selbst in einem Zustand zwischen Erde und Welt – die Technik bestätigt, dass auch sie nicht unbedingt eine exakte Disziplin ist –, findet Angier die Reste seiner ersten Transportationsversuche, in denen eine vollständige Wiederherstellung nicht zu Ende gebracht werden konnte. Dem eigenen Körper geht, was da schon transmittiert wurde, offenbar ab; er überlebt nur knapp. „Zweimal war ich gestorben, ein lebender Toter geworden, eine verdammte Seele.“34 Das Prestigio-Material, die verunglückten Clone – „Erinnerungsstücke an das, was ich getan habe“ (ebd.) –, schafft Angier später mit Hilfe eines Vertrauten fort und bestattet alles zusammen in der Familiengruft. 34
Priest, Prestige, a.a.O., S.361.
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Die Symptombildung auf Grundlage von Gewohnheiten überlagert die uninszenierte Realität einer Unzahl von causae efficientes. Obwohl die ‚Reaktion‘, die Empfängnis der Zuhörer, Zuschauer, Besucher ... im konkreten Fall durchaus von einer sehr spezifischen technischen Leistung im Ensemble des Gesamteffekts ganz besonders zur Vorstellungsbildung und ihr folgenden Empfindungen, Gemütsbewegungen, Leidenschaften, schließlich Einstellungen und Meinungen herausgefordert sein könnte, wird sie dissimuliert. Reiz wie Reaktion werden selektiert und ‚eingebaut‘. Szenografen legen es darauf an, dass das passiert, und versuchen die Selektion zu steuern. Kein Magier kann eine Aneinanderreihung von Tricks, eine Folge von Zauberkunststücken als Magie verkaufen. Das Publikum wird höflich klatschen, das war’s. Die Gestalten und Stimmen der technischen Helfer müssen unterschwellig, sollen unbewusst bleiben – wobei noch vorderhand unentschieden ist, welcher Art das Unbewusste ist; die Erzeugung einer Illusion ist alles. Die technischen Effekte gehen auf und unter im Ganzen einer Wirkung, die derart, als neue Qualität eines bedeutenden Effekts – einer Verwendung des Begriffs in bisher nicht oder ungewohnter Weise –, trotzdem vollständig bei dem Wirkung zeigenden Wahrnehmungsapparat zu liegen scheint, der diese Vorstellung erzeugt, diese Verwendungsweise berechtigt erscheinen lässt. Wohl bedient sich die Wahrnehmung bei den Vorstellungen des „inwendigen Sinns“, der als Verarbeitungsinstanz der Eindrücke in die Pflicht genommen wird, der die korrespondierenden Gefühle aber ebenso an die Bestimmungen und Gewohnheiten der äußeren Welt, an ihre Szenen, anschließt. Was indes wiederum, soweit damit der Anspruch auf eine Schlussfolgerung formuliert ist, wir erinnern (Zitat Peirce s.o.), auf eine „Beschreibung der Gewohnheit“ verweist, die etwas in dieser Art Begriffenes „zu erzeugen gedacht ist“. Wirkliches bestimmen in diesem Sinne ist „von seinem Wesen her Darstellung [...]; ein Element der Drittheit“.35 „ ‚Drittheit‘ oder der geistige oder quasi geistige Einfluß eines Gegenstandes auf einen anderen relativ zu einem dritten.“36 Das ist die Wirkung der Semiose, was in unserem Zusammenhang soviel bedeutet wie die Funktionslogik des Effekts. Daran zu erinnern heißt, dass die Darstellung einerseits lebendige Konklusion ist, sich andererseits als solche dessen keineswegs immer bewusst ist und nur in der selbst bestimmten Reflexion von Übergängen, szenischen Anschlüssen, auf der Höhe der „Realität“. (Im Sinne intersubjektiv wirksamer, sozusagen perspektivischer Entelechien.) 35
„Ein Wirkliches nämlich, das von seinem Wesen her eine Darstellung ist – oder „Element der Drittheit“ – ist dies deshalb, „weil ein Repräsentamen (oder repräsentierendes Objekt) als etwas definiert werden kann, dessen Sein darin besteht, dass es eine Relation zu einem Zweiten besitzt, sein dargestelltes Objekt, so es ein Drittes bestimmt, seine Interpretanten-Darstellung, in derselben Relation zu jenem Zweiten zu stehen.“ Charles Sanders Peirce: Kategoriale Strukturen und graphische Logik (H): Logischer Traktat 2, MS 492, 1903, in: Semiotische Schriften 2, a.a.O., S.112; Hervorh. C.S.P. 36 Peirce, Der Kern des Pragmatismus, 2. Auszug: III. Fragment, a.a.O., S.282/283.
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Aristotelisch würde man statt von der Darstellung vom mythos sprechen37, mit Heidegger von der Dichtung, von der es in Der Ursprung des Kunstwerks emphatisch heißt, dass sie das Medium des „lichtende[n] Entwerfens von Wahrheit“ sei.38 Bei beiden Denkern ist Darstellung mithin nicht „Text“, sondern gelebte, szenische verfasste Sage oder – umgekehrt – dichtende und sagende Szene. Es dürfte zuviel gewagt sein, für die Erlebnisqualität individueller Szenifikation die summierten Erfahrungen eines Subjekts im Umgang mit dem finalen Interpretanten in Anschlag bringen zu wollen, womöglich daraus eine Ontologie des finalen Realismus oder Objektivismus abzuziehen. Wobei doch auch solche Praxis keine Allgemeinheit im Blick auf Konditionalität und Universalität (verallgemeinerte futurische Zeitform) verbürgen würde. Allemal würde sie die Figur des Szenischen hinsichtlich seiner Szenifikationen übersteigen. Von daher ist es nicht unangebracht, die inszenierende Praxis, die sich szenifikatorisch und szenisch erfüllt, mit einer Darstellung zu identifizieren, „Darstellung“, so wie man von Darstellern spricht, Darstellern einer Aufführung, wie sie beispielhaft Priest oder Nolan dramatisieren. Solche Darstellung ist, wie gesagt, Story und Performance, aber in gewisser Weise auch kultischer Vollzug. Der Entwurf der Dichtung entwirft die Welt, in der sie lebt. Und sie tut es, nochmal mit Heidegger, aus der Erde heraus. Situationsgerechtes Agieren gehört zu dieser Art Spiel, womöglich das ausgreifende Schlussfolgern, durchaus aber auch die leibhafte Symptombildung, dies alles mittels Gefühlen und Leidenschaften, Bewusstsein und Gewohnheiten, Bewusstseins- und Gewohnheitsveränderungen. Das Fiktive einer so beschriebenen Szenifikation besteht darin, dass sie das Ganze der Ereignisse als gegenwärtig ganze Realität beansprucht, womöglich noch ohne auf die gleichzeitigen szenischen ‚Gegebenheiten‘ achtzugeben. Der Zuschauer ist nur Auge. Das ist der Moment eines Gewinns des Prestigio. Doch wie die Geschichten über die Meister der Magie erzählen, heißt „Gewinn“ nicht, dass deshalb alles zum Besten laufen muss. Die Positivität ist formaler Natur. Sie bezeichnet den Moment, in dem die Szene, die aus der Realisierung der Szenografie hervortaucht, für einen Augenblick vollständig erscheint, Szenifikation und Szene versöhnt scheinen, jedenfalls soweit sie das Hinsichtliche ausmachen. Das schon 37 Klein geschrieben, um anzuzeigen, dass die moderne Verwendung des Wortes ‚Mythos‘, vergleich-
bar der ‚Sage‘, für die Ähnliches gilt bei Heidegger, nicht gemeint ist, stattdessen die sich selbst und die Geschichte gründende Erzählung, an der weiter gesagt werden will. Bei Heidegger übernimmt vergleichbare Funktionen mit Bezug insbesondere auf Hölderlin die Kategorie der „Dichtung“. Siehe Aristoteles: Poetik, 1435b2. Es würde allerdings eine genaue Untersuchung der Poetik notwendig machen, darzustellen, wie er das Verhältnis von mythos und opsis (Szenografie / prestigio) letztlich beurteilt. Vgl. Jean Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Kap. 2, Stuttgart 1982, S.93-148. 38 Siehe Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Holzwege. Frankfurt am Main (5. Aufl.) 1972, S.60.
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Abb.8 „Are you watching closely?“ (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, IMDb).
Verschwundengeglaubte scheint tatsächlich wieder aufgetaucht, auch wenn jeder weiß, dass, was sich nun zeigt, ein zweites Mal vorgezeigt wird, dem ursprünglich Vorgezeigten und Verpfändeten bestenfalls ähnlich ist. ‚Ähnlichkeit‘ zielt zweifellos bei erster Überlegung auf Ikonizität, aufs Bilder denkende Vergleichen. Ebenso unzweifelhaft aber wird sich das Wiedergewonnene in allen Varianten der Zeichenhaftigkeit melden und melden können, in jeder Art Effekt, auch denen, die nicht über Ähnlichkeit prozedieren. Doch pflegt die Bildproduktion ein intimes Verhältnis zur Erzeugung von Passionen. Im Modus der Bildähnlichkeit passiert die Beschwörung des Erhalts besonders überzeugt. Der Prestigio des Magiers liefert das Material. Was ihm selbst als „Abbild“, „Doppelgänger“, „Ebenbild“, „Kopie“ (Priest) begegnet, sollte er einen technischen Fehler begehen, und koexistierend an den Rand des Todes oder darüber hinaus bringen kann, inszeniert er als Wiedererscheinen, Wiederauferstehung des – verschwundenen, gestorbenen – Ursprünglichen, dessen Lebenskraft gerade durch seine energetische Ladung und die Kraft zur Übertragung bewiesen ist. Die Einladung zur Ästhetisierung von Kunst und Gestaltung, der Effekte, die der Prestigio ausspricht, wird angenommen. Ästhetisierung in einem solchen Zusammenhang heißt, dass „das Scheinendste des Scheinenden“ (das ekphanéstaton) als das Wesentliche des Wirkenden ‚betrachtet‘ wird. ‚Betrachtung‘ allerdings meint nicht schlicht ein Sehen, sondern ein die Wahrnehmung bestimmendes ‚sehendes‘ Fühlen. – Dass allein damit schon die Kunst unter eine „Ästhetik des Schönen“ subsumiert wäre39, ist nicht gesagt. In eben der gleichen Weise könnte das Scheinendste die Projektion ganz unschöner Gefühle mit sich bringen. Wenn man allerdings unter 39
Siehe Heidegger, Ursprung des Kunstwerkes, a.a.O. Was natürlich nicht heißt, dass auf diese Weise und bei einer Konzentration auf die angenehmen Gefühle bei der Projektion des optischen Bildes in die Befindlichkeit des Leibes und der Sinne, die darauf antwortet, nicht eine „Ästhetik des Schönen“ resultieren mag.
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„Schönem“ nicht das schöne Kunstwerk, die schöne Gestalt versteht, scheint diese Differenzierung ohnehin in den Hintergrund zu treten. Wichtiger wäre das gefühlte Erleben der Positivität des (Wieder-)Erscheinenden überhaupt, das Erleben des Prestigio als Image und Gewinn, nicht nur für den, der es zu erzeugen vermag, sondern auch für die, die daran Anteil haben. Der Prestigio mag Trick sein – wer will entscheiden, warum der betörende Glanz des Hervorstrahlenden nicht bloßer Beleuchtungseffekt ist –, die ‚schönen‘ Gefühle sind echt. Ein Zauber. Die magische Szenifikation, der es darum zu tun ist, dass es allen, die die Aufführung miterleben, leicht fällt, das dem Ursprünglichen Ähnliche für dasselbe zu erachten, tut ihren Dienst. Aber das kann sie nicht ohne die Mithilfe derer, die sich in die Entfaltung der Szene hineinziehen lassen. Die ‚Ähnlichkeit‘ des Wiedererscheinenden mit dem Ursprünglichen ist auch, vielleicht in der Hauptsache, ihr Werk. Die Möglichkeiten längerfristiger Verhaltensänderung, die Chancen auf Schlussfolgerung, die damit gegeben sein könnten, kommen nicht zum Zuge. Die frische Szenifikation im Sinne der aktuellen Szenografie von turn und prestigio fordert das emotional und energetisch handelnde Bedeutenlassen, das aufs Erleben konzentriert agiert und wenig Platz hat für tieferes und anhaltenderes Besinnen.
Abb.9 VFX The Abyss (James Cameron 1989, VFX ILM).
Schließlich ist das bisherige Geschehen beängstigend genug. Das Vorgezeigte, gemeinhin nur im freundlichen Ambiente künstlerischer Darstellung ‚verpfändet‘, ist verschwunden, womöglich für immer. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass der technische Effekt für sich, das erste Moment der Triade, seine Wirksamkeit auf gegenteilige Weise zu sichern sucht: Er simuliert dauernde Anwesenheit. Beispielsweise funktionieren alle spektakulären filmischen Effekte digitaler Machart (VFX) mittels dieser Vorgehensweise, insbesondere alle Morphing Effects.
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Hier muss sich der einzelne technische Effekt den elementaren Techniken des Mediums unterwerfen und deren Effektivität, soweit sie selbstverständlich geworden ist, wie die Schnitttechnik, überkompensieren. Der Basiseffekt, noch bei frühen Trickfilmen durchaus beeindruckend, wird jetzt überlagert von einem Veränderungseffekt, der gerade die völlige Veränderung der Ausgangslage zum Ziel seines Prestigio hat. Glaubwürdigkeit und entsprechende Affekte werden hier damit erzeugt, dass der Zuschauer die Verwandlung von Anfang bis Ende miterleben kann. Ohne Schnitt. Sich zu ängstigen, wäre natürlich ebenfalls angebracht, schließlich muss es doch beunruhigen, dass Dr. Jekyll verschwunden ist und möglicherweise nur noch Mr. Hyde von ihm übrig bleibt, selbst wenn wir den Verwandlungsprozess beobachten können. Bei genauerer Überlegung liegt der umgekehrte Fall nicht weniger problematisch. Unsere Freude über die Verwandlung von Mr. Hyde in Dr. Jekyll würde aufgrund der energetischen Leistung des (technischen) Effekts, die im Prestigio in ihren Auswirkungen zum Ausdruck kommt, berechtigte Zweifel daran wecken, dass die Rückverwandlung oder Wiederkehr des Schrecklichen ausgeschlossen sei. Das genau ist Angiers Angst angesichts der Zerrissenheit seiner Prestigios für den Fall, dass die Technik nicht hundertprozentig verlässlich arbeitet. Der eine am Ort, der andere in einer Heterotopie. Die Kunst, verschwinden zu machen, ist durchaus eine Qualität auch der überhaupt nicht spektakulär wirkenden technischen Effekte, deren Funktionieren aufgrund von Gewohnheit uns vollkommen natürlich erscheint. Verschwindenmachen ist dabei weniger der Effekt des Effekts, die (Ab-)Wendung, die durch erneute Zuwendung spektakulär geheilt wird, sondern schlicht der technische Effekt. Schließlich könnte man auf den Gedanken kommen, dass es doch durchaus eine Inszenierung wert wäre, Texte, Bilder, Töne in eine Black Box zu packen, zu zerhacken wie die zerteilte Jungfrau und in Bruchteilen von Sekunden auf der anderen Seite des Globus wieder in Szene zu setzen. Doch gibt es offenbar kaum Beifall für den Mailserver oder die Live-Übertragung als solche. Die Szenifikation hat gewöhnlich jedenfalls völlig andere Ambitionen, ist an ganz anderer Stelle gefragt, wenn überhaupt, jedenfalls nicht bei der Technik. Nichtsdestotrotz mag man sich fragen, was passiert bis zum Wiederauftauchen der Botschaften. Wo waren sie? Und in der Tat fehlt ja auch nicht selten wirklich ein Teil, der nie mehr wiedergefunden wird und von dem niemand weiß, wo man überhaupt suchen sollte. Lost in Translation. Soll der technische Effekt dagegen von seinen Qualitäten nivellierenden oder löschenden Fähigkeiten ablenken wollen40, muss ihm, ähnlich wie im Beispiel der auf die Schnittechnik aufgesetz40
Was, wie gesagt, in vielen Fällen keineswegs mit seiner Effektivität verbunden wird, die gerade dahingehend konzipiert ist, dass der Effekt „Störungen“ beseitigt, ohne überhaupt als solcher und selbst aufzutreten. So zum Beispiel die „unsichtbaren“ oder „negativen“ Effekte unter den VFXAnwendungen, wie oben beschrieben.
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ten Morphtechnologie, ein hyperkompensierender Effekt, sozusagen ein technisches Prestigio beigemischt werden, dessen Wirkungen allerdings nicht selten zweifelhaft bleiben. Trotzdem müssen einige Erfinder und Marketingspezialisten davon überzeugt gewesen sein, dass es für die meisten Kunden weit bedrohlicher sein könnte, in der Warteschleife einer Telefonanlage vergessen worden zu sein, als sich an fröhlichen Melodien oder ebenso nie enden wollenden automatischen Ansagen der eigentlichen Präsenz des Gesprächspartners, wie der eigenen offenbar, zu versichern. Die Angst, von der die Phase der Latenz des turns begleitet ist und die der Einsicht Raum zu geben droht, dass, was der Effekt verschwinden macht, endgültig verschwunden sein könnte, darf jedenfalls der Erleichterung weichen, dass sie unbegründet war, wenn es einen glücklichen Prestigio gibt, ob via Ähnlichkeit oder über andere Identifikationsmarker angezeigt. Doch die Bannung ist labil. Man weiß, dass es bloß Kunststücke sind, die das zustande bringen. Insbesondere, wenn man unter dem ‚Kunststück‘ versteht, dass man selbst dazu beigetragen hat, indem man sich als Instanz des emotionalen und energetischen Interpretanten betätigte. So lauert das Unheimliche; und das Schaudern ist nicht weit.41 Trotz der magischen Betäubung sind sie nur schwer zum Verschwinden zu bringen. Denn was hier (wieder) auftaucht, ist kein zum Identischen kondensiertes „Ähnliches“, gleichviel ob ikonisch, indexikalisch oder symbolisch42, sondern das Wissen um die ultimative Transformation eines Selben in ein völlig Anderes, von der die Leere im Augenblick des turns eine Ahnung vermittelt. Wäre es so, dass die Energie eines Effekts, der mit dem Versprechen verpfändet wird, dass sich diese Energie zumindest nicht im Laufe der anstehenden Szenifikation erschöpfen werde, tatsächlich nur noch für eine letzte Transformation in vorgezeigter Gestalt ausreichte – was auch immer danach aus ihr werden würde –, kein positiver Prestigio dieser Welt könnte an diesem Ende etwas drehen. Angiers Schicksal erzählt es ebenso wie das Bordens. Gewisserweise handelt es sich beim Fiktiven der Szenifikation um eine bedingte Fiktion: eine Fiktion unter den Bedingungen des Fühlens und des Wollens.43 Peirce spricht angesichts dieser Art bedingter Fiktion von einer 41 Die neuerdings sich durchsetzenden Übersetzung der beiden zentralen Begriffe der Aristotelischen
Poetik: Schaudern und Jammer statt Furcht und Mitleid. 42 Was bedeutet, dass „Ähnlichkeit“ von Transformationsregeln abhängt und nicht auf einfache Bild-
ähnlichkeit reduziert werden kann – was dann auch von der Peirce’schen Ikonizität gilt. Vergleiche den Heidegger’schen Bildbegriff, dem ebenfalls kein Gattungsbegriff, etwa der ‚Visuellen Künste‘, oder Ähnliches entspricht. Siehe Heiner Wilharm: Weltbild und Ursprung. Für eine Wiederbelebung der Künste des öffentlichen Raums. Zu Heideggers Bildauffassung der 30er Jahre. In: Bild und Moderne, hgg. von Martin Scholz und Klaus Sachs Hombach (IMAGE, Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Themenheft Frühjahr 2013). 43 Vgl. Martin Heidegger: Nietzsche. Erster Band, Pfullingen (3. Aufl.) 1961, Kap. Der Wille zur Macht als Kunst.
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„Tatsache des Wollens“.44 Ihre Tatsächlichkeit wird von der Gegenwart der Szenifikation beglaubigt. Sie beglaubigt den „Willen zur Macht“, das Leben und weitere Erleben des Subjekts, für das sich das Individuum hält. Das die Gegenwart überschreitende, stets ‚gegeben‘ Szenische formuliert dagegen die tatsächlichen Bedingungen und assimiliert sich den weniger dem Erleben zugewendeten Gewohnheiten, eventuell Gewohnheitsveränderungen. Das Erleben will auf keinen Fall auf halber Strecke, bei unerfüllten Vorstellungen, im Zustand der Dissimulation verharren. Im Gegenteil wird sich die bedingte Fiktion im Zweifelsfall zu einer unbedingten, zu einer kompletten Fiktion ausweiten wollen. Dazu animieren vorzugsweise die Umdeutung von Ereignis zu Erlebnis und die damit verbundene Idee wissenschaftlich technologischen Vermögens – machbarer Möglichkeiten, sozusagen, welche die Totalisierung fordern und sich als Notwendigkeiten des Überlebens aufdonnern.45 Die Konzentration auf das Erlebnis setzt voraus, dass der Effekt seine Wirkung „dem Erleben zugekehrt“ hat, wie es die Effekte, die Werke von Kunst und Gestaltung, ihrer Inszenierungen und Szenografien notorisch mit sich bringen, zumindest in der Moderne und insbesondere unter Bedingungen einer sich totalisierenden Technik und industriellen Medialisierung. Effekt heißt, „Erlebniserreger“ (Heidegger) zu sein, von einem Effekt zum nächsten navigieren zu lassen, wobei der Effekt als (technischer) Gegenstand hier unmittelbar mit dem Effekt des einzelnen Prestiges kurzgeschlossen wird. Der eigentliche Mittelpunkt des Effekts als sich verändernde Gleichzeitigkeit des Ganzen des Objekts, turn in the long run, erscheint dagegen völlig unterbelichtet.46 Die unterstellte Möglichkeit, die isolierten Kräfte der Realität, vorzüglich die der Natur, zu manipulieren und zu beherrschen, privilegiert die Vorstellung, dass die Herrschaft der Szenifikation von vergleichbar allgemeiner Geltung geraten könnte. Auch wenn im Augenblick das Unerklärliche begeistert, die Magie der Fiktion orientiert sich an der wahren Magie der Wissenschaft, die schließlich ihrerseits einem gewaltigen Mimesis-Unternehmen huldigt. Doch dissimuliert die Magie das Erklärbare des Natürlichen, das am Ende eines langen Wegs des Forschens, Probierens und Beschreibens steht. Sie beruft sich allein auf den poetischen Effekt der Natur wie den nachahmenden Gestus der Wissenschaft. Der Grund ist, sich in einer zeremoniellen Szenifikation von der eigenen Inszenierung – und damit der Zauber44 Fiktionen gehören zu den Tatsachen, „Tatsachen des Wollens“. „Reale Tatsachen unterteilen sich [...]
nicht lediglich materiell oder gemäß der Materie, auf die sie sich beziehen, sondern formal oder nach ihrer Natur als Tatsachen in harte [d.i. physikalische – HW] Tatsachen, die nicht direkt kontrollierbar sind, und Tatsachen des Wollens, die das sind, was wir ‚frei‘ nennen, womit gemeint ist, dass sie durch die Kraft der Selbstkontrolle direkt kontrollierbar sind. Harte Tatsachen sind wiederum teilbar in externe, reale Dinge sowie Tatsachen der Wahrnehmungen.“ Charles S. Peirce: Lowell-Lecture 1903, 10 in: Semiotische Schriften, hgg. und übersetzt von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986-1992, Bd. 2, S.151-154. 45 Vgl. Martin Heidegger: Zeit des Weltbildes. In: Holzwege, a.a.O. 46 Heidegger, Nietzsche I, a.a.O., S.105/103.
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kunst – zu distanzieren. Von der Inszenierung und der Inszeniertheit der Wahrheit, die sie zweifelhaft erscheinen lassen muss, die aber, so der Glaube, wenn sie als Schock der Evidenz daherkommt, wie der der Natur, der Wissenschaft selbst, das Deutungsangebot unablehnbar macht, ja die Distanz eines Angebots zur Deutung gar nicht aufkommen lässt, sondern unmittelbare Wirkung zeitigt, auf Leib- und Sinnenebene eine Feier der Gemeinschaft47 anstimmt. Das „allergrößte Wunder – [...] menschliche[r] Geist und menschliche[r| Leib.“
Ohne den Auftritt des Tesla-Apparats, einer in der Fiktion tatsächlich funktionierenden wissenschaftlichen Versuchsanordnung, würde die Dramaturgie Priests oder Nolans aus der Spannung zwischen Zauberkunst und Magie keinen Gewinn ziehen können. Angiers Performance, in der die physikalischen Wirkungen und ihre Beherrschung durch die Wissenschaft bewusst und ausdrücklich inszeniert werden, gibt Auskunft darüber. (Es ist der Bericht Bordens, der sie erlebt hat als Zuschauer. In Angiers Tagebuch steht nichts dergleichen Emphatisches, allerdings begründet er die Strategie.) Der Magier, habe Angier erklärt, heißt es bei Borden, gehört zu denen, die es vermögen, „mit Geist und Leib“ Wunder zu bewirken. Während das neue Jahrhundert voranschreitet, sehen wir fast täglich um uns herum neue Wunder der Wissenschaft entstehen. Welche dieser Wunder werden wohl am Ende des Jahrhunderts allgemein verbreitet sein? Nur wenige von uns, die wir heute Abend hier versammelt sind, werden es erfahren. Vielleicht werden die Menschen fliegen, vielleicht über die Kontinente hinweg miteinander sprechen, vielleicht am Firmament dahineilen. Doch kein Wunder, das die Wissenschaft hervorbringen kann, ist vergleichbar mit dem allergrößten Wunder – dem menschlichen Geist und dem menschlichen Leib. Heute Abend, meine Damen und Herren, werde ich ein magisches Meisterstück vollbringen, das die Wunder der Wissenschaft und die Wunder des menschlichen Geistes zusammenführt. Kein anderer Bühnenkünstler auf der Welt kann wiederholen, was Sie jetzt gleich mit eigenen Augen sehen werden.48
Unbescheidenerweise versagt es sich der Meistermagier, darauf hinzuweisen, dass dies sogar für ihn selbst gilt.
Angier nimmt für sich die Zusammenführung beider Arten von Wundern, der wissenschaftlichen und der künstlerischen, in Anspruch. „Zusammenführen“ aber heißt tatsächlich, die Wissenschaft durch die Kunst zu überbieten, heißt, sie qua Inszenierung auszulassen und die Illusion zu erzeugen, dass man sich unmittelbar, ohne Umweg, an das mimetische Geschäft selbst, an die Nachahmung der Natur begeben könne. Wissenschaft wäre nur eine Variante dieser Nachahmung, freilich ebenfalls durch den menschlichen Geist und seine Anstrengungen, weniger vielleicht durch die des menschlichen Leibes und seiner Energetik. Aber da kommt es auf die Art der Wissenschaft an. Unvergleichlich jedenfalls die Spontanität der mimetischen Magie, die das Deutungsangebot – samt der damit 47 Vgl. 48
Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, a.a.O. Priest, Prestigio, a.a.O., S.129/130; Hervorhebung – HW.
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Abb.10 Magier, geerdet (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Ruprecht Angier, Hugh Hackman, IMDb).
vorauszusetzenden, und wenn vorauszusetzenden, zuerst noch zu überbrückenden Distanz – überspringt und ohne Umweg die Agitation der Gemeinschaft betreibt. Wenn der Magier die wissenschaftlich-technische Handreichung des Tesla-Apparats, wie er es tut, vergessen macht (ohnehin hat ja niemand einen Verdacht in diese Richtung, außer vielleicht die professionelle Konkurrenz), schließt er sich für die Augen des Publikums gewisserweise unmittelbar an den Kreislauf der Elektrizität, an den energetischen Strom der Sonne an. Das ist, was sein Publikum erlebt. Da, wenn dies gelingt, keine Distanz mehr existiert zwischen der Szenifikation der Bühne und der Bestimmung der auf diese Weise vergemeinschafteten Szene, ist die Inszeniertheit dissimuliert. Allein an der Symptomatik des jetzt szenisch vereinnahmten Prestigio ließe sich vermutlich eine Anamnese des allseitigen Verschwindens anschließen. Aber ein gegenwärtig Bedeutendes im Sinne eines Deutungsangebots gibt es bestenfalls noch auf dem Niveau der Wirkung eines emotionalen Interpretanten und eines so veranlassten energetischen Agierens. Von „Bedeutung“ in einem komplexeren Verständnis Gebrauch zu machen, macht so gut wie keinen Sinn an dieser Stelle – anders als beim Zaubertrick, bei dem die semiotische oder mediale Differenzierung eigentlich ganz gut funktioniert. Glaubt man James G. Frazers Golden Bough, würden sich Magie und Wissenschaft im Allgemeinen lediglich darin unterscheiden, dass die Voraussetzungen der einen falsch, die der anderen zutreffend sind. Die Mechanismen funktionierten indes auf dieselbe Weise: Sie gründen auf Ähnlichkeit und zeitweiliger Berührung zweier Sachen. Dabei nimmt der Magier irrtümlich an, dass eine Sache, die einer anderen ähnlich oder vorübergehend mit ihr in Berührung gewesen sei, für sie einstehen könne, und zwar so, dass eine Handlung, die er an der einen vollzieht, auch an der anderen Wirkung zeige. Trägt man den Begriff des Symbols in die-
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sen Gedankengang ein, so ist damit gesagt, dass die Beeinflussung des symbolisierenden Gegenstandes das in ihm symbolisierte zur Nachahmung zwingt.49
Der Ethnologe Fritz W. Kramer, der diesen Anschluss an Frazer diskutiert, weist darauf hin, dass was Frazer da beschreibe, so außergewöhnlich nicht sei, vielmehr sicher auch, zumindest, für die Kunst gelte. Dabei verweist er auf Wittgenstein, der angesichts eines magischen Weltbilds empfahl, keine Theorie zu bemühen, sondern eine genaue Beschreibung im Sinne der hermeneutischen Kunst zu leisten. Die Praktiken des magischen Zeremoniells wie die der Kunst – zunächst – wären demnach über die Verständlichmachung der Bedeutung von Symbolen und symbolischen Handlungen – Zeichen und Medien – „unabhängig von spezifischen kulturellen Traditionen zugänglich“. Bedingung ist – ähnlich beschreibt Heidegger den Sachverhalt in den Kunstwerk-Vorträgen der 30er Jahre –, dass dies unmittelbar am Ort des Geschehens der kultischen Praxis, am Ort der auratischen Wirkung passiert oder doch wenigstens in einer unverkürzten und unverfälschten „Darstellung ihrer Gestalt“.50 Es käme also darauf an, wie die Beurteilungen der Beschreibungen, die uns die Darstellungen von den Ritualen vermitteln, ausfallen, insbesondere ob möglicherweise eine Isolierung von Zeichen und bedeutender (magischer) Praxis vorgenommen worden sei. Die Situation (vermeintlicher?) Authentizität gilt als erste Voraussetzung der gegebenen Exempel teilnehmender Beobachtung magischer Performances. Sie beginnt stets mit dem Aufruf zur größten Aufmerksamkeit, selbst eine Beschwörungsformel, wie unsere Magier es im Übrigen bei jeder Vorstellung selbstverständlich und notorisch demonstrieren. Dass die Beobachtung ansonsten zugleich „Darstellung“ ist qua Prestigio der Szenifikation wie rituell oder quasi-rituell verankerter Szenik, also gemeinsame Aufführung, gehört ebenfalls zu den erfüllten Bedingungen einer gelungenen Vorstellung. Sie gelten demnach nicht nur für die Fiktion der erzählten Szenen im Sinne von Literatur und Film oder sonst einer Darstellung, sondern gleicherweise für das teilnehmende Beobachten oder beobachtende Teilnehmen an den eigenen Szenifikationen, Szenifikationen, die die Tendenz haben, sich auszuweiten hin zu veränderten und neuen Bedeutungen der umgebenden Szene. Man könnte fragen, was „irrtümlich“ daran wäre, wenn der Schamane annähme, dass die Energetik der natürlichen Kräfte der seines Körpers und Geistes „ähnlich“ sei, und glaubte, da er spürt, wenn beide Kräfte vorübergehend „in Berührung gewesen“ sind, dass er die Berührung herbeigeführt habe durch „eine Handlung, [...] an der einen“ Kraftquelle – durch Manipulation der elektrischen Spannung –, die dann „auch an der anderen“ Kraftquelle – an der Verfassung 49
Fritz W. Kramer: Booco. In: Die Sachen und ihre Schatten. Über Symbolisierung in Kunst und Wissenschaft. Hgg. von D. Hoffmann, Rehberg-Loccum 1991. Zitat aus Fritz W. Kramer: Schriften zur Ethnologie. Frankfurt am Main 2005, S.303-305. 50 Ebd.
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seines Organismus – Wirkung zeigte? Die Frage ist nicht entscheidbar. Man müsste die genauen Umstände kennen, um den Irrtum zu isolieren. Wenn dies nicht möglich, keine alternative „Ursache“51 aufspürbar ist, ist die Erklärung des Magiers nicht ausgeschlossen – die er aber gar nicht ausdrücklich geben muss. Die Frage der Wahrheit stellt sich auch nicht nur für die Wissenschaft, sondern ebenso für Kunst, Kult und Leben; viel eher sogar in den Wissenschaften der Konstellation dort vergleichbar als umgekehrt. Würde man apriori voraussetzen dürfen, dass die Prämissen der Wissenschaft im Unterschied zu denen magischer Praktiken als „wahr“, das heißt ihrer Urteile gewiss gelten dürften, wären die kulturell unterschiedlich verteilten Wahrheitsdispositive leicht voneinander zu scheiden. Dies würde allerdings bedeuten, dass sich die Natur, gewisserweise als Offenbarung der gesetzlichen Ordnung der Dinge in Verkleidung der technisch reproduzierten Arrangements der Wissenschaften (gemeint hier im Sinne von Science) selbst präsentierte, ohne weitere dynamische Entfaltungen ihres Effektcharakters, durch „twists and turns, where lives hang in balance“, where „you see something shocking you’ve never seen before“. – Ohne dies an dieser Stelle weiter zu diskutieren52, gehen wir davon aus, dass dies nicht der Fall ist. Wenn es aber nicht der Fall ist, heißt das überhaupt nicht, dass die Voraussetzungen – oder auch die gesamte Konklusion inklusive der unterschiedlichen Beiträge des „Betriebs“ (Heidegger) – nicht, unter gewissen Umständen, wahrheitsfähig wären. Dies gilt für die Wissenschaft wie für Kunst, Religion und das Zusammenleben in Gesellschaft. Die erste Einschränkung würde lediglich darauf hinauslaufen, die Wahrheit der Effekte, die Tatsachen ihrer Gründung, als solange hypothetisch zu behandeln, wie die jeweiligen Performances dauern. Der hypothetische Charakter allerdings könnte für die Zeit der angenommenen Geltung von Wahrheit beziehungsweise den Tatsachenstatus auch ausgeblendet werden, vor allem wenn beides nach Auffassung der beurteilenden Community an ihrer dem Willen unterworfenen Macht („in der Berührung zweier Sachen“) zu demonstrieren wäre. Niemand jedenfalls, kommen wir zurück auf die simulierte Magie in unseren Fictions, niemand im Publikum würde der Behauptung, dass er die Aufführung nur zu Ende erleben werde, wenn er nicht zwischendurch einen Herzanfall erleidet, irgendein Gewicht beilegen oder auch nur versuchen, sie im Kopf zu behalten. Sollte die Wahrheit aus praktischen Erwägungen heraus gemäß bestimmter Konventionen für vorübergehend feststellbar deklariert werden, wie in den Wissenschaften üblich und sinnvoll, bestätigt dies lediglich gewisse theoretische Konditionen, die für diese Prozedur vereinbart sind. Insbesondere solche Verabredungen, die in diesem Spiel für die Definition einer kalkulierten Gewinnsituation im Prestigio festgelegt wurden. 51
Alle Zitate ebd. Ereignis, Inszenierung, Effekt, a.a.O.
52 Vgl. Wilharm,
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Auch der Meistermagier Priests und Nolans, Angier, formuliert diese Bedingungen für seine Magie unmissverständlich. Er setzt die Geltung bestimmter Naturgesetzte voraus und arbeitet mit der Evidenz des ‚experimentellen‘ Nachweises. Doch nimmt er sich auch zugleich selbst zum Versuchsobjekt und ebenso, in anderer Weise, sein Publikum, dem die Wissenschaft egal sein kann, da es gar nicht damit konfrontiert wird. Dafür ist der Magier bereit, um die Postulate der Vergemeinschaftung, die gewisserweise szenisch schon eingeführt sind, mit der aktuellen Szenifikation zu amalgamieren, eine Darstellung zu geben und auf diese Weise den Beweis anzutreten. Eine Vorstellung, in der das wunderbar erscheinende Walten naturgesetzlich verbürgter Phänomene (von denen das Publikum aber nur erzählt bekommt) mit dem ebenso evidenten Wunder des Raum und Zeit überwindenden Magier-Körpers eine Affäre eingeht und beide ein Ereignis statuieren, das sich dem Bedeuten indes als reines Erleben darbietet. (Beide ‚Wunder‘ wären unter anderen Umständen und auf anderen Wegen selbstverständlich auch über gesonderte „Darstellungen“ verfolgbar, Darstellungen allerdings, deren Beweiskraft von je eigener Art wäre.) Die Möglichkeiten einer unterschiedlichen Behandlungsweise der Zauberkunst zu demonstrieren, als Illusions-Geschäft oder als Kult53, ist der Grund, warum der Priest-Roman und seine Verfilmung für unsere Überlegungen zur Logik und Ökonomie der Effekte dienlich sind. Die beiden Arten lassen die Differenz der ursprünglichen Szene aufscheinen, deren Szenifikationen nicht als bloße Inszenierung, Täuschung der Sinne, abgetan werden können, sondern den mythos, die gründende Erzählung am Ursprung des Kults gleicherweise wie die opsis 54, den Raum, die Ausstattung, die Kostüme, die Atmosphären, Liturgie und Prestigio in Szene setzen. Bekannt ist die Sonderstellung der Analyse im Werk Lévi-Strauss’, die er in Die Wirksamkeit der Rituale einem der therapeutischen Ritualtexte der Cuña, dem Muu-Ikala 55, angedeihen lässt. Den vielleicht problematischen Vergleich zwischen schamanistischem und psychoanalytischem Ritual beiseitegelassen, wird dort der mimetisch inszenierte Charakter einer mythischen Erzählung beispielhaft demonstriert und hervorgehoben.56 Der Text des Muu-Ikala, einer Geschichte, die sich die Cuña von Geisterkampf und Totenreise erzählen, ist Gedicht, Vortrag, wird gespielt; der mythos verbürgt die 53
Als Angier so weit ist, dass er die Tesla-Projektion durchführen kann, ist er kaum mehr am Geld interessiert; vorher setzt er sein Kapital gerade dafür ein, an die Maschine zu gelangen. 54 Um bei der Aristotelischen Differenzierung aus der Poetik zu bleiben, obwohl die etymologische Erläuterung die Privilegierung des Sichtbaren gegenüber dem Performativen deutlich macht. 55 Geschichten von Reisen ins Totenreich und Geisterkampf, die im Rahmen des dazugehörigen Kults der Cuña (zentralamerikanischer Ureinwohner) ‚aufgeführt‘ werden, indes ihre Macht durchaus auf die Dichtung gründen. 56 Siehe Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt am Main 1976, S.204-225.
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Wirkung des Dramas. Die Identifikation von Sinngebung und Sinn liegt auf der Hand.57 Nun finden wir natürlich weder bei Priest noch bei Nolan die Magie eines schamanistischen oder religiösen Rituals. Würde Angier bei seiner Vorstellung In a Flash nicht auf die Tesla-Maschine zurückgreifen können, gäbe es überhaupt nichts zu bewundern, abgesehen vielleicht von gewissen Kunststücken mit Hilfe von Doppelgängern, ähnlich denen, die Borden und Angier auch schon vor Teslas Erfindung beherrschten. Angier bestätigt dies, denn er ist hin- und hergerissen; immer wieder schwankt er, welchen Praktiken die Palme des größeren Wunders zuzuerkennen sei, dem wissenschaftlich-technischen Kunststück der Materie-Energie-Wandlung plus Zeitreise in Lichtgeschwindigkeit oder doch der Überbietung der technischen Effekte durch ihre Dissimulation und die Simulation und Inszenierung einer magischen Handlung an ihrer Stelle. Dass Angiers Zuschauer in der Regel nicht an einer magischen Sitzung teilnehmen, dürfte ihnen genauso klar sein wie dem Künstler. Die Prämissen des Formats besagen schließlich schon anderes. Das Publikum bezahlt Eintritt für einen Varieté- oder Theaterbesuch. Es handelt sich nicht um Gläubige, die zu einer Messe gehen. Dass es dennoch zur Feier kommen kann, ist kein unbekanntes Phänomen, auch wenn der Kult nicht unbedingt religiöse Ausmaße annehmen muss. Es ist auch bei Priest die Rede von Séancen, auf denen die Besucher unter Umständen schon anders zu charakterisieren wären. Außerdem kann es passieren, dass die vierte Wand oder der Zaun zwischen Publikum und Akteuren niedergerissen wird. Medial vorderhand klar definierte Fußballspiele zum Beispiel sind offenbar in der Lage, unerwartete Szenifikationen zu provozieren. Obwohl das definierte Format den Zweck der Veranstaltung durch Arrangements in bekannten Szenarien und so die Szenik des Erlebens normalerweise in bekannten Abläufen zu halten weiß, kann es zur spontanen Vergemeinschaftung und ihrer Feier kommen. Sie fokussiert sich selbst, abseits des definierten Spektakels. Um die Magie der Effekte deutlicher an ‚tatsächlich magischen‘ Ritualen zu demonstrieren, wäre die diagnostizierte Struktur mithin an Beispielen für entsprechend kultische oder religiöse Handlungen nachzuvollziehen.
57 Siehe dazu auch den Aufsatz Kramers zur Ethnologie der Passiones, zu deren führenden Theoretikern Kramer gehört. Fritz W. Kramer: Notizen zur Ethnologie der Passiones, in: Kramer, Schriften, a.a.O., S.145-168. Überhaupt ließe sich die Ethnologie der Passiones in unserem Zusammenhang exemplarisch heranziehen, da sie selbst ihren Darstellungszusammenhang als mimetisch charakterisiert. Nicht Erklärungen stehen im Vordergrund, sondern Beschreibungen im Sinne von nachahmenden Demonstrationen dessen, was die fremden Kulturen den Ethnologen erleben lassen, als etwas, was diesen wie jenem widerfährt.
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Abb.11 Magic turn. Rembrandt: „Seine Gestalt leuchtete wie der Blitz“ (1639, Alte Pinakothek München). „Hoc est enim corpus meum.“ 58
Ein (möglicherweise allzu) kurzer Exkurs in dieser Richtung sei erlaubt. Es liegt nicht fern angesichts des Verschwindens der (Ding-)Endlichkeit, an die christliche Botschaft der Auferstehung des Fleisches zu denken. Keine Wissenschaft steht im hier in Verdacht, zwischen der Natur, dem sterblichen Menschen, und seiner Wiedergeburt für eine Ewigkeit zu vermitteln. Insofern scheint die Anordnung den Problemen, die sich gerade auftaten, entgehen zu können. Allerdings wird man den Punkt genauer bestimmen müssen, warum die Wissenschaft sozusagen apriori überfordert scheint. Schließlich wird der „sterbliche Mensch“ als schon Verstorbener adressiert. Trotzdem, die Überwindung der Endlichkeit „gemäß der Schrift“ hat keine Schwierigkeiten mit alternativen Gestalten an alternativen Orten oder ähnlichen Verwerfungen physischer Evolution, lebendig oder tot. Sie sind nicht mehr aufzufinden, was die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehende menschliche Natur betrifft. Das Grab, wohin der Leichnam des Verstorbenen (das bis dahin Vorgezeigte) gebracht wurde, wird von einem Fels verschlossen. Beim nächsten Hinschauen ist das Grab leer, der Leichnam verschwunden. Abgesehen vom fehlenden Körper gibt es etliche Prestigio-Reste; man kann sie an vielen Orten besuchen, sie werden dort ihrerseits in Szene gesetzt und stehen der Verehrung zur Verfügung. Das Wunder der Wiederkunft einer Person als einer anderen, die dieselbe ist, verschärft dadurch, dass sie durch den Tod gegangen ist (was in der literarischen Vorlage, die wir diskutieren, ebenfalls zu den Halluzinationen des Protagonisten gehört), ist (auch) hier ein Geheimnis des Glaubens. („Auferstehung“ statt „Wiederkunft“ dürfte eher als Metapherngebrauch aufgrund von Ähnlichkeit beurteilt werden; es gibt keine Geschichte über eine „Auferstehung“ im Wortsinn. Diese Wortwahl privilegiert lediglich den vorhergehenden Zustand in einer Black Box. Für diesen aber wie für den davor gilt die „Wiederkunft“.) Das Wunder wird trotz seiner universellen Wirkung im Rahmen einer individuellen Szenifikation geschichtlich dramatisiert und als exemplarisches Prestigio. Dies ist 58
„Die Menschen in der Kirche, die kein Latein verstanden, hörten nur so etwas wie Hokuspokus“ – mit Bezug auf Karlheiz Deschner in: Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Hokuspokus, Zugriff 10/2012.
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die dem Erleben zugekehrte Seite des Wunders. Das mit den Effekten der Inszenierung verbundene Verschwindenmachen der Endlichkeit (die Revision des Sterbens und die Überwindung des Todes) wird im dazugehörigen Kultus, der zugleich Ritus und Feier vorsieht, stellvertretend und von dorther in seinen Wirkungen ausgreifend, universell wirkend thematisiert und begangen. Da für die Voraussetzungen zwar von einer wirklichen Erdung die Rede ist, aber nicht von einer unbedingten und einzig zu berücksichtigenden – denn wohl ist Jesus Mensch, doch geworden ist er dies als Sohn Gottes, „im Namen des Vaters“ – muss die Gründung in der Physis (sozusagen ‚die Technik‘) nicht verschwinden, um deren Makel zu tilgen. In der Art, wie von ihr erzählt, wie sie aufgeführt und zugleich damit übersprungen wird, stellt sie keine wirkliche Bedrohung der exemplarischen Szenifikation der Wiederkunft, des Prestigio, dar. (Sicher könnte man mutmaßen, Jesus habe seine Gottesnatur durch seine Geburt als Mensch, eventuell vorübergehend, eingebüßt, was anzunehmen indes theologisch kaum statthaft sein dürfte.) Der Prestigio nimmt mithin, wie der des Magiers, der den unmittelbaren Anschluss an die kosmischen Energien imaginiert, durchaus Bezug auf den pledge, das Pfand, doch gehört zu diesem mythos, dass schon diese Instanz des Effekts nicht ist, als was sie repräsentiert und was zudem in Gestalt vorgezeigt wird. (Es werden verschiedene Gestalten präsentiert.) Das Verborgene, das Geheimnis, überstrahlt in Wahrheit alles Vorzeigbare, liegt jenseits der Blendung, von der man annehmen muss, das sie eintritt, wenn diese Wahrheit erschiene (jedenfalls in der Platonischen Fassung); sie liegt im Dunkeln eines Wesens, das ganz „Geist“ und „Vater“ ist (gemäß dem mythos der Heiligen Schrift), der nun aber, in der Fortsetzung der Geschichte, als Erstes vorgezeigt wird in der Gestalt eines geerdeten, menschlichen „Sohns“. Diese Gestalt – oder anders gesagt, was diese Gestalt bedeutet – muss als diese Bedeutung notwendig in den Hintergrund treten (das liegt in der Natur des Bedeutens, wie wir gesehen haben). Allerdings will die Geschichte es, dass dies nach Art der Gestalten ihrer Art (ihnen ähnlich) passiert. Sie kommen zu Tode und werden bestattet, verbleiben damit im Rahmen gut bekannter und verbreiteter Szenarien und Szenen des menschlichen Gestaltwandels. Und was von der Vorgeschichte bleibt, ist zunächst nur eine Bedeutung, eine zu erinnernde Bedeutung (AT). An dieser Stelle nun verschieben Schrift wie Kultus die Trivialität des menschlichen Schicksals, das hiermit gewöhnlich sein Ende nimmt, und greifen auf die eine besondere Qualifikation der bekannten Gestalt zurück, erinnern eine alte Bedeutung. In diesem Sinne gehört sie gleich zum Handlungsauftakt der Fortsetzung des mythos (NT), weniger zur Gründung der gesamten Geschichte. Außerdem wird sie an dieser Stelle nur in Grenzen dramatisiert. – Die Auferstehungsfeier knüpft in katholischer Lesart auf diese Weise weniger unmittelbar an die Feier des Kreuzestodes oder der Grablegung (an die Karfreitagsliturgie) an, sondern an die Feier der Geburt Christi, deren Verkündung bekanntlich darauf Wert legt, als „Geburt des Sohns Gottes“ Gehör zu finden. Nur wird dieser Umstand leicht von der Inszenierung der Verkündigung der Bethlehemischen Geburt und des weiteren Schicksals des Nazareners verdeckt, wenn es um die Menschennatur Jesus’ geht. Abgesehen vielleicht von der Wundertätigkeit des Herrn, die die Zeitgenossen aber keineswegs so zu ‚verblüffen‘ schien wie die ultimative Behauptung gegen Ende seiner menschlichen Existenz, tatsächlich der Sohn Gottes zu sein. Dort nun kommen wir zum wesentlichen turn der Effektgestaltung der Geschichte des Neuen Testaments. Aufgrund der hier schon offensichtlichen Wiederholung einer solchen Drehung erweist sich das Spiel als eines permanenter und in der Unendlichkeit
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Abb.12 Magic prestige. Caravaggio: Der ungläubige Thomas (1601/02, Neues Palais Potsdam).
sich verlierender Spiegelungen von Repräsentationen.59 Christus ist der „Eckstein“, sagt Paulus60, das zentrale Objekt aller Übertragung (und Verschiebung), das alle PrestigioVarianten, die gelungenen wie die misslungenen, die der gegenwärtig eigenen wie aller je dagewesenen und aller kommenden Szenifikationen, in sich vereinigt. Die jeweiligen Bilder liefern den Stoff und das Deutungsangebot für die dazugehörigen Szenifikationen und die von ihnen ausgehenden oder provozierten Reaktionen, den Sinn für eine szenische Verknüpfung. Nicht beunruhigt durch die Konsistenzfrage, kann die Erzählung vernünftige Auskunft geben. Was soll daran verwunderlich sein, dass der Sohn Gottes, der seiner Natur entsprechend unsterblich ist, sich demgemäß, sollte diese Tatsache überhaupt gestaltbar sein (aber „bei Gott ist kein Ding unmöglich“), auch eine Gestaltung geben, in dieser Gestalt zeigen könnte? Der bekanntlich „ungläubige“ Thomas ist von der Gotteshypothese zunächst noch vergleichsweise unbeeindruckt. Jedenfalls scheint es so, wenn man der Schrift folgt, dass ihm der Prestigio der Gestalt an dieser Stelle zu denken gibt. (Man erinnere die Vorkehrungen, die der Magier vornimmt, um dem Publikum nicht das wirkliche Wunder, zu großen Glauben, zumuten zu müssen.) Denn sie soll nun gerade Evidenz produzieren für einen Zustand, der zu demjenigen, für den sie die Indizes liefert, ganz gegenteilig ist, gleichzeitig aber die Identität der Person belegt. Ein Paradox des Glaubens. Das ist aber genau der Grund, warum Thomas der beste Zeuge ist. Denn an den Wunden, die dem Menschen in seiner Todesstunde beigebracht wurden, erkennt Thomas – per Ähnlichkeit – dass diese tatsächlich berührbare und von ihm berührte Gestalt, der er begegnet, mit der Person des hingerichteten und bestatteten Jesus identisch sein muss, was zweifellos ein Wunder darstellt. Denn Thomas beweist die Menschlichkeit Jesus. Das aber ist nicht 59 Vergleichbar dem Repräsentations- und Zeichenmodell von Claude Lévi-Strauss, das sich auf diese
Weise im Übrigen wie das Peircens als triadisch erweist. Epheser 2, 20-22.
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Abb.13 General theory of magic. Raffael: La diputa del Sacramento (1509, Museo Vaticano).
sein einziger Schluss. Denn wäre es der einzige, müsste er weiter schließen, könnte die Gestalt nicht erscheinen. Doch das tut sie. Es handelt sich also bei der Erscheinung um ein Mittelglied, ein Medium oder Zeichen, das die Bedeutung weiter reichen lässt. Dass es niemand anderes ist, belegen nämlich nicht nur die Ähnlichkeit, sondern auch Randbedingungen der Evidenz. Das Grab ist leer und auch andere haben den Auferstandenen gesehen, der derselbe ist, der zuvor gestorben und begraben war. Die Ungläubigkeit des Thomas spiegelt sich um beide Achsen der Szenifikation. Die erste Identifikation gilt dem Menschen, der vom Tode zurückkommt, die zweite dem Gott, der sterben kann respektive – theologisch korrekter – der sich als Menschenopfer stellvertretend hingibt. Im Mittelpunkt dieser Szenifikation als Ritus stehen die Feier des Kreuzestodes und, weiter stabilisiert, die Karfreitagsliturgien. Alle ursprünglichen Szenifikationen haben, samt ihren erfolgreichen Szenografien und deren Inszenierungen, im Kultus die Aufgabe, sich mit der schon existierenden szenischen Verdichtung und der schon geprüften Beständigkeit der szenischen Präsenz zu vermitteln. Im geschilderten Exempel scheint es, umgekehrt wie in der Erlebnisszenografie, dass das ‚Erleben‘ dem ‚Ereignis‘ dauernder Gegenwärtigkeit zugekehrt wird, das heißt einer auf diese Weise für den gläubigen Sterblichen erfahrbaren Aufhebung aller Vorläufigkeit des Bedeutens. Folgte man dieser Spur der Bedeutung, so erzählen die Heilige Schrift und ihre Szenifikationen eine beispielhafte Geschichte und binden die einzelnen Effekte der Aufführung an die Szenen permanenter Wiederholung derselben – für die der Kult wiederum die Wiederholung einer besonderen Szenifikation als Liturgie bereithält, die exemplarische Demonstration der Gründungsveranstaltung, in der die essentielle Magie des zentralen Wunders der „Doppelnatur“ verteilt wurde. Es handelt sich – leicht nachzuvollziehen –
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um Inszenierung und Feier der „Transsubstanziation“ (die Liturgie der Abendmahlsfeier), eine Magie, mit Hilfe derer Widersprüche und mögliche Mängel der kontextuellen Inszenierungen grundsätzlich beseitigt und ein ewiges Bündnis zum Ausdruck gestiftet werden soll. Die Wiederholung des Abendmahls als „Gedächtnisfeier“ darf aus diesem Grund nie enden: Das Stiftungsereignis selbst wird aus dramaturgischen Gründen unmittelbar vor die bevorstehende Kreuzigung des Menschen platziert, so dass der Aufruf, zukünftig zu gedenken, Sinn macht. („Tut dies [...] zu meinem Gedächtnis“61; GründonnerstagsLiturgie.) Der Ursprung bleibt demnach über alle Zeiten mit seinem Ende verbunden, was auch immer mit den je aktualen Szenifikationen geschehen mag. Wenn sie sich dem Dasein des vorhandenen, anwachsend gewohnteren Szenischen anzuvertrauen vermögen und die Chancen nicht vertun, dort, möglicherweise aufgrund von Gewohnheitsveränderungen angesichts wechselnder Inszenierungserfahrungen, besser aufgenommen zu werden als unter Bedingungen alternativer Strategien, ließe sich sogar denken, dass das medial verstärkte, möglichst spektakuläre subjektive Erleben und seine Wiederholungen nicht den einzigen Pfad zukünftigen Bedeutens besetzten. Da die Evidenz der vorläufigen Endszene für die Gläubigen zwar eine wohlvertraute Angelegenheit darstellt, die indes keineswegs den Gewohnheiten einer Doppelfeier von Tod und anschließender Wiederauferstehung entspricht (jedenfalls nicht für die Betroffenen62), muss die exemplarische Szenifikation, die mit einer historischen Platzierung dieses Ereignisses einhergeht, beide Formen des Prestigio annehmen, muss die Bedeutung der vorübergehenden Szenifikation (im Kult der Todes- und der Auferstehungsfeier) mit der eines endgültigen Prestigio, der Wahrheit in the long run, vermittelt werden. Dies geschieht über die Szenifikationen und Feiern der Nachfolge derjenigen, die dem Beispiel Christi folgen – und eben deshalb auch ein ähnliches Schicksal erleiden müssen, als Menschen an ihrem Ende wie als Heilige danach. Diese Geschichte ist zweifellos dem Erleben zugewandt. Ultimativ geschieht dies auf dem Weg der Generalisierung entsprechender Biografien, was zugleich bedeutet, aller möglichen Einzelschicksale (aller Varianten, die Teslas Maschine produzierte, ohne Wissen des „Ingenieurs“), insofern sie sich als identisch mit dem exemplarischen Fall darstellen (lassen). Verheißen ist die Auferstehung des Leibes für alle am Ende aller Tage, in der Fülle aller Bedeutung. Bis dahin gibt es Nachfolge und Wiederholung. Worin unterscheiden sich nun Erlebnisse gegenüber dem Warten auf das Ereignis? – Wir brechen den Exkurs an dieser Stelle ab.
Insgesamt sehen wir so oder so ein Verschwinden der Endlichkeit, auch wenn die Magie unserer Prestige-Helden selbst in der Fiktion nichts von dem vermögen, was ein wahres Geheimnis des Glaubens fertigbringt. Angier ergeht es wie uns, er weiß es nicht genau, obwohl die Fiction um kein anderes Thema kreist. Betrachtet man die Prozedur, zu haltbaren Bedeutungsaussagen zu gelangen, stabil bedeuten zu lassen, fällt auf, dass die Arbeit an Materie, Form und Sinn der Szene sich keineswegs mit der Versicherung einer temporär und situativ befriedigenden Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Welt, einem Resultat aus Szenifikation, das dabei bleibt, zufrieden gibt. Vielmehr kommt es dazu, 61
Paulus 1. Kor 11, 24; so auch im Lukas-Evangelium 22, 19. Die Liturgie für die Überlebenden inszeniert allerdings tatsächlich beide Ereignisse, wenn auch ohne ausdrücklichen Prestigio.
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dass die so produzierte Evidenz aus der (vorläufigen) Gesamtdarstellung qua Narrativ, Ritual und Szenifikationen (samt der isolierbaren Szenografien) als Unterpfand einer umfassenderen nicht inszenierten, einer wirklichen Wirklichkeit genommen werden will und genommen wird. – Einer spekulativ szenischen Wirklichkeit, deren Attraktivität darin läge, dass ihre Szenen bekannt sind und aufgrund dessen Sicherheit bieten. – Eine solche nicht inszenierte, nicht anfällige Wirklichkeit gibt sich aus den Verwicklungen der Szenifikation heraus indes nicht ohne Weiteres zu erkennen. Nicht weiter als in der aus Gefühlen gespeisten Symptomatik sich miteinander arrangierender Gewohnheiten im Rahmen darstellungsspezifischen Geschehens mit möglichem Erlebnischarakter. Und in der Feier der Szenifikation. Das heißt, es bleibt, wie es ist. Das heißt aber auch, dass die Ruhe der Szene schon anwesend und größtenteils tatsächlich uninszeniert ist. Vielleicht nicht in der Feier einer aktuellen Szenifikation, aber möglicherweise in den Ritualen des Alltags, deren einstmals erstaunlicher Inszenierungscharakter, wie die möglicherweise dafür vor langem ersonnene Szenografie, längst in Vergessenheit geraten sind. Szenen besitzen zwei Gesichter. In eines schauen wir dem Erleben zugewandt. Das andere zeigt sich, wenn wir teilhaben an ihrem Ereignen. Erfahrungen mit der Labilität der Konstruktion gehören zum Charakter bedingter Entwürfe, die sich nicht gleich auf die Ebene eines – was das damit mutmaßlich Gewusste betrifft, zweifelhaften – Futurums zwei verlassen möchten, auf die Perspektive eines zukünftig vorzeitig Gewordenen. Egal ob gerechtfertigt mit totalem Wahnsinn oder mit dem Ende der Geschichte. Dass es wackelig zugeht, zeigt sich zum einen darin, dass sich die aktuelle Darstellung, als solche im Spiel mit den präsenten Materien und Formen, Zwecken und Kausalitäten, auf diese Weise vielleicht von der Zufälligkeit der realen Einzeldinglichkeit der aufgenommenen Elemente distanzieren kann (von der Vereinzelung und Zufälligkeit des technischen Effekts), aber genealogisch mit ihnen verbunden bleibt; allein schon aufgrund der Natur der Darstellung, die ja einen lebendigen Körper besitzt. Jederzeit kann von daher eine Überraschung drohen, ein Schock erfolgen. Der letzte Schock aus dieser Quelle der Erde betrifft schließlich das eigene (Über-)Leben. Zum anderen wird die Möglichkeit solchen Einbruchs nicht inszenierter Realität darin manifest, dass der eigenen Selektion etliche Alternativen gegenüberstehen, die augenscheinlich auf eben dieselben Elemente möglicher Komplexion von Szenifikation und Szene rekurrieren. Mithin wird deren Objektivität auf diese Weise unabhängig, ‚von außen‘, wenn man so will, bestätigt. Selbst vor einem bloß individuell überschaubaren Erfahrungshorizont. Es gibt keine übergreifende Ontologie der Szene.63 Sie kann nur empirisch sein. Über das Dasein der Szene befinden wir uns gewissermaßen in einem andauernden existenziellen Streit, der nicht zuletzt ein Streit über die angemessenen 63 Wozu
wir uns an anderer Stelle äußern.
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Schlussfolgerungen ist. Der Gedanke, dass das Reale deswegen das Reale ist, weil es unberührt ist von dem, was wir darüber denken, und sich das gerade darin zeigt, dass wir bestenfalls dazu beitragen, welche Formen es annimmt, nicht aber verursachen, dass es als solches verfasst, „konstituiert“ ist, wird die Abwehr seiner Zufälligkeit, wenn sie denn dadurch als Dinggefährdung wirkt, wie sie es tut, wenn sich das Wehren lediglich um die Inszenierung der Technik kümmert, nicht heilen können. Also besteht die Inszenierung immer auf originalen und stellvertretenden Opfern solcher Dinglichkeit – und der Zurückweisung der Verantwortung dafür. „Wenn ich nicht mehr darüber erzähle, ist es annehmbar.“ (Alfred Borden)
Priests und Nolans Regie legt besonderen Wert auf die Ausbreitung des Opferstoffs. Noch bevor die Geschichten einsetzen, die Roman und Film anhand von mehr oder weniger dubiosen Berichten über die geheimen oder posthumen Aufzeichnungen der beiden Meister-Illusionisten erzählen, wird das Publikum der Kinoversion darüber aufgeklärt, was es heißt, dass es weiß, dass Dinge nicht wirklich zum Verschwinden gebracht werden können, obwohl sie das, allem Wissen zum Trotz, doch zu können scheinen. Der Vogel im zusammengefalteten Käfig ist tot. Was verpfändet wurde, erscheint nicht wieder. Der Prestigio arbeitet mit einem Double. Dann folgen die Leichen, die die beiden Helden Priests und Nolans im Laufe ihres Lebens hinter sich lassen. Es sind nicht unbedingt dieselben, jeder hat seine eigenen. Autor und Regisseur, beide pointieren ihre Inszenierungen auf ihre Art. Nicht anders
Abb.14 Prestigio negativo, femin. (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Julia McCullough, Piper Perabo, IMDb).
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die kontroversen Aufzeichnungen der Protagonisten der Stories. Je nach ‚Quellen‘, derer Roman oder Film sich imaginativ bedienen, sind deren Autoren gerade nicht verantwortlich für die Opfer, von denen berichtet wird. Die eine Quelle ist Bordens Autobiografie, die er am Ende seines Lebens verfasst, durchaus unter Geheimhaltung aller professionellen Hintergründe der Geschehnisse. Die andere Quelle ist Angiers geheimes Tagebuch, das, da der Magier plant, es zu den Überresten seiner letzten Reise in die Gruft zu legen, nichts verschweigen will, von dem er weiß. Nichtsdestotrotz sind die Opfer, wenn sie denn nicht auch verschwinden, in fast allen Fällen auch bei ihm die Opfer der anderen. Angiers und Bordens junge Bühnenassistentin wird ein erstes Opfer der Prestigio-Versessenheit der beiden Partner. Es gelingt ihr nicht, sich aus einem verschlossenen, mit Wasser gefüllten Glastank zu befreien. Sie ertrinkt, weil sie den Knoten, den Borden gebunden hat, um „etwas Neues“ auszuprobieren, nicht lösen kann. (Im Film sind die beiden Illusionskünstler zwar von Beginn an Rivalen, nicht zuletzt um die Frauen, aber, am Anfang zumindest, auch Partner. Anders bei Priest, bei dem Bordens Intervention bei einer Séance dazu führt, dass Julia (Julia McCullough), Angiers Ehefrau, ihr Kind verliert.) Der Gewinn geht vorerst an Borden, der jetzt der Glücklichere von beiden zu sein scheint. Er hat die Jugendliebe der beiden, Sarah (Rebecca Hall), geheiratet und Kinder mit ihr. Ein Schein ist das Glück dennoch, weil die Auflösung vom Ende beider Quellen her zu verstehen gibt, dass Borden unglücklich ist, da er immer nur mit Tricks zu überleben wusste, an die wahre Magie aber nie heranreichte. Zugleich erfährt man aber, dass Bordens Illusionskunst dafür den Umweg über die Wissenschaften nie brauchte; mit seiner Hilfe nämlich konnte es ‚die Natur‘ gleichsam selbst übernehmen, zur Illusion beizutragen. Um den Effekt des Transported Man zu erzielen, arbeitet Borden mit seinem Zwillingsbruder als Double. (Was er allerdings selbst seiner Autobiografie nicht anvertraut.) Ein Opfer auf diese Weise auch hier, und zwar auf zwei Seiten. Nicht nur, dass die beiden Brüder das Schicksal zweier Menschen auf eine einzige Kunstperson reduzieren und dafür sorgen, dass auch ihre Umgebung denken und empfinden muss, dass nur ein einziger Mensch an der Stelle ihrer leiblichen Präsenz steht, dort wo in Wahrheit zwei Körper und Seelen sich diese Stelle teilen. Darüber hinaus sind sie im Auftrag ihrer selbstverordneten Identität zu entsprechenden Opfern, zur Verstümmelung im Wortsinn, da genötigt, wo sie vielleicht nicht die Natur, doch aber ein jeweils eigenes Leben zur Abweichung voneinander zwingt, der gemeinsame Prestigio aber zur Konformität. So machen sie sich selbst zum technischen Effekt, den Angier später von Tesla gebaut bekommt. Was Angier mit seinem Vermögen begleichen kann, müssen sie mit Leib und Seele bezahlen. Angier aber beneidet Borden – und versucht hinter das Geheimnis dessen Tricks zu kommen, was ihm nicht gelingt. So setzt er auf eine Nachahmung des Transported Man. Das bedeutet, dass auch er ein Double engagieren muss, wodurch er aber erpressbar wird. Angier ahnt nicht, dass sich diese Lage perpetuieren wird. Auch wenn er sich zukünftig zu seinem eigenen Doppelgänger macht und annimmt, auf diese Weise alles in eigener Regie regeln zu können. Vorerst ist er unzufrieden, denn er sucht die Magie, von der er fälschlicherweise vermutet, dass sein Rivale ihr zumindest nahegekommen sei, nicht den Trick. Der Meisterzauberer kennt keine Skrupel und opfert seine Geliebte Olivia (Scarlett Johansson), die er auf einer Amerika-Tournee kennen und lieben gelernt und für die er seine Frau Julia verlassen hat. Vordergründig auf eigene Initiative geht Olivia – die Liebe ist abgekühlt, der Künstler hat Affären, die Borden an sie verrät – als Spionin zur Konkurrenz, wo sie tatsächlich auch akzeptiert und als Assistentin beschäf-
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tigt wird. Es gelingt Olive64 bald, Borden zu verführen, was eine neue Affäre eröffnet. (293ff.) Julia derweil, gewisserweise ist Angier doch schon gestorben, „führt das Leben einer Witwe“. (270) Aufgrund der unablässigen Intrigen werden die beide Kontrahenten und die sich mit ihnen abgeben, weiterhin zu Opfern der dunklen Ambitionen der Zauberkünstler. Borden besticht den Doppelgänger Angiers, der daraufhin seinen TeletransportationsTrick mit Double nicht mehr weiter aufführen kann. Im Gegenzug bringt Angier mit Olivias Hilfe das verschlüsselte ‚Zauberbuch‘ seines Rivalen an sich. Durch Entführung des Borden-Ausstatters kann Angier den Code für die Lektüre der Notizen seines Feindes erpressen und glaubt sich nun im Besitz des Schlüssels zur wahrhaften Magie der Übertragung, einer Illusion, die er, vermeintlich anders als Borden, tatsächlich genau wie er, bisher nur mit Hilfe eines Doppelgängers zu erzeugen wusste. Doch handelt es sich um eine lancierte Täuschung, freilich eine, über deren Ausgang sich die, die sie in Gang bringen, zumindest teilweise selbst täuschen. (Olivia nämlich, das wird am Ende klar, ist wohl mit Borden zusammen, hält sich aber die Option, weiterhin als Spionin Angiers zu arbeiten, offen, so dass sie im Fortgang des Stücks, wenn sie schließlich zu Angier zurückkehren wird, zusammen mit ihrem ehemaligen Geliebten von diesem neuerlichen Verrat profitieren kann.) Das vermeintliche Komplott Olives und Bordens besteht darin, den Konkurrenten auf die Fährte der Elektrizität und Teslas zu setzen. Zuerst sind es nämlich die Borden-Brüder, die ihre Vorführung in einem Szenario elektrischer Funken und Ströme spielen lassen. Für sie gehören die ungefährlichen Lichtbögen, mit denen sie ihr Publikum beeindrucken, zum Prestigio. Tesla, der zur selben Zeit in London Demonstrationen seiner Apparate und Experimente vorführt (bei Nolan präsentiert er seine Forschungsergebnisse in Paris bei der Weltausstellung 1900), gibt mit seiner Verteidigung des „gefährlichen Wechselstroms“ Anlass, Unmengen von Nachrichten und nicht wenige Horrorgeschichten über Todesfälle und schreckliche Unfälle bei der Anwendung dieser „schlechten Elektrizität“ in Umlauf zu setzen. Dem Image der Brüder hilft es – was (in einer Geschichte) erneut mit einem Frauenopfer erkauft wird. Denn über der Affäre Bordens mit Olive zerbricht die Ehe Bordens, und seine Ehefrau begeht Selbstmord. (Das Drama der Kinder, das in der Priest-Version eigens inszeniert wird, hier beiseite gelassen und auch, dass zwei BordenBrüder eigentlich sauber auf die Beziehungen zu zwei Frauen verteilt werden könnten, theoretisch. Faktisch weiß der übrig bleibende Borden selber nicht, welcher von beiden Brüdern er ist. „Wer hatte Sarah geheiratet, ich oder ich?“ (159/157) Wie eingangs geschildert, ist Tesla dennoch Angiers Glück, zumindest vorübergehend. Er gelangt in den Besitz des Apparats. Dann aber sabotiert Borden die Performance des Rivalen und gefährdet zum wiederholten Mal das Leben seines Feindes. (Wir überspringen die Blessuren aus den Testreihen mit der Tesla-Maschine.) Im Nolan-Film bringt Borden den Gegner, wie erwähnt, schon bei einer der frühen Wassertank-Tricks in Lebensgefahr. Angier berichtet später, dass er sich nicht erklären kann, wie er überleben konnte. Indirekt hingegen ist zu erfahren, dass es Borden war, der Angier wohl nach dem Leben trachtete, zumindest sabotieren wollte, ihn dann aber, wenn auch unabsichtlich, rettete. – Der Zauberkünstler ist am Ende der weniger Unheimliche im Vergleich mit dem Magier, selbst dem phantasierten. – So oder so: Angier fällt in den mit Ketten verriegelten Wassertank, den er als Prestigio-Material vorbereitet hat, kann sich selbst nicht befreien und kommt beinahe zu Tode. Eine Spiegelung des ersten Todesfalls. Das Drehbuch Nolans könnte folglich 64
So heißt sie bei Borden.
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schon ab dieser Episode anstelle Angiers seinen blessierten Clon weiter spielen lassen. Dass Borden den Gegner vor dem Ertrinken rettet, ermöglicht allerdings, dass der sich später selbst zu Tode bringen kann. Die endgültige Zerlegung seiner Prestigios indes hat nichtsdestotrotz schon jetzt begonnen. Als Borden, dem letzten Geheimnis seines Feindes auf der Spur, Angier die Spannungszufuhr seines neuen Tesla-Apparats abschaltet, ist es soweit. Angier wird nicht gänzlich in corpore transmittiert und zerfällt in zwei unterschiedlich vollständige Prestigios. Ab nun leben die beiden Repräsentationen in Koexistenz, wobei die Überlebensfähigkeit des ursprünglichen Ich – anders als zu Zeiten der Testreihen – an den Clon übergeht. Am Ende eines komplizierten, weil unbedingt zu verbergenden Doppellebens wechseln (viel später als in Nolans Dramaturgie) die Schreiber des geheimen Tagebuchs; Earl Rupert Angier, der den Anschlag vorübergehend überleben und bis zu seinem Ende das Tagebuch führen kann, wird von seinem Prestigio beerbt, der ihm ein scheinbar ganz natürliches, sicherheitshalber aber zusätzlich inszeniertes Begräbnis bereitet – und die Einträge ins Tagebuch übernimmt. Das Opfermaterial zu stellen, wird nun endgültig den Protagonisten selbst zugemutet. Der alternative, anfänglich noch instabile Prestigio Angiers65, der zuvor im Erfolgsfall einer Vorstellung als Opfer des Effekts vorgesehen war, das (bei Priest66) in einer Klappe der Tesla-Maschine entsorgt wurde, soweit etwas von ihm übrig blieb, dieser Prestigio mausert sich und hat endlich, da der beerdigte Earl nicht mehr belangt und er nicht adressiert werden kann, die Chancen des Mr. Hyde, der Dr. Jekyll zuhause eingesperrt zurückgelassen hat. Angiers alter ego könnte seinen Rivalen Borden töten und unbestraft entkommen.
Nur die bedingte Fiktion, mythos und Dichtung erlauben zu identifizieren, wer hier spricht. Sie selbst. Mythos und Dichtung sprechen, niemand anders als ‚die Darstellung‘. Die Darstellung ist aber genauso Inszenierung und Szenifikation, aus ganz unterschiedlichen Quellen gespeist, Quellen, die keinesfalls ihr Wasser in denselben Fluss fließen lassen. Immerhin lassen sie sich lesen, teilweise und in der Art von Palimpsesten, die aufeinander Bezug nehmen. Die Geschichten figurieren die Szene, so dass das Spiel der Figuren nicht nur gehört, sondern auch als Bild und Vorstellung gesehen und gefühlt werden kann. So gibt es eine Ahnung, was sie bedeuten könnten.67 „Dieser Akt der Magie muss stattfinden, während ich allein bin.“ (Ruprecht Angier)
Den Quellen, den Aufzeichnungen der beiden Magier nach schrecken beide, Angier wie Borden, im letzten Augenblick zurück davor, den Feind eigenhändig umzubringen. 65 Eine Weile vegetieren beide im Verborgenen dahin. „Während ich noch lebte“, es spricht nun der
überlebende Prestigio, „erhielt ich die Illusion aufrecht, dass ich allein sei. Der eine lag im Sterben, während der andere die letzten Anliegen niederschrieb. [...] Wir sind einer des anderen Prestigio.“ Priest, Prestige, a.a.O., S.416. 66 Bei Nolan mutmaßlich in einem vorbereiteten Prestigio-Behälter ertrank (?). Jedenfalls so das Verständnis einiger Film-Kritiker. 67 Das durchaus in Konzentration auf den Plot behauptet, die Inszenierung der Darstellungsmedialität, Buch, Drehbuch, Film in diesem Kontext gar nicht gesondert zu analysieren.
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Abb.15 Prestigio negativo, masc. (Filmzitat The Prestige, Regie: Christopher Nolan, Alfred Borden, Christian Bale, IMDb).
(157ff., Kap. 38 der Borden-Biografie) Es handelt sich nicht um einen Kriminalroman. Es läuft wie bisher, die Opfer stellen sich ein. Sie müssen von niemandem absichtlich ins Kalkül gezogen werden. Und noch sind es nicht genug. Im Nolan-Film wird Borden hingerichtet, weil er offensichtlich dafür verantwortlich ist, dass Angier ertrinken musste. Zwar ist Borden (einer der Borden-Brüder) nun, wie Angier, nicht mehr in der Lage, seinen Tranported Man zu geben, fehlt ihm doch die Zwillingsmaschine. Albert Borden ist tot. Doch könnte nun der überlebende Bruder Frederik68 den alten Rivalen, der ja offiziell ertrunken ist und von dessen übernatürlichem Überleben wie im Priest-Roman niemand weiß, ohne Ahndung befürchten zu müssen, niederschießen. (Die moralisierende Anekdote bei Nolan, der Angiers Ertrinken als klar ohne Absicht durch Borden verursacht inszeniert, weil die Zwillingsbrüder zumindest auf dem Feld der Liebe ehrlich bleiben, ist wie gesagt fraglich, da niemand der beiden mehr weiß, wer er ist. Etwas anders bei Nolan: Alfred Borden ist der, der seine Frau Sarah, sein Bruder derjenige, der Olive liebte – was zunächst ja undurchsichtig bleibt.) – Angier endet in Nolans Prestige als nicht lebensfähiger Clon, als Prestigio-Rest. Das Ende von Angiers übrig bleibendem Prestigio verläuft in Priests Roman ebenfalls nach Plan. Gewisserweise einsichtig geworden, was die Endlichkeit des Lebens angeht, bestenfalls gewappnet mit der Hoffnung auf einen unvermuteten technischen Effekt unendlicher Endlichkeit – und sei er materialisiert in Gestalt seiner Nachkommen69 –, bereitet die vorübergehend erstarkte Angier-Kopie ihre letzte Reise in die Familiengruft vor. „Doch dieser Akt der Magie muss stattfinden, während ich allein bin – denn ich werde mich in den Körper meines verstorbenen Prestigios projizieren, und dort wird mein Ende sein.“ (440) So oder so.
Wie gezeigt, gehört das Dissimulieren des Opfers qua Darstellung ganz selbstverständlich zum Simulationsprozess. Doch vielleicht spricht man besser von Fiktion. – Das Fiktive als Simulation zu bezeichnen, würde wohl schon heißen, die 68 In Gestalt Fallons, des Assistenten des einen Al-Freds, somit in einer Verkleidung, die es zuvor für
die beiden immer schon gab (spiegelverkehrt wie unter Nolans Regie). Wovon dann in der Tat das Schlusskapitel des Priest-Roman handelt, überschrieben: „Die Prestigios“.
69
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Dissimulation zu ventilieren, was berechnend vielleicht seltener geschieht. – Für sich genommen jedenfalls und kalkuliert, brächte solches Opfer keinen Effekt, würde vielmehr als Fehlstelle die Anfälligkeit des (eigenen) Spiels offenbaren. Eines Spiels, das misslingt. Mithin muss das Opfer kompensiert werden und als besonderer, wenn nicht der Effekt der Geschichte auftreten. (Siehe den Exkurs zur christlichen Heilsgeschichte.) Selbstaufopferung als letzte Geste des Subjekts. Eine Inszenierung des Verschwindens. Oder eine des Erscheinens, dessen mimetische Struktur, dessen Herkunft aus einem schon Anwesenden verschleiert gehört. Erst dann scheint die Bannung erfolgversprechend. Denn sollte der Prestigio als Wiederholung gelten müssen, wird niemand entscheiden können, ob das Wiederaufgetauchte das verbürgte Ursprüngliche ist. Eine generell offene Frage, wie es scheint. Dann mag es doch besser sein, es gibt gar kein Pfand, es wird geopfert und vergessen und der Tod als Selbstaufopferung inszeniert. Wenn das Nicht- oder Doch-Wiederauftauchen des ursprünglichen Dings so problematisch und gar nicht verlässlich geschieht wie in den vorgetragenen Geschichten, liegt es nahe, dass Emotionen geweckt werden, die mit der Evidenz der leibhaft lebendigen Konklusion der Gewohnheit respektive einer perspektivischen Darstellung, die ihre Grenzen kennt, über Kreuz liegen und die Chancen auf Selbstkontrolle vereiteln. Es wäre nicht unverständlich, wenn nicht nur das in diesen Gefühlen zum Ausdruck kommende Missbehagen, sondern auch die darin aktive Abwehrhaltung verdrängt würden, um so den Grund der negativen Affektstimmung zuzumauern. Besserung nämlich ist wohl prinzipiell nicht in Sicht. Nur der eine oder andere Prestigio, mal mit positiven, mal mit negativen Folgen. Hier bestünde dann Anlass, die unter Umständen psycho-analytische Betrachtungsweise von Symptomen mit zu Rate zu ziehen, auf die wir abschließend einen kurzen Blick werfen, um die ontologischen Perspektiven auf die metaphysischen zu erweitern, was in diesem Rahmen nicht mehr geschehen wird. 4. ZUM ENDE SCHLIESSLICH DESHALB EINIGE WENIGE ÜBERLEGUNGEN ZUR NOTWENDIGEN VERDRÄNGUNG DES SCHICKSALS DES PRESTIGIO ALS EFFEKT. ALS EFFEKT DES EFFEKTS.
Der emotionale Interpretant motiviert das Verständnis über das Fühlen und die Gefühle. Im Sinne Heideggers Diagnose der ästhetisch grundlegenden Prozedur könnte man sagen, dass das dominierende, sich aufdrängend Wahrnehmbare in der Begegnung mit den Sinnen zu entsprechend emotionalen Reaktionen der „Einfühlung“ und mit ihnen verbundenen Stimmungen führt70, dies aber 70
Wobei wir hier die sich aufdrängende Wahrnehmbarkeit nicht auf das visuell „Scheinendste des Scheinenden“ reduzieren.
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keineswegs die Sinnproduktion über Anstrengung und Handlung, über Bewusstsein und Bewusstseinsveränderungen ausschließt, die Variationen des Bedeutenlassens vielmehr je eigene Affären eingehen und austragen. Gemäß einer zeitgenössischen Fassung – wir führen beispielhaft Mario Perinola an – würden wir im Allgemeinen die szenische Codierung akzeptieren und bestimmten, in der Szene verankerten Dispositiven des Gefühls und des Fühlens ‚beitreten‘. Was daraus wird, ob die Attraktion der Szene die Szenifikationen zu bändigen und zu beruhigen weiß oder die Szenifikationen die Szene überschwemmen, sieht Perinola (ähnlich wie Heidegger und auch Peirce) in der Differenz von Betroffenheit, auch Verbundenheit, im Unterschied zu Besessenheit und „Angriff“.71 Ein fühlender Sinn ist in allen Lesarten stets und als erster beteiligt, wenn es heißt, den Sinn eines Effekts zu verstehen; an ihm liegt es, den Begriff für diese Art der bedeutenden „Wirkung“ des Zeichens oder Mediums auf die Spur zu bringen. Die Wirkung, die dabei den Sinn macht, darf indes, was ihren doppelt gerichteten Inhalt angeht, nicht als komplementär vorgestellt werden –, je nachdem ob sie zum „kosmischen“ oder „theatrischen“ Fühlen tendieren lässt. Denn wenn der Effekt vom Ursprung her, von seiner Gründung in der Physis her, auch zu integrieren vermag, vom Ende einer Entwicklung her, die das Fühlen mehr oder weniger auf das fühlende Subjekt zurückgewendet hat und sich darin, das heißt im Sich-selbst-Fühlen und einer psychologisierten Anthropologie erschöpft, vermag er dies kaum.72 So oder so, hören wir noch einmal Peirce: wenn Zeichen oder Medium weitergehende Wirkungen zeitigen sollten, insbesondere Anstrengungen, Handlungen, Gewohnheiten und Gewohnheits- bzw. Bewusstseinsveränderungen, dann stets „durch die Vermittlung des emotionalen Interpretanten“73, durch ein fühlendes Sinnverstehen gepolstert. Und weiter: Unter den „Kategorien mentaler Tatsachen [...], die einen allgemeinen Bezug haben“, aber nicht als Erklärungen gelten können, wie die Schlussfolgerungen eines Gewohnheiten verändernden Besinnens, zeichnet sich das „Begehren (desire)“ aus. Da eben nicht als Wirkung, sondern Ursache von Anstrengungen, kommt das Begehren weder für den logisch finalen noch für den energetischen Interpretanten infrage, gehört vielmehr zu den mentalen Reaktionen der 71 Um noch einmal einen Heidegger’schen Begriff zu gebrauchen. Perinola artikuliert die beiden Seiten
in seiner Schrift Über das Fühlen als „Unterschied von gelassener Hinnahme und erlebnisorientierter Besessenheit, von aisthesis und menos“ oder „kosmischem Fühlen“ und „theatrischem Fühlen“. Ersteres „ein glückseliges Entdecken der Einheit von Verstand und Sinn, Seele und Körper von Mensch und ihn umgebender Umwelt“, Zweiteres als „ein begeistertes Sich-Darbieten, um von Kräften besessen zu sein, deren Dynamik rätselhaft und widersprüchlich“ ist. Perinola, Über das Fühlen, a.a.O., S.143. 72 Bei Heidegger wäre der doch sehr enthusiastische kosmische Bezug, der zweifellos der Physis gilt, als ‚Erdung‘ konkreter; die Nichtkomplementarität allerdings von gelassenem „Empfangen“ und „Genuss“ auf der einen, der „Erzeugung“ und „Eroberung“ auf der anderen Seite, gilt ebenso. Siehe Heidegger: Nietzsche I, a.a.O., S.92-101; ders.: Die Zeit des Weltbildes, a.a.O. 73 Peirce, Der Kern des Pragmatismus, a.a.O., S.282/283.
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emotionalen Deutung.74 Was die energetischen, die handlungsorientierenden Voraussetzungen der Passionen betrifft, äußert sich Peirce ähnlich wie Freud ungefähr zur selben Zeit. Peirce vermutet bestimmte physiologisch vermittelte physikalische Kräfte und Einflüsse, letztlich „ein[en] dem Geist ‚externe[n]‘ Zustand der Dinge“, der auf den Geist Einfluss nimmt75, eine physische beziehungsweise physikalische Erdung des Effekts, die sein energetisch funktionales, tendenziell technisches Potential ausmacht, aber auch seine Halbwertzeit anzeigt. In Freuds Diktion qualifizieren sich bestimmte energetische Einflüsse zur Besetzung psychischer Instanzen. Freud spricht in Die Verdrängung aus dem Jahr 1915 von einem psychischen „Drang“, lustvolle Erfahrungen zu wiederholen. Die Triebrepräsentanz äußert sich in Empfindungen, die zu Vorstellungen oder Vorstellungsgruppen gerinnen. Ihnen folgend vermag sich das Begehren eine Richtung zu geben. Trifft es auf Widerstand, so dass auf dem Weg des Begehrens Unlusterfahrungen zu erwarten stehen, kommt es dazu, „daß etwas anderes, was den Trieb repräsentiert, neben der Vorstellung in Betracht kommt und daß dieses andere ein Verdrängungsschicksal erfährt, welches von dem der Vorstellung ganz verschieden sein kann.“ Dieses andere Element der psychischen Repräsentanz wird begrifflich gefasst als „Affektbetrag“. – In der Priest’schen Triade kommt er ins Spiel im turn, angesichts des eigentlichen Effekts oder Objekts. – Freud: „Es entspricht dem Triebe, insofern er sich von der Vorstellung abgelöst hat und einen seiner Quantität gemäßen Ausdruck in Vorgängen findet, welche als Affekte der Empfindung bemerkbar werden.“ Es ist also immer gesondert zu verfolgen, „was durch die Verdrängung aus der Vorstellung und was aus der an ihr haftenden Triebenergie geworden ist.“76 Der „quantitative Faktor“ des via Empfindung als Vorstellung repräsentierten Triebes kann entweder ganz verschwinden, so dass man nichts mehr auffindet, oder er tritt als zu einem irgendwie qualitativ gefärbten Affekt hervor – oder er wird in Angst verwandelt. „Die beiden letzten Möglichkeiten stellen uns die Aufgabe, die Umsetzung der psychischen Energien der Triebe in Affekte [verschiedene also – HW] und ganz besonders in Angst ins 74
Ebd., S.256/257. Charles S. Peirce: Logik: Als Untersuchung der allgemeinen Natur der Zeichen aufgefasst. 1908, II. Kapitel I: Was Logik ist. MS 609, S.21-31., 9., 1908, in: Semiotische Schriften 3, a.a.O., S.319; siehe auch S.320/321ff. „Der reale Zustand der Dinge muss also in jedem Augenblick einer Zeitspanne auf den Sinn einwirken, und der augenblickliche Zustand wirkt nur, während er besteht, das heißt für einen Augenblick. Dieser Augenblickseffekt ist alles, was mit Erstem Sinneseindruck gemeint ist; und obwohl sich dieser der fraglichen Meinung entsprechend, für eine gewisse Zeit entwickelt, sind doch seine Veränderungen der Wirkung des Augenblicklichen Zustands der Dinge auf die Aktivität des Gehirns und nicht direkt auf den Realen Zustand der Dinge zurückzuführen, obwohl eine kontinuierliche Folge augenblicklicher Zustände der Dinge folgt, die gleichzeitig mit der unter dem Einfluß des Gehirns sich vollziehenden kontinuierlichen Entwicklung der Wirkungen vergangener Sinneseindrücke eine kontinuierliche Folge Erster Sinneseindrücke im Bewusstsein produziert.“ (Ebd., S.321 – Orthographie wie im zitierten Text.) 76 Sigmund Freud: Die Verdrängung. In: Sigmund Freud: Studienausgabe Bd. III, Psychologie des Unbewußten, hgg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt am Main (Fischer) 1982, S.113. 75
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Auge zu fassen.“77 Es ist offensichtlich nicht der einzig endgültige Effekt (stünde seine Effektivität nicht in Frage, wenn es so wäre?), Angst zu hinterlassen. Viel eher sollten wir einen effektiven Umgang mit dem Schauder erwarten und sei es in Richtung des Jammers. Soweit es ein Jammer des Prestigio ist, bedeutet dies ja nicht mehr, als zumindest vorübergehend davon gekommen zu sein, was durchaus Affekte von Lust und Befriedigung zu befördern vermag, zumindest die Hoffnung, die Peirce stets erwähnt. Freud korrigiert diese Verwechslung der Effektinstanzen einige Zeit später. Doch scheint es weniger ein Problem der Vertauschung von Kausalitäten als eines der von Hinsichtlichkeiten angesichts eines dynamischen Prozesses. Denn selbstverständlich kann der Fokus auf die Wiederkehr des Verdrängten gelenkt werden, die Wiederkehr des Verschwundenen an anderer Stelle. In Prestige gehört dies für die Meister der Magie zur Obligatorik. – Der Kultus scheint davon zu leben. – Hier sind Schauspieler im Diderot’schen Verständnis am Werk.78 Sie gehören nicht zu den Empfindsamen, sondern zu den kalkulierenden Profis, sie wissen Bescheid, das gehört zu ihrem Beruf. Insofern, das heißt professionell, geht es für sie – idealiter – nicht um die Wiederkehr des Verdrängten als Symptom, sondern um die Wiederkehr des Verschwundenen, das regelmäßig als Prestigio, das heißt nach Priest ‚Altmaterial‘ ursprünglicher Präsenz, auftaucht und versteckt oder entsorgt wird. Dass, wie es scheint, diese Prozedur tatsächlich nur im Wahnsinn zu durchstehen ist, demonstrieren seine Protagonisten. Verdrängung ist kein ursprünglich vorhandener Abwehrmechanismus, sondern für Freud an die Trennung von bewusster und unbewusster Seelentätigkeit gebunden. Verdrängung ist wesentlich „Abweisung und Fernhaltung vom Bewußten“.79 Zur Aufrechterhaltung ist ein dauernder Kraftaufwand vonnöten; ebenso wie für die Belebung der neurotischen Symptome, die sich als Abkömmlinge des Verdrängten dem Bewusstsein präsentieren und als „Ersatzbildung“ in Erscheinung treten. Beispielsweise in Form von Idealisierungen. Mit Blick auf unsere Interpretation des Effekts als Bedeutung im Sinne der Interpretanten-Instanzen Peircens wäre der dauernde Kraftaufwand, den Freud für die Aufrechterhaltung des Verdrängungsinputs unterstellt, Kriterium für die geforderte Aktivität des energetischen Interpretanten in intentionalen Handlungskontexten. Der Druck, der hier „aufrechterhalten“ werden könnte, um bestimmte Bedeutungen (Effekte) vom Bewusstsein fernzuhalten, würde, was ein mögliches Bewusstsein davon angeht, den Ausprägungen des energetischen Interpretanten folgen. 77
Ebd., S.114/115.
78 Ich denke an Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien. Dt.: Paradox über den Schauspieler (1773),
erstpubliziert 1830. In: Ders.: Ästhetische Schriften, Zweiter Band, hgg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt am Main 1968. Mehr Dazu in der Einführung, Teil 1. 79 Freud, Die Verdrängung, ebd., S.108.
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Wir erinnern, dass er dem „realen Objekt“ entspricht, nicht der Allgemeinheit des schlussfolgernd finalen Bedeutenlassens genügen kann, und deshalb sein Bewusstsein dem szenifikatorisch aktuell erfassten Szenischen entspricht, als eines von „realen Tatsachen oder Dingen“. Die Fernhaltung von Bewusstem durch Kraftaufwand, die Freud hypostasiert, implizierte, dass die emotionalen und affektiv gefärbten Bedeutungsleistungen (dies ließe sich durchaus mit den Peirce’schen Untersuchungen vereinbaren) noch ‚unterhalb‘ dieser Schwelle, die zugleich einen Eintritt und eine Öffnung, eine Membran darstellt, als ein noch unterbewusstes Sinnverstehen gelten müssen, möglicherweise erst auf dem Weg hin zur Artikulation eines Gefühls, einer Stimmung, einer energetischen Entfaltung und zum Bewusstsein von Schlussfolgerungen geleiteter Veränderungen. Nun ist es nicht die Verdrängung selbst, welche die Symptome schafft. Symptome sind vielmehr Indizes für die Wiederkehr des Verdrängten. Im Vergleich von Vorstellung (Repräsentanz im Geist) und Affektbetrag der Repräsentanz (qualitativem Ausmaß des affektiven Anteils), entscheidet Letzterer über das Schicksal des Verdrängungsvorgangs. So Freud, in Übereinstimmung mit Gesagtem. „Gelingt es einer Verdrängung nicht, die Entstehung von Unlustempfindungen oder Angst zu verhüten“, heißt es ganz konsequent auch schon in Die Verdrängung, „so dürfen wir sagen, sie sei missglückt, wenngleich sie ihr Ziel an dem Vorstellungsanteil erreicht haben mag.“80 Bei Peirce könnte die Angst ursprünglicher platziert erscheinen als in Freuds Aufsatz aus dem Jahr 1915, in dem sie als „neues Triebschicksal“ beschrieben wird. „Ursprünglicher“ allerdings nicht im Sinne eines kaum qualifizierbaren Effekt-Affekts, einer Regung, die vielleicht eher eine kaum zu verstehende körperlich-seelische Reaktion, die Spur eines möglichen Gefühls darstellt. Wenn man annimmt, dass Angst den emotionalen Interpretanten in Konkurrenz zu anderen Gemütslagen schon mit der ersten Wirkung eines entsprechenden Zeichens, eines Emotionszeichens der Art „Angst“ sozusagen, bestimmen könnte, um den Charakter des Begehrens zu prägen, wird offenbar, was Peirce meint, wenn er darauf besteht, dass der tri-relative Einfluss des Interpretanten auf keine Art in Wirkungen zwischen Teilen vorgestellt werden sollte. Tatsächlich gilt Desire als Ursache von Anstrengungen und nicht als deren Wirkung. Bedenkt man, dass die Qualifikation des Affekts die Anstrengung des Handelns in einer szenisch gelenkten Hinsicht braucht, lässt das für den Fall, dass sie noch gar nicht geleistet wurde, tatsächlich eher an eine unqualifizierte Gestimmtheit des Fühlens denken. Doch ist es sinnvoll, Sinn erzeugend, ein „Fühlen“ ganz allgemein auf sich selbst, ein „Fühlen“ zurückführen zu wollen? In diesem Fall hätten wir es in der Konsequenz mit einem der wesentlichen Vorgänge der Heidegger’schen 80
Ebd., S.114/115; Hervorhebung – HW.
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Neuzeitdiagnose zu tun, dem Sich-selbst-Fühlen in der ausschließlichen Rückwendung des Subjekts auf sich selbst.81 Der „quantitative Faktor“ wird schließlich gerade hier verhandelt. Sei es, dass er nicht vorkommt, irgendwie vorkommt oder als Angst vorkommt. Das heißt aber zunächst nicht mehr, als dass das Irgendwie der „Umsetzung der psychischen Energien der Triebe in Affekte und ganz besonders in Angst ins Auge zu fassen“ bedeutet, zu verstehen, was „Angst“ bedeutet respektive wie wir gewohnt sind, den Ausdruck zu verwenden.82 Bis dahin wäre der Affekt nicht besser bestimmt denn als Triebmenge per Szenifikation und szenischer Rahmung, was alles Mögliche heißen kann. In Hemmung, Symptom und Angst (1926) revidiert Freud seine Vorstellungen im Sinne der Qualifikationsforderungen Peircens: Jetzt heißt es in Auseinandersetzung mit der klinischen Analyse, dass „die Angst die Verdrängung, nicht, wie ich früher gemeint habe, die Verdrängung die Angst“ macht.83 Dies käme unseren Ableitungen und den analysierten Beispielen entgegen. Peirce spekuliert nicht über das Schicksal der unterschiedlichen Varianten des Begehrens. Immerhin ist ihm klar, dass die lebendige Konklusion die Darstellung mit Empfindung einzufärben vermag. Dieses praktische Schließen beinhaltet eine bestimmte, ursprüngliche, auf der Basis des Fühlens einsetzende affektive Lenkung der ausgelösten Aktivität. Durch Freude, Hoffnung, Befürchtung ... Geglückte Inszenierungen werden die verschiedenen Formen alternativer Effektpräsenz integrieren respektive mit Affekten begleiten, die das handelnde Verstehen bewegen, die Fiktionen, die Tatsachen des Wollens, als die realitätsgerechte Version der gerade aktuellen Praxis aufrechtzuerhalten und entsprechende Bewusstseins- und Gewohnheitszustände zu stabilisieren – mithin unbewusst werden zu lassen. Doch kann sich ein Effekt des gefühlten Sinns angesichts spezifischer Objekt-, Ding-, Ereignisrepräsentationen, die das szenische Spiel oder die passende Darstellung wie damit verbundene Symptombildungen begleiten, so verstärken, dass er nicht synthetisiert werden kann, sondern als Störung empfunden wird. Dann könnten die Symptome unbewusster Gewohnheiten, die berührt wurden, sich verselbständigen und zu negativen Affekten führen, insbesondere Befürchtungen, welche die Vorstellungen überschwemmen und die Lust zu verdrängen anstacheln.84 81
Siehe Heidegger, Zeit des Weltbildes, a.a.O. Freud, Die Verdrängung, a.a.O., S.114 u.115. 83 Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst. In: Sigmund Freud. Studienausgabe Bd. IV, S.253f. Der „Angstaffekt der Phobie, der ihr Wesen ausmacht, stammt nicht aus dem Verdrängungsvorgang, nicht aus den libidinösen Besetzungen der verdrängten Regungen, sondern aus dem Verdrängenden selbst; die Angst der Tierphobie ist die unverwandelte Kastrationsangst, also eine Realangst, Angst vor einer wirklich drohenden oder als real beurteilten Gefahr. Hier macht die Angst die Verdrängung, nicht, wie ich früher gemeint habe, die Verdrängung die Angst.“ Siehe auch ebd., S.298ff. 84 Siehe Heiner Wilharm: Hautnahe Begegnung der Dritten Art. Szenen mit Patient und Arzt. In: 82
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Die ursprüngliche Verdrängung wird immer der Gefährdung durch die Konstruktion der Fiktion als solcher gelten, soweit sie Resultat der Selbsttätigkeit des Subjekts ist. Verdrängt wird die notwendige Verknüpfung von Simulation und Dissimulation zur Produktion und Aufrechterhaltung der Szenifikation und der Möglichkeiten zu einem szenischen reset. Aber insbesondere die dissimulativen Praktiken galten ja dem Verschwindenmachen gewisser uninszenierter Realitäts- und Objekteffekte, die ursprünglich – aufbewahrt in bestimmten unbewussten Gewohnheiten – als Wirklichkeit verbürgende Kausalitäten aufgefasst wurden, Effekte, die die Welt tatsächlich verändern. Mit der Etablierung der Fiktion wurden sie als isolierte, nicht szenisch qualifizierte und anschließbar erachtete Dingeffekte ausgesondert. Die Rückkehr des Verdrängten geschieht als Wiederholung solcher Wirkungen der Kraftentfaltung, die „vom Realen Objekt ausgeht – von jenem Zustand der Dinge“, wie es bei Peirce heißt.85 Und zwar in Form von Symptombildungen, die ganz unterschiedlicher Natur sein können. Beispielsweise ist die Idealisierung der Szenifikation als Theatralisierung (und hier meine ich nicht Theatrik) verbreitet. Es handelt sich dabei um eine Verallgemeinerung der Kunst, welche die Anschlussnotwendigkeit von Szenifikation zu Szenifikation, von Szene zu Szene (die eben nicht nur in der Kunst beheimatet ist) ebenso wie die vom Inszenierten zum Uninszenierten verleugnet. Oder es könnte, wie unsere Roman- und Filmbeispiele zeigen, dass der Umgang mit der Magie der Inszenierung eine Radikalisierung der magischen Praktiken verlangt, wie sie etwa mit einer Verlagerung des Spiels in die Labors und Hörsäle der harten Wissenschaften einhergeht oder in den religiösen Kult. Droht im einen Fall die Langeweile der medialen Totalverwurstung, so im anderen Fall entweder der Tod als Unfall oder Geschick oder ewige Verdammnis. Aufgedeckt hieße solches Ende, ohne den Prestigio auskommen zu müssen, der doch auf Unsterblichkeit hinauswill. Also ist es angebracht, abzuwarten, dass alles, was verschwunden ist, wieder auftaucht – und darauf, besonderer Effekt des positiven Prestigio, dass es so aussieht, als könne man behalten, was wieder auftaucht. Eine schöne Verheißung, die manches Opfer wert scheint, nicht zuletzt, sich mindestens mit den Symptomen anzufreunden, die nicht verschwinden wollen. Schließlich ist das Wichtigste, die Verdrängung zu verdrängen. Selbst wenn die Symptomausbildung eine mehr oder weniger neurotische Reaktion auf Verlusterfahrungen indizieren sollte: Nicht mit allen Symptomen Medizin und Kulturwissenschaft, Bd. 7, hgg. von Heinz Schott und Walter Bruchhausen, Bonn 2012. Dort auch eine weitergehende Behandlung der Übertragungsvorgänge im psychoanalytischen Kontext, die in diesem Aufsatz nur in engen wissenschaftshistorischen Grenzen, bezogen auf die Positionen Peircens und Freuds am Beginn des 19. Jahrhunderts, und nur implizit angesprochen werden. Zum Thema siehe insbesondere Kap. 4: Zwischen Symboloperation und Szenifikation. Szenisches Verstehen, Übertragung, mediale Effekte, in: Wilharm: Hautnahe Begegnung, a.a.O., S.175ff. 85 Peirce, Was Logik ist, a.a.O., S.319.
MAGISCHE EFFEKTE ODER VOM VERSCHWINDEN DER ENDLICHKEIT 401
geht man zum Arzt. Im Fall von Krankheit legt Peirce in Übereinstimmung mit Freud eine Gewohnheitsveränderung nahe, eine „Veränderung in den Neigungen einer Person zum Handeln [...], die sich aus vergangenen Erfahrungen oder aus vergangenen Willensanstrengungen oder Handlungen oder aus Mischungen beider Ursachen ergeben.“ Sie „schließt neben Assoziationen das ein, was man ‚Transsoziationen‘ oder Veränderungen von Assoziationen nennen könnte und schließt sogar die Dissoziation ein, die von Psychologen bisher (ich glaube zu Unrecht) üblicherweise als der Natur der Assoziation zutiefst entgegengesetzt angesehen wurde.“86
86
Peirce, Der Kern des Pragmatismus, 2. Auszug: III. Fragment, ebd., S.283/284 (Hervorhebung – HW).
DIE AUTOREN PROF. DR. RALF BOHN, DIPL.-DES.
Studium in Design, Philosophie, Literatur. Diplomarbeit über Allegorien und urbane Signifikationen. Promoviert bei Rudolf Heinz (Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens bei Robert Musil, Würzburg 1988); Habilitation bei Bazon Brock (Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004). Seit 1981 Creative Director, Konzeptioner, Texter und Autor und Herausgeber. Seit 2007 Professor für Medienwissenschaften am FB Design der FH Dortmund. Zahlreiche Monografien, u.a.: Verführungskunst. Politische Fiktion und ästhetische Legitimation, Wien 1994. Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium, Würzburg 2005; Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee, Bielefeld 2009, Szenografie & Szenologie Bd. 2. Zusammen mit Heiner Wilharm Herausgeber der Reihe Szenografie & Szenologie im transcript Verlag, Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Theoriediskurse der Szenografie. – Philosophie und Psychoanalyse der Medien, Medienekstasen und ihre therapeutische Einholung. Demnächst erscheint: Die szenologische Differenz. Zur Propädeutik einer Szenologie, (vorauss. Bielefeld 2014). PROF. FOSCO DUBINI
Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, der Germanistik und der Sozialpsychologie an der Universität Köln. Von 1991 bis 2006 Professeur d’atelier de recherche et d’expérimentation an der Ecole Supériere des BeauxArts in Genf. Seit 2010 Professor für Film am Fachbereich Design der Fachhochschule Dortmund. Zusammen mit Donatello Dubini Autor und Produzent von verschiedenen Dokumentar- und Spielfilmen: Das Verschwinden des Ettore Majorana; Klaus Fuchs – Atomspion; Jürgen Kuczynski – Erfahrungen im Umgang mit dem eigenen Ich; Ludwig 1881; Jean Seberg – American Actress; Thomas Pynchon – A Journey into the Mind of ; Die Reise nach Kafiristan; Hedy Lamarr – Secrets of a Hollywood Star; Die grosse Erbschaft; Die innere Zone. DR. STEPHAN TRÜBY
Geb. 1970, unterrichtet Architekturtheorie an der Harvard University und ist Direktor des Postgraduierten-Studiengangs Spatial Design der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er studierte an der AA School in London, promovierte bei Peter Sloterdijk und war von 2007 bis 2009 Professor für Architektur an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Zu seinen wichtigsten
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Publikationen gehören architektur_theorie.doc (Birkhäuser 2003, mit Gerd de Bruyn), Exit-Architektur: Design zwischen Krieg und Frieden. (Springer 2008), The World of Madelon Vriesendorp (AA Publications 2008, mit Shumon Basar) und Hertzianismus: Elektromagnetismus in Architektur, Design und Kunst (Fink 2009). Sein neuestes Buch, Die Geschichte des Korridors, ist im Erscheinen. DR. CÉLINE KAISER
Dr. Céline Kaiser forscht und lehrt im Feld der kulturwissenschaftlichen Literatur- und Medienwissenschaft, mit aktuellen Arbeitsschwerpunkten an den Schnittstellen von Szene/Szenografie, Subjekttheorie und Wissenschaftsgeschichte. Studium der Germanistik, Philosophie und Medizingeschichte in Bonn und Düsseldorf. Seit 2000 Tätigkeit in Forschung und Lehre in der Medizingeschichte, der Neueren deutschen Literaturwissenschaft sowie an der FH Dortmund, Fachbereich Design. Abschluss der Promotion über Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung (transcript 2007). Daneben: Ausbildung zur Theaterpädagogin am TPZ Köln sowie freiberufliche Tätigkeit in den Feldern Dramaturgie und Theaterpädagogik. Seit Ende 2007 als Dilthey-Fellow der Volkswagen Stiftung über Szenen des Subjekts. Kulturgeschichte der Theatrotherapie um 1800-1900 – 1970/2000 am Institut für Germanistik, Vgl. Literatur- und Kulturwissenschaft in Bonn, ab 2013 am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum tätig (www.celine-kaiser.de). Zuletzt erschienen: Szenen des Erstkontaktes zwischen Arzt & Patient, V&R 2012 (zus. mit Walter Bruchhausen). JENS KRAMMENSCHNEIDER-HUNSCHA
Geboren 1977 in Bielefeld. Kaufmännische Ausbildung. Designstudium an der Fachhochschule Dortmund mit Schwerpunkt Objekt und Raum. Abschluss 2012 bei Prof. Dr. Christoph Weismüller. Seit 2002 freier Texter und Lektor. Koordiniert seit 2012 als künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Design der Fachhochschule Dortmund die öffentlichen Auftritte und Buchmessen im buchlabor – Institut für Buchforschung. Lebt und arbeitet in Dortmund. PROF. DR. PAMELA C. SCORZIN
Geb. 1965 in Vicenza (Italien), studierte Europäische Kunstgeschichte, Philosophie, Geschichte und Anglistik in Stuttgart und Heidelberg. 1992 Magister Artium und 1994 Promotion zum Dr. phil. an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. 2001 Habilitation am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt. Anschließend diverse Dozenturen und Professurvertretungen an den Universitäten Siegen und Frankfurt am Main sowie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Zugleich freie Arbeit
DIE AUTOREN 405
als Kunst-, Design- und Medientheoretikerin. Mitglied der AICA seit 2006. Außerdem seit 2008 Professur für Kunstgeschichte und Visuelle Kultur am Fachbereich Design der FH Dortmund. Lebt und arbeitet derzeit in Dortmund und Mailand. GERRIET K. SHARMA
Geboren 5.3.1974 in Bonn. Lebt in Köln und Graz. Klangkünstler, Komponist. Studium der Rechtswissenschaften in Bonn, Aachen und London, Medienkunst an der Kunsthochschule für Medien Köln und Elektroakustischen Komposition/ Computermusik an der Kunsthochschule für Musik und Darstellende Kunst Graz. Langjährige Beschäftigung mit der Spatialisierung von Klangkompositionen zu 3D-Klangskulpturen in Wellenfeldsynthese und Ambisonics. Klanginstallationen im öffentlichen Raum, raum-kompositorische Auseinandersetzung mit dem Ort (Bau, Geschichte, Akustik, Widmung). Hier u.a. Workshop- und Performancetour für das Goetheinstitut Sao Paulo durch 15 brasilianische Städte 2008. Komposition und Aufführung radiophoner Hörstücke, Verdichtung von Text, Sprache und Klang zu einem raumbezogenen Gesamtklang. Beschäftigung mit Bild-Ton-Relationen in audiovisuellen Installationen, Film und Theater. Auszeichnungen und Stipendien, u.a. Deutscher Klangkunstpreis 2008, Artist in Residenz Pact Zollverein Essen 2009 und 2011, Stipendiat des DAAD 2007 und 2009, Chargesheimerstipendium Köln 2010. Seit 2009 Kurator der Signale-Graz, Konzertreihe für Elektroakustische Musik, Algorithmische Komposition, Radiokunst und Performance im Mumuth Graz. Gründung der Kanzlei für Raumbefragungen in 2010. Aufbau und Einrichtung Atelier Klangforschung für die Universität Würzburg 2011-13. www.gksh.net & www.kavs.cc ALLA SOSNOVSKAYA
Geboren in Kiew (Ukraine), studierte am Theatrical-Art Institute in Taschkent (Usbekistan). Arbeitete als Dozentin im Theatrical-Art Institute und im Art Theory and History Institute (Taschkent). Publizierte Artikel in Journalen in Moskau und Taschkent, z.B. zwei Alben und ein Buch über Stage Design. Lebt seit 1990 in Israel, arbeitet als Dozentin in Universitäten von Jerusalem und Haifa. Publikationen verschiedener Artikel auf Russisch, Hebräisch und Englisch. Seit 17 Jahren lehrt sie im Theater Department der Universität von Haifa in Israel. Spezialisierungen: Stage design und das Verhältnis von Regie, Theaterraum und Theaterarchitektur. KARL STOCKER
Dr. phil., Univ. Doz., Historiker. Studium der Geschichte und Volkskunde, seit 1983 Lehrbeauftragter (Karl-Franzens-Universität Graz, FH Joanneum Graz, Donauuniversität Krems, Universität der Künste Berlin, Yildiz Techni-
406 INSZENIERUNG UND EFFEKTE
cal University Istanbul). 1988 Habilitation, 1996/97 Vertretungsprofessur für Stadt- und Regionalsoziologie am Fachbereich Stadtplanung/Landschaftsplanungan der GHK/Universität Kassel. Seit 2001 Fachhochschullehrer an der FH Joanneum Graz für die Studiengänge „Informationsdesign“ und „Journalismus und Unternehmenskommunikation“. Seit 2004 Leiter des Studiengangs „Informationsdesign“, seit 2006 Leiter des Master-Studiengangs „Ausstellungsdesign“. Seit 1994 tätig als Ausstellungsregisseur, 1990 Gründung und Leitung von BISDATO. Ausstellungs- und Museumsregie, zahlreiche Ausstellungsprojekte wie Steirische Landesausstellung Wallfahrt (1994), Steirische Landesausstellung Verkehr (1999), Berg der Erinnerungen für Graz Kulturhauptstadt (2003), Absolutely free. Der Woodstockeffekt für das Landesmuseum Joanneum (2009) und Besucherzentrum Welterbe Regensburg (2011). ERIKA THÜMMEL, DIPL. RESTAURATORIN
Studium der Restaurierung am Opificio delle Pietre Dure in Florenz; Diplom, anschließend Aufenthalte in Wien, Süditalien und New York. Seit 1982 Atelier in Graz, freiberufliche Tätigkeit als Restauratorin (u.a. seit 1986 konservatorische Betreuung der Steirischen Landesausstellungen) sowie als Künstlerin. 1984-1988 vorwiegend Entwurf und Herstellung von „Wohnsubjekten“. 1988-1999 Installationen und Objekte; Mitglied der Künstlerinnengemeinschaft Eva & Co und der Künsterinitiative FOND. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. Gestaltung zahlreicher Ausstellungen: u.a. Herbert Eichholzer in Graz, Wien, Linz und Innsbruck, Votivbildsammlung in den Türmen der Basilika Mariazell, Das Staunen an der Welt in Schloss Aichberg, Steirische Moderne in Dunkler Zeit in der Neuen Galerie Graz, Berg der Erinnerungen absolutly free, der Woodstockeffekt, Herms FRITZ, auf neben & zwischen den Stühlen u.a.m. Hauptberuflich Lehrende an den FH-Joanneum Studiengängen Informationsdesign und Ausstellungsdesign. DR. BIRGIT WIENS
Theaterwissenschaftlerin. Promotion 1998 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Tätigkeit als Dramaturgin, Kuratorin und Projektleiterin u.a. für Bayerisches Staatsschauspiel und ZKM Karlsruhe; Lehraufträge u.a. an der HfG Karlsruhe. 2004-09 Professur für Theaterwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Dresden (FB Bühnen- und Kostümbild). Derzeit Realisierung des DFG-geförderten Forschungsprojekts Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. Arbeitsschwerpunkte: Dramaturgie (in Geschichte und Gegenwart), Schauspiel- und Performancetheorie, Szenografie im 20./21. Jh., Theater und Medien, Visual Studies, Theorien des Raums. www.birgit-wiens.de.
DIE AUTOREN 407
PROF. DR. HEINER WILHARM
Magisterstudium Universität Bonn: Philosophie, Germanistik, Allg. Sprachwissenschaft, Pädagogik; Promotionsstudium FU Berlin: Politikwissenschaft, Sozialwissenschaften, Geschichte; Diplomstudium Universität Bonn: Psychologie. Magister Artium 1974; Promotion 1981, Habil.-Adäquanz 2001. Wiss. Mitarbeiter Pädagogisches Institut der Universität Bonn, Philosophisches Institut Fern-Universität Hagen. Diverse Lehraufträge und Vertretungsprofessuren in Philosophie, Sozialphilosophie, Ästhetik, Kommunikations-, Medien- und Gestaltungswissenschaften. Seit 1990 Professor für Designtheorie, seit 2003 Professor für Gestaltungswissenschaften, Medien und Kommunikation. Veröffentlichungen zu Themen der Philosophie, der Wissenschafts-, Sozialgeschichte und Politik, zur Handlungstheorie, zur Medienproduktion, Mediengeschichte und Medientheorie; Schriften über Repräsentation, Zeichen, Kunst und Design, Szenografie und zur Ökonomie, Logik und Ontologie der Szene. Herausgeber der Reihe Szenografie & Szenologie (zusammen mit Ralf Bohn). Zuletzt im Kontext: Hautnahe Begegnung der Dritten Art. Szenen mit Patient und Arzt. In: Szenen des Erstkontakts zwischen Arzt und Patient, hgg. von Walter Bruchhausen und Céline Kaiser, Göttingen 2012, S.157-190; Metropolis. In: Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis, hgg. von Ralf Bohn und Heiner Wilharm, Bielefeld 2012, S.10-23; Urbanität und Ereignis. Über die Inszenierung von Architektur und Stadtraum. Ebd. S.229-287; Ursprung und Weltbild. Für eine Wiederbelebung der Künste des öffentlichen Raums. Zu Heideggers Bildauffassungen der 30er Jahre. In: Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaften, Tübingen 2013, S.91-131. In Vorbereitung: Philosophie der Szene, vorauss. Bielefeld 2014. Verschiedene Ausstellungen, Projekte und Interventionen im Öffentlichen Raum. Diverse Preise und Auszeichnungen. Leiter des Master-Studiengangs Szenografie & Kommunikation 2006-2012. Direktion der Scenographers’ Symposia 2007-2013. Unternehmens- und Kommunikationsberater. PROF. DR. ERNEST WOLF-GAZO
Seit 1991 Professor der Philosophie an der American University in Kairo, Ägypten. B.A. 1969 George Washington University; Dr.phil. 1974 Universität Bonn; Habilitation 1984 Universität Münster. Veröffentlichungen: Sacred and Secular Space in the Art of Caspar David Friedrich and Edward Hooper. In: Congress Book 2: Selected Papers (XVII. Congress of Aesthetics), (Hg.) v. Jale Erzen, Ankara 2009, S.313-322; Max Weber and Clifford Geertz on the Objectivity in the Social Sciences. In: Sosyal Bilim, hg. v. Ahmet Konuk/A.K. Bayram, Ankara 2009, S.287-313; Eine philosophische Collage nichtdiskursiver Erkenntnis. In: Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, hg. v. J. Bromand/G. Kreis, Berlin 2010, S.120-137. Remembering John E. Smith: Philosopher and Mensch. In: Experience, Interpretation, and
408 INSZENIERUNG UND EFFEKTE
Community: Themes in John E. Smith’s Reconstruction of Philosophy, edited by Vincent M. Colapietro. Cambridge, U.K. 2011, S.171-194. PROF. DR. MARTIN ZENCK
Prof. Dr. em. an der Universität Würzburg im Instiut für Musikforschung mit dem Schwerpunkt „Aesthetik, Medien, Neue Musik“, arbeitet seit Jahren einmal am Schwerpunkt „Aisthesis“ über Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen der Künste, zum anderen an einem ausgesprochenen Frankreich-Schwerpunkt über Foucault, Barthes und Derrida, in dem er demnächst ein Buch über Pierre Boulez auf der Grundlage der Sammlung „Pierre Boulez“ in der Paul Sacher Stiftung Basel zum Abschluss bringen wird. Ein anderer Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Thema „Komponisten im Exil“ im Hinblick auf den Komponisten, Pianisten und Musiktheoretiker Eduard Steuermann, über den er anhand der „Clara and Edward Steuermann Collection“ in der Library of Congress (Washington D.C.) mit den Mitteln der Fritz-Thyssen-Stiftung in den Monaten Juni und Juli dieses Jahres (2011) gearbeitet hat (erste Forschungsergebnisse liegen in einem Beitrag in 4/11 des AfMw vor). Ein neuerlicher Gegenstand seiner Arbeit liegt im Bereich der „Intermedialität von Bild und Musik“ in der frühen Neuzeit und in der Moderne, über den ein Forschungsprojekt zwischen der Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Universität Mainz (Elisabeth Oy-Marra, Gregor Wedekind und Klaus Pietschmann) und der Universität Würzburg (Martin Zenck) in Vorbereitung ist. Neuere Veröffentlichungen über „Expression, geste“ in einem von Jean-Paul Olive herausgegebenen Kongress-Bericht und über „Wiederholung“ in einem Sonderband über Deleuze et la musique (Filigrane), über Wolfgang Rihms Monodram Proserpina in der Fs. „Wolfgang Ruf“ und Vorträge über Thomas Bernhard an der Universität Stockholm (Fac. for Humanities) und an der Universität Oslo (Fac. for Humanities) (der Beitrag wurde in veränderter Form dort zuerst als Vortrag gehalten). Auf Einladung der Paul Sacher Stiftung Basel ist er für den Herbst 2012 Fellow am dortigen Institut, um an der „Sammlung Pierre Boulez“ zu arbeiten. Am 22. Januar 2013 erhält er zusammen mit der Komponistin Isabel Mundry den Hans-Zender-Musikpreis, der in der Bayerischen Akademie der Künste vergeben wird. Die Laudationes werden von Dieter Mersch vorgetragen. Für Frühjahr 2013 ist er auf eine Gastprofessur an der University of Chicago eingeladen.
Szenografie & Szenologie Ralf Bohn Inszenierung als Widerstand Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee 2009, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1262-2
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung der Stadt Urbanität als Ereignis 2012, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2034-4
Ralf Bohn, Heiner Wilharm (Hg.) Inszenierung und Vertrauen Grenzgänge der Szenografie 2011, 392 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1702-3
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